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Buch Riverside ist eine Stadt, in der sich der Adel und die ambitionierten Aufsteiger der Gesellschaft im Ringen um mehr Macht ständig bekämpfen. In den Ballsälen, Bordellen und Hinterzimmern schmieden sie Intrigen und hüten wertvolle Geheimnisse. In diese Welt voller Verrat und Feindschaft gerät Katherine, das wohlerzogene Mädchen vom Lande. Sie weiß, wie man sich in der feinen Gesellschaft verhält, sie kennt die Regeln und geht davon aus, dass die anderen das auch tun. Nur spielt man in Riverside ein anderes Spiel. Ihr Onkel, der berüchtigt verrückte Herzog von Tremontaine, hat sie zu sich eingeladen. Zuerst war sie darüber auch hocherfreut, denn endlich scheint sich ihr Wunsch zu erfüllen, in die feine Gesellschaft eingeführt zu werden. Und vielleicht trifft sie hier auch endlich einen Verehrer. Ihre verarmte Familie konnte ihr diese Möglichkeiten nicht bieten. Doch dann kommt alles anders. Ihr Onkel findet es amüsant, sie in der Fechtkunst unterweisen zu lassen. Er will aus ihr etwas machen, was die Stadt vorher noch nicht gesehen hat: eine Frau, die im Degenkampf ihren Mann stehen kann. Für Katherine bricht eine Welt zusammen. Soll sie sich wirklich damit zufrieden geben, ein Spielball der adeligen Gesellschaft zu sein? Katherine muss sich ihren eigenen Weg erkämpfen, um in dieser gefährlichen Welt zu bestehen. Aber wenn man einer Frau einen Degen in die Hand gibt, dann wird sie auch kämpfen: für ihre Ehre, ihre Familie und, wenn es sein muss, auch für ihre Liebe... Autorin Ellen Kushner arbeitete lange als Redakteurin und freie Mitarbeiterin für diverse New Yorker Verlagshäuser, bevor sie als Radiomoderatorin und Autorin erfolgreich wurde. Sie hat bereits mehrere Auszeichnungen für ihre Romane erhalten, darunter den »World Fantasy Award«. Sie reist viel, veranstaltet Lesungen und unterrichtet. Derzeit lebt sie in New York. Ein weiterer Roman der Autorin ist bei Goldmann in Vorbereitung. Mehr zur Autorin und ihren Romanen unter: www. ellenkushner. com
Ellen Kushner Die Dienerin des Schwertes Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Privilege of the Sword
Dieses Buch ist für Delia und war es schon immer Geringe Macht das Wort besitzt und bietet uns nicht halb das Privileg des Schwertes. Anonymus, Die Vorherrschaft des Schwertes, 1658 Hätte nur der alte, fantastische Herzog, der Winkelkriecher, zuhause gesessen, er lebte noch! Der Herzog hätte gewiss, was im Dunkeln geschah, auch im Dunkeln gelassen. William Shakespeare, Maß für Maß, IV. Akt, 3. Szene; III. Akt, 2. Szene Jedenfalls hatte es damals keine Manieren, und es hat heute keine Manieren, und es wird nie Manieren haben.
Rudyard Kipling, Nur so Geschichten. Wie das Rhinozeros zu seiner Haut kam Welch grausame Art und Weise, seine Nichte zu behandeln. James Thurber, Die 13 Uhren
TEIL I
Tremontaine Kapitel 1
N
iemand lässt eine Nichte zu sich kommen, die er noch nie gesehen hat, nur um ihre
Familie zu ärgern und ihr Leben zu ruinieren. Zumindest hatte ich das geglaubt. Aber bis zu dem Zeitpunkt war ich auch noch nie in der Stadt gewesen. Ich hatte noch kein Duell hinter mich gebracht, hatte noch nie ein Schwert in der Hand gehalten. Geküsst hatte ich auch noch niemanden, hatte noch niemandem einen Grund gegeben, mich umzubringen, und ich hatte auch noch nie einen Samtumhang getragen. Und vor allem hatte ich meinen Onkel, den Irren Herzog, noch nicht kennen gelernt. Als ich ihn dann kennen lernte, erklärte sich das Meiste von selbst. Eines Tages erhielten wir einen Brief von meinem Onkel. Ich war gerade in der Speisekammer und zählte unsere Bestände an Silberbesteck. Als ich fertig war, nahm ich die Listen und ging zu meiner Mutter, die im sonnigen Wohnzimmer saß und Taschentücher säumte. Damals mussten wir das alles selber machen. Von draußen waren die Krähen zu hören, die irgendwo in den Hügeln krächzten, und die Schafe, die noch lauter zu blöken versuchten. Ich schaute die Listen an, nicht meine Mutter, und machte mir Gedanken über die Silberlöffel, die dringend poliert werden mussten, aber warum sollten wir uns darüber Sorgen machen, wenn wir sie vielleicht ohnehin verkaufen mussten? »Dreihundertdreizehn Löffel«, sagte ich mit einem Blick
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auf meine Liste. »Drei weniger als bei der letzten Zählung, Mama.« Sie gab keine Antwort. Ich blickte auf. Mutter starrte durchs Fenster und kaute an einer ihrer seidenen Haarsträhnen. Ich wünschte, ich hätte solches Haar — mein Haar ist gelockt, aber die Locken drehen sich immer in die falsche Richtung. »Meinst du nicht auch«, sagte sie schließlich, »dass wir den Baum endlich fällen lassen sollten?« »Wir machen Silberinventur, Mama!«, erwiderte ich streng. »Und es fehlen drei Löffel!« »Bist du sicher, dass du die richtige Liste vor dir hast? Wann haben wir zuletzt gezählt?« »Vor Gregorys Geburtstagsparty, als er volljährig wurde, glaube ich. Meine Hände stanken beim Essen nach Silberpolitur. Und das Schwein hat sich nicht mal bei mir bedankt.« »Ach, Katherine.« Meine Mutter hat eine Art, meinen Namen auszusprechen, als wäre es eine ganze Rede. In diesem Fall umfassten die Sätze Wann wirst du endlich und Wie dumm du doch und Was würde ich ohne dich nur und das alles gleichzeitig. Aber ich war nicht in der Stimmung, mir das anzuhören. Die Silberinventur muss zwar gemacht werden, und es hat auch keinen Zweck, die Sache aufzuschieben, aber sie gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, obwohl sie in dieser Hinsicht besser abschneidet als beispielsweise Sticken oder Marmelade machen.
»Ich wette, Greg ist auch in der Stadt nicht beliebt, solange er nicht endlich lernt, netter zu den Leuten zu sein.« Sie ließ ihre Näharbeit mit einer abrupten Bewegung sinken, und ich wartete auf die Schelte. Die Stille wurde langsam unheimlich. Ich sah, dass sich ihre Hände um die Stickerei verkrampft hatten, ohne Rücksicht darauf, was sie dem zarten Leinen zufügte. Doch sie hielt den Kopf sehr hoch, was ein Fehler war, denn als ich in ihr Gesicht blickte, sah ich an 4 ihrem verkniffenen Mund und den aufgerissenen Augen, dass sie versuchte, nicht zu weinen. Leise legte ich meine Papiere weg, kniete neben ihr nieder und bettete den Kopf in ihren Schoß, wobei ich sanft über den Stoff strich. »Tut mir leid, Mama. Ich hab's nicht so gemeint.« Mutter wickelte eine meiner Locken um ihren Finger. »Katie...« Ein langer Seufzer. »Mein Bruder hat mir einen Brief geschickt.« Mir stockte der Atem. »O nein! Schon wieder der Prozess? Sind wir jetzt ruiniert?« »Ganz im Gegenteil.« Aber sie lächelte nicht. Die Sorgenfalte, die letztes Jahr auf ihrer Stirn entstanden war, schien noch tiefer geworden zu sein. »Nein, es ist eine Einladung. Nach Tremontaine.« Mein Onkel, der Irre Herzog, hatte uns noch nie eingeladen, ihn zu besuchen. Es hätte sich nicht gehört. Jeder wusste doch, wie der Mann lebte. Aber darum ging es auch gar nicht. Es ging darum, dass er seit meiner Geburt versuchte, uns in den Ruin zu treiben. Dabei war es ausgesprochen lächerlich: Er hatte damals gerade von Großmutter, der Herzogin von Tremontaine, die riesigen Besitztümer zusammen mit dem Titel geerbt, und schon fing er an, über das bisschen Land zu streiten, das meine Mutter von ihren Eltern als Mitgift bekommen hatte — oder vielmehr stritten seine Rechtsanwälte. Die Gründe waren dermaßen nebulös, dass sie nur die Anwälte selbst verstanden, und keiner der Juristen, die mein Vater verpflichtete, schaffte es, die Gegenseite zu übertrumpfen. Wir hatten zwar das Land selbst noch nicht verloren, aber wir mussten unseren Anwälten immer mehr Geld zur Verfügung stellen. Die Liegenschaften wurden in eine Treuhandschaft übertragen, über die wir nicht bestimmen durften, und das galt auch für die Einkünfte, die das Land abwarf, was es uns noch schwerer machte, die Anwälte zu bezahlen. Ich war noch klein, aber ich erinnere mich, wie furcht 4 bar es immer war, wenn die Briefe kamen, völlig überladen mit Furcht erregenden Siegeln. Danach herrschte im Haus eine Stunde entsetzliche Stille — und dann explodierte alles. Mein Vater warf meiner Mutter brüllend Vorwürfe über ihre verrückte Familie an den Kopf, warum sie sie nicht besser unter Kontrolle hatte, und überhaupt hätte er genauso gut irgendeine Gänseliesel heiraten können, das hätte ihm mehr eingebracht! Und Mutter schrie, sie sei schließlich nicht daran schuld, dass ihr Bruder verrückt sei, und warum hatte er damals ihre Eltern nicht gefragt, ob der Vertrag wirklich einwandfrei sei, statt auf ihr herumzutrampeln, und überhaupt — habe sie nicht immer ihre Pflichten ihm gegenüber getreulich erfüllt? Davon bekam ich immer alles mit, denn sobald das Geschrei losging, presste Mutter mich an sich, und wenn es dann vorbei war, schlichen wir beide uns oft in die Speisekammer und löffelten unter der Treppe einen Topf Marmelade leer. Und beim Abendessen fing Vater dann wieder an und stritt mit meinen Brüdern über die Kosten von Gregs Pferden oder Sebs Lehrern oder was auf der Brache am Südende unseres Landguts angepflanzt werden solle oder was man gegen die Pächter tun könne, die ständig Kaninchen wilderten. Ich war froh, noch so klein zu sein, dass er oftmals gar nicht auf mich achtete, aber manchmal nahm er doch mein Gesicht in seine großen Hände und schaute mich scharf an, als wollte er herausfinden, auf welcher Seite der Familie ich stand. »Du bist doch ein vernünftiges Mädchen«, sagte er dann hoffnungsvoll, »und bist für deine Mutter eine große Hilfe, nicht wahr?« Nun ja, ich gab mir Mühe. Vater starb plötzlich, als ich elf war. Danach wurde es stiller um das Grundstück. Und schlagartig hörten auch die Prozesse auf. Es war, als hätte der Irre Herzog von Tremontaine uns völlig vergessen. Doch vor einem Jahr, als wir allmählich aufgehört hatten, jeden einzelnen Kupferpenny zu zählen, kamen die Briefe
5 mit ihren schweren Siegeln erneut. Offenbar fing der Prozess wieder an. Mein Bruder Sebastian wollte in die Stadt gehen und an der Universität Rechtswissenschaft studieren, aber Seb wurde auf dem Gut gebraucht, denn seine Kenntnisse über Land-und Ackerbau waren unersetzlich. So kam es, dass Gregory, der jetzt ein Lord, Lord Talbert, war, in die Stadt ging, um neue Rechtsanwälte für uns zu gewinnen und um seinen Sitz im Rat der Lords einzunehmen. Ihn in der Stadt leben zu lassen, kam uns teuer zu stehen, und uns entgingen auch wieder die Einnahmen aus Mutters Teil unseres Besitzes. Wenn wir die Löffel nicht verkauften, mussten wir wohl einen Teil von Vaters Land verkaufen, und wie doch jeder weiß, ist man so gut wie erledigt, wenn man erst einmal anfängt, am eigenen Landbesitz zu knabbern. Und nun kam der Irre Herzog daher und lud uns als Gäste nach Tremontaine ein. Meiner Mutter schien das Sorgen zu bereiten, aber ich wusste, die Einladung konnte nur eins bedeuten: das Ende des Prozesses, der entsetzlichen Briefe. Bestimmt wäre dann alles vergeben und vergessen. Wir konnten in die Stadt gehen und endlich unseren standesgemäßen Platz unter den Adeligen einnehmen, mit Festen und Tanz und Musik und Juwelen und feinen Kleidern... Ich nahm Mutter in die Arme und drückte sie fest an mich. »Oh, Mama! Ich wusste doch, dass dir niemand lange Zeit böse sein kann. Ich freue mich so sehr für dich!« Aber sie schob mich von sich. »Freu dich nicht zu früh. Die ganze Sache ist absolut lächerlich. Kommt nicht infrage.« »Aber möchtest du denn nicht deinen Bruder wiedersehen? Wenn ich Greg oder Seb zwanzig Jahre lang nicht gesehen hätte, wäre ich zumindest neugierig.« »Ich weiß, wie Davey aussieht.« Sie zerknüllte das Taschentuch in der Hand. »Er hat sich nicht im Mindesten verändert. Mit meinen Eltern stritt er ständig...« Sie strich mir übers
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Haar. »Du weißt ja gar nicht, wie viel Glück du hast, Kätzchen, zu einer so liebevollen und netten Familie zu gehören! Ich weiß, Papa war manchmal vielleicht ein wenig hart, aber er hat sich stets um uns gekümmert. Und du und ich waren doch immer die besten Freundinnen, nicht wahr?« Ich nickte. »Bei Davey und mir war das genauso: Wir waren Freunde. Gute Freunde, wir gegen den Rest der Welt. Wir erfanden unsere eigenen Spiele und beschützten einander. Aber Kinder werden erwachsen, verstehst du? Man kann nicht ewig ein Kind bleiben. Als meine Eltern einen Ehemann für mich wählten, waren wir... Er war... Nun ja, Davey verstand einfach nicht, dass sich manche Dinge eben verändern.« »Er hasste Papa, nicht wahr?« »Er war damals ein Junge, was wusste er schon? Charles war ein Nachbar, nicht irgendein Fremder. Meine Eltern vertrauten ihm und wussten, dass er für mich sorgen würde. Natürlich vergoss ich ein paar Tränen, ich war noch jung und fürchtete mich davor, zum ersten Mal das Elternhaus zu verlassen. Aber mein Bruder... Nun, er konnte einfach nicht begreifen, dass man irgendwann gegenüber der Familie eine Pflicht zu erfüllen hat. Er hat es damals nicht begriffen, und er wird es auch niemals begreifen.« Sie würde das Taschentuch völlig ruinieren, aber ich wollte ihren Redefluss nicht unterbrechen. Offenbar waren in meiner Familie Dinge geschehen, von denen mir niemand jemals etwas erzählt hatte. »Und jetzt geht es wieder von vorne los!«, sagte sie weinend und zupfte am Saum des Taschentuchs, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Gerade denken wir, dass es allmählich besser wird, und schon kommt er daher und macht alles wieder schlimmer, viel schlimmer, nur um seinen Spaß zu haben und uns zu schaden. Es ist immer dasselbe!« Sie begann, mit der Nadel heftig auf das Taschentuch ein-
5 zustechen. »Wieso?«, stieß ich hervor und hoffte, dass die Frage ihre Hände beruhigte, ohne ihren Wortfluss abzuwürgen. »Wieso ist es immer dasselbe?« »Die Herzogin«, antwortete meine Mutter schmallippig. Sie nahm mich nicht mehr wahr, das konnte ich erkennen, denn ihr Blick war in eine unbestimmte Vergangenheit vor meiner Geburt gerichtet, eine Zeit, in der alles schiefgelaufen war. »Unsere Großmutter, die edle Herzogin von Tremontaine. Die nicht einmal zu meiner Hochzeit kam und sich weigerte,
mit meiner Mutter auch nur ein Wort zu wechseln. Aber sie lud meinen Bruder in die Stadt ein, und er durfte bei ihr in Tremontaine House wohnen. Es war seine große Chance — unsere große Chance —, uns mit ihr wieder zu versöhnen und es selber zu etwas zu bringen. Und was machte er? Er lief davon.« »Wohin?« »Zur Universität.« Sie biss den Faden durch. »Mitten in der Stadt, direkt vor der edlen Nase der Herzogin. Mutter war außer sich. Gregory war gerade geboren, aber ich musste ihn hier allein zurücklassen und mit deinem Vater und ein paar Dienern in die Stadt reisen, um mich um sie zu kümmern. Du weißt doch noch, wie sie war.« Ich nickte; Großmutter Campion war wirklich ein Furcht erregender Drache gewesen. »Als wir dann wieder von ihm hörten, war er auch von der Universität weggelaufen. Angeblich wollte er irgendwo in ein heruntergekommenes Viertel ziehen. Wir waren überzeugt, dass er tot war. Aber er war nicht tot. Er brachte noch mehr Schande über uns, indem er sich mit einem notorischen Degenfechter einließ. Das kam alles erst heraus, als ihn die Herzogin endlich aufspürte. Ich glaube, er amüsierte sie, denn als sie ein paar Jahre später starb, hatte sie ihn zu ihrem Erben eingesetzt! Mutter schickte ihm damals einen langen Brief und auch ein paar Sachen, aber er schrieb nie zurück.« »Du solltest ihn besuchen«, drängte ich sie. »Wer weiß, vielleicht wird er weich und erinnert sich an seine Kindheit, als ihr beide die engsten Freunde wart!« »Katherine Samantha.« Ihr Blick kehrte aus der fernen Vergangenheit zurück und richtete sich direkt auf mein Gesicht. »Du hast nichts von dem verstanden, was ich dir sagen wollte. Er lädt nicht mich ein. Sondern dich.« »Mich? Aber... Aber... Warum?« Sie schüttelte den Kopf. »Ach, es ist zu lächerlich, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren.« »Mutter.« Ich nahm ihre Hände in meine. »Du kannst nicht einfach so etwas sagen und dann erwarten, dass ich mit dem Löffelzählen weitermache, als wäre nichts geschehen. Unmöglich. Weshalb will er, dass ich ihn besuche?« »Er sagt, er will aus dir eine Degenfechterin machen.« Ich lachte. Nun ja, eigentlich war es eher ein Prusten Wenn ich etwas im Mund gehabt hätte, wäre es durchs ganze Zimmer gesprüht. Diese Art Lachen. »Wie auch immer«, fuhr Mutter fort. »Wenn du bei ihm lebst und dich im Degenfechten unterrichten lässt, wird er im Gegenzug nicht nur den Prozess einstellen, sondern auch unsere sämtlichen Schulden begleichen und — nun ja, er würde sich ganz allgemein ausgesprochen großzügig zeigen.« Ich begann zu verstehen, oder zumindest glaubte ich das. »Er will, dass ich in die Stadt ziehe. Dass ich in Tremontaine House wohne«, brachte ich atemlos hervor. »Um unser Glück zu machen.« »Aber das ist natürlich unmöglich.« »Aber Mama«, erwiderte ich, »was ist mit meiner Pflicht gegenüber meiner Familie?«
Kapitel 2
Ihr wisst doch mit Mädchen gar nichts anzufangen. Habt Ihr doch selbst gesagt.« In einem eleganten Zimmer im Haus des Irren Herzogs von Tremontaine lungerte eine dicke, unordentliche, junge Frau auf einer samtbezogenen Chaiselongue herum, eine Hand tief in einer Schale Sommererdbeeren. Auf der anderen Seite des Zimmers untersuchte der Irre Herzog die Rückseite des Kamins nach Rissen. »Völlig inkompetent, die Leute«, brummte er. »Würden nicht mal einen Holzwurm von einer Zecke im Arsch ihres Hundes unterscheiden können.« Sie Heß sich nicht vom Thema abbringen. »Mädchen könnten das auch nicht.« »Ich kann mit Mädchen tatsächlich nichts anfangen. Jedenfalls nicht so, und auf gar keinen Fall mit solchen, mit denen ich verwandt bin.« Er tauchte hinter dem Kamin auf, um kurz nach ihr zu schauen, aber als keine Reaktion kam, schob er den Kopf wieder in den Kaminschacht und fuhr fort: »Ihr solltet eigentlich dankbar sein. Als einzige respektable Frau in meiner Bekanntschaft seid Ihr auch die einzige Person, der ich meine Nichte anvertraue, damit Ihr sie zu Tanz und anderen Dingen begleiten könnt, wenn sie hier ist.«
Die unansehnliche Frau, die Flavia hieß, die aber von allen nur als Des Herzogs Hässliche Dame bezeichnet wurde, steckte eine große Erdbeere in den Mund, wischte ihre Finger am Samt der Chaiselongue ab und redete darum herum. »Jede adlige Frau, deren Mann Euch Geld schuldet, würde 7 höchst erfreut sein, Eure Nichte unter die Fittiche zu nehmen, und sei es nur, um Euch zu zeigen, wie man das richtig macht, und um Euch ein wenig Dankbarkeit einzuflößen.« Sie leckte sich den Saft von den Lippen. »Übrigens, was ich Euch noch fragen wollte: Warum redet Ihr eigentlich so viel, wenn die Hälfte davon doch nur Mist ist?« »Damit Eure Aufmerksamkeit nicht nachlässt«, antwortete er prompt. »Würde es Euch denn gefallen, wenn alles, was ich sage, plötzlich einen Sinn ergäbe? Das würde Euch doch nur verwirren.« Der Herzog wand seinen langen Körper aus dem Kamin heraus und hielt seiner fetten Freundin die Rüschenärmel unter die Nase. »Würdet Ihr die als schmutzig bezeichnen?« »Schmutzig ist nicht das Wort, das ich benutzen würde.« Sie starrte die spitzenbesetzten Ärmel an. »Das würde nämlich implizieren, dass unter dem Ruß so etwas wie weißes Leinen in seinem ursprünglichen Zustand existiert. Aber ich denke schon, dass hier eine alchemistische Umwandlung erfolgte.« »Endlich!« Er zupfte am Klingelzug. »Das werde ich dokumentieren müssen.« Seine Finger hinterließen schwarze Abdrücke auf dem bestickten Stoff. »Ihr werdet erstaunt sein zu hören, dass auch ich Fayerweather gelesen habe. Ihr habt wie immer sein Konzept des Originalzustands völlig missverstanden: Es hat nichts mit Alchemie zu tun.« »Habe ich denn Fayerweather zitiert?« »Nein. Ihr habt ihn ausgeweidet und seinen Kadaver den Schweinen vorgeworfen.« Die Klingel rief einen untersetzten Jungen herbei. Alles an ihm war mittelmäßig: Größe, Gewicht, Farbe und Lockenfall der Haare, Haut, Ohren, selbst seine Haltung, die irgendwo in der Mitte zwischen der Unbeholfenheit eines Jungen und der Kraft eines jungen Mannes lag. Seine Arme waren ein bisschen zu lang, aber das war auch alles. »Ist er nicht wunderbar?«, fragte der Herzog liebevoll. 7 Die Hässliche Dame warf dem Jungen eine Erdbeere zu, die er aber nicht auffangen konnte, der er aber auch nicht nachlief, um sie aufzuheben, als sie in eine Ecke des Raumes kullerte. »Mein Lieber«, sagte sie zum Herzog, »Ihr könntet Euch doch mit viel hübscherer Gesellschaft als der anwesenden Person umgeben.« »Das tu ich auch«, antwortete er. »Aber die neigen dazu, zu sehr von sich selbst überzeugt zu sein. Also jage ich sie davon. Immer und immer und immer wieder.« Er seufzte. »Marcus«, sagte er zu dem Jungen, »hol mir ein sauberes Hemd.« »Sofort, mein Lord.« Der Herzog zog das schmutzige Hemd über den Kopf. »Und lass das hier gleich mal untersuchen, ob an den Manschetten irgendeine alchemistische Umwandlung erfolgt ist.« »Sofort, mein...« Die Miene des Jungen veränderte sich, und er fing an zu lachen. »Meint Ihr das ernsthaft?« Der Herzog legte den Kopf schief. »Hm. Meine ich das ernsthaft? Bin nicht sicher. War ihr Einfall. Aber meine ich es?« Die Hässliche Dame rollte sich auf den Rücken und starrte die kunstvolle Stuckarbeit der Decke an, die sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit allerdings nur verschwommen wahrnahm. »Ihr meint doch nie etwas.« Nachdem der Junge den Raum verlassen hatte, sagte sie billigend: »Er hat Verstand. Seltsam, dass Ihr das immer gleich erkennt.« »Gleich und Gleich gesellt sich gern.« Das war das Äußerste, was sich der Herzog als Kompliment abringen konnte, und sie war klug genug, es zu ignorieren. »Nun, Ihr habt ja schon daraufhin gewiesen, dass ich ihn wohl kaum wegen seiner Schönheit ausgewählt habe.« »Ich bin überrascht, dass Ihr ihn überhaupt ausgewählt habt. Ihm fehlt die Aura der Boshaftigkeit oder die der Unschuld. Und Ihr mögt doch die Extreme.« »In der Tat.« Der Herzog aß noch ein paar Erdbeeren, schließlich gehörten sie ihm. Er aß sie nacheinander, wie ein Mensch, der nicht an Überfluss gewohnt ist.
Die Hässliche Dame überprüfte, ob ihre Finger sauber abgeleckt und trocken waren, bevor sie ein Buch von einem Stapel auf dem Kaminsims nahm. Sie setzte sich ans Fenster, um die mathematische Abhandlung zu lesen, und achtete nicht weiter auf den Herzog, der sein neues Hemd erhielt und überzog, einen Informanten empfing und befragte — dem er keine Erdbeeren anbot —, eine kleine, aber sehr hässliche Lampe geschenkt bekam, die als Bestechung gedacht war, sich darüber lustig machte und sich schließlich wieder seiner Erkundung des Kamins zuwandte. Erst dann hob sie wieder den Kopf und verkündete: »Ich habe alle erdenklichen nachvollziehbaren Gründe erwogen und verworfen, warum Ihr Eure Nichte herkommen lassen wollt. Daraus ziehe ich den Schluss, dass Eure Gründe nicht nachvollziehbar sind.« »Aber natürlich nicht für mich.« Sie wartete eine angemessene Zeit lang, bevor sie nachgab und fragte: »Dürfte man sie vielleicht erfahren?« »Ich habe vor, aus ihr eine Degenfechterin zu machen.« Die Hässliche Dame knallte das Buch zu. »Das wär's dann wohl. Absolut idiotisch. Wahrscheinlich das Dümmste, das ich je von Euch gehört habe.« »Aber nicht doch.« Der Herzog konnte recht elegant wirken, wenn er wollte. Und jetzt wollte er. Er lehnte sich in seinem Hemd mit den weiten Ärmeln an den verzierten Kaminsims. »Ich brauche Schutz. Jemand, dem ich vertrauen kann. Natürlich habe ich eine Menge Wachpersonal eingestellt, aber ich muss sie dafür bezahlen. Und ich mag auch nicht ständig von Fremden umgeben sein.« »Ihr könntet doch ein paar hübsche Wächter einstellen. Die würden dann nicht lange Fremde bleiben müssen.« 8 »Das finde ich nicht besonders reizvoll«, gab der Herzog affektiert von sich. »Und doch muss ich ständig gegen Gefahren wie einen plötzlichen Degenstoß oder eine unwiderrufliche Herausforderung gewappnet sein. Es gibt so viele Leute, die sich einbilden, ihr Leben würde sich sofort auf wundersame Weise verbessern, wenn sie mich beseitigten. Ergo, wer könnte mich besser bewachen als ein Familienmitglied?« »Aber sicherlich habt Ihr doch auch Neffen?« »Ganze Heerscharen von Neffen. Und?« Die Hässliche Dame hatte offenbar nicht die Gewohnheit, mit Büchern zu werfen, stattdessen boxte sie wütend in ihr Kissen. »>Und< ist gut gesprochen. Ihr seid wohl nicht mehr zufrieden damit, Missgeburten um Euch zu versammeln, jetzt müsst Ihr sie auch noch selber kreieren!« Der Herzog versuchte erst gar nicht, sein selbstzufriedenes Lächeln zu verbergen. »Ich mache die Regeln nicht«, entgegnete er heuchlerisch. »Das ärgert mich, deshalb finde ich Befriedigung darin, die Regeln zu verletzen. Das Mädchen ist das jüngste Kind meiner Lieblingsschwester, die zufällig auch meine einzige Schwester ist. Ich werde dafür sorgen, dass sie ein angesehenes, nützliches Gewerbe erlernt und ausübt, für den Fall, dass das Familienvermögen eines Tages schwindet. Oder falls die Aussicht auf eine gute Partie, die der Ehrgeiz jeder adligen Tochter ist, entfleucht oder sich als unbefriedigend erweist. Ein angesehenes, nützliches Gewerbe... Für die älteren Brüder ist es bedauerlicherweise zu spät, irgendetwas zu erlernen. Und außerdem denke ich, dass ein Degenfechter in der Familie ausreichen müsste, meint Ihr nicht auch?« »Unfug«, antwortete sie, »nichts als reiner Unfug. Ihr müsst Eure Schwester wirklich zutiefst hassen.« Schon immer war mir klar gewesen, dass ich eines Tages in die Stadt gehen müsste, denn heutzutage muss man in die Stadt gehen, wenn man sein Glück machen will. Die jungen Män 8 ner gehen in die Stadt, um ihren Sitz im Rat der Lords einzunehmen und einflussreiche Leute kennen zu lernen. Mädchen gehen in die Stadt, um eine brillante Partie mit einem Mann von Vermögen und aus bester Familie zu machen. Wir hatten mühsam die Mittel zusammengekratzt, um meinen ältesten Bruder in die Stadt ziehen zu lassen, aber abgesehen vom Schreiben gelegentlicher Briefe, in denen er sich über das Essen, die Straßen, das Wetter und die Stadtmenschen beschwerte, schien Gregory keine besonderen
Aktivitäten zu entfalten. Das überraschte mich nicht sonderlich. Greg hatte es schon immer an Schneid gefehlt. Ich hingegen bin zwar nicht ausgesprochen hübsch, sehe aber recht nett aus, wenn ich mich ordentlich kleide, und die Nachbarn haben sich bei festlichen Gelegenheiten auch schon bewundernd über mein tänzerisches Geschick geäußert. Ich beherrsche die Tanzschritte, trete niemandem auf die Zehen und stoße nie mit anderen zusammen. Bevor der Brief meines Onkels eintraf, hatte ich meine Mutter oft zu ermutigen versucht, mich doch in die Stadt zu schicken, damit ich dort mein Glück mit einer guten Partie versuchen könnte. Aber so sehr ich auch bettelte und argumentierte, es endete immer mit denselben Worten, »Kitty, du bist noch zu jung«, was natürlich absolut lächerlich war, denn schließlich hatte sie selbst schon mit fünfzehn geheiratet. Und wenn ich zu erklären versuchte, dass eine glitzernde Saison in der Stadt eben doch etwas ganz anderes sei als eine Heirat mit irgendeinem Landjunker, den die eigene Mutter unter ein paar Nachbarfamilien ausfindig gemacht hatte, sagte sie immer: »Nun gut, aber welcher Mann würde dich schon nehmen, solange deine gesamte Mitgift durch einen Gerichtsstreit eingefroren bleibt?« »Ein ganz reicher natürlich, dem es völlig egal ist, wie es um meinen armseligen Besitz steht! Ich werde ihn verzaubern. Er wird mich wegen meines gewinnenden Wesens lie 9 ben. Und wegen meiner Familienbeziehungen. Ich habe doch gute Familienbeziehungen, oder nicht? Dein Bruder ist immer noch ein Herzog, auch wenn er verrückt und liederlich ist. Das zählt trotzdem, hast du doch selbst immer gesagt.« »Aber denke doch nur, wie viel stärker dein gewinnendes Wesen sein wird, wenn du erst einmal voll ausgewachsen bist, wenn du gertenschlank und elegant daherkommst, gekleidet in lange Gewänder mit echten Spitzen...« »Und einer Schleppe! Ich will unbedingt eine Schleppe haben, schon wegen der Treppen, nicht wahr, das muss doch so sein, Mama? Und einen Fächer aus Pfauenfedern und Schuhe mit glitzernden Schnallen und einen Samtumhang...« Das alles, so viel war mir klar, würde nötig sein, um die Herzen der Männer zu brechen. Wenn ich nur ein einziges Mal auf einer Treppe in einem Samtumhang erscheinen dürfte, würde ich die begehrteste Frau der Welt sein. Und jetzt sollte ich also in eines der prächtigsten Häuser der ganzen Stadt ziehen, auf Einladung des Herzogs von Tremontaine höchstpersönlich. Der Prozess würde eingestellt, meine Mitgift würde in der ursprünglichen Höhe an uns zurückerstattet werden, wenn nicht sogar in doppelter Höhe. Ich war sicher, dass das Haus des Herzogs eine Treppe hatte. So saß ich denn mit hohen Erwartungen in der Kutsche und jagte auf die Stadt zu. In dem Brief waren alle möglichen bizarren Regeln festgelegt, an die ich mich strikt zu halten hatte, sobald ich ankam. Dazu gehörte, dass ich meiner Familie sechs Monate lang nicht schreiben und auch keine Briefe von ihr empfangen durfte, aber das war schließlich keine Ewigkeit. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass ich das Richtige tat und dass alles gut ausgehen würde. Mein Onkel mochte sich mit dem Rest der Familie gestritten haben, aber mich kannte er noch gar nicht. Natürlich würde ich erst seine Achtung erringen müssen, deshalb hatte er diese Regeln aufgestellt. Ich sollte einer Reihe von Prüfungen unterworfen wer9 den — Mut, Ausdauer, Treue und andere Tugenden. Wenn ich mich dann als würdig erwiesen hatte, würde der Welt meine wahre Person offenbart, und ich würde den Lohn einheimsen können. Der Maskenball würde sich in eine Hochzeitsfeier verwandeln und der dumme Schwank in eine Romanze, in der ich die Heldin spielte. Erst Verkleidung, dann Enthüllung. So funktionierte die Sache eben. Wozu sollte die ganze Geschichte sonst gut sein? Das war zwar nicht unbedingt so, wie ich mir meine erste Fahrt in die Stadt vorgestellt hatte, aber wenigstens war ich jetzt auf dem Weg dorthin. Wenn mein irrer Onkel wollte, dass ich Degenfechten lernte, war das in Ordnung, solange ich dabei auch Bälle besuchen und heiratsfähige Männer kennen lernen konnte. Wichtig war nur eins: dass er mich einlud, mich seinem Haushalt anzuschließen. Der Herzog von Tremontaine wollte mich an seiner Seite sehen, und damit stand mir die Welt offen.
Kapítel 3
Ein Mädchen steigt aus einer Reisekutsche und betritt einen Hof, der bereits halb im Schatten liegt. Aber über ihr glitzern in den hohen Fenstern des Hauses die letzten goldenen Sonnenstrahlen. Sie trägt einen einfachen grauen Reisemantel aus Wolle. Als sie den Blick über die prächtige Fassade aus honigfarbenen Quadern und die vielen Fensterscheiben gleiten lässt, hebt sie einen Zipfel ihres Reisemantels wie ein Ballkleid an und dreht sich langsam um ihre eigene Achse. Mein Onkel, der Irre Herzog, betrachtete mich von oben bis unten. »Du bist nicht sehr groß«, bemerkte er. Hinter seinem Kopf konnte ich seinen Rücken sehen, der sich in dem konvexen Spiegel über dem Kaminsims spiegelte, sodass er den ganzen Raum zu schlucken schien. »Nein, Sir.« Es war ein herrliches Zimmer, gehalten in Weiß- und Blautönen mit kleinen Goldtupfern — sehr modern, sehr luftig, angefüllt mit Bildern an den Wänden und Kuriositäten, die auf kleinen Tischen lagen oder standen, Tische, die offenbar nur zu diesem Zweck aufgestellt worden waren. Hohe Glastüren führten in den Park, der sich am Fluss entlang erstreckte. Er sagte: »Das ist Tremontaine House. Es ist sehr elegant. Ich habe es von meiner Großmutter geerbt, der letzten Herzogin.« Doch als er sie erwähnte, verhärtete sich sein Gesicht und 10 zeigte Abscheu. Den Gesichtsausdruck kannte ich von vielen Abendessen meiner eigenen Familie. Uberhaupt kam mir das Gesicht meines Onkels sehr vertraut vor, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen. Eine Kopfneigung, eine Augenbewegung, die mir bekannt vorkam, und dann war es wieder verschwunden, und mir stand erneut der Furcht einflößende Fremde gegenüber. Er hatte das lange braune Haar meiner Mutter, das aber bei ihm sehr seltsam wirkte. Ich hatte gedacht, nur Studenten trügen ihr Haar lang. Er musste mal Student gewesen sein, aber das war doch sicherlich schon eine ganze Weile her. »Du brauchst dich nicht zum Abendessen umzuziehen«, sagte der Herzog. »Musst dich eigentlich überhaupt nur selten für irgendwas umziehen.« Seine Aufmerksamkeit schien zu verblassen, schien sich auf eine chinesische Porzellanstatue auf einem kleinen Tisch zu richten. Noch nie war ich so mühelos ignoriert worden; es war, als wäre ich plötzlich verschwunden, als könnte sich seine Aufmerksamkeit immer nur auf eine Sache richten. Er nahm das Porzellanstück in die Hand und hob es dicht vor die Augen, um die vergoldeten Schnörkel im Licht genau zu betrachten. »Ich habe aber hübsche Kleider mitgebracht«, erklärte ich. Der Mann hatte uns zwar fast zu Bettlern gemacht, aber er sollte nicht glauben, dass ich nicht ein ordentliches Kleid fürs Abendessen hätte. »Tatsächlich?«, fragte mein Onkel gleichgültig. »Warum?« »Warum«, echote ich. »Nun, um... um sie zu tragen.« Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder der Statue in seiner Hand zu. Der Herzog hatte sehr lange, feingliedrige Hände, genau die Art Hände, die ich mir immer gewünscht hatte, nur eben größer, und an den Fingern glitzerten edelsteinbesetzte Ringe: Jede seiner Hände trug ein Vermögen. Dieser gut gekleidete Mann mit dem schlechten Benehmen spielte in zahlreichen Familienlegenden das Ungeheuer, und er war 10 völlig anders als jeder andere Mensch, den ich je kennen gelernt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun würde, und ich musste mich ständig selbst daran erinnern, dass ich ihn nicht verärgern durfte. Der Wohlstand meiner Familie stand auf dem Spiel. Aber wie konnte ich ihn dazu bringen, mich zu mögen? Vielleicht sollte ich versuchen, bescheiden aufzutreten und meine mädchenhaften Tugenden herauszustellen. »Sie sind vielleicht nicht nach der neuesten Mode«, erklärte ich bescheiden, »aber ich könnte sie ein wenig auffrischen, wenn mir jemand zeigt, wie es gemacht wird. Ich kann nähen, aber Nähen ist nicht meine größte Stärke.« Endlich wandte er den Kopf in meine Richtung und schaute mich an. »Oh, darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Kleider brauchst du hier ohnehin keine.« Na also!, dachte ich. Dann hatte ich mich doch nicht getäuscht: Der Herzog würde tief in seine Schatztruhen greifen und mir eine ganz neue Garderobe beschaffen. Ich erinnerte
mich, dass ich ein gut erzogenes Mädchen war, und sagte artig: »Danke. Das ist sehr großzügig von Euch.« Sein breiter Mund verzog sich zu einem halben Lächeln. »Wir werden sehen. Ich habe angeordnet, dass deine Ausbildung gleich morgen Früh beginnt. Du wirst eine Weile hier in Tremontaine House wohnen. Ich persönlich mag das Haus nicht. Deshalb wohne ich in Riverside House, wenn ich es mir nicht anders überlege. Ich habe für dich eine Kammerzofe eingestellt und einen Lehrer... und Bücher und anderes Zeug gibt es hier auch. Du wirst dich also nicht langweilen müssen.« Er brach ab und fügte dann kühl hinzu: »Und sollte dir jemand zu nahe treten, dann sagst du ihm einfach, dass ich das verboten hätte.« Und damit war ich für ihn wieder erledigt, das konnte ich seinem Gesicht ablesen. Er sank in seinen Sessel zurück. Wie konnte ich ihn mit meinem gewinnenden Wesen für 11 mich einnehmen, wenn er mich nicht einmal anschaute? Völlig nutzlos waren die hübschen kleinen Reden, die ich mir in der Kutsche Meile um Meile zurechtgelegt hatte. Ich starrte die elegante Gestalt an. Er wirkte nicht unbedingt unhöflich, denn in seinen Augen war ich einfach nicht anwesend. Der Herzog hatte elfenbeinfarbene Haut, langes braunes Haar, breite Augen mit schmalen Lidern und eine lange, ziemlich spitz zulaufende Nase. Und er war vollkommen real: Ich sah die feinen Fältchen an den Augen- und Mundwinkeln, hörte ihn atmen, fühlte sein Gewicht, wenn er sich bewegte. Und dennoch war er wie eine Traumgestalt. Mein Onkel — der Irre Herzog. Er blickte auf, offenbar überrascht, mich noch in dem Zimmer zu sehen. »Ich würde denken«, sagte er mit langsamer, affektierter Betonung, »dass du doch sicherlich jetzt in dein Gemach gehen möchtest...« Das war so ziemlich das Unerfreulichste, was ein Erwachsener jemals zu mir gesagt hatte, und spöttisch fuhr er fort: »... nach der langen Kutschenfahrt. Und nachdem du dich auch noch mit mir unterhalten musstest.« Ich riskierte ein Lächeln, für den Fall, dass er scherzte. Aber er lächelte nicht zurück. »Ich weiß nicht, wo es ist«, sagte ich schließlich. Er winkte nachlässig. »Ich auch nicht. Auf der Flussseite, denke ich. Riecht vielleicht ein bisschen im Sommer, aber die Aussicht ist schön.« Er streckte die Hand aus und fand tatsächlich den Klingelzug »Wie war doch noch gleich dein Name?« Wenn er nur einfach gleichgültig gewesen wäre, hätte ich spätestens jetzt die Beherrschung verloren. Dennoch sagte ich mit eisiger Stimme: »Campion. Wie Euer eigener. Mein voller Name lautet Katherine Samantha Campion Talbert.« Plötzlich sah er mich wieder an. Seine Augen waren grün, umrahmt von dunklen Wimpern. Zum ersten Mal zeigte sich 11 ein Anflug von Humor in seinem Gesicht. »Ich bin jetzt seit ungefähr fünfzehn Jahren der Herzog von Tremontaine«, sagte mein Onkel. »Weißt du, wie mein wirklicher Name lautet?« Es schien wichtig zu sein, dass ich das wusste. Als ob ich ihm damit beweisen könne, dass es mich wirklich gab. Wenn ich alle seine Namen richtig auf die Reihe kriegte, würde ich vielleicht einen Einblick in das gewinnen, was er wirklich wollte. Ich starrte ihn an und er mich, als hielten wir uns gegenseitig einen Spiegel vor. Ich fühlte plötzlich Neugierde, Furcht, Aufregung und wusste nicht, ob es meine eigenen oder seine Gefühle waren. »Ich kenne zwei Namen«, sagte ich. Meine Mutter hatte ihn immer nur Campion genannt. »Drei, wenn man Tremontaine dazuzählt. Ich kann meine Mutter nach dem Rest fragen.« »Nein, das kannst du nicht. Jedenfalls nicht in den nächsten sechs Monaten.« Der Herzog schwang sich im Sessel herum und hängte seine langen Beine über eine Armlehne, wie es Kinder tun, die sich mit einem Buch niederlassen. »Liest du denn deine Verträge nicht durch, bevor du sie unterschreibst?« »Ich durfte sie nicht unterschreiben. Ich bin noch nicht volljährig.« »Ach ja, natürlich. Deine Familie hat sich um all diese Dinge für dich gekümmert.« Er schwang sich wieder herum und schaute mich direkt an mit einem Gesichtsausdruck, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. »Hast du wenigstens die Bedingungen verstanden?«, wollte er wissen. »Hat sie sie dir überhaupt erklärt? Oder haben sie dich einfach wie ein Opferlamm hierher geschickt, um sich von mir freizukaufen?«
Ich wich seinem wütenden Blick nicht aus, obwohl es mir schwerfiel. »Ich kenne die Bedingungen«, gab ich zurück, »auch die Sache mit den sechs Monaten. Außerdem muss ich tun und lassen, was Ihr befiehlt, und die Kleider tragen, die Ihr 3i mir gebt. Natürlich haben sie mir alles erklärt. Ich bin schließlich keine dumme Ziege!« »Gut.« Zufrieden schwang er die Beine wieder über die Lehne. Ein sehr hübscher junger Mann mit kurzen blonden Locken und einer Stupsnase betrat den Raum. Er ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und beugte sich über den Sessel meines Onkels. Er neigte sich immer tiefer über ihn, und mein Onkel hob die Hand und legte sie ihm auf den Hinterkopf und zog ihn noch dichter zu sich herab. Es gab überhaupt keinen Zweifel, was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Das war einer, wenn auch nur ein einziger der vielen Gründe, warum es sich nicht schickte, meinen Onkel, den Irren Herzog, zu kennen. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Und ich sah den triumphierenden Blick, den mir der Junge zuwarf, als er den Kopf hob, um nach Luft zu schnappen. Er murmelte dem Herzog zu, sodass ich es hören musste: »Spielt Ihr zur Abwechslung mal mit einer Zofe herum?« Ich zupfte an meinem Kleid, um es zu glätten. Es war keineswegs aus sehr billigem Stoff genäht, auch wenn es recht schlicht sein mochte. Der Herzog schob sich im Sessel in eine halbwegs würdevolle Position. »Ich bin enttäuscht, Alcuin«, sagte er mit dieser unangenehm glatten Stimme, »dass dir die Ähnlichkeit nicht gleich aufgefallen ist. Das ist meine Nichte, das jüngste und liebste Kind meiner einzigen Schwester. Sie wird eine Weile hier wohnen, also solltest du besser einen höflichen Ton anschlagen, wenn du in ihrer Nähe bist, oder du wirst es bald nicht mehr sein.« »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, sagte der schöne Alcuin. »Natürlich sehe ich es jetzt... eine gewisse, äh, grausame Linie um den Mund...« Ich musste mich zusammenreißen, um mir nicht über den
12 Mund zu wischen. Der Herzog sagte: »Alcuin, du bist wirklich nicht sehr helle. Du bist nur nett anzuschauen. Ich schlage vor, du zeigst dich von nun an nur von deiner besten Seite.« Der Schönling schlug die Augen wie eine Jungfrau nieder. »Gewiss, Sir, wie es Euch beliebt. Werdet Ihr auch beim Kartenspiel mein Meister sein wie bei anderen Dingen?« »Immer«, antwortete der Herzog trocken, »und damit tu ich dir einen Gefallen.« Und sie küssten sich erneut. Ich ging zur Wand und riss selber an dem Klingelzug. Wen immer die Klingel herbeirufen mochte, konnte jedenfalls nicht schlimmer sein als Alcuin. Wie ein Schatten glitt ein Junge in den Raum. Er nickte mir zu, wandte sich aber an den immer noch beschäftigten Herzog. »Mylord, Fleming bat mich, Euch daran zu erinnern, dass Eure Gäste in zwei Stunden eintreffen werden, und wollt Ihr wirklich den blauen Samt tragen, wenn es so warm ist?« Mein Onkel entflocht sich aus Alcuins Armen. »Gäste? Welche Gäste?« »Ich wusste, dass Euer Gnaden das fragen würde«, antwortete der Junge mit völligem Gleichmut. Ich hätte beinahe aufgelacht, und ich glaube, ihm ging es genau so. »Ihr habt den Dichter Almaviva eingeladen. Er soll heute Abend sein neuestes Werk vorlesen. Und Ihr habt eine Menge Leute eingeladen, die Poesie nicht ausstehen können, und ein paar, die Poesie mögen. Es dürfte kein sehr fairer Kampf werden.« »Oh.« Mein Onkel wandte sich zu mir um. »Mögt Ihr Poesie, Lady Katherine?« »Manche Gedichte«, brachte ich hervor. »Dann müsst Ihr die Reihen der Gläubigen verstärken. Könnt Ihr trinken?« »Wie bitte?« »Könnt Ihr ein gehöriges Quantum Wein vertragen, ohne sich wie eine Idiotin aufzuführen?« »Gewiss«, log ich. 12 »Gut. Nehmt jetzt ein Bad und so weiter. Ihr braucht Euch nicht zu beeilen. Es wird Stunden dauern, bis sie alle hier sind und wir endlich essen können.« Er wandte sich an den Jungen: »Marcus, hat sich Betty bereits blicken lassen?« »O ja. Sie ist in der Küche und übt den Hofknicks.«
»Den kann sie auch hier oben üben.« Zu mir sagte er: »Ich nehme an, Euer Gemach wird das Zimmer sein, in dem Euer Gepäck steht, wo auch immer das sein mag. Irgendjemand wird es schon wissen.« Betty übte den Hofknicks. Es war ein entsetzlicher Anblick. Sie brachte zwar die einzelnen Bewegungen in die richtige Abfolge, aber eine einzige, fließende Bewegung daraus zu machen, überstieg ihre Fähigkeiten. Sie hob auf beiden Seiten den Rock an. Beugte die Knie. Kam dabei dem Boden gefährlich nahe. Das Ganze noch mal. Und noch mal. Und noch mal, aber es wirkte nicht überzeugend. Sie war klein und dick und von mittlerem Alter, und im Augenblick war sie rot vor Verlegenheit und erinnerte an Himbeerwackelpudding, der jeden Moment in sich zusammenstürzen konnte. »Mylady«, stotterte sie, »vergebt mir... Es gibt dafür eine richtige Methode, das weiß ich genau, und ich werde sie schon noch lernen, wenn ich nur weiter übe, bis ich es so kann, wie es Euch gefällt...« »Danke«, sagte ich, wobei ich es vor Ungeduld kaum noch aushielt, »danke.« Aber sie redete einfach weiter: »Ihr werdet dieses Mal mit mir zufrieden sein, Mylady, und mit dem Master wird es keine Schwierigkeiten geben, nicht dieses Mal und nicht mit diesem Master, Gott segne seine Stiefel...« Ich gab auf und sagte einfach: »Bitte! Würdest du mich nun endlich zu meinem Zimmer führen?« »Natürlich«, keuchte sie, vor lauter Hofknicksen fast ohnmächtig, »dafür bin ich doch da, nicht wahr?« Ich gab ihr mei 13 nen Umhang, in der Hoffnung, dass sie sich ein wenig beruhigen würde. »Zu Diensten«, sagte sie, »zu Diensten, Mylady.« Sie machte nicht den Eindruck, als könnte sie mehr als nur den Reisemantel tragen. Ich trug meine anderen kleineren Gepäckstücke selbst. »Mein Zimmer!«, wiederholte ich. »Bitte!« »Ja, nun, das hier ist ein ziemlich großes Haus, nicht wahr? So viele Türen! Man weiß manchmal wirklich nicht, wo man ist... Ganz anders als Riverside House, obwohl das auch ein großes Haus ist, aber irgendwie anders. Hier sieht alles gleich aus...« Mich verließ fast der Mut, als ich ihr die breite Treppe hinauffolgte. Es war eigentlich genau meine Traumtreppe, aber ich war zu sehr mit Betty beschäftigt, um das zu bemerken. Die arme Frau, dachte ich, sie versucht ständig, einen guten Eindruck zu machen, und ist doch dafür überhaupt nicht ausgestattet! Ich empfand Mitgefühl mit ihr, besonders nach allem, was ich gerade selbst durchgemacht hatte. »Also, ich bin ziemlich sicher, dass es hier langgeht«, sagte sie erneut, als wir zum dritten Mal durch denselben Flur kamen. Endlich entdeckten wir eine offen stehende Tür, und sie führte in das richtige Zimmer. Meine Reisetruhen standen in einer Ecke, und in der ganzen Pracht, die mein Zimmer in Tremontaine House bot, sahen sie besonders schäbig aus. Es gab ein riesiges Bett mit hauchdünnen Vorhängen, genau richtig für diese Jahreszeit, ein bemalter Kleiderschrank, der sich perfekt von den blassgelben Wänden abhob, hübsch gerahmte Bilder, geschmackvolle Blumenvasen — und das Ganze spiegelte sich in einem mit goldenen Schnörkeln verzierten Spiegel, der über dem Marmorkaminsims hing. Betty schaute sich im Zimmer um, dann schaute sie mich an und unternahm einen weiteren Hofknicksversuch. Sie fiel auf den Hintern. Als ich mich niederbeugte, um ihr auf die Beine zu helfen, entdeckte ich, dass mein Mitgefühl unange
13 bracht gewesen war. Aus ihrem Mund kam eine Fahne wie von einem Kutscher am Zahltag. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Mein steinreicher Onkel hatte eine Säuferin für mich angeheuert, eine Schlampe von was weiß ich woher - und sie sollte die erste Kammerzofe meines Lebens werden! Ich bückte in ihr rotes Gesicht, auf ihren plappernden Mund, schaute auf meine Truhen und Taschen, sah das alles im Spiegel - wo ich auch meinen eigenen erschrockenen Gesichtsausdruck und mein vom Fahrtwind zerzaustes Haar erblickte — und brach in Tränen aus.
»Aber nicht doch, Mylady.« Dieses Geschöpf legte tatsächlich die Arme um mich. »Es wird schon werden.« Ich wehrte mich nicht dagegen, sondern heulte mir an der warmen Brust der Säuferin das Herz aus dem Leib. Mein Zimmer blickte tatsächlich zum Fluss hinaus und auf die Hügel jenseits des Tales, wo gerade die Sonne unterging. Am Morgen war ich in einem fremden Gasthaus auf dem Weg in die Stadt aufgewacht, umgeben von Fremden. Wie lange dieser Tag doch gewesen war! Ich lehnte mich so weit wie möglich über die Balkonbalustrade — meine Balkonbalustrade! — und berauschte mich förmlich an der Aussicht. Mein Zimmer zuhause bot eine schönere Aussicht auf eine sanft gewellte, weite Hügellandschaft als dieses neue Gemach. In diesen Hügeln hier konnte sich wohl niemand verlaufen, und der Spaziergang am Fluss entlang würde niemanden ermüden. Und dennoch wirkte alles sehr aufregend. Unter mir erstreckte sich ein schattiger Garten, der Hecken und Statuen und Wege vermuten ließ, in dem man sich vielleicht tatsächlich verirren konnte. Ich genoss es zu beobachten, wie alles blau wurde und wie die Sterne aufleuchteten. Mein riesiges weißes Bett schien im eigenen Licht zu leuchten. Ich ließ mich in den daunenweichen Überfluss sinken, 14 nur für einen kurzen Augenblick - und wachte in völliger Dunkelheit wieder auf. Jemand hämmerte an meine Tür, und vom Flur waren Schritte und Gelächter zu hören. Inzwischen war ich hellwach. Ich zog ein Überkleid über mein zerknittertes Hemd und spähte in den Flur. In der Zugluft flatterte eine Kerze auf ihrem Halter. Ein Mann und eine Frau rannten flüsternd und lachend den Flur entlang auf das Kerzenlicht zu, und ihre tintenfarbenen Schatten folgten ihnen über den Flurteppich. Ich drehte den Kopf in die andere Richtung, zur Treppe hin, von wo der größte Lärm zu kommen schien. Gelächter und Rufe ertönten, und die Klänge von Saiteninstrumenten flössen bemerkenswert gelassen zwischen den Feiernden dahin. Das Fest war offenbar an seinem Höhepunkt angelangt. • Ich hatte keine Ahnung, wo Betty war oder wie ich sie dazu bringen konnte, mir beim Ankleiden zu helfen. Ich zündete eine Kerze an und wählte ein grünes Überkleid aus, das schon in der Vergangenheit gewisse Mängel hatte ausgleichen müssen. Dann band ich mein Haar auf, kämmte es und steckte es mit ein paar Nadeln zu einem Knoten hoch. Schließlich legte ich meine Korallenkette um den Hals. Meine taubenblauen Schuhe waren nirgends zu finden, also musste ich die apfelgrünen anziehen, obwohl sie nicht zur Farbe des Kleides passten. Aber ich hatte bereits festgestellt, dass in einer großen Menschenmenge niemand auf die Füße anderer Leute achtet. Mein Aufzug war in Ordnung, solange ich unbemerkt die Treppe hinuntergelangte. Ich blieb auf dem Treppenabsatz kurz stehen, um das Geschehen unten zu überblicken. Die Gäste waren über die große Halle verteilt; auf den schwarz-weiß karierten Marmorplatten wirkten sie wie schlecht arrangierte Spielfiguren. Die Menschen waren offenbar aus den überquellenden Empfangsräumen hinter den Doppeltüren hierher geflohen. Ich gab mein Bestes, unauffällig die Treppe hinunterzuglei 14 ten. Ich war entsetzlich hungrig; vielleicht gab es hinter den Türen irgendetwas zu essen. Die Gäste sahen stattlich aus — auffällig und geschmacklos, würde meine Mutter sagen. Sie waren in reiche Stoffe gekleidet, trugen Juwelen und Spitzen und Rüschen. Zwischen ihnen hüpfte eine gefärbte Straußenfeder, die sich elegant über einem schlanken, dunklen Kopf wölbte und fast wie ein kleiner Hut wirkte. Der Kopf wandte sich zu mir um, und plötzlich schaute ich einem Mädchen in meinem eigenen Alter direkt in die Augen. Sie stürzte sofort auf mich zu und griff nach meinen Händen. »Ist das hier nicht einfach himmlisch?«, sagte sie. Ihre Wangen waren rosig angehaucht, und die blauen Augen glitzerten. Sie trug ein sehr hübsches Paar Perlenohrringe. »Ich bin eben erst angekommen. Heute. Vom Land.« »Und schon wirst du zu sämtlichen verruchten Festen eingeladen! Aber ich habe sofort bemerkt, dass du ganz, ganz brav bist. Ich kann immer alle Leute sofort durchschauen. Aber hast du nicht ein klein wenig Angst, hier zu sein?« Sie schauderte ein wenig theatralisch. »Natürlich hatte die alte Herzogin einen exquisiten Geschmack, und das ist auch der Grund, warum ich unbedingt herkommen wollte. Ich musste einfach das Haus sehen, weißt du? Obwohl die Feste des Herzogs es allein schon wert sind, jedenfalls die in Tremontaine
House, nicht die im anderen Haus. Dorthin würden wir nämlich niemals gehen, auf keinen Fall.« Meine neue Freundin strahlte den ganzen Raum an. »Ist es nicht einfach himmlisch?« Ich konnte eigentlich nicht viel sehen, es waren zu viele Menschen im Raum. Aber ich bemerkte ein hübsches Paar diamantenbesetzter Schuhschnallen, die an den Füßen eines der Gäste aufblitzten. Vielleicht waren es auch nur Strasssteine, ich war mir nicht sicher. Jedenfalls wünschte ich, ich hätte selbst so ein Paar. »O ja!«, hauchte ich. Sie legte einen Arm um meine Taille. »Ich weiß schon jetzt, 15 dass wir die besten Freundinnen werden. Wo ist dein Begleiter? Ich bin mit meinem Bruder Robert hier, aber die Wahrheit ist«, sie zog mich ein wenig näher an sich heran, »dass ich ihn dazu gezwungen habe. Er wollte nicht mitkommen. Behauptete, das sei kein Haus für ein Mädchen wie mich. Aber ich sagte ihm, wenn er mich nicht hierher begleitete, würde ich meinen Eltern den wahren Grund verraten, warum er einen Vorschuss auf sein Taschengeld braucht. Er hatte ihnen nämlich erklärt, er habe einem armen Freund Geld geliehen, der es dringend gebraucht habe — sie ermuntern uns nämlich immer, großzügig zu sein —, aber ich weiß, dass er es vollständig für ein Duell brauchte, bei dem es um Lavinia Perry ging. Und das ist nun wirklich dumm, denn sie ist fast so etwas wie eine Cousine. Ich würde mich niemals in einen Cousin verlieben, du doch auch nicht, oder?« »O nein!« Ich war gerade mal ein paar Stunden in der Stadt, und schon hatte ich eine Freundin gefunden — ein Mädchen, deren Bruder Degenfechter anheuerte und das mich bewunderte, weil ich an gefährlichen Festen teilnahm. Ihr Arm lag immer noch um meine Taille, und ich fühlte mich sehr glücklich. Meine neue Freundin war kleiner als ich, sodass ihre Straußenfeder mich an der Wange kitzelte. »Und du kommst also direkt vom Land. Das muss dir doch sehr seltsam vorkommen, obwohl man es nicht bemerken würde, denn du hast eine natürliche Anmut. Und du wirst selbstverständlich zu allen Tänzen gehen. Ich weiß, dass ich dich dort wiedersehen werde. Wir werden viel Spaß haben, wenn wir zusammen unsere Verehrer aussuchen!« Währenddessen hatte sie mich aus dem Gedränge und in eine Ecke gezogen, wo wir uns in Ruhe unterhalten konnten. »Weißt du, ich habe bereits Blumen von einem Bewunderer bekommen.« Ich griff nach ihrem Arm. »Oh, von wem? Ist er hier?« 15 »Nein, er ist nicht hier, das hier gehört nicht zu den Häusern, in denen er sich blicken lassen würde. Er wird mich wahrscheinlich furchtbar ausschimpfen, wenn er es erfährt.« Sie warf den Kopf zurück, offenbar sehr zufrieden mit sich selbst. »Aber nächste Woche... Wirst du zum Ball der Godwins kommen?« »Ich... Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass wir schon eingeladen wurden.« Meine elegante Freundin meinte: »Aber ich bin mir sicher, dass Lydia Godwin sofort für dich schwärmen würde, wenn sie dich nur so kennen würde wie ich! Ich werde mit ihr reden. Sie ist eine sehr gute Freundin. Vielleicht kommst du zu unserem Fest? Mit deinem Bruder? Oder war es dein Cousin?« »Cousin?« »Mit deinem Begleiter, der dich hierher geführt hat.« »Oh. Das ist... mein Onkel.« »Oh.« Sie runzelte kurz die Stirn, was sehr hübsch aussah. »Aber sicher nicht einer von diesen langweiligen alten Ehemännern, die nur auf Feierlichkeiten gehen, um Karten zu spielen?« »Nein, ich — ich glaube nicht, dass er verheiratet ist. Ah, ich meine, nein, er ist nicht verheiratet. Er ist sehr vornehm.« »Vielleicht kannst du mich mit ihm bekannt machen.« Sie schob sich ein wenig von mir weg und holte eine kleine bedruckte Karte aus ihrem perlenbesetzten Pompadour. »Du musst mich unbedingt morgen besuchen.« Sie lachte glücklich und wies auf die Gäste. »Aber natürlich nicht zu früh!« Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Bestimmt schon kurz vor Mitternacht. Von den Feiernden würde sicherlich niemand früh aufstehen. Ich steckte die Karte ein. »Ich werde kommen, wenn es dir keine Umstände macht«, sagte ich schüchtern, wobei ich mir bereits die kleine Katastrophe vorstellte, sollte niemand zu
16 hause sein. Aber sie drückte nur meine Hand. »Ja, du musst unbedingt kommen! Dann lernst du meinen Bruder Robert in einer anständigen Umgebung kennen, und vielleicht kannst du ihm sogar den Kopf verdrehen, weg von dieser Perry!« War das alles, was nötig war, um einen Verehrer kennen zu lernen — einfach nur, indem man den Brüdern von Freundinnen begegnete? Die Sache würde leichter werden, als ich gedacht hatte! Ich sagte: »Ich habe noch keine Karte. Zuhause brauchen wir so etwas nicht, dort kennen sich alle. Aber vielleicht darf ich mich vorstellen...« »Nein, lass mich das tun. Das ist viel ehrbarer«, verkündete eine Stimme von oben. »Das ist meine Nichte, Lady Katherine Samantha Campion Talbert.« Meine Freundin erbleichte und starrte über meinen Kopf den groß gewachsenen Herzog an, der ganz in Schwarz gekleidet war. Neben ihm wirkten all die rosa, silbernen, himmelblauen und türkisfarbenen Kleider im Raum wie eine Packung Pralinen. Selbst die köstliche Feder meiner Freundin sah plötzlich verdorben aus. Der Herzog fuhr fort: »Und Ihr seid eine Fitz-Levi. Ich seh's an der Nase.« Sie sank in einen sehr lieblichen Hofknicks, wobei sie den Kopf tief senkte, um ihre brennenden Wangen zu verbergen. »Euer Gnaden.« Mein Onkel betrachtete die Feder von oben. »Fitz-Levi... hm... kann mich nicht erinnern, Euch eingeladen zu haben. Aber Marcus wird es schon wissen.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, wahrscheinlich suchte er den Knaben Marcus. Nach allem, was ich am Nachmittag mitbekommen hatte, hatte sich der Herzog nicht einmal daran erinnern können, dass er überhaupt jemanden eingeladen hatte. Aber das konnte ich ihr im Moment nicht sagen. Sie warf mir einen gehetzten Blick zu, drückte noch ein Mal meine Hand und ergriff die Flucht. Als mein Onkel wieder nach unten blickte, war sie verschwunden. 4i Er schaute mich neugierig an, als hätte ich sie mit einem Zaubertrick verschwinden lassen. »Was ist passiert?« »Ihr habt sie verängstigt«, erklärte ich ihm. Er zuckte mit den Schultern. »Nun gut. Aber wenigstens seid Ihr noch hier. Holen wir uns etwas zu essen. Seid Ihr hungrig?« Ich war praktisch am Verhungern. »Ja, bitte. Aber warum habt Ihr das gesagt, das mit der Nase?« »Was ist mit ihrer Nase?« »Ihr habt gesagt, sie sei hässlich.« »Hab ich das gesagt?« Er überlegte einen Augenblick. »Dann werde ich es wohl gesagt haben. Und werde mich wohl entschuldigen müssen. Werde Marcus sagen, er soll ihr ein paar Blumen schicken.« »Bitte nicht!«, rief ich schnell. »Damit würdet Ihr sie in Schwierigkeiten bringen.« Er betrachtete mich mit sehr viel Neugierde. »Was würde Euch das ausmachen?« Währenddessen hatte er mich aus dem Saal in ein Nebenzimmer geführt, wo Tische voller Speisen und Getränke standen. »Übrigens«, bemerkte er geistesabwesend, »passen Eure Schuhe nicht zum Kleid.« Er reichte mir einen Teller, auf den er Erdbeeren, Bonbons, geräucherten Fisch und Spargel gehäuft hatte. »Ah!«, sagte er. »Endlich jemand, mit dem man sprechen kann.« Der Herzog schaute höchst erfreut einer großen, hässlichen Frau entgegen, die quer durch das Zimmer auf ihn zukam. Ihre Haut wirkte teigig, das Haar war so ungleichmäßig frisiert wie schlecht geschnittenes Stroh und hatte auch ungefähr dieselbe Farbe und Beschaffenheit. Ihr Alter war schwer zu schätzen — älter als ich und jünger als der Herzog, riet ich. 16 Unter dem formlosen Kleid war ein großer, dicker, konturloser Körper zu vermuten. Sie konnte kein Dienstmädchen sein. Jede Zofe würde sich mit ihrer Erscheinung mehr Mühe geben. Meine Freundin mit der hübschen Feder hatte er verschreckt; diese trollähnliche Gestalt lächelte er warmherzig an. Die Krähenfüße an seinen Augenwinkeln wurden sichtbar, und das ist ein Zeichen, an dem man erkennen kann, ob jemand wirklich lächelt oder nur die Lippen verzieht. Die hässliche Frau trampelte auf uns zu. »Ist sie das, die Nichte?«
»Das ist Lady Katherine. Sie ist nicht sehr groß, aber ich denke, sie wird schon noch wachsen.« »Wie geht es Ihnen?«, erkundigte ich mich höflich, ein Versuch, mir in dieser Situation meinen rechtmäßigen Platz zurückzuerobern. »Hallo«, antwortete sie. Dann nickte sie in Richtung des Saals. »Was haltet Ihr davon?« Das war keine Frage, die ich oder sonst jemand hätte beantworten können. Aber das schien ihr nicht klar zu sein. Ich ging auf Sicherheit und rettete mich mit einem Gemeinplatz. »Es ist sehr nett hier.« »Oh.« Die dicke Frau nickte, als hätte ich ihr damit schon alles über mich gesagt, was sie wissen wollte. Sie griff sich ein Bonbon von meinem Teller und biss es in zwei Hälften. »Igitt«, sagte sie angeekelt, »Pfefferminz.« Sie wollte die andere Hälfte schon auf meinen Teller fallen lassen, doch dann wurde ihr im letzten Augenblick die peinliche Situation klar, und sie schaute sich nach einer Gelegenheit um, das Bonbonstückchen loszuwerden. Mein Onkel beobachtete sie, offenbar völlig gebannt, aber er kam ihr nicht zu Hilfe. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich sie mit derselben Faszination beobachtete wie er. Das gehörte sich nicht. »Wie waren die Gedichte?«, fragte ich. »Brillant.« — »Grauenhaft«, sagten beide gleichzeitig. 17 »Hängt von der Perspektive des Zuhörers ab.« »Hängt von der Intelligenz des Zuhörers ab.« »Selbst der aufmerksamste Verstand hätte in dieser Plapperei nichts finden können, um sich daran festzuhalten.« »Wie? Interessiert Euch denn die Ausdruckskraft der Seele überhaupt nicht?« »In der Tat. Sie interessiert mich nicht.« Ich wünschte, ich hätte die Gedichte nicht verpasst. Seit ungefähr einem Jahr hatte ich ziemlich viel über meine Seele nachgedacht. »Man fragt sich dann aber«, sagte der Herzog zu ihr, »warum Ihr überhaupt hierher gekommen seid, da Ihr doch Poesie nicht mögt und auch nicht wisst, wie man sich für ein Fest kleidet.« »Ich komme natürlich nur wegen des Essens. Hier.« Sie hielt die offene Hand hoch, auf der immer noch die zerdrückte und klebrige Bonbonhälfte lag. Ich konnte deutlich sehen, dass er überlegte, ob er es ihr abnehmen sollte oder nicht. Schließlich zog er ein sauberes Taschentuch aus dem Ärmel, fasste die Bonbonhälfte damit an, wickelte sie in das Tuch und wandte sich an einen gerade vorbeikommenden Gentleman, der, als er die Hand des Herzogs am Arm spürte, mit erfreuter Miene stehen blieb. »Furnival«, sagte der Herzog mit einem gewinnenden Lächeln, »dürfte ich Euch bitten, Euch für mich um diese Sache zu kümmern?« Er schaute nicht einmal nach, was der Mann damit machte. »Habt Ihr Marcus gesehen?«, fragte er seine hässliche Freundin. »Ja, im violetten Salon. Er musste ein paar Leute davon abbringen, an den Vorhängen hochzuklettern.« »Warum?« »Sie waren keine geübten Vorhangkletterer.« »Ach so.« 17 Ich sah, dass mein Onkel, der Irre Herzog, den Spargel auf meinem Teller ins Auge fasste. Bevor die beiden weitere Schneisen durch mein Abendessen schlagen konnten, griff ich selber nach dem grünen Stück und aß es, so gut es ohne Gabel ging. Mir wurde plötzlich klar, dass jetzt gar keine Spargelsaison war. Ich aß noch einen Spargel und merkte, dass meine Nervosität teilweise dem Hunger zuzuschreiben war. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt etwas gegessen hatte; vielleicht ein wenig Brot während der Reise. Eine Vision überkam mich: ein Haus ohne Regeln, ohne reguläre Mahlzeiten, das nur zum Leben erwachte, wenn es voller Gäste war, ein Haus, dessen Bewohner die Welt der Feierlichkeiten nur bevölkerten, um überhaupt an etwas Essbares zu gelangen. Unmöglich — oder jedenfalls hoffte ich das. Aber noch schwerer fiel es, mir das Alltägliche vorzustellen: Wie wir uns zum Abendessen versammelten und über die Ereignisse des Tages plauderten, welche Herde auf welcher Wiese grasen sollte, welcher Raum gelüftet werden und welche Bediensteten ermahnt werden mussten — und schon wurde ich von grausamem Heimweh überfallen. Als hätte ich
etwas Verdorbenes gegessen, hätte ich in diesem Augenblick dieses ganze neue Leben liebend gern hochgewürgt und ausgespuckt, um wieder in mein altes Leben zurückzukehren. Hör schon auf, sagte ich mir streng. Ich durfte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt und überhaupt nicht. Das war schließlich die Welt, die ich mir erträumt hatte: die Stadt, die Bälle, das Glitzern, die Galanten, die feinen Kleider und die erlesene Gesellschaft. Am Morgen würde ich mich schon besser fühlen. Der Irre Herzog war davon geschlendert, um jemand anderes unglücklich zu machen. Die hässliche Frau war hinter ihm davongesegelt, wie eine Möwe hinter einem Schiff, um sich auf jeden Brocken Amüsement zu stürzen, den er fallen Heß. 18 Ich lud meinen Teller erneut voll, machte mich in den Falten eines großen Vorhangs klein, aß mit großer Entschlossenheit, musste aber dann feststellen, dass ich zu müde war, um noch länger hier zu bleiben. Ich machte mich auf den Rückweg, stieg die breit geschwungene, eindrucksvolle Treppe hinauf. Meine neue Freundin war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie sich von ihrem Bruder Robert nach Hause bringen lassen. Ich spürte die kleine rechteckige Karte in meiner Tasche, beruhigend wie ein Talisman. Wie durch ein Wunder fand ich die Tür zu meinem Zimmer wieder. Der Lärm des Festes begleitete mich wie ein wild tosendes Meer.
Kapitel 4
A m nächsten Morgen gab es Kakao. Betty hatte sich anscheinend von den gestrigen Ex-
zessen erholt, und sie konnte auch nicht bei dem Fest mitgeholfen haben, denn das Tablett klapperte kaum, als sie es neben meinem Bett absetzte. Ein reicher, himmlischer Duft breitete sich im Zimmer aus. Ich setzte mich sofort auf und beschäftigte mich mit der kleinen Kanne Kakao, zu der auch eine ganze kleine Kanne heiße Sahne gehörte, und ich durfte so viel Zucker hineintun, wie ich mochte, und, oh, da war auch noch eine allerliebste kleine Porzellantasse, um alles anzumischen! Ich wünschte nur, meine Mutter wäre hier, um das ebenfalls genießen zu können. Langsam goss ich die Sahne in die Kanne und schaute zu, wie sie sich spiralenförmig mit dem Kakaopulver mischte. Die heiße Schokolade war die Wirren und Herabsetzungen des gestrigen Abends fast wert. Noch besser fühlte ich mich, als Betty verkündete: »Eure neuen Kleider sind eingetroffen.« Die Schokolade schmeckte wunderbar, und ich schluckte sie, so schnell es ging, hinunter, während ich mir sagte, dass es morgen bestimmt noch mehr davon geben würde und übermorgen und überübermorgen. Ich konnte es kaum erwarten, mich auf die in braunes Papier eingewickelten Pakete zu stürzen, die am Fuß des Bettes lagen. Die Schnüre knüpfte ich eigenhändig auf und legte sie sorgfältig beiseite, damit sie wieder verwendet werden konnten. Feines weißes Leinen, ein bisschen schwereres Blau, ein wenig Spitze, gut... 18 weder Samt noch Seide, aber vielleicht würde man mir die Ballkleider später anpassen. Ich nahm das blaue Kleidungsstück heraus: eine kurze, enge Leinenjacke. Kein Modestil, den ich kannte, möglicherweise war es eine Reitjacke? Dazu passend ein Hemd, nein, es war eine Hose. Eine Hose, die sich auf beiden Seiten zuknöpfen ließ und vorne einen Hosenlatz hatte. Ich runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass die Kleider für mich bestimmt sind?« »O ja, Mylady. Der Herzog hat sie liefern lassen.« »Aber es ist Herrenkleidung. Ich kann das nicht anziehen.« »Ach, keine Sorge.« Sie kicherte. »Ich hab schon so manchem jungen Burschen in und wieder aus solchen Kleidern geholfen, da könnt Ihr sicher sein. Ich werde Euch helfen, die Kleider richtig anzulegen.« »Aber ich kann diese Kleider nicht tragen!« »Und warum nicht, Liebes?« »Sie sind nicht... Sie haben doch...« Sie rollte Strümpfe auseinander, weiße Halstücher, die noch gebügelt werden mussten, Westen und Jacken mit schweren Knöpfen und Hemden mit weiten Ärmeln.
»Seht doch! Sie wurden genau für Eure Maße geschneidert, die dem Schneider vorher gegeben worden waren, meine Liebe. Sie werden Euch wie angegossen passen.« Ich konnte es kaum ertragen, die Kleider auch nur anzufassen. Nicht dass ich nicht schon Männerkleider in den Händen gehalten hatte; ich hatte oft genug die Kleider meiner Brüder geflickt. Aber diese hier waren für mich bestimmt. Ich sollte etwas anziehen, was normalerweise Männer trugen. Strümpfe, Halstücher, Westen, Jacken mit schweren Knöpfen und weiten Ärmeln - das war alles völlig falsch. So ruhig ich konnte, erklärte ich: »Das sind sehr nette Sachen. Aber ich werde sie heute nicht anziehen. Bitte nehmt 19 mein Kleid mit den blauen Blumen heraus und den gelben Unterrock...« »O nein, Mylady. Ihr sollt diese Kleider hier sofort anziehen und dann zu Eurem Unterricht gehen.« »Unterricht?«, fragte ich scharf, wobei mir Dinge wie Zeichnen und Rechnen durch den Kopf gingen, all der Unterricht, den ich zuhause gehabt hatte, bevor wir meiner Gouvernante kündigen mussten, aber ich glaubte nicht, dass Betty das meinte. »Ja, Unterricht. Ein richtiger Degenlehrer reist den ganzen langen Weg nach Tremontaine House, nur um Euch Unterricht zu erteilen.« Ich spürte, dass ich jetzt die Rechnung für unseren Teil des Geschäfts vorgelegt bekam. Der Gedanke daran zwängte mich stärker ein als jedes Halstuch oder jede Jacke mit schweren Knöpfen. »Aber nicht heute. Bestimmt doch nicht schon heute, jetzt noch nicht...« Aber natürlich schon heute. Er hatte es mir selbst gesagt. Ich gehörte jetzt dem Herzog, und damit hatte ich mich schon vor Wochen einverstanden erklärt. »Ich werde sie nur hier im Haus tragen«, sagte ich, »damit er seine Freude hat. Und für den Unterricht.« Aber das, versicherte ich mir, würde auch alles sein. Und so ließ ich es zu, dass sie mir das Hemd über den Kopf zog — sauberes, knisterndes Leinen, aus dem man die schönste Bluse hätte machen können! — und stieg in die Hose. Die Knöpfe schlossen den Latz, und das war alles, was zwischen mir und der Welt lag, und es gab nichts, worunter ich meine Beine vor den Bücken anderer Menschen verstecken konnte, ausgenommen die ein wenig darüber hängende kurze Jacke und die groben Strümpfe, die alles enthüllten, was sie verhüllen sollten. Die Jacke wurde eng zugeknöpft; sie war gut geschnitten, drückte meine Brüste flach und 19 zwängte meine Arme ein. Die Männerkleidung zwickte mich an Stellen, an denen ich nicht gezwickt werden wollte, zeigte mehr von mir, als ich sehen lassen wollte, und ergriff von mir mit seltsamen Verknotungen und lockeren Stellen Besitz. Und da stand ich nun da und zitterte wie ein junges Pferd nach dem Einreiten, während Betty hurtig die letzten Verschlüsse zuknöpfte. Ich wagte nicht, in den Spiegel zu blicken. Ich konnte es nicht ertragen, mich in etwas verwandelt zu sehen, das weder Junge noch Mädchen war. War es das, was mein Onkel wollte? Ich hoffte, dass er jetzt wenigstens zufrieden war! Betty zog ein blaues Samtband aus der Tasche und lächelte verschwörerisch, als wäre es ein Stück Buttercremetorte. Es war für mein Haar bestimmt, das in einen Zopf zusammengebunden werden sollte. Ich ließ sie gewähren, denn auch offen getragenes Haar hätte mich nicht in mein altes Selbst zurückverwandelt. »Jetzt seid Ihr bereit für den Unterricht. Ich bringe Euch zum Übungsraum, und bis Ihr wieder zurückkehrt, werde ich all Eure netten Sachen aufräumen und verstauen.« Ich hatte das Kleid, das ich auf dem Fest getragen hatte, über einen Stuhl gelegt. Bevor sie es an sich nehmen konnte, griff ich schnell in die Tasche, nahm die Karte meiner Freundin heraus und steckte sie in meine Jacke, ein kleines bisschen Trost direkt an meiner Brust. Keine meiner Bewegungen wurden von schwingenden Röcken begleitet. Ich hatte den Schutz voller Röcke, die Stütze des Fischbeinkorsetts eingebüßt. Es gab nichts, worin ich meine Hände verstecken konnte. Beim Gehen spürte ich die Luft an meinen Beinen. Mein Körper war fast vollständig mit Stoff bedeckt, dennoch fühlte ich mich nackt und entblößt. Jeder konnte mich anschauen und konnte fast alles von mir sehen! 19
Ein dunkelviolettes Cape lugte aus dem Packpapier hervor. Verzweifelt riss ich es heraus und warf es um die Schultern. Wenigstens bedeckte es meine Knie. »Nein, nein, Mylady, Ihr werdet nicht aus dem Haus gehen müssen. Seine Gnaden haben extra einen Raum umbauen lassen, nur als Übungszimmer für Euch!« Aber ich hielt das Cape fest um mich gewickelt. Und so machten wir uns auf den Weg durch die Flure von Tremontaine House, Betty wie immer unsicher, wohin wir gingen, während ich mir größte Mühe gab, in keinen Spiegel zu blicken. Das war nicht einfach. In den goldverzierten Korridoren hingen viele Rahmen, sie überraschten mich an den Wänden oder hinter den Ecken. Manchmal enthielten sie Gemälde, manchmal auch Glasscheiben, in denen sich Fenster, Treppen oder mein eigenes bleiches Gesicht spiegelten. Doch selbst wenn ich nicht hinsah, wusste ich: Ich war wie ein Mann gekleidet. Ich trug Männerkleidung. Die Reflektionen waren wie Männeraugen, wie Männerblicke, die mich berührten. Das Cape ging mir bis knapp unter die Knie, und wenn ich es losgelassen hätte, so wäre es sehr hübsch um meine Schultern geschwungen, denn es war gut und voll geschnitten. Aber ich hielt es eng geschlossen, wie eine Decke, die mich gegen die Kälte schützen sollte. Betty unterbrach ihr hektisches Geplapper keinen einzigen Augenblick, aber ich achtete kaum darauf: Wie dankbar sie dem Herzog doch sei, wie wenig sie ihre neue Stellung verdient habe und dass sie doch das eine oder andere über Damen wisse und sich nie mit ihren Männern einlassen würde, jetzt nicht mehr, o nein, nicht mal, wenn sie mit dem Schwert dazu gezwungen würde ... Endlich brach sie ab. »Dort ist es, die Flügeltür mit den nassen Kaninchen drauf.« Das war eine recht passende Beschreibung der kunstvoll ausgeführten Waldszene nach einem Sturm. Bevor sie die Tür aufmachen konnte, klopfte ich an. 5i »Ja!«, brüllte eine Männerstimme. »Beeilung!« Er stand mitten in dem riesigen, von der Sonne bestrahlten Raum. Ein kräftiger, muskulöser Mann, nur halb bekleidet, denn er trug nur eine Hose und ein Hemd mit weit geöffnetem Kragen. Er hatte einen schwarzen Vollbart mit einem struppigen Schnauzer. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. »Wie? Wie?«, bellte er. »Ist dir kalt? Du trägst deine Bettdecke?« Mein Griff an den Umhangfalten lockerte sich. Ich ließ das Cape zu Boden fallen. Der Mann nickte mir knapp zu und dann in Richtung eines Gestells, in dem Degen steckten. »Nimm dir einen. Und dann zeige ich dir, wie du es falsch machst.« Die Stimme war fremdartig, und die Wörter klangen komisch, so wie er sie trillerte und in höchst unerwarteter Melodie hoch und tief ausstieß. »Komm! Los! Ich möchte nicht, dass man mich lässt warten! Ich habe viele Schüler, die um meinen Unterricht betteln! Ich muss ihnen sagen: >Nein, nein,Venturus ist nicht für dich, sondern nur für den Irren Herzog da. Sein kleiner Knabe weiß nicht, wie man einen Degen hält.«< »Ich bin kein Knabe«, sagte ich. Er schoss mir einen Blick zu. »Nein? Bist du ein Kaninchen? Hast du Fellpfoten? Nein? Dann nimm endlich einen Degen!« Ich zog den nächstbesten Degen aus dem Ständer. Er stand seitwärts von mir, eine Hand in die Hüfte gestützt. »Gut.« Er nickte. »O ja, sehr gut.« Das Lob wärmte mich ein wenig. »Sehr gut - wenn du Hähnchen schlachten willst!«, donnerte er. »Wie willst du dich denn verteidigen, wenn du deine Stellung ändern musst, ha?« Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er redete. Und ich hatte zu große Angst, um ihm zu erklären, dass man ein 20 Messer niemals so halten würde, um ein Hähnchen zu schlachten. »Haltung, Standbein wechseln, neue Linie — veränderte Stellung der Spitze aus dem Handgelenk heraus!« Ich versuchte es, aber das Gewicht des Degens drückte auf die Hand, bis ich den Griff drehte. Nun konnte ich meine Finger besser bewegen und die Degenspitze besser ausrichten. Aber das würde ihm natürlich nicht gefallen. Ich starrte die Degenspitze an und weigerte mich, ihm ins Gesicht zu schauen.
»Ja«, sagte Venturus. »Jetzt hast du es gesehen. Du siehst, aber du merkst nichts!« Mit seinem eigenen Degen hieb er so hart gegen meine Klinge, dass mir der Schmerz durch den Arm zuckte. Mein Degen wirbelte durch die Luft. »Ha!«, schrie er triumphierend. Ich konnte nicht sehen, warum es für ihn einen Triumph bedeutete, einen Anfänger zu entwaffnen. »Du packst den Griff nicht so hart an wie die Brust von deiner Mama! Ganz sanft halten, sanft. Wie du einen Säugling hältst oder einen Hund, der beißt.« Ich gab mir Mühe, über den Vergleich nicht zu lachen. Als ich den Degen lockerer hielt, wurde er plötzlich in meiner Hand beweglich. »Ja-a-a«, zischte er zufrieden. »Siehst du?« Ich lächelte. Ich kam mir nicht mehr so töricht vor. Ich warf mich in die Pose eines Degenfechters. Venturus schrie auf, als hätte ich ihn getroffen. »Wa-a-as glaubst du, machst du mit deinen Beinen? Deinen Armen? Habe ich dir die Erlaubnis gegeben, so etwas zu tun? Ich nicht! Niemals! Kein Schüler von Venturus hat jemals so ausgesehen!« Er ahmte meine Pose nach, und es sah aus wie eine Lumpenpuppe an Drähten. Leise und verlegen sagte ich: »Tut mir leid.« Ich hasse es, wenn man sich über mich lustig macht. »Soll dir auch leid tun! Dummer Herzog-Knabe! Jetzt übst du, den Degen zu halten, nichts als halten! Du möchtest jetzt 21 jemanden töten, vielleicht möchtest du mich töten. Ja! Aber zuerst übst du, den Degen zu halten! Ha!« Der seltsame Fremdling warf sich einen Mantel über die Schultern. »Wohin geht Ihr?«, fragte ich. »Ich gehe zu einem anderen Schüler, einem, der mir zuhört. Vielleicht zeige ich dir morgen, wie du nicht stehen darfst. Ha!« Und mit wirbelndem Umgang verschwand er. Ich hielt den Degen. Selbst nachdem sich die Tür geschlossen hatte, war ich nicht sicher, ob Meister Venturus nicht plötzlich wieder erscheinen würde. Der Degen in meiner Hand sah solide und wie ein Handwerkszeug aus, wie ein Wellholz oder der Stiel einer Gartenharke. Doch dann ließ ich den Blick darüber gleiten und sah, wie schmal die Klinge war, wie sie glänzte. Sie hatte keinen anderen Zweck als Abwehr, Angriff und Tod. Ich fragte mich, was meine Mutter dazu sagen würde, aber ich fand keine Antwort. Zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, eine Nähnadel in der Hand zu halten statt eines Degens. Plötzlich erschien mir das winzige Folterinstrument so beruhigend und harmlos. Mein Arm schmerzte, egal wie ich den Degen drehte. Ich beschloss, die Waffe wegzustellen, in mein Zimmer zurückzukehren und mich wieder in jene Art von Mädchen zu verwandeln, das vielleicht gelegentlich die Haushälterin fragte, ob sie Hilfe beim Stopfen brauchte. Im Kleiderschrank hingen meine neuen Kleider sauber nebeneinander oder lagen sorgfältig gefaltet in den Schubladen. Ich suchte nach meinen alten Kleidern, fand sie aber nicht. Nicht in den Truhen. Nicht draußen zum Auslüften. Nichts war mir geblieben von all meinen Röcken, Miedern, Unterröcken und Strümpfen, die vor ein paar Tagen so sorgfältig ausgewählt, ausgebessert und eingepackt worden waren. Ich versuchte erst gar nicht, Betty zu finden. Ich wusste, 21 was geschehen war. Ich wusste es, und ich würde es nicht hinnehmen. Das war ein Wettstreit, den der Irre Herzog nicht gewinnen würde. Auf der Karte in meiner Tasche stand: ARTEMISIA FITZ-LEVI, BLACKBURN HOTJSE. Auf den Straßen würde ich mich in diesem lächerlichen Männeraufzug nur ein einziges Mal blicken lassen. Grimmig wickelte ich mich in meinen Mantel und verließ Tremontaine House, um meine Freundin zu besuchen. Es dauerte nicht lange, bis Lady Artemisia Fitz-Levi genug vom seltsamen Benehmen ihres neuen Schoßtiers hatte. Der Papagei war einfach ein bisschen zu gescheit. Sie hatte eher eine Art farbige, sprechende Puppe erwartet, nicht ein Wesen, das seinen eigenen Kopf hatte. Der Papagei bevorzugte Früchte statt Kuchen, Ohrläppchen statt Finger und bestand auf Samt als Bodenbelag des Käfigs. Außerdem mochte er Frauen lieber als Männer, und als
ihr Cousin Lucius Perry sie besuchen kam, griff er ihn an, und sie musste nach ihrer Zofe rufen, um den Vogel nach unten bringen zu lassen, wo er zweifellos das Hauspersonal mehr amüsierte als sie, obwohl man ihn nicht für diesen Zweck angeschafft hatte. »Du siehst schmuck aus«, sagte sie billigend zu ihrem Cousin Lucius. Artemisia war der Meinung, dass erst die richtige Menge an Spitze das Erscheinungsbild eines Mannes entscheidend vervollständigte. Aber natürlich hatte Lucius mit seiner schlanken Gestalt, dem dunklen Haar und den blauen Augen eine hervorragende Ausgangsbasis. »Und du siehst erschöpft aus.« Lord Lucius Perry hatte sich auf ihrem Fenstersitzplatz bequem ausgestreckt und blickte sehnsüchtig auf die zerbrechlichen Zimtwaffeln, die gerade noch in seiner Reichweite auf einem gleichermaßen zerbrechlich wirkenden, bemalten Tisch lagen. »Warst wohl aus und hast deine Schuhe zertanzt? Welcher Galant hat dieses Mal dein Auge gebannt?« 22 Sie konnte es kaum erwarten, ihm unter strengster Verschwiegenheit alles über das Fest des Herzogs gestern Abend zu erzählen, aber er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Und wo ist dein lasterhafter Bruder? Robert hat mir für heute einen kleinen Schlagabtausch beim Tennis versprochen. Ist er außer Haus, um seine Eroberungen der letzten Nacht zu hofieren, oder schläft er noch aus?« Artemisia lächelte ihn geduldig an. Er war ihr Cousin, also nicht sonderlich viel wert, und außerdem auch noch ein jüngerer Sohn. »Sehe ich wirklich so furchtbar aus, Lucius? Habe ich Ringe unter den Augen? Ich habe sie in Gurkenwasser gebadet, aber ich bin nicht sicher, ob das viel genützt hat. Vor allem möchte ich nicht, dass Mama erfährt, was ich gemacht habe«, deutete sie ganz allgemein an. Lucius tat nicht einmal so, als wäre er interessiert. »Aber doch nichts Furchtbares, hoffe ich. Du willst sicher nicht, dass man über dich zu reden anfängt, Artemisia, besonders jetzt nicht, da deine Aussichten dieses Jahr so gut sind.« »Natürlich nichts Furchtbares! Wofür hältst du mich denn? Du bist mir der Richtige, der mir eine Lektion erteilen könnte, Lucius, ausgerechnet du! Soweit ich weiß, hast du früher allen möglichen Unfug angestellt, wovon mir Mama nicht einmal erzählen will.« »Das war damals«, sagte er gedehnt. »Inzwischen habe ich mich gebessert.« »Nun gut, aber seither bist du ungewöhnlich langweilig geworden.« »Meinst du wirklich?« Er lächelte nur ganz leicht. Seine Augenlider flatterten, während er lässig einen Finger in Richtung Keksteller streckte, aber seine Cousine war unempfänglich für diese Form einer versteckten Anspielung. »Ehrlich, Lucius, du bist der faulste Mensch, den ich je kennen gelernt habe! Beug dich gefälligst vor und nimm dir selbst einen Keks, erwarte bloß nicht, dass ich aufstehe
22 und dir den Teller reiche, solange du so nahe an dem Tisch sitzt!« Doch stattdessen lehnte sich Lucius Perry zurück und badete sein fein gegliedertes Gesicht in dem schräg hereinfallenden Sonnenlicht. Durch die Augenlider konnte er nur sattes, beruhigendes Rot sehen; wenn seine Cousine auch nur eine Minute lang zu reden aufhörte, würde er wohl einschlafen. Nein, würde er nicht: Ein Klopfen an der Haustür und aufgeregte Stimmen von unten verkündeten die Ankunft eines weiteren Besuchers. »Artemisia«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen, »du solltest wirklich vorsichtig sein. Du bist hübsch, kommst aus guter Familie, dein Vater ist großzügig, und du hast eine hübsche Stimme. Würde mich nicht überraschen, wenn jemand noch in diesem Jahr um dich anhält. Aber versuche nicht, dich mit Roberts Wagemut zu messen: Ballsäle in der Stadt sind etwas anderes, als zuhause auf Bäume zu klettern oder vom Heuspeicher zu springen.« Sie richtete sich stolz auf. »Danke für den Ratschlag, Cousin. Als ob ich nicht wüsste, wie man sich in der Stadt zu benehmen hat! Ich mag es hier, es ist sehr viel besser als auf dem Land. Soweit ich betroffen bin, würde ich hier gerne für den Rest meines Lebens mein Zuhause haben, und ich hoffe einen Mann zu heiraten, der das Gleiche denkt: jemand mit Stil und ein bisschen Elan wie Robert, nicht ein so Langeweiler wie du, für den ein Tag mit Tennis und einem Besuch bei einer Verwandten ein aufregender Tag ist und für den ein aufregender Abend darin besteht, zuhause zu sitzen und ein Buch zu lesen. Oder was auch
immer du sonst tust, wenn du allein bist. Ach, übrigens habe ich dich gestern Abend in Tremontaine House nicht gesehen!« »Tremontaine House?« Lucius Perry gab seine lässige Haltung auf. »Mit den Leuten willst du aber wirklich nichts zu tun haben, Cousine.« 23 Sie warf den Kopf zurück; die Korkenzieherlocken hüpften. »Und warum nicht, bitte sehr? Ich bin nicht das Landei, für das du mich hältst, Cousin. Ich weiß, wie ich mich in der Gesellschaft zu benehmen habe.« »Weißt du das wirklich?« Er hatte sich vorgebeugt und schaute sie mit seinen blauen Augen ein wenig düster an. Sie verdrängte die Erinnerung daran, wie sie von ihrem Gastgeber zur Flucht getrieben worden war. »Ganz gewiss. Es gibt nichts Entsetzliches in Tremontaine House« — sie lachte hell auf — »mit Ausnahme des Irren Herzogs natürlich. Er hat ziemlich schlechte Manieren, nicht wahr? Ich verstehe eigentlich gar nicht, was die Leute in ihm sehen.« »Nein, das kannst du auch nicht verstehen. Deshalb ist er ja so gefährlich.« Lucius' Lächeln war absolut reizend. »Natürlich weißt du, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hat, du bist schließlich eines ihrer strahlendsten Schmuckstücke. Aber der Herzog von Tremontaine steht außerhalb der Gesellschaft. Selbst er behauptet, dass das für ihn der richtige Ort ist. Und er ermuntert andere - natürlich solltest du dich nicht von ihm ermuntern lassen! —.jedenfalls die Leute, mit denen er sich umgibt, dass sie, äh, diese Außenseiterposition ebenfalls erkunden sollten.« »Na ja, alle kamen mir vollkommen normal vor, die übliche Ansammlung von Salonlöwen und Ballhasen, nur eben alle in einem Haus versammelt, aber das war's dann auch schon. Aber das kann man doch kaum...« Ihre Locken flogen auf, als sie den Kopf ruckartig zur Tür drehte. Von unten war beträchtlicher Lärm zu hören, Stiefelschritte im marmorgefliesten Treppenhaus, ein schriller Aufschrei. »Vielleicht ist es Robert«, meinte Lucius, »mit seiner neuesten Flamme.« Jemand kam die Treppe heraufgerannt — oder zwei Jemands. Der Erste war ein Bediensteter, der die Tür zum Salon gerade 23 weit genug öffnete, um atemlos einen Besucher anzukündigen. »Eine ... weibliche Person, Mylady, möchte Euch besuchen, sagt sie, obwohl ich ...« »Von dem Fest«, übertönte ihn eine schrille Mädchenstimme. »Sagen Sie ihr, Katherine, Lady Katherine Talbert — nur hab ich eben keine Karte — von Tremontaine House.« Lucius warf seiner Cousine einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Lakai öffnete die Tür ganz. »Lady Katherine«, verkündete er. Und nun trat die seltsamste Gestalt ein, die Lady Artemisia jemals außerhalb einer Theaterbühne gesehen hatte; eigentlich sogar schlimmer als im Theater, weil Schauspielerinnen, die Männerrollen spielen mussten, wenigstens einen Versuch unternahmen, ihr Haar zu kürzen, ihre weiblichen Rundungen zu verbergen und männliches Verhalten einzuüben. Das hier war jedoch eindeutig ein Mädchen, klein und weiblich gerundet, mit langem Haar, das in unordentlichen Strähnen unter einem Haarband hervorquoll. Lediglich ihre Kleidung war eine perfekte Nachahmung von Männerkleidung. Artemisia Fitz-Levi hob die Hand vor den Mund. Sie wusste, dass es schlechtestes Benehmen war, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun: Das Lachen ließ sich nicht zurückhalten. Das Mädchen starrte sie an. Sein Gesicht wurde blass, dann flammend rot. »Von Tremontaine House«, bemerkte Lucius selbstgefällig. »Nun siehst du wohl, was ich meine.« Katherine Talbert wirbelte auf dem Absatz ihrer lächerlichen Stiefel herum und rannte klappernd durch den Flur die Treppe hinunter. Wahrscheinlich hätte niemand auf den Jungen geachtet, wenn er nicht so verzweifelt durch einen sehr gesetzten Teil der Stadt gelaufen wäre, wo eine schnell laufende Person gewöhnlich nichts als irgendeine Untat bedeuten konnte. 23 »Hallo, du!« Eine Hand schoss plötzlich hervor und brachte die Gestalt schleudernd zum Stillstand. Philibert, Lord Davenant, gehörte nicht zu den aufmerksamsten Männern: Er sah
ein Knabengesicht, weil er ein Knabengesicht erwartete, und der ehrenwerte Lord Davenant gehörte zu den Menschen, die eine Welt aus Ordnung und Anstand schätzten. Das lange Haar dieses Knaben konnte daher nur Universität bedeuten, und auf dem Hügel wohnten nur wenige Gelehrte. Ferner hatte der Junge wohl geweint und schien geradezu verängstigt, dass man ihn erwischt hatte. »Aha!«, erklärte Lord Davenant. »Wohin so eilig? Vielleicht versteckst du da etwas in der Tasche, wie?« Und schon schob er dem Jungen eine Hand in die Hosentasche, während er ihn mit der anderen Hand am Arm festhielt. »Hilfe!«, schrie der Junge mit schriller Stimme. »Lasst mich los!« Er versuchte, sich aus Davenants Griff zu winden. »Wie könnt Ihr es wagen!« »He, du kleine Ratte!« Halb belustigt, betrachtete Davenant ihn genauer. »Soll ich nun die Wache rufen oder dich gleich selbst verprügeln?« Der Junge wischte sich mit dem freien Arm die Nase ab. »Wenn Ihr ein echter Gentleman wärt«, sagte er plötzlich, »würdet Ihr mich nach Tremontaine House zurückgeleiten.« »Ach so!« Davenant ließ sofort den Arm des Jungen los, als fürchtete er, sich anzustecken. »Zu dieser Sorte gehörst du also!« »Was meint Ihr damit?« »Geh schon, hau ab.« Davenants Meinung über Tremontaine House war im Rat wohl bekannt. Das Letzte, was er wollte, war, in aller Öffentlichkeit im Gemenge mit einem der Lustknaben des Irren Herzogs gesehen zu werden. »Da geht's lang. Und nun verschwinde.« Der Junge riss sich zusammen und ging mit unsicheren Schritten davon. 24 Ich konnte mich nicht an den Weg erinnern und hatte auch nur eine sehr unbestimmte Vorstellung davon, wie Tremontaine House von der Straße aus aussah. Die Mauern aller großen Häuser sahen irgendwie gleich aus, und alle hatten Tore aus schwarzem Eisen mit goldenen Spitzen. Ich gab mir Mühe, so zu gehen, als würde ich den Weg genau kennen. »Hallo, Lady Katherine.« Vor mir tauchte ein Junge in ungefähr meinem Alter auf. Er war einfach gekleidet und hatte ein offenes, gewöhnliches Gesicht. Ich brauchte einen Augenblick, um in ihm den Diener des Herzogs zu erkennen, den unersetzlichen Marcus, den Jungen, der immer über alles Bescheid wusste. Er sagte: »Ich bin auf dem Weg nach Tremontaine House, wenn Ihr mit mir kommen möchtet.« Ich folgte ihm schweigend. Er hatte sich mir noch nicht vorgestellt, und auch jetzt machte er keine Anstalten dazu, redete nur einfach mit mir, als hätten wir uns schon immer gekannt. »Schöner Tag heute, nicht wahr? Betty dachte, Ihr seid durchgebrannt, aber ich vermutete, dass Ihr nur einfach spazieren gegangen wart. Ihr würdet sie doch nicht in Schwierigkeiten bringen, indem Ihr einfach weglauft, oder? Ihr solltet mal den Schlosspark erkunden«, plapperte er munter weiter, »sehr interessant. Wege, Statuen, Brunnen und solches Zeug, obwohl ich glaube, dass sie die Brunnen in dieser Jahreszeit bereits abgestellt haben. Die Gärtner graben dauernd irgendwelche Blumenzwiebeln aus und pflanzen neue. Die lassen sie zuerst in einem großen Glashaus wachsen. Macht ziemlich viel Arbeit, das Ganze. Ihr könnt Euch Blumen ins Zimmer stellen lassen, wenn Ihr möchtet. Soll ich welche für Euch bestellen?« Die Empfangshalle von Tremontaine House war kühl und weiß und vollkommen leer. Verschwunden waren das geschäftige Treiben und das Kommen und Gehen, das am Abend zu 24 vor geherrscht hatte; an seine Stelle war eine gespenstische, angenehme Feierlichkeit getreten. »Wo ist der Herzog?«, erkundigte ich mich. »Weg. Alle sind weg, sie sind nach Riverside House gezogen.« »Alle? Aber ich...« »Oh, Ihr natürlich nicht. Ihr bleibt hier.« »Allein?« In meiner Panik wurde meine Stimme schrill. »Eigentlich nicht. Eine Menge Bedienstete leben hier. Er kommt und geht, müsst Ihr wissen. Und er will, dass auch hier immer alles für ihn bereit ist. Sie werden sich schon um Euch kümmern. Sagt Betty einfach, was Ihr braucht.«
»Und du? Bleibst du auch hier?« Ich hasste mich selbst, weil ich von ihm eine bestimmte Antwort hören wollte, aber er war wenigstens halbwegs freundlich zu mir. »Nein. Ich gehe dahin, wo er ist.« »Und wann kommst du — wann kommt er — zurück?« »Wenn ihm der Sinn danach steht. Riverside House ist im Winter wärmer; dieses Haus dagegen ist im Sommer angenehmer. Und in den Zeiten dazwischen...« Marcus zuckte mit den Schultern. »Ist es weit draußen, auf dem Land?« »Ist was weit draußen?« »Riverside.« Der Junge lachte, als hätte ich ihm einen Witz erzählt. Dann schüttelte er den Kopf. »Riverside? Es ist direkt hier, in der Stadt. Am anderen Ende der Stadt, ein alter Kasten in der Nähe der Hafenanlagen. Riverside ist eine Insel im Fluss. Eigentlich nichts Besonderes. Ich würde da nicht wohnen wollen. Aber er mag es eben.« »Ist es ein schönes Schloss?« »Es ist ein altes Schloss.« Wieder das Schulterzucken. »Aber er mag es eben.« »Na gut«, sagte ich, und dann kam mir ein Gedanke. 25 »Während er weg ist, bin ich also die Hausherrin hier?« »Wieso?« Ich hatte noch nie mit einem derart ungehörigen Bengel von Diener zu tun gehabt. Aber das hier war auch kein gewöhnlicher Haushalt. Sorgfältig erklärte ich ihm: »Nun, die meisten Schlösser haben einen Schlossherrn oder eine Schlossherrin. Ist der Lord unverheiratet, dann ist es meistens eine Schwester oder eine Tochter, die diese Pflicht wahrnimmt. Also ist es doch nur logisch, dass ich...« Marcus hatte mir währenddessen mit großer Geduld zugehört und wartete offenbar darauf, dass ich irgendwann etwas Vernünftiges sagte. Er brachte mich richtig aus dem Konzept. »Also ist es doch nur logisch, dass ich als Nichte des Herzogs, nun, dass ich... In seiner Abwesenheit wäre ich also ...« »Er hat keine diesbezüglichen Anweisungen hinterlassen«, erklärte mir Marcus mit tiefem Ernst. »Ich könnte natürlich seine Aufmerksamkeit darauf lenken, aber...« Er brauchte den Gedanken gar nicht weiter auszuführen. Ich hatte schon genug Aufmerksamkeiten des Herzogs erlebt. »Na gut«, sagte ich hochmütig und blickte mich in der riesigen Empfangshalle um, »wenn ich schon keine Pflichten habe, dann werde ich eben die feine Dame geben.« »Wie es Euch beliebt«, sagte er. »Ich muss mich jetzt wieder auf den Rückweg machen.« Marcus verbeugte sich nicht, als er ging. Erst als er weg war, wurde mir klar, dass ihm offenbar meine seltsame Bekleidung nicht aufgefallen war - und dass ich sie, während ich mit ihm zusammen war, selbst völlig vergessen hatte. In meinem wunderbaren Zimmer zur Flussseite setzte ich mich in einen der zierlichen Sessel und überließ mich meinem Unglück. Mein Besuch bei Artemisia war eine einzige Enttäuschung gewesen. Aber wahrscheinlich hatte sie mich ohne weibliche Kleidung nicht erkannt und dieser furchtbare Mann, 25 der bei ihr war, hatte eine widerliche Bemerkung gemacht, bevor ich auch nur zu einer Erklärung hatte ansetzen können. Ich musste einfach abwarten, bis ich eine neue Gelegenheit fand. Artemisia hatte gestern Abend von ewiger Freundschaft gesprochen. Sicherlich würde meine neue Freundin mir helfen, wenn sie nur erst erfuhr, was mir mein Onkel angetan hatte. Sie würde mir anständige Kleider beschaffen und dafür sorgen, dass ich mich mit anständigen Leuten traf. Natürlich konnte ich Tremontaine House nicht völlig entkommen; ich musste tun, was der Herzog von mir verlangte, um ihm zu gefallen, schließlich hing das Wohlergehen meiner Familie davon ab. Aber das konnte doch sicherlich nicht bedeuten, dass ich hier als Gefangene gehalten wurde! Ich holte tief Luft und beruhigte mich, indem ich eine Schatulle öffnete, in der sich schöne gebügelte Taschentücher befanden. Das war doch alles gar nicht so schlecht, nicht wahr? Ich lebte allein in einem der schönsten Häuser der Stadt, und kein Irrer Herzog sprang hinter den Türen hervor, um mich zu quälen. Keine lästigen Pflichten, keine Hausarbeiten zu erledigen, jedenfalls soweit ich sehen konnte. Nur ein paar dumme Kleider und nutzloser Unterricht. Aber MeisterVenturus hatte nicht erwähnt, dass ich lernen musste, Leute
umzubringen; er schien nur Wert darauf zu legen, dass ich mit dem Degen in der Hand hübsch und adrett aussah. So ähnlich wie Tanzunterricht — das würde ich schon schaffen. Ich suchte in der Schublade des reizenden goldverzierten Sekretärs nach Briefpapier. Nichts zu finden. Ich würde Betty bitten müssen, mir ein wenig Briefpapier zu besorgen, damit ich an Artemisia schreiben konnte und an meine Mutter. Nein, warte mal, auch das gehörte zur Abmachung: Sechs Monate lang keine Briefe an die Familie, und ich durfte auch keine Besuche von ihr empfangen. Mein Bruder Gregory wohnte irgendwo in der Stadt, aber er durfte nicht in meine Nähe kommen. Das war mir eigentlich egal. Gregory ist ein 26 sehr ernsthafter junger Mann, genau wie unser Vater es gewesen war, und obwohl er schon seit mehreren Monaten in der Stadt lebte, hatte ihn der Irre Herzog noch nie eingeladen. Jetzt wurde mir klar, warum. Gregory hielt sich prinzipiell an jede Regel; er würde wahrscheinlich nicht versuchen, mit mir heimlich Kontakt aufzunehmen, obwohl meine Mutter das vermutlich wünschte. Ich könnte ihr natürlich trotzdem schreiben, aber ich fand den Gedanken bedrückend, wochenlang Briefe aufzuhäufen, die niemand zu lesen bekam. Doch ich machte mir Sorgen, wie sie wohl ohne mich zurecht kam. Wahrscheinlich machte sie alles falsch, obwohl ich ihr eine Liste der Dinge hinterlassen hatte, die sie nicht vergessen durfte: die Winterbettwäsche auslüften, die Tische mit Wachs polieren, die Küchenmädchen von ihren Zänkereien um die Gunst des Stalljungen abzuhalten. Und wer kämmte ihr jetzt das Haar aus, ohne ihr Schmerzen zuzufügen, wer achtete darauf, dass ihre spitzenbesetzten Seidenkleider zueinanderpassten, wer erinnerte sie daran, regelmäßig ihr Stärkungsmittel zu nehmen? Das Haus würde in meiner Abwesenheit buchstäblich auseinanderfallen, während ich hier nutzlos herumsaß und dazu gezwungen wurde, etwas zu erlernen, worin ich nicht gut war und nie sein würde! Und alles nur, um den irren Launen meines irren Onkels zu folgen, der sich nicht einmal die Mühe machte, sich von mir zu verabschieden, wenn er mich in einem fremden Haus allein zurückließ. Meine Stiefel klapperten beruhigend laut über die Fliesen, als ich die Treppe hinunterstapfte, um in der Bibliothek nach Papier zu suchen. Oder vielleicht konnte ich bei der Gelegenheit auch nach einem Adelsstammbuch Ausschau halten, in dem ich die geheimnisvollen Namen meines dummen Onkels nachschlagen konnte, um ihn ordentlich zu beeindrucken, falls er sich hier wieder blicken lassen sollte. Und endlich fand ich die Bibliothek - ein großer Raum, vom Bo26 den bis zur Decke gefüllt mit Büchern, mehr Bücher, als ich je im Leben zu sehen bekommen hatte. Und sie schienen alle ziemlich langweilig zu sein: Vom Sinn der Natur, Dialog mit dem Tyrannen, diese Art von Schmökern. Die meisten Einbände waren aus Leder und mit Gold bedruckt, sodass ihre äußere Erscheinung sehr viel ansprechender wirkte als ihre Inhalte. Ich verlor mich rasch in der Welt der Bücher und fand ein reich ausgestattetes Buch mit dem Titel Geographische Exotica. Damit setzte ich mich an einen Fensterplatz und betrachtete die Bilder und las die Beschreibungen von weit entfernten Orten, wobei ich nur halb überzeugt war, dass es sie überhaupt gab. Am Rand eines Textes, der sich mit der Insel Kyros befasste, hatte jemand handschriftlich angemerkt: Woher der Honig kommt! In dem Buch stand, die Insel sei völlig von Thymian überwuchert, in dem die Bienen den ganzen Tag lang summten.
Kapitel 5
n einem warmen und reichhaltig möblierten Zimmer in Riverside wob der Duft von Kerzen und Essen und Körpern und Wein ein Netz der Geborgenheit um eine Männergruppe, die normalerweise mit sehr viel weniger angenehmer Umgebung zufrieden war. Sie waren so glücklich, wie sie nur sein konnten. Sie waren fast gesättigt, und niemand zog ihrer Unterhaltung Grenzen. »Reiche Soliman das Fleisch«, befahl der Herzog von Tremontaine. »Er kann schließlich nicht über die tierische Natur von uns Menschen reden, solange er sich nicht mit ihr vereint!« Als der Teller des Philosophen wieder gefüllt war, fuhr er mit seiner Argumentation fort. »Ich behaupte lediglich, wenn Dorimund es mir gestattet, dass Bildung die Antithese der
Natur ist. Es muss so sein. Wenn das Vermeiden dessen natürlich wäre, was wir als Laster bezeichnen, wie das Meiden von Kälte wegen möglicher Erfrierungen oder das Meiden von Feuer wegen möglicher Verbrennungen, dann müsste man uns nicht erst eigens davon abraten!« Ein älterer, bärtiger Mann hob das Glas an die Lippen, dann sagte er: »Ich merke, du hast keine Kinder, Sol. Dann müsstest du nämlich ihre Hände hunderte Mal vom Feuer wegziehen, wenn du nicht willst, dass sie den Flammen zum Opfer fallen.« »Erfahrung«, bestätigte ein anderer. »Erfahrung ist der Lehrmeister. >Ein gebranntes Kind scheut Feuer und so weiter. 27 Es gibt einen Unterschied zwischen Erfahrung und Ausbildung.« »Wir reden hier aber von abstraktem Denken. Die Früchte des Lasters werden nicht sofort sichtbar, aber ein Verbrennungsschmerz schon.« Der Herzog beugte sich über den Tisch. Wie die Gelehrten war auch er ganz in Schwarz gekleidet, nur war seine Kleidung mit dunkler Stickerei besetzt. »Die >Früchte des Lasters< stehen zur Debatte«, sagte er. »Sie sind empirisch nicht belegbar wie ein verbrannter Finger. Sie mögen abstrakt sein, Dorimund, aber...« Er brach ab, als der Knabe Marcus an seiner Seite erschien. »Ja, was ist?« »Eine Frau«, murmelte Marcus. »Sie steht am Westportal.« »Zur Hölle mit ihr«, zischte der Herzog. »Lass sie warten.« Sein Diener zeigte ihm einen Ring. »Sie sagte, das hätte sie von Euch bekommen.« Die Augen des Herzogs weiteten sich für einen kurzen Moment. »Und das hat sie auch. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie ihn noch einmal zeigen würde. Dann werde ich doch mal...« Er rappelte sich hoch und verbeugte sich knapp vor seinen Gästen. »Gentlemen. Ich werde mir den Rest der Debatte später erläutern lassen, oder vielleicht veröffentlicht Soliman seine kontroversen Theorien zum Entsetzen aller vernünftig denkenden Menschen, ein Unterfangen, das ich mit großem Vergnügen finanzieren würde. Sol, hör auf zu essen, sonst siehst du bald zu rosig und harmlos aus. Die Leute pfeifen nicht gern jemanden auf der Straße aus, der wie eine Wiegenpuppe aussieht.« Unter dem Gelächter der Gäste verließ er den Tisch, wand sich zwischen den schweren Vorhängen durch und folgte Marcus. Sie verließen den Raum durch eine bogenförmige Tür, stiegen zwei kleine Treppen hinunter, die unterschiedlich breit waren und deren erste sich nach links und deren zweite sich nach rechts wandte. 27 Die Frau mit dem Kapuzenmantel schrak auf, als der Herzog eintrat. Sie hatte keine Tür hinter der Wandverkleidung vermutet. Der Herzog zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Es ist der schnellere Weg. Ich wollte Euch nicht warten lassen. Hatte Angst, dass Ihr die Nerven verlieren würdet.« Ihr Stimme klang nur ein klein wenig atemlos. »Die sind ziemlich gestählt, danke trotzdem.« Abrupt griff er nach ihrer Hand. »Aber Euch ist kalt.« »Nur kühl. Das ist bei mir vor einem Auftritt häufig der Fall.« »Ich bin kein anspruchsvolles Publikum.« »Da hab ich schon anderes gehört.« Er lächelte sein zögerndes, seltsam charmantes Lächeln. »Und Ihr seid die berühmte Schwarze Rose. Nun, ich fühle mich geehrt.« »Die Ehre ist ganz meinerseits, Mylord Tremontaine.« Sie zog eine Strähne seines langen Haares an ihre Lippen. Der Herzog schloss einen Moment lang die Augen. Dann nahm er ihr Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger. »Noch nicht«, sagte er. »Erst müssen wir uns mit der Angelegenheit Ihres interessanten Freundes befassen.« Sie schien zu erstarren. »Er ist nicht sehr interessant.« »Scheint mir aber so.« »Deshalb müsst Ihr nicht gleich mit ihm schlafen.« »Ihr auch nicht, aber dennoch tut Ihr es.« Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, aber er legte ihr sanft die Finger auf die Lippen. »Lord Davenant wird allmählich ein wichtiger Mann, und er ist dem neuen Kanzler des Großen Kreises eng verbunden. Prestige, Geld,
Abenteuer. Das ist Euer Spiel, und ich brauche Euch nicht zu sagen, wie Ihr es spielen sollt. Aber ich freue mich, dass Ihr es auch mit mir spielen wollt.« Mit einer Hand strich sie ihm leicht über die Finger, die immer noch auf ihren Lippen lagen. Jäh wandte er sich ab und sagte in einem geschäftsmäßigen Tonfall: »Ich habe Euch 28 gebeten, mir Beweise für sein neuestes gerissenes Vorhaben zu liefern. Nun, lasst mich sehen, was Ihr habt. Selbst wenn ich flach auf dem Rücken liege — oder auf Eurem Rücken —, so kann ich immer noch zwischen einem echten und einem gefälschten Dokument unterscheiden.« Die Schauspielerin griff in die Falten ihres Umhangs. Er trat sofort einen Schritt zurück, denn es könnte immer ein Dolch hervorkommen. Aber sie zog nur ein Dokument heraus, an dem Siegel und Siegelband hingen und das sehr offiziell aussah. »Hübsch«, meinte der Herzog, als er es näher betrachtete. »Sehr hübsch. Das ist mehr als genug. Marcus.« Ohne sich umzusehen, reichte er seinem Diener das Dokument. »Arthur weiß, was er damit zu machen hat. Sag ihm, er soll zwei Kopien anfertigen und dann das Original zurückbringen.« Er schaute der Frau tief in die Augen. »Wie bald braucht Ihr es zurück, was meint Ihr?« »Sehr bald. Man wird nach mir fragen, wenn ich heute Abend nicht zurückkehre.« »Könntet Ihr ihm nicht sagen, dass die Proben länger gedauert hätten?« »Das hab ich ihm schon gesagt.« Die Schauspielerin zitterte. Der Herzog legte ihr den Arm um die Schultern und schob ihr seinen Ring auf den Finger. »Behaltet ihn.« »Ich werde ihn wahrscheinlich verkaufen.« »Das macht nichts.« Er zog sie an sich. »Wenn ich etwas verschenke, kümmert es mich nicht, was später daraus wird.« Die Schwarze Rose wandte sich in seinen Armen, eine große Frau, aber sie ging ihm dennoch nur bis zum Kinn. Ihr Mund suchte nach der Haut oberhalb des gestickten Hemdkragens. »Ihr seid sehr großzügig.« »Bin ich das? Ihr müsst trotzdem nicht mit mir schlafen, aber wenn es...« 28 »Prestige«, murmelte sie an seinem Hals, »Geld, Abenteuer.« »... wenn es die Sache leichter macht, gebe ich Euch...« Sie küsste ihn, und er verstummte. Sie verschwanden durch die Tür, durch die er gekommen war. Wie ein junger Mann, der eine Debütantin zwischen den Tischen eines überfüllten Ballsaals geleitet, führte der Irre Herzog die Frau durch die irren Flure seines Schlosses, von dem Geheimzimmer bis zu einem Schlafzimmer mit roten Vorhängen, das bereits von einem Kaminfeuer vorgewärmt war. Aber dort fand ihn Marcus zwei Stunden später nicht mehr vor — mehr als zwei Stunden später, denn er brauchte geraume Zeit, bis er seinen Herrn fand, nachdem die Frau zur Tür begleitet worden war. Der Herzog von Tremontaine saß allein in einem Raum, in dem sich keinerlei Möbel befanden. Er kauerte zusammengekrümmt vor einem sterbenden Papierfeuer, das in einem kunstvoll verzierten Kamin züngelte. Sein offenes Haar hing in die Asche. Der Raum war kalt und dunkel. Marcus wusste, welche Dielen knarrten. »Ich brauche mehr Holz«, knurrte der Herzog, ohne sich umzudrehen. »Ich friere.« »In Eurem Schlafzimmer brennt ein kräftiges Feuer.« Ein Schauder lief über Tremontaines Körper. »Nein. Ich gehe nicht mehr dorthin zurück.« »Soll ich ein paar Decken holen?« »Ja. Nein. In diesem Raum kann ich nicht schlafen. Hier nicht.« »Lasst mich ein Bett herbeischaffen oder wenigstens eine Liege.« Tremontaine trug nichts als einen Samtumhang, der sich um seine langen Glieder wand, als er sich zu seinem Diener 7i umdrehte. »Nein, Marcus. In diesem Raum wird nie mehr ein Bett stehen.« »In Ordnung. Soll ich den Kamin in der Bibliothek anfeuern? Ich könnte Euch ein paar Decken bringen, dann könntet Ihr den ganzen Rest der Nacht lesen.« »Wo sind meine Gäste, meine Gelehrten?«
»Sie sind alle schon zu Bett gegangen oder nach Hause. Soll ich einen von ihnen für Euch aufwecken?« Der Herzog schüttelte den Kopf. Erst jetzt bemerkte er sein offenes Haar. Er stopfte es in den Kragen. »Nein. Du gehst jetzt zu Bett. Ich werde ... Ich komme schon zurecht.« »Ich denke, die Bibliothek wird Euch gefallen«, lockte Marcus beharrlich. »Dort gibt es Kissen und Decken und nette schwere Vorhänge. Und jede Menge Bücher.« »Ich weiß, was es in der Bibliothek gibt«, zischte der Herzog, und er klang fast wieder wie er selbst. Marcus streckte ihm beide Hände hin, der große Mann ergriff sie, und mit einer gemeinsamen Anstrengung kam er wieder auf die Füße.
Kapitel 6
Tagsüber war es mehr oder weniger in Ordnung. Aber wenn ich nachts bis auf mein Jungenhemd entkleidet in dem riesigen Bett lag, in diesem leeren Haus und in dieser Stadt voller Fremder, dann sehnte ich mich nach meiner Mutter. Wir hatten immer allen Kummer geteilt und versucht, einander zu helfen. Ich wünschte, sie würde erfahren, wie tapfer ich war, aber ich hatte keine Möglichkeit, ihr irgendetwas zu erzählen, und was hätte sie auch schon tun können? Also weinte ich leise in mein Kissen, weil ich mich nicht weinen hören wollte. Am Morgen ließ ich mich von der heißen Schokolade trösten, während Betty mit ihren geschickten Händen meine Kleider herrichtete. Sie hatte heute keine Alkoholfahne — noch nicht. Ich ließ die Hälfte des Kakaos für sie übrig. Heute fiel es mir nicht mehr so schwer, mich in den neuen Kleidern zu bewegen. Sie kamen mir ein wenig weiter und freundlicher vor und zwängten mich nicht mehr so stark ein. Degenmeister Venturus wartete bereits auf mich im Zimmer der nassen Kaninchen. Er lieferte sich ein hitziges Übungsgefecht mit seinem Schatten an der Wand und schien mich nicht zu hören, als ich hereintrat. »Guten Morgen!«, grüßte ich, nur um ihm zu zeigen, dass ich dieses Mal keine Angst mehr hatte. »Oui«, sagte er, ohne sein Wegducken und Vorstoßen mit dem Degen in der Hand zu unterbrechen. »Warum übst du nicht?« 29 »Ich fange gleich damit an, wenn es Euch beliebt.« »Du musst immer üben, nachdem du aufgestanden bist, nachdem du gegessen hast und bevor du wieder ins Bett gehst.« Er drehte sich endlich zu mir um. »Sonst hat das alles keinen Zweck. Sinnlos.« Nun betrachtete er mich von oben bis unten. »Keine Decke heute? Nicht mehr so kalt? Sehr gut. Jetzt zeig ich dir, wie du den Degen hältst.« Ich hielt den Degen. Dann nahm ich die Grundhaltung ein — natürlich zuerst völlig falsch, aber dann richtig, und zwar so vollkommen richtig, wie mir gesagt wurde, dass ich mich nicht bewegen durfte, und ich bewegte mich nicht, obwohl ich dachte, dass mich der Schmerz im Degenarm und in den Beinen umbringen würde, wenn ich die Stellung noch lange aushalten musste. Es waren Schmerzen, die ganz sanft begannen und sich allmählich zu richtigen Höllenqualen auswuchsen. »Ausfall!«, brüllte Venturus plötzlich. Ich sprang vor, ohne auf Stil und Eleganz zu achten, einfach nur, um die Schmerzen loszuwerden, und stolperte fast zu Boden. Mein Degen fiel klappernd auf den Boden. »Nicht so gut.« Mein Lehrmeister zeigte übertrieben viel Mitgefühl, das aber seine Schadenfreude nicht völlig überdecken konnte. »Nicht so gut. Du musst üben, üben, üben, dann kennst du keine Schmerzen, wenn du wie eine Schlange angreifst. Ha! Jetzt nimm den Degen wieder auf.« Plötzlich zischte er: »Tsss! Nicht den Daumen auf die Klinge! Dumm, dumm! Rost! Dreck! Fettfleck! Du musst die Klinge pokeren!« Es war weit schlimmer, als Silberbesteck zu polieren. Das schimmernde Metall der Klinge wurde dunkel, sobald ich es berührte. Und die Schneiden konnten sehr scharf sein, auch wenn die Spitze abgestumpft worden war. Venturus gab mir Kalziumpuder, Ol und ein weiches Ledertuch. Und zum ersten Mal war ich froh, Hosen zu tragen, denn in einem Kleid wäre mir die Arbeit sehr viel schwerer gefallen. 29
Venturus wartete, bis ich fertig war. Dann sagte er: »Ich gehe nun. Was machst du jetzt?« Ich warf einen Blick durch das Fenster in den Garten. Es regnete. »Ich übe«, erklärte ich. »Gut.« Zu meiner Überraschung fugte er hinzu: »Aber nicht zu lange. Dann steigst du in ein Bad, bleibst dort liegen in — tsss, wie heißt es, Duftsalz? —, und dann trinkst du etwas Wein. Danach.« Bei der Tür blieb er stehen und wirbelte zu mir herum. »Keinen Wein und Degen!« »Wie bitte?« »Du darfst keinen Wein trinken, wenn Du mit dem Degen übst! Das Trinken ruiniert den Degen! Ha!« Mit fliegendem Umhang wirbelte er herum und verschwand. Je länger ich in Tremontaine House wohnte, desto schöner fand ich es. Ich konnte nicht begreifen, warum sich mein Onkel, der Irre Herzog, hier nicht gern aufhielt. Vielleicht war ihm klar, dass das Schloss einfach zu gut für ihn war. In diesem Haus war alles perfekt: Die Farben waren mit Bedacht ausgewählt, Stil und Größe der Möbel waren jedem Zimmer angepasst, und selbst die Aussicht aus den Fenstern wirkte so lieblich wie gemalt. Ich ertappte mich häufig dabei, dass ich nur einfach zur Decke hinaufschaute, wo sich die oberen Stuckleisten der Wände mit der Decke trafen. Oft waren die Übergänge als Blätter geformt, verziert mit feinen Goldlinien, zwischen denen manchmal kleine Gesichter hervorschauten; in anderen Räumen waren die Leisten als Zickzacklinien geformt, die mitunter fast wie Buchstaben aussahen, aber falls sie Wörter bildeten, ließen sie sich nicht erraten. Jedes Zimmer barg seine eigenen Schätze. Ich erfand ein eigenes Spiel: Was würde ich aus jedem Zimmer retten, wenn ich jeweils nur einen einzigen Gegenstand mitnehmen dürfte? In einem Zimmer war es eine winzige Elfenbeinschnitzerei, die aus ineinandergesetzten Kugeln bestand, die 30 sich frei bewegten, aber niemals berührten. In einem anderen Raum fiel es mir sehr schwer, mich zwischen einem bemalten Fächer und einem kleinen Porzellankalb mit besonders herzigem Gesichtsausdruck zu entscheiden. Überrascht stellte ich fest, dass viele der Dinge, die ich entdeckte, einer Dame gehört haben mussten. Mir fiel wieder ein, was der Herzog mit einiger Abscheu gesagt hatte: »Es ist sehr elegant. Ich habe es von meiner Großmutter geerbt.« Seine Großmutter war seine Vorgängerin im Herzogstitel gewesen, so viel war mir klar. Vielleicht war es sogar ihr eigener Armsessel, der in meinem Zimmer stand und in dem ich am liebsten saß, die Beine hochgezogen, während ich das ständig wechselnde Farbenspiel über den Hügeln verfolgte. Besonders gern spazierte ich in dem langen Speisesaal mit seinen hohen, breiten Fenstern und den riesigen Spiegeln umher, obwohl ich dort nie aß. Mitten auf dem enormen Esstisch stand eine große Etagere, so groß wie eine Wiege, aus reinstem Silber gefertigt. Zweige und Äste wanden sich darum und endeten in flach herausragenden Eichenblättern, dem Aufsatz für die Süßspeisen. Der mittlere Teil bestand aus einem großen runden Teller, der von hübschen silbernen Rehen getragen wurde, die entweder grasten oder über den Tellerrand blickten, dazwischen waren Walnüsse aus Silber zu sehen, die die richtige Größe hatten, aber fast halb so groß wie die Rehe waren. Manchmal tätschelte oder streichelte ich die Rehe, obwohl mir natürlich klar war, dass dadurch das Silber schneller anlaufen würde. Aber es war ohnehin töricht, das Silber einfach an der Luft stehen zu lassen. Ein Mal wöchentlich wurde das Silber von einem der Hausmädchen poliert; ich traf auf sie eines Tages zufällig bei ihrer Arbeit und bot ihr meine sachkundige Hilfe an, aber sie lehnte ab. Gut möglich, dass mich die Bediensteten ein wenig seltsam fanden, jedenfalls sagte sie nichts. Alle waren immer sehr höflich und nannten mich Lady Katherine. Natürlich waren sie an Verhal 30 tensweisen gewohnt, die noch viel seltsamer waren als meine. Und man konnte ja auch nicht wissen, wo sie selber herkamen — obwohl es, wie mich meine Mutter immer ermahnt hatte, der Gipfel des schlechten Benehmens sein würde, einen Bediensteten danach zu fragen. Auf dem Land ist es eben anders, dort kennt ohnehin jeder jeden im Umkreis von vielen Meilen. jedenfalls schien es mir reine Zeitverschwendung, das Silberding auf dem Tisch jede Woche aufs Neue zu polieren, aber offenbar war man an meinen Ratschlägen in puncto guter Haushaltsführung nicht interessiert. Allmählich wurde mir klar, über wie viel
Geld mein Onkel, der Herzog, verfügen musste, und es faszinierte mich zu beobachten, wofür er es ausgab und wofür nicht. Und ich fragte mich, ob Riverside House genauso reich ausgestattet war wie dieses Haus — oder vielleicht sogar noch reicher? Abgesehen davon fragte ich mich auch, was sich hier in Tremontaine House wohl in den Privatgemächern meines Onkels befinden würde. Ich wusste, wo sie lagen: am anderen Ende des Hauses, von meinem Zimmer aus gesehen. Sie bildeten eine große Zimmerflucht, von der aus man sowohl den Park als auch den Innenhof überblicken konnte. Er konnte also den Sonnenuntergang beobachten, aber auch sehen, wer zu Besuch kam. Einmal stand ich vor der Tür und überlegte, ob sie verschlossen sein mochte und was ich tun würde, falls sie es nicht war. Er würde es doch nie erfahren, wenn ich einen Blick hineinwarf, oder? Aber was würde ich zu sehen bekommen? Nächstes Mal, schwor ich mir, wenn er mich wirklich wütend macht, würde ich mich hineinschleichen und alles genau anschauen, egal was dann geschehen würde. Hinter mir hing das Porträt einer traurig aussehenden jungen Dame an der Wand, die mich so traurig anschaute, als wollte sie mich warnen, wie gefährlich mein Eindringen in die Gemächer sein könnte. Überhaupt hingen eine Menge Porträts an den Wänden 31 von Tremontaine House: kleine und große, viereckige und runde, dunkle und helle. In unserem Haus auf dem Land hingen auch eine Menge Porträts herum, aber sie zeigten nur unsere Vorfahren der väterlichen Seite. Das hier war die Familie meiner Mutter. Ich versuchte herauszufinden, welche der porträtierten Menschen vertraut aussahen und wer mit wem nahe verwandt sein mochte. Was ich nicht erraten konnte, erfand ich einfach. Der junge Mann mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck im Reitanzug, der im schmalen Flur im oberen Stockwerk hing, verzehrte sich offenbar nach der steifhalsigen jungen Frau mit der Rose in der Hand, die im kleinen Salon untergebracht war. Sie war allerdings schon gleich nach ihrer Geburt dem ältlichen rotgesichtigen Mann mit dem Weinkelch im Schlafzimmer versprochen worden. Mir war völlig klar, dass die beiden niemals miteinander glücklich werden konnten. Ich spielte vorübergehend mit dem Gedanken, den jungen Mann sich bei einem Reitunfall das Genick brechen zu lassen, damit wirklich alle richtig schön unglücklich sein konnten. Für die junge Lady schrieb ich sogar ein Gedicht, das mit der viel versprechenden Zeile begann: Ach, niemals werd' ich mehr dein holdes Antlitz schau'n, doch alles, was mir für die nächste Zeile einfiel, war: Und niemals wird mein Herz dem alten Knaben trau'n. Obwohl es sich hervorragend reimte, wusste ich, dass es dem Gedicht an echter Poesie mangelte. Die Porträts beunruhigten mich jedoch auch: Wann immer ich sie längere Zeit betrachtete, fragte ich mich, wer diese Leute gewesen waren und in welcher Reihenfolge sie gelebt hatten. War der alte rotgesichtige Mann am Ende gar nicht der Ehemann des hübschen jungen Mädchens, sondern ihr Sohn oder ihr Vater? Oder war er schon lange tot gewesen, bevor sie geboren wurde? Meine porträtierten Vorfahren konnten mir auf meine Fragen keine Antwort geben, und niemand in Tremontaine House wusste, wer sie gewesen waren. Im Spiegelsalon hing ein Porträt, das ich immer gern be 31 trachtete. Es war in lebhaften, hellen Farben gemalt, nicht so düster wie die übrigen Gemälde: eine junge Frau in einem hübschen Kleid mit so hellblonden Locken, dass sie fast silbrig wirkten. Es war wirklich ein wunderbares, lebendiges Bild. Sie blickte knapp über meine Schulter hinweg, als würde gerade jemand hinter mir den Raum betreten, mit dem sie eine scherzhafte Bemerkung austauschte und dabei lachte, als ob sie sich nur allzu gern ein kleines Geheimnis entlocken lassen wollte. In ihren Augen lag ein lustiges Funkeln, und auch die hellgraue Seide ihres Kleides glitzerte; selbst ihr Schmuck wirkte echt, bis man ihn ganz aus der Nähe betrachtete und erkannte, dass er nur aus kleinen Farbtupfern bestand — kleine weiße Pinselstriche auf dunkelrosa Grund bis hin zu leuchtendem Rot und so weiter. Hinter ihr glaubte ich fast mit Sicherheit den Rasen im Park von Tremontaine House zu erkennen, der sich bis zum Fluss erstreckte. Ein paar Leute standen auf dem Rasen herum wie Flamingos am Ufer. Ich war der Meinung, dass das Mädchen und ich fast dieselbe Nase hatten. Und ich fragte mich, ob ich mich, wenn ich nur das richtige Kleid bekommen könnte, vom selben Maler porträtieren lassen könnte und ob ich dann vielleicht mindestens halb so hübsch aussehen würde wie die Dame in Grau.
Lady Fitz-Levi hielt nicht viel von Artemisias Auswahl an Kleidern für den festlichen Anlass am Abend und gab sich große Mühe, ihrer Tochter das auch klarzumachen. »Ein Dinner, mein Liebes, ist kein Ball!«, erklärte sie. »Selbst wenn nach dem Essen getanzt wird, solltest du doch ein Kleid tragen, das etwas... nun, zurückhaltender ist.« »Aber Mama«, widersprach Artemisia, »das grüne Seidenkleid hat doch der Herzog von Hartsholt auf der Gesellschaft bei den Hetleys ganz besonders bewundert! Und du hast doch selbst gesagt, sein Geschmack sei untadelig!« »Das stimmt auch, mein Liebes, aber glaube bloß nicht, dass 32 es ihm nicht auffallen würde, wenn du es jetzt schon wieder trägst! Soll es denn so wirken, als wolltest du ihn umschmeicheln? Und Hartsholt ist außerdem verheiratet. Nein, nein, das kommt nicht infrage.« Artemisia schmollte. »Mach dich nicht lächerlich, Mama. Niemand würde auf diese Idee kommen. Außerdem wollte ich die Turmaline tragen, die Papa mir geschenkt hat. Sie passen perfekt dazu.« »Auch das ist richtig, mein Liebes, und du sollst sie auch bei der nächsten Gelegenheit tragen. Aber nicht das grüne Kleid, nicht so bald, nachdem du es zuletzt getragen hast. Sollen die Leute denn denken, du hättest nicht genügend Kleider?« Dieses Argument überzeugte endlich, nachdem alle anderen versagt hatten. »Und was ist mit dem gelben Kleid?«, fragte Artemisia hoffnungsvoll. Das gelbe Kleid war das Ergebnis einer Auseinandersetzung, die ihre Mutter verloren hatte, weil das Mieder bis zum Äußersten ausgeschnitten war und weil es genug Volants hatte, um damit eine dreistöckige Hochzeitstorte zu schmücken. »Aber glaubst du nicht auch, dass Lydia beleidigt sein könnte, da es doch ihr Fest ist und sie in Gelb immer so kränklich aussieht?« »Mama, du bist ein Engel, so voller Verständnis!« Artemisia warf ihrer Mutter die Arme um den Hals. »Wie konnte ich nur so gefühllos sein? Ich weiß, ich werde gleich mal an meine liebe Lydia schreiben.« Artemisia setzte sich in ihrem rüschenbesetzten Morgenkleid an ihren Sekretär. »Ich werde sie fragen, was sie trägt. Wenn sie ein weißes oder cremefarbenes oder naturfarbenes Kleid trägt, werde auch ich meine Farbe tragen.« Und Lady Fitz-Levi verließ das Zimmer, um ihrerseits eine Nachricht an Lydias Mutter zu schreiben, sodass Dorrie beide Briefe zusammen ausliefern und die sehnlichst erwartete Antwort sofort zurückbringen konnte. 32 Lehrmeister Venturus kam weiterhin täglich ins Schloss; jeden Tag legte mir Betty meine robusten Übungskleider bereit, und jeden Tag zog ich sie pflichtschuldig an und ging zum Übungsraum, wo Venturus mich immer bereits erwartete. Und wenn die Übungsstunde zu Ende und er gegangen war, übte ich noch eine Stunde oder länger weiter. Was sonst hätte ich mit meiner Zeit anfangen sollen? Ich konnte jetzt den Degen mit ausgestrecktem Arm eine ganze Zeit lang halten, und auch meine Beine zitterten dabei nicht mehr, jedenfalls nicht, solange Venturus noch im Raum war. Ich lernte, wie ich den Degen zu halten hatte, wie ich zu stehen hatte, wie ich Stöße ausführen musste — wenn man bei Stichen in die Luft überhaupt von Stößen sprechen konnte. Sich zum Degenfechter ausbilden zu lassen, war eigentlich eine recht langweilige Angelegenheit. Venturus redete, ich wiederholte seine kleinen Übungen, er redete weiter, und endlich ging er, und ich führte die Übungen weiter durch, immer und immer wieder, bis es Zeit war, ins Bad zu steigen. Es fiel mir nicht einmal auf, als ich eines Morgens ohne jeden Muskelkater aufwachte. Aber Betty bemerkte es; ich sei heute recht munter, verkündete sie, und ich ging zum Unterricht, sehr zufrieden mit mir selbst, dass ich jetzt munter statt schwerfällig und träge war. Venturus zahlte es mir sofort mit einer ganzen Reihe neuer Bewegungsabläufe heim, die ich zu lernen hatte: Parade und Riposte, in denen ich keinen besonderen Zweck erkennen konnte, außer dass ich mein Handgelenk auf seltsame Weise drehen musste, sodass ich mir erneut wie eine nutzlose Vollidiotin vorkam. Kein einziges Mal zeigte er mir, wie diese Übungen richtig auszuführen waren; er redete und redete und redete so lange, bis ich sie richtig hinbekam, wenn auch nur, wie es schien, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Allmählich fragte ich mich, ob er überhaupt vorhatte, mir jemals ernsthaftes Kämpfen beizubringen.
33 Deshalb war ich völlig verblüfft, als er mich eines Tages nur in Hose und Hemd erwartete, einen sehr kräftigen Degen mit kunstvoll gefertigtem Korb in der Hand. Das war kein Übungsdegen. Er hatte eine scharfe Klinge. Das Ding war echt. Ich holte tief Luft. En garde, Finte, Parade, Riposte - das alles beherrschte ich schon. Und musste es auch, um mir diese bösartige Klinge vom Leib zu halten .Venturus hatte seine Jacke über den Ständer mit den Übungsdegen geworfen. Er roch nach Schweiß, als hätte er schon einen strengen Drill hinter sich. Aber als ich einen Degen holen wollte, hielt er mich zurück. »Nein. Du brauchst keinen Degen. Du stellst dich dorthin.« Die scharfe Stahlspitze dirigierte mich zur Mitte des Raums. Dort ging ich sofort in die Anfangsstellung, en garde, wobei ich so tat, als hielte ich einen Degen in der Hand. »Kein en garde!«, verbesserte mich mein seltsamer Lehrmeister. »Du stehst einfach nur da!« Also ließ ich die Arme an den Seiten herabhängen und stand einfach nur da. Sein Degen zuckte in einer blitzschnellen Bewegung durch die Luft, und ich zuckte zurück. »Stillgestanden!« Besorgt sagte ich: »Ich denke, dass Ihr mich verletzen werdet. Ich kann nicht einfach nur dastehen und nichts...« »Gut. Gut, dass du denkst. Kein lächerlicher Degen. Ein lächerlicher Degen ist ein toter Degen.« Er lächelte, wobei er seine großen gelben Zähne entblößte. »Aber ich werde dich nicht verletzen, wenn du stillstehst und dich nicht bewegst. Nicht bewegen!« Also bewegte ich mich nicht. Langsam, aber vollkommen gleichmäßig schwang der Degen in großem Bogen auf mich zu. Ich sah ihn näher kommen. Ich konzentrierte mich auf den Gedanken, wie viel Übung es Venturus wohl gekostet haben musste, den Degen so gleichmäßig zu schwingen, ohne die geringste Unsicherheit. 33 Die Degenspitze stoppte direkt am Stoff meines Hemdärmels. »Keine Bewegung!.« Ich rührte mich nicht. Plötzlich zuckte der Degen zu meinem Knie, und ich wäre bestimmt zurückgesprungen, wenn ich nicht hätte befürchten müssen, dass er mich dann zufällig doch getroffen hätte. Venturus trat einen Schritt zurück. »Gut.« So blitzschnell, dass ich nicht einmal die Zeit fand, Angst zu bekommen, hatte ich die Degenspitze am Hals. Venturus brauchte offenbar nicht mal die Stellung zu ändern; er dehnte nur einfach seine Muskeln ein winziges, aber entscheidendes Stückchen weiter, und schon drückte die scharfe Spitze in meine Haut. Ich spürte, dass sie nicht in die Haut eindrang; trotzdem fühlte ich einen nicht vorhandenen Schmerz, der sich bis in das unterste Ende meines Rückgrats fortsetzte. Ich wagte nicht zu schlucken, bis er die Klinge zurückzog. »Jaaa«, sagte er befriedigt. Er wirkte nicht ein bisschen außer Atem. »Siehst du!« »Was sehe ich?«, wollte ich aufgebracht wissen. Wenn ich schon einmal die Beherrschung verliere, dann ist sie wirklich weg, fürchte ich. »Ich sehe, dass Ihr der größte Angeber auf der ganzen Welt seid! Und ich sehe, dass ich jetzt vor lauter Schreck ein Jahr lang nicht mehr wachsen werde!« Er senkte den Degen und ließ ihn in einem angeberischen Wirbel an seiner Seite rotieren. »Hm«, erklärte er der Zimmerdecke, »der kleine Herzogsknabe wird wütend.« »Ja, ich werde wütend, wenn Ihr mir solche Angst einjagt! Was erwartet Ihr denn, dass ich in Tränen ausbreche?« »Wut«, verkündete Venturus, »ist der Feind des Fechters. Viele wütende Männer sind vom Degen getötet worden.« »Tatsächlich? Was Ihr nicht sagt!« Venturus spazierte einmal um den Raum, wobei er den Degen in jeder nur möglichen Angriffsart herumwirbeln ließ, 33 sodass ich mich so fern wie möglich von ihm hielt. »Angst«, erklärte er der Stuckdecke weiter, »ist auch ein Feind des Fechters. Zugleich ist die Angst ein Freund des Fechters. Verstehst du das?« »Nein.«
»Nein? Warum nicht? Du hast Augen im Kopf, aber du siehst nichts! Ich lehre dich, aber du lernst nichts! Warum lernst du nicht, du dummer Herzogsknabe?« Ich holte tief Luft. »Ich sehe nur eins«, erklärte ich. »Und das ist, dass ich in dieser Sache niemals gut sein werde. Und wisst Ihr was? Es ist mir völlig egal! Weil es nämlich gar nicht meine Idee war, erinnert Ihr Euch noch? Also, warum geht Ihr nicht einfach zu meinem Onkel und erklärt ihm, dass ich zu jähzornig bin und zu viel Angst habe und einfach zu dumm bin, um jemals ein ordentlicher Fechter zu werden, und dann können wir endlich alle nach Hause gehen!« Er drehte sich zu mir um, und in seinem Blick lag echte Härte. Der Degen hing locker an seiner Seite, trotzdem fürchtete ich mich zum ersten Mal wirklich vor diesem Mann. »Du redest nicht in diesem Tön mit mir«, bellte er wütend. »Du erteilst mir keine Befehle wie einem Lakai!« Seine Nasenflügel bebten, als er tiefein- und ausatmete. »Ich gehe jetzt! Das ist kein Tag für einen Degen!« Ich stand wie erstarrt, während er Hemd und Jacke anzog, den Degengürtel und seine Waffe ergriff und stolz aus dem Zimmer stakste. »Nehmt Ihr eigentlich nie ein Bad?«, schrie ich ihm nach, aber erst, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Kapitel 7
n Godwin House wurden die Vorhänge zugezogen, um die Nachtkälte und die Nebelschwaden vom Fluss draußenzuhalten. Der wolkenlose Himmel über dem Fluss hatte sich längst von hellstem Blau in graue, später in grünliche Töne verwandelt, bis er schließlich in ein tiefes Dunkelblau überging, vor dem sich der Abendstern prächtig in Szene setzen konnte. Im Musikzimmer wurden Duftkerzen entzündet, die mit warmem, dunstigem, träumerischem Licht durch ihre eigenen Rauchschwaden schimmerten und von Vasen voller Blumen umgeben waren. Parfümierte Männer und Frauen in knisternden Satinkleidern waren in Gespräche vertieft. Die junge Lady Lydia Godwin hatte ihre Freunde zum Dinner geladen — oder vielmehr hatte ihre Mutter die Anwesenden aus Lydias eigener, etwas längerer Liste ausgewählt. Seit ihrem ersten Ball war es Lydia gestattet, von Zeit zu Zeit kleinere Abendgesellschaften zu geben, allerdings nur unter den gestrengen Augen diverser Anstandsdamen. Nach dem Dinner, das aus elf Gerichten bestand und von unzähligen Sticheleien und anzüglichen Bemerkungen begleitet wurde, hatte Lydia nur noch den Wunsch, sich mit ihren engsten Freundinnen in eine Ecke zurückzuziehen und die bei Tisch gehörten Andeutungen bis in die kleinsten Einzelheiten durchzusprechen: Aussehen und Bemerkungen, Kleider und Schmuckstücke, Scherze und Komplimente. Doch stattdessen musste sie weiter die Gastgeberin spielen 34 und sich auf einen gelegentlichen, aber viel sagenden Blick quer durch den Raum zu ihrer Freundin Artemisia Fitz-Levi beschränken, wenn etwas ihre besondere Aufmerksamkeit erregte. Es war allerdings nicht ganz leicht, Artemisias Blick einzufangen. Deren Aufmerksamkeit wurde nämlich voll und ganz von einem Edelmann, der in Maulbeerseide gekleidet war, beansprucht, der ständig in ernstem Ton auf sie einzureden schien. Artemisia war sich nicht ganz sicher, ob Lord Terence Monteith nun ein Langeweiler war oder nicht. Er trug sehr schöne Kleidung und guten Schmuck und hatte ein recht angenehmes Gesicht. Die Godwins hatten ihn eingeladen, und er war ledig, also kam er eindeutig als Kandidat infrage. Leider fand sie absolut nichts von dem, was er sagte, auch nur im Geringsten interessant. Und das war seltsam, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Männern verlangte er nicht von ihr, dass sie ihm nur aufmerksam zuhörte. Nein — er bat sie tatsächlich um ihre eigene Meinung über diese Dinge und schien ihr jedes Wort von den Lippen zu saugen. Das Problem war nur, dass sie zu diesen Dingen, von denen er redete, überhaupt keine eigene Meinung hatte. Sie hatte eigentlich noch nicht viel Zeit daran verschwendet, darüber nachzudenken, ob Straßenmusikanten nicht eine Lizenz erwerben müssten oder ob das Vieh, bevor es durch die Stadt getrieben wurde, auf ansteckende Krankheiten untersucht werden sollte. Natürlich schmeichelte es ihr, dass er ihre Meinung erfahren wollte. »Wirklich?«, sagte er immer wieder. »Meinen Sie wirklich? Und was ist
mit...?«, bis sie sich schließlich gezwungen sah zu intervenieren. Tatsächlich kam ihr die Unterhaltung allmählich wie eine Unterrichtsstunde vor, auf die sie sich nicht vorbereitet hatte. Das ärgerte sie. Schließlich saß sie hier nicht im Unterricht. Artemisia warf den Kopf zurück, sodass ihre Korkenzieherlocken um ihr Gesicht wirbelten. »Lord Terence«, 35 sagte sie, »wie reizend es doch ist, sich mit einem Mann zu unterhalten, der glaubt, eine Frau kenne noch andere Themen außer Mode und Poesie!«, und hoffte, dass er sich damit vielleicht auf diese beiden Gebiete locken lassen würde. Sein Blick wich keine Sekunde von ihrem Gesicht. »Was für perfekte Zähne Ihr doch habt!«, bemerkte Lord Terence und bestätigte damit ihr Vorurteil, dass er letztlich doch ein entsetzlicher Langweiler sei, dem es überhaupt nicht darum ging, ein tiefsinniges Gespräch mit ihr zu führen, sondern der sie nur deshalb ständig um ihre Meinung bat, um sie desto ungestörter anstarren zu können. Lydias Eltern kamen mit einigen ihrer eigenen Freunde herein; sie hatten auswärts gespeist. Artemisia musste sich beherrschen, um nicht in einen Schulmädchenknicks vor Michael Lord Godwin und Lady Godwin zu versinken, schließlich war sie jetzt selbst eine junge Lady. Das Eintreffen der Neuankömmlinge hätte eigentlich ausreichen müssen, um Lord Terence abzulenken, aber der junge Edelmann hatte ein ausgesprochen beharrliches Wesen. Sicherlich würde er sie jeden Augenblick fragen, ob er sie besuchen dürfe, und sie würde ja sagen müssen, denn sonst würde sie einiges von ihrer Mutter zu hören bekommen. Verzweifelt blickte sie sich nach Lydia um, die ihr zu Hilfe kommen sollte, aber ihre Freundin musste gerade ihren Pflichten als Tochter des Hauses nachkommen: Sie unterhielt sich mit einem der Gäste, einem groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann von distinguiertem Aussehen. »Alte Leute«, flüsterte Artemisia kess Lord Terence zu, da es ihr inzwischen völlig gleichgültig war, was er von ihr hielt, »warum müssen sie sich immer einmischen und jedes Fest verderben?« Sie hätte fast vorhersagen können, dass ihr Verehrer geschockt zurückzucken würde. »Aber das ist Lord Ferris«, sagte er leicht empört, »der neue Kanzler des Großen Kreises per 35 sönlich! Wirklich, ich muss mich doch sehr wundern, dass Lady Godwin ihn eingeladen hat, nachdem er ihren Mann als Vorsitzenden des Rates der Lords verdrängt hat. Aber vermutlich sind sie längst an dieses Auf und Ab in der Politik gewöhnt. Ich habe natürlich meinen Sitz im Rat bereits eingenommen, obwohl ich erst ein- oder zweimal sprechen durfte, und dann auch nur über eher nebensächliche Angelegenheiten ...« »Über Vieh zum Beispiel?«, fragte sie in pikiertem Ton, »oder war es Fischfang?« Die Ironie entging Lord Terence vollkommen, und er setzte gerade dazu an, ihr ausführlich zu erklären, zu welchen wichtigen Themen er eine Rede gehalten hatte, als Artemisia den Fehler beging, Lydias Blick aufzufangen, und ein lautes Auflachen nicht unterdrücken konnte. Lord Ferris drehte sich zu ihr um. Sein linkes Auge war mit einer schwarzen Samtklappe bedeckt. »Hm«, sagte er zu Lydia, »das ist möglicherweise die erste Person, die Terence Monteith jemals amüsant fand. Bitte stellt mich Eurer Freundin vor.« »Meint Ihr etwa Artemisia?« Lydia hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, weil sie wie ein Schulmädchen klang. Aber der Kreiskanzler lächelte sie charmant an, als wollte er ihr sagen, dass er genau wisse, wie schwierig es für eine junge Frau sei, bei ihrem Dinner die Gastgeberin zu spielen. In der Tat gab er ihr in diesem Augenblick sogar das Gefühl, dass er keinen großen Unterschied darin sehe, eine Gesellschaft für junge Menschen im heiratsfähigen Alter zu veranstalten oder eine Sitzung des Hohen Rates der Lords zu leiten. »Mit dem größten Vergnügen«, erklärte Lydia formvollendet. Lord Ferris musste zwar älter als ihr eigener Vater sein, aber im Gegensatz zu diesem gab sich der Kanzler wenigstens Mühe, ein junges Mädchen wie eine richtige Lady zu behandeln und nicht wie ein Kind, das mit seinem kleinen Bruder 35 ins Kinderzimmer verbannt wurde, sobald eine Abendgesellschaft angesagt war. Ferris' Haar war immer noch rabenschwarz und wurde nur von einzelnen Silberfaden durchzogen, und seine Hände waren feingliedrig und mit schweren, aber geschmackvollen Goldringen
geschmückt. Die Augenklappe verlieh ihm sogar eine gewisse geheimnisvolle Aura. Sie fühlte sich schrecklich erwachsen, als er ihr den Arm reichte und sie quer durch den Raum dorthin führte, wo Artemisia Fitz-Levi stand - mit einem dem Kanzler verblüfft entgegenstarrenden Lord Terence Monteith neben ihr. Lord Ferris war Witwer, und wenn Lord Terence Monteith von der Natur mit der Fähigkeit ausgestattet worden wäre, seine Umwelt genauer zu beobachten, so hätte er zweifellos erkennen müssen, mit welcher Absicht Lady Godwin den Kreiskanzler eingeladen hatte, bei dem Dinner ihrer Tochter vorbeizuschauen. Da ich nun einmal beschlossen hatte, nicht mehr zu weinen, war es für mich Ehrensache, nicht mehr zu weinen. Doch nachdem Venturus den Raum verlassen hatte, war ich nahe daran, entweder zu weinen oder mich zu übergeben. Ich schlurfte zur Bibliothek. Der Raum hatte etwas Beruhigendes, so still und wohl proportioniert wie er war, mit den gemütlichen Sesseln und der hervorragenden Aussicht. Zu meiner Verärgerung war der Bibliothekar des Herzogs anwesend - ein verträumt wirkender Mann, der kaum zu existieren schien und dem es gewöhnlich auch gar nicht auffiel, dass ich existierte. Er katalogisierte und ordnete die Bücher ein und verzog ständig das Gesicht über irgendwelche Dinge, die sonst niemand bemerkte, wie Eselsohren, Schmutzflecken auf den Einbänden oder Randbemerkungen in den Büchern. Doch dieses Mal sah er mich eintreten und sagte: »Guten Tag, Lady Katherine. Kann ich Euch bei Euren Studien behilflich sein? Oder sucht Ihr nach etwas anderem, nach einer, äh, eher 36 femininen Ablenkung?« Bis zum heutigen Tag bin ich davon überzeugt, dass er es nie bemerkte, dass ich kein Kleid trug. »Genau das«, entgegnete ich boshaft, »was habt Ihr denn an femininer Ablenkung hier?« Ein ungemein besorgter Ausdruck trat in das Gesicht des Bibliothekars, als müsste er sich auf der Stelle umbringen, wenn er nichts Feminines anzubieten hatte. »Ah, Natur?«, schlug er nervös vor. »Das, denke ich, ist für junge Damen sehr geeignet. Die verblichene Herzogin hatte viele seltene Bücher über Pflanzen und Tiere, und obwohl die Doktoren Milton und Melrose immer noch darüber disputieren, ob Vögel als Tiere zu klassifizieren seien, habe ich doch die Vogelbücher dort drüben bei der Tierliteratur eingeordnet.« Ich machte es mir in einer der mit Kissen gepolsterten Erkernischen mit einem großen, bebilderten Buch auf dem Schoß bequem. Die Bilder waren größer, als die Vögel im wirklichen Leben sind, und man konnte jedes Detail erkennen. Aber nach meinem Streit mit Venturus fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, auch deshalb, weil der Bibliothekar ständig vor sich hin murmelte. Ich blickte auf und sah, dass er vor einem Regal stand und ein kleines, zerfleddertes Lederbändchen mit einiger Mühe zwischen zwei riesigen Wälzern hervorzog. Er schlug es auf und warf es dann auf einen der Tische, als hätte es eine ansteckende Krankheit, wobei er ständig missbilligende Laute von sich gab. Als er endlich ging, um sich die Hände zu waschen, stürzte ich mich sofort auf das kleine Buch. »Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß —Von einer Dame von Stand.« Der Titelseite gegenüber war ein Holzschnitt abgedruckt. Er zeigte einen altmodisch gekleideten Herrn, der sich vor einer Dame verneigte, eine Hand auf den Degen an seiner Seite gelegt. Ich schlug die erste Seite auf. Stunden später, als die Sonne längst untergegangen war und ich die Wörter nicht mehr ent 36 ziffern konnte, war ich erst bei der Stelle angekommen, an der Lady Stella herausfindet, dass sie schwanger ist, und zu ihrem Vetter auf dem Lande flieht, damit Fabian nicht erfährt, dass es sein Kind ist, denn das würde seine Konzentration bei der Vorbereitung auf das Duell gegen seinen größten Feind im Glockenturm der Universität nur unnötig beeinträchtigen. Obwohl ich schon da ziemlich sicher war, dass er siegreich aus dem Duell hervorgehen und dass auch Mangrove irgendwie entkommen würde, und wie sich später dann herausstellte, gelang ihm das dann ja auch. Ich wickelte das Buch in mein Taschentuch und entführte es in mein Zimmer. Genau genommen war es kein Diebstahl, denn schließlich befand sich das Buch des Herzogs immer noch im Haus des Herzogs, und außerdem hatte ich den Eindruck gehabt, dass es der Bibliothekar des Herzogs ohnehin hatte wegwerfen wollen.
Ich war nicht ganz sicher, wie Fabian zu so einem großartigen Degenfechter werden konnte, da er offenbar nie zu üben schien, aber ich bewunderte sein Geschick, die Treppen rauf- und runterfechten zu können, und wie er sich an den Ehrenkodex der Fechter hielt, aber trotzdem so gescheit war, Lady Stella nicht zu töten, obwohl er das doch eigentlich hätte tun sollen. Er nahm zwar Geld für seine Arbeit, aber niemand konnte ihn zu etwas zwingen, das er verabscheute, oder einem unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen. Seine Ehre war sein Wort und sein Degen, und das wussten alle, und dafür wurde er von allen geachtet, selbst von Mangrove, obwohl der ihn hasste. Ich schob das Buch unter mein Kopfkissen, fest entschlossen, es vor dem nächsten Morgen nicht mehr zu öffnen. Aber nach dem Abendessen steckte ich eine neue Kerze in den Ständer und machte es mir bequem, um herauszufinden, wer denn nun das Gefecht im Glockenturm gewinnen und was aus Stellas Baby werden würde. Ich musste so sehr wei 9i nen, dass ich gezwungen war, aufzustehen und mir ein neues Taschentuch zu holen. Und selbst nachdem ich die Kerze ausgeblasen hatte, lag ich noch lange mit offenen Augen im Bett, und alle meine Gedanken kreisten um Degenfechter mit dunklen Umhängen, perfekter Fechthaltung, fester Degenhand und klarem, unbeirrbarem Blick. Am nächsten Morgen las ich das Buch zu Ende und begann, es sofort wieder von vorne zu lesen. Als der Bibliothekar erschien, fragte ich ihn, ob es noch mehr Bücher über Degenfechter gebe. Er suchte den Band Leben der großen Degenkämpfer für mich heraus, worin allerdings weder Fabian noch Mangrove erwähnt waren, aber immerhin enthielt das Buch andere interessante Gestalten, wie Mark von Ariston, auch Der Schwarze Mark genannt, der nach seinem größten Kampf nur noch einarmig fechten konnte, und Harling Ober, der nie eine Herausforderung ablehnte und den Degen sogar bei der Hochzeit meiner Urgroßmutter Diane, der Herzogin von Tremontaine, getragen hatte. Ober hatte übrigens seine Kunst dadurch erlernt, dass er sich über die Dächer schlich, um von oben den großen Degenfechter Rampiere bei der Übungsarbeit zu beobachten, nachdem sich dieser geweigert hatte, Obers Lehrmeister zu werden. So betrachtet konnte ich vermutlich von Glück reden, dass ich Meister Venturus hatte. Allerdings ließ sich mein Lehrmeister bei der nächsten Unterrichtsstunde nicht blicken. Vielleicht war er beleidigt und hatte gekündigt. Oder vielleicht blieb er mir nur fern, um mir eine Lektion in Sachen Respekt zu erteilen. Oder er bereitete wieder einen seiner Scherze vor, mit denen er sich über einen kleinen Herzogsknaben lustig machte, der furchtbar Angst hatte und niemals das Fechten lernen würde. Aber ich hatte mich für die Übungsstunde angezogen, also übte ich allein. Ich fragte mich, wie ich mich wohl schlagen würde, wenn mir die Musketiere des Königs auf den Leib rückten — wenn wir noch einen König gehabt 37 hätten — oder wenn ich mit einem Fuß im Fluss und mit dem anderen auf dem Ufer kämpfen müsste. Dann kam mir der Gedanke, dass mir ein nachtschwarzer Umhang eigentlich ganz gut stehen würde sowie eine dazu passende juwelenbesetzte Haarnadel, um mein Haar hochzustecken.
Kapitel 8
Der Herzog von Tremontaine war bester Laune: Am Vormittag hatte er im Rat der Lords Zwietracht gesät, und nun, am Nachmittag, sollte er einen neuen Mantel angepasst bekommen. Er stand mitten in einem der sonnendurchfluteten Räume von Riverside House und erlaubte einem seiner Sekretäre, ihm die neu eingegangenen Briefe vorzulesen, während er gleichzeitig Antwortschreiben diktierte und sich bemühte, für den Schneider stillzuhalten und nebenher noch mit einem Freund ein Gespräch zu führen. Der herzogliche Obersekretär, ein vorzeitig kahl werdender junger Mann namens Arthur Ghent, streifte das Band von der nächsten Papierrolle und zog sie auseinander. »Hier sind die Schreiben, die an den >Herzog von Riverside< adressiert sind«, erklärte er. »Die Bettelbriefe habe ich bereits an Teddy weitergeleitet. Er wird nach Eurer Liste vorgehen, die Summe in seiner Monatsabrechnung aufführen und Euch zur Genehmigung vorlegen. Übrig sind jetzt nur noch Briefe von Leuten, von denen ich noch nie gehört habe, deren Namen aber Euch vielleicht ein Begriff sein mögen: Es handelt sich um die übliche Litanei von
Beschwerden und Vorschlägen.« Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus. Sie waren auf allen möglichen Materialien geschrieben, auf denen ein Satz Platz hatte, von der Rückseite alter Wirtshausrechnungen bis hin zu Blättern, die aus Büchern herausgerissen worden waren. »Hm...« Ghent ging einen Brief nach dem anderen durch. »Selbe Schrift, selbe Schrift, selbe Schrift... 38 ein sehr beschäftigter Schreiber. Ich frage mich, wer das wohl sein mag?« »Lass mal sehen.« Der Herzog streckte die Hand nach den Papieren aus, wobei er eine der Nähte wieder aufriss, die der Schneider gerade sorgfältig mit Nadeln festgesteckt hatte. »Ja, den kenne ich. Noch einer von der Universität — genau wie du, Arthur, aber nicht in deiner glücklichen Lage, sich einen wichtigen Sekretärsposten ergattert zu haben. Versuchte es erst mit Lyrik, dann mit Drama, dann mit Alkohol, und das brachte ihn nun dazu, sich als Briefeschreiber für die weniger glücklichen Einwohner von Riverside durchschlagen zu müssen. Also, schauen wir mal: Was haben die weniger glücklichen Einwohner von Riverside denn nun so auf dem Herzen?« Der Herzog überflog ein paar Zeilen eines Briefes, dann eines weiteren. »Sie wollen nicht, dass die Ruinen abgerissen werden. Pech gehabt. Die neuen Abwasserkanäle gefallen ihnen. Das will ich doch hoffen. Sam Bonner ist in einen der Kanäle gefallen und hat sich den Fuß verstaucht und will Schmerzensgeld. Bonner? Lebt der denn noch? Der war doch schon scheintot, als ich noch ein Junge war.« Er reichte den Brief seinem Sekretär zurück. »Kein Schmerzensgeld, sonst wird ein Präzedenzfall daraus. Nein, warte mal, von wo schreibt er eigentlich?« Der Herzog las die Absenderangabe am Fuß des Blattes. »>Alt-Margarethen, Nähe Parmeter Street.< Großer Gott, er lebt praktisch in einem Kellerloch. Schick ihm irgendwas, schick ihm ein wenig Wein. Aber kein Geld.« Ghent notierte die Anweisung auf der Rückseite von Bonners Brief. »Das ist doch ein Witz«, bemerkte die Hässliche Dame, die in einer Ecke saß und gespannt verfolgte, wie sich die Sonnenstrahlen über den gemusterten Teppich bewegten. »Die ganze Sache mit dem >Herzog von Riverside<, das ist doch gar nicht Euer echter Titel. Ihr bezieht doch von Riverside überhaupt kein Einkommen. Es ist nur Euer Spielzeug.« 38 »Das glaubt Ihr.« Der Herzog zog vorsichtig den Arm aus dem Mantel. »Ihr vergeudet damit nur Eure Zeit. Die Welt wimmelt doch auf ewig von Säufern und Lügnern und gescheiterten Existenzen, die von Anfang an kein Glück hatten.« »Bleibt auf Eurer Wiese und lasst mir den Spaß, mich auf meiner Wiese zu vergnügen. Nicht so eng!«, befahl er dem Schneider, der mit dem Mund voller Nadeln nur nicken konnte. »Ich brauche meine Freizeitbeschäftigung. Ich reite nicht. Ich tanze nicht. Ich wette nicht. Ich sammle keine tugendhaften Objekte.« Das entlockte ihr ein verächtliches Schnauben. »Trotzdem bleibt es Zeitverschwendung. Ihr tätet besser daran, Euch mit Eurer Mathematik zu befassen.« Weil der Herzog bester Stimmung war, griff er sie nicht an. »Aber ich bin doch so nützlich! Ich bin immer nützlich! Heute zum Beispiel habe ich es geschafft, den widerlichen Antrag eines widerlichen Adligen abzuschießen, der sich einbildet zu wissen, wie dieser Staat zu führen sei, und dem es tatsächlich gelungen war, viel zu viele Leute zu überzeugen, dass er Recht hat. Und das ist natürlich nur der Anfang: Davenant wird sich damit nicht zufrieden geben, o nein. Er und sein sehr guter Freund, der Kreiskanzler, haben sich eine wirklich erleuchtete Steuerreform ausgedacht. Und weil man nicht einfach den Kreiskanzler kritisieren kann, habe ich auf der Straße eine Rufmordkampagne gegen Davenant angestoßen, und im Hohen Rat der Lords habe ich seine Alliierten mit einer Unmenge von Indiskretionen aus den Beratungen bloßgestellt, sodass sie jetzt als recht fragwürdige Gestalten dastehen. Sie werden Wochen brauchen, um ihren Ruf wiederherzustellen, und in der Zwischenzeit kann ich ganz sicher davon ausgehen, dass ihm seine Gehebte den Laufpass gibt und ihn durch einen seiner eigenen Anhänger ersetzt, und das wiederum wird ihn bestimmt zu irgendeiner Dummheit ver
38 leiten.« Der Herzog warf sich in die Brust. »Es ist doch wunderbar, eine Arbeit zu haben, die nicht nur nützlich ist, sondern auch Amüsement bietet.« Die Hässliche Dame grinste. »In Ordnung. Ich nehme alles zurück. Ihr macht der Gesellschaft alle Ehre.«
»Das werde ich erst recht, wenn dieser Mantel hier fertig ist. Ihr«, wandte er sich an den Schneider, der ihm gerade wieder in den Mantel half, »seid nichts weniger als brillant. Ich werde der einzige Mann in der Stadt sein, der die Arme über den Kopf heben kann und trotzdem nicht aus den Nähten platzt. Ich möchte noch so eine Jacke in Blau haben — einem anderen Blau. Heller, meine ich. Aus Seide. Für die warme Jahreszeit.« »Ich werde Hoheit ein paar Stoffmuster zur Auswahl schicken lassen«, sagte der Schneider geflissentlich. Er nickte seinem Gehilfen zu, der an der Wand stand und sich bemühte, unsichtbar zu sein und zugleich eine unsichtbare Notiz von der Bestellung des Herzogs zu machen. »Ahm«, räusperte sich Arthur Ghent. »Ihr sagtet, dass Ihr heute auch über das Geld für die Talberts entscheiden würdet. Für Eure Schwester.« »Habe ich das? Ich dachte, wir hätten das Ganze schon auf den Weg gebracht, als meine Nichte hier ankam.« »Ihr sagtet nein. Ihr sagtet, wir sollten noch abwarten.« »Habe ich das?«, wiederholte der Herzog. »Nun, dann habe ich vermutlich befürchtet, dass sie durchbrennen würde. Sie ist aber nicht durchgebrannt, oder?« »Nein, Mylord«, antwortete Ghents Gehilfe. »Sie wohnt immer noch in Tremontaine House und nimmt bei Venturus Unterricht.« »Nun gut. Schicke der Familie die große Summe, alles, was sie fordert, aber vorerst nur als Darlehen, bis wir nach Ablauf der sechs Monate das gesamte umstrittene Vermögen freigeben.« 39 »Wie kompliziert«, bemerkte Flavia. »War nicht meine Idee, dafür hat man schließlich Rechtsanwälte.« Arthur Ghent machte sich Notizen und nahm einen weiteren Stapel Papiere zur Hand, besseres Papier, einige der Briefe dufteten sogar. »Dies hier sind die Einladungen für diese Woche. Marlowe möchte, dass Ihr Euch seinen neuen Sopran anhört...« »Nein. Sie ist seine Geliebte. Sie jault.« »Lord Fitz-Levi lädt Euch für Mittwoch zum Kartenspiel ein...« »Auf den Hügel? Nein.« 1 »In Ordnung. Aber Ihr habt ihm schon zwei Mal abgesagt.« »Dann lade ihn zur nächsten Sache ein, zu der er eingeladen werden kann. Natürlich nicht seine Frau, nur ihn.« »In Ordnung.« Ghent notierte sich den Wunsch. »Private Theatervorführung im, äh«, er holte tief Luft, bevor er es aussprach, »Clubraum der Liga der Selbstgenügsamen Herren.« Der Herzog krähte: »Niemals! Schreib ihnen, ich sei zwar dekadent, aber doch nicht derart verzweifelt.« Die Hand des Sekretärs schwebte unbeweglich über dem Tintenfass. »Schon gut«, sagte sein Herr voller Gnade, »schreib ihnen... gar nichts.« »Danke, Sir. Und hier haben wir noch einen Dankesbrief des Waisenheims, das sich für die Betten und das neue Dach bedankt und Euch zum Erntedankfest einlädt, bei dem die Kinder singen, tanzen und Gedichte aufsagen.« »Mit Bedauern absagen.« Der Herzog verzog das Gesicht. »Einfach nur bedauern. Und kein Wort über den anderen Unsinn.« Die Hässliche Dame ließ den Fuß baumeln. »Ihr habt das Heim gegründet«, bemerkte sie. »Warum wollt Ihr nun nicht hingehen?« 39 »Ich mag keine Kinder«, antwortete der Herzog. »Warum habt Ihr dann so viel Geld ausgegeben, um sie zu retten?« »Weil es nicht richtig gewesen wäre, sie auf der Straße verhungern zu lassen.« Der Herzog schüttelte die aufgebauschten Spitzenmanschetten, die von geschickten Künstlerhänden mit unzähligen Fäden in Blumen und Blüten und Blätter geformt worden waren. »Ich habe nichts getan, um mir das hier zu verdienen. Ich hatte nur eine Großmutter mit einer Menge Geld, das sie mir hinterließ. Vorher hauste ich in zwei Zimmern in Riverside. Ich konnte beobachten, was mit den Ergebnissen eines kurzen lustvollen Augenblicks geschah. Diese Menschen haben es nicht verdient, verhungern oder verrecken zu müssen, bevor sie auch nur gelernt haben, diese Wörter auszusprechen, nur weil sich niemand um sie kümmert.«
Der schöne Alcuin war herein geschlendert und hatte die letzten Worte noch gehört. Besitzergreifend legte er seine Hand auf Tremontaines seidenbekleidete Schulter. »Niemand? Dann müsst Ihr eben jemanden für sie finden!« »Manchmal«, näselte der Herzog, ohne aufzublicken, »bin ich fast sicher, dass ich auch dich nicht verdient habe.« Alcuin spielte zärtlich mit dem Spitzenbesatz an Tremontaines Kragen. »Ich wünschte, Ihr würdet nicht so reden.« Der herzogliche Sekretär warf der Hässlichen Dame einen Blick zu. Sie erwiderte ihn mit einem anzüglichen Grinsen. »Der Adel dieser Stadt hat kein Recht, so zu leben, wie er lebt«, fuhr der Herzog von Tremontaine in seinen Betrachtungen fort. »Als der Adel die Monarchie abschaffte, setzte er auch die traditionellen magischen Rechte außer Kraft, nicht nur die der Könige, sondern auch die eigenen. Daher hat der Adel eigentlich gar kein Recht mehr zu herrschen, an seinen Ländereien festzuhalten oder von der Bearbeitung des Bodens durch andere Menschen zu profitieren. Seltsam, dass das niemandem deutlich geworden ist. Obwohl ich glaube, wenn
40 das jemand laut ausspräche, würde man ihn wahrscheinlich herausfordern oder irgendwo wegsperren, je nachdem, welchen Rang er einnimmt oder wie klar sein Verstand noch ist. Denn Ihr müsst wissen, dass der Ehrengerichtshof nicht nur dazu da ist, Mordanschläge auf Adlige zu legalisieren, sondern auch sicherzustellen, dass nur ein Gericht, das aus Adligen besteht, über die Taten der Adligen Recht sprechen darf. Ein hübsches, geschlossenes System, obwohl ich glaube, dass das Privileg des Degens, wie sie es nennen, erste Anzeichen von Abnutzung erkennen lässt.« »Tatsächlich?«, fragte Flavia amüsiert, um ihn zum Weiterreden anzuspornen, denn er liebte es,Vbrträge zu halten. Und er tat ihr prompt den Gefallen: »Die meisten Herausforderungen werden aus reinem Unterhaltungsbedürfnis ausgesprochen. Euer Fechter muss einen Kratzer hinnehmen, oder mein Fechter steckt einen Hieb ein, und damit ist die Sache für diesen Tag erledigt. Die beiden Adligen, die sich gegenseitig zum Duell herausforderten, wissen, worum es bei dem Kampf ging, und gewöhnlich wissen auch ihre Freunde Bescheid. Das Ergebnis wird von allen anerkannt. Niemand wird heutzutage von einem Fechter noch verlangen, im Kampf zu sterben, nur um eine Ehrensache zu regeln. Natürlich gibt es ab und zu Unfälle, oder die Wunden infizieren sich, aber solange Euer Fechter nicht am Kampfplatz den Geist aufgibt, macht sich niemand groß Gedanken darüber. Aber es gibt auch noch eine dunkle Seite, und sie betrifft die praktischen Umstände dieser kleinen Gefechte. Es ist nämlich immer noch zulässig, dass ein Adliger einen Fechter anheuert und einen anderen Adligen sofort herausfordert, sodass diesem gar keine Zeit bleibt, einen Berufsfechter als Ersatz für sich zu finden. Selbst wenn dabei formell sämtliche Duellregeln eingehalten werden, kann der Kampf durchaus mit dem Tod des herausgeforderten Adligen enden, sofern dieser nicht ungewöhnlich viel Glück hat. Gilt in diesem Fall ioo das Privileg des Degens auch für den Fechter, der den Todesstoß ausführte? Gewiss, sofern er beweisen kann, dass er im Auftrag eines Adligen handelte. Dieses Privileg steht dem Adligen schließlich zu. Aber um dies zu entscheiden, wird der Fall vor den Ehrengerichtshof gebracht. Und genau dann beginnt der eigentliche Spaß. Die Regeln des Ehrengerichtshofs sind ziemlich obskur, und die Urteile fallen höchst unterschiedlich aus und sind immer hochgradig persönlich, mit einem Wort: eine vollkommene Scharade. Ich habe das schon selbst erlebt« — der Herzog schauderte —, »und daher weiß ich Bescheid. Selbst im Sündenpfuhl Riverside herrscht mehr Ehrlichkeit, denn dort besteht das einzige Privileg darin, wer stärker oder verrückter oder brutaler ist.« »Und was ist mit Euren adligen Frauen? Welches Privileg haben sie?« Er streckte den Arm weit über sich, um zu prüfen, ob die Ärmellänge ausreichte. Der Schneider nickte befriedigt. »Dem Gerichtshof zufolge ist die Ehre einer Frau Bestandteil des Eigentums ihrer männlichen Angehörigen.« »Hätte ich mir doch denken können.«
»Es ist allerdings auch schon vorgekommen, dass adlige Damen Berufsfechter angeheuert haben, wenn sie glaubten, sich in einer bestimmten Angelegenheit durchsetzen zu müssen. Aber heutzutage hält man das für undamenhaft, wenn ich richtig informiert bin.« »Und was ist mit Eurer Nichte?« »Was soll mit ihr sein?« »Wird sie, eine Dame von Adel, ihre Kämpfe selbst und für ihre eigenen Anliegen ausfechten, oder wird sie dafür einen Mann anheuern müssen?« Der Herzog lächelte. »Nun, genau das ist die Frage, nicht wahr? Sie erscheint mir allerdings ein recht friedfertiges Kind zu sein. Wir werden einfach abwarten müssen.« Vorsichtig schälte der Schneider den Herzog aus dessen
41 neuem Jackett und reichte es seinem Gehilfen, der es sorgfältig zusammenlegte. Der Herzog beobachtete den Vorgang interessiert. »Ich glaube, du faltest die Kleider besser als mein eigener Diener«, bemerkte er. »Wärst du nicht interessiert, die Stelle zu wechseln?« Der Gehilfe lief knallrot an und brachte keine Antwort hervor. »Du solltest die Gelegenheit beim Schopf ergreifen«, erklärte ihm der Herzog, »sie kommt vielleicht nie wieder. Deshalb kommen die Handwerker und Händler in dieser Stadt nicht voran«, erklärte er niemandem im Besonderen. »Verzagtheit, Mangel an Initiative und dazu noch die Weigerung des Adels, sie ihre Töchter heiraten zu lassen. Seht Ihr«, sagte er zu Flavia, als wäre ihr Gespräch nie unterbrochen worden, »die Adligen bringen es zu nichts. Nur die Menschen, die tatsächlich etwas tun, um ein besseres Leben genießen zu können, sind wirklich etwas wert: die Händler, die Handwerker, ganz zu schweigen von den Bauern, obwohl man natürlich mit ein paar kleinen Flecken Ackerland nicht reich werden kann. Man braucht schon sehr viel davon und muss die Arbeit von anderen verrichten lassen. Das war Euch so noch gar nicht klar, nehme ich an?« »Ich bin weder Historikerin noch Agrarexpertin. Aber redet ruhig weiter, ich bin fasziniert.« »Wenn die Adligen auch nur ein Fünkchen Verstand hätten, würden sie in Familien einheiraten, die wissen, wie man Kleider anständig faltet, statt sich so anzustrengen, immer nur untereinander zu heiraten.« »Das Problem mit Euch ist«, erklärte die Hässliche Dame, »dass Ihr offenbar immer genau zu wissen scheint, was alle anderen tun sollten, nicht wahr?« Der Irre Herzog lächelte sie an. Seine Gesichtszüge waren freundlich. »Ja«, sagte er, »genau so ist es.« »Und was ist«, fragte sie, »wenn Ihr Euch irrt?« »Und was ist«, fragte er zurück, »wenn ich mich nicht irre?«
41 Auf die nächste Unterrichtsstunde hatte ich mich gut vorbereitet. »Meister Venturus«, erklärte ich ihm, »ich bedaure zutiefst, dass es zwischen uns zu Unstimmigkeiten kam.« So etwas hatte ich noch nie im Leben gesagt, daher hatte ich mir die Formulierung aus einer Rede von Mangrove angeeignet, dem verlogenen Bösewicht, denn obwohl er bis ins Mark ein verderbter Mensch sein mochte, waren doch sein Stil und sein Verhalten stets untadelig. Allerdings ließ ich den Halbsatz weg, in dem Mangrove von überwältigenden Leidenschaften spricht, weil das nicht hierher passte. »Ich hoffe, Ihr werdet mir verzeihen und Euch bereit finden, mich weiterhin zu unterrichten.« Mein fremdländischer Meister runzelte die Stirn. »Ich bin hier, nicht wahr? Warum und wozu, wenn nicht für den Unterricht? Denkst Du, ich komme wegen der heißen Schokolade und den Keksen?« Also war alles in Ordnung. Wir führten zuerst die Stillstandübung mit seiner ernsten Klinge durch. Doch dieses Mal dachte ich ständig daran, dass Venturus, so seltsam er auch sein mochte, ein herausragender Degenfechter war. Er würde mich nicht verletzen, sofern er es nicht beabsichtigte. Ich bewunderte seine Form. Er beherrschte seinen Körper vollkommen, und der Degen war wie ein zusätzliches Körperteil. Er konnte dieselbe Bewegung stets präzise wiederholen und tat es auch, ohne zu zögern. Als mir das bewusst wurde, begann ich, die Illusion der Gefahr zu genießen — wie seine Klingenspitze an meiner Wange vorbeizischte oder meinen Jackenärmel kitzelte.
»Gut!«, bemerkte er. »Weil du dieses Mal nicht wütend wirst. Du kennst keine Furcht. Du vertraust mir. Aber du kämpfst nicht immer gegen mich. Darum musst du lernen, deiner eigenen Haut zu vertrauen. Du musst immer wissen, wo sich der Degen befindet. Du musst immer wissen, wie weit weg oder wie nahe er dir ist.«
42 Dieses Mal kam der Degen von oben. Über meine gesamte Kopfhaut lief eine Gänsehaut, als ich fühlte, wie er mich angriff. Ich spürte die Klinge in meinem Haar — wie ein vom Baum gefallenes Blatt oder einen kleinen Käfer. Und ich spürte, dass er wieder zurückgezogen wurde, noch bevor ich aufblickte. Es war nicht nur so, dass ich den Degen nicht mehr spürte, und auch nicht, dass ich seine Bewegungen sah. Oder vielleicht war es auch beides und noch etwas, das ich nicht richtig erklären kann. Jedenfalls war die Degenspitze weg und nichts an Venturus' Haltung oder an meiner verriet, dass sie mir so nahe gekommen war. Das war möglicherweise das Seltsamste überhaupt. »Jetzt versuch du es«, befahl Venturus und stand absolut still. Ich nahm meinen Übungsdegen, harmlos und langweilig, wie er war, doch bevor ich ihn schwingen konnte, verschwand Venturus aus meiner Reichweite, den Degen abwehrbereit zur Parade erhoben. »Du hast nicht gesagt >Stillhalten!<«, machte er sich wie ein kleines Kind über mich lustig. Ich spürte Wut in mir aufsteigen. »Ich bewege mich immer«, grinste er. »Egal, was du sagst.« Doch dann wandte er sich um und gab den Blick auf eine unförmige Gestalt hinter sich frei, die unter einem Überhang verborgen war. Mit theatralischer Geste riss er den Stoff herunter und enthüllte damit eine große Strohpuppe. »Das ist dein Partner für diese Übung. Er wird sich nicht bewegen!« Ich schwang meine Klinge gegen die Strohpuppe und war stolz, als sie knapp vor ihr zum Stillstand kam und kaum zitterte. Ich nahm mir ein anderes Ziel an der Puppe vor, und wieder schaffte ich es. Ich hatte beinahe schon vergessen, dass mein Lehrer noch im Raum war, doch plötzlich sagte er: »Wie? Wie? Übst du hier Baume fällen? Nein!« Aber mit seinem Gebrüll konnte er mir keine Angst mehr einjagen; ich glaubte sogar, dass er fast belustigt klang. »Das ist nichts als
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eine Übung. Noch mal mit Garde, Finte, Parade - und wenn du zustößt, bitte triff auch!« Ich ging in Ausgangsstellung und starrte den Strohmann an. Wenn er einen direkten Ausfall versuchte, würde ich — so — parieren und — so — täuschen, damit er seine Taktik änderte, und dann würde ich ihm die Degenspitze genau ins Herz stoßen! Der Stich ging so tief, dass die Spitze fast wieder auf der anderen Seite heraustrat. Ich betrachtete mein Werk halb beschämt, halb befriedigt. »Wie?«, mokierte sich Venturus erneut. »Welchen Trick hast du da ausgeführt? Das sind keine Abläufe, die ich dir beigebracht habe. Das ist das kleine Tänzchen von Mamasöhnchen! Ich bin kein Tanzlehrer! Ha! Denkst du, dein Partner ist eine Puppe zum Spielen? Denkst du, du kannst neue Bewegungsabläufe erfinden? Warum lachst du?« Die letzte Puppe, die ich geliebt hatte, war eine Porzellandame mit aufgemalten blauen Augen gewesen. Ich zog Fifi immer hochmodische Kleider an, die ich aus alten Kleiderabfällen meiner Mutter geschneidert hatte. »Noch mal!«, befahl er. »Du zeigst mir, wie du dich bewegst, wie ich dich gelehrt habe!« In was für ein Kostüm würde ich diese riesige Strohpuppe kleiden? Vielleicht half mir Betty, einen weiten, schwingenden, nachtschwarzen Umhang für sie zu nähen. Ich focht in genau der richtigen Abfolge von Angriff und Abwehr, wie Venturus es mir beigebracht und wie ich es so oft geübt hatte. Und am Schluss stach ich Groß-Fifi genau ins Herz. Venturus nickte. »Du siehst, wenn du meinen Lehren folgst, wie gut sie sind!« Das klang ja fast einladend. »Siehst du, wie schnell und sauber der Einstich ist? Schöner Angriff! Mit Sicherheit!« Ich grinste ihn an. Die Sache schien am Ende doch zu funktionieren. »Gut!«, rief er aus. »Ich gehe jetzt! Du übst weiter nach meiner Lehre. Ist eine gute Lehre! Wenn du ihr
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nicht folgst, darfst du nicht üben! Hast du verstanden?« Ich nickte. »Schlechte Angewohnheiten machen den Degen kaputt. Üben, üben, üben! Jetzt!«
Ich wartete, bis er den Raum verlassen hatte. Dann fasste ich Groß-Fifi unerbittlich ins Auge. Der Strohkopf war ein furchtbar unförmiger Ballen, vielleicht konnte ich irgendwie eine Perücke mit hübschen Locken besorgen? »Dir«, erklärte ich der Strohpuppe, »wird dieser Tag vielleicht noch leid tun. Oder wenn nicht dieser Tag, dann vielleicht der, an dem du mir gegenübertrittst. Das läuft so ziemlich auf dasselbe heraus. Denn wir sind zwar beide durch diese Flügeltür hereingekommen, aber nur einer von uns wird dort wieder auf den eigenen Füßen hinausgehen. En garde!« Es war ein furchtbarer, ein wirklich entsetzlicher Tag. Artemisia konnte zwar nicht sagen, warum, aber es war eben so. Ihr neues Kleid war geliefert worden, doch als sie es anprobierte, war sie plötzlich davon überzeugt, dass dieses Blau, das ihr im Schneiderladen noch so gut gestanden hatte, sie wie eine Vogelscheuche, oder schlimmer noch, wie eine alte Schachtel aussehen ließ. Sie brach deshalb sofort in Tränen aus, sodass Dorrie, ihre Kammerzofe, voller Verzweiflung Artemisias Mutter herbeirief, die hoch und heilig schwor, das Blau stünde ihr besser als das rosa Taftkleid. Artemisia schluckte ihre Tränen hinunter und gestattete Dorrie, ihr ein wenig Rohseidenspitze an den Kragen zu nähen, und dachte eigentlich, dass das die Sache ein wenig verbesserte, aber als sie dann in den Spiegel schaute, wurde ihr klar, dass sich auf ihrem Kinn ein Pickel entwickelte. Ihr entsetztes Aufheulen wurde allerdings von ihrem Bruder Robert jäh unterbrochen, der ins Zimmer stürmte und rief: »Mutter, Mutter! Ich habe dich im ganzen Haus gesucht! Kirk sagt, ich könne die Kutsche nicht haben, weil Artemisia angeblich irgendwelche Besuche abstatten wolle.«
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»Das ist richtig«, erklärte Lady Fitz-Levi, »und sieht sie nicht wie in einem Gemälde aus?« Ihr Bruder schluckte die gemeine Bemerkung hinunter, was für eine Art von Gemälde seine Schwester im Moment abgab. »Das ist unerträglich, Mutter. Ich habe dir doch vor zwei Tagen gesagt, dass ich die Kutsche heute brauche, um zum Rennen zu fahren.« »Warum reitest du nicht dorthin?« »Mutter! Man reitet doch heutzutage nicht zu einem Pferderennen! Wohin will Artie überhaupt, nur mal schnell ins Haus auf der anderen Straßenseite, oder was? Warum kann sie nicht zu Fuß gehen?« »Ach ja, danke vielmals, ich soll mich also ruhig mit Straßendreck vollspritzen lassen, nicht wahr?«, schrie Artemisia aufgebracht. »Du bist ein widerliches Schwein, Robert! Aber es spielt ohnehin keine Rolle, ich habe ja doch nichts anzuziehen und bin sowieso das hässlichste Wesen der ganzen Schöpfung. Nimm schon die Kutsche, ich gehe nicht weg. Ich gehe überhaupt nie mehr irgendwo hin. Und jetzt verschwinde aus meinem Zimmer, du Ekel.« Lady Fitz-Levi winkte ihrem Sohn, ihr in den Flur hinaus zu folgen. »Was ist denn jetzt wieder in sie gefahren? Sie geht doch sonst immer gern zu Gesellschaften.« »Du musst mehr Geduld mit ihr haben«, mahnte die Mutter. »Sie leidet heute ein wenig unter dem Wetter. Sie hat keine Einladung zu dem Dinner mit Musik bei den Galings bekommen, obwohl sie unbedingt eine haben wollte, weil ein gewisser — äh, Gentleman erklärte, er würde dort sein.« »Ach, wirklich? Wer denn?« »Das brauchst du jetzt nicht zu erfahren.« Die Mutter legte einen Finger auf ihre Wange. »Je weniger Worte man über diese Sache verliert, umso besser.« »Komm schon, Mutter, vielleicht kenne ich ihn.«
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»Da bin ich mir nicht so sicher. Der junge Mann ist ein wenig schwerfällig, nichts für dich und deine Freunde.« »Wenn er so schwerfällig ist, was sieht sie dann in ihm?« »Mir macht mehr Sorge, was er in ihr sieht. Er war wie vom Blitz getroffen, wurde geradezu mondsüchtig und hat ihr beim Ball der Montagues alle möglichen Komplimente gemacht. Du kannst dir ja vorstellen, dass Helena Montague die halbe Stadt eingeladen hatte, selbst solche, die nicht in-frage kommen. Ich habe den Fehler begangen, Mia zu raten, ihn nicht ernst zu nehmen, und deshalb macht sie jetzt erst recht großes Getue um ihn. Ich hätte besser meinen Mund halten sollen. Schaffe dir bloß nie eine Tochter an.«
Robert lachte. »Ich schaffe mir gleich mehrere an und schicke sie dann zu dir, um sich Ratschläge zu holen. Aber vielleicht ist ein dumpfer, schwerfälliger Bursche genau die Art von Mann, die Artie braucht, um endlich zur Ruhe zu kommen und mit ihm glücklich zu werden.« »Sei nicht so überheblich, Robert. Dumpf ist keine Eigenschaft, die deiner Schwester nützt. Und schon gar nicht dumpf und arm und mit romantischen Familienbeziehungen.« Robert hob die Augenbrauen. Seine Mutter nickte. »Gregory Talbert, ja. Der am wenigsten heiratsfähige junge Adlige in der ganzen Stadt.« »Und Tremontaines ältester Neffe. Wer kann schon sagen, ob sich da nicht irgendwann einmal der Herzogstitel ergibt?« »Tremontaine wird das auf jeden Fall sagen können. Zwischen den Familien herrscht Fehde. Der Herzog hat das Privileg, seinen Erben selbst zu benennen, und ich bezweifle sehr, dass eines der Kinder seiner Schwester der Erbe sein wird.« »Und was ist mit der Nichte, dem Mädchen, das er hierher kommen ließ?« Seine Mutter presste die Lippen fest aufeinander. »Du siehst
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sie doch nirgendwo bei einer Gesellschaft für junge Damen, oder?« Sie erwähnte nicht, nicht einmal Robert gegenüber, dass sie bereits einen Brief von Lady Katherine an Artemisia abgefangen hatte, einen halb irren, schwülstigen und sehr fehlerhaften Brief, in dem düsterste Schicksale und verzweifelte Maßnahmen angedeutet wurden. Sie hoffte inbrünstig, dass keine weiteren Briefe mehr kommen würden. »Was auch immer der Herzog mit ihr vorhat, es kann jedenfalls nichts Anständiges sein.« »Aber ihr Bruder kommt mir recht verlässlich vor. Keine Angst, Mama, wenn ich ihn wieder mal treffe, werde ich ihn schon vor Artie warnen.« »Danke, Robbie. Ich weiß, dass ich meinen beiden Kindern zutrauen kann, dass sie das Richtige tun. Falls du deiner Schwester jetzt irgendwie helfen kannst... Du weißt ja, man darf nicht unterschätzen, wie wichtig es gerade zurzeit ist, dass sie immer so hübsch und so gut gelaunt wie möglich erscheint.« »Ach, sie ist doch immer ein durchschlagender Erfolg. Ich verstehe gar nicht, warum sie jetzt einen solchen Zirkus veranstaltet.« »Robbie«, seufzte die Mutter, »mein Lieber. Darf ich mal als Erwachsene mit dir sprechen?« Robert richtete sich auf. »Gut. Dann hör mir mal zu. Was mit Artemisia in dieser Saison oder in der nächsten geschieht, wird den weiteren Verlauf ihres gesamten Lebens bestimmen. Sie steht jetzt auf dem Präsentierteller, alles, was mit ihr zu tun hat: ihre Kleider, ihre Frisur, ihr Lachen, ihre Stimme. So kann ein Gentleman sich entscheiden, ob er sie zur Herrin seines Hauses und zur Mutter seiner Erben machen will. Denk doch nur, ach, ich weiß nicht, es ist vielleicht wie bei einem Rennpferd, nur hat sie eben lediglich ein einziges Rennen, um zu gewinnen. Wenn sie eine gute Partie macht, kann sie zufrieden und glücklich werden. Wenn sie eine schlechte Entscheidung trifft oder kei
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nen würdigen Partner findet, wird ihr ganzes restliches Leben ein einziges Unglück sein. Ich weiß, dass ihr jungen Leute glaubt, körperliche Attraktivität reiche aus. Aber wenn du erst einmal vierzig bist und deine eigene Brut großziehst und deine Partnerin arm ist oder schlechte Urteilskraft besitzt, dann ist es aus mit der romantischen Verliebtheit, das darfst du mir glauben.« Sie beugte sich vertraulich näher zu ihm. »Du und ich, wir wissen doch, dass Artemisia ein absolut umwerfender Erfolg ist, wenn sie erst einmal aus dem Haus geht. Du weißt, dass niemand etwas anderes als nur das Beste über unseren Liebling zu sagen hat. Und du wirst es mir doch erzählen, wenn das einmal nicht der Fall sein sollte, nicht wahr, Robbie, mein Lieber? Aber wenn eine Frau allein in ihrem Boudoir sitzt, dann stellen sich immer wieder gewisse, hm, Ängste ein. Du siehst also, wir alle müssen ihr gegenüber im Moment ganz besonders lieb und hilfsbereit sein. Das verstehst du doch, Liebling, nicht wahr?« »Wenn es ihr hilft, geheiratet zu werden, damit sie endlich aus dem Haus verschwindet, werde ich alles tun, was in meiner Kraft steht«, erklärte Robert aus tiefster Überzeugung. Und obwohl seine Mutter sagte, dass er das bestimmt nicht so gemeint habe und dass es doch keinen besseren Freund gebe als eine Schwester, die einen durch alle Höhen und Tiefen des Lebens begleite, war Robert nicht davon abzubringen, dass er es genau so gemeint
hatte. Als er davonging, stieß er fast mit einem Diener zusammen, der mit einem Bouquet Blumen für seine Schwester die Treppe heraufeilte. Dorrie brachte ihr die Blumen ins Zimmer, in der Hoffnung, dass der Strauß ihre Herrin ein wenig aufmuntern würde. Und tatsächlich begann Artemisia zu strahlen, als sie das prächtige Bouquet aus Rosen und Freesien sah. Wenn die Blumen von einer gewissen Person geschickt worden waren, würde das alles wieder gutmachen, und sie würde wieder hof45 fen können. Mit zitternden Fingern - und mit ihrer Mutter, die ihr über die Schulter blickte — zog sie die Grußkarte heraus, die mitten im Strauß steckte. Sie konnte sich bereits die sanften Worte vorstellen, die jemand geschrieben hatte, dessen Blick auf sie gefallen war, dessen Hand sanft die ihre gestreichelt hatte und der vielleicht eines Tages ihr Herz erobern würde. »O nein!«, schrie sie auf. Die Karte trug die Unterschrift von Terence Monteith. Schluchzend warf sie sich auf das Bett. »Ich hasse Terence Monteith! Ich hasse sie alle! Es ist eine einzige Katastrophe! Alle hassen mich! Oh, lasst mich doch endlich in Ruhe!« Am Ende mussten sie ihr Tee und ein kleines Glas Branntwein einflößen und sie ins Bett stecken. Wäre Robert nur ein wenig geduldiger gewesen, er hätte vielleicht doch noch die Kutsche haben können. Artemisia rollte sich im Bett mit ihrem Lieblingsbuch zusammen und weinte. Sie fragte sich, ob jemals irgendein Mann sie genug lieben würde, um ihretwegen seine Ehre aufs Spiel zu setzen, und warum Degenfechter heutzutage immer so langweilig sein mussten.
Kapitel 9
Marcus, der Diener meines Onkels, hatte Recht: Die Gärten von Tremontaine House waren wunderbar, außerordentlich gut gepflegt, herrlich und vielfältig. Die Wege waren gut gerecht, und klassische Statuen leuchteten vor dunklen, sorgfältig geschnittenen Büschen. Manche der Mythen, die sich um die Figuren rankten, kannte ich; andere Gestalten hingegen waren mir völlig unbekannt, doch schienen diese in geradezu unmöglichen Stellungen miteinander zu kopulieren. Vielleicht waren sie als Scherz gedacht oder vielleicht stammten die Gestalten aus Büchern, die zu lesen nur meinen größeren Brüdern erlaubt war. Auch gab es Bögen und bunte Blumenarrangements sowie Pflanzen mit wunderbaren Blättern unterschiedlicher Größe und Farbe, überall dazwischen Lauben mit Parkbänken, auf denen ich allerdings nie jemanden sitzen sah. Lange, mit Gras bewachsene Alleen führten zum Fluss hinunter. Je ausgiebiger ich mit dem Degen übte, desto heftiger verspürte ich danach das Verlangen, die Alleen entlangzulaufen, vor allem, als der Herbst an den letzten Tagen des Sommers zu nagen begann. In meinen Männerkleidern konnte ich über Abhänge und Uferböschungen stürmen, ohne mich um meine Röcke sorgen zu müssen. Steinmauern waren kein Hindernis mehr, ich musste nicht mehr darum herumgehen, und selbst wenn ich stürzte, gab es keine angerissenen Rocksäume oder Rüschen. Tatsächlich zog ich mir nur einmal einen Riss am Ärmel zu, aber das hatte ich meiner eigenen Dummheit zuzuschreiben, 45 weil ich die Arme über den Kopf streckte und mich über den Rasen bis zum Landeplatz am Fluss hinunterrollen ließ. Dort schaukelte die Barke des Herzogs im Wasser, bedeckt mit einer Plane. Ich nahm mir vor, ihn zu fragen, ob ich damit einmal eine Flussfahrt machen dürfte. Den Riss nähte ich selbst, so gut ich konnte, aber er blieb trotzdem sichtbar. Als Betty die Jacke mitnahm, befürchtete ich, dass sie wütend sein und dem Herzog davon erzählen würde, aber sie ließ den Riss einfach von einem richtigen Schneider vernähen, und danach war die Jacke wieder so gut wie neu. Meine Familie hatte nie genug Geld für Mal- und Zeichenunterricht gehabt, sonst hätte ich vielleicht gut genug zeichnen und malen gelernt, um die Gärten in Bildern festzuhalten. Und wenn Artemisia wirklich eine echte Freundin gewesen wäre, dann hätte ich sie vielleicht einladen können, dann hätte sie es tun können, denn ich war überzeugt, dass sie über alle Fertigkeiten verfügte, die einer jungen Adligen zukamen. Sollte ich meinen Onkel, den Irren Herzog, jemals wiedersehen, wollte ich ihn fragen, ob er mir nicht Zeichenunterricht erteilen lassen könnte, zusätzlich zu meinem Degenunterricht durch
Meister Venturus. Schließlich konnte ich nicht jede Minute meines Lebens mit Fechtübungen verbringen. Warum sollte er etwas dagegen haben, wenn ich in meiner Freizeit Aquarellmalerei oder sonst was Nettes lernte? Meine Übungsstunden vernachlässigte ich keineswegs. Venturus beobachtete höchst aufmerksam, wie ich mich gegen meine Strohpuppe Fifi abkämpfte. Er gab mir Hinweise, und mir wurde allmählich klar, dass seine Ratschläge trotz seines großspurigen Getues immer Hand und Fuß hatten. Es war geradezu unvermeidlich, dass Fifi in meinen Augen allmählich zu einer eigenen Persönlichkeit wurde; ich konnte mir sogar immer besser vorstellen, zu welch geschickten Gegenzügen sie in der Lage sein würde. Eines Tages, als Venturus zum wiederholten Male ätzende Bemerkungen über eine
46 falsch ausgeführte Riposte machte, fragte ich: »Aber was kann ich machen, wenn Fif-, wenn mein Gegner mir mit einer dermaßen schnellen Ligade kommt?« »Hier!« Mein Fechtmeister riss schwungvoll eine Waffe aus dem Degenständer. »Ich werde es dir zeigen.« Und schon griff er mich an, führte eine blitzschnelle Ligade aus, der ich nicht ausweichen konnte, bis er es mir genau beibrachte. Und so begannen unsere Kämpfe. Ich lernte die blitzende Klinge bald recht gut kennen, zuerst nur als eine Art Tanzpartnerin, während wir unsere vorgeschriebenen Angriffs- und Abwehrvarianten, die Paraden und Finten, die Riposten, Ligaden und Battaten übten. Doch schon bald lernte ich die Degenklinge auch als unerwartete, unangenehme Besucher in kennen, deren Kommen man in einem halben Herzschlag erahnen und brüsk zurückweisen musste. Am schwersten fiel es mir, meinem Lehrer in die Augen zu sehen, während wir kämpften, aber er erklärte mir immer wieder, dass ich genau das zu tun hätte, obwohl ich mir dabei unglaublich ungezogen und frech vorkam. »Nicht den Degen anschauen«, knurrte er. »Du musst den Gegner anschauen! Der Fechter ist der Kopf des Degens!« Und so oft wir miteinander kämpften, brummelte mein Lehrer, dass ich ein hoffnungsloser Fall sei, und für ihn reine Zeitverschwendung dazu. »Ich schlafe ein, wenn ich mit dir übe, Herzogsknabe! Andere Schüler von mir lernen voneinander und üben miteinander! Aber du bist ganz allein mit deinem Strohmann und mir. Viel zu allein. Nur hast du das Glück, mich als großartigen Lehrer zu haben, der mit dir übt. Warum lässt dich dein irrer Vater so ganz allein?« »Er ist nicht mein Vater«, sagte ich automatisch und bestimmt schon zum hundertsten Mal, »und ich bin kein Junge!« »Ich kämpfe nicht mit Mädchen!« Er hob den Degen hoch,
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senkte dann die Spitze zu Boden, um eine Pause im Kampf anzuzeigen, damit er mich umso besser mit seiner üblen Laune angreifen konnte. »Du hast keinen Respekt vor deinem Lehrer, ha! Andere Schüler betteln auf Knien bei mir um Unterricht, auf Knien! Aber du widersprichst mir immer nur! Ha!« Doch am Ende übten wir stets weiter, den ganzen Morgen lang. Ich genoss es, wenn mein Lehrer vor mir zurückweichen musste, auch wenn alles nur eine Übung war. Trotzdem dachte ich, dass ich es verdient hätte, auch Aquarellmalerei lernen zu dürfen. Der Liebhaber des Herzogs sagte: »Ich wünschte, Ihr würdet Euch endlich entscheiden.« Ein Schauder rann ihm über die Haut, als der Herzog ihm mit kaltem Finger das Rückgrat entlang strich. »Ich habe mich entschieden. Das Problem ist nur, dass du die Entscheidung nicht magst.« »Ich will hier in Riverside bleiben.« »Ich auch. Nur nicht heute Abend. Mein Dichter braucht ein gewisses Maß an Würde. Auf dem Hügel wird sein Auftritt wirkungsvoller sein.« »Aber die ganze Stadt weiß doch, wer Ihr seid. In welchem Haus Ihr es veranstaltet, macht doch gar keinen Unterschied!« »Du magst meine Ideen nicht«, sagte der Herzog, »und du magst meine Entscheidungen nicht. Die Wahrheit ist wohl, dass du mich nicht besonders magst, Alcuin, stimmt's?« »Natürlich mag ich Euch, ich liebe Euch.« »Schon in Ordnung. Ich mag dich auch nicht besonders.« »Warum behaltet Ihr mich dann?«
»Wer sagt, dass ich dich behalte?« Alcuin neigte das schöne Haupt über die manikürte Hand des Herzogs und streifte sie mit den Lippen. »Bitte...« Und Tremontaine schob ihn nicht von sich.
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Doch als der Herzog eingeschlafen war, zog sich Alcuin an, kritzelte ein paar Worte auf einen Zettel und legte ihn auf die Spiegelkommode. Dann ließ er die Kutsche vorfahren und fuhr zum Hügel. Im Schlafzimmer des Herzogs waren die Vorhänge stets zugezogen; überrascht stellte sein Liebhaber fest, dass es draußen heller Tag war. In Tremontaine House kannten sie ihn, und er trug immer noch den Ring seines Herrn. Also ließen sie ihn ein und folgten ihm nicht, als er durch die Flure zu den Gemächern des Herzogs eilte. Alcuin suchte nach Dokumenten, irgendwelchen Papieren, die seinen Zwecken dienen und den Herzog bloßstellen mochten, aber er fand nicht, was er suchte, genauso wenig wie in Riverside. Er ging zur Bibliothek und blätterte durch ein paar Bücher, die ihm als Verstecke besonders naheliegend erschienen, aber auch darin fand er nichts als Wörter. Er hatte sich allein in der Bibliothek gewähnt, daher zuckte er heftig zusammen, als er plötzlich Papier rascheln hörte. Es war nur ein Junge, hübsch und gut gekleidet, allerdings mit erstaunlich langem Haar — also wahrscheinlich irgendein Student —, der mit einem Buch in einer der Fensternischen saß. Alcuin, stolz auf seine Fähigkeit, jeder Situation Herr zu werden, verneigte sich knapp. Schließlich konnte niemand ahnen, dass er etwas anderes getan hatte, als in ein paar Büchern zu blättern. Das tat man doch normalerweise in einer Bibliothek, nicht wahr? Jetzt musste er allerdings warten, bis er wieder allein war, damit er sich endlich auch mit dem Inhalt des Schreibtisches befassen konnte. Der Junge stand hastig auf und schob das Buch unter ein Sitzkissen. »Oh!«, stieß er hervor, »ist mein Onkel schon zurück?« Alcuin starrte den Jungen verblüfft an. »Und wer, bitte, ist dein Onkel?« »Der... der Herzog, meine ich«, stotterte der Junge, »Du bist... Ihr seid... Alcuin, nicht wahr?«
47 Alcuin lächelte, nicht wenig geschmeichelt, dass man ihn erkannte. »Du bist zu früh zum Fest gekommen, mein Junge.« Er trat ein wenig näher. Ja, jetzt konnte er eine gewisse Familienähnlichkeit erkennen, wenn man sehr genau hinsah, obwohl es wohl eher an der Hauttönung lag und vielleicht an den Augen. »Sucht Ihr hier nach etwas? Vielleicht kann ich Euch helfen?« Die Gesichtszüge des Jungen waren weich und geschwungen, während die des Herzogs scharf geschnitten waren. Eigentlich... »Nein!«, entgegnete Alcuin brüsk. »Mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten ein!« Er hätte sie sofort erkennen müssen. Die blöden Kleider hatten ihn getäuscht. Die Nichte des Herzogs hatte sich von ihrer Überraschung erholt und stand ihm jetzt kühn gegenüber. Sie starrte ihm mit einer Unbeirrbarkeit in die Augen, die ihn beunruhigte. »Kein Grund, gleich so wütend zu werden«, sagte sie. »Wann kommt mein Onkel zurück?« »Ich...« Aber er konnte natürlich nicht zugeben, dass er es nicht wusste. »Bald. Rechtzeitig zum Fest. Und du... Ihr habt wohl vor, in einer Komödie aufzutreten?« Mit einiger Genugtuung stellte er fest, dass sie errötete. Dennoch ließ sie sich nicht beirren und ging auch nicht weg, deshalb blieb ihm die Bibliothek für den Augenblick versperrt. Er kehrte in die herzoglichen Gemächer im Obergeschoss zurück, in denen er nun allerdings den Herzog selbst in einer seiner übelsten bissigen Launen vorfand. Auch sein Diener Marcus war anwesend. Alcuin wollte gerade wieder gehen, als der Herzog sagte: »Lass dich heute Abend nicht blicken, Alcuin.« »Warum? Befürchtet Ihr, dass ich Eurem kostbaren Dichter die Aufmerksamkeit der Gäste abspenstig mache?« »Im Gegenteil. Ich befürchte, dass du sie zu Tode langwei
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len würdest. Absolut niemand will deine Meinung über Versmaß und Reim hören. Denn dann würde jedermann nur allzu schmerzhaft bewusst, dass du über solche Dinge noch nicht einmal nachzudenken anfängst, wenn andere längst darüber gesprochen haben.«
»Ihr vögelt also Euren Dichter, stimmt's?«, sagte Alcuin grob. »Selbst wenn das der Fall wäre, hättest du nichts Interessantes beizusteuern.« Alcuin ging, um seine Wut an seinem Diener auszulassen, der hoffentlich endlich eingetroffen war. »Und lass die Finger von meinen Papieren«, sagte Tremontaine warnend, als Alcuin die Tür hinter sich zuzog. Man hatte mich nicht zu dem Fest des Herzogs eingeladen, aber ich war sicher, dass es sich um ein Versehen handeln musste. Schließlich wohnte ich hier. Und wie die Diener erklärten, würde es sich um eine literarische Gesellschaft handeln, nicht um irgendein verderbtes Gelage; es gab also für mich keinen Grund, nicht teilzunehmen. Doch — einen gab es: meine Kleider. »Eure Kleider sind sehr hübsch, Mylady«, sagte Betty mürrisch. »Wirklich sehr schön, der Herzog hat sie eigens für Euch schneidern lassen.« Mürrisch war sie, weil die übrigen Bediensteten vollauf mit der Vorbereitung für die Ankunft der Gäste beschäftigt waren, sodass sie niemanden gefunden hatte, der sich die Schwanke aus ihrer Jugendzeit anhören mochte. Deshalb hatte sie bereits dem Wein zugesprochen, und das machte sie immer besonders stur. Egal wie nachdrücklich ich ihr auch auseinandersetzte, dass es für mich keinesfalls infrage komme, mich in diesem befremdlichen Aufzug vor meinen Mitadligen blicken zu lassen, sie weigerte sich schlicht zuzuhören. Es war klar: Nichts Geringeres als ein direkter Befehl des Herzogs würde Betty veranlassen können, selbst das mie
48 seste und älteste meiner Kleider aus dem Versteck zu holen, wo immer es auch sein mochte. Ich beschloss, den Befehl direkt vom Herzog zu holen. Ich wusste, wo die herzoglichen Gemächer lagen. Schnurstracks ging ich auf die Tür zu und hob die Hand, um anzuklopfen. Doch die Tür öffnete sich bereits, und ein Junge schlüpfte heraus. Es war Marcus, der Diener des Herzogs. Er stellte sich vor mich und mit dem Rücken zur Tür, als wollte er sie vor mir schützen. Oder mich vor ihr. »Ich wollte nur...«, begann ich, aber er hob mit besorgtem Gesichtsausdruck die Hand. »Würde ich nicht tun«, riet er mir, »nicht im Moment.« »Aber es ist wi...« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Vertraut mir. Später vielleicht. Es gibt gleich eine Explosion.« Im selben Moment wurde die Tür hinter ihm von einem heftigen Poltern erschüttert. »Und ich muss jetzt los und Eiweiß holen. Später.« Er floh den Korridor in der einen Richtung entlang, und ich schlenderte seufzend in die andere Richtung zurück. Damit hatte sich die Sache mit der Gesellschaft wohl erledigt. Die Küche war ein einziges Chaos, und es fiel mir nicht schwer, mich hineinzuschleichen und mit Proviant einzudecken. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein und wartete den Abend ab. Ich hörte Kutschen vorfahren, Namen wurden ausgerufen, Gelächter schallte zu mir hoch. Dann trat eine längere Stille ein, als sie sich von der Empfangshalle in den Esssaal begaben und zu Abend speisten, also offenbar keine besonders große Abendgesellschaft. Ich aß ein paar Apfel und Kekse und beobachtete den wie immer prächtigen Sonnenuntergang über dem Fluss. Als ich die Kerzen anzündete, hörte ich, dass die Diener durch die große Halle gingen und die vielen Kerzen auf den Kandelabern anzündeten. Mir kam plötzlich der Gedanke, dass ich mich in einer dunklen Nische
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auf dem obersten Absatz der Treppe verstecken und von dort bequem alles beobachten konnte. Es war wie damals, als ich noch ein Kind gewesen war und mich hinter Treppengeländern versteckt hatte, um die Erwachsenen bei den Festen meiner Eltern zu beobachten. Unten flanierten inzwischen die Gäste auf dem riesigen Spielbrett der Halle, zuerst waren es noch so wenige, dass ich einzelne Stimmen unterscheiden konnte und Bruchstücke ihrer Gespräche auffing: »... macht denn Godwin hier? Ich dachte ...« »... nun ja, in Gedichten, wenn überhaupt...« »... nicht mal dann, wenn Ihr mir eine Kerze an die Fußsohlen halten würdet...« »Bernhard! Wusste gar nicht, dass Ihr Euch für Poesie interessiert!«
»Tu ich auch nicht. Warte nur mal ab.« »... wusste doch, dass er hübsch ist, aber mein Gott!« »Habe meine Zweifel, ob er noch lange hier ist. Aber denkt Euch doch nur, meine Liebe...« Als ich oben an der Treppe ankam, taumelte gerade der furchtbare Alcuin von der Halle herauf. Selbst ich merkte, dass er stark angetrunken war. Er trug keine Jacke, und sein Hemd hing lose an seinem Körper. Das Haar stand ihm eigenartig wirr vom Kopf, als hätte ihm jemand Eiweiß hineingerieben. Ich trat zur Seite. Er griff nach dem Geländer, erwischte aber stattdessen mein Handgelenk und stützte sich schwer auf mich, als würde er ohne mich umfallen. Er machte keinen besonders glücklichen Eindruck. »Tremontaine«, murmelte er undeutlich. »Noch einer...« Sein Griff war hart, er zog mich herab, und es gelang mir nicht, seine Hand abzuschütteln. Nicht weit entfernt unter uns befanden sich Leute; ich würde sofort Hilfe bekommen, wenn ich sie brauchte. Aber natürlich wollte ich nicht, dass mich jemand bemerkte. »Noch so eine Herzogsschlampe.« 49 Ich gab ein dümmliches Lachen von mir. »Ich bin niemand.« Er riss mich an sich. Erstaunlich, dass ein so hübscher Mensch so widerlich sein konnte. Er begann mich zu beschimpfen, und ich protestierte. »Ich habe nichts mit Euch zu tun. Hört auf damit! Lasst mich sofort los!« Aber es war, als hätte er mich nicht gehört. Wenn ich geschrien hätte, wären mir alle zu Hilfe geeilt, aber es wäre mir sehr peinlich gewesen. Also ließ ich meinen Absatz auf seinen Fuß krachen. Alcuin heulte auf, aber niemand hörte ihn, weil unten gerade ein Aufruhr entstanden war: Das Kreischen von Damen mischte sich mit erfreuten Ausrufen; noch mehr Gelächter war zu hören, manche riefen einander zu, herzukommen und es sich anzusehen. Alcuin taumelte wieder in die Halle hinunter, wo er sich übergab, und ich rannte an die Balustrade, um nicht zu verpassen, was immer da unten los sein mochte. Die Gäste hatten einen großen Kreis gebildet; zwei Männer standen mit gezogenen Degen mitten in der Halle. Halb gebückt schlichen sie umeinander herum, versuchten sich abzuschätzen. Die Spitzen der Degen waren nicht geschützt. Beide hatten die scharfe Stahlklinge auf das Gesicht des Gegners gerichtet. Das war es also: echte Fechter, mein erster richtiger Fechtkampf! Ich packte das Geländer mit beiden Händen und beugte mich noch weiter darüber, sodass ich zwar befürchten musste, entdeckt zu werden, aber noch mehr befürchtete ich, etwas zu verpassen. Direkt unter mir standen die Gäste dicht an die Wand gedrängt, um die Sache zu beobachten. Ihre Stimmen drangen zu mir hinauf. »Keine Chance. Der Dunkle hat die bessere Auslage.« »Aber schaut Euch doch seinen Arm an!« »Fünfzig auf den Dunklen, wie heißt er noch mal? Kennt hier jemand seinen Namen?« »Ihr wisst doch, wer er nicht ist.« 49 »Fünfzig, einverstanden.« Beide Fechter sahen recht anständig aus. Einer war dunkelhaarig, der andere blond, und der Blonde wirkte nervös. Furcht ist der Feind des Degens. Aber war er wirklich nervös oder einfach nur vorsichtig? Er schien aufmerksam alles zu registrieren, jede mögliche Bewegung. Das konnte sich zu seinem Vorteil auswirken. Der Dunkle dagegen hatte eine Menge Kraft. Konnte aber sein, dass er sich zu schnell verausgabte. »Wer wettet noch mit? Beeilt euch, bevor sie fertig sind.« Die Waffen klirrten gegeneinander. Prüften sie ihren Kampfesmut? Oder wollten sie nur erhöhte Aufmerksamkeit wecken? Stahl auf Stahl klingt wie eine tonreine Glocke, der Ton hallte lange durch den großen Raum. »Gut in Form. Werden ihre Sache gut machen.« »Ich setze noch mal zwanzig auf den Blonden!« Ich sah meinen Onkel, den Herzog, einen Arm um die Schultern eines bleichen jungen Manns gelegt, der ein Bündel Papiere in der Hand zerknüllte. In der alles durchdringenden Stille war plötzlich die quiekende Stimme des Jungen zu hören: »Das ist doch lächerlich. Ich bin sicher, dass er mich nicht beleidigen wollte.« Die Fechter umkreisten sich langsam. »Aber vor einem Augenblick warst du noch sicher, dass er genau das wollte!«
»Ich hätte es nicht laut sagen dürfen.« Der Dunkle machte einen Ausfall, vor dem der andere zurückwich. »Im wirklichen Leben, mein süßer Poet«, sagte der Herzog, während sich die Fechter erneut umkreisten, »können Worte niemals rückgängig gemacht werden.« »Aber die beiden Männer hier — wegen einer solchen Sache zu kämpfen —, das ist doch lächerlich.« »Du bist mein Gast«, erklärte ihm der Herzog mit öliger 50 Stimme. »Deine Dichtkunst wurde unter meinem Dach in Zweifel gezogen. Wir hatten Glück, dass die Fechter anwesend waren, um die Sache zu übernehmen. Achte auf Finch, den Blonden: Er verteidigt die Tugend deiner Verse.« Ein Gast brüllte: »Also los, Jungs, fangt endlich an, zeigt uns mal, was ihr könnt!« Die Degenspitze des Dunklen zeigte genau auf Finchs Brust. »Gib's ihm«, schrie ein anderer Zuschauer. »Ich hab Geld auf dich gewettet!« Finch machte plötzlich einen Ausfall, zu schnell. Eine etwas angeberische Aktion, eher geeignet, den Gegner zu überraschen und seine Verteidigung zu durchbrechen, doch so etwas funktioniert nur, wenn man wirklich etwas anderes im Hinterkopf hat. Scheinbar hatte sich der Blonde dazu keine Zeit genommen. Finchs Gegner parierte den Vorstoß ohne Schwierigkeiten. Er parierte — und traf. »Blut!«, rief einer der Gäste, und die anderen ahmten sofort nach: »Erstes Blut!« Finch taumelte zurück. Ein dunkler Fleck breitete sich auf seinem Hemd aus. Sein Gegner stand völlig regungslos mit gesenktem Degen da. In der Halle herrschte Stille. Der Herzog sagte zu seinem Poeten: »Du hast verloren. Oder vielmehr hat Finch an deiner Stelle verloren. Läuft aber auf dasselbe hinaus. Sofern du nicht willst, dass sie vom Kleinen Tod bis zum Tod weiterkämpfen? Dann hättest du immer noch eine Chance...« »Nein«, sagte der Dichter. Finch ließ den Degen fallen und presste die Hand auf die blutende Seite. Der siegreiche Fechter verneigte sich vor dem Herzog. Meine Hände hatten sich um die Balustrade verkrampft. Am liebsten hätte ich sie aufgefordert, die Sache noch mal zu machen, aber dieses Mal richtig, nur war es eben keine
50 Ubungslektion. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, was es gewesen war. Finch ließ sich auf einen Stuhl fallen und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Ein paar Diener schoben sich durch die Menge und brachten Binden und Wasser für den Verletzten. »Nun, das war's dann«, verkündete der Herzog laut, und genauso laut sagte er zu dem Poeten: »Ich fürchte, du wirst das Haus verlassen müssen.« »Aber — warum?« »Deine Dichtung hat sich als grauenhaft erwiesen. Ich hätte es zwar nicht für möglich gehalten, aber es ist nun mal so. Finch ist verletzt.« Der Dichter lachte unsicher. »Ich verstehe. Wirklich sehr komisch. Ihr könnt doch so was nicht ernst nehmen.« Der Herzog schaute ihn unverwandt an. »Mein Lieber. Hier auf dem Hügel nehmen wir so etwas sehr ernst, fürchte ich. Ein Adliger aus der Stadt stellte den Wert deiner Dichtung infrage — >Trüber als ein verregneter Dienstag, und zweimal so lang< - habt Ihr es nicht so ausgedrückt, Bernhard, glaube ich, Ihr wart es doch? Daraufhin wurde eine Herausforderung ausgesprochen. Es gab ein Duell; der Degenfechter, der deine Ehre verteidigen sollte, wurde besiegt.« »Aber wenn ein Mann den anderen mit seinem Degen aufspießt, ändert sich doch der Wert meiner Dichtung nicht einfach von gut zu schlecht?« »Das Duell ist der letzte und höchste Schiedsrichter der Wahrheit. Wo die Meinung des sterblichen Menschen immer in Zweifel gezogen werden kann, bleibt die Wahrheit des Degens bestehen.« Der halbe Raum hörte dem Herzog amüsiert zu; die andere Hälfte war damit beschäftigt, Wettschulden zu begleichen oder über den Kampf zu diskutieren. Wenn diese Leute nicht bald aufhörten zu lachen und zu spielen, würde ich es nicht mehr länger ertragen. »Wenn du bleiben willst — nun, du kannst natürlich hier bleiben. Aber
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das würde den Gästen hier die Freiheit geben, sich dir gegenüber ausgesprochen grob zu verhalten. Ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde. Nein, wirklich, es ist besser für dich, wenn du gehst.« Sie brachten dem Dichter Mantel und Hut. Mein Onkel begleitete ihn persönlich zur Tür, und als sie unter der Treppe durchgingen, sah ich, dass der Herzog mit seiner beringten Hand dem Poeten einen kleinen Geldbeutel zusteckte. Ich überlegte, ob die Sache dem Dichter das Geld wert gewesen war. Als sich die Tür hinter dem Poeten geschlossen hatte, drehte sich der Herzog um und rief in die Menge: »Bernhard? Das war nicht sehr nett von Euch.« »Ihr seid ungalant.« Ein groß gewachsener, gut gekleideter Mann trat aus der Menge. »Ich dachte, Euch würde ein guter Kampf eher Spaß machen als diese jammervollen Verse.« »Ihr... habt gedacht?« Ein nicht spürbarer Wind hatte den Herzog unvermittelt eiskalt werden lassen. Der Raum wirkte plötzlich kühl, und die Gäste lauschten still. »Ich möchte Euch etwas fragen, Bernhard: Glaubt Ihr wirklich, dass die Lords des Ehrengerichts erfreut sein würden, wenn sie erführen, dass Ihr eine formelle Herausforderung gegen irgendeinen armen törichten Schreiberling ausgesprochen habt, der keine eigene Ehre zu verteidigen hat, jedenfalls keine, mit der sich die Lords befassen müssten?« Lord Bernhard hatte eines jener Gesichter, die bei jeder Gemütsbewegung rot anlaufen. »Das ist doch wohl kaum eine Angelegenheit, die man vor den Ehrengerichtshof bringen müsste, würde ich denken.« »Oder war Eure Herausforderung eigentlich für mich bestimmt, hier in meinem eigenen Haus?« »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr ein solcher Traditionalist seid, Tremontaine«, antwortete Bernhard und erntete dafür Gelächter von einigen der Umstehenden. »Obwohl ich an
51 nehme«, fuhr er fort, »dass die Reinheit von Degenfechtern zu Euren Leidenschaften zählt, nicht wahr, Mylord?« Das Gelächter brach abrupt ab. Der Herzog sprach leise, aber ich konnte ihn trotzdem verstehen. »Bernhard. Lasst mich Euch ein wenig Denkarbeit abnehmen. Ihr seid in meinem Haus. Finch ist nicht mein einziger Degenkämpfer. Würde ich jetzt, in diesem Augenblick, eine Herausforderung aussprechen, wer würde sich dann melden, um an Eurer Stelle zu kämpfen?« Bernhard rang sich ein Lachen ab. Ein gut aussehender, blau gekleideter Mann mischte sich ein: »Tremontaine, wirklich, Ihr kennt doch die Welt. Der Gerichtshof befasst sich nicht mit solchen Trivialitäten. Und ich bin auch sicher, dass Bernhard keine Beleidigung beabsichtigte, weder Euch gegenüber noch gegenüber Eurem Haus.« Ich hätte auf der Stelle getan, was der Mann vorschlug, und selbst der Herzog zuckte milde mit den Schultern. »Ich fühle mich nicht beleidigt, Godwin. Wenn dem so wäre, Bernard, würde ich Euch darüber formell in Kenntnis setzen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass dieser Kampf nicht strikt legal war. Und da Tremontaine im Ehrengerichtshof sitzt -wenn mir der Sinn danach steht —, könnte ich durchaus im hohen Gericht den Antrag stellen, sich mit diesen >Triviali-täten< zu befassen.« Er wandte sich an die Umstehenden, hielt beide Hände hoch und rief, als träte er in einem Schauspiel auf: »Gütiger Himmel, wenn ich, ein stadtbekannter Spötter und Lästerer, der Einzige bin, der die alten Formen und Traditionen noch verteidigt, welche Hoffnung bleibt uns dann noch? Auf wen wollen wir denn noch das Privileg des Degens ausweiten?« Betretenes Schweigen breitete sich aus. Mein Onkel ließ es eine Zeit lang wirken, bis er es mit dem fröhlichen Ausruf beendete: »Ach, sei's drum! Nun, da Ihr uns unserer eigentlich geplanten Unterhaltung beraubt habt, Bernhard, muss ich
51 Euch fragen: Was könnt Ihr uns als Ersatz bieten? Was bietet Ihr uns?« »Ich?« Der Mann lief wieder knallrot an. »Könnt Ihr fechten? Nein, natürlich nicht. Ihr züchtet Hunde, aber dabei will Euch jetzt niemand zuschauen oder allenfalls jene, die Mitglieder in Eurer Liga Selbstgenügsamer Herren sind.« Ich hörte eine Dame verlegen auflachen. »Gütiger Himmel, Bernhard, was könnt Ihr denn? Gewiss könnt Ihr doch wenigstens lesen? Ja, ich denke, Ihr solltet uns jetzt
etwas vorlesen. Etwas, das Mylady« — er verneigte sich vor einer ernst aussehenden Frau — »Mylady Evaine für uns aussucht. Wenn Sie mir bitte alle in die Bibliothek folgen wollen? Dort werden wir viele ausgezeichnete Bände vorfinden. Ihr könntet uns doch mit Lyrik erfreuen, denke ich, nicht wahr, Mylady?« Und so zog die Gesellschaft aus meinem Blickfeld. Von den beiden Degenfechtern war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal der kleinste verschmierte Blutstropfen besudelte den schwarz-weiß karierten Boden der Großen Halle von Tremontaine House. Stattdessen lagen einige Blütenblätter, ein Fächer, ein halbes Gebäckstück, mehrere Knöpfe, ein Kamm und ein zerbrochenes Glas herum. Ich zog mich aus und ging zu Bett. Als ich den Kopf auf das Kissen legte, spürte ich das Buch, das hart durch das Kissen drückte: Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß. Wie sollte ich einschlafen können, solange dieses Ding gegen meinen Kopf drückte? Es war kein Fünkchen Wahrheit darin, kein einziges. Degenfechten bedeutete, dass zwei Narren mit rasiermesserscharfen Klingen aufeinander einstachen, bis einer von ihnen zu bluten anfing. Ich zog das Buch unter dem Kissen hervor und schmetterte es gegen die Wand.
Kapitel 1 0
Im Tremontaine House herrschte am nächsten Morgen völlige Stille, nicht nur, weil es größtenteils unbewohnt war, sondern weil seine wenigen Bewohner noch tief schliefen. Alles, was feucht oder essbar war, hatte man weggeräumt, und alles Wertvolle war poliert worden. Nur in einem großen Raum mit hoher Decke waren die Vorhänge zurückgezogen, um die langen, fröhlichen Strahlenbänder des frühen Sonnenlichts einzulassen. Vor den hohen Fenstern lockte der Park. Aber der muskulöse, schwarzbärtige Mann stand mit dem Rücken zum Fenster. Gelegentlich wirbelte er herum, als wollte er die Aussicht angreifen, und stampfte so heftig auf den Boden, dass die Stuckatur beinahe von der Decke rieselte, wandte sich dann erneut der Tür zu. Einmal kauerte er sich nieder und sprang dann aus der Hocke hoch und quer durch den Raum. Er brummte missbilligend in seinen Schnurrbart. Er inspizierte den Ständer mit den funkelnden Degen, zuerst alle auf einmal, dann einen nach dem anderen, wobei er besonders nach Rostflecken oder Fingerabdrucken Ausschau hielt. Da er nichts fand, erlaubte er sich ein Lächeln. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, brauchte sich jedoch nicht umzudrehen, weil sich die eintretende Person in einer der Degenklingen spiegelte. Er blickte dem Mädchen nicht entgegen, das nüchterne blaugraue Leinenkleidung trug. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte er sich um und ließ sie sehen, dass er lächelte.
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»Saubere Degen! Sehr gut.« »Danke.« »Gut! Was ist? Bist du aus Stein, eine Statue? Nimm endlich den Degen!« Das Mädchen richtete den unbeirrbaren Blick auf ihn, genau wie er es ihr beigebracht hatte. »Ich werde heute nicht kämpfen.« »Wie, nicht kämpfen? Du willst nicht kämpfen? Vielleicht wäre dir ein Würfelspiel lieber, non? Oder wir lernen einen Tanz, ha? Also du willst nicht kämpfen?« Sie lächelte nicht. »Nein. Ich werde auch nicht mehr am Unterricht teilnehmen.« »Was für Unterricht willst du dann nehmen?« Er stieß den Finger wie einen Dolch gegen ihr Gesicht. »Du hast vielleicht einen anderen Unterricht? Dein verrückter Vater denkt, dass du schon zu gut für mich bist? Sollst du das Degenfechten lieber von irgendeinem anderen Lehrer lernen? Ha!« »Ha!«, ahmte sie ihn tonlos nach. »Wisst Ihr eigentlich, Meister Venturus, dass Ihr wie ein eifersüchtiger Liebhaber klingt?« »Wisst Ihr eigentlich...«, äffte er nun sie nach, trat einen Schritt zurück und verneigte sich leicht. »Aber wen haben wir denn hier? Ist das nicht eine Lady mit feinen Manieren, ha? Diese Lady kenne ich nicht, obwohl sie Hosen trägt!« »Ich werde dafür sorgen, dass Ihr ordentlich entlohnt werdet«, fuhr sie fort. »Ich bin sicher, dass Geld dafür vorhanden ist. Und dass Eure anderen Schüler froh sein werden, wenn Ihr mehr Zeit für sie habt.« »Aber du meinst es ja ernst.« Er brach sein künstliches Gehabe plötzlich ab und schaute sie nun mit seinem eigenen unbeirrbaren Blick an. »Das ist keine Mädchenlaune, glaube ich.«
Sie wich seinem Blick aus. »Nein, ist es nicht.« »Warum willst du nicht mehr fechten?« Sie wandte sich ab. »Ihr würdet es doch nicht verstehen.«
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»Ha. Also doch eine Mädchenlaune. Bist du vielleicht verliebt?« Sie wirbelte wie in einer schnellen Riposte herum. »Ganz bestimmt nicht! Liebe? Ich werde mich niemals verlieben, wenn die Leute immer glauben, dass man davon dumm wird! Nein, ich werde Euch sagen, was los ist.« Sie beugte sich nahe zu ihm, und ihr Gesicht kam seinem näher, als ein Degenfechter seinem Gegner normalerweise kommen durfte. »Ich habe sie beobachtet, echte Kämpfer, meine ich. Gestern Abend, hier. Zwei Degenfechter. Ein Duell. Und es war abscheulich.« »Blut. Schmerz, Verletzungen, Verwirrungen. Und nun hast du Angst.« »Ich habe keine Angst. Und Blut bekomme ich jeden Monat zu sehen, zweimal so viel. Nein, es war das Duell. Ich wusste doch, dass Ihr es nicht verstehen würdet.« »Ich werde nicht dafür bezahlt, deine Launen zu verstehen.« Er zog einen Degen aus dem Ständer und begann, sie zu umkreisen. »Du hast keine Angst, ha?« »Nein, habe ich nicht. Aber ich lasse mich nicht für ein billiges Schauspiel missbrauchen.« »Ein Schauspiel, ha?« Er stieß plötzlich mit der geschützten Klinge zu, täuschte, stieß erneut zu. »Nur alles ein Schauspiel?« »Es ist alles nur ein Schauspiel, für Leute, die darüber lachen sollen. Für sie alle war es nur ein Spiel, ein sehr dummes Spiel! Sie setzen sogar Wetten. Hört endlich damit auf!« »wetten?« Er zwang sie einen, zwei Schritte zurück, nachdem sie nun endlich seinen Degen zur Kenntnis genommen hatte. »wetten auf den Ausgang des Kampfes - zwei richtig gute... Aua!« Sie stieß mit dem Rücken gegen den Degenständer; er stieß mit der Klingenspitze gegen ihre Schulter. »Zwei richtig gute Degenfechter, beide kämpften gut, aber sie machten es nur für...«
53 »Geld? Du also glaubst, dass Männer nicht für Geld fechten sollen, Mädchen?« Er zog sich zurück, machte kleine Bewegungen mit der Degenspitze, die wie das Summen einer Mücke klangen. »Männer, die keinen netten Herzog haben, sollen also lieber auf der Straße betteln, statt gegen Bezahlung zu fechten?« »Er zahlt mir nichts!«, sagte das Mädchen verbissen. »Ich weiß nicht, wie viel er Euch bezahlt, aber mir zahlt er nichts. Ich soll es kostenlos für ihn tun, soll dieses ganze Theater mitspielen, damit sich alle über mich amüsieren können.« Der Degenmeister täuschte kleine Angriffe vor, hoch, tief, kleine spiralenförmige Bewegungen, die Finten und Riposten andeuteten und auch so lästig waren wie Mücken. »Ich habe gesagt, Ihr sollt damit aufhören!« »Warum? Hier sind keine Leute, die zusehen. Nur wir beide, kleine Jungenherzogin.« Der Degen war plötzlich in ihrer Hand, und sie griff an. Venturus wich vor ihr zurück. Sie versuchte, ihn tödlich zu treffen, trotz der abgestumpften Degenspitze, und er wehrte sich mit einem breiten Grinsen, das seinen Bart in zwei Hälften teilte. Sie zielte auf seine Augen, seine Kehle, aber er war zu schnell in seiner Abwehr. Immer wieder kämpften sie durch den ganzen Raum, und er reizte sie so lange, bis sie ihren letzten Trick ausgespielt hatte und ermüdete. Er wartete ab, bis sie langsamer wurde, und dann stieß Venturus mit einem perfekten Hieb zu. Sie warf ihren Degen in eine Ecke. Er schepperte über den Boden. »Nicht übel, dieser Kampf«, sagte Meister Venturus. »Wir werden für eine Weile aufhören. Auf Wiedersehen, Lady Katherine.« Und schon war sie allein, allein im Übungsraum mit dem nassen Kaninchen auf der Tür.
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Am nächsten Morgen wachte ich im kalten grauen Tageslicht auf. Das Feuer hatte den Raum noch nicht erwärmt. Betty eilte geschäftig im Zimmer umher, faltete Kleider zusammen und legte sie in einen Koffer. »Kommt«, sagte Betty, »beeilt Euch, meine Liebe. Mylord hat angeordnet, dass Ihr heute verreist. Die Kutsche steht schon bereit.« Es hatte keinen Zweck, mich mit ihr zu streiten. Wenn er es angeordnet hatte, dann würde ich wohl verreisen. Ich widersetzte mich nicht, als sie mir in meine klammen Reisekleider
half, dann in die langen Stiefel und den schweren Mantel. Sie setzte mir den Hut auf. Draußen lag Nebel über dem Fluss. Schon stieg ich in die Kutsche, mit etwas Brot, einer heißen Trinkflasche und einigen Decken. Betty winkte mir zu; der Kutscher schnalzte, die Tore öffneten sich quietschend, und Tremontaine House lag hinter mir. Die Stadt flog an mir vorüber wie eine schnelle Abfolge von Bildern, und dann — zum ersten Mal seit Wochen — war ich wieder draußen auf dem Land, draußen in der freien Natur. Die Sonne ging gerade auf, ein goldener Dunst von Wärme. Ich döste ein, eingewickelt in schwere Decken, und wachte erst auf, als die Pferde gewechselt wurden. Ich vertrat meine Beine und verbrachte den Rest des Nachmittags wach in der Kutsche. Ich beobachtete, wie die mir unbekannten Landschaften mit ihren goldenen Weizenfeldern allmählich wichen und durch Flusstäler mit Kühen und Obstwiesen verdrängt wurden. Als sich die Schatten bereits lang über die Straße streckten, hielt der Kutscher an, um sich mit mir zu beraten. »Sollen wir noch heute Abend bis Highcombe durchfahren, Mylady? Es wird dann aber schon dunkel sein. Nicht weit von hier gibt es ein nettes kleines Wirtshaus, wenn Ihr lieber die Nacht in einem bequemen Bett verbringen wollt.« Es war mir gleichgültig. Aber ich bemerkte natürlich, dass er mir etwas nahegelegt hatte. Also hielten wir bei seinem netten kleinen Wirtshaus an; ich erhielt ein gutes Abendessen 54 und ein recht bequemes Bett. Ich fragte weder den Kutscher noch den Diener, was oder wo Highcombe war, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich sie fragen konnte, ohne zugeben zu müssen, dass ich nicht wusste, was eigentlich vor sich ging. Bis sie unser Ziel genannt hatten, hatte ich angenommen, dass ich vielleicht nach Hause geschickt wurde. Ich mochte eine Versagerin sein, aber wenigstens durfte ich nach Hause zurück. Eine Truhe mit meinen Sachen war hinten auf die Kutsche geschnallt, und wohin auch immer ich geschickt wurde, es war jedenfalls nicht für einen kurzen Besuch gedacht. Am nächsten Morgen brachen wir wieder frühzeitig auf, und als die Sonne wässerig-blass am Himmel stand, fuhren wir durch die Tore eines Landschlosses und eine mit feinem Kies ausgelegte Allee entlang, die von hohen Bäumen gesäumt wurde. Dazwischen fing ich immer wieder einen Blick auf ein großes Haus auf, mindestens dreimal so groß wie mein Zuhause. Aber anstatt die geschwungene Auffahrt zur Haupttreppe entlangzufahren, bogen wir unvermittelt auf einen Nebenweg ab und holperten über das Gras um den Seitenflügel des Schlosses herum. Wir hielten vor einem Cottage an, das seitlich an das Haupthaus angebaut war. Die kleine Holztür war in freundlichem Blau gestrichen. Ich stand im feuchten Gras und sog den Geruch nach Erde, Äpfeln, Heu und Pferden ein. Das war zwar nicht genau der Geruch von Zuhause, aber es war auch kein Stadtgeruch. Vor der blauen Tür erstreckte sich ein mit Apfelbäumen bestandener Rasen, der die feucht glänzenden Spuren unserer Kutschenräder trug; auf der anderen Seite lagen Wiesen. Beide Seiten wurden von einem schmalen Bach durchschnitten. Die Wiesen waren mit hohem Gras bewachsen, das nass war und silbern schimmerte, denn es hatte in der Nacht geregnet, und leichte Nebelschwaden hingen über den Feldern. Uber die Wiese schritt ein Mann auf uns zu, einen Stab in der Hand. Er trug keinen Hut.
54 »Dort kommt er«, sagte der Kutscher und rief dem Mann zu: »Meister!« Feine Nebeltröpfchen hingen im dunklen Haar des Mannes. Er hob den Kopf, sprang mit einem Satz über den Bach und kam näher. Der Diener sagte: »Seine Hoheit der Herzog lassen grüßen, Meister. Er möchte Euch seine Nichte, Lady Katherine, mit besten Empfehlungen vorstellen. Sie soll von Euch Unterricht erhalten, sagt er. Und wir haben auch einige Dinge aus der Stadt mitgebracht.« »Danke«, antwortete der Mann. »Ihr könnt die Sachen gleich ins Haus bringen.« Die blaue Tür war nicht verschlossen. Ich beobachtete meinen neuen Lehrer und fragte mich, was ich von ihm wohl lernen würde. Er hatte die erdbeschmutzten Hände eines Gärtners mit wohl geformten Fingern und mit fast viereckig zulaufenden Fingerspitzen. Sein Gesicht war nicht rasiert, aber er trug keinen Bart. Dass ich ihn anstarrte, schien ihm nichts auszumachen, obwohl sein eigener Blick nicht sehr direkt war. Ich hatte das Gefühl, dass er ständig an mir vorbeisah. »Ihr seid also Janines Tochter?«, fragte er.
»Ihr kennt meine Mutter!« »Nein, aber Alec hat von ihr erzählt.« »Wer ist Alec?« Der Mann lächelte. »Der Herzog.« Noch ein Name, den ich auf die Liste setzen musste. »Ihr seid sein Freund? Ist das hier Highcombe?« »Ja, das ist sein Schloss. Eines seiner Schlösser. Ich wohne hier.« Die beiden Männer hatten inzwischen die Kutsche entladen, auch meine Truhe befand sich bereits im Haus. »Ist das alles, Sir? Braucht Ihr noch etwas?« »Danke, nein, wenn ihr alles mitgebracht habt, worum ich gebeten hatte.«
55 »In der Kiste ist alles, was auf meiner Liste stand, Sir. Die Löffel sind in die Leintücher eingewickelt. Wir können noch warten, wenn es Euch beliebt, aber unser Auftrag lautet, so bald wie möglich in die Stadt zurückzukehren.« »Das ist in Ordnung. Danke, und gute Heimkehr.« Ich empfand weder Traurigkeit noch Furcht, als die Kutsche von Tremontaine davon rollte und mich an einem unbekannten Ort mit einem unbekannten Mann zurückließ. Tatsächlich konnte ich es kaum abwarten, bis sie verschwunden war, um herauszufinden, was als Nächstes geschehen würde.
T EIL I I
Highcombe Kapitel 1
Was als Nächstes geschah, war, dass er mich angriff. Sein Stock schwang unvermittelt hoch, und ich duckte mich und schützte meinen Kopf mit beiden Armen. Die Spitze des Stocks schwebte direkt vor mir, berührte meinen Mantel. »Du lernst noch nicht sehr lange«, bemerkte er. »Nein, nicht sehr lange«, gab ich zu. »Aber das hättet Ihr nicht tun dürfen. Ihr habt mich nicht gewarnt. Ihr habt kein En garde! gerufen, habt mich nicht herausgefordert, überhaupt nichts!« »Ein Degen gegen einen einfachen Holzstab wäre riskant«, sagte er. »Aber du hast ja nicht mal nach deinem Degen gegriffen.« »Ich trage ja auch gar keinen.« »Das spielt keine Rolle. Du hast es dir noch nicht angewöhnt, und das ist gefährlich. Geh und hänge dir jetzt sofort einen Degen um, dann schauen wir, dass du etwas zu essen bekommst und dich ausruhen kannst.« Allerdings war keines meiner Gepäckstücke lang genug, um einen Degen zu enthalten. Ich folgte ihm durch die blaue Tür in das kleine Bauernhaus. »Steig die schmale Treppe hinauf«, sagte mein Gastgeber. »Oben in der Ecke links vom Fenster findest du eine Truhe mit Degen, alle in Öltücher eingewickelt.« Ich stieß zuerst die Fensterläden auf, damit ich überhaupt etwas sehen konnte. Es war eine sehr einfache Schlafkammer.
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Auch die Truhe war sehr schlicht, aber was sie enthielt, verschlug mir förmlich den Atem. Aus den Schutztüchern wickelte ich lange, glänzende Klingen von außergewöhnlicher Schönheit, mit Körben, die bei einigen Degen ganz einfach, bei anderen höchst kunstvoll gefertigt waren. Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Alles an ihnen war scharf, einschließlich der Klingenspitzen. Ein Degen hatte ein Heft, das mit einem Knauf in der Form eines Drachenkopfes endete; die Waffe hätte ebenso gut von Fabian oder von einem der Fechter getragen werden können, die im Leben der Großen Degenfechter dargestellt wurden. Ich rief nach unten: »Kann ich jeden aussuchen, der mir gefällt?« »Nein«, kam von unten die strenge, aber leicht amüsiert klingende Antwort. »Nimm den mit dem verbogenen Korb, der hat wahrscheinlich das richtige Gewicht für dich.«
Ich stand oben an der Treppe. Sie war furchtbar steil und kaum breiter als eine Hühnerleiter. Wenn ich stolperte oder stürzte, konnte ich mich mit der scharfen Waffe in der Hand schwer verletzen. »Gibt es denn keine Scheide dazu?«, fragte ich nervös. »In derselben Truhe, unter den Degen. Nimm eine aus Leder, aber nicht zu prunkhaft, mein Jungchen.« Den langen Degen in die Scheide zu stecken war ungefähr so, als wollte man einem Baby einen winzigen Stiefel über den Fuß schieben: Beide Seiten schienen nicht aneinander interessiert zu sein, aber am Ende passten sie doch ausgezeichnet ineinander. Ich stieg vorsichtig die Treppe hinunter. »Brauche ich nicht etwas, woran ich die Scheide festmachen kann? Ich trage einen Gürtel, aber da gehört doch auch so eine Aufhängung dazu, oder nicht?« »Du meine Güte«, seufzte der Mann, »er hat sich das wirklich nicht genau überlegt, nicht wahr?« Ob er nun den Herzog oder Venturus damit meinte, war
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mir gleichgültig; ich war nur froh, dass er nicht glaubte, ich sei an allem schuld. Der Mann griff nach seinem Stab und stand so plötzlich auf, dass ich zusammenzuckte und unwillkürlich den Degen wie zum Schutz an mich presste. Zu meiner Überraschung sagte er: »Tut mir leid. Ich werde versuchen, mich langsamer zu bewegen, bis du mich besser kennst. Ich wollte dir eigentlich nur ein Degengehenk holen.« Er trat näher an mich heran, als Venturus es jemals getan hatte, befestigte ein Degengehenk an meinem Gürtel und hängte dann den Degen ein. Seine Hände arbeiteten ruhig und sicher wie die eines Stallknechts, der ein Pferd aufzäumt. Er musste nicht mal genau hinsehen. Ich spürte seinen Atem warm über mein Haar streichen. Als er von mir abließ, war ein neues Teil an mir befestigt, das früher nicht da gewesen war, es bewegte sich mit mir, folgte mir wie der Schwanz der Katze, allerdings ohne dessen Anmut. Der Mann legte einen Brotlaib auf den Tisch, daneben ein großes Stück gelben Käse. Als ich mich auf die Bank setzte, musste ich den Degen wegschieben, weil ich mich sonst daraufgesetzt hätte, und das war nicht so leicht, wie man vielleicht glauben mochte. Ich blickte auf, um zu sehen, ob der Mann über mich lachte, aber er schnitt gerade den Brotlaib auf. Es war sehr gutes Brot, und auch der Käse war ausgezeichnet. »Was ist mit dem Messer?«, fragte er. »Hat er dir denn nicht wenigstens ein Messer mitgegeben?« »Ich... ich habe ein Taschenmesser.« Ein Neujahrsgeschenk von meinem Bruder. »Kein Degen, kein Messer. Na gut, nimm das hier.« Er gab mir sein eigenes. Es war abgenutzt und mit dem schlichten Heft aus Holz recht hässlich, aber die Klinge war blank und vom häufigen Schleifen dünn geworden. »Ich kann Euch doch nicht das Messer wegnehmen«, begann ich mich bescheiden zu wehren, aber er unterbrach mich sofort.
56 »Ich habe noch mehr davon. Eins mit einem Drachenkopf, ein weiteres mit einem Falken. Das Messer wird mir nicht fehlen. Aber verliere es nicht; du kannst es am Gürtel tragen.« Er fing mein momentanes Zögern auf, als hätte er mir unerwartet einen Ball zugeworfen. »In einer Scheide natürlich. Ach du meine Güte.« Als er plötzlich vom Tisch aufstand, sprang ich auf und fummelte an meinem Degen herum, was die Bank zum Umstürzen brachte. Dieses Mal musste er wirklich lachen. Er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen, als hätte ich ihm einen umwerfend guten Witz erzählt. Ich musste ebenfalls lachen. »Macht nichts«, sagte er, als er endlich wieder sprechen konnte. »Du kriegst doch nur Bauchschmerzen, wenn du den Degen immer trägst. Lerne erst mal, damit zu gehen, und danach befassen wir uns damit, wie du dich verteidigen kannst.« Ich war ihm so furchtbar dankbar, dass ich glaubte, meinen Stolz verteidigen zu müssen. »Ich kann fechten! Ich habe auch gegen Meister Venturus gekämpft.« »Wirklich? Und wer hat gewonnen?« »Er«, murmelte ich.
»Gut. Dann war es ein echter Kampf.« Er legte Brot und Käse wieder in den Schrank zurück. Ich fegte die Krümel zusammen. »Im Fluss steht ein Krug mit frischer Milch«, sagte er, »manchmal auch mit Bier, wenn ich rechtzeitig daran denke. Brunnenwasser gibt es im Hof, aber man muss es von ziemlich tief unten heraufziehen, deshalb habe ich immer einen Eimer voll neben der Tür stehen. Wasser aus dem Bach solltest du nicht trinken; weiter oben stehen manchmal die Kühe im Wasser. Aber zum Waschen ist es sauber genug. Du kannst dich jetzt ein wenig in der Gegend umschauen, wenn du magst. Von der langen Reise bist du doch sicherlich halb steif und verkrampft. Geh nicht auf die Weide, auf der der Bulle steht. Und halte dich vom Dorf fern. Ich glaube nicht,
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dass sich die Dörfler so schnell an deinen Anblick gewöhnen können.« Ich musste mit Bedauern zugeben, dass er wahrscheinlich Recht hatte, was schade war, weil sie mir wahrscheinlich mehr über ihn hätten erzählen können. Aber ich kannte unsere eigenen Dörfler zuhause. Sie würden ein Mädchen in Jungenkleidung nicht gerade freundlich begrüßen, und ich wäre jede Wette eingegangen, dass die Menschen in Highcombe auch nicht anders waren. Deshalb ging ich am Bach entlang in den Wald, fand einen kleinen Wasserfall und ein Brombeerdickicht, an dem noch genügend Beeren hingen, und ein leeres Vogelnest, das im Wasser trieb. Während die Schatten lang über die Felder fielen, kehrte ich zum Cottage zurück. Das war meine hebste Tageszeit. Der Mann stand vor seinem Haus; er trug nur ein Hemd über der Hose und hielt den Degen in der Hand. Ich winkte ihm zu, aber er winkte nicht zurück. Er drehte sich um und bewegte sich auf eine Weise, die wie ein Tanz aussah, aber keiner war, denn der Degen blitzte sehr entschlossen auf, und als er endlich innehielt, hatte man den Eindruck, dass er gesiegt hatte. Ich holte tief Luft und ging näher. »Bereit?«, fragte der Fechter. »Wartet...« Ich tastete nach dem Degengriff und zog ungeschickt die Waffe aus der Scheide. Dann war ich endlich en garde, aber er längst ebenfalls. Danach geschah alles sehr schnell. Er machte einen Ausfall, und schon hatte sein Degen meine Verteidigung durchbrochen, und ich dachte an die Parade, die ich hätte ausführen können, wenn ich seinen Stoß auch nur rechtzeitig hätte kommen sehen, aber schon erwischte er mich gleich noch mal an einer ganz anderen Stelle. Das ging so eine Weile weiter, und irgendwann war ich endlich so weit, dass ich etwas tun musste, sobald er sich auch nur bewegte, selbst wenn es bedeutete, dass ich die halbe Zeit in der Luft herumstocherte, während er mich von ganz woan
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ders her angriff. Natürlich kam ich seiner Abwehr nie auch nur nahe; kaum plante ich einen Ausfall, war er auch schon dort, wo ich angreifen wollte. Es war, als würde er mit seiner Stahlklinge einen dichten Zaun um sich weben. Schließlich trat er zurück und hob den Degen. Ich konnte gerade noch verhindern, mich zum Narren zu machen und ihn jetzt noch einmal anzugreifen. »Ich nehme an«, sagte er, »dass du noch nie jemanden getötet hast.« »Du liebe Güte, nein!« »Wollte nur sicher sein.« Er drehte sich um und ging ins Haus. Er war nicht mal außer Atem. Ich ging zum Bach und wusch mein Gesicht, danach folgte ich ihm zum Abendessen ins Haus. Er hatte einen Topf Gemüse auf dem Herd stehen. Dazu gab es Brot und Käse. Auf dem einfachen Holztisch standen zwei Kerzenständer, silberne Drachen, in deren weit geöffneten Rachen die Kerzen steckten. Und vor unseren Plätzen standen Weingläser mit Goldrand, um deren Stiele sich Delphine wanden. »Wie wunderschön!«, entfuhr es mir. Er hielt sein Glas am Stiel und strich mit vertrauter Geste über die zerbrechliche Figur. Schon beim Zuschauen glaubte ich fast das kühle, glatte Glas zu spüren. Das Gemüse hätte noch ein wenig länger kochen dürfen, aber ich war so hungrig, dass es mir nichts ausmachte. Als ich satt war, wurde ich plötzlich so müde, dass ich meinen Kopf am liebsten auf den leeren Teller gelegt hätte. »Du schläfst oben«, sagte er. »Ich helfe dir, die Sachen hinaufzutragen.« Ich kämpfte mich mit einem Teil meines Gepäcks unsicher die Treppe hinauf, in einer Hand eine Kerze.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Unter dem Bett steht ein Nachttopf. Du brauchst also nicht im Dunkeln die Treppe hinunterzutappen und Kopf und Kragen zu riskieren.«
58 Ich grinste, bis mir einfiel, dass es in diesem Haushalt keine Bediensteten gab und ich deshalb den Nachttopf selbst würde leeren müssen. Aber ich würde ihn doch wohl nicht die Treppe hinuntertragen müssen, bitte? Vielleicht aus dem Fenster? Es gab zwei Fenster, ein großes mit Fensterläden und ein kleines rundes direkt über dem Bett. Es leuchtete im Abendrot wie ein bemaltes Glasfenster. Er streckte den Arm durch das große Fenster und schloss die Läden. Wie alles, was er tat, war auch diese einfache Bewegung praktisch und fließend. Plötzlich begann mein Herz laut zu pochen: Das hier war sein Schlafzimmer! Wusste er denn nicht, dass ich kein Junge war? Er wusste es doch, oder? Ich würde in meinen Kleidern schlafen müssen. Außerdem hatte ich nun ja ein Messer, aber das wollte ich gar nicht erst versuchen. Mir fiel wieder ein, wie geschickt seine Hände das Degengehenk an meinem Gürtel befestigt hatten — sein Atem, der über mein Haar strich, die scharfe Spitze seines Degens, der mich umtanzte: Vielleicht war die Sache in Ordnung. Er war ein sehr stiller Mensch. »Nimm den Gürtel ab«, sagte er, »Degen und Messer legst du immer gleichzeitig ab, und achte darauf, dass nichts herunterfällt. Häng das Ganze an den Haken dort, dann kannst du es am nächsten Morgen bequem wieder anlegen.« Mit klammen Händen folgte ich seinem Befehl. Natürlich fiel mir die ganze Ausrüstung herunter: der Degen in die eine Richtung, das Messer in die andere, und der Gürtel rutschte an meinen Beinen herab. Es war absolut hoffnungslos. »Macht nichts.« Er lächelte. »Gute Nacht.« Er war schon halb die Treppe hinunter, bis ich meine Überraschung überwand und eher höflich als ernsthaft widersprach: »Und wo wollt Ihr schlafen?« »Auf einem Strohsack neben dem Kamin. Das geht gut. Ich stehe manchmal nachts auf, so brauche ich dich nicht zu stören.« H58 Ich hörte noch eine Eule rufen, aber nur ein Mal, dann war ich bereits eingeschlafen. Als ich mich am nächsten Morgen anzog, entdeckte ich einen winzigen Riss in meinem Ärmel, offenbar war ich an etwas Scharfem, vielleicht einem Nagel, hängen geblieben. Betty hatte kein Nähzeug eingepackt, daher konnte ich nur »Ach du meine Güte« murmeln. Der Fechter entschuldigte sich: »Das war ich. Tut mir leid.« Offenbar ärgerte er sich über sich selbst. »War eigentlich nicht meine Absicht, dich zu berühren.« Er hatte meine Jacke während des ganzen langen Kampfes mit blanken Degen nur ein einziges Mal berührt. Ich glaubte nicht, dass MeisterVenturus das geschafft hätte. Oder vielleicht doch. Fabian jedenfalls hätte es fertiggebracht, der konnte mit dem Degen sogar eine Kerze löschen. Oder vielleicht konnte das jeder außer mir, selbst diese Schauspieler von Fechtern, die beim Fest des Herzogs aufgetreten waren. »Schauen wir mal, ob wir ein paar richtig gute Übungsdegen finden«, schlug der Mann vor. »Ich will nicht, dass mein bestes Eisen verbogen wird, denn am Anfang wirst du wahrscheinlich die Degen ziemlich übel herumschlagen.« Und so entdeckte ich eine weitere Tür im Haus. Sie befand sich neben dem Herd und war mir noch gar nicht aufgefallen: ein Stück Wand mit Türgriff und Angeln. Wir traten aus dem bescheidenen Cottage direkt in die marmorne Pracht des Schlosses von Highcombe, als wechselten wir von einem Traum in den nächsten. Eine riesige Eingangshalle, deren Decke doppelt so hoch war wie das gesamte Cottage. Unnützer, rein dekorativer Raum, und überall standen Möbelstücke herum, die mit Leintüchern zugedeckt waren. Die Fensterläden waren geschlossen. »Lässt er sich überhaupt jemals hier blicken?«, fragte ich. »O ja, manchmal. Er mag das Landleben nicht so sehr.« Wir suchten die alte Waffenkammer auf, die voller alter
58 tümlicher Waffen und ländlicher Geräte, darunter auch einige große Wildschweinspieße, war. Mein Lehrer wählte ein paar alte, recht stumpfe Übungsdegen aus, und wir machten uns auf den Rückweg durch die große Halle. »He!«, rief er plötzlich und grinste mich an. »Engarde!«
Ich hob den Degen, und er wich zurück. »Keine Angst!«, sagte er, »ich werde immer weiter zurückweichen. Greif einfach an!« Und ich griff ihn an, den ganzen Weg durch die lange Galerie entlang trieb ich den Meisterfechter mit meiner groben, stumpfen Klinge vor mir her. Wir jagten an unzähligen Porträts und Landschaftsbildern vorbei, an unförmigen Leinengebilden, unter denen Möbel verborgen waren, an verhängten Spiegeln und über das polierte Parkett. Schließlich stolperte er mit dem Rücken gegen eine Tür, das Gesicht zu einem breiten Lachen verzogen, und breitete die Arme aus. Ich erkannte den entscheidenden Punkt, direkt neben dem Schlüsselbein, und stieß zu. Doch er wehrte den Angriff mit einer schnellen, kaum sichtbaren Bewegung ab, und mein Degen bebte gewaltig in meiner Hand. »Du solltest deinen Griff ein wenig lockern«, sagte er, »aber das war schon ganz gut, ein hübscher kleiner Angriff.« Er lachte und ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Großer Gott, das wollte ich immer schon mal machen, seit ich hierher kam! Danke!« Plötzlich wurde hinter ihm die Türklinke gedrückt, und er wirbelte herum, den Degen abwehrbereit erhoben. Eine Frau kam durch die Tür, schrie auf und ließ ihr Tablett fallen. Der Fechtmeister sprang zurück, und ich lief den silbernen Bechern nach, die über den Boden kullerten. »Tut mir leid!«, entschuldigte er sich, aber sie stöhnte nur: »Oh, Sir! Oh, Sir!« Es war ungewohnt für mich, keine Schürze zu tragen, in der ich die Becher hätte sammeln können. Jungen brauchen eben keine Schürzen. Wie schön für sie, nicht wahr?
59 »Das ist mein neuer Schüler«, erklärte er, und zu mir gewandt, fügte er hinzu: »Marita ist die Haushälterin.« Ich war ihm dankbar, dass er mich nicht als Nichte des Herzogs vorgestellt hatte; bis zum Abend hätte sich das in der gesamten Grafschaft herumgesprochen. So schaute sie mich nur recht aufmerksam an, stellte mit einem Blick mein Geschlecht fest und beschloss, dass es besser sei, den Mund zu halten. Sie hob ihr Tablett auf und knickste. »Tut mir leid, Euch gestört zu haben, Sir.« Sie sagte es in einem Ton, als wäre er der adlige Schlossherr und nicht der Bewohner eines am Schloss angelehnten Häuschens mit zwei Kammern. »Kann ich noch etwas für Euch tun?« »Nein. Ja, warte, wir brauchen, was war es noch mal? Ach ja, Nadel und Faden.« Sie knickste erneut. Vermutlich waren die Leute zu jedem höflich, der in der Lage war, einen umzubringen, aber ich wunderte mich trotzdem. »Seid Ihr ein Lord?«, fragte ich ihn, als Marita verschwunden war. »Ich?« Seine weißen Zähne blitzten, als er lachte. »Wohl kaum.« Und das war alles, kein Name, nichts. Er war sehr einfach gekleidet und trug keine Range, aber er redete nicht wie ein Mann vom Land. Andererseits klang er auch nicht sehr gebildet, und in seinem Haus gab es kein einziges Buch. Nichts als Degen und andere kostbare Dinge. »Ich denke, Ihr habt schon viele Leute getötet«, bemerkte ich beiläufig beim Abendessen, wobei ich mich bemühte, den Ton der Tischgespräche von Erwachsenen so gut wie möglich nachzuahmen. »Ja, das habe ich.« »Ist es schwer?« Er schaute an mir vorbei. Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen Blau, fast violett, wie das Innerste einer Ker
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zenflamme. »Einen Menschen auf der Stelle zu töten, ist sehr schwer. In diesem Fall musst du direkt ins Herz treffen, ein sehr unsicheres Ziel. Oder in die Luftröhre oder durch ein Auge direkt ins Hirn, aber die Leute wollen so etwas nicht sehen.« Ich bereute bereits, die Frage überhaupt gestellt zu haben, und legte mein angebissenes Brot wieder auf den Teller zurück. »Die Gegner nur kampfunfähig zu machen, ist viel leichter. Zwar können sie später an den Wunden, an Infektionen oder am Blutverlust sterben, aber das ist dann nicht so befriedigend. Um mit einem einzigen Hieb zu töten, braucht man sehr viel Kraft. Du wärst überrascht, wie viel Kraft nötig ist. Ich bin nicht sicher, ob du schon so viel Kraft besitzt. Selbst wenn du eine Lunge durchstechen willst... Ich könnte dir ein paar Übungen zeigen. Meinst du Duellkämpfe oder Straßenkämpfe?« »Keins von beiden«, flüsterte ich erschüttert. »Ich will niemanden töten.«
»Dann solltest du den Degen für immer weglegen«, sagte er sanft, »sonst musst du damit rechnen, selbst getötet zu werden.« Ich warf ihm einen scharfen Blick zu, aber er schien nicht sehr bekümmert zu sein. »Ich will das nicht«, brach es aus mir heraus, »damit will ich nichts zu tun haben!« »Wirklich?«, fragte er und schaute mich mit leicht schief gelegtem Kopf an. »Was willst du dann?« Ich dachte an Kleider und Bälle, an Nähen und Haushalt, an Degenfechter und hohe Türme. Nirgendwo sah ich mich selbst. »Nichts! Ich wünschte, ich wäre tot!« Er unterdrückte ein Lachen, aber ich hörte trotzdem, wie er die Luft einsog. »Wie alt bist du?« »Fünfzehn und ein bisschen.« »Hm. Als ich sechzehn war, ging ich von zuhause weg. Ich ging in die Stadt.Wusste damals auch nicht, was ich mit mir
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anfangen sollte. Aber dann geschahen die Dinge einfach. Es wurde immer interessanter, und ich entdeckte, dass ich damit gut zurechtkam.« »Das ist etwas anderes. Ihr seid eben ein Mann. Und Ihr könnt kämpfen.« »Und du bist eben eine Frau. Du könntest lernen zu kämpfen. Bist du sicher, dass du es dir nicht noch einmal überlegen willst?« »Was überlegen?«, fragte ich grob, immer noch tief in meinem Weltschmerz versunken. »Ich habe doch gar keine andere Wähl!« »Nun«, sagte er, »das ist vermutlich richtig. Hast du denn gar keine Ahnung, warum er das tut?« »Nein«, antwortete ich. »Ich denke, mein Vater ist der Grund. Der Herzog hasst uns.« »Ich glaube, er hasste seine eigenen Eltern mehr. Ich glaube auch, dass er denkt, wenn deine Mutter zu kämpfen gelernt hätte, dann hätten sie sie nicht zwingen können, einen Mann zu heiraten, wenn sie ihn nicht haben wollte.« Ich starrte den Mann über den Tisch hinweg an. »Hat er Euch das gesagt?« »Nein. Hab ich mir selbst ausgedacht.« »Sie wurde nicht gezwungen. Sie wollte heiraten. Mich wird wohl niemand heiraten wollen.« »Und wenn schon? Du kannst dir doch Liebhaber nehmen.« Das war so ungeheuerlich und schockierend, sodass ich fast aufgeschrien hätte. Für wen hielt er mich eigentlich? »Ich räume das Geschirr weg«, sagte ich brüsk. Bevor ich zu Bett ging, öffnete ich die Waffentruhe. Sämtliche Waffen waren meisterhaft gearbeitet, als wären sie dafür bestimmt, mit unzähligen Edelsteinen verziert zu werden. Ich berührte die Spitze eines Degens, sehr vorsichtig, sodass sie nicht durch die Haut dringen konnte. Selbst die dünnste
60 Fettschicht auf meiner Haut würde reichen, um die Spitze dunkel und sogar rostig werden zu lassen. Ich stellte mir vor, wie dieses glänzende Metallstück aussehen würde, wenn es mit Blut befleckt wäre. Mit dem Öltuch hob ich eine weitere Waffe hoch und betrachtete den Drachenkopf, mit dem sie verziert war. Direkt unter dem Heft entdeckte ich einen winzigen roten Flecken und rieb darüber. Rost. Ich musste die Waffe reinigen und ihm Bescheid sagen, falls ich den Fleck nicht beseitigen konnte. Sorgfältig wischte ich über die Stelle, an der ich die Klinge berührt hatte. Als ich am nächsten Morgen aufstand, war er verschwunden. Er war auf und davon und hatte Teller und Brotkrümel auf dem Tisch zurückgelassen. Ich bereitete mein Frühstück zu und begann dann das Zimmer umzuräumen — zunächst nicht mit Absicht, sondern ganz allmählich, weil mir immer mehr Ideen kamen, wo die Gegenstände besser wirken würden. Die Delphingläser stellte ich so auf, dass sie die Sonnenstrahlen auffingen, ich ordnete die Marmeladen- und Honiggläser sowie die Ölflaschen der Größe nach und stellte die Sitzbänke im Winkel zueinander auf, damit wir mehr Platz hatten. Das alles tat ich, ohne meinen Degen abzulegen. In diesem Raum war schon seit Langem nichts mehr umgestellt worden; überall auf dem Boden und auf den Regalen blieben Flecken zurück, als ich die Gegenstände umräumte, deshalb fegte ich den Boden und wischte Staub. Als ich fertig war, sah der Raum wirklich hübsch, ordentlich und heimelig aus, besonders in der Herbstsonne.
Ich hatte mich gerade mit einer Tasse kaltem Tee an den Tisch gesetzt, als der Fechtmeister zurückkehrte. Sein Gesicht leuchtete, er trug den Mantel zusammengefaltet über der Schulter, als hätte er einen langen Spaziergang hinter sich. »Hallo«, begrüßte ich ihn höflich. »Möchtet Ihr eine Tasse Tee?«
61 »Ja«, lächelte er, machte aber keine Bemerkung über den Raum. Er stieß gegen die Bank und fiel über den Tisch, sodass meine Tasse herunterfiel. Ich schrie auf. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«, fragte ich bestürzt. »Doch, doch.« Er rappelte sich langsam wieder auf die Füße. »Habe die Bank nicht gesehen. Hast du hier etwas umgestellt?« Ich starrte ihn an. »Es wäre nämlich besser, wenn du alles so lässt, wie es war.« Er konnte doch sehen, da war ich mir sicher! Ich dachte daran, wie er mir alles gezeigt hatte, wie sicher seine Hand beim Brotschneiden war, wie er Geschirr auf den Tisch gestellt hatte ... Und doch lief mir ein Schauder über den Rücken, als ich an unser Duell mit dem scharfen Degen dachte und wie er sich über den kleinen Riss in meiner Jacke geärgert hatte. »Tut mir leid«, flüsterte ich, denn zu mehr war ich nicht fähig, »ich werde es nie wieder tun.« Er wischte seine Kleider sauber und richtete die Bank wieder gerade. Langsam tastete er sich um den Tisch herum, wobei er ihn nur aus den Augenwinkeln zu sehen schien. Ich schaute zu den Marmeladegläsern und Töpfen hinüber. »Soll ich Euch alles zeigen?« »Nein, lass nur, ich finde mich schon zurecht. Ich habe nur nicht damit gerechnet.« »Tut mir leid«, wiederholte ich. »Ich kann alles wieder so herrichten, wie...« »Nein. Ich kümmere mich selbst darum.« Ich musste es wissen, doch ich fürchtete mich davor, ihn direkt zu fragen. So beobachtete ich ihn eine Weile, wie er ein paar Gegenstände in die Hand nahm und anschaute. Er hielt sie nie direkt vor die Augen, sondern seitwärts oder sogar nach oben. Manchmal fand er etwas und nahm es in die Hand, doch offenbar, ohne es zu sehen. Mir kam es so vor, als hätten bei ihm Hand und Augen nichts miteinander zu
61 tun: Die Hände fanden sich auf ihre Weise zurecht, die Augen sahen etwas anderes, und es bereitete ihm offenbar Mühe, sie zusammenzubringen. »Lady Katherine.« Er mochte es nicht, dass ich ihn beobachtete. »Vielleicht nutzt du die Zeit für ein paar Übungen. Wir werden uns heute Nachmittag duellieren.« Ganz offensichtlich war ich entlassen, hätte wie ein braves Mädchen still aus dem Raum gehen sollen, hätte mich an unsere stillschweigende Abmachung halten sollen, keine Fragen zu stellen, die dem anderen nicht gefielen oder unangenehm waren. Aber mittlerweile verspürte ich nichts als reine Angst. Alles war anders, als ich gedacht hatte. Ich hatte Macht über ihn, ich konnte die Möbel umstellen, und er würde dagegen-laufen und stürzen, schon wenn ich eine Bank ein paar Hand breit in den Raum rückte, konnte ich ihn verletzen. Und er hatte Macht über jeden meiner Atemzüge, und ich wusste nicht einmal, wer er war. »Seid Ihr blind?«, verlangte ich zu wissen. »Fast.« »Aber wie ... ?« »Halte mal die Hände vor die Augen. Nein, ein bisschen weiter weg. Kannst du jetzt noch sehen?« »Ja — nein —, ich kann darum herumsehen, aber nicht direkt ...« »Genau so ist es bei mir. Man gewöhnt sich dran.« »Was ist Euch zugestoßen?« »Nichts. Es kam ganz von allein.« »Wart Ihr damals ein Berufsfechter?« »Ich bin ein Berufsfechter und nichts anderes.« »Aber wenn Ihr doch nicht sehen könnt.« »Ich sehe, was ich sehen muss.« Ich ließ nicht locker. »Habt Ihr für den Herzog gearbeitet? Wart Ihr sein Leibfechter?« Zu meiner Überraschung lächelte er plötzlich. »Ich nehme
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an, du könntest sagen, dass ich ihm gehörte. Und auch heute arbeite ich noch für ihn: Ich habe noch nie jemanden im Fechten unterrichtet. Könnte interessant werden zu sehen, was du lernen kannst.« Dieses Mal folgte ich der Andeutung. »Dann werde ich wohl eifrig üben müssen.« Draußen schloss ich die Augen und überließ mich völlig dem Gewicht des Degens, meinem Keuchen, der Langsamkeit meiner Bewegungen und dem hellen Licht des Tages.
Kapitel 2
Wie der Herzog von Tremontaine vorhergesagt hatte, herrschte im Hohen Rat der Lords helles Chaos, und daran war er zum Teil selbst schuld. Die Neufestsetzung der Grundsteuer war eigentlich schon beschlossene Sache gewesen, die Strafen für Steuersünder waren strikt und klar, aber fair festgelegt worden. Im Süden hatte es unglücklicherweise viel zu selten geregnet, aber das ließ man nicht als Ausrede für die miserable Ernte gelten; die Adligen, deren Ländereien in normalen Zeiten den Brotkorb des Landes füllten, würden eben einfach etwas anderes als Ersatz liefern müssen - Holz zum Beispiel. Es wäre doch unfair gegenüber den Adligen im Norden, wenn diese mehr als ihren Anteil an Holz für den Schiffsbau liefern müssten, besonders jetzt, da der Handel so gewinnträchtig lief und die Flüsse so wenig Wasser führten, dass man das Holz ohnehin nicht vom Norden hierher flößen konnte. Ausländisches Getreide war dieses Jahr billig zu haben, was wiederum die Frachtschifffahrt zu einem sehr profitablen Geschäft machte. Und wenn die Flüsse nicht passierbar waren, nun, dann musste man einfach die Straßen ein wenig verbreitern und ausbessern — Straßen, die rein zufällig durch die Ländereien des ehrgeizigen Philibert, Lord Davenant, und seiner politischen Anhänger verliefen. Das waren mächtige Männer; sie dienten ihrem Land gut, wie es schon ihre Vorfahren getan hatten. Welcher Schaden konnte schon entstehen, wenn sie jetzt für ihre treuen vaterländischen Dienste ein bisschen höhere Gewinne einstrichen, wo doch der Nut
62 zen für die gesamte Bevölkerung so eindeutig war, von ein paar besonders sturen Ratsmitgliedern einmal abgesehen? Doch dann gerieten plötzlich Abschriften eines bestimmten Dokuments in Umlauf, einer privaten Vereinbarung zwischen Lord Davenant und einem ausländischen Schiffseigner, die leider ein wenig irreführend formuliert war, sodass man sie durchaus für eine offizielle Vereinbarung zwischen zwei Staaten halten mochte, und schon gerieten sämtliche Beweggründe seiner Anhänger, dieser doch so selbstlosen, edlen Staatsratsmit-glieder, in Zweifel. Das Original des Dokuments wurde natürlich nie gefunden, und niemand konnte mit Sicherheit sagen, woher die Kopien stammten, aber die Sache reichte aus, um die herrschende Koalition zu entzweien, deren Gegner wiederum hektisch miteinander zu verhandeln begannen, um eine schlagkräftige Gegenkoalition zu vereinbaren. Und die Sache reichte auch aus, um die Pläne der Regierungskoalition zur Großen Grundsteuerreform in Asche zu verwandeln. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, musste sich derselbe Lord Davenant nun auch noch mit lästigen persönlichen Problemen herumschlagen — vor allem mit der Treulosigkeit seiner Geliebten, einer berühmten Schauspielerin, infolgedessen auch mit seiner ausgesprochen reichen, nunmehr aber sehr wütenden Ehefrau, und endlich mit einem gewissen hochrangigen Offizier, der ihm erst Letztere ausgespannt hatte und, wie manche lästerten, nun auch noch die andere. Zwar konnte niemand genau sagen, wie oder warum das alles geschehen war, aber viele im Umkreis der Koalition meinten, dass ihre Schwierigkeiten auf Indiskretionen zurückzuführen waren, die der Irre Herzog gestreut haben musste, der ohnehin immer mehr über die Stadt zu wissen schien, als sich irgendjemand erinnern konnte, ihm erzählt zu haben. Und er kannte auch keinerlei Skrupel, sein Wissen selbst über Angelegenheiten zu verbreiten, über die jeder anständige Gentleman keinen Ton hätte verlauten lassen. Es
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hatte auch keinen Zweck, ihn erneut herauszufordern; seine Degenfechter würden wahrscheinlich ohnehin siegen. Anscheinend liebte der Degen Alec Campion, und das war schon immer so gewesen.
Der Kanzler des Großen Kreises, der gleichzeitig Vorsitzender des Rats der Lords und des Staatsrats war, fasste den Beschluss, dem Herzog von Tremontaine mal ein wenig ins Gewissen zu reden. Anthony Deverin, Lord Ferris, hatte den Stadtteil Riverside seit vielen Jahren nicht mehr aufgesucht — nicht seit seiner Zeit als Drachenkanzler, als der zukünftige Herzog nichts weiter als ein unreifer, aufmüpfiger Jüngling gewesen war, den man nur unter dem Namen Alec kannte, während Deverin damals schon Lord Ferris und noch dazu ein aufsteigender Stern in der Politik gewesen war. Diane, die Herzogin von Tremontaine, hatte damals Ferris unter ihre Fittiche genommen und ihm Unterricht im Regieren erteilt. Doch als er dann versuchte, sie auf diesem zwielichtigen Gebiet aufs Kreuz zu legen, hatte sie unverzüglich und reibungslos seinen Sturz arrangiert und ihren jungen Verwandten Alec Campion in den Rat der Lords entsandt, um diese Tat zu vollbringen. Schließlich wusste jeder, dass sich die schöne Herzogin selbst niemals die Hände mit Politik schmutzig machen würde. Ferris' Strafe, der Botschafterposten in den eisigen, barbarischen Landen von Arkenvelt, war keine Todesstrafe. Und Ferris pflegte den Gedanken, dass Diane genug Empfindungen für ihn übrig gehabt hatte, um ihn in ein Land zu schicken, in dem er sogar Erfolg haben konnte, wenn er nur genügend Mut und Verstand aufbrachte, von Ausdauer ganz zu schweigen. Die Belohnung, die ihm das eisige Arkenvelt bescherte, umfasste den Zugang zum besten Pelzhandel der Welt, und als seine Exilzeit vorüber war, kehrte Ferris mit genug Geld in der Tasche nach Hause zurück, um sich im großen Stil neu niederzulassen. Er pflegte den richtigen Umgang, heiratete die richtige Frau
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mit den richtigen Verbindungen, die passenderweise frühzeitig starb und ihm ein kleines Landgut und ein gutes Haus in der Stadt hinterließ. Er nahm seinen Familiensitz im Rat der Lords wieder ein und verband dort Vernunft und politisches Gespür zu solcher Perfektion, dass er zehn Jahre nach seiner Rückkehr zum Vorsitzenden dieser erhabensten Versammlung von Adligen, zum Kanzler des Großen Kreises, gewählt wurde. Und in dieser Eigenschaft stattete er nun Dianes Erben und Nachfolger einen Besuch ab, einem Mann, den er mehr als jeden anderen verabscheute. Als er die kleine Insel im Fluss zum letzten Mal besucht hatte, war sie noch Niemandsland gewesen: ein Unterschlupf für Verbrecher und Berufsfechter, die in verlassenen Häusern hausten. Aber der Irre Herzog hatte sich auf der Insel niedergelassen, und zwar nicht nur in der Hinsicht, dass er dort seine Wohnung hatte: Ferris war vollkommen klar, dass er herzogliches Territorium betrat, sobald er die Brücke überquerte. Selbst die Stadtwache machte um den unappetitlichen Bezirk einen großen Bogen; der Herzog hatte einen Trupp eigener Leute, die für Ordnung sorgten. Deshalb kam der Kreiskanzler im halb offiziellen Aufzug auf die Insel, begleitet von Leibwächtern und Fechtern, damit nur niemand verkannte, wer er war. Lord Ferris war noch nie in Tremontaines Schloss auf Riverside eingeladen worden; es war ihm bewusst, dass er hier nicht willkommen war. Dennoch führte man seine Pferde in die Stallungen, die Begleiter erhielten mit der üblichen Effizienz Erfrischungen, und er selbst wurde innerhalb kürzester Zeit vor das herzogliche Angesicht geleitet. Das war kein Haus, das er sich als Wohnort ausgesucht hätte: Die Räume waren auf altmodische Weise klein, überall dunkle Paneele an den Wänden, schwere Vorhänge vor den Fenstern, aber nichts, das ihn schockiert hätte. Ferris war fast ein wenig enttäuscht. Wenn es hier tatsächlich pornographische Fresken,
63 Folterwerkzeuge, nackte Dienstmädchen und andere anstößige Dinge geben sollte, mit denen der öffentliche Klatsch das Schloss des Herzogs ausgestattet hatte, dann waren sie jedenfalls im Moment nicht zu sehen. Der Herzog saß in einem gepolsterten Sessel und aß Kekse mit Käse und Apfelschnitzen. Er trug eine Brokatrobe und wahrscheinlich nichts darunter. Das Haar stand ihm wirr auf dem Kopf und wurde nur mühsam durch ein schwarzes Samtband gebändigt. Er biss in einen Keks und murmelte: »Tut mir leid, aber manchmal werde ich richtig hungrig.« Lord Ferris lehnte jede Erfrischung ab. Wenn er den Herzog aus irgendwelchen fleischlichen Vergnügungen gerissen hatte, ließ sich das nicht ändern; der Herzog würde
ihn anhören müssen. »Tremontaine«, begann er, »ich will Euch nicht Eurer kostbaren Zeit berauben. Ich komme auf eigene Initiative vom Hohen Rat, um Euch zu bitten, Eure Haltung zur Grundsteuerreform noch einmal zu überdenken.« »Haltung? Ich habe keine Haltung.« »Natürlich nicht«, sagte Lord Ferris mit milder Ironie, »Ihr habt nie eine. Wie Eure Großmutter, die verstorbene Herzogin, mischt Ihr Euch bekanntlich nie in die Politik ein.« Der Herzog lächelte. »So ungefähr ist es.« Als ehemaliger Günstling der verblichenen Herzogin wusste Lord Ferris besser als jeder andere, was diese Aussage wert war. »Das entspricht der Familientradition.« »Und daher ist es natürlich reiner Zufall, dass Ihr es geschafft habt, eine Koalition zu Fall zu bringen, die sich seit Monaten bemüht, ehrliche Verbesserungen herbeizuführen...« »Ehrliche Verbesserungen? Ehrlich? Hat da jemand die Definition dieses Wortes verändert, während ich nicht aufgepasst habe? Oder habt Ihr am Ende doch noch einen Sinn für Humor entwickelt?« Lord Ferris presste die Lippen zu einem schmalen Strich
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zusammen. Im Ratssaal erduldete er diese kleinen Ausfälle, mit denen seine Hoheit, der Herzog von Tremontaine, sporadisch die Versammlungen beglückte. Aber hier hatte der Herzog kein anerkennendes höhnisches Kichern der Ratsmitglieder zu erwarten. »Ach, Campion«, seufzte Ferris, »Eure Großmutter war doch keine Freundin von Chaos. Ich frage mich wirklich, was sie sich dachte, als sie Euch zum Erben einsetzte.« »Vielleicht«, sagte der Herzog durch einen Mund voll Apfel, »dachte sie, dass ich mich bessern würde.« Ferris warf ihm einen wütenden Blick zu. Je älter er wurde, desto weniger Geduld brachte er Leuten gegenüber auf, die sich für dümmer ausgaben, als sie tatsächlich waren. Aber er sagte nur: »Das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht«, meinte der jüngere Mann ganz offen. »Vielleicht war es ihr gleichgültig, was aus dem Staat werden würde, wenn sie nicht mehr lebte. Vielleicht wollte sie sogar, dass das ganze System zu Fall käme, wenn sie nicht mehr da war.« Von einem kleinen polierten Tisch nahm Ferris einen der winzigen Glasvögel, die sie gesammelt hatte. Er hielt ihn vorsichtig hoch und betrachtete ihn. »O nein, nicht die Herzogin.« »Oder sie glaubte«, fuhr der Herzog fort, »dass Ihr und Godwin und all ihre anderen Lieblingsknaben über Euch hinauswachsen würdet. Und das seid Ihr ja tatsächlich auch. Sie hat Euch eine gute Ausbildung mitgegeben. Der ganze Hohe Rat trägt ihren Stempel. Und ich trage ihren Titel, und alle sind glücklich und zufrieden.« Sorgfältig stellte Ferris den Vogel wieder zurück. »Ich hatte einen ganz anderen Gedanken...« Seine blasierte Sprechweise war nun fast so gedehnt wie die des Herzogs, ein Überbleibsel aus der Jugend beider Männer. »Ich meine, als ich erfuhr, dass Ihr nun doch den Titel geerbt hattet. Ich fragte mich, ob sie nicht die ganze Zeit beabsichtigt hatte, dass Euer exzel
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lenter Fechter, St.Vier, das Herzogtum verwalten sollte. Man musste seine Körperbeherrschung wirklich bewundern. Und Ihr und St. Vier wart ja damals praktisch unzertrennlich.« Lässig blickte er über den Kopf des Herzogs hinweg. »Und doch habt Ihr Euch von ihm getrennt. Vielleicht war das der Fehler in ihren Überlegungen.« Der Herzog betrachtete den Perlmuttgriff des Fruchtmessers, als hätte er den wahren Verwendungszweck des Geräts momentan vergessen. Doch dann benutzte er das Messer, um sorgfältig einen Apfel zu schälen. »Seltsam, wie man die Verblichenen verherrlicht«, überlegte er halblaut. »Jetzt bewundert Ihr die verstorbene Herzogin, aber ich erinnere mich noch deutlich an die sehr hässlichen Bezeichnungen, die Ihr der Herzogin gabt, als sie Euch ins Exil nach Arkenvelt geschickt hatte, weil Ihr meinen exzellenten Fechter für Eure Zwecke zu missbrauchen versucht hattet. Ich dachte damals, Ihr hättet begriffen, Mylord, dass St. Vier sich nicht gegen Tremontaine benutzen lässt.« Ferris vernahm die Botschaft und archivierte sie zur späteren Verwendung. Er hatte sich tatsächlich schon gewundert, ob der Fechter überhaupt noch lebte. Anscheinend konnte das
durchaus der Fall sein. Er lebt, spielt aber nicht mehr mit. Ferris beschloss, den Seitenhieb auf seine eigene Würde zu übergehen; es war schließlich Tremontaine selbst gewesen, der ihn ins politische Exil vertrieben hatte, wo er Jahre verbracht hatte, von wo er aber mit einem kleinen Vermögen zurückgekehrt war. Und beide Männer hatten keinerlei Anlass, die Sache so bald zu vergessen. »Ich erinnere mich«, fuhr der Kreiskanzler fort, »dass er in seinen besten Tagen ein außerordentlich gefragter Mann war, Euer Leibfechter. Er konnte seinen Gegner mit einem einzigen Stich ins Herz töten.« »Nur wenn er den Gegner mochte. Wie Ihr Euch wohl erinnert, war er nicht immer so gnädig.« Der Herzog raffte die Falten seiner giftgrün-schwarz gemusterten Robe um sich.
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»Und nun werdet Ihr mich wohl entschuldigen, aber jemand wartet auf mich.« Lord Ferris verbeugte sich nicht, sondern sagte nur gepresst: »Wir alle müssen Euch entschuldigen. Ständig. Ich nehme an, wir werden von Euch im Rat in dieser Sitzungsperiode nicht mehr viel zu sehen bekommen?« Der Herzog schüttelte verwundert den Kopf. »Na, wie kommt Ihr denn zu dieser Annahme?« Lord Ferris öffnete den Mund zu einer zweischneidigen Antwort, doch dann schloss er ihn wieder. Plötzlich hing ihm die ganze Sache zum Hals heraus, und er war keineswegs sicher, dass er sich noch lange würde beherrschen können — noch eine dieser Provokationen, für die er den Herzog so sehr verabscheute. »Ihr enttäuscht mich«, sagte Ferris bedeutungsschwer, »denn Ihr könntet mehr sein, viel mehr.« »Ich glaube nicht, dass die Stadt noch mehr von mir ertragen würde.« »Doch, das würde sie, wenn Ihr nur Eure Stellung zum Wohl von Stadt und Land nutzen würdet!« Das war die Rede, die Ferris eigentlich hatte halten wollen, und nun schoss sie ungezügelt aus ihm heraus. »Ihr habt Eure Meinung, das weiß jeder. Warum kommt Ihr dann nicht in den Rat und debattiert offen mit uns anderen darüber? Regieren und Politik brauchen Zeit. Sie erfordern Geduld und Voraussicht und, ja, sogar auch Kompromissbereitschaft. Sie sind keine Spielzeuge — wir sind keine Spielzeuge —, die man nach Belieben benutzen oder weglegen kann, denn dann würdet Ihr nicht die Ausdauer haben, die man braucht, um wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Ihr seid doch nicht dumm, also muss Euch das längst klar sein! Ihr seht niemand, der Eurer Visionen würdig wäre? Ihr wollt kein verlässlicher Verbündeter sein? In Ordnung! Aber dann seid doch wenigstens ein verlässlicher Gegner, statt Euch wie ein Wetterhahn zu drehen, sobald der Wind Eurer Launen aus einer anderen Richtung bläst!«
65 Der Herzog war stehen geblieben und betrachtete den Kanzler mit ungekünstelter Überraschung. »Ferris«, sagte er, »ich bin kein kleiner Junge mehr. Es ist mir ziemlich egal, ob ich Euch enttäusche oder nicht. Spart also Eure pompösen Predigten ruhig für die jungen Narren auf, die um Euch herumscharwenzeln und Euch beeindrucken wollen, und führt das Land auch weiterhin mit Euren höchst eigennützigen Steuerplänen ins Verderben.« Vor vielen Jahren hatte Ferris eines seiner Augen verloren. Er wandte nun die schwarze Augenklappe dem Herzog zu, ein Anblick, der schon häufig die Leute entnervt hatte. »Eines Tages«, sagte er langsam, »werdet Ihr den Verlust Eures Fechters bereuen.« Das war nicht alles, was er eigentlich hatte sagen wollen. Aber bevor ihn seine Wut noch zu weiteren drohenden Indiskretionen verleiten konnte, drehte sich Lord Ferris abrupt um und verließ den Raum. Seine eigenen Fechter und Leibwächter standen Spalier, um ihn nach Hause zu geleiten, und überall in den dunklen Nischen der Korridore von Riverside House wähnte er lauernde Gestalten. Der Herzog von Tremontaine warf das Obstmesser an die Wand, wo es zitternd stecken blieb, vielleicht zufällig, vielleicht aber auch, weil der Wurf so kräftig gewesen war. Er ging in das nächste Zimmer, wo die Hässliche Dame lesend auf seinem Bett saß, vollständig bekleidet. »Du meine Güte! Ihr seht immer aus wie ein Höhlenmensch, wenn Ihr gerade aufgestanden seid.« »Er hätte ja nicht so früh kommen müssen!«
»Früh?«, schnaubte sie. »Es ist Nachmittag! Obwohl Ihr das natürlich niemals merken würdet, weil in Eurem Schlafzimmer ewige Dämmerung herrscht.« Sie griff nach einem der roten Samtvorhänge, aber er sagte barsch: »Halt. Ich mag es so.« »Kommt mit mir in die Bibliothek«, schlug sie vor. »Dort
66 ist es wenigstens hell, und hört endlich damit auf, Bücher in Eurem Schlafzimmer zu horten. Was habt Ihr sonst noch in diesem Stapel hier?« »Lyrik«, sagte er liebenswürdig, »und Pornographie. Nichts für Eure jungfräulichen Augen.« »Unfug. Ihr habt hier Merles Antithesen, obwohl Ihr mir fest versprochen hattet, dass ich sie zuerst lesen darf.« »Ihr dürft sie auch zuerst lesen. Ich habe das Buch nur aufbewahrt, um es Euch zu einem besonderen Anlass zu schenken.« »Etwa dann, wenn Ihr mich besonders geärgert habt?« »So ist es. Wie sonst würdet Ihr an eine Ausgabe eines verbotenen Buches kommen?« Sie streckte sich über das Bett und riss es schnell vom Stapel. »Für einen Adligen und noch dazu einen Freigeist seid Ihr eigentlich gar nicht so übel. Wollt Ihr mit mir nach unten gehen und ein wenig an Coverleys Letztem Theorem arbeiten?« »Nein«, näselte er, »ich will hier bleiben und irgendetwas rauchen.« Die dicke Frau zuckte mit den Schultern. »Wie Ihr wollt. Aber wenn ich es ohne Euch löse, dürft Ihr nicht von mir erwarten, dass ich die Anerkennung der ganzen Gelehrtenwelt mit Euch teile.« »Ich werde ein paar Visionen haben.« »Manchen Leuten«, sagte sie, »fällt wirklich nichts Gescheites ein, womit sie sich vergnügen könnten.« Der Herzog öffnete einen kleinen Schrank neben dem Bett und durchsuchte eine Sammlung von Fläschchen. »Da habt Ihr Recht«, meinte er in Richtung Tür, die sich bereits hinter ihr schloss. »Wer sich nie mit Lyrik oder Pornographie befasst, wird sehr wahrscheinlich nie von einem Degen ins Herz getroffen werden.« Und schon bald fühlte er sich besser.
Kapitel 3
Er brachte mir das Fechten bei, aber ich lernte von ihm noch viel mehr. Ich lernte mich im Wald still zu verhalten, so leise zu atmen, dass mich nicht einmal die Rehe hören konnten. Ich lernte, gefangene Fische auszunehmen und einem Bienenvolk die Honigwaben zu stehlen. Ich lernte, darauf zu achten, wo meine Füße hintraten, wie der Degen zu einem Körperteil werden konnte, und wenn mein Lehrer urplötzlich einen Ausfall gegen mich machte, war meine Hand nicht mehr leer, und ich war nicht mehr wehrlos. Ich entdeckte Fähigkeiten wieder, die ich als Kind gehabt hatte: auf Bäume zu klettern, Nüsse vom Baum zu schlagen, flache Steine über das Wässer flippen zu lassen. Und ich lernte ihn gut genug kennen, dass es ihm immer schwerer fiel, mich mit plötzlichen Angriffen zu überraschen. Ich spürte nun immer die kleine Stille, die einem Angriff vorausging, und war bereit. Im Kräutergarten des Schlosses unternahm ich Plünderungszüge und legte vor unserer Haustür einen eigenen kleinen Kräutergarten an, damit ich nicht so weit gehen musste, um unsere Speisen ein wenig würzen zu können. Als die Ernte eingefahren wurde, stellten uns die Bediensteten des Schlosses Körbe mit Kürbis, Tomaten, Lauch und Mangold vor die Tür. Ich vermisste bald die süßen grünen Erbsen, als ihre Zeit vorbei war, denn ich hatte immer gleich eine Hand voll davon gegessen. Ich trocknete Bündel von Thymian und Salbei und stellte im Haus kleine Töpfe auf, in denen ich Rosmarin ge
66 pflanzt hatte, und hoffte, dass sie durch den Winter kommen würden. Es gab immer genug Butter und Sahne und Käse, denn es gab viele Kühe. Und plötzlich, als die Nächte kalt wurden und der Tageshimmel in hellem, elegantem Blau leuchtete, war die Welt voller Äpfel. Die Luft roch danach, scharf und knackig, vermischt mit dem leicht süßlichen Geruch von Fallobst. Eines Tages war die Obstwiese voller Kinder, die das
Fallobst in Körben sammelten, aus dem dann Apfelwein gemacht wurde. Und in der darauf folgenden Woche suchten Schweine nach den Überresten. An einem der letzten warmen Abende des Herbstes saßen wir am Bach vor einem Feuer aus Apfelbaumholz und grillten Forellen, die wir mit Fenchel gefüllt hatten. Die Sterne standen so dicht wie verschüttetes Salz am Himmel. Er zog den Umhang dichter um die Schultern und schürte das Feuer mit seinem Stab. »Wo ich aufwuchs, gab es Apfelbäume. Ich sammelte immer das abgestorbene Holz für meine Mutter. Und klaute dem Lord gemeinsam mit seinen Söhnen die Äpfel.« »Hat man Euch nie erwischt?« »Gejagt, aber nicht erwischt. Er war ein guter Mann, er wusste, dass Jungen hungrig sind. Und er mochte meine Mutter, lieh ihr Bücher und solche Dinge.« »Und Euer Vater? War er schon tot?« »Ich hatte keinen, jedenfalls keinen Vater im landläufigen Sinn. Meine Mutter brannte mit ihm durch, als sie noch sehr jung war, aber sie merkte bald, dass sie ihn nicht besonders liebte. Da hatte sie mich schon am Hals, aber vermutlich machte ihr das nicht viel aus. Sie erklärte mir die Skelette von Fledermäusen und brachte mir die Namen der Pflanzen bei.« Meine Mutter war so weit weg, dass es mir kaum der Mühe wert war, von ihr zu erzählen. Und sie hatte mir auch nie Fleder
67 mausskelette erklärt. »Eure Mutter klingt ein wenig... ungewöhnlich.« »Ja, das habe ich später auch gemerkt.« »Hat sie Euch das Fechten beigebracht?« »O nein, das habe ich von einem echten Fechter gelernt. Nein, meine Mutter konnte eigentlich nichts, was irgendwie nützlich war.« Wir hatten so viel gegessen, wie wir essen mochten, wollten aber nicht vom Feuer weg. »Wirklich dumm, dass wir beide nicht singen können«, sagte mein Lehrer schließlich. »Die Nächte werden länger. Kannst du irgendetwas auswendig aufsagen?« Gedichte?, dachte ich mit leichtem Entsetzen. »Nur die Dinge, die ich im Unterricht gelernt habe: >Verloren Mägdelein, >Es floh der junge König< und so.« »Darf ich sie mal hören?« Es erstaunte mich immer wieder, dass er nicht einmal die alltäglichsten Dinge wusste. »Nun ja, wenn Ihr möchtet?« Aber als ich das halbe Gedicht aufgesagt hatte, unterbrach er mich plötzlich mit einer Handbewegung. »Glaubst du, dass das wirklich geschehen könnte?« Ich leckte Fischreste von meinen Fingern. »Dass ein Mädchen alles glaubt, was ihr ein Mann erzählt? Wahrscheinlich. Manche Leute sind ja auch unerhört leichtgläubig.« Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte. »Stimmt. Aber sollen Kinder dieses Mädchen im Gedicht nicht nur bewundern, sondern auch bemitleiden? Oder jedenfalls denken: So etwas Dummes könnte mir nicht passieren?« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. »Wisst Ihr«, sagte ich, »ich denke, wichtig ist, dass sie in ihn verliebt ist, obwohl sie das eigentlich nicht sein dürfte. Das ist der Grund, warum sie sich so töricht verhält. Das heißt noch lange nicht, dass sie in anderer Hinsicht nicht klug wäre. Vielleicht kann sie ganz gut rechnen oder weiß alles über Erdkunde und so.«
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»Also wird aus dem Gedicht eine Lehre für euch Mädchen gemacht, euch nicht in die falschen Männer zu verlieben?« Ich richtete mich auf. Es gefiel mir nicht, dass meine Erziehung kritisiert wurde, nicht einmal durch ihn. »Ich habe es gelernt«, erklärte ich, »weil es ein Gedicht ist, Poesie. Mädchen sollen sich mit Poesie auskennen. Es ist die innere, zu Kunst gewordene Schönheit der Seele.« »Ich nehme an, am Schluss stirbt sie?« »Sie will sterben. Sie ist verraten worden. Und sie hat ihre Ehre verloren.« Er schnaubte verächtlich. »Nun, was hätte sie denn Eurer Meinung nach tun sollen?«, fragte ich herausfordernd. »Durchbrennen und irgendwo einen Gemüseladen aufmachen?« »Na ja, warum nicht?« »Weil die ganze Sache dann keine Poesie mehr wäre!« »Was passiert in >Es floh der junge König«
»Das ist ein Heldengedicht. Der junge König stirbt, aber er stirbt für sein Land.« »Ich dachte immer, Ihr Adligen hasst Könige.« »Wir haben die schlechten Könige gestürzt«, erklärte ich, wobei ich hoffte, dass mein uraltes Schulwissen stimmte. »Es gab auch bessere, in längst vergangenen Zeiten. Das sind die Könige, um die es in den Gedichten geht.« Er beugte sich vor. »Schau mal, darüber habe ich mir wirklich schon Gedanken gemacht. Manche Leute haben doch Geschichtsbücher geschrieben, nicht wahr? Vielleicht finden wir ein paar in der Bibliothek im Schloss.« »Ich könnte Euch daraus vorlesen.« »Ja, das würde mir gefallen.« Ich zögerte, doch dann fragte ich: »Hat Euch Eure Mutter denn nicht das Lesen beigebracht?« »Das kam uns damals nicht sehr wichtig vor. Du weißt doch, wie das so ist.« Nun ja, ich wusste es tatsächlich. Lernen war immer schwer,
68 und die Leute brachten Kindern immer Dinge bei, die sie nicht wissen wollten. Wenn ich jemals eine Tochter bekam, würde ich ihr nicht beibringen zu nähen oder zu kochen, wenn sie es nicht wollte. Aber sie würde lesen und Buchhaltung lernen müssen. »Geschichtsbücher?«, fragte ich weiter. Vermutlich waren sie recht langweilig. Aber vielleicht konnte ich in der Schlossbücherei von Highcombe noch andere Bücher aufspüren, wirklich gute Bücher über Reisen oder Abenteuer. »Könnten wir nicht auch Bücher aus der Stadt bringen lassen?« »Ich werde danach fragen, wenn jemand nächstes Mal aus der Stadt kommt. Weißt du denn eigentlich, wie lange du hier bleiben wirst?« Es war das erste Mal, dass er danach fragte. »Nein, das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass es irgendjemand weiß. Vielleicht hat er mich längst vergessen.« »Das glaube ich nicht. Er mag dich mal für ein paar Tage vergessen oder vielleicht sogar einen ganzen Monat lang, aber ganz bestimmt nicht für immer.« Ich hatte den Gedanken völlig verdrängt, dass mich der Herzog wieder zurückholen könnte, mich wieder in ein neues, anderes Leben zerren würde. Ich wollte nicht von hier weg. Ich trat das Feuer aus, während mein Lehrmeister unter den Sternen stand und auf mich wartete. Er Heß es nicht zu, dass ich ihn an der Hand führte, sondern ging sicher und unbeirrbar über die Wiese, wobei er den Stab vor sich ausgestreckt hielt, um bösen Überraschungen ausweichen zu können. Im Dunkeln sah er fast nichts. Doch er mochte die Nacht. Er unternahm nachts Spaziergänge und kehrte in der Morgendämmerung zurück, um zu schlafen. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und hörte ihn üben, hörte sein Stampfen und Springen und das peitschenartige Geräusch der Degenhiebe, gebrochene Rhythmen in der stillen Nacht. Als ich es zum ersten Mal hörte, war ich voller Angst mit der Kerze in der Hand zur Treppe gekrochen. Unten stand mein
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Lehrmeister im dunklen, leeren Raum. Er war vollständig nackt und schwitzte heftig, den Degen in der Hand, wirbelte herum, wich aus, griff an, als müsste er sich gegen einen ungeheuren Albtraum wehren. Meine kleine Kerzenflamme ließ seinen wilden Schatten über die Wände zucken. Falls er mich gehört hatte, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, sondern machte einfach mit seinen Ausfällen, Paraden und Angriffen weiter, hoch und tief, vor- und rückwärts. Ich sah ihn Dinge tun, von denen ich nicht einmal geahnt hatte, dass ein Fechter sie jemals tun könnte. Aber ich begann allmählich ein Muster zu erkennen: die Bewegungsabläufe des Gegners, dem er gegenüberstand. Niemals würde ich in der Lage sein, ihm einen solchen Kampf zu liefern. Und ich war sicher: Das galt auch für die Degenfechter, die ich auf dem Fest des Herzogs beobachtet hatte. Und ich sah es genau, als er schließlich den Todesstoß versetzte — ein Stich direkt ins Herz. Im fahlen Licht meiner Kerzenflamme drehte er sich endlich um und sagte zu mir hinauf: »Tut mir leid. Ich habe gar nicht mehr an dich gedacht. Nächstes Mal gebe ich mir mehr Mühe, leise zu sein.«
»Könnt Ihr im Dunkeln sehen?« »Uberhaupt nicht. Aber die Nacht klingt anders.« Er schwieg, und ich verhielt mich völlig still. Wir lauschten. Kein Vogel zwitscherte; nur aus der Ferne kam der Ruf einer Eule, und kleine Tiere huschten durch das Gestrüpp. Fast glaubte ich das langsame Atmen der Tagestiere in ihrem Schlaf in der Nacht zu hören. »Darf ich mit Euch üben?« »Ich wäre dann aber im Vorteil.« »Ich weiß. Aber das seid Ihr ohnehin. Für mich wäre es interessant.« Er wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Brust. »Nicht heute Nacht. Ein anderes Mal, aber ohne Kerze.«
69 Und das tat ich dann auch, als die Tage so kurz wurden, dass es schon nach dem Abendessen dunkel war. Ich stand absolut still im Dunkeln und wartete darauf, dass er aus einem noch dunkleren Winkel angriff oder dass einer der Schatten plötzlich seine Gestalt annahm. Wir übten mit Stöcken. Nie sah oder spürte ich ihn, bevor er zuschlug. Immer und immer wieder, bis ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Jedem meiner Angriffe kam er mit einem noch schnelleren Ausfall zuvor. »Du musst hinhören«, sagte er dann immer, »und völlig still sein.« Ich schloss die Augen. Stand still, bis meine Arme und Beine schmerzten. Schließlich hörte ich seine Bewegung. Ich traf ihn voll am Kopf, musste mich entschuldigen und rasch ein in kaltes Wasser getränktes Tuch für die Schwellung holen. »Nächstes Mal«, sagte er grinsend, »wirst du das richtige Ziel treffen. Obwohl... wenn das hier ein Straßenkampf wäre, könntest du dich auch damit gut wehren.« »Niemand stellt sich wie ein Eisblock im Dunkeln mitten auf die Straße«, sagte ich. »Wenn du in der Stadt leben würdest, wärst du wahrscheinlich erstaunt, was die Leute alles tun.« »Dann erzählt mir doch mehr von der Stadt.« Der Meister zuckte mit den Schultern. »Übervölkert. Stinkt. Jede Menge Sachen zu kaufen.« Ich schnaubte verächtlich. »Ich war schon dort. Das alles weiß ich längst.« Aber ich kannte die Stadt nicht wirklich, denn ich war nur einmal in einer Kutsche hindurchgefahren; den Rest meiner Tage in der Stadt hatte ich im Schloss des Herzogs auf dem Hügel verbracht. »Mochtet Ihr die Stadt?«, fragte ich ihn. »Sie ist interessant.« Das sagte er immer über Dinge, über die andere Menschen sehr klare Meinungen ausdrücken würden.
69 Ich wusste, dass er eine lange Geschichte über die Stadt mit sich herumtrug und dass er sie vor mir geheimhalten wollte. »Ich nehme an, dass ich eines Tages ein Haus in der Stadt besitzen werde«, erklärte ich ein wenig angeberisch. »Vielleicht kommt Ihr mich dann einmal besuchen.« »Nein. Ich würde jetzt nicht mehr in die Stadt reisen wollen.« Er sagte es in einem ruhigen, gelassenen Tonfall; es klang fast so, als würde er es sich vielleicht anders überlegen. Ich bedauerte meine unnachgiebige Drängelei. »Tut Euch der Kopf sehr weh?«, erkundigte ich mich. »Nicht sehr. Hilf mir mal, das Bettzeug auszurollen.« Doch der Meister taumelte, als er sich bückte, um den Strohsack hervorzuziehen. Ich drängte ihn, sich zu setzen. »Ach!«, sagte er, als ich den Strohsack auf dem Boden ausbreitete. »Es war eigentlich kein sehr kräftiger Schlag. Komisch, ich war immer ganz sicher, dass ich nicht älter als fünfundzwanzig werden würde. Deshalb finde ich auch alles so erstaunlich, was mir seither im Leben passiert ist.« Ich hatte eine Kerze angezündet, weil ich mich im Dunkeln nicht so gut zurechtfand wie er. Im sanften Licht wirkte er blass, mit feinen Gesichtszügen, weder jung noch alt. Ich hätte ihm gern eine starke Dosis Mohnsamen gegeben und ihn noch weiter ausgefragt, bis er irgendwann einschlief. Stattdessen erhitzte ich ein wenig Wein. Fünfundzwanzig kam mir furchtbar alt vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie viel Zeit es kostete, so alt zu werden, ganz zu schweigen von
einem noch höheren Alter. Mit fünfundzwanzig würde mein Leben längst beschlossene Sache sein. Ich würde wahrscheinlich verheiratet sein und Kinder haben, jedenfalls hoffte ich das. Wenn ich vorher nicht in einem Degenkampf umkam, wie er es für sich geplant hatte. Ich gab ihm den Weinbecher in die Hand. Er trank ihn vollständig aus, bat aber nicht um mehr. Von ihm würde ich nichts mehr erfahren. Das hätte ich mir denken können.
Kapítel 4
ie hatte nur leichtes Fieber. Artemisia Fitz-Levi war es sogar gelungen, es vor ihrer Familie zu verbergen, und nun war sie auf dem Weg zum Ball der Hallidays, prächtig gekleidet und geschmückt und strahlend. In der eiskalten Kutsche war es jedenfalls ein Vorteil, dass ihr so heiß war. Die Hallidays waren eine wichtige Familie; ihr Ball war immer einer der Höhepunkte der Saison, und sie war entschlossen, ihn nicht zu versäumen. Als sie im Ballsaal mit glitzernden Augen und anmutig geröteten Wangen erschien, wandten sich ihr viele Blicke voller Bewunderung zu. Junge Männer baten sie um einen Tanz, fragten, ob sie ihr ein kühles Getränk holen dürften. Sie lachte und flirtete mit ihrem Fächer in der Hand, fühlte sich, als schwebte sie hoch über allen. Und es war ihr klar, dass sie für immer weiterschweben musste, denn sobald sie sich auch nur für einen Augenblick setzte, würde sie zusammenbrechen. Sie nahm jede Aufforderung zum Tanz an, nahm die Getränke entgegen, akzeptierte huldvoll sämtliche Komplimente und genoss die neidischen, eifersüchtigen oder neugierigen Blicke anderer adliger Töchter, die alle auf dem Ball erschienen waren, um die Aufmerksamkeit eines geeigneten Heiratswilligen zu erregen. Artemisias Mutter hatte schon bald festgestellt, dass ihre Tochter keine weitere Betreuung brauchte, und sich auf den Weg zu den Kartentischen gemacht, während sich ihr Vater einer Gruppe Gleichgesinnter anschloss, um gemeinsam
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zu trinken und die versammelten Schönheiten zu beäugen. Ihre besondere Freundin Lydia Godwin flanierte in Begleitung des Sprösslings des Hauses Lindley durch den Saal und es schien, als wäre sie von dem Jungen regelrecht bezaubert. Artemisia blickte sich nach dem nächsten Arm um, der sich ihr darböte, nach dem nächsten Augenpaar, das sie auf sich lenken könnte. Erleichtert stellte sie fest, dass der Neffe des Irren Herzogs, Greg Talbert, nirgends zu sehen war; er hatte sich schließlich doch als Langeweiler entpuppt, trotz all seiner glühenden Anbetung und seiner exotischen Familienbeziehungen. Inzwischen wusste sie es besser: Wochenlange Erfahrung hatte sie gelehrt, dass blumige Phrasen und leidenschaftliche Blicke nicht viel bedeuteten: Alle Männer hatten davon ein ausgesprochen reichhaltiges Repertoire; was wirklich zählte, war das, was danach kam. Ihr Blick zuckte besorgt umher. Wenn sich ihr niemand bald näherte, würde sie sich in den sicheren Hafen retten müssen, der Lydia hieß, ob sie nun den jungen Lindley am Arm hatte oder nicht. Für Artemisia war es jenseits des Erträglichen, allein mitten im Ballsaal zu stehen, sodass es so aussah, als hätte sie niemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie neigte den Kopf, ordnete sorgfältig eine Locke, indem sie die dunkle Strähne um ihren juwelengeschmückten Finger wickelte. Und als sie wieder aufblickte, stellte sie überrascht fest, dass ihr Cousin Lucius direkt auf sie zusteuerte. »Cousine!« Lucius Perry küsste sie auf die Wange. »Mein Freund Dav hat mich angefleht, der Schönheit des Abends vorgestellt zu werden.« Sie glaubte, dass der gute Lucius wohl mehr als nur einen Drink genossen habe, denn nur so ließen sich seine rosigen Wangen und seine blumige Sprache erklären. Aber der junge Lord Petrus Davenant gehörte durchaus zum Kreis heiratbarer Männer, und er hatte so einen fröhlichen Blick und hübsche Haare. »Müssen dich denn alle deine Freunde um diesen Gefallen
70 anflehen?«, neckte sie ihn. »Vielleicht solltest du dann ein wenig großzügiger sein?« »Dir fallt hoffentlich auf«, sagte ihr Cousin zu Lord Petrus, »dass sie nichts dagegen hat, als Schönheit des Abends bezeichnet zu werden?« »Nur deshalb, weil ich weiß, wie großzügig Männer mit solchen Komplimenten um sich werfen, wenn es sie sonst nichts kostet!«
»Reine Philosophie.« Sie verspürte einen eigenartigen Schauder, als Davenants Handrücken wie zufällig über ihr Armgelenk strich. Sie trug halblange Ärmel, deren Spitzenbesatz über ihren Unterarm fiel. Die Rüschen seiner Manschetten waren ein wenig zurückgerutscht und enthüllten eine breite Hand, die schütter mit drahtigem Haar bewachsen war. »Aber du hast mir nicht erzählt, dass deine Cousine zu den gelehrten Frauen gehört, Lucius.« »Oh, ich versichere Euch, Mylord, Bücher nehme ich nur zur Hand, um sie meiner Zofe an den Kopf zu werfen!« Lord Petrus sagte: »Ein gelehrter Mann ist einfach nur ein Langweiler, aber eine gelehrte Frau ist eine Ungeheuerlichkeit.« Sie tätschelte seinen Ärmel mit dem Fächer. »Ihr dürft nicht so grausam über gelehrte Frauen urteilen, denn ich fürchte, sie sind nur so, weil es ihnen an der Fähigkeit mangelt, charmant und fröhlich zu plaudern.« »Folglich steht nur den Schönen die Freiheit zu, nichts zu wissen«, bemerkte Lucius Perry und verbeugte sich leicht: »Ihr entschuldigt mich?« Sein Platz wurde sofort von Lord Terence Monteith eingenommen, einem Mann, der es schaffte, zu langweilen, ohne gelehrt zu sein. Aber heute schien er sich damit zufrieden zu geben, ihre charmante Erscheinung anzustarren, während Davenant sich bemühte, sie mit seiner Konversationskunst zu amüsieren. 71 Blitzende Juwelen, ein flatternder Fächer, das perlende, helle Auflachen, der stolz erhobene Kopf — andere Männer wurden aufmerksam. Artemisia Fitz-Levi fand sich bald im Mittelpunkt einer Schar von heiratsfähigen Bewunderern und sprach so ziemlich alles aus, was ihr gerade einfiel, denn was immer sie sagte, rief Gelächter und Komplimente der gut gekleideten, gepflegten, juwelengeschmückten Herren hervor. »Auf dem Land!«, rief sie und antwortete damit Davenants Freund Lord Galing. »Sprecht doch nicht mit mir über das Leben auf dem Land! Das halten doch nur Lebewesen aus, die sich zwei Mal am Tag melken lassen wollen!« Doch dieses Mal musste sie überrascht feststellen, dass das Gelächter einen höchst eigenartigen Unterton hatte, den sie nicht genau bestimmen konnte; sie musste da wohl etwas besonders Kluges oder Witziges gesagt haben. »Ich kenne da so manchen, dem das außerordentlich gut gefallen würde!«, erklärte Lord Davenant grinsend. »Kennen wir nicht alle welche?«, rief jemand. »Wir Männer kennen so manches, aber was wissen wir schon, verglichen mit dem Witz und der Weisheit dieser ausgesprochen reizenden Dame?«, erklang eine warme, sonore Stimme. Die Fröhlichkeit der jungen Männer flaute ab, und sie wandten sich dem Sprecher zu wie Sonnenblumen zur Sonne. Es war der ältere Adlige, dem sie schon bei den Godwins begegnet war, der jetzt seine Bewunderung für ihre Klugheit zum Ausdruck brachte: Lord Ferris, Kanzler des Großen Kreises, Vorsitzender des Rats der Lords und des Staatsrats, groß gewachsen, befehlsgewohnt, trotz seiner Jahre immer noch mit vollem dunklem Haar und heute wie immer mit schlichter Eleganz gekleidet. Alle Männer schauten gebannt Lord Ferris an, doch er hatte nur Augen für Artemisia.
71 Artemisia spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie lächelte ihn strahlend an, während sie krampfhaft überlegte, was sie sagen sollte — es musste klug und leicht übermütig zugleich sein. Aber das Gefühl der Unbesiegbarkeit, das sie gerade noch empfunden hatte, war verflogen. Ihre übermütige Laune wich einem kleinen Schwindelanfall, und sie streckte unsicher den Arm aus. Die Menge teilte sich, und wie durch ein Wunder erschien Lord Ferris an ihrer Seite und bot ihr die dringend benötigte Stütze. »Wie wäre es mit ein wenig frischer Luft, Mylady?«, schlug er vor. »O nein, danke sehr. Wenn ich mich nur einen Augenblick setzen könnte...« »Selbstverständlich.« Lord Ferris plauderte munter weiter, während er sie durch den Ballsaal führte, an den anderen Gästen vorbei oder manchmal zwischen ihnen hindurch, wobei er sie dicht an seiner rechten Seite hielt, damit er sie mit seinem gesunden Auge gut
sehen konnte. »Diese ewigen Bälle sind doch sehr anstrengend. Natürlich nicht nur einige bestimmte, denn sie sind wahrscheinlich alle auch sehr unterhaltsam, aber zusammen genommen reichen sie aus, um junge Damen schwindelig werden zu lassen.« »Oh, aber ich liebe Bälle!«, raffte sich Artemisia zu einer Antwort auf. »Weil Ihr die Zierde jeder Gesellschaft seid!«, erklärte er geschmeidig. »Auch die Perle liebt den goldenen Ring, auf dem sie sitzt, und, ah!, die Perlen an Euren Ohren müssen diese Stelle lieben, weil sie nur dort zu solcher Geltung kommen können!« Seine Stimme klang tief und weich. Sie fragte sich, ob er überhaupt auf diese Weise mit ihr sprechen dürfe, aber er war schließlich ein wichtiger Edelmann und längst alt genug, um zu wissen, wie man sich in einer Gesellschaft anständig benahm.
72 Sie versuchte, endlich etwas Bedeutsames von sich zu geben. »Was kann Perlenschmuck schon von der Liebe wissen?« »In der Tat.« Lord Ferris geleitete sie zu einem Stuhl in einem Alkoven. »Juwelen sind Diener der Liebe. Sie sind nicht die Liebe selbst. Nur weise Damen erkennen den Unterschied.« Er nahm ein volles Glas vom Tablett eines Dieners, der gerade vorbeiging, und reichte es ihr. »Ihr liebt also das Landleben nicht, Lady Artemisia?« »Ich lebe lieber hier in der Stadt als irgendwo sonst auf der Welt.« »Nicht jeder wird Euch zustimmen. Ich schon. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Euch irgendwo auf dem Land vergraben solltet, wo Ihr vielleicht Kräuter und Kinder aufzieht und darauf wartet, dass Euer Mann oder Euer ältester Sohn vom Gemeinderat nach Hause kommt und Euch Stoffballen mitbringt und Euch erzählt, wie sich die neuen Grundsteuern auf Eure Liegenschaft auswirken...« Sie erschauderte. »Seht Ihr? Es ist besser, denke ich, wenn Ihr noch viele Jahre lang die Zierde der Ballsäle in dieser Stadt bleibt.« Artemisia lächelte. »Danke, Mylord.« Eigentlich wollte sie noch mehr davon hören, aber in ihrem Kopf pochte es heftig. Er musste es bemerkt haben, denn er fragte: »Erlaubt Ihr mir, Euren Schal zu holen?« Sie antwortete: »O nein, es ist viel zu warm. Ich habe Lord Terence einen Tanz versprochen, aber ich glaube nicht, dass ich jetzt einen Tanz durchstehen würde.« »Ihr müsst beschützt werden«, verkündete der Kreiskanzler, »jedenfalls vor Leuten wie Lord Terence. Ah! Hier kommt Eure Mutter. Lady Fitz-Levi ist Euer sicherstes Bollwerk. Madam, Eure Tochter strahlt zur Freude der ganzen Gesellschaft so viel Charme und Schönheit aus, dass ich fast fürchte, sie wird bald nicht mehr genug für sich selbst übrig haben.« »Eigenartig«, bemerkte ihre Mutter, »unsere liebe Artemi-
72 sia ist nur selten müde oder schwach. Ich versichere Euch, Mylord, sie hat uns noch nie den geringsten Anlass zur Sorge gegeben.« In der Kutsche umarmte Lady Fitz-Levi ihre Tochter, dann schüttelte sie sie ein wenig. »Was fällt dir ein, dich Lord Ferris dermaßen schwächlich zu zeigen? Willst du denn, dass die ganze Stadt glaubt, du fällst von einer Ohnmacht in die andere? Kein Mann will eine kränkelnde Frau!« »Nein, Mama«, sagte Artemisia artig, weil sie sich viel zu müde und krank fühlte, um ihr noch erklären zu wollen, wie gut der Rest des Abends verlaufen war. Bestimmt würde das ihre Mutter bald genug von den anderen Müttern erfahren. »Aber er sagte, ich sei ein Juwel und eine Zierde, Mama.« »Er ist ein höchst formvollendeter Mann«, sagte Lady Fitz-Levi. »Ferris hat spät geheiratet, aber bei den Frauen kam er immer sehr gut an.« »Aber ich wusste gar nicht, dass er verheiratet ist, Mama.« »Sie starb, das arme Ding, und mit ihr starb auch sein Erbe. Sie kränkelten alle beide. Daran kannst du sehen, wie weit du mit so was kommst, Kind!« Ihre Mama freute sich dennoch, als am nächsten Tag die Blumengebinde eintrafen: Lilien von Petrus Davenant, Chrysanthemen von einem anonymen Verehrer, noch mehr Chrysanthemen von Terence Monteith und sogar ein Strauß Nelken von Artemisias Cousin Lucius. Und von Lord Ferris kam ein großer Strauß weißer Rosen.
Kapitel 5 Die Kälte umschloss uns, nahm uns in sich auf. Die Tage waren kurz; doch wenn sie schön waren, stand die Sonne klar und scharf am Himmel, der Boden war hart und funkelte im Frost. Wenn ich über die Felder wanderte, trug ich mehrere Schichten Kleider übereinander. Am Abend rannte ich zum Haus zurück, sobald der frühe Sonnenuntergang den Himmel violett färbte. Ich kramte viele Kinderreime und Rätsel aus dem Gedächtnis hervor, mit denen wir uns die Abende am Feuer unterhaltsam machten, und wir brannten ein Vermögen an Bienenwachskerzen ab, damit wir bei Kerzenschein lesen konnten. Highcombe war mit Geschichtsbüchern gut ausgestattet. Manche waren nicht einmal schlecht. Ich lernte eine Menge über die Bräuche und Gewohnheiten meiner adligen Vorfahren; niemand hatte es je für nötig befunden, mich darüber zu unterrichten. Geschichte bedeutete mehr als nur Jahreszahlen: Sie bedeutete Steuern und Allianzen und Handel und Geheimnisse und die bösartigen Pläne gewisser Könige. Mein Fechtlehrer lauschte besonders gespannt, wenn es um Schlachten ging. Endlose Stunden verbrachten wir damit, mit kleinen Zweigen, Kieselsteinen und Kerzenstümpfen die Schlacht von Pommerey nachzuspielen. Ich interessierte mich mehr für Reisen, und so erfuhren wir auch viel über die Wunder und Reichtümer anderer Länder. »Warum gehen wir nicht nach Chartil?«, schlug ich eines Abends vor. »Dort wird es nie kalt, nicht mal im Winter, und alle Adligen sind richtige Fechter.« 73 »Aber es wäre dort Sommer, wenn wir jetzt losreisten«, sagte er. »Und wenn ich es richtig verstanden habe, kann man dort im Sommer Eier auf den Dachziegeln braten.« »Gut, aber wie wäre es dann mit den Kykladen? Diese Insel hier zum Beispiel: Kythnos, >wo mildes Klima herrscht, und milde sind auch die gut aussehenden Bewohner, die ihren Fleiß und ihr angenehmes Wesen den umherschwirrenden Bienen zu verdanken scheinen, welche in den Thymianfeldern und Olivenhainen immerdar summen und arbeiten, um jenen Honig hervorzubringen, der auf der ganzen Welt berühmt ist. Selbst die Sandstrände der Insel sind so weiß wie sonst nirgendwo. «< »Klingt viel versprechend. Aber es klingt auch ein wenig wie Poesie, also nicht sehr zuverlässig. Wie wäre es mit dem Land, in dem zweiköpfige Tierwesen mit ihren Stoßzähnen Bäume zum Umstürzen bringen?« »Und wo es rote Blumen so groß wie Häuser gibt? Das haltet Ihr für verlässlicher?« »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Aber eigentlich wollten wir gar nicht weit vom Feuer weg. Natürlich übten wir auch. Ich feilte an meiner Fußarbeit die ganze lange Galerie des Großen Hauses hinauf und hinunter, aber mein Lieblingsdrill war eine Art Spiel, bei dem wir uns vor dem Feuer gegenübersaßen, mit nichts bewaffnet als mit unseren Armen, mit denen wir blitzschnelle, klammheimliche Attacken ausführen, um unsere Handbewegungen zu verfeinern. Zwischen uns lag ein Haufen Nüsse. Jeder Treffer wurde mit einer Nuss belohnt; jedes Zucken, Erschrecken oder der Versuch, die Beine zu benutzen, kostete zwei Nüsse. Ich musste froh sein, wenn ich am Ende unserer Scheinkämpfe noch ein paar Nüsse übrig hatte. Aber man konnte ihn auch dazu bringen, zu schnell zu reagieren: meine erste Nuss gewann ich von ihm durch Täuschen. Nur einige wenige Bedienstete kümmerten sich um Schloss
73 Highcombe und sorgten dafür, dass für den Eigentümer Nahrungsmittel und sonstige notwendige Dinge im Haus waren. Hatte ich früher die großartige Pracht der Säle und Zimmer neidisch betrachtet und mir gewünscht, dass wir dort selbst wohnen dürften, so zögerte ich jetzt, mich in diese eisigen Höhlen zu wagen. Der Winter zog sich dahin; Tag wie Nacht herrschte dasselbe stahlgraue, unfreundliche Licht. Der Schnee fehlte mir, den wir zuhause immer gehabt hatten. In Highcombe lag er nie hoch genug, um auch nur halbwegs Spaß daran zu haben. Natürlich konnte ich nicht immer im Haus bleiben. Ich betrachtete gerne die Muster der kahlen Zweige und Aste, die sich vor dem Himmel abzeichneten, mochte die Risse im Eis auf den Wegen, liebte das steif gefrorene, vom Frost überzuckerte Gras auf den Feldern.
Manchmal klarte der Himmel gegen Abend hin auf, und an einem Abend durfte ich den prächtigsten Sonnenuntergang von der Hügelkimme aus beobachten und rannte danach in einem Wettlauf gegen die Schatten zum Haus zurück. Dichter, schwerer Rauch stieg von unserem Kamin auf. Als ich eintrat, fand ich ihn vor dem Feuer sitzend, das so stark loderte, dass es im Raum sehr heiß war. Das Gesicht des Meisters leuchtete golden im Feuerschein. »Wirf noch ein paar Scheite aufs Feuer«, sagte er, »leg einen richtig ordentlichen Haufen Holz drauf. Heute ist der letzte Tag des Jahres.« »Tatsächlich?« Ich dachte an all die Festlichkeiten zu Neujahr, die ich versäumte. Schon der bloße Gedanke an all das Glitzern und den Lärm verursachte mir Kopfschmerzen. Funken sprühten hoch, als ich ein paar Holzscheite ins lodernde Feuer warf. »Ich hätte einen Kuchen backen sollen oder irgendwas.« »Nein, ich denke, ein gutes Feuer reicht vollkommen, um
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die Wiederkehr der Sonne zu feiern. Als ich noch ein Junge war, errichteten wir überall riesige Holzhaufen, zündeten sie an und warfen alles Mögliche ins Feuer.« »Wirklich? Das haben sie in unserem Dorf auch immer gemacht, aber wir durften nie hingehen.« Zur Erinnerung warf ich ein weiteres Scheit ins Feuer. Inzwischen war es so heiß, dass wir uns weit vom Kamin zurückziehen mussten. Ich legte bis auf ein Hemd und die Hose alle Kleidungsstücke ab. »Zuhause hatten wir auch immer ein großes Feuer und machten uns dann einen Spaß daraus, über alles zu spotten, was wir nicht leiden mochten.« Der Meister lächelte in sein vergangenes Leben zurück. »Ja, Freudenfeuer... und die Leute tanzten und betranken sich furchtbar. Das war vermutlich der Grund, warum du nicht hingehen durftest.« Ich starrte ins Feuer und ließ die Flammen für mich tanzen. Jahresende — und ein neues Jahr begann. Im Frühjahr würde ich ein paar Beete anlegen. Wenn die Straßen wieder schneefrei waren, würde ich vielleicht zu meiner Mutter reisen und Samen von zuhause mitbringen. Im Juli würden wir dann schon die ersten Karotten ernten können. »Horch!« Kutschenräder rumpelten über die Auffahrt. Ich packte ein Stuhlbein, ohne es eigentlich zu wollen. O nein, bitte nicht, dachte ich, bitte lass niemanden hierher kommen. Bitte, niemand darf uns finden. Die Kutsche holperte bis zum Haupteingang des Schlosses. Wir saßen völlig still und lauschten. »Vielleicht will nur jemand dem Herzog einen späten Abendbesuch abstatten?«, vermutete ich unsicher. »Jedermann weiß, dass er nicht anwesend ist.« »Aber vielleicht, vielleicht hat er ihnen gesagt, dass er da sei?« Der Meister lächelte. Er kannte meinen Onkel. »Das ist durchaus möglich.«
74 Über das Knacken des Feuers hörten wir Rufe und Gelächter, dann wurden Türen zugeschlagen, und schließlich hörten wir überhaupt nichts mehr. »Sie sind im Schloss.« »Und wenn es Einbrecher sind?«, erschrak ich. »Ich bezweifle, dass Einbrecher solchen Lärm machen würden. Trotzdem ...« Er griff nach dem Degen. Aber es geschah nichts weiter; vom Haus war nichts mehr zu hören. »Sollten wir nicht mal nachsehen?«, fragte ich. Er antwortete: »Warten wir's einfach ab.« Mein Lehrer zog sein Jackett aus und saß, den Degen in der Hand, in Hemdsärmeln vor dem hell lodernden Kaminfeuer. An der Tür neben dem Kamin klickte es leise. Es musste jemand vom Großen Haus sein, der einen Schlüssel besaß. Der Meister packte den Degen fester, lehnte sich aber zurück. »Hallo!«, grüßte eine Männerstimme von der Tür her. »Ich habe ein wenig Fisch mitgebracht.« Er trug an jedem Arm einen großen Korb. »Und wirklich guten Wein. Kuchen. Geräuchertes Gänsefleisch, kandierte Früchte, Aniswaffeln. Ich hoffe, ihr seid genauso hungrig wie ich.« »Hallo.« Mein Lehrer begrüßte meinen Onkel mit einem Lächeln, als wäre soeben die Sonne völlig unerwartet aufgegangen. »Komm herein. Setz dich und iss.«
Mein Onkel, der Irre Herzog, schob sich durch die Tür, wobei ihm die beiden Körbe und Päckchen sehr hinderlich waren. Er schüttete die Körbe auf dem Tisch aus. Dabei ließ er meinen Lehrmeister nicht aus den Augen, aber er kam ihm nicht zu nahe, als strahlte der Mann eine so große Hitze aus, dass es dem Herzog gefährlich erschien, sich zu nähern. Ich konnte es schier nicht glauben. Es gab jede Menge Leute, die in dieser Nacht der Nächte nach Highcombe hätten kommen können. Warum musste es ausgerechnet er sein? Warum hatte er uns seinen Besuch nicht angekündigt? Warum fragte
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er mich nicht, wie es mir ging? Inzwischen wäre es mir fast lieber gewesen, wenn es tatsächlich Einbrecher gewesen wären. Ich beschäftigte mich damit, die Sachen auszupacken, die Gläser und Behälter zu öffnen und die Einwickelpapiere zu entfernen. Der Herzog blieb still, bis ich mein Messer herauszog, um eine verknotete Schnur durchzuschneiden. »Hier«, sagte er, »ich hab dir was mitgebracht.« Er griff in seine Manteltasche und holte ein schmales Päckchen hervor. »Alles Gute zum neuen Jahr. Bisschen zu früh vielleicht.« O nein! Hätte ich ihm am Ende ein paar Socken stricken sollen oder was? Ich hatte überhaupt keine Geschenke vorbereitet, hatte nicht mal daran gedacht. Nun, jetzt war es jedenfalls zu spät. Ich packte das Geschenk des Herzogs aus. Ein Dolch — mit einer wunderbaren Scheide aus fein punziertem Leder. Der Griff war mit einem Muster aus verschlungenen Weinreben verziert, und auch über die hell funkelnde Klinge aus Damaszener Stahl zogen sich gravierte Blätter. »Scheint ihr zu gefallen«, bemerkte der Herzog zu meinem Lehrmeister. »Hm, ja, scheint so.« »Was hast du ihr denn so beigebracht? Auch was Nützliches?« »Natürlich. Sie wird ihre Sache recht gut machen.« Der Herzog und mein Lehrmeister schienen einander sehr gut zu kennen, denn offenbar konnten sie die Hälfte der Wörter auslassen und würden sich trotzdem bestens verstehen. Ich musste so tun, als hörte ich nicht zu. Was sie sagten, war nur für ihre eigenen Ohren bestimmt. Ich beschäftigte mich mit dem Dolch, den ich sofort am Gürtel befestigte. Aber sie sprachen über mich, das war schon mal etwas. Ich hoffte eigentlich, dass der Meister meine Fortschritte im Degenfechten lobend erwähnen würde, aber das tat er nicht, oder jedenfalls hörte ich es nicht.
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Der Herzog schüttelte sein langes Haar frei und warf Schal und Übermantel ab. »Heiß hier drin. Gut! Unterwegs war es nämlich bitterkalt.« »Plötzlicher Einfall?« »Genau. Meinen Freunden war es langweilig, also beschlossen sie, das Fest aufs Land zu verlegen.« »Freunde? Welche Freunde?« »Ach, nur Davenant, Hetley, der junge Galing. Sie haben sich angewöhnt, mir überall hinterherzuschleichen. Führen ein furchtbar trostloses Leben. Als ich erwähnte, dass ich über Neujahr hierher fahren würde, wollten sie unbedingt mitkommen. Weiß nicht, vielleicht waren sie auch nur betrunken oder so.« »O Alec!«, sagte der Fechtmeister, offenbar höchst amüsiert. »Was hast du denn jetzt wieder angestellt?« »Na, sie wollten doch unbedingt mitkommen! Aber irgendwie habe ich sie wohl verloren.« »Verloren?« »Irgendwo in der großen Eingangshalle. War wirklich zu dunkel dort drin.« »Du hast sie also in der Halle zurückgelassen. Im Dunkeln. Mein Lieber, hast du etwa auch vergessen, ihnen zu sagen, dass sämtliche Bediensteten über die Feiertage nach Hause gegangen sind? Oder hast du das etwa auch selber völlig vergessen?« »Ach, war es deshalb so kalt in der Halle?«, fragte der Herzog unschuldig. Mein Lehrer schnaubte belustigt. »Nun ja, sie werden schon irgendwo ein wenig Brennholz finden. Und vielleicht auch einen Schlafplatz. Es gibt weiß Gott genug Zimmer in diesem Steinhaufen.« Er ist wirklich verrückt, dachte ich. Aber mein Lehrer lachte nur. »Hier.« Der Herzog hatte inzwischen eine Flasche Wein entkorkt und goss den Wein in die Delphingläser; für mich
76 füllte er einen Becher. »Trink bloß nicht zu viel, warte, bis der Wein ein wenig wärmer ist, dann schmeckt er besser.« Doch schon jetzt verströmte Tremontaines Wein den Duft sommerlicher Himbeeren und warmer Sonnenstrahlen auf Apfelbäumen. Mein Onkel holte Teller und Besteck herbei, als wäre er nichts weiter als ein Lakai. »Kirschen? Ach so, nein, die magst du ja nicht — gut, dann bleiben mehr für mich übrig —, versuch doch mal den Käse, da ist was Seltsames drin. O verdammt, der Fisch ist halb zerquetscht, aber hier, nimm doch mal einen Bissen...« Ich hatte längst vergessen, wie gut so ein Essen schmecken konnte, wie vielfältig die Düfte der Nahrungsmittel sein konnten. Umspült von wunderbarem Wein, glitt das Essen am Gaumen vorbei. Und zu Waffeln und Früchten gab es einen süßeren Wein. Der Kuchen war nicht zerdrückt, sondern hatte seine Blumenform behalten, und obenauf lagen Zuckergussblätter und Marzipanbienen. Dazu gab es wieder einen anderen Wein. »Und wie geht's deinem Honig?«, fragte der Herzog. »Wenn du glaubst, dass ich nach all dem hier noch Honig essen könnte...« »Nein, nein, ich wollte nur eine höfliche Frage stellen. Wie's deinen Bienen geht.« »Ich richte ihnen aus, dass du dich nach ihnen erkundigt hast, sobald ich sie wieder mal treffe.« Ich stellte mir vor, wie mein Lehrmeister seinen Bienen die Grüße des Herzogs überbrachte, und musste kichern, weshalb ich husten musste, also trank ich noch ein wenig Wein. Manchmal trinke ich Wein nicht so gerne, aber der hier war einfach wunderbar, und außerdem hatte mir mein Onkel den Becher wieder gefüllt. »Also, wie steht es, du hast deine Bienen noch, und was sonst? Hast jetzt auch einen Garten? Züchtest du auch Fische?«
76 »Ach nein, keine Fische — das ist doch keine Herausforderung!« Ich stieß einen Jubelruf aus, als ich mir das Bild vorstellte: Der Meister hielt einen Degen in der einen Hand und einen goldglänzenden Fisch in der anderen, und sie verneigten sich voreinander und dann... Ich dachte, ich würde nie mehr mit dem Kichern aufhören können, wahrscheinlich wäre es besser, nach draußen zu gehen und ein wenig frische Luft zu schnappen, aber die einzige Tür, die ich entdecken konnte, war die neben dem Kamin, und die nützte mir nichts. Hinter dieser Tür war es grau und kalt, und in einer Nacht wie dieser konnte man nirgendwo hingelangen. Das Kaminfeuer war jetzt ein einziger Haufen gold und rot glühender Kohlestückchen wie Rosenblätter. Wie es sich wohl anfühlte, sich darin niederzulegen? Was für ein Lebewesen müsste ich sein, um mich in ein Feuer legen zu können, ohne Schmerzen zu spüren? Ich sah plötzlich winzig kleine Wesen, die zwischen der Kohle weiß glühend hin und her hüpften. Sie zwinkerten mir zu, tanzten, manchmal sangen sie auch. Ich beobachtete sie lange, während das Feuer dunkler wurde, bis sie einschliefen oder sich zu heißeren Feuern davonmachten. Die Männer unterhielten sich und beachteten mich nicht mehr; sie sahen nicht, was ich sah. Geschichten brannten sich in meine Augen, die mit dem Feuer verblassten, als sich das Jahr dem Ende zuneigte. Ich drehte mich zu den Männern um und wollte ihnen die Geschichten erzählen, aber der Raum begann sich plötzlich zu drehen. Und er drehte sich immer schneller. Ich legte mich auf dem Strohsack meines Lehrmeisters nieder, weü mir zu schwindelig war, um mich auf die steile Treppe zu wagen. Es war still im Raum, sehr still und sehr dunkel. Ich musste wohl eingeschlafen sein, doch irgendwann schlichen sich Stimmen in meine Träume, Wörter, die beinahe eine Bedeutung hatten,
76 sich aber wieder änderten, bevor ich ihnen folgen konnte. Stimmen, die ich kannte, aber sie klangen ganz anders. Ich wusste, wo ich mich befand — im sicheren kleinen Haus von Highcombe —, aber das konnte ja wohl nicht stimmen, denn der Irre Herzog war hier. »Und was ist mit ihr?«, fragte eine Stimme in meinem Traum. »Sie schläft.« Ich öffnete die Augen, um ihnen zu beweisen, dass ich nicht schlief, sah aber nur rotes Feuer; also musste ich mich wohl immer noch mitten im Feuer befinden. »Warum bist du gekommen?«
»Hätte ich das nicht tun sollen?« »Doch, natürlich.« »Komm zu mir«, schnurrte mein irrer Onkel. »Einfach so?« »Nein. Im Dunkeln.« Seide knisterte. Das Feuer ging völlig aus. »Im Dunkeln ist es vollkommen. Komm. Komm jetzt zu mir...« Stille. Lange, lange Stille. Ich schlief wieder ein, aber jemand litt Schmerzen, denn ich hörte einen Aufschrei, kämpfte mich hoch, schaffte es aber nicht einmal, die Decke abzustreifen, um ihnen zu helfen. Das Feuer krachte. Ein Flüstern: »Ich hebe dich.« »Lügner! Wenn das der Fall wäre, würdest du zurückkommen.« Die Stimme des Degenfechters war leise, aber klar, eine Stimme, die ich von unzähligen Übungsstunden kannte: »Du weißt, dass ich zurückkäme, wenn ich könnte.« »Du kannst. Du musst!« »Nein, ich kann nicht, Alec. Nicht so, wie ich bin.« »Das spielt keine Rolle. Ich sorge dafür, dass es keine Rolle spielt.« »Nein, das kannst du nicht. Nicht mal du, Mylord.« 77 Wenn ich meinen Degen gehabt hätte, hätte ich ihre Stimmen zum Verstummen gebracht und ihre Geräusche; aber ich hatte ihn draußen im Schnee gelassen, wo die Klinge sich in Diamanten verwandelte. »Du bleibst nur hier, um dich selbst bemitleiden zu können.« »Denkst du das wirklich?« Ein unterdrücktes Geräusch, dann: »Nicht — du tust mir weh.« »Ich weiß.« Der Degenfechter, kühl und distanziert. »Und wenn ich damit weitermache, könnte ich dich sogar töten.« »Aber dann würdest du mich vermissen.« »Ich vermisse dich jetzt schon. Du bist nicht glücklich, weißt du das?« »Ich könnte es sein, wenn du dort wärst.« »Nein.« »Dein Stolz, das ist alles, was dich zurückhält, reiner Stolz.« »Wenn du meinst.« »Aber ich könnte dich allein mit meinen Händen davon befreien.« »Deine Hände. Deine Stimme. Du kannst es, Mylord. Du tust es bereits.« Das Feuer zischte. »Aber nur, weil von mir noch genug übrig geblieben ist, das befreit werden kann. Sei vernünftig, Alec. Nur einen Augenblick lang. Was gäbe es jetzt noch für mich zu tun, dort, in der Stadt?« »Was gibt es hier für dich zu tun?« »Hier. . . hier. . . Bis du mir die kleine Ablenkung geschickt hast. . . Ich wandere. Ich übe. Es ist ruhig hier. Bäume. Niemand belästigt mich.« »Dann sind es also die Menschen?« »Warum bleibst du eigentlich noch dort? Sie machen dich doch nur verrückt. Ich habe gesehen, wie es dich verändert.« »Ich hasse das Landleben.«
77 »Weil du hier niemanden schockieren kannst. Oder ärgern kannst. Oh, Alec.« Der Meister seufzte. »Was?« »Ich weiß nicht. Ich liebe dich.« »Glaube ich dir nicht. Denkst du überhaupt jemals an mich, wenn ich nicht hier neben dir liege und dich an mich drücke?« »Ich denke an dich. Und ich versuche, nicht an dich zu denken.« »Ist das wirklich so schwierig? Oder ist es hier leicht, nicht an mich zu denken?« Scharfes Einatmen, ein kleiner Schmerzensschrei. »Ist das der einzige Grund für das Landleben? Dass du mich besser vergessen kannst? Ich gebe dir ein Haus zum Wohnen und ein sicheres Leben, nur damit du nicht an mich denkst? Nun, wie auch immer, ich denke jedenfalls an dich. Ich denke sehr oft an dich. Fast immer, um genau zu sein. Weißt du eigentlich, wie meine Tage aussehen, Richard? Meine Tage, und meine Nächte? Soll ich es dir sagen?«
»Pst, ich weiß es. Glaubst du denn, ich wüsste es nicht? Ich kann es spüren, kann es überall an dir spüren. Hier, hier und hier. Sie schaffen es noch, dich zu dem zu machen, was sie selber sind. All deine Exzesse — absolut zwecklos.« »Halt den Mund. Du bist nie dort, was kannst du schon wissen?« »Ich kenne dich. Lieg still, Alec, hör auf damit. . . « »Das hast du mir angetan. Ich wünschte, ich könnte dich töten, aber ich bin schon tot. Ich bin tot, und alle anderen sind Geister. Ich schlafe mit jeder Person, die ich dazu bringen kann. Ich stürze mich auf fremdes Fleisch wie auf einen Sahnetopf, und trotzdem bin ich immer fast am Verhungern. Mein Mund ist ständig offen, aber nichts geht mir über die Lippen. Du bist der Einzige, der wirklich ist, der wirklich zählt. Woher solltest du das alles wissen, Richard? Wenn du mich töten würdest, wäre auch ich dann endlich wirklich?« 78 »Wenn ich dich tötete, wärest du wirklich tot. Fang bloß nicht damit an.« »Ah«, sagte der Herzog kalt, »bitte! Ja! Endlich habe ich dich so weit, dass du auch einmal um etwas bitten musst. Denn ich habe es satt. Habe es satt, um alles betteln zu müssen. Ich sollte eigentlich niemanden um etwas bitten müssen, und dich schon gar nicht. Weißt du denn, wer ich bin? Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt begreifst, wie sehr sich alles verändert hat. Ich bin kein abgerissener Student mehr, der in der Kneipe vor irgendwelchen Schlägern beschützt werden muss. Ich bin Tremontaine. Ich habe die Macht, ich habe die Ländereien, ich habe Geld. Ich besitze Riverside, zum Beispiel, und dazu noch andere Liegenschaften in der Stadt. Ich besitze sie, aber ich würde sie jederzeit niederbrennen, um dich zu bekommen, Richard, und ich würde sie alle töten und nichts zurücklassen.« »Dann würden also nur wir beide durch eine menschenleere Ruinenstadt spazieren?« »Wenn du es so willst.« »Ach du lieber Idiot. Dann bleib doch! Bleib hier bei mir. Hier gibt es nichts zu ruinieren.« »Das stimmt.« Die Stimme des Herzogs klang dünn und brüchig wie eine zu Eis erstarrte Schlammpfütze. »Ist das der Grund? Bist du vielleicht ganz einfach abgestumpft?« Ein Seufzer. »Und wenn es so wäre?« »Du willst dich nicht mehr herausfordern lassen Wie könntest du dich denn noch einem Kampf stellen, wenn er sich böte, so, wie du jetzt bist?« »Diese Art Herausforderung brauche ich nicht mehr.« »Dort würden sie dich immer beobachten.« Jetzt klang die Stimme kalt wie Eis. »Sie würden dich beobachten, aber du würdest es nicht merken. Das ist eine Herausforderung, der du dich nicht stellen kannst. Sie fordern dich nicht mit ihren Degen heraus, sondern mit ihren Augen, ihren Blicken! Ist es 78 nicht so? Nicht, dass sie dich damit töten könnten, auch wenn dir das sogar noch gefallen würde. Aber sie beobachten dich zuerst, und dann wissen sie Bescheid.« »Bereitet es Eurer Lordschaft Vergnügen, solche Dinge zu denken?« »Glaub mir, das gehört zu meinen angenehmsten Theorien. Was gäbe es denn sonst noch? Dass sie dich langweilt, diese Stadt, in der wir zusammen waren? Dass es dir nichts ausmacht, wenn ich mich von Zeit zu Zeit hier blicken lasse, aber dass auch ich dich in Wirklichkeit nur langweile?« »So ist es nicht.« »Ach? Dann ist es eben das >Ja, ja, natürlich Hebe ich dich< und >Ja, ich will dich<, aber vielleicht doch nicht so sehr? Jedenfalls nicht genug, um zuerst gesehen zu werden, unwissentlich? Ja, du liebst mich immer noch, aber letzten Endes bin ich dir die Sache nicht wert. Du würdest für mich töten, aber du würdest für mich nicht einen Zoll deines Stolzes abgeben. Das bin ich dir dann doch nicht wert, stimmt's?« »Still, Alec, sei doch still.« »Lass mich in Ruhe. Ich brauche ein Glas Branntwein.« »Nein, du brauchst was anderes. Komm zu mir.« »Ich bin nicht dein Lakai. Ich springe und tanze nicht nach deinem Kommando.« »Dann bitte ich dich. Bitte komm zu mir.« »Ich hasse das alles.« Die leise Stimme erschütterte mit ihrem Elend den Raum. »Ich kann es nicht mehr ertragen.«
»Komm zu mir. Ja, so ist es besser. Ja. Du riechst nach Rauch ... Asche ... du warst in einer Taverne. Dein Haar — ah! — du hast es zuhause gewaschen. Chypre. Und noch etwas anderes — Zitrone — Fischgeruch an deinen Händen, deinen Fingerspitzen - Walnüsse bitter...« Und von all diesen Dingen und noch mehr träumte ich, träumte, sie würden in ein Feuer geworfen, das sie auffraß und doch nicht auffraß, das genährt werden wollte und doch nie
79 befriedigt werden konnte. Die alte Sonne wurde von einer neuen verschlungen, gab ihre Leuchtkraft an das neue Jahr ab, und alles geschah in einer einzigen langen Nacht, auf die nie mehr eine Morgendämmerung zu folgen schien. Mein Onkel schüttelte mich an der Schulter, um mich aufzuwecken. »Pack deine Sachen. Wir fahren ab.« Er ragte sehr hoch über mir auf. Ich sah ihn wie durch einen Grauschleier, als wäre die Luft in dem kleinen Cottage geschwängert vom Rauch und von der Asche des Feuers der vergangenen Nacht. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sie hatten sich in den Decken verwickelt, also stützte ich mich auf die Arme. Sie zitterten unter mir. »Sie ist krank.« »Bestimmt nur ein Kater.« Der Herzog zerrte an meinem Arm. »Nun komm schon.« Ich stand auf. Der Meister goss kaltes Wasser in eine Tasse, legte sie in meine Hände und hob sie so vor meinen Mund, dass ich daraus trinken konnte. Meine Kehle schmerzte. »Alec«, sagte er, »du hast sie betäubt!« »Ich habe sie nicht vergiftet. Wollte nur nicht, dass uns jemand stört. Wenn sie krank ist, werden wir sie zum Arzt schicken, wenn wir wieder in der Stadt sind. Komm schon.« Ich konnte tatsächlich erkennen, wohin meine Füße gingen, wenn ich gründlich darüber nachdachte. »Und was ist mit deinen Gästen?« »Sie werden den Weg nach Hause schon wieder finden. Und zum Dorf Highcombe können sie schließlich auch zu Fuß gehen.« Der Lehrmeister lachte. »Du lässt sie einfach im Stich? Ich frage mich, ob sie nicht längst deine Möbel verheizt haben.« »Es stehen genug Möbel herum.« Der Herzog packte mich am Arm. »Komm schon.« 79 »Ihr reist ab? Jetzt schon?«, fragte ich. »Wir reisen ab. Nun komm endlich.« In der Kutsche war es eiskalt. Der schläfrige Kutscher gab uns einen Stapel Decken. Mein Onkel knabberte an seinem Daumennagel und sprach kein einziges Wort. Wir rumpelten die gefrorene Auffahrt hinunter. Je weiter wir uns vom Schloss entfernten, desto stärker zitterte ich vor Kälte. Irgendwann zog er eine Flasche Branntwein aus der Tasche und hielt sie an meine Lippen. Ich glaube, ich weinte. Ich trank. Ich schlief. Mein Husten weckte mich auf. Wie Nebel stand ein schwerer, süßer Rauch in der Kutsche. Aber mir war warm. Mein Onkel hatte seinen Mantel um mich gelegt. Ich sah, wie er die Pfeife an den Mund führte, spürte, wie sich sein Brustkorb weitete, als er den Rauch einzog, und wieder in sich zusammenfiel. Immer und immer wieder, wie das sanfte Schaukeln einer Wiege. Der Rauch kräuselte sich um mein Gesicht. »Richard«, hörte ich ihn murmeln, »Richard.«
T EIL I I I
Riverside Kapitel 1
Ich lag in einer tiefblauen Höhle mit einem Sternenhimmel aus silbernen Kronen und versuchte Betty klarzumachen, dass ich keinesfalls im Bett des Herzogs schlafen wollte, sondern lieber auf dem Boden neben meinem Lehrmeister. Aber wann immer ich versuchte, ihr etwas zu erklären, flößte sie mir einen weiteren Schluck eines bitter schmeckenden Tranks
ein. Das war ärgerlich, denn es hinderte mich daran, aufzustehen und zu üben, und irgendwann war ich sogar absolut sicher, dass der schurkische Mangrove in diesem Moment nach Highcombe unterwegs war und das Schloss in Brand stecken würde, wenn es mir nicht gelang, ihn vorher zu besiegen. Mir war heiß, dann wieder kalt, meine Augen brannten, und ich war unendlich müde. Schließlich gab ich es auf, irgendetwas erklären zu wollen, und schlief wieder ein. Als ich erneut aufwachte, war ich durstig, aber meine Sternenhöhle hatte sich verwandelt und bestand nur noch aus samtenen Vorhängen mit silbernen Bordüren, die um ein schweres, altmodisches Bett aus dunklem Holz hingen. Ich schob sie an einer Ecke auseinander. Sonnenstrahlen fielen durch die schmalen Fenster in das Zimmer. Die Wände waren mit Paneelen aus dunklem Holz verkleidet, darüber hingen alte Gobelins. Ich hörte das Scharren eines Stuhls auf dem Boden; ein Junge erschien in dem Vorhangspalt, einen Finger als Lesezeichen in ein Buch geklemmt. »Aha. Ihr bewegt Euch«, stellte er fest, »und ich habe den 80 Befehl, Euch das hier zu trinken zu geben, sobald Ihr Euch bewegt.« Er reichte mir einen kühlen Becher, und ich trank daraus. Es schmeckte nicht bitter. »Ich heiße Marcus«, sagte er. »Ich arbeite für den Herzog.« Mir fiel wieder ein, dass ich ihm schon an meinem ersten Tag in der Stadt begegnet war. Der Junge war ungefähr in meinem Alter; er hatte braune Augen und braunes Haar. Seine Stimme klang tiefer, als ich in Erinnerung hatte. »Ihr seid auf der Reise krank geworden«, fuhr Marcus fort. »Aber das Fieber klingt bereits wieder ab. Ich nehme an, dass Euch jetzt ziemlich langweilig ist.« »Ich bin nur müde«, sagte ich. »Wie bist du hierher gekommen?« »Hierher?« »Sind wir hier denn nicht in Highcombe?« »Nein. Ihr seid jetzt wieder in der Stadt. Im ältesten Teil der Stadt, genau genommen: im Schloss Riverside.« »Oh.« Mir dämmerte allmählich, dass die Fahrt in der rauchgeschwängerten Kutsche Wirklichkeit gewesen war, ebenso die Jahresendfeier und all die Träume — und das bedeutete, dass mein Lehrmeister nicht mehr hier war, dass ich nicht mehr in Highcombe war, und selbst wenn ich den Weg dorthin zurück finden könnte, würde nichts mehr so sein wie bisher. Ich hatte nicht einmal mehr genug Kraft, mir darüber Gedanken zu machen, ob ich weinen sollte oder nicht. Mitfühlend ließ Marcus die Vorhänge fallen, damit ich mit meinen Tränen allein bleiben konnte. Artemisias Zimmer war ein einziges Meer von Blumen, und die beiden jungen Ladys, die mitten in dieser Blütenpracht saßen, hätten damit durchaus zufrieden sein können, aber das Blumenmeer war für sie nur das Präludium zu einer noch viel interessanteren Aufgabe ein Urteil über jeden der jungen
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Männer zu fällen, die die Blumen geschickt hatten. Der junge Mann beispielsweise, über den sie gerade sprachen, wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, hätte er mit anhören müssen, dass sein teures, aufwendiges Bouquet einer sehr kenntnisreichen Begutachtung unterworfen wurde. Allerdings hatten sich die Mädchen zuvor gegenseitig aus einem gewissen Buch vorgelesen, ohne ihre Näharbeiten zu unterbrechen — damit sich ihre Mamas nicht wieder beschweren konnten, sie vergeudeten nur ihre Zeit, wann immer sie beisammen saßen —, und das färbte nun ihr Urteil, was sich auch in ihrer Wortwahl zeigte. »Armand Lindley«, seufzte Lydia Godwin. »Ich mag ihn wirklich sehr, aber, um ganz offen zu sein, er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Fabian.« »Das macht nichts«, entgegnete ihre Freundin. »Schließlich hast auch du nicht die geringste Ähnlichkeit mit Stella.« Lydia warf Artemisia Fitz-Levi einen verärgerten Blick zu. Kein Mädchen hört gerne, der Heldin seines Lieblingsromans nicht im Geringsten zu gleichen, und so unwahrscheinlich es auch sein mochte, dass sich Lydia von einem Degenfechter von zweifelhaftem Ruf schwängern lassen würde, schwelgte sie doch wie jedes andere junge Mädchen gern in dem
Gedanken, dass sie einen solchen Mann hinreichend betören könnte, ihretwegen tatsächlich eine Torheit zu begehen. Aber Artemisia lächelte so fröhlich und bot ihr erneut Kekse an, obwohl beide doch wussten, wie schlecht sie für ihren Teint waren, dass Lydia beschloss, nicht beleidigt zu sein. »Aber er hat Augen zum Hinschmelzen«, fuhr Lydia mit ihrer gegenwärtigen Beschäftigung fort, »wie Fabians Vertrauter Tyrian, wenn ich es mir richtig überlege.« »Ich frage mich, ob er auch so verlässlich wäre?« »Das wage ich zu bezweifeln.« Lydia schüttelte den Kopf, und Artemisia beneidete sie wieder einmal um ihre Perlohrringe. Der Schmuck gehörte zum Familienerbe der Godwins
81 und hätte sicherlich zu einem normalen Nachmittagsbesuch nicht getragen werden dürfen, doch Lydia war so stolz darauf, dass sie die Ohrringe trug, wann immer sie konnte. »Oh, Mi, was soll ich nur tun? Als er mir am nächsten Morgen diese Blumen schickte, war ich sicher, dass er den Tanz genau so genossen hatte wie ich! Er hat sogar meine Hand gedrückt.« »Viele Männer lassen Blumen schicken. Wenn dir einer die Hand drückt, dann gibt es doch sicherlich keinen Zweifel mehr? Nein, es steht fest: Er liebt dich.« »Aber wenn es so wäre, warum kam er dann gestern nicht zu Besuch? Ich habe dafür gesorgt, dass er wusste, dass ich zuhause sein würde! Nein, ein Mann, der einem Blumen schickt und dann nicht zu Besuch kommt, kann ganz bestimmt nicht verliebt sein.« »Was für Blumen hat er dir geschickt?« »Rosen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« »Rosen... nur Rosen oder noch etwas anderes?«, fragte Artemisia. »Rosen mit Nelken. Weiß und rot.« »Gemischt, das ist schlecht. Aber weiß und rot ist gut. Könnten deine Haut und Lippen bedeuten. Oder sogar Herz und Seele. War eine Karte dabei?« »Natürlich.« Lydia holte sie aus ihrer zierlichen Handtasche. »Hier. Lies selbst und sag mir, was du denkst.« »>An die Bewundernswerteste aller Godwins<«, las ihre Freundin laut vor. »>In liebevoller Verehrung von dem ihr ergebenen Armand Lindley.«< Lydia kreischte und ließ sich in die Sofakissen zurückfallen. »Liebevoll! Verehrer! Oh, Artemisia, ich gehe zugrunde! Wie kann er es wagen, mit meinen Herzensgefühlen so zu spielen!« »Ich überlege, was >bewundernswert< bedeuten mag«, überlegte ihre Freundin. »>Liebevoll< und >Verehrung< klingen sicherlich gut genug, aber >bewundernswert Würde ein Lie 81 bender ein solches Wort benutzen? Es klingt — bitte, verzeih mir, Lydia — doch ziemlich papahaft für einen Liebhaber.« Lydia schniefte und fischte ein Taschentuch aus dem Handtäschchen. »O nein! Ich könnte es nicht ertragen, wenn er so empfinden würde!« »Aber natürlich könnte es auch etwas ganz anderes bedeuten, mein Liebes.« »Ich erdreiste mich zu glauben, dass es so sein muss. Schließlich ist er nicht alt genug für einen Papa. Außerdem«, zwinkerte Lydia ihrer Freundin zu, »fühle ich mich nicht im Geringsten töchterlich, wenn mich Armand zur Tanzfläche führt! In der Tat fühle ich mich dann ein wenig wie Stella. Nach dem Ball.« >»Vbr diesem Abend war ich nur ein Mädchen<«, zitierte Artemisia mit halb geschlossenen Augen. »Jetzt bin ich eine Frau.«< »Ja«, seufzte Lydia hingerissen, »ich fürchte, mir bleibt nur eine Wahl: Ich muss ihn haben oder sterben. Aber wie kann ich es ihn wissen lassen, wenn er mich nicht besuchen kommt?« »Ach, vermutlich ist ihm etwas Geschäftliches dazwischengekommen. Oder er ist krank geworden. Denk doch nur, vielleicht wartet jetzt schon ein Brief zuhause auf dich.« Lydia sprang auf. »Glaubst du wirklich?« Artemisia tätschelte ihr die Hand. »Ziemlich wahrscheinlich. Du musst es mich unbedingt sofort wissen lassen, wenn du etwas von ihm hörst.« »Ganz bestimmt! Aber was ist, wenn Papa mir nicht erlaubt, ihm zu antworten?«
»Warum sollte er es nicht erlauben? Du hast doch schon Lindleys Blumen und seine Karte empfangen dürfen.« »Nun ja, ein Brief ist eben etwas Ernsteres, verstehst du. Und natürlich zeige ich Mama und Papa alle Briefe, die ich bekomme.« 82 »Wirklich alle, Lydia?«, fragte ihre Freundin schelmisch. »Nun...«, gestand Lydia, »doch ja, alle.« »Selbst die kleinen Briefchen, die tief in einem Blumenstrauß versteckt sind?« Artemisia wand sich vor Vergnügen. »Die sind nämlich die Besten.« »Meine Zofe hat den Befehl, alle Sträuße auszuschütteln, bevor man sie mir gibt. Es ist wegen Papas Stellung. Er wird ja nun bald zum Rabenkanzler gewählt und kehrt dann in den Staatsrat zurück, deshalb muss er jetzt bei allem sehr vorsichtig sein.« »Was für ein braves Mädchen du doch bist, Lydia. Wir anderen sollten uns wirklich bemühen, so zu werden wie du. Aber was könnte Lord Godwin gegen deinen Verehrer einzuwenden haben? Armand Lindley wird doch höchst wahrscheinlich nach dem Tod seines Onkels das Vermögen erben und Lord Horn werden. Ich halte das für eine sehr gute Partie.« »Natürlich wäre das eine gute Partie! Aber ich habe einmal Papa sagen hören, alle Horns seien jähzornig und sähen aus wie Ziegen.« »Damit konnte er doch nicht Lord Armand meinen! Sicherlich meinte er jemand anderen. Hast du ihm schon gesagt, wie du empfindest?« Lydia errötete. »Ich wage es nicht, Papa davon zu erzählen. Er hat von allen jungen Männern eine sehr schlechte Meinung. Erst vor Kurzem sagte er beim Frühstück zu Mama, so laut, dass ich es hören musste: >Der Gedanke, dass einer von diesen Burschen unserer Lydia zu nahe treten könnte, bringt mich fast um den Verstand. Vielleicht sollten wir sie< oh, Mi, es war so furchtbar! — vielleicht sollten wir sie in einen Turm sperren, bis sie alt und hässlich ist!«< Artemisia kreischte auf und umarmte Lydia. »Das hat er doch bestimmt nicht so gemeint! Und was sagte deine Mutter dazu?« 82 »Ach, sie hat ihm nur einen Blick zugeworfen und geseufzt, >Ach, Michaela, so wie sie es immer tut. Vielleicht haben sie dann wieder eines ihrer kleinen Gespräche geführt, denn jedenfalls standen sie kurz danach vom Tisch auf und tauchten erst wieder am Nachmittag auf, und Papa war dann viel besser gelaunt.« »Ja, ich glaube, sie hat ihn ganz gut im Griff. Deine Mama ist wirklich ein Engel.« »Genau wie du, Artemisia.« Tage vergingen. Ich aß und trank und schlief. Und ich weinte oft. Mein Kopf schmerzte, ich sehnte mich nach meiner Mutter, die immer so sanft und fürsorglich gewesen war. Betty hatte nicht die kühlen Hände und die sanfte Stimme meiner Mutter, die ich so liebte, wenn ich krank war. Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken und auch nicht mehr zu weinen, wenn Betty in der Nähe war. Das alles war schließlich nicht ihre Schuld. Sobald ich wieder ohne Stütze stehen konnte, ging ich zum Fenster und schaute hinaus. Das Fenster bestand aus kleinen Quadraten, die mit dickem, grünlich schimmerndem Glas gefüllt waren, in dessen Mitte kleine runde Kreise waren. Es bot nur eine sehr düstere Aussicht auf die schneebedeckte Landschaft und die vorragende Ecke des Daches. Was ich bisher von Riverside House zu sehen bekommen hatte, beeindruckte mich nicht sonderlich. Als Betty sah, dass ich wieder allein aufstehen konnte, ließ sie mich sämtliche Kleider anprobieren, um sie ändern zu lassen, denn ich war gewachsen und an einigen Stellen war mein Körper dünner, an anderen rundlicher geworden. Im Schrank hingen auch neue Kleider, darunter Stadtanzüge für den Winter — ein flaschengrüner Straßenanzug aus weich gewebter Baumwolle mit goldenen Zierleisten, ein dunkelblauer Wollanzug mit eingewobenen Fäden, die ihn im Tages 82 licht fast scharlachrot schillern ließen. Ich nahm an, die neuen Kleider bedeuteten einerseits, dass der Herzog mit mir zufrieden war. Andererseits waren es eindeutig Stadtkleider; ich hielt sie daher auch für ein Zeichen, dass ich nicht so bald nach Highcombe zurückkehren würde. Deshalb waren mir die neuen Kleider gleichgültig.
Bald erholte ich mich so weit, dass ich aufstehen und ein paar Stunden auf den Beinen bleiben konnte. Doch die übrige Zeit war ich erstaunlich müde, und da ich keinerlei Pflichten hatte, schlief ich oft und lange. Betty setzte sich manchmal auf die Bettkante und erzählte mir den neuesten Klatsch des Hauspersonals: Der Koch war ein Schatz, aber der Verwalter von Riverside House, Meister Osborne, hielt sich für was Besseres! Betty kippte oft ein paar Gläschen, bevor sie zu mir kam, aber in meiner Gegenwart trank sie keinen Tropfen Alkohol. Deshalb behielt ich sie so lange wie möglich bei mir, um sie vom Trinken abzuhalten, weil ich dachte, ich würde ihr damit einen Gefallen tun. Von ihr erfuhr ich alles über diesen Stadtteil, der Riverside hieß, und ich erfuhr endlich auch, wer mein Lehrmeister in Highcombe wirklich war. Natürlich hätte ich es mir denken können. Selbst ich hatte schon von St.Vier gehört, dem größten Degenfechter unserer Zeit, vielleicht sogar aller Zeiten, wie manche behaupteten. Jedermann wusste, dass dieser Mann in den Straßen von Riverside so manches Duell ausgetragen hatte; er hatte Männer in den Tavernen und Gassen getötet, um einen geheimnisvollen, von zuhause durchgebrannten Studenten nicht nur zu schützen, sondern auch zu unterhalten — den späteren Herzog von Tremontaine. »Man musste wirklich aufpassen«, erinnerte sich Betty, »wenn die beiden in der Gegend waren. Riverside war damals nicht so wie heute. Damals musste man schon sehr gerissen sein, wenn man hier überleben wollte, oder besonders dumm oder besonders mutig. Und man überlebte nur durch 83 List, man musste jede günstige Gelegenheit nutzen, wenn sie sich bot.« »Kanntest du sie damals schon?« »Kannte sie nicht so, dass man sagen könnte, ich kannte sie«, nuschelte sie undeutlich. Ich wartete geduldig, bis sie ihre Erinnerungen wieder auf die Reihe gebracht hatte. »Aber ich sah sie manchmal zusammen. Waren ja auch kaum zu übersehen. Er trug immer seinen weiten, flatternden schwarzen Gelehrtenmantel und überragte alle anderen wie eine abgerissene Vogelscheuche. Der Degenfechter war stets an seiner Seite, nett und süß wie Honig, aber sein Stachel bestand aus reinstem Gift. Wenn die beiden in eine Kneipe traten, wurde es sofort totenstill. Wo würde der nächste Kampf stattfinden, und wer würde ihn provozieren? Manchmal fand überhaupt kein Kampf statt, aber manchmal endete der Abend mit Blutvergießen. Echtes Blut — anders als heute. So war es damals in Riverside. Es war einem eigentlich ziemlich egal, wie man starb; Hauptsache, man brachte die Angelegenheit mit einigem Anstand hinter sich.« Niemand wusste, wohin St.Vier schließlich verschwunden war, nicht einmal Betty. Manche Leute glaubten, er sei bei einem Duell tödlich verwundet worden oder vergiftet, weil man ihn mit Stahl nicht umbringen konnte. Andere meinten, er habe einen neuen Liebhaber gefunden, weit entfernt, wo ihn nicht einmal der Herzog habe aufspüren können, sofern ihn der Herzog nicht selber umgebracht hätte, als er davon erfuhr. Betty hatte gerüchteweise gehört, St.Vier sei dem Herzog von der Kaiserin von Cham abgeworben worden und regiere jetzt an ihrer Seite in ihrem Palast in Übersee. Betty selber glaubte dieses Gerücht allerdings nicht. Der Mann in Highcombe war mir nicht wie eine Legende erschienen, jedenfalls nicht, als ich bei ihm wohnte. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass mein Lehrmeister hier in diesem Haus, in dieser Stadt, die Dinge tun würde, von 83 denen mir Betty erzählt hatte. Aber vielleicht damals, als alles noch ganz anders war? Als Riverside wie ein wilder Wald war, durch den er als junger Mann schlenderte, ohne damit zu rechnen, jemals älter als fünfundzwanzig zu werden? Zumindest wusste ich jetzt eins mit absoluter Sicherheit: dass ich nie in der Lage sein würde, ihn im Duell zu besiegen. Eins konnte Betty nicht: Sie konnte mir nicht vorlesen. Wie der Degenfechter hatte sie nicht lesen gelernt. Die herzogliche Bibliothek im Schloss Riverside umfasste sehr viele Bücher, aber es schienen hauptsächlich moderne gelehrte Werke zu sein. »Fragt doch mal den Jungen«, schlug Betty vor, »diesen Marcus. Der kommt und geht, wie es ihm gefällt. Macht, was er will. Erst gestern hat ihn der Koch erwischt, als er Sahne direkt aus dem Topf naschte, frech wie eine Elster. Der Koch beschwerte sich beim Herzog, aber
Seine Hoheit meinten, Marcus wachse noch, und man solle ihn in Ruhe lassen. Ihr wachst auch noch, aber Ihr nehmt Euch keine solchen Frechheiten heraus. Ihr seid eben einfach besser erzogen.« Es gefiel mir nicht so recht, mit einem Bediensteten verglichen zu werden, auch wenn der Vergleich zu meinen Gunsten ausging. Aber ich sagte nur: »Er ist der Diener des Herzogs, nicht meiner. Warum sollte er etwas für mich tun wollen?« »Wenn Ihr nicht immer noch aussehen würdet wie eine halb verhungerte Maus, die die Katze ins Haus schleppte, würde ich sagen, er hat einen Narren an Euch gefressen, Mylady. Ständig hängt er hier herum, obwohl er doch Seine Hoheit davon abhalten sollte, vom Dach zu springen oder sonstigen Unfug anzustellen. Aber ich will mich ja nicht beklagen: Für Tremontaine arbeiten zu dürfen, ist so was wie der siebte Himmel im Vergleich zu... ach, vergessen wir's. Sagt dem Jungen einfach, was Ihr haben wollt, dann werdet Ihr schon sehen.« 84 Also bat ich Marcus, mir vom Schloss auf dem Hügel ein paar bebilderte Bücher und leichte Lektüre zu holen. Er brachte mir die Bücher selbst ins Zimmer: ein Buch über Vögel, eins über Giftpflanzen, ein paar Gedichtsbände, ein bebildertes Buch mit dem Titel Sitten und Gebräuche fremder Länder — und mitten im Bücherstapel entdeckte ich ein schmales, abgegriffenes Bändchen, das in weiches Leder gebunden war und mir erfreulich vertraut vorkam. Ich bedankte mich nicht dafür und fragte ihn auch nicht, wie und wo er es gefunden hatte. Ich schob es schnell unter mein Kissen, um mich damit zu beschäftigen, sobald ich wieder allein war. Es war meine eigene Ausgabe von Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß. Ich erkannte den Fleck auf Seite drei wieder, wo ich ein wenig Aprikosensaft verschüttet hatte. Ich schlug das Buch willkürlich auf; eigentlich rechnete ich damit, dass mir die Geschichte jetzt ziemlich albern vorkommen würde. Aber auf der Seite, die ich zufällig aufgeschlagen hatte, floh Stella gerade aus der Stadt, kurz nachdem sie ihr Kind verloren hatte und überzeugt war, dass Fabian sie verraten habe, und Mangrove war ihr dicht auf den Fersen. So etwas konnte wohl niemandem albern vorkommen. Stella will fast verzweifeln, aber Tyrian lässt es nicht zu. Ihr habt heute Abend etwas vollbracht, erklärt er ihr, was zehntausend Männer nicht zu Wege gebracht hätten. Nun zeigt Euren großen Feinden, was eine Frau allein zu tun vermag. Ich bin nicht allein, erwidert sie und hätte Tyrian wohl auf der Stelle zu einem sehr glücklichen Mann gemacht, wenn nicht im selben Augenblick die Mäuse jagenden Katzen auf dem Dach aufgetaucht wären. Ich las das Buch nicht sofort zu Ende, sondern las nur meine Lieblingsstellen und dann die Teile dazwischen. Fabian übt immer noch nicht. Stella verdirbt immer noch fast alles, weil sie den Leuten nicht vertraut, denen sie eigentlich hätte 84 vertrauen sollen. Aber das spielte eigentlich keine Rolle mehr. Ich hatte inzwischen gelernt, dass auch in Wirklichkeit die Leute sogar noch seltsamer und unberechenbarer sein konnten und dass wir, wenn wir die Wahrheit über jemanden nicht kennen, uns einfach eine Wahrheit zurechtlegen. Zwei Tage später brachte mir Marcus einen Degen. »Stammt von einem der Landgüter«, erklärte er, »und wurde extra für Euch hierher gebracht. Kam zusammen mit einem Sack Wildfleisch, und das gefällt mir, denn allmählich hängen mir diese Fischgerichte zum Hals heraus.« Es war der Degen mit dem verbogenen Korb, mit dem ich auf Highcombe geübt hatte. Einer seiner Degen, einer der Degen meines Lehrmeisters, und jetzt gehörte er mir. Ich hängte ihn an meinen Gürtel, zusammen mit dem kunstvoll verzierten Dolch, den mir der Herzog geschenkt hatte. Das Gewicht der beiden Waffen an meiner Hüfte fühlte sich gut an, sie hielten sich beinahe im Gleichgewicht. »Ich gehe aus«, verkündete ich Marcus. Er betrachtete mich von oben bis unten und nickte. Das grelle Tageslicht ließ mich fast schwindelig werden; ich wagte mich nicht weit vom Schloss weg. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln — ich war froh, dass sie aus bestem Leder gefertigt waren —, und der Wind blies scharf über die Flussufer. In Riverside
war alles aus Holz und Stein und Gips: Alte Häuser mit bröckelnden Fassaden, viele mit zerbrochenen Fensterscheiben, manche mit Wappen über dem Eingang, und oftmals waren selbst die Hausmauern im Laufe der Jahrhunderte so brüchig geworden wie alter Hartkäse. Die Häuser drängten sich dicht aneinander, als fürchteten sie sich davor, sich zu sehr dem Tageslicht auszusetzen, oder als wollten sie verhindern, dass zwischen ihnen auch nur das kleinste Pflänzchen wuchs. Doch in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen waren erfrorene Wildkräuter und Gräser 85 zu sehen. Allerdings waren die Straßen und Gassen so schmal und eng, dass keine Kutsche durchkommen konnte. Nach einer Weile bemerkte ich, dass mir jemand folgte. Ich bin nicht sicher, wann und warum es mir auffiel, aber ich hatte inzwischen gelernt, es förmlich zu spüren, wenn ich verfolgt wurde. Ich schaute mich nach einem dicken Baumstamm oder Versteck um, entdeckte eine scharfe Häuserecke, bog in eine winzige Seitengasse ein und zog den Degen, dessen Spitze keinen Übungsschutz trug. Es war ein Junge, jünger als ich oder jedenfalls kleiner. Er hatte keinen Degen und trug keinen Mantel. »Kumpel«, stieß er heiser hervor und starrte mich an, ohne auf den blanken Degen zu achten, »haste bisschen Kohle für mich?« Ich hätte ihm ein wenig Geld gegeben, wenn ich welches bei mir gehabt hätte. Ich trug jedoch keine Börse mit mir herum und schüttelte den Kopf. Er ließ den Blick an mir hinunter- und wieder hinaufwandern, von den dick gefütterten Stiefeln bis hin zu meinem Pelzkragen und Pelzhut, und sein Gesichtsausdruck zeigte klar und deutlich, was er davon hielt. »Hilf mir doch«, jammerte er, »ich tu dir auch nichts.« Ich schüttelte noch einmal den Kopf und wollte gerade den Degen in die Scheide zurückschieben, als er unter seinem Hemd herumfummelte und einen Dolch mit flacher, abgenutzter Klinge hervorzog. »Rück's raus, los, mach schon, alles, was du hast!« »Nein.« Um zu töten, musst du auf das Herz zielen, die Kehle oder ein Auge. . . Aber ich wollte den Jungen nicht töten. Auf gar keinen Fall. Das hier war furchtbar: Es gab keine Herausforderung, keine Regeln und keinen Zweck, es ging nur ums Überleben. Ich bewegte mich blitzschnell; er schrie auf, und Blut spritzte in den Schnee. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich nur seine Hand gestreift hatte. Aber er verschwand, bevor ich es genau sehen konnte. »Saubere Arbeit.« Eine Frauenstimme. Sie trat aus dem Schatten eines Hauses, wobei sie den Saum eines dick gefütterten, schmuddeligen grünen Samtmantels hochhielt. Ihr Haar war so grellrot gefärbt, dass es wie ein Bündel Karotten aussah. »Ihr wisst offenbar, wie Ihr Eure Klinge einsetzen müsst. Darf ich Euch ein warmes Getränk anbieten?« Ich war so müde, dass ich keine Antwort zu Stande brachte, sondern nur wortlos nickte. Sie wandte sich um, und ich folgte ihr. Sie ging zielstrebig durch die Gassen, ohne besonders auf die Spurrillen und tiefen Pfützen zu achten. »Ihr seid ein Fremder in der Stadt? Könnt Ihr sprechen? Ein Schluck, denke ich, wird Euch die Zunge lösen, und dann könnt Ihr mir alles über Euch erzählen.« Plötzlich wurde mir klar, was sie von mir wollte und was sie von mir hielt. Ich blieb abrupt in einem Keil aus Licht stehen, der zwischen zwei düsteren Häusern hindurchfiel. »Ich bin ein Mädchen«, sagte ich. »Ich bin die Nichte des Herzogs von Tremontaine.« »Was Ihr nicht sagt!« Die Rothaarige betrachtete mit zusammengekniffenen Augen mein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Er wird jedes Jahr noch verrückter.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Nun gut, Ihr könnt ihm schöne Grüße von Ginnie ausrichten. Ginnie: Er wird schon wissen, wer damit gemeint ist.« Aber natürlich würde ich ihm kein Wort erzählen. Seit meiner Ankunft in Riverside hatte ich meinen Onkel noch nicht zu Gesicht bekommen, und wenn es nach mir ging, würde sich das auch nicht ändern. »Lebt wohl«, sagte ich, »und danke für das Angebot.« »Ihr könntet doch mich auf einen Schluck einladen junge Tremontaine«, schlug die Rothaarige vor. »Wenn ich Geld hätte, würde ich es tun«, antwortete ich lahm.
»Gibt er Euch denn gar nichts, Euer reicher Onkel?«, 86 schnaubte Ginnie verächtlich. »Dann solltet Ihr dafür sorgen, dass er Euch gibt, was Ihr braucht. Er kann es sich schließlich leisten.« Vor Riverside House war der Schnee zu Matsch geworden, von unzähligen Pferdehufen zerstampft und von Wagenrädern tief durchfurcht. Das Schloss bestand nicht aus einem einzigen Gebäude; vielmehr hatte man immer wieder neue Gebäudeteile angefügt, ohne auf eine regelmäßige Abfolge zu achten, sodass sie sich ungleichmäßig und mit versetzten Fassaden aneinanderreihten. In einer Hinsicht jedoch unterschied es sich deutlich von den umstehenden Häusern: Die Fassaden von Riverside House waren gepflegt, die Mauern hatten klare, scharfe Kanten, die Fensterläden waren frisch gestrichen, und die Schieferdächer und Regenrinnen waren in gutem Zustand. Als ich das Schloss verließ, hatte ich den Fehler begangen, nicht zurückzuschauen und mir zu merken, durch welche der vielen Türen ich hinausging. Deshalb musste ich mich jetzt aufs Geratewohl für eine Tür entscheiden oder vielmehr um Einlass bitten, denn sämtliche Türen und Tore waren versperrt und bewacht. Glücklicherweise hatten die Wachen den Befehl bekommen, mich einzulassen. Ich trat in eine große Eingangshalle: Natursteinwände, an denen Gobelins hingen; ein riesiger Kamin, vor dem auf einem roten Teppich dunkle Stühle standen. Offenbar hatte ich die richtige Tür gewählt, denn die Gobelins kamen mir bekannt vor. Ich ging die Treppe hinauf und einen langen Flur entlang. Die Fenster schienen mir hier ein wenig schmaler zu sein als die Fenster meines Zimmers. Nach einer Weile merkte ich, dass ich mich verirrt haben musste. Aus einem der Räume hörte ich Stimmen — Gelächter, wie bei einem Fest. Ich klopfte an. Als keine Antwort kam, öffnete ich die Tür. 86 Im Raum wimmelte es von vollkommen nackten Menschen. »Mach die Tür zu, es zieht!« Mein Onkel, der Irre Herzog, stolzierte in einen prächtigen Morgenmantel gehüllt zwischen den Nackten herum. Er erblickte mich sofort. »Ah, du bist wieder auf den Beinen! Das ist gut-« Er schwenkte eine Flasche Branntwein in der Hand und versuchte, das Getränk einem Mann einzuflößen, der kopfüber von einem Bettpfosten hing, an dem er sich mit den Beinen festklammerte. Auch dieser Mann hatte nicht eine Faser Kleidung an seinem Körper. Ich hatte mich früher schon gewundert, wie lebenstreu und echt die klassischen Statuen im Park von Tremontaine House wirkten; jetzt wusste ich, warum. Ich trat den Rückzug an. »Willst du nicht auch etwas trinken?«, näselte der Herzog affektiert. »Alle anderen hier trinken doch auch was.« Ich hörte mich mit einer Stimme antworten, die mir leise und verloren vorkam. »Ich bin nicht wie alle anderen.« Die Kopfüber-Leute krümmten sich vor Lachen, streckten die Hände nach ihm aus oder begrabschten einander. Entsetzt stellte ich mir vor, dass sie bald auch nach mir grabschen würden. »Bravo!« Er nahm einen Schluck direkt aus der Flasche, hielt sich aber knapp außer Reichweite der Hände. »Bravo, Lady Katherine!« Niemand stand zwischen mir und der Tür. »Ach, übrigens«, sagte ich rasch zu meinem Onkel, denn ich bezweifelte, dass er noch lange auf den Beinen stehen und zuhören konnte, »ich soll Euch herzliche Grüße bestellen. Von Ginnie.« »Tatsächlich?« Der Herzog blickte mich durchdringend an und schwankte leicht. »Sie will immer alles, was ich habe. Elende Kuh. Du kannst Ginnie Vandall ausrichten: Wenn 86 sie dich auch nur berührt, streiche ich ihr die Pension. Ich zahle nicht dafür, dass sie sich in meine Angelegenheiten einmischt ...« Mehr hörte ich nicht mehr, denn ich zog bereits die Tür zu. Ich begriff rein gar nichts - und wollte auch nichts begreifen.
Kapítel 2
Lord Armand Lindley hielt um Lydia Godwins Hand an und es wäre ein sehr ungehobeltes Verhalten gewesen, wenn ihre beste Freundin Artemisia angesichts von Lydias Glück etwas anderes als höchste Freude zum Ausdruck gebracht hätte. Die Godwins und die Lindleys gaben begeistert ihre Zustimmung; die beiden jungen Leute verlobten sich sofort, und ein Datum im Frühjahr wurde für die Hochzeit festgelegt. Aber Lady Artemisia war immer überzeugt gewesen, dass sie als Erste einen Ehemann einfangen würde; sie musste sich daher ständig ermahnen, nicht daran zu denken, als sie Lydia gratulierte und ihren endlosen Zukunftsplänen lauschte. Und natürlich schwor Lydia jeden Tag hundert Mal, dass selbst die Heirat mit dem süßesten Mann der Welt niemals ihre ewigen Freundschaftsbande zu ihrer liebsten Freundin Mi beeinträchtigen würde. Das alles erklärte die besagte Lydia, während die beiden Mädchen in Artemisias Zimmer am Fenster saßen. Ein dunkler und ein blonder Lockenkopf neigten sich über einige Bänderproben, die Lydia mitgebracht hatte, damit ihre Freundin ihr helfen konnte zu entscheiden, welche Farbe sie bei ihrem Verlobungsessen zu Tische tragen solle. Aber die junge Dame war empfindsam genug zu bemerken, dass ihre Freundin allmählich genug hatte von all den Einzelheiten, die es hinsichtlich Lydias bevorstehender Verehelichung zu regeln galt. Deshalb lehnte sie sich in ihrem Fenstersitz zurück und ermunterte Artemisia: »Aber jetzt erzähle mir doch endlich von deinen Verehrern.« 87 Artemisia biss knirschend in einen Keks, »welche Verehrer?« Wenn sie schon nicht die lieblich errötende Verlobte geben konnte, war es wohl am besten, so zu tun, als würde sie allmählich all der Torheiten der Brautwerbung überdrüssig. »Es ist alles so anstrengend! Ich gehe zu den Tänzen, ich bekomme Blumensträuße, aber es gibt niemanden, der mein Herz berührt.« »Aber sicherlich muss es doch einen geben. Was ist mit Greg Talbert? Er ist zwar arm, aber von altem Geblüt und geradezu verrückt nach dir.« »Ach, der.« Artemisia verdrehte die Augen auf eine Weise, die besagen sollte, dass die Sache für sie längst ihren Reiz verloren hatte. »Der ist Schnee von gestern, meine Liebe. Er redet viel, tut aber nichts.« Ihre Freundin gab ein Geräusch von sich, das freudig-entsetztes Erschaudern andeutete. »Das kannst du doch nicht im Ernst meinen!« Artemisia schlug den Blick zu Boden. Das hatte sie einmal bei Lady Hetley beobachtet, und es war ihr sehr mondän vorgekommen. »Kann ich das nicht?« »Nun denn... was ist mit Lord Ferris? Er jedenfalls hat dir seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet.« Artemisia kreischte geziert auf. »Als Liebhaber? Aber er ist doch viel zu alt« Dann erinnerte sie sich, dass sie mondän wirken wollte, und lächelte ironisch. »Er hat die besten Manieren, das muss man ihm lassen. Und er hat mir die wunderbarsten Rosen geschickt. Hier, riech doch mal daran.« »Hmm, sie duften wunderbar.« Lydia vergrub ihr Gesicht in den Blüten. »Die waren bestimmt sehr teuer. Also gut, Terence Monteith?« »Schneeglöckchen.« Ihre Freundin gestikulierte vage zu einem winzigen Blumenstrauß auf dem Tisch. »Trotzdem... es ist jedenfalls offenkundig, dass er sehr von dir eingenommen ist.« 87 Artemisia gähnte geziert. »Ach, er ist ja ein ganz hübscher Junge, aber so furchtbar langweilig! Außerdem... wer sind schon die Monteiths? Und er ist auch nur der zweite Sohn, was könnte er seiner Frau schon bieten? Sobald er eine findet, wird er wieder aufs Land ziehen und das Gut seines Bruders verwalten. Ich will in der Stadt leben, will Schmuck und Kleider haben! Wie ich dich doch um deinen Lindley beneide, meine Liebe!« Lydia errötete. »Er gehört mir noch nicht. Aber es würde mir nichts ausmachen, wenn Armand so arm wie ein Ziegenhirt wäre. Ich glaube, ich würde überall mit ihm leben wollen, wenn ich nur seinen starken Arm um mich spüre, wenn ich nur in seine Augen blicken und sehen kann, wie sehr er mich liebt.« »Siehst du?«, seufzte Artemisia. »Das ist wahre Liebe. Ich glaube, sie hat aus dir bereits eine Frau gemacht, Lydia, das glaube ich wirklich. Deine Augen, ja, es liegt eine tiefe Schön-
heit in deinem Blick, die früher nicht darin lag.« Sie nahm die Hände ihrer Freundin. »Wie sehr ich dich beneide!« »Oh, meine liebste Mi!« Lady Artemisias Zofe unterbrach den mädchenhaften Austausch von Vertraulichkeiten mit der Nachricht, dass ihr Vater sie unverzüglich im Frühstücksraum zu sprechen wünsche. Und so waren die Freundinnen gezwungen, sich voneinander zu verabschieden, wobei sie sich versicherten, alle sich stellenden Fragen stets gemeinsam zu beraten. Im Frühstücksraum fand Artemisia nicht nur ihren Vater, sondern auch ihre Mutter vor. Artemisia knickste, wobei sie verzweifelt überlegte, was sie nun wieder angestellt haben mochte. Die Sache mit dem Papagei konnten sie unmöglich herausgefunden haben. Und falls doch, würde sie ihre Zofe mit eigenen Händen erwürgen, das nahm sie sich fest vor. »Tochter«, hub ihr Papa an, »ich habe sehr erfreuliche Neu 88 igkeiten für dich.« Also ging es doch nicht um den Papagei. Vielleicht war ihre Schneiderrechnung niedriger ausgefallen als erwartet, oder der Schuhmacher hatte die Lieferscheine verlegt. »Anthony Deverin, Lord Ferris, Kanzler des Großen Kreises, Vorsitzender des Rats der Lords, hat uns ersucht, dir seine Ehrerbietung erweisen zu dürfen, und wenn du einverstanden bist, fangen wir gleich mit der Sache an.« Artemisia spürte plötzlich, dass ihr außerordentlich warm wurde, und als sie wieder ihre Sinne beieinander hatte, saß sie auf der Couch, und der Geruch von Hirschhornsalz stieg ihr in die Nase. »Wirklich, Fitz«, schimpfte ihre Mutter, »ich wusste doch, dass du die Sache wieder einmal vermasseln würdest.« Sie nahm die Hand ihrer Tochter. »Hör mir zu, Kind, einer der wichtigsten Adligen der Stadt möchte dich zur Mutter seiner Erben und zur Herrin seiner Güter machen. In der ganzen Stadt wird es kein Mädchen geben, das nicht krank vor Neid würde. Und übrigens auch keine Mutter, möchte ich wetten! Wenn du erlaubst, dass er dir den Hof macht, werden wir dafür sorgen, dass Lord Ferris einen sehr anständigen Ehevertrag mit uns schließt und dir eine hübsche Zuwendung gewährt — sodass du so viele Kleider, Schuhe, Schmuck, Handschuhe bekommst, wie du haben willst. Und natürlich auch Häuser, die du nach deinem Geschmack einrichten lassen kannst. Auch deine Mitgift ist nicht zu verachten, damit du standesgemäß leben kannst. Du wirst eine der führenden Damen der Stadt sein, direkt nach Lady Godwin, was hältst du davon?« Artemisia brachte ein Lächeln zu Stande. »Du würdest noch höher stehen als deine Freundin Lydia und der ganze Rest ihrer Familie, würde dir das nicht gefallen?« Artemisia sog die Luft ein, als wäre es der erste Atemzug, seit sie den Raum betreten hatte. »Doch, Mama. Danke, Mama.« Ihr Vater beugte sich über die Rückenlehne der Couch. »Wie wär's mit einem Kuss für deinen lieben Papa? Hüb88 sches Vögelchen — wusste doch, dass er dir nicht widerstehen könnte. Und natürlich konnte er es auch nicht, oder? Ha ha!« Ihr Vater roch nach Whiskey und Rasierwasser. Lord Ferris, dachte Artemisia, war vermutlich sogar noch älter als er. Aber im Gegensatz zu ihrem Vater, der ein wenig bequem und nachlässig geworden war, war Ferris schlank und gepflegt und stets nach der neuesten Mode gekleidet. Und wusste immer, was er wie zu sagen hatte. Ihre Mutter nahm eine kleine Schatulle von einer Anrichte und reichte sie ihr. »Er hat ein Geschenk für dich zurückgelassen. Keine Blumen dieses Mal.« Artemisia nahm die Schatulle in Empfang und öffnete sie. Auf den Falten der Samteinlage glitzerte ein Halsband: ein wunderbar gearbeitetes Collier im neuesten Stil, das genau richtig war, um von einem jungen Mädchen täglich getragen zu werden. Die gewundenen Glieder waren aus Gold, an denen Saphire hingen. Auf einer Begleitkarte stand: »Der wunderbarsten Frau der Stadt — die das Herz eroberte von Anthony Deverin, Lord Ferris.« Artemisia atmete den Duft ihres zukünftigen, vergoldeten Lebens ein. Und fragte sich, was wohl Lydia dazu sagen würde.
Kapitel 3
Auch als ich wieder gesund war, besuchte mich der Diener des Herzogs immer wieder. Offenbar las Marcus gerne. Er brachte mir einen Band Gedichte und fragte, ob wir darüber sprechen könnten. »Das ist eine neue Modeerscheinung«, erklärte er. »Die Gelehrten sind ganz verrückt danach. Sie glauben, darin mische sich Empfindung mit Wissenschaft.« Ich gab mir Mühe. Die neue Lyrik beschäftigte sich offensichtlich recht intensiv mit Sphären: den Bewegungen der Himmelskörper und den Schwingungen des Herzens. Aber ich wusste noch nicht viel über die Bewegungen der Gestirne, hatte sie nur manchmal nachts beobachtet. Ich dachte an den sternenfunkelnden Nachthimmel über Highcombe zurück, die klare Luft und die Stille am Feuer. Dann blickte ich auf die Wörter, die auf den Seiten des Buches standen, und fühlte mich von ihnen wie erschlagen, sodass ich nicht mehr weiterlesen mochte. Niemand sagte etwas über Unterricht im Degenfechten, deshalb übte ich allein. Der Flur vor meinem Zimmer war sehr lang, und niemand schien dort etwas zu tun zu haben, und nach einer Weile hatte sich auch Betty daran gewöhnt, vorsichtig um die Ecke zu schauen, bevor sie in den Flur einbog. Ich führte nicht nur meine normalen Übungen fort, sondern stellte mir meine Gegner sehr genau vor, oder ich kämpfte gegen meinen eigenen Schatten an den Wänden. Manchmal glich der Stil meiner Gegner dem meines 89 Meisters, und er war der beste Gegner, den ich mir vorstellen konnte. Ich fragte mich, wie wohl ein Kampf gegen Venturus jetzt ausgehen würde. Manchmal stellte ich ihn mir als Gegner vor, und ich gewann immer. Oft ging ich aus dem Haus, gut eingehüllt in Mantel, Schal und Hut. Den meisten Leuten unterlief Ginnies Fehler: Sie nannten mich »Sir«, weil sie von mir nichts weiter zu sehen bekamen als Kleider und einen Degen. Ich fand keine Gelegenheit mehr, die Waffe zu ziehen: Es waren stets so viele Männer des herzoglichen Haushalts im Stadtteil unterwegs, dass Riverside nicht mehr so war wie zu Zeiten meines Lehrmeisters. Ich sah Wächter und Diener und livrierte Boten des Herzogs, obwohl nicht all seine Bediensteten die grünsilbernen Farben des Herzogs trugen. Einigen der Männer war ich schon im Schloss begegnet und erkannte sie in den Gassen wieder, wenn sie im Auftrag des Herzogs unterwegs waren. Was diese Geschäfte sein mochten, hatte Betty nur angedeutet. Eine Menge Namen, die mir nichts sagten, manchmal spielte Geld eine Rolle, manchmal wurden verhüllte Drohungen übermittelt, und in einigen Fällen wurden die Drohungen wahr gemacht. Als ich Betty gegenüber Ginnie erwähnte, sagte sie nur: »Armes Ding. Haltet Euch bloß von Ginnie Vandall fern. Sie weiß, womit sie sich nützlich machen kann, aber nicht für Euch.« Ich fragte nicht weiter nach, denn nichts davon ergab für mich einen Sinn. Das waren die Angelegenheiten meines herzoglichen Onkels und gingen mich nichts an. Eines Tages gab mir Marcus eine in Gold ziselierte Spange. »Was ist das?« »Eine Haarspange. Wenn Ihr schon mit langem Haar wie die Studenten herumlaufen müsst, solltet Ihr es wenigstens wie sie zusammenbinden.« Die Spange sah zu wertvoll aus, sie konnte kein Geschenk von ihm sein. »Gehört sie ihm?« 89 »Er dürfte sie kaum vermissen.« »Ich will sie nicht haben.« Marcus grinste. »Hab mir gedacht, dass Ihr das sagen würdet.« Er fischte ein zerknülltes schwarzes Haarband aus der Tasche. »Hier Versucht es mal damit.« Ohne in den Spiegel zu blicken, zog ich mein Haar in den Nacken und band es zusammen. »Wohin wollt Ihr eigentlich, Kate?« »Weiß ich nicht. Raus.« »Ihr könntet Euch dort draußen verirren.« »Ich war schließlich schon öfters draußen und habe meinen Weg immer zurückgefunden. Man kann ja nicht gerade behaupten, niemand wüsste, wo dieses Haus steht.« »Das stimmt.« Er trat an eines der Fenster und kratzte mit dem Fingernagel kleine Spiralmuster auf die zugefrorene Scheibe. »Letztes Jahr fror der Fluss völlig zu, und wir konnten unter der Brücke hindurch Schlittschuh laufen.« »Ich kann auch Schlittschuh laufen. Zuhause konnten wir immer auf dem Ententeich laufen.« »Richtig, Ihr stammt ja vom Land. Ich war nur einmal draußen auf dem Land. Hasste es.«
»Warum?« Er runzelte die Stirn. »Zu viel Lärm.« Ich musste lachen. »In Riverside gibt es keinen Lärm?« »Na ja.« Marcus kratzte größere Spiralen um die kleinen Spiralen. »Aber der Lärm hier... der stammt nur von den Leuten. Man weiß immer, wo man ist.« »Sie schlafen nie. Ich höre sie die ganze Nacht hindurch. Gestern Nacht bin ich aufgewacht, und als ich ans Fenster trat, taumelten draußen Männer mit Fackeln herum.« Marcus zuckte die Schultern. »Der Herzog veranstaltet manchmal Gesellschaften. Hier ist es anders als im Haus auf dem Hügel. Vor allem im Winter. Hier sind die Zimmer kleiner. Wollt Ihr Euch nicht ein wenig umsehen?« 90 »Das Schloss erkunden? Ich dachte, ich dürfte ihm nicht vor die Augen treten?« »Wirklich?« Er drehte sich zu mir um. Ein einfaches Gesicht mit offenem Blick aus braunen Augen. »Ich habe keine solche Anweisung bekommen.« Das kam ihm ein bisschen zu leicht über die Lippen. O j a , dachte ich, du hast deine Anweisungen. Der Kammerdiener des Herzogs verbrachte schließlich nicht so viel Zeit mit mir, weil ihm danach zumute war. Ich fragte mich, ob er den Auftrag hatte herauszufinden, ob ich verrückt oder rachsüchtig war? Mich ablenken sollte? Oder unterhalten und aufmuntern sollte? »Zeig mir dein Zimmer!«, befahl ich barsch. »Du hast mein Zimmer gesehen. Jetzt will ich deins sehen.« Vor ungefähr hundert Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen war und zuhause lebte, hätte ich niemals den privaten Bereich der Bediensteten betreten. Aber hier, im Schloss des Irren Herzogs, war nicht so klar zu unterscheiden, welche Stellung Marcus hatte und welche mir zukam. Und wenn Marcus mir nachspionierte, dann würde ich es ihm gleichtun. »Wie Ihr wollt.« Mein unwirscher Befehlston schien ihm nichts auszumachen. Er war wohl durch die Launen meines Onkels längst abgehärtet. Einige der Flure waren weiß und schienen neu gestrichen worden zu sein; in anderen waren die Wände mit dunklen, wurmstichigen Paneelen verkleidet und schienen nichts weiter zu sein als schier endlose Reihen von Zimmertüren. Auch die Beläge unter unseren Füßen wechselten, als wir von einem Flügel zum nächsten gingen: Manche Flure waren mit Steinplatten belegt, andere mit Dielen, wieder andere waren gefliest. Es gab viele Treppen und Durchgänge; die vielen Richtungsänderungen waren verwirrend. Der Straßenlärm drang nur gedämpft herein, und sämtliche Türen waren geschlossen. Einmal traten wir plötzlich in eine Galerie hi 90 naus, die sich an einem Innenhof entlangzog, in dem ein paar Leute Wasser aus einem alten Steinbrunnen heraufzogen. Ich war ziemlich sicher, dass mich Marcus auf langen Umwegen zu seinem Zimmer führte. Aber das konnte ich ihm kaum vorwerfen. In einem Flur, dessen Fenster diamantförmige Butzenscheiben hatten, blieb er vor einer großen dunklen Tür stehen. »Hier ist es.« Ich hatte eine kleine Kammer irgendwo im Dachgeschoss erwartet oder allenfalls am oberen Ende der unscheinbarsten Treppe, mit geweißten Wänden und nur den allernötigsten Möbeln. Tatsächlich war Marcus' Zimmer größer als mein eigenes. Die Wände waren mit poliertem Eichenholz verkleidet, moderne Landschaftsgemälde und ein paar Landkarten hingen daran. Es gab ein Buchregal, und ein Sheshspiel aus Gagat und Elfenbein stand auf einem Tisch vor dem Fenstersitz. Auch das Bett war neu, mit Bettvorhängen aus Wolle und mit einem riesigen Federbett, das an den Ecken in nahezu perfekter Symmetrie aufgeplustert war. Bei diesem Anblick ging mir eine Menge durch den Kopf, aber nichts davon konnte ich ihm ins Gesicht sagen. Auf dem Sitzplatz in der Fensternische lagen dicke Kissen. Marcus ließ sich auf die Polster fallen und machte es sich bequem, ohne im Geringsten verlegen zu sein, ein so reich ausgestattetes Zimmer zu bewohnen. Es schien ihm auch nichts auszumachen, dass ich
bezüglich seines Verhältnisses zum Herzog bestimmte Schlussfolgerungen zog. Die konnten natürlich auch völlig falsch sein... »Könnt Ihr Shesh?«, fragte er. »Nur ein wenig. Ich kenne die Figuren und weiß, wie man sie bewegt, aber ich spiele nicht sehr gut.« »Setzt Euch«, sagte er. »Ihr werdet besser, je öfter Ihr es spielt.« 91 Ich setzte mich. Er nahm einen schwarzen und einen weißen Bauern in die Hände und ließ mich wählen. Ich hatte den ersten Zug. Er beobachtete mich aufmerksam wie ein Degenfechter. Das machte mich nervös, aber ich tat so, als bemerkte ich es nicht. Ein schwerer Schlag auf Holz dröhnte durch das Zimmer und ließ die Spielfiguren auf dem Brett tanzen. Durch die dicken Wände hörte ich einen Schrei. Ich hatte übersehen, dass es noch eine weitere Tür gab — schlechte Beobachtung, immer gefährlich, erinnerte mich mein Lehrmeister. Marcus blieb sitzen und ließ lässig ein Bein baumeln. Er tat nicht so, als hätte er den Schrei nicht gehört, aber seine einzige Reaktion war ein leichtes Lächeln. Dann war ein lauter Ruf zu hören, kurz darauf erneut ein dröhnendes Krachen auf der anderen Türseite. »Mein Zimmer ist direkt neben seinem«, erklärte Marcus. »Wirklich?« »Falls er etwas braucht.« Wieder Lärm. Dieses Mal klang es, als hätte jemand eine Glasscheibe zerschmettert. Ich legte die Hand auf den Dolchgriff, konnte es einfach nicht vermeiden. »Glaubst du nicht, dass er jetzt etwas braucht?« Marcus schüttelte den Kopf. »Nö. Das ist nur Raffaela. Sie wird wütend, wenn er auf dem Boden liegt und sie auslacht. Dann fängt sie immer an, mit Sachen nach ihm zu werfen, und dann fängt er auch damit an.« Ich fuhr vom Sitz hoch, als wieder gewaltiger Lärm ertönte. »Wäre mir natürlich lieber, er würde das bleiben lassen«, fuhr Marcus fort. »Hinterher tut es ihm immer leid. Er mag es eigentlich nicht, wenn Sachen zerbrochen werden.« Das war kaum zu glauben bei dem Lärm, den sie machten. »Ich dachte, er macht sich nichts aus Frauen?«, fragte ich vorsichtig. Marcus stellte eine Sheshfigur auf, die umgefallen war. »Bin 91 nicht sicher, ob er im jetzigen Zustand noch einen Unterschied erkennen kann.« »Oh.« Sie machten jetzt sehr viel Lärm. »Hört er denn nie auf?« »Nicht, seit Ihr zurück seid. Er hat eine Menge Zeug eingenommen, geraucht und getrunken. Ich hab das Gefühl«, erklärte Marcus und rückte eine Figur genau in die Mitte eines Quadrats, »dass er in Highcombe keine sehr angenehme Zeit erlebt hat.« Jetzt endlich begriff ich. Deshalb also hielt sich Marcus so eng an mich: Er wollte wissen, was in Highcombe mit dem Herzog geschehen war. »Ich weiß nichts darüber«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Ich schlief meistens, und danach wurde ich krank.« Marcus nickte. »Wisst Ihr denn überhaupt, dass er den jungen Davenant und zwei Freunde für die Jahresendfeier nach Highcombe eingeladen hatte? Er nahm sie mit und ließ sie dann einfach in der Großen Halle sitzen. Ohne Feuer, ohne Essen, ohne Betten, ohne Licht. Sie mussten zusehen, wie sie allein in die Stadt zurückfanden.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber natürlich hätten sie es besser wissen sollen. Allerdings schien das den Reiz für sie auszumachen. Davenants Vater hat dem Herzog einen wütenden Brief geschickt, und Galings Rechtsanwalt fordert Schmerzensgeld für die erlittene Unbill. Was ziemlich dumm ist: Die Geschichte wird dadurch erst recht in der ganzen Stadt bekannt, und der Herzog macht sie zum Gespött aller anderen. Die Leute reden schon darüber.« Allmählich begann ich einen Sinn zu erkennen. »Tut er es deshalb?«, fragte ich langsam. »Egal wie schlecht er sich benimmt oder was er auch tut, er schafft es doch immer, dass andere noch schlechter aussehen? Oder sich jedenfalls so fühlen?« Marcus warf mir einen Blick zu, als wäre ich plötzlich interes 91 santer als die Sheshfiguren. »Ich denke es. Aber in Highcombe ist etwas, das ihn in schlechte Stimmung versetzt. Und ich glaube nicht, dass es etwas mit Petrus Davenant zu tun hat.«
Ich dachte an das Gesicht des Herzogs am Jahresendtag, erleuchtet von zaghaftem Fragen und dem Kaminfeuer. »Nein, das glaube ich auch nicht.« »Marcus!« Der Herzog brüllte nach ihm. »Marcus, bring die Dame zur Tür!« »O nein!« Marcus schauderte. »Ich nicht. Letztes Mal, als ich dieses Weib hinausschleppen wollte, fiel sie über mich her. Sie kratzt. Ich werde die Wache rufen, die tragen reißfeste Kleider.« Ich blieb allein in seinem sonnenüberfluteten Zimmer zurück. Zwecklos, überhören zu wollen, was nicht zu überhören war. Die Frau kreischte: »Du Bastard! Du Bastard! Ich hasse dich!«, und irgendetwas krachte gegen eine Wand. Ich stand an der Tür und überlegte, ob ich sie einen winzigen Spalt breit öffnen solle, konnte mich aber nicht dazu entschließen, weil ich mich vor dem fürchtete, was ich wahrscheinlich zu sehen bekommen würde. »Das kannst du mit mir nicht machen! Mit mir nicht! Wer außer mir wäre sonst noch gut genug für einen Bastard wie dich?« Ich schloss die Augen und lauschte, wie es mir der Lehrmeister beigebracht hatte. Der Herzog stolperte über etwas, fiel schwer zu Boden und fluchte. Plötzlich fiel mir ein, dass ich zu seiner Leibwächterin ausgebildet worden war. Sollte ich in sein Zimmer stürzen? Würde ich eines Tages bei diesen... nun, diesen Vorgängen Wache halten müssen? Ich schnaubte. Und wenn, was sollte ich mit seinen zurückgewiesenen Geliebten anfangen? Sie aus dem Stand mit einem Stoß aufspießen? Doch da kam Marcus mit ein paar Wächtern zurück, und ich konnte genau hören, was sich dann abspielte. Das war eindeutig eine Arbeit, die andere erledigen sollten. 92 Endlich wurde es nebenan wieder still. Marcus kam zurück und ließ sich wieder am Fenster nieder. »Ist sie schön?«, fragte ich. »Sie ist eine Sängerin. Berühmt, denke ich. Jedenfalls hörte er sie bei einer Abendgesellschaft singen, und schon war es passiert.« »Was ist aus Alcuin geworden?« »Wer? Ach, der. Der ist weg. Verschwand, kurz nachdem Ihr weg wart. Machte ziemlich viel Schwierigkeiten!« Marcus nahm eine Birne aus der Obstschale und gab auch mir eine. Wir aßen schweigend, dann sagte ich: »Komm, wir gehen raus.« Marcus schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Kann sein, dass er mich braucht.« Ich blickte mich in dem luxuriösen Zimmer um, das so viele Möglichkeiten bot, sich zu beschäftigen. »Möchtest du, dass ich hier bleibe?« Ich versuchte, mein Zögern zu verbergen, so gut es ging. »Wir könnten das Spiel zu Ende bringen.« Aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung sagte er: »Nein, lieber nicht. Es wird ziemlich viel Arbeit sein, alles wieder in Ordnung zu bringen.« »Können das nicht die Zimmermädchen...« »Das habe ich nicht gemeint. Ihr müsst allein gehen, Kate. Habt Ihr schon mal die Kuchen bei Martha versucht?« Das klang, als wäre ich huldvoll entlassen, aber ich war keineswegs traurig darüber, verschwinden zu können. Lady Artemisia Fitz-Levi, zukünftige Braut von Anthony Deverin, Lord Ferris, saß allein in ihrem Fenstersitz. Auf ihrem Schoß lagen allerlei Papiere, und sie war damit beschäftigt, die Einladungsliste für ihre Verlobungsfeier zusammenzustellen. Ihre Mutter hatte versucht, ihr dabei zu helfen, aber sie hatte sie aus dem Zimmer gejagt, denn sie war überzeugt, diese Ar 92 beit selbst besser erledigen zu können. Doch es war schwieriger, als es zunächst ausgesehen hatte, Antworten auf die vielen Fragen zur Sitzordnung, zum Rang der Gäste und zum Tischschmuck zu finden. Daher war sie erleichtert, als Dorrie hereinkam und meldete, Lucius Perry habe soeben vorgesprochen. Sie ließ ihren Cousin sofort in ihr Zimmer führen. Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange. »Ich gratuliere, Mylady! Du hast den höchsten Preis errungen, kein Zweifel. Alle freuen sich höllisch.« Er blickte in ihr gequältes Gesicht. »Aber wie geht es dir?«
»Es ist eine Last«, antwortete sie. »Lucius, ich habe immer geglaubt, all unsere Freunde verstünden sich prächtig, aber jetzt muss ich feststellen, dass Petrus Davenant und Albright Galing kaum noch miteinander reden.« »Aha, die Verlobung hat dich ernüchtert.« Lucius ließ sich elegant in einen Sessel am Fenster sinken. »Wie lieb, dass du dir über zwei ungebundene junge Männer den Kopf zerbrichst.« »Nun, sie waren früher sehr eng miteinander verbunden gewesen, das weiß doch jeder. Ich wollte sie beide zu meiner Verlobungsfeier einladen, weil sie doch immer so unterhaltsam waren, aber jetzt kann der eine kaum in ein Zimmer treten, ohne dass der andere sofort verschwindet.« »Ach so.« Lucius Perry fummelte an seiner Manschette. »Das meinst du also.« »Erzählst du mir, warum? Oder fummelst du so lange an dem Manschettenknopf herum, bis du ihn ruiniert hast?« »Spielt keine Rolle«, sagte er. »Wenn du nur einen einlädst, muss es Petrus Davenant sein, weil sein Vater ein enger Vertrauter von Lord Ferris ist. Und wenn du Alb Galing einlädst, wird der alte Davenant nicht kommen.« »Das weiß ich doch alles längst, du Schaf. Von dir will ich nur wissen, warum das so ist.« 93 »Weil Davs Vater überall herumerzählt, dass Alb seinen Sohn verdorben habe.« »So ein Scheinheiliger!« »Nicht weil sie einander so eng >verbunden< waren, wie du es ausdrückst, sondern weil Dav durch die Verbindung verleitet wurde, sich dem Gegner aller guten und anständigen Menschen der Stadt anzuschließen, dem Irren Herzog von Tremontaine.« »Oh!« »Ja, oh. Das wurde dann noch auf die Spitze getrieben, als der Irre Herzog die beiden am Jahresendtag irgendwo auf dem Land sitzen ließ und sie selbst zurück nach Hause finden mussten.« »Meine Mutter würde sagen, dass es ihnen recht geschah. Man sollte eigentlich denken, dass sich Davs Vater darüber hätte freuen sollen!« »Meine liebe Artemisia, versuche doch bitte, das ganze Bild zu sehen. Das ist sowohl eine politische als auch eine persönliche Angelegenheit: Im Rat der Lords sind Lord Davenant und der Herzog politische Gegner, und Petrus Davenant war sich dieser Tatsache voll bewusst, als er sich mit dem Herzog einließ.« Artemisia warf ihm einen, wie sie glaubte, wissenden Blick zu, den Lucius aber verpasste, weil er gerade aus dem Fenster blickte. »Immer die alte Geschichte: Junge kommt in die Stadt, widersetzt sich seiner Familie, Familie erfährt davon, und schon gibt es Krach. Dabei hatte Dav noch Glück, dass er die Schuld jemand anders zuschieben konnte.« »Du meine Güte!« Artemisia beugte sich vor; ihr gestreiftes Taftkleid raschelte. Die Papiere auf ihrem Schoß hatte sie völlig vergessen. »Ich glaube nicht, dass Albright Galing so denkt. Geht es hier um Politik? Vermutlich muss ich alles darüber lernen, wenn ich Lord Ferris' Haushalt leiten soll und ständig Gesellschaften ausrichten muss. Also erkläre mir bitte noch einmal, wer wen warum und wieso nicht ausstehen kann?« 93 Im Verlauf des Winters brachte mir Marcus das Sheshspiel bei. Ich würde ihn nie schlagen können, aber zumindest konnte ich ihm jetzt ein gutes Spiel liefern. Wenn es Schwindel war, den Gegner gewinnen zu lassen, dann schwindelte er manchmal: Ich spürte, dass er mich beobachtete, während ich mich Zug um Zug in der Strategie voranarbeitete, die ich mir zurechtgelegt hatte, und wenn ich mich dann gerade zu meinem Erfolg beglückwünschen wollte, stieß er wie ein Habicht mit einem raffinierten Zug auf mich herab und warf meine ganze schöne Strategie über den Haufen. Aber das machte mir nicht viel aus, es war schließlich nur ein Spiel. Für die echten Duelle hatte ich einen neuen Partner bekommen, einen jungen Degenfechter namens Phillip Drake, offenbar ebenfalls ein ehemaliger Schüler von Venturus. Phillip verlangte, dass ich mehr üben solle. In unseren Kämpfen zeigte er keinerlei Gnade, und besonders viel Freude fand er daran, mich ständig auf meine Fehler hinzuweisen und mir unentwegt einzuhämmern, was ich tun könne, um mich zu verbessern. Wenn ich gut gekämpft hatte, wollte er gleich noch einmal kämpfen. Da ich nicht viel anderes zu tun
hatte, übte ich auch zwischen den Übungsstunden sehr hart. Die Übungskämpfe ermüdeten mich kaum noch, und Phillip fand immer weniger auszusetzen. Er sagte zwar, ich hätte noch einen langen Weg vor mir, bevor er mich auch nur für einen Kampf gegen einen echten Gegner in Betracht ziehen wolle. »So gut seid Ihr nämlich noch nicht«, erklärte er mir dann, »aber hier und da schafft Ihr einen recht guten Angriff.« Ich erzählte ihm nicht, dass St.Vier mein zweiter Lehrmeister gewesen war, aber er erkannte es stets dann, wenn ich von den Paraden und Finten abwich, die ich bei Venturus erlernt hatte. Wann immer ich seine Verteidigung durchbrach, hielt er inne, pfiff leise durch die Zähne und schüttelte den Kopf: »Nun, es funktioniert. Ist zwar kein besonders eleganter Stil, aber es funktioniert.« 94 Da ich öfters mit Marcus zusammen war, begegnete ich auch dem Herzog häufiger als zuvor, weil dieser von ihm verlangte, sich immer in seiner Nähe aufzuhalten. Und so sah ich meinen Onkel mitunter betrunken oder auf sonstige Weise bewegungsunfähig. Ich konnte ihn auch bei alltäglichen Verrichtungen beobachten, etwa wenn er die Buchhaltung überprüfte, Briefe diktierte, den Speiseplan billigte oder neue Vorhänge bestellte. Mir gegenüber erwähnte er Highcombe nie; er sprach auch nicht über das Degenfechten und redete kaum über andere Dinge. Er behandelte mich gewissermaßen wie eine von Marcus' Bekannten, die zufällig zu Besuch gekommen war und sich im Haus genauso gut nützlich machen konnte, wenn sie nun schon einmal hier war. Also half ich Marcus bei seinen Besorgungen und lernte, mich allein im Haus und in der Stadt zurechtzufinden. Marcus wusste auch immer, wann er zu verschwinden hatte, und ich folgte seinen Hinweisen: In Tremontaines Leben gab es bestimmte Augenblicke, bei denen keine Augenzeugen zugelassen waren, und das galt auch für bestimmte Besucher, die ins Schloss Riverside kamen. Eines Tages saßen wir im Flur vor einem sehr prächtigen Raum, der in allen Schattierungen von azurblauer und violetter Seide ausgekleidet war. Dieser Raum vermittelte immer den Eindruck der Dämmerung. Wir saßen in einer von der Sonne durchfluteten Fensternische und spielten Astragale, während sich Marcus bereithielt, zum Herzog gerufen zu werden. Er schien nicht zu wissen, dass es ein Mädchenspiel war; tatsächlich beherrschte er das Spiel recht gut. Ein schmächtiger, modisch gekleideter Mann mit glattem schwarzem Haar ging leise an uns vorbei und betrat den Raum mit dem seltsamen Dämmerlicht. Trotz seines eleganten Äußeren bewegte er sich wie jemand, der wusste, wie er unbemerkt bleiben konnte. Auf mich wirkte er wie ein modebewusster Otter, der durch die Flure glitt. Deshalb schaute ich 94 ihn genau an, bemerkte seine hübschen Ringe, die Schuhe aus weichem Leder, die Kleidung aus sehr feinem Samt und sehr stark zerknittertem Leinen, und ich bemerkte auch sein Haar, das ein wenig lang sein mochte, aber offenbar so gepflegt wurde, dass es immer dieselbe Länge behielt. Seine Hände blieben sehr still, selbst als er an der Tür wartete, bis er aufgefordert wurde, näher zu treten. Ich schaute ihn an, und mir schien, dass ich ihm schon einmal begegnet sein musste, doch konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wo es gewesen war. »Wer ist das?«, flüsterte ich Marcus zu. »Was glaubt Ihr wohl?« Als der junge Mann die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, erklärte Marcus: »Einer seiner Spieljungen. Von Madame Glinleys Etablissement.« »Madame Glinleys Etablissement?« Marcus betrachtete seine Fingernägel, kratzte ein wenig Schmutz darunter hervor und meinte beiläufig: »Madame Glinleys Etablissement für... dreimal dürft Ihr raten. Aber was kann eine wohl erzogene junge Dame wie Ihr schon darüber wissen? Kurz gesagt: Es ist das beste Bordell in Riverside. Dieser Bursche taucht ein Mal in der Woche hier auf, um seinen kleinen Hausbesuch abzustatten. Dauert nicht lange.« Ich starrte die Tür an. »Er gefällt mir, weil er so völlig harmlos aussieht, nicht wahr? Aber meine Liebe, er ist vom Laster durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Er nimmt Geld dafür, dass er sich Fremden für sexuelle Vergnügungen hingibt. Seid Ihr nun geschockt? Bitte sagt, dass Ihr geschockt seid, Katie.«
»Halt die Klappe, Marcus.« Das befahl ich ihm ganz automatisch, aber weil ich noch mehr erfahren wollte, fügte ich hinzu: »Ja, ich bin geschockt, glaube ich. Aber nicht deshalb. Ich glaube nicht, dass er wirklich zu diesen... Bordellleuten gehört. Er ist schließlich ein Adliger. Ich habe ihn schon mal irgendwo gesehen.« »Wü-ü-ürklich? Wo?« 95 Seine affektierte, gedehnte Redeweise brachte mich zum Kichern. »Du weißt gar nicht, wie sehr du wie jemand anders klingst!« »Was meint Ihr damit?« Ich musste ihm nicht mehr antworten, denn die Tür ging wieder auf, und der junge Mann trat aus dem Zimmer. Seine Leinenbluse war jetzt ein wenig besser geordnet. Er stand mit dem Rücken zu uns im Türrahmen, verneigte sich leicht zum Innern des Raumes hin und sagte nur ein einziges Wort: »Tremontaine.« Und in diesem Augenblick fiel mir wieder ein, wo ich ihm begegnet war. Ich packte Marcus unwillkürlich am Arm, sagte aber nichts, weil sich der Mann nun umwandte, während er die Tür hinter sich zuzog. Schnell beugte ich den Kopf und sammelte die Würfel in meinem Schoß zusammen, damit er mein Gesicht nicht zu sehen bekam und mich am Ende sogar wiedererkannte. Das war der junge Mann, der mich bei meiner Freundin Artemisia ausgelacht hatte, als ich zu ihr gegangen war, um sie um Hilfe zu bitten. Vielleicht war er schuld daran, dass sie keinen meiner Briefe beantwortet hatte, vielleicht war er ihr Bruder oder einer ihrer Verehrer. Wenn dem so war, hatte sie bestimmt keine Ahnung, was er wirklich war. Marcus sprach den Mann an, frech wie eine Krähe, aber hier im Haus des Herzogs brauchte sich Marcus vor niemandem zu fürchten. »Braucht Ihr Hilfe, Sir, oder findet Ihr den Weg selbst hinaus?« »Ich kenne den Weg«, sagte der Mann milde. »Soll ich Euch eine Sänfte rufen lassen?« In der Stimme des Mannes konnte ich ein Lächeln hören. »Ich gehe zu Fuß, danke sehr.« Er wandte sich von uns ab und ging rasch den Flur entlang. Kaum war er um die nächste Ecke gebogen, als ich auch schon meinem Freund ins Ohr zischte: »Wie heißt er?« 95 »Keine Ahnung. Sollen wir den Herzog fragen?« »Nein! Ich werde ihm folgen.« » Was willst du? Warum? Katie, was ist nur los mit dir? Und warum flüsterst du?« »Ich erzähle es dir später.« Mir fiel gar nicht auf, dass er mich plötzlich wie eine Gleichgestellte angeredet hatte. Ich merkte mir, in welchen Flur der Mann eingebogen war, und nahm einen anderen Ausgang, von wo aus ich ihn beim Verlassen des Schlosses beobachten und feststellen konnte, welche Richtung er einschlug. Marcus blieb mir dicht auf den Fersen. Ich warf ihm meinen »Hau-ab! «-Blick zu, aber er grinste nur keck zurück. Unser Mann ging über die Brücke in die Unterstadt. Für einen Wintertag war es sehr warm, und die Stadt stank. Ich folgte dem Mann, wobei ich den Leuten ausweichen und über die Pfützen springen musste, was mich an meine Streifzüge mit meinem Fechtmeister erinnerte — an die grünen Felder und Bäume, den silbernen Himmel, das kühle Atmen des Windes, die stillen dunklen Rehrudel. Es war seltsam, an beiden Orten zugleich zu sein. Wir ließen die Hafenanlagen hinter uns, steuerten den neueren Teil der Stadt an. Hier waren die Straßen breiter, es gab mehr Licht und mehr Luft, wodurch es aber für uns viel schwieriger wurde, uns in den Häuserschatten zu bewegen. Doch es gab auch mehr Menschen und viele andere Gelegenheiten, um Deckung zu suchen. Unser junger Mann ging sehr schnell. Er schien es gewohnt zu sein, zu Fuß zu gehen, und er kannte offenbar den Weg gut. Nie blickte er zurück, und nicht ein einziges Mal blieb er stehen, um etwas zu betrachten oder in einen Laden zu schauen. Marcus blieb dicht hinter mir, hielt mich aber manchmal warnend zurück, wenn ich zu schnell vorandrängte. Es fiel mir schwer, mich von den vielen Läden mit ihren Auslagen und den verlockenden Gerüchen nicht ab 95 lenken zu lassen, denn das war ein Stadtteil, den ich noch nie besucht hatte, und er gefiel mir sehr gut. Offenbar waren wir auf dem Weg zum Hügel, vielleicht führte er uns zum
Haus seiner adligen Familie. Und was dann? Oder vielleicht zurück zu Artemisias Haus? Aber nein: Er bog in eine Seitenstraße ein, die von hübschen kleinen Häusern mit Vorgärten gesäumt war. In dieser ruhigen Straße mussten wir ihm einen größeren Vorsprung geben. Als unser Opfer plötzlich vor einem kleinen Gartentor stehen blieb, suchten wir schnell in einem Hauseingang Deckung. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, blickte in beiden Richtungen die Straße entlang, schloss das kleine Tor auf und schlüpfte so beiläufig hindurch und in das Haus, als wäre er erst in diesem Augenblick auf den Gedanken gekommen. Wir rannten eine Gasse entlang und näherten uns dem Haus von der Rückseite her. Hier war der Garten von einer Mauer umgeben, aber ein Obstbaum ließ seine Aste verführerisch über die Mauerkrone hängen. »Hilf mir rauf!«, befahl ich. »Ich glaube, ich kann...« Aber die Äste waren nicht stark genug, und ich plumpste schmählich auf den Hintern, weiße Streifen von der getünchten Mauer blieben auf meinen Kleidern zurück. »Du musst über die Mauer klettern«, sagte Marcus ungeduldig, was bei ihm sehr ungewöhnlich war. »Du Landei! Wieso willst du denn auf den Baum steigen? Man merkt sofort, dass du noch nie in ein Haus eingebrochen bist.« »Spiel hier bloß nicht den harten Burschen von Riverside«, knurrte ich wütend. »Du bist auch noch nie irgendwo eingestiegen, und ich hab mir außerdem die Hand aufgerissen.« Marcus zog ein sauberes Taschentuch hervor. »Sollen wir es noch mal versuchen?« »Jetzt nicht«, sagte er. »Nachts wäre es vielleicht...« »Diskreter?« 96 »Genau.« Wir merkten uns das Haus und machten uns auf den Rückweg den Hügel hinunter. »Das hat Spaß gemacht«, gestand Marcus und wischte sich weiße Streifen von den Knien. »Vielleicht erzählst du mir jetzt endlich, warum wir es getan haben?« »Marcus, erinnerst du dich an meinen ersten Tag auf dem Hügel, als du mich in der Stadt aufgelesen hattest? Ich hatte mich verirrt, und du hast mich nach Hause gebracht. Damals hatte ich ein Mädchen besucht, das ich bei der Gesellschaft des Herzogs kennen gelernt hatte. Sie war ungefähr in meinem Alter. Sie hatte sich wohl ohne Erlaubnis zum Fest geschlichen oder so ähnlich. Als ich sie besuchte, war dieser Mann bei ihr, er saß in ihrem Tageszimmer. Er sagte etwas sehr Ungehöriges über das Schloss Tremontaine, fällt mir jetzt wieder ein.« »Tatsächlich? Der hat ja Nerven. Er kommt seit mindestens einem Jahr regelmäßig ins Schloss. Und ich habe noch nie bemerkt, dass ihm das ungehörig vorkommt.« »Vielleicht sollten wir sie warnen. Wenn er ein Verwandter ist oder wenn er ihr vielleicht sogar den Hof macht... Meinst du nicht auch, dass sie erfahren sollte, was er macht?« »Dass er in einem Haus in der Nähe des Hügels wohnt? Das kann man nun nicht gerade als Skandal bezeichnen.« »Erstens«, bemerkte ich spitz, »sind wir nicht sicher, dass er da wohnt; wir wissen nur, dass er einen Schlüssel besitzt. Und zweitens weißt du ganz genau, dass ich das nicht gemeint habe. Wenn ich mit jemandem verlobt wäre, der in Madame Glinleys Etablissement arbeitet, würde ich es gern wissen wollen.« Marcus sagte: »Ach, ich bin sicher, dass es nicht so weit kommen wird. Dein Onkel mag zwar ein wenig seltsam sein, aber so seltsam ist er nun auch wieder nicht.« Ich überhörte diesen Einwand. »Ist deine Freundin mit ihm verlobt?«, fragte er. 96 »Sie ist irgendetwas mit ihm, sonst wäre er wohl damals nicht bei ihr gewesen. Vielleicht ist er ihr Bruder, ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, dass es wichtig sein könnte. Bist du denn sicher«, verlangte ich zu wissen, »dass die Sache mit Glinleys Etablissement stimmt?« »O ja, ganz sicher.« »Aber weißt du auch ganz sicher, was er dort macht? Vielleicht betreibt er dort nur irgendwelche anderen... Geschäfte?« »Bei Madame Glinley betreibt man nur ein einziges Geschäft«, antwortete Marcus süffisant. »Da bin ich mir absolut sicher.« »Aber warum sollte er dort arbeiten, wenn er es gar nicht nötig hat?«
»Vielleicht hat er es nötig. Oder vielleicht macht er es aus Langeweile«, sagte Marcus leichthin und klang dabei immer mehr wie der Herzog, »und ist zu faul, um sich mit anderen Dingen abzulenken.« »Faul? Du glaubst, er macht es aus Faulheit?« »Natürlich! Sonst würde er sich doch die Mühe machen, etwas Neues zu lernen. Genau wie wir. Wie man kopuliert, weiß doch jeder.« Wir mussten das Gespräch unterbrechen, weil Leute vorbeikamen — Bedienstete, die Körbe trugen und gehetzt wirkten. »Aber warum der weite Weg bis nach Riverside, um es dort zu tun?«, fragte ich beharrlich. »Madame Glinleys Haus«, erklärte Marcus wichtigtuerisch, »ist ein ganz besonderes Etablissement. Es ist auf ausgefallene Wünsche spezialisiert und daher sehr teuer.« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber das brauchte er nicht zu erfahren. »Dann überrascht es mich aber, dass der Herzog nicht längst dort wohnt«, bemerkte ich spitz. »Ist nicht nötig«, gab Marcus zurück. »Der Laden gehört 97 ihm zum Teil. Unser Mann überbrachte ihm einen Teil der Einnahmen.« Ich sog so scharf die Luft ein, dass sie zwischen meinen Zähnen zischte. »Das ist ja widerlich!« Wir kamen gerade durch den Stadtteil mit den hübschen Läden. »Marcus«, sagte ich plötzlich, »hast du ein wenig Geld dabei?« »Ein wenig. Warum?« »Könnten wir vielleicht irgendwo ein Stück Kuchen essen? Mit einer Tasse heißer Schokolade?« »Wir könnten.« »Gut, dann will ich es.« »Hm«, machte Marcus. »Die Leute werden dich aber für eine Schauspielerin halten.« Ich schaute an mir hinunter: Meine Beine steckten in Hosen und hohen Stiefeln. »Wenn sie nichts dagegen haben, dass Schauspielerinnen Kakao trinken, dann ist es mir egal.« Wir fanden ein Cafe namens Blauer Papagei, wo man uns hervorragenden Kuchen servierte. Als wir so viel gegessen und getrunken hatten, wie wir uns leisten konnten, schlenderten wir zur Uferpromenade und schauten den Kindern zu, die sich dort Wettrennen mit ihren Steckenpferden lieferten. Dann wurden wir wieder hungrig; ich fand ein paar Münzen in einer meiner Jackentaschen, die wir für ein paar Lebkuchen ausgaben. Anschließend beobachteten wir einen dressierten Hund, der durch Reifen sprang, hörten einem Geigenspieler zu, der das Lied Maiden's Fancy spielte, und pfiffen die Melodie auf dem gesamten Heimweg vor uns hin. Der Herzog erwartete uns am Fuß der Treppe in der Empfangshalle. Er wirkte nüchtern und ausgesprochen verärgert. »Habt ihr überhaupt eine Vorstellung, wie spät es ist? Nein, bestimmt nicht! Ihr lauft draußen herum, wie eine lebende Einladung für Mord und Totschlag. Was kümmert euch schon, was zuhause los ist?« 97 »Wir wollten doch nur ein paar Lebkuchen kaufen.« Ich zeigte ihm die Tüte. Er nahm einen Lebkuchen und aß ihn. »Ich habe überall im Haus nach euch suchen lassen«, sagte er und leckte sich Zimt von den Fingern. »Ich finde meine ...« Zum ersten Mal schaute er Marcus direkt an. »Warum sind deine Knie weiß?« Marcus blickte an sich hinunter. »Mir sind ein paar Münzen heruntergefallen. Als wir die Lebkuchen kauften. Musste überall danach suchen.« »Ach ja? Und Lady Katherine hat ihre Münzen ebenfalls fallen lassen?« An meinen Hosenbeinen waren immer noch die weißen Spuren von der Mauer zu sehen, außerdem ein paar Lehmflecken, die von meinem Sturz herrührten. »Ich musste ihm suchen helfen.« »Natürlich glaube ich jedes Wort.« Der Herzog lächelte, als hätte er eben ein sehr schwieriges Rätsel gelöst. »Wenn ich euch getrennt verhöre, fällt eure Geschichte auseinander. Denn ich muss euch leider mitteilen« — er beugte sich herab, damit er nicht wie ein Riese über uns aufragte —, »dass die Flecken an euren Hosen kein Straßendreck sind, sondern von einer getünchten Mauer und von Gartenerde stammen. Dann wären da noch die Kratzer auf deinen Handflächen, Mylady. Und die Lebkuchen sind von Robertson; die gibt es auf der Straße nicht zu kaufen.«
Einerseits ärgerte ich mich sehr, andererseits fühlte ich mich herausgefordert und erregt wie vor einem guten Fechtkampf. »Ein paar Gossenjungen haben uns über den Haufen gestoßen und rannten davon.« Die tiefgrünen Augen des Herzogs funkelten belustigt in seinem leicht zerknitterten Gesicht. »Und die Lebkuchentüte blieb die ganze Zeit unversehrt und geschlossen? Wo genau wurdet ihr niedergestoßen?« »Am Westufer«, sagte Marcus, »direkt am Fluss.« 98 Der Herzog richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. »Ich weiß, es muss sehr lästig für euch sein«, sagte er gedehnt, »für jede Minute eurer Zeit gegenüber einem Alteren Rechenschaft ablegen zu müssen. Sehr lästig. Aber ich gebe mir große Mühe, eine lästige Person zu sein.« »Ich gebe Euch mein Wort«, erklärte ich ernsthaft, wie ich es von meinen Brüdern gehört hatte, wenn sie wieder einmal etwas angestellt hatten, »dass wir nichts Unrechtes...« »Lebkuchen«, übertrumpfte mich Marcus kühl, »Katie hat es doch schon erklärt.« Tremontaines Hand schoss vor und packte Marcus an der Schulter. Die Bewegung war so schnell, dass meine Hand unwillkürlich zum Degengriff zuckte. »Marcus«, sagte der Herzog, »heute Nachmittag hatte ich einen Besucher. Du hast ihm angeboten, eine Sänfte für ihn zu rufen. Dann wart ihr beide plötzlich verschwunden.« »Er wollte keine Sänfte haben. Wenn Ihr gehört habt, dass ich ihn fragte, habt Ihr auch gehört, was er antwortete.« »Katherine, nimm bitte die Hand vom Degen. Das ist eine schlechte Angewohnheit. Die Leute könnten auf den Gedanken kommen, dass du Streit suchst.« Ich sah, dass Marcus die Lippen zusammenpresste, um den schmerzhaften Klammergriff an seiner Schulter auszuhalten. Aber ich nahm die Hand vom Degengriff, denn natürlich wusste ich, was ich zu tun und zu lassen hatte. »Wisst ihr den Namen des Mannes?« »Nein«, sagte ich. Der Herzog ließ Marcus' Schulter los und wandte sich zu mir. »Warum habt ihr ihn dann verfolgt?« Ich blickte Marcus an, Marcus blickte mich an. »Ihr wurdet beobachtet«, sagte der Herzog, »wie ihr ihn vom Schloss aus verfolgt habt.« Ich zuckte mit den Schultern. »In der Stadt haben wir ihn aus den Augen verloren.« 98 »Ich frage noch mal. Warum habt ihr ihn verfolgt?« Ich hielt den Atem an, öffnete den Mund, um ihm die Frage zu stellen, die nur er beantworten konnte — und schloss ihn wieder. Er hatte schließlich schon genug eigene Geheimnisse. Das hier war unser Geheimnis. »Es war ein Test«, erklärte ich. »Ich soll doch eine Degenfechterin werden, nicht wahr? Das gehört eben dazu.« »Hat Meister Drake dir diese Aufgabe gestellt?« »Nein.« Ich starrte ihm unbeirrbar in die Augen, um ihn wissen zu lassen, wie ich davon erfahren hatte und von wem. Der Herzog wich meinem Blick aus. »Naja«, sagte er langsam, »da ihr ihn so schnell aus den Augen verloren habt, müsst ihr eben noch mehr üben. Aber benutzt dafür nicht meine Besucher, das ist alles, was ich verlange.« Wir wollten uns bereits abwenden, doch der Herzog war noch nicht fertig mit uns. Er blickte uns ernst und streng an und fügte hinzu: »Eins sollte euch klar sein, euch beiden, was die Besucher dieses Hauses angeht. Ihre Angelegenheiten sind meine Angelegenheiten. Ihre Geheimnisse sind meine Geheimnisse. Ihr könnt beschatten und verfolgen, wen ihr wollt, nur nicht meine Besucher. Für diesen Mann gilt, was für fast jeden Menschen in dieser Stadt außer euch beiden gilt — dass er nämlich gar nicht hierher kommen sollte. Er würde beträchtliche Schwierigkeiten bekommen, wenn irgendjemand außerhalb dieses Hauses erführe, dass er mich besuchte. Habt ihr das verstanden?« Marcus blickte zerknirscht zu Boden. »Es tut uns leid.« Ich nickte zustimmend und setzte meine reumütigste Miene auf, wie es sich für eine brave Nichte gehörte. »Wo sind die übrigen Lebkuchen?«, wollte mein Onkel wissen. Wir teilten die Lebkuchen mit ihm, und dann gingen wir alle zusammen in die Küche, um nach Kuchen zu fahnden. Der Kuchenbäcker war gerade dabei, kleine Zuckergussblu
99 men zu kreieren, um irgendein Gebäck zu verzieren. Der Herzog beschlagnahmte die Zuckergussblumen und nahm sie und uns mit zur Bibliothek, wo wir uns bis Sonnenuntergang mit einem höchst komplizierten Glücksspiel beschäftigten, bei dem wir die Zuckergussblumen als Spielmarken benutzten. Zwei oder drei im Haus lebende Gelehrte spielten ebenfalls mit. Wer gewann, musste die gewonnenen Zuckerblumen restlos aufessen. Ab und zu ließ Marcus einen weiteren Teller Zuckergussblumen aus der Küche anliefern, damit das Spiel weitergehen konnte. Als es Zeit für das Abendessen wurde, war niemand hungrig. Vielmehr fingen die Gelehrten an, sich über gewisse Behauptungen zu streiten, die dermaßen absurd waren, dass sogar die scherzhaften Behauptungen, die Marcus und ich in die Debatte warfen, manchmal zutrafen. Kerzen wurden angezündet. Der Herzog stieg ständig auf die Leitern und holte Bücher aus den oberen Regalen, um damit ihre Streitpunkte schlichten zu helfen. Der Abend schritt fort; die Kerzen brannten herunter, und wir ließen neue Kerzen bringen. Die Küche lieferte jetzt Grütze und Weinschaumcreme und einen Kuchen, der mit kleinen Zuckergussblumen verziert war. Irgendwann wogte auch die gemütliche, aber nicht sehr hübsche Freundin des Herzogs in den Raum, um nach einem bestimmten Buch zu suchen, doch wollte sie nicht mitspielen. Sie pickte nur ein paar Blumen vom Kuchen, hörte eine Zeit lang zu, sagte: »Ich hätte nie geglaubt, dass es möglich ist, von Zucker besoffen zu werden, aber ich denke, ihr habt es geschafft«, und verließ brummend den Raum. Vielleicht hatte sie sogar Recht. In einem Moment schrie ich vor Lachen, im nächsten konnte ich kaum noch die Augen offen halten und wäre beinahe auf dem Sitz im Erker eingeschlafen. »Die unbeschwerten Träume der Jugend«, bemerkte einer der Gelehrten. Der Herzog fragte mich: »Woher weißt du ei99 gentlich so viel über die Schlacht von Pommerey?«, und Marcus meinte: »Höchste Zeit fürs Bettchen, Katie.« Mir war ziemlich schlecht, aber ich war auch glücklich. Bevor Marcus die Bibliothekstür hinter mir schloss, konnte ich ihm noch zuflüstern: »Da geht was vor sich! Er will nicht, dass wir es erfahren. Aber ich werde es herausfinden. Bist du dabei?« »Ich bin dabei«, flüsterte er zurück und schloss die Tür.
Kapitel 4
Artemisia Fitz-Levi hatte noch keine Sekunde allein mit ihrem Verlobten verbracht. Das machte ihr nicht viel aus; es ließ alles, was sie gemeinsam taten, wie ein Theaterstück erscheinen, das nur für ein beifälliges, ständig wechselndes Publikum aufgeführt wurde. Artemisia war immer wunderbar gekleidet, und die Szenerie war stets von vollkommener Schönheit. Lord Ferris war ebenfalls immer wunderbar gekleidet und beherrschte seine Rolle perfekt. Der Kreiskanzler half ihr vor den Augen der Gäste einer Abendgesellschaft oder eines Balls galant in die Kutsche; er begleitete sie und ihre Mutter mit ausgesuchter Höflichkeit in die Geschäfte und sogar ins Theater, verfolgt von den neidischen Blicken anderer junger Damen. Bei den Bällen ließ er sie nicht aus den Augen und sprach sehr nett über sie, sobald er sicher war, dass alle es hören konnten. Auf Gesellschaften trug sie alle Schmuckstücke, die er ihr geschickt hatte, und er wurde nicht müde ihr zu versichern, wie gut sie ihr stünden. Im Frühjahr sollte die Hochzeit sein, noch bevor die Leute für den Sommer auf ihre Landgüter reisten. Manchmal wünschte sich Artemisia, die Verlobungszeit würde ewig andauern. Auch ein paar ihrer Freundinnen waren inzwischen vergeben. Manchmal tranken sie gemeinsam heiße Schokolade, eine sehr abgeklärte Gruppe junger Damen, die die weniger Glücklichen mit wissenden Blicken bedachten und ihnen freigiebig Ratschläge erteilten. Welch glückliche Zukunft sich die Mädchen auch geangelt haben mochten, so war doch Lady 99 Artemisia wie auch allen anderen klar, dass sie den höchsten Preis errungen hatte: Lord Ferris war reich; er war mächtig; er sah immer noch recht gut aus, und er verehrte sie fast bis zum Überdruss. Wenn sie mit ihm zusammen war, kam sie sich geistreich, witzig und
wunderschön vor, wie trunken von demselben Fieber erregenden Wein, dessen Wirkung sie schon beim Ball der Hallidays verspürt hatte. An diesem Abend jedoch verspürte sie eine unbestimmte, eigenartige Unruhe. Oh, der Saal glitzerte, die Gäste glänzten, die Juwelen an Artemisias Fingern und auf ihrem Dekolletee funkelten — Geschenke ihres Verlobten oder ihrer Mutter unter Vorgriff auf ihr Erbe. Doch nichts von alledem erfreute sie, weder die seltenen süßen Naschereien noch die Getränke oder der farbenprächtige Wirbel der tanzenden Paare. Ihr schien plötzlich, als würde sie nicht mehr so oft neidisch beobachtet werden. Sie hatte den Eindruck, dass die gut aussehenden jungen Männer sie nur noch flüchtig ansahen, als vergeben einschätzten und keinen zweiten Blick mehr wagten, gleichgültig, wie kostbar ihr Schmuck sein mochte oder wie tief ihr Kleid am Busen ausgeschnitten war. Lord Ferris hatte sich verspätet, war durch wichtige Geschäfte im Rat der Lords aufgehalten worden, und obwohl er sich sehr wortreich und galant entschuldigte und keinen Augenblick mehr von ihrer Seite wich, stellte sie plötzlich fest, dass sie sich wünschte, er wäre überhaupt nicht mehr zum Ball erschienen. Sie schickte ihn hierhin und dorthin, änderte ständig ihre Meinung, ob sie ihren Schal brauchte oder nicht, welches Getränk sie haben wollte, ob sie tanzen wollte oder nicht. Aber die Tatsache, dass sie einen der wichtigsten Adligen der Stadt, den Vorsitzenden des Rats der Lords, herumkommandieren konnte, verschaffte ihr nicht die Befriedigung, die sie sich erhofft hatte. Denn es änderte sich eigentlich gar nichts: Es waren immer noch dieselben Getränke und dieselben Tänze. Lord Ferris verfügte über eine bewundernswerte Selbstbe 100 herrschung. Sie wusste, dass er sich beherrschen musste, und selbst darüber ärgerte sie sich. Er versuchte mit ihr zu flirten, pries sie in allen Tönen, bis er schließlich merkte, dass nur die direkte Frage funktionieren würde. Und so nahm er sie beiseite und fragte: »Meine Liebe, sagt mir, was los ist. Hat Euch jemand beleidigt? Oder Euch in irgendeiner Weise verletzt?« Zu ihrer eigenen Verblüffung brach Artemisia in Tränen aus. »O herrje«, seufzte Lord Ferris. »Geht es wieder einmal um Eure Mutter?« Trotz ihrer Tränen musste sie kichern. Ihr Taschentuch war bereits nass, was niemanden überraschen konnte, denn es war kaum mehr als ein papierdünnes Tüchlein, ringsum bestickt mit völlig nutzloser Spitze. Lord Ferris reichte ihr sein eigenes, ein handfestes, quadratisches Tuch aus Leinen, das ganz leicht nach etwas Angenehmem duftete, einem feinen, teuren Duft, der sich mit etwas mischte, das sie nicht bestimmen konnte. Sie hielt das Tuch an ihre Nase und hoffte, dass diese nicht bereits zu stark gerötet war. Er hob die Hand, als wollte er ihr das Taschentuch wieder abnehmen, doch dann berührte er stattdessen ihre Nasenspitze. Zuerst die Nasenspitze, dann auch ihr Ohr. »Es ist die Warterei, nicht wahr?«, murmelte er leise. »Sie setzt Euren Nerven zu. Ich hielt es für das Beste, Euch noch die Saison genießen zu lassen, Euren Triumph über die anderen Mädchen auszukosten. Aber es kann auch des Guten zu viel sein. Vielleicht sollten wir den Hochzeitstag vorverlegen?« Sein warmer Atem strich über ihr Gesicht. Der andere Geruch, den sie an seinem Taschentuch wahrgenommen hatte, war Lord Ferris' eigener Geruch. Er war ihr jetzt so nahe, dass sie die winzigen Bartstoppeln deutlich sehen konnte, die einen leichten Schatten über seine Wangen warfen. »Was meint Ihr, hübsche Lady? Sollten wir nicht jetzt sofort heiraten?« 100 »Nein!«, rief sie, aber es klang eher wie ein Wimmern. »Nein, ich kann jetzt noch nicht...« »Die Nerven!«, seufzte er. »Nichts weiter. Die ganze Aufregung ...« Sie holte tief Luft und rief leidenschaftlich aus: »Ich wünschte, ich müsste überhaupt nicht heiraten!« Ihr Vater wäre in Gelächter ausgebrochen, ihre Mutter hätte sie mit einem »ts-ts-ts« ermahnt, aber ihr Verlobter tat nichts dergleichen. Sie spürte seine plötzliche Kühle, als er zurückwich. »Nein? Überlegt Euch genau, was Ihr sagt, meine Liebe. Ihr habt es selbstverständlich in der Hand, die Verlobung zu lösen, wenn Ihr das wirklich wollt.« »Ich...« Das feuchte Taschentuch hatte sie längst zu einem Knäuel zerknüllt.
»Aber wenn Ihr das wirklich wollt, müsst Ihr gute Gründe anführen können. Weder Ihr noch ich wollen am Ende als Narren dastehen.« »Ich will nicht... ich wollte nicht...« Er lächelte sie an, wieder ganz der zärtliche Verliebte. »Natürlich wollt Ihr das nicht. Die Nerven! Die Sache wird bald vorbei sein.« Sie schniefte in das Taschentuch. Natürlich hatte er Recht. Zurzeit erkannte sie sich kaum selbst noch wieder, alles änderte sich so schnell. »Ich hole Eure Zofe. Sie kann Euch helfen, Euer Gesicht wieder herzurichten.« »Aber sagt nichts zu Mama...« »Ganz gewiss nicht. Die Sache bleibt zwischen uns beiden.« Insgeheim beschloss er, sie in Zukunft weniger mit Geschenken als vielmehr mit Aufmerksamkeit zu beglücken. Der Herzog ließ sich nie blicken, wenn ich übte, und gewöhnlich galt das auch für Marcus. Er interessierte sich ohnehin nicht für Degenfechter. Deshalb wusste ich, als er mit 101 ten in einer meiner Übungsstunden auftauchte, dass er etwas Wichtiges zu berichten hatte. Meister Drake und ich absolvierten gerade eine bestimmte, höchst komplizierte Serie von Angriffen und Paraden, bei der ich schon zwei Mal verloren hatte. Es war wie eine besonders schlimme Art von Bauerntanz — wenn du einmal aus dem Schritt kommst, fallen alle anderen über dich —, und ich hasste es, gerade jetzt unterbrochen zu werden, wo ich doch endlich das Gefühl für den Rhythmus in meinen Knochen spürte. Außerdem wollte ich, dass mein Freund sah, wie ich mich bei einer besonders harten Aufgabe schlug, deshalb schob ich mich rückwärts näher an Marcus heran und fragte: »Was gibt's?« »Unser Mann war wieder da«, murmelte er. »Er ging durch den Westflügel.« »Dann geh und verfolge ihn!« »Kann nicht. Muss Tremontaine bedienen. Wollte dir nur Bescheid sagen, dass...« »Geht jetzt nicht! Verdammt, Marcus, du bist schuld, dass ich gerade einen Fehler gemacht habe!« Mein Lehrmeister lachte. »Ihr dürft Euch eben nicht von Zuschauern ablenken lassen, Lady Katherine. Erstes Gesetz des Duells. Nein, nein, macht weiter! So ist es richtig, kommt mir mit einer Ligade, jetzt mit einer Finte, und... jetzt! Guuut, sehr gut.« Ich fand meinen Rhythmus wieder und trieb Phillip Drake quer durch den Raum vor mir her. Meine Konzentration war absolut vollkommen, da ich wusste, dass Marcus zusah. Ich zählte nicht mal mehr im Stillen. Es war, als wäre ich selbst zu meinem eigenen Degen geworden und als wüsste ich genau, was ich zu tun hatte, ohne darüber erst nachzudenken. Ich beendete den Kampf triumphal: Meine Degenspitze stieß gegen Meister Drakes Brust. Wir keuchten beide. Ich hörte, wie Marcus ein leises, anerkennendes »O Mann!« ausstieß und sagte: »Hatte keine Ahnung, dass du das kannst.« 101 In diesem Moment kam ich mir fast wie Fabian vor. »Es gibt so manches«, antwortete ich hochmütig und genoss diesen Satz ganz besonders, »das du über mich nicht weißt.« Meister Drake klopfte mit seinem Degen gegen meine Klinge. »Das reicht. Denkt immer an die Grundregel: Bei jedem Kampf hat die schwächere Waffe die Chance zu siegen, sei es durch Glück oder durch schieren Zufall. Versuchen wir es noch mal, nur um zu sehen, ob es nicht nur Zufall war.« Es war ganz bestimmt kein Zufall gewesen, aber ich brauchte trotzdem drei weitere Kämpfe, bis ich wieder in meinen instinktiven Rhythmus zurückfand. Als ich schweißnass und glücklich aus dem Übungsraum trat, hatte ich den mysteriösen Besucher bereits wieder vergessen. Er war ohnehin längst verschwunden. Eine junge Dame, die im Begriff steht, eine gute Partie zu machen, befindet sich im Mittelpunkt ihrer Welt, und man mag ihr deshalb nachsehen, dass sie sich für wichtiger hält, als sie eigentlich ist, oder für klüger. Da fast jede Begegnung mit ihr zu einer Aufwallung der vorehelichen Nerven führt, neigen ältere Verwandte dazu, sie mit größter Nachsicht zu behandeln, bis die Hochzeit vorbei ist. Verwandte, die ihr altersmäßig näherstehen, sind weniger zu solchen Zugeständnissen bereit. Und so hatte auch Artemisias Bruder Robert seiner Schwester bereits einen Schuh an den Kopf geworfen. Und ihr Cousin Lucius Perry, der auf der Suche nach Robert hereingeschaut hatte, bereute fast sofort, nicht einen großen Bogen um das Haus geschlagen zu haben.
»Lucius, wo warst du nur gestern Abend? Ich wollte dich unbedingt bei meinem kleinen Abendessen sehen, wollte dich neben Lydias Cousine Harriett setzen, die gerade vom Land in die Stadt gekommen ist und noch niemanden kennt.« »Wie interessant das doch gewesen wäre«, gähnte Lucius. 102 »Aber ich hatte dir doch eine Nachricht geschickt. Es ist etwas dazwischen gekommen.« »Ich glaube dir kein Wort. In letzter Zeit verspätest du dich immer, oder du bist müde, oder du verschwindest einfach. Führst du irgendetwas im Schilde?« »Selbst wenn es so wäre, glaubst du wirklich, ich würde es dir erzählen?« In seiner Stimme lag eine gewisse Schärfe, die sie bei ihm nicht gewohnt war. »Aber, aber.« Sie legte auf ihre reizende, sehr weibliche Art den Kopf ein wenig schief. »Ich glaube, ich weiß, wo dein Problem liegt. Du musst zur Ruhe kommen, das ist alles. Such dir eine nette junge Dame, die für dich sorgt, dann wird alles gut.« Er schnaubte grob. »Vielleicht jemand wie Lady Lydias Base vom Land? Anscheinend hältst du selbst nicht sehr viel von ihr, sonst würdest du sie nicht mit dem jüngeren Sohn eines jüngeren Sohns verkuppeln wollen, der weder Geld noch Zukunft hat.« »Mein Lieber«, antwortete sie tiefernst, »glaubst du denn, bei einer Ehe geht es nur darum?« »Und es ist auch nicht so, dass die Perrys auf mich angewiesen wären, den Namen weiterzugeben. Beide Seiten der Familie vermehren sich sowieso wie die Kaninchen, eine Tatsache, die auch deinem zukünftigen Bräutigam nicht verborgen geblieben sein dürfte.« »Lucius Perry! Wie kannst du so etwas sagen? Kaninchen — ich bitte dich! Die Ehe ist die geheiligte Verbindung zweier liebender Herzen.« Er starrte sie durchdringend an. »Ach ja, wenn du das sagst, wird es wohl so sein. Und liebst du denn Lord Ferris?« »Ich ... also, ich weiß noch nicht. Schließlich kenne ich ihn kaum, nicht wahr? Aber er bewundert mich mehr als irgendjemand anders. Und ich bewundere ihn natürlich auch.« »Obwohl du ihn kaum kennst.« 102 »Das wird sich bald ändern. Ich denke, dass wir sehr glücklich miteinander sein werden. Ach, Lucius, du darfst nicht so hart zu dir selbst sein! Ich bin ganz sicher, dass die richtige Frau...« Er knirschte mit den Zähnen. »Artemisia. In einem Jahr reden wir wieder darüber. Dann darfst du mir eine Lektion über die Freuden des Ehestandes erteilen. Aber im Moment hörst du bitte auf, über Dinge zu predigen, von denen du keine Ahnung hast.« »Und was, bitte schön, soll das nun wieder heißen?« »Nichts, rein gar nichts.« »Nein, Lucius! Ich will sofort wissen, was du damit meinst!« »Nichts. Ich bin sicher, deine Eltern haben alle Vorkehrungen getroffen, um sicherzustellen, dass dein Bräutigam genau so ist, wie er sein sollte. Deine Mitgift ist beachtlich, das weiß jeder, und die Rechtsanwälte haben bestimmt einen hervorragenden Ehevertrag ausgehandelt. Und wenn du ihm schon sehr bald einen Sohn schenkst, wird dir Lord Ferris keinen Augenblick lang Sorgen bereiten.« Artemisia schnappte geschockt nach Luft. »Das ist aber ein furchtbar vulgäres Gerede, Lucius Perry!«, brachte sie mühsam hervor. »Wenn du damit andeuten willst, dass mich Lord Ferris. . . irgendwie . . . kauft. . . « Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Nein, ich deute gar nichts an. Es tut mir leid, Mia, ich habe heute eine Wette verloren, die ich mir eigentlich überhaupt nicht leisten konnte, und meine Stimmung ist deshalb ein wenig daneben. Ich werde mir Mühe geben, ein bisschen mehr Begeisterung zu zeigen.« Lucius Perry sprach niemals über sich selbst, wenn es sich vermeiden ließ. Noch vor einem Monat hätte sie das Friedensangebot wörtlich genommen. Aber heute hatte sie sich über ihn geärgert, und deshalb griff sie ihn weiter an. »Du hast kein Recht, hier hereinzuspazieren und Lord Ferris zu 102
kritisieren«, schrie sie schrill. »Er ist der Kreiskanzler. Alle sind mit ihm einverstanden! Er ist ein wichtiger Mann! Und wer bist du überhaupt? Ein Niemand — das hast du ja selbst gesagt.« »Richtig.« Lucius Perry stand auf. »Prima. Ich bin niemand, er ist alles, und daher kann es mir völlig gleichgültig sein, ob du mit offenen oder mit fest zugekniffenen Augen in diese Ehe gehst.« Artemisia hob angriffslustig das Kinn. »Was redest du da eigentlich, Lucius?« »Du kennst ihn nicht besonders gut, das ist alles. Frag ihn doch mal nach all den Bällen und Festivitäten, zu denen du nicht eingeladen wirst.« Sie hob das Kinn noch höher. »Es gibt keine Bälle, zu denen ich nicht eingeladen werde.« »Doch, die gibt es. Frag ihn doch mal.« »Gut, schon gut, ich werde ihn fragen.« In ihrer Miene las er Hochmut, aber auch schlecht verheimlichtes Entsetzen. Unwillkürlich dachte er an eine andere Frau, die er gut kannte — eine Frau, die auch einmal so jung gewesen war, die vor derselben Wahl gestanden und noch weniger Ahnung gehabt hatte, was sie erwartete. »Nein, tu es lieber nicht«, sagte er sanft. »Hör mal, ich habe wirklich Unsinn geredet, es tut mir leid. Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen.« »Nein, das hättest du nicht.« »Aber, liebe Cousine . . . « Er nahm ihre Hand, und sein Griff war nicht unbeschwert wie beim Tanz, sondern ernst und fest. »Artemisia. Du verstehst doch, was ich sagen will, nicht wahr? Dass es einen Unterschied gibt zwischen der Welt eines Mannes und der einer Frau?« In ihren Augen zitterten Tränen. »Was meinst du damit?« »Du weißt, was ich meine. Es gibt bestimmte Dinge im Leben eines Mannes — im Leben jedes Mannes —, die du nicht 103 beachten darfst, das wird von dir erwartet. Männer haben Geheimnisse, und es ist besser, wenn sie Geheimnisse bleiben.« »Hast du auch Geheimnisse, Lucius?« »O ja, viele«, antwortete er. »Wenn du meine Frau wärst, wäre es ganz besonders wichtig, dass du nichts darüber weißt, oder jedenfalls so tust, als ob du nichts wüsstest. Aber wir kommen doch trotzdem gut miteinander aus, nicht wahr? Ich bin sicher, dass Lord Ferris nicht besser und nicht schlechter ist als jeder andere Mann, den du dir hättest aussuchen können. Und ich bin auch sicher, dass er ein wunderbarer Ehemann sein wird.« »Ja, davon bin ich überzeugt.« Sie tupfte ihre Augen, bevor eine Träne herausrinnen konnte. »Lucius«, fuhr sie mit zaghafter Stimme fort, »du darfst nicht mehr spielen oder wetten, denn das macht dich sehr unnett. Versprich mir, dass du es nicht mehr tust.« Er küsste ihr die Hand und tätschelte ihren Kopf, aber er versprach ihr nichts.
Kapitel 5
Eines Tages erklärte mir mein Onkel: »Sabina möchte einen Schurkenball veranstalten. Ich denke, du solltest hingehen. Könnte ziemlich lehrreich sein.« Wer hätte das gedacht? Mein erster richtiger Ball in der Stadt, und es musste gleich ein Schurkenball sein! Trotzdem: »Soll ich ein Ballkleid tragen?«, fragte ich. »Doch nicht zu einem Schurkenball!« Das Letzte, wonach mir der Sinn stand, war, mein Debüt in der Stadt in Jungenkleidern absolvieren zu müssen. »Kann ich wenigstens maskiert hingehen?« »Du brauchst dich nicht zu maskieren. Du wirst ohnehin niemanden kennen. Oder vielmehr niemanden, den zu kennen du zugeben könntest vor den Leuten, vor denen du dich maskieren würdest. Es ist schließlich kein Maskenball, sondern eben ein Schurkenball!« Seine langen Finger spielten mit der auf steifem Karton gedruckten Einladung, dann schaute er sie noch einmal genauer an. »Oder vielmehr ein Schurgenball, wie sie es nennt. Wenn die Frau nicht mal das Wort richtig schreiben kann — und du darfst mir glauben, sie kann es nicht —, dann sollte sie doch wenigstens die Einladungen von jemand anderem schreiben lassen. Sie hat halb Riverside eingeladen und alle auf dem Hügel, die solche Dinge noch amüsant finden. Ich möchte den Ball auf gar keinen Fall versäumen. Wir können ja schon mal wetten, wie lange es dauert, bis der erste Streit ausbricht. Also: Rechne mit einem Kampf und steck keine Geldbörse ein. Denn ich versichere dir, die
104 Geldbörsen werden als Erstes verschwinden, weil eine Menge Beutelschneider und Taschendiebe anwesend sein werden.« Ich wusste inzwischen, wer Sabina war: eine professionelle Geliebte. Sie bewohnte ein Haus in der Altstadt und schien meinen Onkel gut zu kennen, denn sie schickte ihm ab und zu Briefe mit dem neuesten Stadtklatsch, die er Marcus und mir manchmal vorlas. Sabina behauptete ständig, sich zu langweilen. Ihre Liebhaber langweilten sie, die Duelle langweilten sie; selbst Gold und Seide langweilten sie, obwohl sie nichts verschenkte oder zurückgab. In ihren Briefen schilderte sie lang und breit ihre neuesten Eroberungen und Extravaganzen. Ich muss zugeben, dass ich gewaltig schockiert war, als ich erfuhr, wie viel sie für ein einziges Halsband ausgegeben hatte — dafür hätten wir zuhause das ganze Dach neu eindecken lassen können. Und für das Geld, das ihre neuen Bettvorhänge gekostet hatten, hätte sie sogar einen kleinen Bauernhof kaufen können. Wenn sich Sabina nur die Mühe gemacht hätte, ein wenig Geld beiseitezulegen, hätte sie ihre Eroberungen nicht mehr nötig gehabt und hätte sich vielleicht etwas suchen können, das sie nicht langweilte. Für den Ball musste sie sogar das Zunfthaus anmieten, um all die Leute empfangen zu können, die sie eingeladen hatte, und außerdem die vielen nicht eingeladenen, die sich wie üblich in den Saal schmuggelten. Der Herzog sagte zu mir: »Du gehst bewaffnet zum Ball.« Für mich war es keine Frage, dass ich den Degen meines Meisters mitnehmen würde. Anstandshalber beriet ich mich darüber mit Phillip Drake, aber zu meiner Überraschung riet er mir davon ab. »Altmodisch«, sagte er. »Schaut Euch doch nur Heft und Glocke an.« »Er ist aber sehr fein ausbalanciert.« »Ich behaupte ja nicht, dass das kein guter Degen ist. Er liegt gut im Griff, der Stahl ist biegsam und so weiter, aber 104 er ist schlicht, Lady, so schlicht!« Er lächelte. »Ich denke, wir müssen den Herzog überreden, sich endlich mal von einem Teil seines Vermögens zu trennen, damit Ihr bei Eurem ersten Ball einen standesgemäßen Auftritt bekommt.« Ich schüttelte den Kopf, obwohl es einen Augenblick lang wirklich eine Versuchung war. »Ich habe meinen Neujahrsdolch, damit sehe ich hübsch genug aus. Obwohl — eine neue Scheide für den Degen wäre nett. Ich glaube nicht, dass die Leute noch auf den Griff achten würden«, säuselte ich weiter, »wenn der Degen in einer hübschen grünen Lederscheide mit goldenen und scharlachroten Borten steckte, was meint Ihr?« »Also gut«, antwortete Phillip Drake. »Wenn Ihr es schafft, meine Abwehr drei Mal hintereinander mit der neuen Finte zu umgehen, die ich Euch beigebracht habe, dann sorge ich dafür, dass Ihr genau die Scheide bekommt, die Ihr Euch wünscht.« Bei einem Kampf kann sich durch reinen Zufall der schwächere Degen als siegreich erweisen. Aber nicht im Übungsgefecht, und schon gar nicht drei Mal hintereinander. Ich schaffte es dennoch, und ich bekam meine Scheide. Das war eigentlich ganz gut gelaufen. Als sie sich das nächste Mal bei einer Kartengesellschaft trafen, war Lord Ferris entschlossen, Lady Artemisia die Folgen ihres Verhaltens spüren zu lassen. »Es wird Euch sicherlich interessieren zu erfahren, dass die Hälfte aller jungen Männer in der Stadt nicht mehr mit mir reden will, weil ich das Juwel erobert habe, auf das sie selbst ein Auge geworfen hatten.« Artemisia war sich bewusst, dass ihre Freundinnen sie genau beobachteten; schon deshalb konnte sie nicht widerstehen, dem Kanzler mit ihrem Fächer vorwurfsvoll leicht auf den Arm zu schlagen. 104 »Wirklich, Sir?«, sagte sie kühl. »Wie kommt es dann, dass Ihr immer noch zu so vielen faszinierenden Festlichkeiten eingeladen werdet? Ohne mich?« »Kein Fest ist faszinierend, wenn Ihr nicht anwesend seid, mein Herzblatt«, gab er galant zurück. »Und wie Ihr sehr wohl wisst, würde mich jetzt niemand mehr ohne meine Verlobte einladen.« Artemisia spürte, dass sie errötete. Beinahe hätte sie sich darüber geärgert, bis ihr einfiel, dass man von einem turtelnden Paar erwartete, dass die Braut errötete. Sie hob den Fächer halb vor das Gesicht, um ganz sicherzugehen, dass alle ihr Erröten bemerkten.
»Wie ich höre«, murmelte sie hinter dem Fächer hervor, »gibt es einen Ball, zu dem ich nicht eingeladen wurde.« »Wirklich?«, fragte der Kanzler in blasiertem Tonfall. »Dann wurde ich wahrscheinlich ebenfalls nicht eingeladen.« »Oh, ich glaube schon, Sir. Oder was sonst könnte in dem Brief in Eurer Tasche stehen, den vor mir zu verheimlichen Ihr Euch solche Mühe gebt?« Und tatsächlich zuckte die schwer beringte rechte Hand des Kanzlers zur Innentasche seines Jacketts, aber nur für einen kurzen Augenblick. »Ach, das. Denkt Ihr etwa, der Brief stamme von einer Frau?«, fragte er laut. »Der Himmel schütze Euch, mein Kätzchen. Seid Ihr etwa jetzt schon eifersüchtig?« Er blickte sich Beifall heischend am Tisch um; die Männer lachten anzüglich, und Artemisia errötete nun erst recht. Aber am Ende entlockte sie es ihm doch, als sie fast völlig allein waren und nur ihre Zofe in diskreter Entfernung saß. Es war ein Ball, ein Ball, zu dem zwar nur Schurken eingeladen wurden, wie auf der Einladungskarte zu lesen stand, aber eben trotzdem ein Ball. Und galt sie nicht als Zierde jedes Balls? Ihr Stern leuchtete zu hell und rein für eine solche Gesellschaft? Tja, dann würde sie ihr Leuchten eben mit ei 105 ner Maske bedecken. Sie hatte schon von Damen gehört, die aus reinem Spaß zu solch anrüchigen Veranstaltungen gingen, wenn auch angemessen verkleidet, und würden sie und Mylord nicht ohnehin bald heiraten, sodass es doch keine große Rolle mehr spielte? Und was die etwas ungehobelte Gesellschaft bei dem Ball anging, nun, es würde ohnehin bald seine Lebensaufgabe sein, sie zu beschützen. Gab es denn eine bessere Gelegenheit, das zu üben, als einen Ball mit richtigen Schurken? Ferris lachte, als sie das sagte, und gab zu, wenn er sie nicht beschützen könnte, dann würde es wohl niemand können. Aber er fürchte, die Sache erfordere doch ein Ausmaß an Diskretion, über das sie nicht verfüge. Denn dazu gehöre, dass sie sich ohne Aufsehens aus dem Haus schleichen müsse, sodass selbst ihre Zofe nichts bemerkte. Und was würden ihre Eltern von ihm denken, wenn sie es dann doch herausfänden? Ach, sagte sie, ihre Eltern seien ohnehin überzeugt, dass er ihr die Sterne vom Himmel holen würde. Und wenn er sie nicht zum Ball begleiten wolle, nun, dann würde sie eben einen anderen finden. Zum Beispiel Terence Monteith, der immer noch verrückt nach ihr sei, denn jeder wisse doch, dass er dahinwelke wie eine Blume im Herbst, seit sie Ferris' Verlobungsdiamanten an den Finger gesteckt hatte. Oder ihr Cousin Lucius Perry, der würde alles für sie tun. Wenn das so sei, entgegnete seine Lordschaft, werde er natürlich nicht zulassen, dass sie sich auf abgewiesene Liebhaber oder, noch schlimmer, auf Verwandte stützen müsse. Er sehe ein, es sei seine Pflicht, sie sicher zum Ball und von dort nach Hause zu begleiten, es sei ja ohnehin sozusagen das letzte Abenteuer ihrer Jungmädchenzeit. Wenn sie es also einrichten könne, sich an diesem Abend um neun Uhr am Gartentor einzufinden, werde er sie dort erwarten. Einen Umhang werde er mitbringen. Als sich Ferris verabschiedete, war Artemisia schier atemlos 105 vor Aufregung. Welch ein Triumph, einen solchen Mann ihrem Willen zu unterwerfen! Mit ihm verheiratet zu sein, würde ihr vielleicht doch nichts ausmachen, wenn das ein Vorgeschmack darauf gewesen war, was noch kommen würde. Am Abend des Schurkenballs legte Betty meinen hübschesten Anzug zurecht, den blauen, der mit scharlachroten Fäden durchwoben war, und ein neues Hemd mit Rüschen und feinen Goldbordüren sowie niedrige Stiefel mit kleinen Stulpen. Auch wenn ich kein Ballkleid tragen durfte, so sollte ich doch nicht wie ein Straßenköter daherkommen! Ich würde zum Ball gehen, und ich würde dort als die Nichte des Irren Herzogs auftreten, die die Kunst des Fechtens erlernt hatte und daher die Kleidung eines Degenfechters trug. Welchen Wert hatte es noch, die Sache zu verheimlichen? Früher oder später würde es sowieso herauskommen. Konnte genauso gut jetzt geschehen. Und selbst wenn ich eine passende Maske fände, würde er sie mir doch vom Gesicht reißen. Wenigstens hatte ich meine neue Degenscheide. Marcus zeigte sich höchst erfreut. Er hatte sich mit einer Schale Apfel und einem Buch mit Essays in sein Zimmer zurückgezogen und mir die Anweisung gegeben, mich gut zu
amüsieren, denn er selber hasse solche Dinge, und außerdem solle ich dafür sorgen, dass der Herzog nicht irgendwelche Dummheiten anstelle. Eine Weile wartete ich in der Eingangshalle, wobei ich mich bemühte, nicht ständig an meinem Degen herumzufummeln. Nichts sieht dümmer aus als ein Degenfechter, der ständig an seinem Gehänge herumfmgert, hatte mir der Meister einmal erklärt, und obwohl Phillip Drake vor Lachen brüllte, als ich es ihm erzählte, hatte ich vor, mich daran zu halten. Als ich lange genug gewartet hatte, gab ich schließlich auf, ging zu den Herzogsgemächern und klopfte an die Tür. Die Sonne war schon fast untergegangen, dennoch badete die Welt in ih 106 ren letzten Farbenstrahlen, nur die Räume des Herzogs waren düster und wurden lediglich durch Kerzen erhellt. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Er selbst saß vor dem Spiegel, das lange Haar hing ihm glatt und frisch gebürstet bis auf die Schultern. Seine Augen kamen mir ungewöhnlich groß vor; mit seltsam hell leuchtendem Blick schaute er in den Spiegel, in dem er mich hinter sich erblickte. Auf mich wirkte er ein wenig wie ein verwunschener Prinz. Vielleicht lag es an der blassen Haut oder den hell strahlenden Augen, dem ungewöhnlich feinen Haar oder den fein gemeißelten Wangenknochen. Er war in schlichtes schwarzes Leinen gekleidet, darunter ein weißes Hemd, dessen Säume an Nacken und Handgelenken gestärkt waren und knisterten. »Nicht zu prunkhaft«, beurteilte er mein Spiegelbild, »jedenfalls nicht für einen Schurkenball.« An seiner rechten Hand glitzerten Ringe; sein Kammerdiener kämmte ihm das Haar vom Gesicht zurück und band es mit einem Samthaarband zusammen. Mein Onkel erhob sich und betrachtete von oben meinen Kopf, dann ließ er den Blick an mir herunter bis zu den Stiefelspitzen wandern. Schließlich nickte er; ich hatte die Prüfung bestanden. »Bleib immer in meiner Nähe«, sagte er. Er selbst trug nicht einmal einen Dolch. Vermutlich waren die goldenen Ringe seine Waffen. Der schwarze Leinenanzug war hervorragend geschneidert; als er sich umdrehte, konnte ich die feinen Abnäher und Nahtstiche sehen. Er stolperte über einen Stuhl und musste sich am Bettpfosten festhalten, um nicht zu stürzen. »Bleib immer dicht bei mir«, wiederholte er, »die Dinge sind im Moment nicht so, wie sie sein sollten.« »Mylord«, sagte der Kammerdiener. »Soll ich Euch etwas bringen, um Euer Gleichgewicht zu stabilisieren?« »Nein«, antwortete der Herzog, »weshalb denn?« Ich folgte ihm die Treppe hinunter, wo man ihm einen 106 schweren Mantel umlegte. Vor der Tür wartete bereits eine Sänfte. Der Herzog schob sich sehr langsam durch die Vorhänge und ließ sich auf den Sitz sinken, wo er sich zurücklehnte und die Augen schloss. »Ist es denn Sommer?«, fragte er. »Mir ist sehr warm.« Ich gab keine Antwort; er hätte mir ohnehin nicht zugehört. Auf der anderen Seite der Brücke wartete eine Kutsche. Wir fuhren langsam am Flussufer entlang. Ich entdeckte viele Menschen, die zu Fuß in dieselbe Richtung gingen: die Bewohner von Riverside, alle in ihren besten, geschmacklosen Sonntagskleidern, sodass sie mir wie bunte Fahnenstangen beim Frühlingsfest vorkamen. Ein unverschämter Bursche klopfte an die Tür der Kutsche und verlangte mitgenommen zu werden, aber unser Lakai vertrieb ihn mit ein paar gezielten Hieben. Der Herzog legte mir die Hand auf den Arm und sagte, obwohl ich mich überhaupt nicht bewegt hatte: »Ganz ruhig bleiben. Jetzt noch nicht.« Das Zunfthaus war so hell erleuchtet, dass die hohen Fenster von außen wie mit Blattgold bedeckt wirkten. Ich war nicht die Einzige, die den Herzog beschützte: Ein paar unserer Männer begleiteten die Kutsche zu Pferd, und tatsächlich war die Eskorte nötig, um uns auf der Treppe, die zum Eingang hinaufführte, einen Weg zu bahnen. An der Tür blieb unsere Eskorte zurück. Der Herzog legte mir die Hand auf die Schulter und stützte sich auf mich. Ein riesiger Diener in Livree, die fast nur aus Bändern zu bestehen schien, trat uns in den Weg. Er schaute meinen Onkel an. Mein Onkel schaute ihn an. Offensichtlich sollte jetzt etwas geschehen, aber es geschah nichts. Ich überlegte gerade, wie peinlich diese Szene wohl noch werden würde, sollte der Diener versuchen, uns hinauszuwerfen. »Wir sind eingeladen«, erklärte ich nervös, aber niemand beachtete mich.
Endlich sprach mein Onkel den Diener an. »Was für eine 107 Aufmachung!«, sagte er langsam, aber deutlich. »Du siehst aus wie ein Jahrmarktschreier.« »Stimmt«, antwortete der Diener, »das habt Ihr völlig richtig erkannt. Soll ich Euch ankündigen, Sir?« »Spar dir die Mühe. Wissen doch alle, wer ich bin.« Und so betraten wir den Ballsaal. Ich erkannte Sabina nur daran, dass ich mir nicht vorstellen konnte, sie würde irgendeiner anderen Frau erlauben, bei ihrem Ball in einer Art rotem Samtnest zu ruhen, mit dem eine riesige goldene Muschel ausgekleidet war. Aber vermutlich hatte jeder das Recht, rosa Gaze und ein Halsband mit den größten Perlen, die ich je gesehen hatte, zu tragen. Die Muschel stand auf einer Plattform mitten im Saal, sodass der gesamte Ball mit all seiner hektischen Betriebsamkeit zwangsläufig um sie herumwirbeln musste. Der Herzog starrte die Muschel an und blinzelte. Sabina erblickte uns sofort, rief: »Alec!« und winkte mit einem Taschentuch in unsere Richtung. Als wir näher kamen, kreischte sie auf: »Schwarz! Schwarz habt Ihr doch schon bei meinem letzten Fest getragen!« »Hol mir etwas zu trinken«, murmelte mein Onkel, ließ aber meine Schulter nicht los. Inzwischen starrten uns natürlich alle an. »Ist das Euer neuer Freund?«, erkundigte sich Sabina. Wir standen vor ihrer Muschel, die über die Menge ragte und von geschnitzten Pferden mit Fischschwänzen gestützt wurde, die aus gemalten Fluten auftauchten. Es erinnerte mich an einen Präsentierteller bei einem Bankett, und ich bin keineswegs sicher, dass sie nicht genau das beabsichtigt hatte. »Nein, meine Liebe« antwortete er, »es würde Euch schwerfallen, mir diesen Jungen auszuspannen. Es sei denn, du stehst aufgefärbte Blondinen?«, fragte er mich, wartete aber meine Antwort gar nicht ab, sondern fügte hinzu: »Dieser Junge hier bewacht meinen Leib, hat aber nicht vor, ihm lebenswichtige Flüssigkeiten zu rauben.« 107 Sabina warf den Kopf zurück; sie hatte einen wirklich wunderbaren Hals. »Brillant. Wir alle haben uns schon gewundert, wann Euch das in den Sinn kommen würde. Nun denn, ich habe nicht vor, mir darüber Sorgen zu machen, dass man Euch auf meinem Ball auslöschen könnte. Ihr seid so bedachtsam, Ihr plant doch immer alles im Voraus.« »Rutsch mal rüber«, befahl er ihr, »ich muss mich setzen.« Die rosa Gaze machte sich noch ein wenig breiter. »Kommt nicht infrage. Du würdest mir nur die Show stehlen.« »Nun rutsch schon rüber, sage ich, du hast die beste Aussicht.« »Nein, das tu ich nicht!« Sie wurde allmählich wütend, und ich hatte nicht Marcus' Erfahrung. Aber ich versuchte es trotzdem. »Mylord«, sagte ich, »wollt Ihr denn nicht zuerst sehen, wer sonst noch hier ist?« »Ach du meine Güte!«, rief Sabina. »Das ist ja gar kein Junge! Das muss das Küken sein, von dem mir die arme Ginnie neulich erzählte. Schick sie nach Hause, Alec. Was ist nur los mit dir?« »Ich kann fechten«, erklärte ich zu meiner eigenen Überraschung tapfer. »Na«, entgegnete sie, »dann solltest du aber dafür sorgen, dass dein Onkel nicht in Schwierigkeiten gerät, sonst wirst du bald kämpfen müssen.« »Ich werde versuchen, mich zu beherrschen«, erklärte mein Onkel und arrangierte seinen langen Körper auf den Stufen, die zur Muschel hinaufführten. »Wie ist es damit? Und erzähl mir bloß nicht, du würdest es nicht als tolle Sache empfinden, dass dir der Herzog von Tremontaine zahm zu Füßen liegt. Darüber werden die Leute noch tagelang reden.« »Nein, nein, nein!« Sie schlug mit dem Fächer nach ihm. »Du verdirbst nur meine Wirkung. Außerdem wollen die Leute ständig etwas von Euch. Ich lasse nicht zu, dass die Leute vor 107 meiner hübschen kleinen Muschel Schlange stehen, nur um irgendwelche Bittschriften für eine bessere Kanalisation in der Tulliver-Straße loszuwerden.« »Ich halte Wache!«, verkündete ich. Schien mir die sicherste Beschäftigung zu sein. »Ich bin sicher, dass du das könntest, mein Engel«, schnurrte sie. »Aber ich möchte, dass ihr Euch gut amüsiert. Alle beide. Alec, mein Liebling, bitte geh und amüsiere dich und
angle dir den hübschesten Jungen, und morgen kannst du mir dann alles darüber erzählen. Ich werde dich als allerersten Besucher empfangen, versprochen! Und dann tratschen wir als Erstes die ganze Sache gründlich durch. Wirst du das für mich tun? Bitte! O mein Gott, wer ist dieser schneidige junge Degenträger?« Letzteres galt nicht uns, sondern einem maskierten jungen Mann in ausgesprochen eng anliegender Kniehose und weit offen stehendem Kragen. Er sah wirklich unerhört gut aus. Er musste sich dicht über den Herzog beugen, um ihr die Hand zu küssen. »O Gott«, stöhnte mein Onkel, »das Essen ist angerichtet. Bringt mich bloß von hier weg.« Ich nahm seine kalte Hand, zog ihn von den Stufen hoch und führte ihn mitten durch das Gedränge. Artemisia Fitz-Levi litt Höllenqualen, weil sie befürchtete, ihre Maske könnte verrutschen. Nervös zupfte sie an den Bändern, mit denen sie am Hinterkopf befestigt war. Wenn sie sich nur nicht hätte aus dem Haus schleichen müssen, ohne sich von ihrer Zofe helfen zu lassen! Dorrie hätte die Maske sehr viel enger in ihrem Haar befestigen können. Im Gegensatz zu jedem anderen Ball, den sie jemals besucht hatte, gab es hier keinen Platz, um sich zurückzuziehen und mit Hilfe der eigenen Zofe Tränenspuren zu beseitigen und verirrte Löckchen wieder zu arrangieren. Hier war sie auf sich selbst gestellt. »Keine Angst«, hauchte ihr Begleiter in ihr Ohr, »alle glau 108 ben, Ihr seid mein Vögelchen. Und stimmt das denn nicht? Haltet den Kopf hoch, Liebste, und lacht! Es muss aussehen, als hättet Ihr hier den größten Spaß, sonst merken sie sofort, dass es nicht der Fall ist.« »Aber ich habe Angst, dass die Maske herunter...« »Mein Liebes.« Ihr Zukünftiger ließ die Finger am Rand der Maske entlanggleiten, dort, wo sie auf den Wangen auflag. Sie verspürte einen Schauder ganz unten an ihrem Rückgrat: Aufregung oder Angst oder war es diese andere Sache, über die die älteren Mädchen ständig redeten? »Wenn ich bemerke, dass sie sich lockert, werde ich selbstverständlich der Erste sein, der Euch hilft, Euer Gesicht zu verstecken. Denkt Ihr denn, ich möchte, dass alle Welt weiß, dass meine Zukünftige bei dieser... Veranstaltung anwesend ist? Nein, mein liebes kleines verrücktes Kätzchen.« Sein Arm glitt auf ihren Rücken, und er presste sie eng an sich; durch die dicken Kleiderschichten spürte sie seine warme Hand auf ihrer Hüfte. »Das hier bleibt unser kleines Geheimnis, unser erstes gemeinsames Abenteuer. Ist es nicht genau das, was Ihr wolltet?« Und sie musste antworten: »Ja, natürlich.« In dem Saal wimmelte es von Menschen. Es kam ihr vor, als wäre sie in einen Wasserstrudel geraten, in einen Fluss, gegen den sie instinktiv ankämpfen wollte. Sie prallte mit jemandem zusammen und stieß unwillkürlich aus: »Oh! Entschuldigt bitte!« Aber ihr Begleiter drückte ihre Hüfte und lachte leise. »So dürft Ihr das nicht machen. Nicht hier, nicht mit diesem Pöbel! Nächstes Mal, wenn jemand Euch herumstößt, rammt Ihr ihm den Ellbogen in die Rippen und faucht ihn an: >Pass doch auf, du Trottel!«< Sie kicherte nervös. »Das kann ich nicht!« »O doch, das könnt Ihr. Versucht es einmal.« Ohne Vorwarnung schwang er sie herum, sodass sie gegen einen kleinen Mann prallte, der mit beiden Händen ein großes Stück Kuchen hielt. »Pass doch auf, dumme Kuh!«, stieß der Mann mit 108 vollem Mund hervor. »Pass selber auf!«, sagte sie, und obwohl sie die Wirkung durch einen Kicheranfall verdarb, versicherte ihr Ferris, dass sie das sehr gut gemacht habe. In einer Ecke des Saals begann ein kleines Orchester zu spielen, die Art Musik, die man in jeder Eckkneipe in Riverside zu hören bekam: Fideln und ratschende Flöten und Trommeln, und sie gefiel allen. Die Bewohner von Riverside und die Studenten kannten sämtliche Melodien und die Tanzschritte, die dazu gehörten, und warfen sich sofort in den Tanz. Die Adligen, die teilweise in Ballkleidern, teilweise in Lumpen gekleidet waren, sich aber dennoch durch ihre Reinlichkeit vom Volk unterschieden, musterten die Anwesenden und suchten nach hübschen Tanzpartnerinnen. Ich war froh, dass mich meine Kleidung davor bewahrte, für eine solche gehalten zu werden. Ich hielt mich im hellen Schatten des düster gekleideten Herzogs, während er auf der Suche nach Unterhaltung durch die Menge driftete.
Sein Auge blieb schließlich an einer Gruppe junger Männer haften, die farbenfrohe, lose flatternde Kleiderfetzen trugen. Sie hatten sich Bänder ins Haar geflochten, ebenso durch die sorgfältig arrangierten Hemdfetzen und Ärmel und die zerrissenen Beinkleider. Manche hatten winzige Glöckchen daran befestigt, die allerdings in dem Lärm nicht zu hören waren, aber sie sahen recht hübsch aus. »Hallo, Leute!«, rief einer in einem Ton, der wohl verrucht klingen sollte. »Wir sind die Gefährten des Königs! Kommt alle herbei, schließt Euch unserem teuflisch lasterhaften Gelage an!« Sie versuchten offenbar gerade, ein paar Leute an der Wand zu einer Art Pyramide zu arrangieren. Ein rothaariger Mann hatte ein vom Essen beflecktes Tischtuch auf dem Boden ausgebreitet und zeichnete oder schrieb mit einem angekohlten Ast darauf. Der Herzog steuerte auf die Gruppe zu, als strahlten ihre
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Farben wie ein Leuchtfeuer in einsamer Nacht. Einer erspähte uns und brüllte: »O Freude! Der dunkelste Nachttraum!« »Eher ein Albtraum«, rief der Rothaarige, »vereint mit der Versuchung persönlich. Genau das hat uns in unserem lebenden Bild noch gefehlt! Schließt Euch uns an, bitte, wir machen Euch unsterblich.« »Ich bin bereits unsterblich«, sagte der Herzog mit etwas schwer klingender Zunge, »oder habt Ihr eine neue Methode entdeckt?« »Kunst, Sir! Die Kunst ist das Medium! Kunst, wie es sie noch nie gegeben hat! Durch das Medium der Allegorie verleiht die Kunst Unsterblichkeit. Vereinigt Kunst mit Moral, so wird sie niemanden beleidigen und doch jedem Geschmack Genüge tun.« Wir besahen uns das Tableau genauer: Es war ein kompliziertes Arrangement von Menschen, die ihre Hände nach Früchten. Wein oder den nächsten Körpern ausstreckten. »Sieht mir aber nicht sehr moralisch aus«, bemerkte mein Onkel. »Genau!« »Was mein Freund meint, o finsterer, schöner Herr«, erklärte der Rothaarige, »ist, dass wir die Tugend enthüllen, indem wir sie als Laster verkleiden.« »Stammt das nicht von Placidius?«, fragte einer. »Nein, das stammt von mir«, gab der rothaarige Künstler scharf zurück, »und es ist ein großartiges Konzept. Ein Maskenball der Tugend, die Kehrseite alles Schurkischen — verhüllt als das, was sie niederringen will.« Sogar der Herzog lächelte darüber. »Wie passend.« Er gestikulierte zur Pyramide. »Und das hier... stellt was dar?« »Die rücksichtslose Suche des Menschen nach Vergnügung; die vergänglichen und ach so fleischlichen Gelüste! Seht doch nur, wie sie in ihrem Bemühen bedenkenlos aufeinander herumtreten! Und wie sich die Gelüste wie von Sinnen nach uns recken, um uns in Versuchung zu führen!« 109 Ich jedenfalls sah es sofort. Eines der Gelüste wurde von einem Mann dargestellt, der hinter einem anderen steckte, seinen in blaue Seide gekleideten Arm aus dem Gewühl der Leiber herausreckte und den Herzog mit laszivem Winken zu sich lockte. Diesen schmalen, glatt frisierten Kopf hatte ich schon einmal gesehen, und dieses Mal wusste ich sofort, wo es gewesen war. Dieser Mann war Artemisias Freund — und auch der Freund des Irren Herzogs. Ich suchte schon nach einer besonders geistreich-witzigen Bemerkung, um meinem Onkel klarzumachen, dass dieser besondere Schönling zu den Genüssen zählte, deren er sich bereits erfreut hatte, aber wenn ich mehr über den geheimnisvollen jungen Mann herausfinden wollte, der nette junge Damen auf dem Hügel besuchte und bei Madame Glinley arbeitete, musste ich vorsichtig sein. Heute Abend würde ich seinen Namen herausfinden, das nahm ich mir als Aufgabe vor, und wenn ich Glück hatte, würde mein Onkel nichts merken. »Indem man also die Tugend herausstellen will«, fuhr der rothaarige Künstler fort, »ist es möglich, ja sogar notwendig, das Laster in all seinen Manifestationen aufzuzeigen. Die Massen werden enormen Gefallen an der Darstellung finden.« »Genau«, sagte der Herzog. »Nun holt endlich Eure Skizzenblöcke hervor und fangt an, denn ich will ganz oben stehen, aber ich werde mich nicht mehr lange auf den Beinen halten können.«
Er übergab mir sein leeres Glas, und ich erinnerte mich plötzlich wieder meiner Pflichten. »O nein, ich glaube, Ihr solltet da nicht...« »Du bist meine Leibfechterin, nicht meine Gouvernante«, sagte der Herzog streng. »Wenn mich jemand mit einem scharfen und spitzen Gegenstand angreift, tötest du ihn. Ansonsten lässt du mich gefälligst in Ruhe.« Es hatte keinen Zweck, mich mit ihm darüber zu streiten. 110 Und wenn er sich dabei ein Bein brach, würde sich bestimmt jemand finden, der es ihm schiente. Der Herzog setzte einen fein beschuhten Fuß auf den Oberschenkel eines der unten kauernden Erdgeister und machte sich an den Aufstieg. In Kindertagen war ich so manchen Baum hinaufgeklettert, und das traf offenbar auch für ihn zu. Aber Bäume zittern und kichern nicht, wenn man an ihnen hinaufsteigt. Der rothaarige Künstler half ihm nicht wirklich, sondern lief nur näher heran, um die Pyramidenleute ein wenig zu schubsen oder zu tätscheln, wenn sie ihre Pose vergaßen oder aus der Reihe tanzen wollten. Dabei schlug ihm die offenbar besonders kitzlige Tugend der Mäßigung fast die Zähne aus. Ein paar Künstler begannen wie wild zu skizzieren. Auf ihren Blöcken erschienen Formen, die wie trübe Wolkengebirge aussahen und überhaupt nicht wie Menschenleiber, aber dann merkte ich, dass sie eigentlich eher Landkarten der Szenerie zeichneten. So etwas hatte ich noch nie im Leben gesehen und war davon so fasziniert, dass ich sogar den Zusammenbruch der gesamten Allegorie verpasste. Ich hörte nur meinen Onkel brüllen: »Du! Du...«, und schon wurden die Rufe unverständlich, und alles stürzte in einem Wirbel von Armen, Beinen, Röcken, Haaren, Bändern, Schreien und Gelächter in sich zusammen. Der Herzog kroch unter dem wimmelnden Leiberhaufen hervor und deutete darauf: »Töte ihn«, befahl er mir, »er hat mich gebissen.« »Ich glaube nicht, dass das im Moment...« »Mylord, ich muss um Verzeihung bitten.« Ein blonder Kopf mit rosigen Wangen schob sich unter dem Menschenberg hervor. »Ich habe Euch versehentlich für eine höchst köstliche Frucht gehalten.« »Eine Verwechslung, die jedem leicht unterlaufen kann«, gab der Herzog geschmeidig zurück. »Kenne ich Euch?« Ich jedenfalls kannte ihn. Es war der widerliche Alcuin. 110 Artemisia hatte Seitenstechen. Hilfe suchend streckte sie die Hand über die Tänzer hinweg nach Lord Ferris aus, aber seine Hand schien von ihr weggezogen zu werden, als zerrten diese entsetzliche Musik, diese jammernden Saiten an ihm. Ein Fremder, dessen Atem nach Knoblauch stank, hatte den Arm um sie geschlungen, und sie war den Tränen nahe. Auch den Tanz kannte sie nicht. Es gab keine vorgeschriebenen Schritte, man sprang im Takt der Musik einfach vor und zurück, wobei man vom Partner mal hierhin, mal dorthin geschwungen wurde, bis er einen schließlich bei einem bestimmten Zeichen an jemand anderen weiterreichte, nur hatte sie keine Ahnung, was für ein Zeichen es war. Alle Sorten von Männer hatten ihre Hände überall an ihrem Körper gehabt, und es war einfach zu viel, wirklich zu viel, aber jedes Mal, wenn Lord Ferris in ihr Blickfeld kam, lächelte er sie fröhlich an und sagte: »Gefällt es Euch, Liebling?« Das war der einzige Grund, dass sie sich nicht einfach losriss und nach Hause lief. Inzwischen war der Knoblauchmann wieder verschwunden, und nun roch sie einen vertrauten Geruch, blickte auf und sah, dass Lord Ferris den Arm um sie gelegt hatte, und sie lehnte sich gegen seine Brust und wimmerte: »Ich bin so durstig!« »Armes Kätzchen«, sagte er, »natürlich seid Ihr durstig! Was für ein strahlender Stern Ihr hier doch seid, ein Juwel in den Armen der härtesten Schurken der Stadt!« Er drückte sie sehr eng an sich, enger als jemals zuvor. Und endlich hatten sie die Tanzfläche hinter sich, und er führte sie zu einem stilleren Winkel, wo sie nicht mehr dem entsetzlichen Gedränge ausgesetzt war. »Was kann ich Euch bringen, mein süßer Liebling? Wein? Oder vielleicht Bier, was besser zu einem solchen Ball passen würde?« »Wasser«, hauchte sie, »oder ein kühles Saftgetränk.« Aber er redete weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Ich bin nicht sicher, ob sie heute überhaupt Wein ausschenken lässt.
111 Die Leute würden ihn doch wie einfaches Bier hinunterschütten, so sind diese Typen eben, und dann hätten wir bald das reine Chaos. Aber macht Euch keine Sorgen, ich habe Euch etwas mitgebracht.« Er zog eine Flasche aus der Tasche und hob sie an seine Lippen. Als er sie wieder absetzte, glänzten seine Lippen feucht. »Versucht es einmal!«, flüsterte er. »Was?«, fragte Artemisia verblüfft. Er neigte sein Gesicht ganz nahe herab, sodass seine feuchten Lippen fast die ihren berührten. »Streckt mal die Zunge heraus und versucht es.« Niemand wusste, wo sie war. Niemand hier scherte sich darum, was er von ihr verlangte. Sie standen in einer Ecke, in der sie niemand sehen konnte. Sie schloss die Augen, schob langsam die Zunge heraus und spürte das leichte Brennen von Weinbrand auf der Zunge und den Lippen. »Ah!« Sein heißer Atem schoss plötzlich in ihren offenen Mund, in ihre Lungen; sie schnappte nach Luft und versuchte, sich zu befreien, aber seine Arme lagen fest und eng um ihren Körper. »Ah!«, stöhnte er noch einmal. Plötzlich war sein Mund überall auf ihrer Haut, auf ihren Lippen, ihrem Kinn, ihren Ohren, ihrem Nacken, ihrem Busen, denn sie hatte den tiefsten Ausschnitt gewählt, den sie zu tragen wagte. »Mein kleines böses Mädchen«, sagte er, »wie sehr ich dich anbete!« Artemisia hätte sich eigentlich geschmeichelt fühlen sollen, stattdessen verspürte sie nichts als Furcht. Auch seine Hände waren überall, zerknitterten ihr Kleid, schoben ihr Korsett beiseite, hielten ihre eigenen Hände fest, während er sie küsste. »Bitte«, keuchte sie, »ich will...« »Oh, du willst!«, murmelte er. »Du willst! Natürlich willst du, du willst es, und ich will es auch.« »Nein!« Sie sagte es zwar, sie hörte sich sogar nein sagen, aber er of 111 fenbar nicht. Er schien überhaupt nichts mehr zu hören außer seinem eigenen heißen Atem, der furchtbar laut in ihrem Ohr klang, während er irgendetwas mit ihrem Rock tat, bis rein gar nichts mehr zwischen ihm und ihr war, wirklich nichts. Obwohl sie in ihrer Verzweiflung weinte, schien ihn das nur noch heißer zu machen, als er sie gegen die Wand drängte und sich in sie hineinrammte, immer und immer wieder und sie zu denken aufhören musste, weil sie nichts mehr tun konnte, bis er einen widerlichen Ton ausstieß und sie mit seinem verschwitzten Körper bedeckte und sagte: »Konnte nicht mehr warten. Du auch nicht?« Sie zitterte so sehr, dass ihr Körper zu zerschellen drohte. »Meine Liebste«, sagte er und schob eine Haarlocke von ihrer Wange, »ist dir kalt?« »Bitte... ich will nach Hause.« »Komm nach Hause — zu mir«, murmelte er. »Wir haben noch die ganze Nacht vor uns.« Er legte den Arm um sie, und sie spürte einen Brechreiz im Hals aufsteigen. Sie schluckte heftig, versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen, aber die Wörter klangen schrill und unsicher. »Wie könnt Ihr das nur sagen? Wie könnt Ihr so etwas zu mir sagen?« »Aber warum denn nicht, Liebling?«, murmelte Lord Ferris in ihr Haar. »Wie könnt Ihr es wagen, mir vorzuschlagen, ich sei... dass ich...« »Dass du die Art Mädchen bist, die allein und ohne Anstandsdame mit einem Mann zu einem fremden Ort geht? Ohne jeden Schutz? Und dass du ihm erlaubst, sich bei dir Freiheiten herauszunehmen?« Etwas blieb in ihrem Hals stecken, und sie gab eine Art Jaulen von sich. »Aber, aber«, fuhr er fort, »weine doch nicht! Siehst du denn nicht, dass ich dich jetzt nur umso mehr liebe, du geile, kleine, süße Schlampe?« Sie schluchzte so sehr, dass sie kaum noch atmen konnte, 111 und hörte, dass sie ein grauenhaftes Würgegeräusch von sich gab. Blind streckte sie die Hand aus, um sich zu stützen, irgendeinen Halt zu finden, aber es waren nur seine Hände, die sie fand. »Oh, komm schon«, sagte er, »das war doch gar nicht so schlecht. Hör endlich auf zu heulen wie ein Küchenmädchen. Vielleicht bin ich ein wenig zu schnell gekommen, da es ja bei dir das erste Mal war, aber das kannst du mir doch nicht vorwerfen! Ich war völlig
überwältigt von deiner Schönheit. Ich bin seit Wochen überwältigt, und das weißt du sehr genau, du kleines heißes Ding. Erst machst du mich heiß, und dann verlangst du, dass ich mich beherrschen soll! Komm schon, hör auf zu jammern. Ich verspreche dir, dass ich jetzt brav sein werde und geduldig warten werde, bis wir verheiratet sind. Es wird dir gefallen, du wirst schon sehen.« »Verheiratet?«, schluchzte sie auf. »Verheiratet? Mit Euch?« In diesem Augenblick wurde ihr klar, was das Wort bedeutete. Verheiratet mit Lord Ferris. Erst kamen die Kleider und der Schmuck und die Hochzeitszeremonie und die Gäste und das Bankett. Dann würde sie mit ihm nach Hause, zu seinem Haus, fahren und würde ihm für immer gehören, und er würde das mit ihr tun können, wann immer es ihm gefiel und ohne lang um Erlaubnis zu bitten. Das war es, was das Wort bedeutete. »Ja, richtig, verheiratet mit mir«, sagte er sachlich und lachte leise. »Oder dachtest du, du könntest es mit mir treiben und dann doch jemand anders heiraten? So funktioniert die Sache nicht, meine süße kleine Nutte, und das weißt du auch.« Artemisia schnappte nach Luft — einmal, zweimal, bis sie genug Luft in den Lungen hatte, um hervorstoßen zu können: »Niemals. Ich werde Euch niemals heiraten.« »O doch, das wirst du«, antwortete er unbekümmert. »Betrachte die Sache doch mal so: Zumindest wissen wir jetzt, dass wir auch im Bett gut zueinanderpassen. Das ist schon 112 mal nicht schlecht. Und jetzt reiß dich zusammen, du siehst ein wenig ramponiert aus. Ich hole dir ein hübsches kleines Getränk, und wenn ich zurückkomme, tanzen wir ein wenig, in Ordnung?« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Sorge«, versicherte er ihr. »Ich lasse dich nicht mehr mit diesen Bauerntölpeln tanzen. Ich gebe zu, es hat mir Spaß gemacht, dass sie dich überall anfassten, aber jetzt gehörst du mir, und ich werde dich niemals mehr aus der Hand geben.« Mein Onkel betrachtete Alcuin von oben bis unten. »Oh. Du. Dachte, ich sei dich schon vor Ewigkeiten losgeworden. Was hast du dir dabei gedacht, dich in einer Allegorie zu verstecken und mich zu beißen?« »Alte Gewohnheiten wird man nur schwer los?«, schlug der schöne Alcuin als Antwort vor. »Das jedenfalls ist eine Gewohnheit, die abzugewöhnen ich mich bemühen würde, wenn ich du wäre.« »Ach, wirklich?« Als wäre er verlegen, schlug Alcuin den Blick nieder, doch dann schaute er den Herzog durch die langen Wimpern an. »Wollt Ihr mir nicht dabei helfen, mich zu bessern?« Wie unter einem Zauberbann streckte der Herzog langsam die Hand nach dem hübschen Gesicht des jungen Mannes aus, doch im letzten Augenblick wandte Alcuin das Gesicht ab. »Lasst mich in Ruhe!«, sagte er grob. »Ihr habt Eure Chance gehabt.« Die Szene gefiel mir nicht. Ein paar Leute horchten auf. Ich schaute mich nach dem geschmeidigen Mann von Glinleys Etablissement um, aber er hatte sich schon davongeschlichen. Die meisten Künstler hatten wahrscheinlich keine Ahnung, wer mein Onkel war, aber verschiedene Bewohner von Riverside kannten ihn, und schon hörte ich sie hinter mir flüstern: Tremontaine. . . Mein Onkel blickte seinem früheren Geliebten in die Au 112 gen. »Du bist ein Schuhabstreifer«, sagte er. »Abschaum. Wertloser Abfall.« Alle Farbe wich aus Alcuins Gesicht, dann lief es dunkelrot an. »Nicht völlig wertlos. Ich habe etwas, das Ihr nicht habt. Etwas, von dem ich zufällig weiß, dass Ihr es haben wollt.« Er hob den Kopf und formte die rosigen Lippen zu einem kleinen Schmollmund. Ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Mann tauchte neben ihm auf; ein Degen hing tief an seiner Seite. »Macht Euch hier jemand Schwierigkeiten?«, fragte der Degenfechter seinen Freund. Das Gesicht des Herzogs erstarrte vor Abscheu. Er beachtete den Degenfechter nicht weiter, sondern wandte sich wieder an Alcuin. »Du kannst mich nicht herausfordern, du kleiner Scheißer. Nur ein Adliger kann das, und du bist ganz bestimmt nicht adlig. Der Ehrengerichtshof würde deinen Fall niemals zur Anhörung zulassen. Und ein Zivilgericht würde dich zum Tod verurteilen, selbst wenn du siegen würdest.«
»Niemand würde auch nur im Traum daran denken, Euch herauszufordern, Sir.« Alcuin ließ sich nicht einschüchtern. »Aber mein Degenfechter hat das Recht, Euer... Ding selbst herauszufordern.« Meine Hand fuhr zum Degengriff. Undeutlich hörte ich den Herzog sagen: »Es scheint, Lady Katherine, dass mein verflossener Liebling Euer Blut sehen will.« Das war mir gleichgültig. Ich war mehr als nur bereit, es mit ihm aufzunehmen. Schon deshalb, weil ich mich nicht gern als »Ding« bezeichnen ließ. Alcuins Degenfechter war viel größer und viel stärker als ich. Er betrachtete mich von oben bis unten. »Glaubt Ihr wirklich, dass es die Sache wert ist?«, fragte er Alcuin. »Frag nicht lang, tu es einfach«, befahl ihm Alcuin durch zusammengebissene Zähne.
113 »Ich möchte Euch nicht zu nahetreten, mein Lieber, aber das ist doch ein Mädchen, oder nicht?« Wie Alcuin selbst schien auch sein Degenfechter nicht besonders helle zu sein. »Von mir aus könnte sie auch ein Waschbär mit Sommersprossen sein. Es wäre mir egal! Sie hat einen Degen, und sie beleidigt mich. Und wenn du heute Abend oder überhaupt jemals wieder ein Mädchen haben willst, solltest du jetzt auf der Stelle blank ziehen und ihr ein wenig Respekt beibringen!« »Sie ist adlig«, erklärte der Herzog blasiert, »und Ihr nicht. Das Privileg des Degens steht nur einem Ad...« »Ich akzeptiere die Herausforderung!«, warf ich schnell ein. »Ich nehme sie in meinem eigenen Namen an, Degen gegen Degen!« »Na gut«, sagte mein Onkel. Ich blickte mich um — inzwischen hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge um uns versammelt. »Wo sollen wir...« »Macht Platz!« Der Herzog und ein paar andere Männer schoben die Leute zurück, sodass ein großer freier Kreis entstand. Ich verspürte plötzlich den heißen Wunsch, dass Marcus das hier zu sehen bekäme, nicht um mir zu helfen, sondern um Zeuge zu werden, wenn die Sache endlich zum ersten Mal richtig ernst wurde. »Ich setze fünf auf das Mädchen.« Die Wetten begannen. »Zwanzig auf Rippington.« So also hieß mein Gegner. Was für ein einfältiger Name für einen Fechter: Rippington. Rippington und ich standen uns im Kreis gegenüber. »Du meine Güte«, seufzte er. Als Herausforderer hatte er das Recht, den Kampf zu beginnen, aber als Herausgeforderte konnte ich die Regeln bestimmen, nach denen wir kämpften. »Kleiner Tod«, sagte ich. Das bedeutete einen Kampf bis zum ersten Treffer, der Blut hervorbrachte. Ich hielt das Heft des Degens meines Meisters fest gepackt. Ich war froh, dass ich mir von Phillip Drake nicht hatte ausreden lassen, den 113 Degen zum Ball mitzunehmen. Ich dachte, gut, zumindest hast du das dann schon einmal gemacht. Ich holte tief Luft, spürte in den Füßen, dass meine Balance perfekt war. Balance ist alles. »En garde?«, fragte er formell. Ich nickte. Er zog blank, ich zog blank, und wir nahmen die Fechtstellung ein. Dann rückte Rippington vor und tippte leicht gegen meinen Degen. Ich rührte mich nicht. Nur keine Bewegung vergeuden, nur nicht die eigene Stärke zeigen, bevor es nicht unbedingt nötig ist. Lass ihn warten, lass ihn raten und bring ihn dazu, dir alles zu zeigen. Rippington kämpfte wie bei einer Übungslektion. Er wich zurück und führte einen perfekten Ausfall aus. Vielleicht hoffte er, die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen, aber ich hatte den Angriff schon meilenweit vorausgesehen und sprang behände zur Seite, um ihn an mir vorbeistürmen zu lassen. Und das tat er auch, wobei er beinahe gestürzt wäre. »Verdammt!«, fluchte er, und ich hörte jemand sagen: »Zwanzig auf das Mädchen.« Ich wirbelte herum und griff ihn mit einer hoch ausgeführten Finte an, um herauszufinden, ob er darauf hereinfiel, und das tat er natürlich auch prompt und bot mir seinen völlig ungeschützten Vorderkörper gerade lang genug, dass ich ihn hätte töten können, wenn ich es gewollt hätte. Dieses Mal parierte er rechtzeitig, und ich antwortete ein wenig angeberisch mit einer hübsch anzusehenden Riposte, nur um herauszufinden, ob er auch dieser Bewegung folgen würde. Gott, war der Mann langsam! Erst später wurde mir klar, dass er getrunken haben musste, denn er reagierte äußerst träge und führte seine
Bewegungen sehr penibel aus. Er focht, als wollte er mir Unterricht erteilen oder als wollte er immer ganz sicher gehen, dass sich seine Füße stets in der korrekten Stellung befanden. Wein ist des Degens Feind. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich noch davon überzeugt, dass er 114 sich nur über mich lustig machte und mich nicht ernst nehmen wollte. Also wurde ich ein wenig wagemutiger und versuchte, die Sache voranzutreiben. Fehler. Betrunken oder nicht, sein Degen war jedenfalls lang und tödlich scharf. Als wir im Kampf näher aneinanderrückten, wurde mir klar, dass er mir den Degen aus der Hand fegen konnte, wenn er nur genug Kraft einsetzte. Ich erschrak und wich hastig zurück, wobei ich fast in den Zuschauerring stürzte. Ein paar Leute jubelten, und obwohl ich versuchte, nicht auf die Zuschauer zu achten, wusste ich doch, was sie sagen wollten. Ich sah wie eine Närrin aus, und so fühlte ich mich auch. Das hier war schließlich keine Übungsstunde. Rippingtons Degenspitze trug keinen Schutz, und er würde nicht zögern, wenn er nahe genug an mich herankam. Und schon kam er in einer Fleche heran; ich spürte den Luftzug der Klinge, die dicht an meiner Wange vorbeistrich, und mir wurde bewusst, dass die Klinge aus gehärtetem Stahl war. Er hatte sich bisher nicht besonders viel Mühe gegeben, weil er dachte, dass ich es nicht wert sei. Jetzt allerdings war er nicht mehr so freundlich. Er fing an, härter zu arbeiten, mich auf die Probe zu stellen, und versuchte, mich zu ermüden. Ich beschränkte mich auf sparsame Bewegungen, um ihm so wenig wie möglich zu verraten, aber es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten und nicht meine wirkungsvollsten Abwehrbewegungen auszuführen. Spar sie dir auf, flüsterte mir eine innere Stimme zu. Spar sie dir auf bis du sie wirklich brauchst. Beobachte ihn und warte ab, was er macht. Und so beobachtete ich ihn und reagierte auf seine Züge. Die Zuschauer waren jetzt stiller geworden. Es war, wie es eigentlich sein sollte — eine Unterhaltung zwischen zwei Ebenbürtigen, eine mit Stahl ausgetragene Debatte. Ich würde nicht sterben. Das Schlimmste, das mir passierten konnte, war, dass ich den Kampf verlor, aber ich hatte nicht vor, ihn zu verlieren, solange ich noch mitreden durfte. Denn jetzt end 114 lieh entdeckte ich, welche Aktion meinem Gegner am besten gefiel: eine hübsch anzusehende Doppel-Riposte. Und danach entdeckte ich auch, wie ich ihn unweigerlich dazu bringen konnte, sie auszuführen: eine Parade, erst hoch, dann tiefer ausgeführt. Dabei spielte es keine Rolle, wann ich angriff, denn ich konnte fest darauf zählen, dass er die Doppel-Riposte anwenden würde. Wie eine Katze, die immer wieder nach dem Wollknäuel springt, das man vor ihren Augen schwingen lässt. Vermutlich war seine Riposte bei einem größeren Gegner wirkungsvoller als bei mir :Er musste die Degenhand weiter ausstrecken, als er es gewohnt war. Trotzdem wandte er die Riposte aus schierer Gewohnheit immer wieder an. Oder vielleicht auch, weil er in dieser Pose besonders gut aussah, aber der Größenunterschied zwischen uns bedeutete, dass er sich dabei nicht völlig im Gleichgewicht befand. Das ist das Problem, wenn man immer wieder eine einzige Lieblingsaktion durchführt. Ich verleitete ihn dazu, sie noch einmal anzuwenden — und dann griff ich ihn direkt an, genau dort, wo ich ihn angreifen sollte, mit einem Stoß direkt ins... Direkt ins Herz, das wäre es wohl gewesen, und ich weiß nicht, ob er den Stoß noch rechtzeitig hätte abwehren können, aber im allerletzten Augenblick wurde mir erschreckend klar, was zu tun ich im Begriff war, und drehte mein Handgelenk ein klein wenig zur Seite, sodass die Degenspitze über seinen Arm fuhr und den Ärmel und die Haut darunter aufriss. »Blut!«, stieg der Aufschrei zur Decke. Ich wich keuchend zurück; erst jetzt merkte ich, wie schwer ich hatte arbeiten müssen. »Erstes Blut geht an... wie ist Euer Name, meine Liebe?« »Äh, Katherine«, brachte ich hervor, »Katherine Talbert.« Mein Onkel betrachtete mich höchst erfreut. »Das«, begann er, »ist meine...« 114 »Haltet den Mund!«, fuhr ich ihn an, »haltet den Mund, erspart es mir wenigstens dieses eine Mal, verstanden?« Aber er brach in Gelächter aus und lachte so sehr, dass ihn der rothaarige Künstler stützen musste. Ich hatte den Eindruck, dass dem rothaarigen Künstler, der Allegorien so sehr mochte, noch ein höchst interessanter Abend bevorstand.
»Alec!« Sabina erschien, vermutlich hatte sie die ganze Zeit gebraucht, um sich aus der Muschel zu schälen. »Alec, hab ich dir nicht gesagt, dass ich auf meinem Fest keinen Streit dulde?« Ich schaute mich nach Rippington um. Alcuin verband gerade die Wunde, umgeben von einer ganzen Menagerie von Freunden. Ein paar von ihnen warfen mir wirklich sehr gemeine Blicke zu. Der Gedanke war mir noch nie gekommen, dass man sich durch einen Sieg bei einem Fechtkampf nicht unbedingt bei allen Leuten beliebt machte. Stand auch in keinem Lehrbuch. Selbst Richard St.Vier hatte mir nichts davon gesagt. Aber es fehlte auch nicht an Zuschauern, die mir wirklich nett und aufmunternd zureden wollten, nur war ich im Moment nicht in der Verfassung, ihre Fragen zu beantworten. Ich war entsetzlich durstig, vor allem aber wollte ich jetzt eine Weile allein sein. »Hier, trink erst mal was.« Jemand drückte mir einen Becher in die Hand — die Frau, die ich bei meinem ersten Ausflug in Riverside getroffen hatte, die farbenprächtige Ginnie Vandall. Ich trank gierig. Noch nie hatte mir ein Schluck Wasser so gut geschmeckt. Sie schob mir den Arm um die Hüfte, und ich ließ mich von der Menschenmenge wegführen. Aber sie wollte etwas von mir wissen. »Wo ist er?«, murmelte sie mir leise, aber drängend ins Ohr. »Ich habe ihn an deinen Fechtkünsten erkannt. Wo ist er?« Ich riss mich von ihr los und ging schnell davon. Ich floh in den hintersten Winkel, den ich finden konnte, 115 leider war er schon besetzt von einer dunkelhaarigen Frau in einem wirklich wunderbaren lavendelfarbenen Kleid, eine Farbe, die mir nicht stand und die ich niemals tragen konnte. Sie stand mit dem Rücken zu mir, aber im selben Augenblick drehte sie sich um, und ich erkannte Artemisia Fitz-Levi, ausgerechnet Artemisia, von allen Leuten, die auf dem Ball waren. »Oh!«, rief sie überrascht. »Du bist es! Du bist auch hier? Gefällt es dir hier?« Offenbar hatte sie sich soeben die Augen aus dem Kopf geweint. Und ihre Frisur war völlig durcheinander. »Was ist passiert?«, fragte ich, weil ganz offensichtlich etwas geschehen sein musste, und was immer es war, es konnte nichts Angenehmes gewesen sein. »Ach, nichts. Bei mir ist alles in Ordnung. Und wie geht es dir?« Doch ihre Hände zitterten, als ich sie ergriff. Außerdem waren sie eiskalt. »Mir geht es gut. Ich hätte beinahe jemand getötet. Ich bin als Leibwächterin des Herzogs hier, aber ich glaube, du brauchst eher eine.« Sie schaute mich entsetzt an. »Ist meine Frisur wirklich so schlimm?« »Ein reines Rattennest.« Die letzten Reste ihrer Selbstbeherrschung lösten sich auf, und sie begann zu weinen. Sie hob die Hände vors Gesicht, als könnte sie sich dahinter vollkommen verbergen, und schüttelte den Kopf, als ich sie tröstend berühren wollte. Ich tat das, was ich auch bei meiner Mutter manchmal tat: Ich legte die Arme um sie und hielt sie fest, bis sie wie selbstverständlich den Kopf auf meine Schulter sinken ließ und mich umarmte und eine gute Weile nur leise schluchzte. Als sie sich endlich wieder ein wenig beruhigt hatte, schob ich sie gerade so weit von mir, dass ich mein Taschentuch herausziehen und es ihr anbieten konnte. 115 »Nun komm schon«, sagte ich, »kannst du mir nicht erzählen, was geschehen ist? Vielleicht kann ich etwas tun?« »Du kannst nichts tun«, schniefte sie. »Niemand kann etwas tun. Alles ist meine Schuld, und ich kann auch nichts tun, aber ich werde ihn nicht heiraten, niemals!« »Heiraten? Wen denn?« »Lo-lord F-Ferris. Meinen Verlobten. Ich habe ihn dazu gebracht, mich zu dem Ball mitzunehmen, und dann hat er... hat er...« Ich wich einen Schritt zurück. »Ein Adliger hat dich hierher gebracht? Zu diesem Ball? Ist er denn ein Idiot oder was?«
»Er ist der Kreiskanzler, du Dummkopf!« Nun ja, sie war offenbar durcheinander. »Und ich soll ihn heiraten, aber das kann ich nicht mehr, jetzt schon gar nicht. Ich kann überhaupt niemanden mehr heiraten, niemals, ich bin ruiniert!«, schluchzte sie. »Ruiniert? Wie meinst du das?« Sie bekam plötzlich einen Schluckauf, schaute mich aber ernst an. »Entehrt. Genau so wie in den Romanen. Das meine ich mit ruiniert.« »Und dein Lord Ferris stand dabei und hat zugelassen, dass dich jemand...« »Nein! Er hat es selber getan!« Ich griff nach ihrer schweißklebrigen Hand, und sie drückte meine. »Er sagt, dass ich lernen würde, es zu genießen. Aber das werde ich nie! Ich nicht! Und ich werde ihn nicht heiraten. Nie mehr werde ich zulassen, dass er mich anfasst.« »Ganz bestimmt nicht«, sagte ich fest. »Ich denke, du solltest jetzt nach Hause gehen.« »Bringst du mich heim?«, bat sie mit kläglicher Stimme. »Ich... ich muss erst meinen Onkel fragen...« »Nein! Du darfst niemandem davon erzählen! Und vor allem nicht ihm!« 116 »Ich werde es ihm nicht erzählen. Ich werde einfach...« Aber was? Dann kam mir ein Einfall. »Erinnerst du dich, als ich dich das erste Mal besuchen wollte? Du hattest gerade Besuch von einem hübschen jungen Mann, weißt du noch?« »Hübsch genug ist er wohl«, schniefte sie. »Das war mein Vetter Lucius. Lucius Perry.« »Dein Vetter! Na wunderbar. Der ist nämlich auch hier, Artemisia. Ich habe ihn vorhin gesehen. Ich werde ihn suchen. Er kann dich nach Hause begleiten.« Sie packte mich am Ärmel. »O nein! Lass mich nicht allein! Lord Ferris kann jeden Augenblick zurückkommen.« »Dann musst du dich verstecken. Schnell, wir haben nicht viel Zeit.« In der Eingangshalle entdeckten wir eine kleine dunkle Nische, in die sie sich kauerte, sodass ihr Gesicht im fahlen Mondlicht nur noch blass schimmerte. »Du musst jetzt stark sein«, sagte ich, »und mutig, Artemisia. Ich werde diesen Lucius schon finden, dann wird vielleicht alles gut.« Sie öffnete weit die Augen, und ich sah, wie sich ihre Miene veränderte. Der schmerzerfüllte Ausdruck wich ein wenig und ging in sanfte Entschlossenheit über. »Alles wird gut«, echote sie, und ich wusste, dass wir beide an dasselbe Kapitel dachten, »wenn ich dich zur Seite habe.« Ich wandte mich zum Ballsaal zurück, was eine gute Idee war, denn ich errötete heftig. Obwohl ich selber häufig darüber nachgedacht hatte, hatte mich noch niemand mit Fabian verglichen. Der Ballsaal war ein einziges, riesiges Irrenhaus, überall tanzten die Leute, küssten sich oder taten was weiß ich. Ohne einen Plan würde ich ihren Vetter Lucius niemals finden. Lucius Perry, Lucius Perry — ein Adliger und noch dazu einer aus der Perry-Sippe. Selbst ich hatte schon von der Perry-Sippe gehört, eine große und wohlhabende Familie. Kein wunder, dass der Herzog nicht hatte wissen wollen, wer der fremde 116 Besucher gewesen war. Der Herzog ermunterte Artemisias Cousin Lucius zu einem lasterhaften Leben und strich sogar noch einen Teil des Profits ein. Vielleicht erpresste er den jungen Perry sogar. Erpresste Tremontaine gewisse Leute, oder zog er davor eine Grenze? Manchmal hatte er schon seltsame Vorstellungen von Ehre, mein lieber Onkel, der Irre Herzog. »Aus dem Weg, Knabe!« Ein groß gewachsener Mann in roter Brokatkleidung prallte mit mir zusammen, und ich fuhr fast eine Elle hoch in die Luft. War das nicht Artemisias Verlobter, der Übeltäter? Ich hatte keine Ahnung, wie der Kreiskanzler aussah, aber ich musste dafür sorgen, dass er sie heute Abend nicht mehr zu sehen bekam. Jetzt wünschte ich mir erst recht, dass Marcus hier wäre. Aber er war nun mal nicht hier. Das mochte sogar zum Besten sein; auf jeden Fall würde ich ihm die Sache mit Lucius Perry erzählen. Perry gehörte jetzt uns. Aber was Artemisia Fitz-Levi widerfahren war, würde ich wohl für mich behalten müssen. Wenn man zum Adel gehört, aber ein Doppelleben führt, wenn man außerdem beschlossen hat, einen Schurkenball zu besuchen, wo man der einen Hälfte der Anwesenden als die eine Person, der anderen Hälfte als die andere Person sehr gut bekannt ist, wie würde man sich
dann am ehesten verhalten? Man würde sich maskieren, überlegte ich, wenn man auch nur ein Fünkchen Verstand hätte. Aber hatte er das? An der lebenden Allegorie hatte er sich unmaskiert beteiligt. Mein Meister hatte einmal behauptet, es gebe Degenfechter, die es förmlich darauf absahen, einen gefährlichen Gegner zu provozieren oder sich einem unerwarteten Angriff auszusetzen. So ähnlich musste er wohl sein, ihr Vetter Lucius. »Darüber schreibe ich ein Lied.« Die Stimme war so nahe, dass ich dachte, die Worte seien für mich bestimmt, aber die Sprecher standen irgendwo weiter zur Seite, und die Stimmen kamen von oben. »>Die Jungfrau mit dem Degen.< Das dürfte ein echter Gassenhauer werden.« 117 »Anzüglich oder anständig?« »Ach, eher romantisch, denke ich. Mit vielen Versen, vielleicht sogar so vielen, dass sie auch auf die Rückseite gedruckt werden müssen.« Sie redeten über mich, und doch nicht über mich, aber ich hatte jetzt keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich ging langsam weiter, wobei ich ständig nach Lucius Perry ausschaute. Lucius Perry war maskiert, daher war es gut, dass ich ihn an seinem glatt frisierten schwarzen Haar erkennen konnte. Und an seinen Ärmeln, die sehr ungewöhnlich geformt und aus einem prächtigen pfauenblauen Stoff genäht waren. Wenn man so viele Kleider geflickt hatte wie ich, entwickelte man ein gutes Gedächtnis für Stoffe, ohne es zu merken. Schließlich entdeckte ich ihn: Perry stand an eine Wand gelehnt, ein Glas in der Hand, und beobachtete das muntere Treiben der Gäste. »Kommt schnell!«, sagte ich, ohne Zeit mit Erklärungen zu verschwenden. »Artemisia ist hier, und sie braucht Euch.« Er schob die weiche Samtmaske von den Augen hoch. »Wer... oh, Ihr seid es, die ... einen Augenblick, was ist passiert?« Ich packte ihn am Handgelenk. »Kommt endlich!« Ich hatte angenommen, dass ihm Artemisia schluchzend um den Hals fallen würde, aber als sie ihren Cousin erblickte, streckte sie ihm nur die zitternde Hand entgegen. »Lucius«, flüsterte sie, »bring mich nach Hause.« »Sofort.« Doch zuerst nahm er seine Maske ab und band sie ihr über die Augen. »Komm. Komm mit mir und sag kein Wort.« Er legte ihr den Arm um die Hüfte, und sie lehnte sich an ihn, offenbar traute sie ihren Beinen nicht. »Keine Sorge«, sagte ich aufmunternd und versuchte, noch etwas Besseres zu sagen. »Keine Sorge, diese Tat wird nicht ungesühnt bleiben.« 117 Sie wandte sich um und lächelte mich an. Dann verschwand sie mit Lucius Perry in der Menge. Sich mit Alcuins tollpatschigem Fechter Rippington zu amüsieren, war eigentlich nichts gewesen, schließlich hatte er nur ein wenig mit dem Degen herumgefuchtelt und ansonsten Gymnastikübungen betrieben. Zumindest aber wusste ich jetzt, dass ich einen Kampf gegen einen erwachsenen Mann gewinnen konnte. Was Lord Ferris meiner Freundin angetan hatte, war unsagbar abscheulich. Wenn sie es ihrer Familie erzählte, würden sie ihn wahrscheinlich töten lassen. Aber wenn sie es nicht taten, würde ich es tun.
Kapitel 6
ch wachte auf und spürte überall Kätzchen auf meinem Gesicht. Mühsam hob ich die Hand, um sie zu vertreiben, und stellte fest, dass sie weder Pfoten noch Schwänze hatten. Mein Onkel, der Irre Herzog, hing über mir, strich mit Samtbändern über mein Gesicht und drängte mich fröhlich: »Steh auf, steh auf — trink eine Tasse Tee und sag mir, welcher dir am besten gefällt.« Ich zog die Decke hoch bis unters Kinn. Die Samtbänder waren eigentlich keine Bänder, sondern die Zipfel von großen Stoffballen, die ein nervös wirkender Schneiderlehrling halten musste, während der Herzog sie an meine Wange hielt, um herauszufinden, ob die Farben gut zu meinem Teint passten. Ich schaute mich nach Marcus um, aber er war, dem Himmel sei Dank, nicht zu sehen. Nur Betty stand dabei und hielt geduldig eine Tasse Tee. Ich nahm sie ihr aus der Hand und trank, dann befahl ich: »Meinen Degen!« Gestern Nacht
hatte ich ihn weggestellt, ohne ihn zu reinigen. Na, na, na, würde Venturus sagen. Ich würde Jahre brauchen, um den Rost wegzupolieren. »Darum brauchst du dich jetzt nicht zu kümmern«, sagte mein Onkel. »Sag mir einfach, welcher dir am besten gefällt.« »Sie gefallen mir alle gut.« Ich spielte auf Zeit, denn ich wollte erst einmal richtig wach werden. Im Kamin prasselte ein Feuer, und die durch die dicken alten Fensterscheiben hereinfallende Sonne sah nach Nachmittag aus. Mir fiel ein, 118 dass ich erst im frühesten Morgengrauen nach Hause gekommen war, mit meinem Onkel wie ein Klumpen Blei neben mir in der Sänfte. Er hatte einiges von dem rothaarigen Künstler abbekommen und wohl auch eine Reihe anderer stimulierender Mittel ausprobiert. Wir hatten zwei kräftige Diener benötigt, um ihn überhaupt vom Fleck zu bewegen. Ich war ins Bett gesunken, ohne auch nur einen Gedanken an irgendwas zu verschwenden — außer, dass das Bett wunderbar weich war. »Tja, alle kannst du nicht haben, nur einen.« »Einen was? Ihr solltet überhaupt nicht in meinem Zimmer sein!«, mäkelte ich. »Ich bin noch nicht mal angekleidet!« »Sei nicht so prüde. Du kannst dich ganz gut verteidigen, wenn es sein muss. Das hast du gestern Abend bewiesen. Ich bin sehr, sehr zufrieden. Und erleichtert. Deshalb möchte ich dir ein Geschenk machen: einen wunderbaren Samtmantel. Auf den Leib geschneidert und mit genügend Umschlägen und Abnähern, falls du noch weiter wächst. Also — welcher Stoff gefällt dir am besten?« Ich griff nach dem erstbesten Stoff, der in Reichweite lag, und zu meiner Schande begann ich zu weinen. Es war unglaublich. Da hatte ich gestern Abend fast einen Mann getötet, und nun sollte ich den Mantel meiner Träume bekommen. Und meiner Freundin Artemisia war in einem überfüllten Ballsaal Gewalt angetan worden, ohne jede Rücksicht auf ihr wunderbares lavendelfarbenes Kleid. »Es ist nicht auszuhalten«, klagte Lady Fitz-Levi und legte sich die Hand auf den Busen. »Wirklich, Fitz, das ist unerträglich.« »Meine ich auch.« Ihr Gatte rückte den Sessel näher an den Kamin und kratzte einen winzigen Eigelbfleck von seiner Weste. 118 »Man muss etwas tun.« »In der Tat.« »Ich kann es kaum noch ertragen.« »Furchtbar.« Ihr Gatte schüttelte voller Verärgerung den Kopf. »Was hat sie sich nur dabei gedacht, einfach hinzugehen? Eine junge Dame, verlobt, und ausgerechnet zu diesem Ball! Reines Wunder, dass ihr nicht von diesen äußerst üblen Kerlen Ungemach angetan wurde!« Seine Gattin nickte, und er fuhr fort: »Aber natürlich hatte auch Ferris kein Recht, sie zu dem Ball zu begleiten. Ein Mann wie er, und dann unterstützt er sie auch noch bei diesem Schulmädchenstreich! Ich hätte ihn eigentlich für vernünftiger gehalten.« »Sie war die Unvernünftige, mein Lieber, sie war es! Inzwischen kann sie Ferris um den kleinen Finger wickeln, das macht sie ja mit allen so. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt. Jetzt bereut sie es und will nun, dass wir die ganze Hochzeit abblasen. Aber da mache ich nicht mit. Sie wird die Konsequenzen ihrer eigenen Torheit ertragen müssen, und sie wird dafür sorgen müssen, dass wir am Ende stolz sein können, und damit ist die Sache erledigt.« »Ich habe die Blumen gesehen, die er ihr heute Morgen geschickt hat. Der Mann ist völlig vernarrt in sie.« »Ganz bestimmt ist er das«, sagte Lady Fitz-Levi. »Sie sollte sich glücklich schätzen, aber sie merkt es nicht einmal. Weigert sich zu essen. Ich habe es den ganzen Vormittag versucht, aber ich kann sie einfach nicht zur Vernunft bringen.« »Nun ja, Mädchen haben nun mal ihre Launen. Wir können sie schließlich nicht zwingen zu essen.« »Können wir das nicht?« Nervös zupfte sie mit beringten Fingern an ihrem Schultertuch aus Spitze. »Mich haben sie schließlich damals auch immer gezwungen zu essen. Gekochte Möhren. Die ich hasste.«
»Ich meine, sie ist ein bisschen zu alt für gekochte Möhren«, sagte ihr Gatte. »Aber du kannst es ja mal versuchen.« 119 »Sie ist ein bisschen zu alt, um wie ein Säugling zu jammern! Vielleicht hätte sie eine Portion gekochte Möhren verdient!« »Warum lässt du ihr nicht etwas kochen oder backen, das sie ganz besonders mag? Eine wunderbare Torte oder so.« »Sie lehnte Toast und heiße Schokolade ab. Soll ich sie denn wie eine Schwerkranke behandeln? Also wirklich! Sie muss begreifen, dass ich sehr verärgert bin. Ständig sagt sie dasselbe: Sie will, dass du Lord Ferris herausforderst.« Lord Fitz-Levi schnaubte verächtlich. »Warum sollte ich so etwas tun? Die Hochzeit ruinieren und auch noch ihren Ruf obendrein? Und zugleich unseren wichtigsten Verbündeten im Rat der Lords verärgern? Ich zähle auf ihn, dass er uns hilft, Robbie in diesem Jahr einen guten Posten zu verschaffen. Und nun kommt meine Tochter daher und macht so viel Lärm um nichts!« »Genau das habe ich ihr auch gesagt. Weißt du was, ich glaube, wir sollten das Hochzeitsdatum vorverlegen. Sie würden sich dann mit dem Kleid sehr beeilen müssen, aber es wäre die Sache wert. Oh, sie wird eine wunderbare Braut sein!« Der Herzog unterschrieb höchstpersönlich die Bestellung der neuen Kleider für seine Nichte, für volle drei Ellen, Seidenfutter und Quasten und all das Zeug. Er unterschrieb schwungvoll, dann ging er zum nächsten Tagesgeschäft über und ignorierte, dass sich die Tür seines Arbeitszimmers geöffnet hatte, denn er wusste genau, wer eingetreten war. »Und? Seid Ihr jetzt glücklich?«, wollte die Dame wissen. »Eure Nichte ist das Stadtgespräch.« »Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte der Herzog amüsiert. »Ihr geht doch kaum aus dem Haus?« Sie hielt ein Stück Papier in die Höhe, ziemlich billig bedruckt. Es war eine grob gezeichnete Karikatur: Sie zeigte einen großen, dünnen, unglücklich aussehenden Mann und ein 119 Mädchen mit gut entwickeltem Busen, das einen Degen mit nach oben gerichteter Spitze hielt. Die Unterschrift lautete: »Oh nein! Mein Werkzeug ist nutzlos geworden, jetzt muss ein Mädchen die Arbeit für mich machen!« Er nahm ihr das Papier aus der Hand und hielt es an eine Kerzenflamme. »Lasst sie das bloß nicht sehen. Und erklärt ihr nichts, falls sie es doch zu sehen bekommt.« »Und was ist mit Euch? Ist es Euch völlig gleichgültig?« Der Herzog versengte die Ränder des Papiers, sodass es rundum angebräunt wurde. »Wegen dieser Zeichnung, meint Ihr? Was ist mit all den anderen? Warum sollte ich mich darüber aufregen? Ich bin eine bekannte Persönlichkeit. Sie zeichnen eben gerne meine Nase.« Er drehte das Papier ein Stück weiter; die untersten Zeilen, die den Namen des Druckers und des Künstlers enthielten, verkohlten. »Alcuin ist nicht der erste meiner verstoßenen Liebhaber, der es auf diese Weise versucht — hässliche Karikaturen, Anspielungen auf meine Männlichkeit. Grauenhaft, nicht wahr?«, fügte er fröhlich hinzu. »Meint Ihr etwa, ich sollte ihn dafür töten lassen, oder wie?« »Ihr habt Euren hübschen Freund bereits zu einem Schicksal verurteilt, das schlimmer ist als der Tod«, sagte sie verdrießlich. »Belasst es dabei. Was ich wissen möchte, ist, ob Ihr mit dem Mädchen fertig seid? Oder war das nur der Anfang?« »Wusste nicht, dass Ihr sie so sehr mögt.« »Tue ich auch nicht. Rein theoretische Frage. Ich bin nur daran interessiert, zu erforschen, wie Euer Verstand funktioniert — oder nicht funktioniert, je nachdem.« »Was Ihr eigentlich wissen wollt, ist: Nachdem sie nun ihren kleinen Auftritt gehabt hat, werde ich ihr auch einen netten Adligen beschaffen und sie mit ihm verheiraten? In diesem Fall lautet die Antwort nein, ich bin noch nicht fertig mit ihr. Außerdem ist sie eine Gefährtin für Marcus, er braucht mehr Freunde in seinem eigenen Alter.« 119 Der erste Brief ging am nächsten Morgen bei mir ein. Er war ganz offensichtlich durch mehrere Hände gegangen, und nicht alle waren ganz sauber gewesen. Das Siegel bestand aus Duftwachs, und die mit vielen Schnörkeln verzierte Aufschrift war mit violetter Tinte
geschrieben worden. Aber es waren auch kleine Flecken auf dem Papier zu sehen, an denen Tränen die Tinte verschmiert hatten, und die Zeilen verliefen schräg nach unten über das Papier. Liebste Freundin, ich habe keine Hoffnung mehr. Meine Eltern wissen alles, aber mein Herzeleid bedeutet ihnen nichts. Sie sind Ungeheuer, Tyrannen. Sie wollen immer noch, dass ich ihn heirate. Aber ich würde lieber sterben. Du verstehst mich. Du bist die Einzige, die mich versteht. Ich werde niemals vergessen, wie freundlich Du zu mir warst. Versuche nicht, mich zu besuchen. Ich lebe wie eine Gefangene. Doch wenn Du bereit wärest, eine oder zwei Zeilen zu schreiben, die mir ein wenig Hoffnung in meinem jammervollen Elend geben, wird mir das mehr Trost zusprechen als viele Bände unaufrichtiger Verse von weniger edlen Geistern, als es der Deinige ist. Ich hoffe, dass diese Zeilen Dich bei bestem Wohlsein vorfinden. Ich werde das unterste der Küchenmädchen mit den Seidenstrümpfen bestechen müssen, die ich letztes fahr geschenkt bekam, damit sie Dir dies überbringt — diese Zeilen von Deiner Stella Ich stopfte den Brief hastig in meine Tasche, als Marcus hereinkam. Aber natürlich bemerkte er es sofort. »Von deiner Mutter?« »Nein. Du weißt doch, dass das nicht erlaubt ist.« »Würde mir nichts ausmachen.« Er betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. »Ich bin dein Freund. Ich helfe dir, wenn du willst.« 120 »Ich brauche keine Hilfe, danke trotzdem.« Mein Freund trat einen Schritt zurück. »Na, das glaube ich aufs Wort. Nach dem Fechtkampf sowieso. Übrigens ist der Herzog sehr angetan. Du kannst jetzt tun, was immer du willst — könntest jede Menge Affen oder Papageien in dein Zimmer bringen lassen —, er würde dich trotzdem nur fragen, ob du genug Orangen hast, um sie zu füttern.« »Ich will keine Papageien«, sagte ich. Er sah nicht sehr fröhlich aus. »Möchtest du eine Partie Shesh spielen?«, fragte ich, teilweise, damit er sich besser fühlte, teilweise, damit er den Brief vergaß. »Eigentlich nicht.« »Na, dann... soll ich dir vielleicht von meinem Fechtkampf erzählen?« »Du stirbst fast vor Ungeduld, mir das zu erzählen, stimmt's?« »Na ja, wem soll ich sonst davon erzählen?« Ich starb tatsächlich fast vor Ungeduld, irgendjemandem davon zu erzählen. Es war schließlich mein erster richtiger Kampf gewesen, und ich hatte gesiegt! Fast wünschte ich, Venturus wäre noch hier, dann könnte ich ihm davon erzählen. Marcus fehlte es an Kenntnis und Begeisterung, aber wenigstens würde er zuhören. Ich beschloss, nicht auf seine Stimmung zu achten, und fuhr reumütig fort: »Betty würde doch nur immer davon reden, dass ich St.Vier in seiner Blütezeit hätte erleben sollen oder so etwas. Und außerdem kann ich beim Erzählen meine Gedanken ordnen, bevor ich den Kampf in allen Einzelheiten mit Phillip Drake durchsprechen muss, damit er mir genau erklären kann, was ich falsch gemacht habe.« Marcus war an den Feinheiten meines Degenschwungs nicht interessiert, aber das Ergebnis begeisterte ihn. Er verabscheute Alcuin mehr als die meisten anderen Leute und war vollkommen damit einverstanden, dass der hübsche Junge beim Ball öffentlich gedemütigt worden war. »Du hast eine 120 großartige Zukunft vor dir, Katie«, erklärte er zustimmend, »wenn du die Leute dort reizt, wo es ihnen wirklich weh tut. Kein Wunder, dass der Herzog so zufrieden mit dir ist.« Er fragte nicht mehr nach dem Brief, aber es war nicht der Einzige, den ich erhielt. Sabina schrieb mir und bedankte sich, weil ich auf ihrem Fest für so wunderbare Unterhaltung gesorgt habe, und wollte wissen, ob ich bereit sei, die Sache noch einmal bei einer privaten Gesellschaft vorzuführen. Zwei Personen boten mir Stellen als Leibwächterin an, und ein Theater fragte an, ob ich daran interessiert sei, in den Pausen zwischen den Akten die Zuschauer mit Fechtvorführungen zu unterhalten. Der Sekretär des Herzogs, Arthur Ghent, erbot sich, alle an mich gerichteten Briefe zu öffnen und die offensichtlich verrückten
Schreiben gleich auszusortieren. Aber ich wollte nicht, dass er sah, was ich erhielt, denn ich erwartete auch einen weiteren Brief von Artemisia. Ich hatte auf ihren Brief geantwortet: Stella, leben ist hoffen, und solange wir atmen, hoffen und leben wir. (Das stammte aus dem Buch.) Obwohl ich einem anderen diene, stehe ich Dir jederzeit zu Diensten. (Das ebenfalls; es war eine von Tyrians Zeilen, aber ich mochte ihn manchmal mehr als Fabian. Er hatte wenigstens Verstand.) Sei mutig, sei stark und wisse, Du bist auf ewig in den Gedanken Deiner treuen KT Den Brief auf den Hügel bringen zu lassen, ohne dass einer meiner Freunde, die in den Diensten des Herzogs standen, etwas davon erfuhr, würde schwierig werden. Am Ende machte ich mich selbst auf den Weg und suchte mir in den Straßen von Riverside den hungrigsten Jungen aus, den ich finden konnte. 121 »He, pass doch auf, Kumpel«, sagte er, und ich sagte: »Ach, du bist das!«, denn es war derselbe Junge, der mich an meinem ersten Tag beim Spaziergang im Schnee hatte bestehlen wollen. Er hatte jedenfalls Nerven, auch wenn er offenbar nicht viel Verstand hatte. Er hieß Kevin; ich bot ihm zwei Kupfermünzen an, wenn er den Brief Artemisias Zofe übergab, und versprach ihm weitere fünf Münzen, wenn er mir ein Band als Beweis zurückbrachte, dass der Brief tatsächlich seine Empfängerin erreicht hatte. Er brachte mir ein lavendelfarbenes Band zurück. Ich band es unter dem Ärmel um mein Handgelenk als Erinnerungszeichen. Nach ein paar Tagen hatten Artemisias Eltern das Ende ihrer Weisheit erreicht. »Ich habe das Ende meiner Weisheit erreicht, Fitz«, erklärte Lady Fitz-Levi ihrem Gatten nun schon zum dritten Mal innerhalb einer Stunde. »Es gibt nicht das geringste Anzeichen, dass sie jemals wieder Vernunft annimmt.« »Scheint mir eine ganz einfache Sache zu sein«, entgegnete er, ebenfalls zum wiederholten Male. »Jedenfalls ganz einfach für sie. Sie hat bereits zugestimmt, ihn zu heiraten. Also muss sie es nur noch einmal bekräftigen. Ist doch ganz einfach.« »Wir haben sie doch überhaupt nicht dazu gezwungen, oder? Wir haben sie selbst entscheiden lassen, und sie hat sich für Lord Ferris entschieden.« »Das hat sie.« Lord Fitz-Levi betrachtete kritisch sein Halstuch im Spiegel. Es hatte sich trotz der ganzen Aufregung an diesem Morgen recht ordentlich gehalten. »Und der ganze Aufstand nur, weil er sie im Dunkeln ein wenig befummelt hat.« »Sie waren schließlich schon verlobt!« Er zupfte das Halstuch zurecht. »Sie wird sich schon wieder beruhigen, wenn sie erst verheiratet ist, das liebe Kind.«
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Aber in ihrer Tochter hatte sich offenbar eine grundlegende Veränderung abgespielt. Sie redete wirr, was überhaupt nicht ihrem Wesen entsprach. Sie wolle das Haus nicht mehr verlassen, erklärte sie, solange sie befürchten müsse, ihm zu begegnen. Sie verweigerte selbst ihre Lieblingsgerichte und wollte nicht einmal ihr Hochzeitskleid anprobieren, obwohl es wirklich prächtig war. Man sprach davon, einen Arzt zu rufen oder sie für eine Weile aufs Land zu schicken, und ihre Eltern ließen verlautbaren, dass ihre Tochter an der Grippe erkrankt sei. Niemand außer ihrer Zofe bemerkte den violetten Tintenfleck an ihrem Mittelfinger. Sanfteste Freundin, glaube nichts, was sie über mich erzählen. Nicht einmal, wenn Du hörst, dass die Hochzeit stattfinden werde. Wenn es geschieht, so geschieht es ohne meine Zustimmung. Alle sagen, es sei meine Schuld. Ich begreife nicht, wie das sein kann. Von Männern erwartet man, dass sie Frauen verführen. Doch wenn sie eine Frau beleidigen, erwartet man von ihren Vätern und Brüdern, dass sie ihre Ehre verteidigen und sie nicht beschimpfen oder in ihrem Elend verlachen. Wie ich Dich beneide! Dein Onkel mag irre sein, aber zumindest erlaubt er Dir, Dich zu wehren. Deine verzweifelte Stella Ich antwortete sofort. Lady Stella,
ich bin Deine Freundin, doch ich bin nicht so sanftmütig, dass mich Deinetwegen nicht rechtschaffener Zorn erfüllte! Höre nicht auf jene, die behaupten, es sei Deine eigene Schuld gewesen, denn es war nicht so! Genauso wenig, wie es meine Schuld ist, dass ich die Kunst des Fechtens erlernen und selt 122 same Kleidung tragen muss. Sie sind größer als wir, sie sind älter und haben mehr Geld und können uns zwingen, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollen. Erinnerst Du Dich, als wir uns beim Ball meines Onkels begegneten? Ich hielt Dich für so mutig und elegant und kühn, und das warst Du auch. Und ich wünschte mir, ich könnte so sein wie Du. Ich habe einen hübschen Mantel bekommen. Er ist aus moosgrünem Samt mit goldenen Quasten und Seidenfutter, so fein gewoben wie Mottenflügel. Ich wünschte, Du könntest mich darin sehen. Deine Familie hat Unrecht, das steht fest. Was immer Du auch tust — heirate ihn niemals. Ich betrachtete unsere beiden Briefe, die nebeneinanderlagen. Er erlaubt Dir, Dich zu wehren. Was würde ich an ihrer Stelle tun? Nun, das war die falsche Frage, denn ich würde nie an ihrer Stelle sein. Ich hatte es dem Herzog zu verdanken, dass mich niemand wie dieser Lord Ferris jemals heiraten wollte. Bedeutete das, dass mein Onkel mich beschützte? Wenn mich jemand vergewaltigte, würde er ihn dann ohne jede Frage töten lassen? Ich hätte darauf gewettet. Aber bedeutete das auch, dass er sich um mich sorgte, oder war er nur einfach verrückt und blutgierig? Wie konnten Artemisias Eltern ihre Tochter lieben und ihr dennoch nicht glauben? Oh, die ganze Sache war hoffnungslos. Ich war nicht Artemisia, und sie war nicht ich. Aber es gefiel mir, dass sie mich als heldenhafte Degenfechterin ansah. War St. Vier heldenhaft? Auf seine Weise war er ebenso eine Legende wie Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß. Was würde er wohl über Artemisia sagen? Wahrscheinlich würde er sagen, sie hätte gar nicht erst zu dem Ball gehen dürfen, solange sie nicht gelernt hätte, sich selbst zu verteidigen, und damit hätte er wahrscheinlich Recht. Aber was wusste er schon darüber? Er hatte sich immer selbst verteidigen können. Wahrscheinlich war er noch nie im Leben auf 122 einem Ball gewesen, und wenn, dann wusste er nicht, wie es war, wenn man hoffte, hübsch auszusehen, hoffte, dass den Leuten das Kleid gefiel, hoffte, dass man zum Tanz aufgefordert würde. Was konnte er darüber schon wissen? Was konnten Leute wie er überhaupt darüber wissen? Natürlich waren ihr Vater und ihr Bruder hoffnungslose Fälle. Die wussten ebenfalls nichts. Aber ich. Ich griff nach dem Gänsekiel und schrieb weiter. Die Beleidigung darf nicht hingenommen werden. Wenn weder Dein Vater noch Dein Bruder zu Deiner Verteidigung eilen, dann muss diese Aufgabe auf einen Menschen fallen, der dieser Ehre unwürdig sein mag, der aber dennoch willig und bereit ist, Dir ritterlich beizustehen. Nicht nur um Deinetwillen, sondern für alle jungen Damen, die misshandelt wurden. Was sonst hätte ich hier zu suchen? Wozu diente meine Fechtkunst, wenn nicht hiefür? Ich trage Dein Freundschaftsband, und ich werde Deine Schmach rächen. Und wehe dem, der sich mir in den Weg stellt! Deine Dich liebende Freundin und unbeirrbare Verteidigerin KT Doch mache Dir keine Sorgen (schrieb ich als Nachsatz): Ich erzähle niemandem davon. Ich versiegelte den Brief mit Kerzenwachs und machte mich auf den Weg, um Kevin zu suchen, der ihn überbringen sollte. Der Junge war begierig auf den Auftrag. »Was bin ich denn nun, dein neuer Leibwächter oder was?«, fragte er. »Ich wäre ein guter Leibwächter.« »Du bist mein Privatkurier«, erklärte ich ihm. »Die Sache ist hochgradig vertraulich.« »Hä?« 122 »Geheim. Komm in spätestens einer Stunde wieder, dann habe ich noch einen Auftrag für dich. Und nun spute dich!« In der Zwischenzeit suchte ich Arthur Ghent auf und stellte dem Sekretär jede Menge gescheiter Fragen über den Rat der Lords und die damit verbundenen Ämter — den Kanzler
des Großen Kreises, den Rabenkanzler, den Drachenkanzler und alle anderen. Er war angenehm überrascht, dass ich ein so lebhaftes Interesse an der Regierung zeigte. »Möchtet Ihr irgendwann einmal das Haus des Hohen Rats besichtigen?«, fragte er. »Seine Hoheit nimmt nur, hm, sporadisch an den Sitzungen teil, aber ich weiß gewöhnlich vorher Bescheid, wenn er sich entschließt teilzunehmen. Ihr könntet ihn begleiten und bei der Ratsarbeit beobachten.« »Danke«, sagte ich. Aber so lange wollte ich nicht warten. Es war ein heiterer, klarer Tag; ich zog mich warm an, schob meinen guten Degen in die Scheide, schnallte den Dolch um die Hüfte und wartete auf Kevin, der mich zum Haus des Hohen Rates am anderen Flussufer begleiten sollte. Das Ostufer hatte ich noch nie aufgesucht. Dort lag der älteste Teil der Stadt, der teilweise noch unter den alten Königen und Königinnen erbaut worden war, die früher regiert hatten, bis der letzte König vom Rat der Lords abgesetzt wurde. Kevin wusste überhaupt nichts darüber; seine Kenntnisse über den Stadtteil bezogen sich einzig und allein auf zwei Kriterien — wo er was zu essen bekommen konnte und wo nicht, wo er mal in Schwierigkeiten geraten war und wo nicht. Die Hafenanlagen und die alten Lagerhallen erwiesen sich als besonders fruchtbare Anstöße für seine Kindheitserlebnisse, aber bis wir zur Alten Festung und dann endlich zum Justizpalast gelangten, waren ihm die Erinnerungen schon ausgegangen. Er war nicht dumm, nur wusste er eben nichts. Ich beschloss, ihm ein wenig beizubringen. Es lenkte mich von 123 meiner Nervosität ab, und vielleicht nützte es ihm etwas. »Das sind historische Gebäude«, begann ich. »Das Haus des Hohen Rates war früher einmal der Königspalast. Schau dir nur all die Köpfe an, die dort an der Wand eingemeißelt sind! Es handelt sich um die Köpfe der alten Könige.« »Ich hasse Könige. Wir töten den König immer am Abend des Erntedankfestes. Wir werfen ihn ins Feuer, und er geht sofort in Flammen auf. Wumm Wenn ich einem König über den Weg laufen würde, würde ich ihn auf der Stelle töten. Was hast du überhaupt hier zu suchen? Hast du vor, jemanden zu töten?« »Bleib in der Nähe, dann kannst du es selber herausfinden. Aber jetzt solltest du dich dünn machen, damit dich niemand zu sehen bekommt. Ich gebe dir dein Geld, sobald wir wieder in Riverside sind.« Kevin verschwand im Schatten eines Gebäudes, und ich bewachte die großen Türen, die zum Ratssaal führten, aber fest verschlossen blieben. Meine Finger waren eiskalt; ich kaufte eine Tüte heiße Kastanien von einem der Verkaufsstände auf dem großen Vorplatz, was ein bisschen half, auch wenn die Kastanien in meinem ausgetrockneten Mund ziemlich mehlig schmeckten. Endlich erklang eine Glocke, wie ich erwartet hatte; Diener und Sekretäre strömten durch die Tür, und Kutschen fuhren auf einer Seite des Platzes vor, die ihre Besitzer nach Hause bringen sollten. Endlich tauchte er oben an der Treppe auf. Es fiel mir nicht schwer, ihn zu erkennen, denn Arthur Ghent hatte ihn sehr gut beschrieben. Zwar mochte es mehr als nur einen groß gewachsenen, gut aussehenden Mann im mittleren Alter mit schwarzem, aber schon graumeliertem Haar geben, aber es gab nur einen mit einer Augenklappe. Arthur Ghent hatte allerdings vergessen zu erwähnen, dass sein Mund grausam wirkte. Jedenfalls kam es mir so vor. Er unterhielt sich mit einem anderen Adligen, während beide darauf warteten, dass 123 ihre Kutschen vorfuhren. Ich holte tief Luft, dann marschierte ich kühn die Treppe hinauf. »Lord Ferris?«, fragte ich, und er nickte verwundert. »Ah, Anthony Deverin, Lord Ferris, Kreiskanzler des Rats der Lords dieser Stadt und dieses Landes, ich fordere Euch heraus.« Er betrachtete mich von sehr oben herab. »Warum denn das?« »Ich bin nicht sicher, ob Ihr wollt, dass Euer Freund das zu hören bekommt.« Der andere Mann blinzelte verblüfft und lachte. »Großer Gott! Ist das nicht Tremontaines Hemdenmatz? Mein Diener hat mir von ihr erzählt. Wart Ihr denn nicht auch bei dem berüchtigten Ball, Ferris?« »Warum fragt Ihr nicht Euren Diener?«, gab Ferris ungehalten zurück.
»Und womit habt Ihr Tremontaine dieses Mal beleidigt?« »Was kann man schon tun, damit er nicht beleidigt ist?«, fragte Ferris affektiert. Sein Freund lachte, aber Ferris starrte mich einen Augenblick lang wütend an. »Kommt schon junge Dame«, sagte er mit glatter Höflichkeit, »wir sollten darüber nicht hier draußen in der Kälte sprechen.« Ich folgte ihm die restlichen Stufen hinauf und in den Ratssaal. Er nickte den Wachen zu, und sie traten beiseite. Lord Ferris führte mich in einen kleinen Raum mit Holzpaneelen an den Wänden. Im Kamin züngelten die letzten Flammen eines kleinen Holzfeuers. »Nun denn«, begann er, »was soll der Unfug?« »Das ist kein Unfug. Ich fordere Euch heraus.« »Meine Liebe.« Lord Ferris zog sich die Handschuhe von den Händen und hielt sie ans Feuer. »Bitte teilt Eurem Onkel mit, dass diese Sache nicht mehr nur ärgerlich ist, sondern schlichtweg jämmerlich. Wenn Tremontaine Streit mit mir sucht, soll er mir das bitte direkt sagen, statt ein Mädchen zu schicken, das die Drecksarbeit für ihn erledigt.« »Er sucht keinen Streit, die Sache betrifft ihn nicht. Ich 124 handle im Namen einer anderen Person.« Ferris legte fragend den Kopf schief. Ich konnte es kaum ertragen, ihm ins Gesicht zu sehen, da ich wusste, was er getan hatte. Und es fiel mir schwer, über das Verbrechen zu sprechen oder auch nur ihren Namen zu erwähnen. »Eine Freundin. Ihr habt ihr Gewalt angetan. Es geschah gegen ihren Willen.« »Darüber könnt Ihr doch gar nichts wissen.« Aber er klang jetzt nicht mehr so geschmeidig. »Ich weiß, dass ihre Ehre verletzt wurde. Ich weiß, dass Ihr es wart und dass es bislang ungesühnt blieb. Im Namen von Artemisia Fitz-Levi verlange ich von Euch Genugtuung. Ich fordere Euch heraus; Ihr könnt Ort und Zeit bestimmen und könnt Euch durch einen Fechter vertreten lassen, bis die Besudelung ihrer Ehre durch Blut wieder gutgemacht ist.« Ferris lachte, und dafür hasste ich ihn. »Das Mädchen ist nicht allein auf der Welt, es hat schließlich eine Familie. Einen Vater. Einen Bruder. Wenn ihre Ehre besudelt wurde, wie Ihr es so hübsch altmodisch ausdrückt, dann ist es deren Angelegenheit, ja sogar deren Pflicht, mich herauszufordern.« »Aber es geht nicht um deren Ehre, Sir, es geht um Artemisias Ehre.« Er fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. »Und haben sie bislang einen Fechter zu mir geschickt? Nein, haben sie nicht. In der Tat hoffe ich, Lady Artemisia bald zu heiraten. Damit werdet Ihr Euch abfinden müssen.« Jetzt war ich so wütend, dass ich am liebsten geweint hätte. Aber ich schluckte meine Tränen hinunter. »Es geht um ihre Ehre. Um ihre Ehre, nicht die ihrer Familie.« »Ihr scheint das immer noch nicht richtig verstanden zu haben«, entgegnete Lord Ferris. »Diese Angelegenheit geht den Herzog nichts an, er hat keinerlei Recht, sich hier einzumischen. Welch seltsame Vorstellungen hat er eigentlich von Frauen? Aber wie seltsam seine Vorstellungen wohl sind, kann man an Eurem eigenen Beispiel sehr gut erkennen.« Er hob 124 abwehrend eine Hand, als ich ihn unterbrechen wollte. »Nein, hört mir nur einen Augenblick lang zu und denkt darüber nach. Ihr seid doch ein kluges Mädchen. Ich will Euch nichts zuleide tun. Warum sollte ich auch? Euer Onkel, der Herzog von Tremontaine, ist ein Träumer und dazu auch noch irre. Schon wie er Euch behandelt, sollte Euch das klar machen. Meine Liebe, ich weiß, dass Ihr Euch in einer schwierigen Lage befindet. Ihr seid eine mittellose Verwandte, er kann mit Euch tun, was er will, und es ist ja nicht Eure Schuld ...« Ich nahm die Beleidigung hin. In einem Kampf darf ein guter Degenfechter nicht auf das Gerede achten. Lord Ferris drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um mir mit seinem guten Auge voll ins Gesicht blicken zu können. »Aber ich sage Euch hier und jetzt: Wenn Ihr weiterhin auf dieser Sache beharrt, werdet Ihr uns alle zum Gespött der Stadt machen.« »Die Herausforderung bleibt bestehen!«, erklärte ich unbeirrt. »Artemisia ist die einzige Person, die sie jetzt noch widerrufen kann, und ich gehe jede Wette ein, dass sie das nicht tun wird. Ihr könntet vermutlich vor ihr auf die Knie sinken und sie um Vergebung anflehen. Ich bin zwar nicht sicher, ob das funktionieren würde, aber Ihr könnt es jedenfalls versuchen. Wenn nicht, müsst Ihr den Ort und die Zeit benennen und Euch um die Verteidigung Eurer Ehre und um Euren Degen kümmern.«
»Wie wunderlich altmodisch«, sagte er. »Nein, meine Liebe, Ihr seid diejenige, welche die Herausforderung widerrufen wird. Ich werde weder Ort noch Zeit benennen, und wir werden in dieser Sache überhaupt kein Wort mehr verlieren.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern streifte die Handschuhe über die Hände, öffnete die Tür des kleinen Raumes mit der geübten Selbstsicherheit eines Mannes, der gewohnt war, anderen Befehle zu erteilen, und sagte: »Also dann, Ihr kehrt jetzt nach Riverside zurück und erklärt Eu 125 rem Onkel, was ich soeben gesagt habe. Und damit ist dieser Unfug erledigt.« Draußen schien die Sonne blendend hell. Ich stakste steifbeinig über den breiten Justizplatz, ohne mich umzublicken. Mein kleiner Führer kam mir nachgelaufen. »Du hast ihn nicht getötet!«, rief er vorwurfsvoll. »Dabei war ich ganz sicher, dass du ihn töten würdest!« Ich sagte nur: »Ich wünschte, ich hätte es getan.« Lord Ferris stolzierte ohne erkennbare Eile über den Platz, wo eine Gruppe Adliger auf die Kutschen wartete. »Probleme, Tony?«, fragte Philibert Davenant. »Hab gehört, es sei so was Ähnliches wie eine Herausforderung ausgesprochen worden?« Ferris lächelte. »So was Ähnliches. Ein schlechter Scherz, das ist alles. Nur wieder eine der üblichen Verrücktheiten des bedauernswerten Tremontaine.« Seine Freunde nickten verständnisvoll. Nur wenige von ihnen hatten in den letzten Jahren nicht schon die eine oder andere Beleidigung oder Torheit des Herzogs hinnehmen müssen. »Jemand sollte wirklich mal etwas dagegen tun«, brummte der alte Karleigh, und Ferris antwortete: »Vielleicht wird jemand etwas tun.« Ich nahm Kevin mit in die Küche, um zu schauen, ob man ihm dort etwas zu essen geben oder ihm vielleicht sogar eine sinnvolle Beschäftigung zuweisen konnte. Wenn er es jemals schaffte, den Mund eine Weile geschlossen zu halten, konnte ein recht guter Diener oder Wächter aus ihm werden. »Brot und Käse«, erklärte der Unterkoch, »das ist alles, was Ihr zu dieser Stunde bekommen könnt, denn bestimmt fällt heute Abend wieder eine halbe Armee von verhungerten Gelehrten ins Haus ein, ohne jede Vorwarnung, und die erwar 125 ten immer nur das Beste, und wehe, wenn sie es nicht bekommen! Er sorgt sich mehr um seine Gelehrten als um seine Damen oder Herren.« Am anderen Ende des langen Küchentischs, hinter einem Berg von Kohlköpfen, Rüben und halb gerupftem Geflügel, stieß jemand ein ersticktes Husten aus. Marcus saß dort; wahrscheinlich hatte er sich an einem großen Stück Fleischpastete verschluckt oder an seiner Suppe. Ich nahm ihm die Schale Suppe weg und stellte sie vor Kevin hin. »He!«, protestierte Marcus. »Du brauchst die Suppe nicht.« »Natürlich brauche ich sie! Ich muss noch wachsen! Ich muss groß und stark werden! Arthur Ghent sagt das auch, und er hat fünf Brüder, der muss es wohl wissen!« Er wuchs noch, das stimmte. »Marcus«, sagte ich, »wie ist es bei dir? Hast du keine Brüder?« »Alle Männer von Verstand sind meine Brüder«, erklärte Marcus hochmütig. Kevin senkte die Stimme, um sagen zu können: »Bin nich' dein Bruder nich', Kumpel.« »Das kannst du ruhig laut sagen.« Marcus betrachtete den Jungen genau. »Wo hast du denn den aufgelesen?«, wandte er sich dann an mich. »Wo du auch herstammst«, sagte Kevin frech und fügte noch ein Schimpfwort an. Marcus schob seinen Schemel zurück, stand auf und ragte über dem schmächtigen Jungen empor. »Gib mir sofort meine Suppe zurück!« »Hol se dir doch!« Es sah so aus, als würde Marcus es wirklich versuchen; ich konnte es kaum glauben. »Ihr wollt doch hier in der Küche keinen Streit anfangen?«, fauchte ich die beiden an. Marcus zuckte mit den Schultern und zog sich ein wenig zurück. »Hast du eigentlich schon nachgeschaut, was in dei 125 nen Taschen fehlt, Katie? Ich würde das gleich mal überprüfen, wenn ich du wäre.«
Kevin stellte die Suppenschale ab und hob abwehrend die Hände. »Ich hab ihr nix genommen! Hältst mich wohl für blöd, was? Doch nich' bei 'ner Verwandten des Herzogs, nie und nimmer, ich schwör's!« »Also wirklich!«, sagte ich verärgert, »Er hat mir geholfen, Marcus, damit ich mich nicht verirre, das ist alles.« Ich log ihn nicht gern an, nicht einmal indirekt. Aber ich war noch nicht bereit, allen zu erzählen, dass ich Lord Ferris herausgefordert hatte, nicht einmal Marcus. Das war Artemisias Geheimnis. »Kann schon sein. Aber was denkst du, wovon lebt er wohl sonst, wenn er dir nicht gerade über die Straße hilft?« Ich starrte meinen Freund durchdringend an. Er erinnerte mich an einen Wachhund auf einem Bauernhof, wenn jemand sein Revier betritt. »Ich kann es mir denken«, gab ich zurück, »aber es geht mich nichts an.« »Und du glaubst, er ist nichts weiter als ein Taschendieb? Glaub ich nicht. Rate noch mal.« »Es geht mich nichts an!«, erklärte ich stur. »Und es ist auch nicht sehr höflich, so über ihn zu reden, während er hier sitzt, und so zu tun, als wäre er nicht da.« »Genau!«, krähte Kevin. »Wo bis' denn du aufgewachs'n, Kumpel? Inner Gosse?« Marcus packte ihn am Kragen. »Raus!«, sagte er. »Sofort.« »Ihr Kinder geht alle raus, sofort!« Der Chefkoch kam herangestürmt wie ein gewaltiges Unwetter. »Was glaubt ihr eigentlich, wo ihr hier seid? Auf einem Schulhof? Raus! Sonst sage ich es Meister Osborne!« Meister Osborne war der Verwalter des Schlosses. Er hatte eine Menge für Marcus übrig, der ihm das Leben sehr viel leichter machte, weil er ihm immer genau erklären konnte, was der Herzog wirklich wollte; trotzdem würde man nicht riskieren wollen, ihn zu verstimmen. Meister Osborne traf schließlich die Entscheidung, wie 126 oft man die Bettwäsche gewechselt bekam und wie viel Holz man für den Kamin im Zimmer erhielt. »Hier wird gearbeitet, und ich zerhacke Euch wie Zwiebeln, wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet!« wahrend Marcus versuchte, die Köche wieder gnädig zu stimmen, und ich versuchte, Marcus' Fragen zu entkommen, machte sich Kevin mit der Suppenschale und ein paar Zuckerrüben aus dem Staub. Das war also der Grund, warum Marcus immer noch nicht mit mir sprechen wollte. Allerdings hatte ich ihm auch nicht viel zu sagen. Wenn der Herzog oder seine Leute in der Nähe waren, war Marcus immer sehr bereitwillig und freundlich; tatsächlich hatte ich ihn noch nie wirklich ungezogen erlebt. Man musste zugeben: Marcus lebte schon lange in diesem Haushalt, und von meinem Onkel hatte er bestimmt kein gutes Benehmen lernen können. Dennoch sah ich keinen Grund, warum er gegenüber einem armen, halb verhungerten Jungen aus Riverside so gemein sein sollte. Seit meinem Fechtkampf beim Schurkenball war Marcus ohnehin ausgesprochen gereizt gewesen. Hatte er erraten, dass ich ihm etwas verschwieg? Wenn er wirklich mein Freund war, würde er mich doch sicherlich selbst direkt fragen und es nicht an einem Jungen auslassen, nur weil ich diesem helfen wollte? Ich weiß nicht, wie lange das noch so weitergegangen wäre, wenn nicht Lucius Perry Riverside House einen seiner regelmäßigen Besuche abgestattet hätte. Ich schaffte es, gerade noch zu verschwinden. Ein Diener führte ihn den Flur entlang zum Schlafzimmer meines Onkels, und ich kam ihnen entgegen. Mir war sofort klar, dass es für mich nach allem, was sich beim Schurkenball abgespielt hatte, recht peinlich werden könnte, Perry hier zu begegnen, peinlicher, als ich ertragen konnte. Deshalb riss ich die nächstbeste Tür auf und stürzte in den Raum, was für einen Degen 126 fechter vielleicht nicht gerade das beste Benehmen war, aber Degenfechten hat nun mal nichts damit zu tun, mit peinlichen gesellschaftlichen Situationen fertig zu werden. Ich drehte mich um, und da saß Marcus vor seinem Sheshbrett in einen Steppmantel aus Seide gehüllt. »Du könntest wenigstens anklopfen«, bemerkte er bissig. »Wo bist du eigentlich aufgewachsen, sag mal?« »Tut mir leid«, sprudelte ich hervor, »aber er kommt grade den Flur entlang, und ich hab vergessen, es dir zu sagen, aber ich weiß jetzt, wer er ist!«
Marcus stellte die Sheshfigur, die er in der Hand hielt, sehr sorgfältig auf das Brett. »Oh, wie faszinierend.« »Ich bring dich um!«, fauchte ich. »Ich weiß nämlich, wie man das macht und so.« »Ein Stoß, direkt ins Herz. Wenn ich das noch ein Mal hören muss, bringe ich mich selber um, du kannst dir die Mühe dann sparen. Also: Wer kommt den Flur entlang?« Ich nickte in Richtung des Schlafzimmers des Herzogs. »Alcuin?«, fragte er entgeistert. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Lucius Perry.« »Wer zum Teufel ist Lucius Perry?« Ich erzählte es ihm. Bevor ich noch zu Ende berichtet hatte, begann sich Marcus bereits anzukleiden. »Ein Seil!«, sagte er. »Dieses Mal steigen wir über die Mauer.« »Wozu denn das? Wir wissen doch schon, wer er ist.« »Kann sein. Oder auch nicht. Ich dachte, du machst dir Sorgen, dass zwischen ihm und deiner Freundin etwas ist.« »Es hat sich doch herausgestellt, dass er ihr Vetter ist, nichts weiter. Hab ich dir doch schon gesagt. Was er in seiner Freizeit macht, ist seine Sache.« »Oder unsere.« »Oder die des Herzogs«, sagte ich spitz, weil mir die Ermahnungen meines Onkels wieder einfielen.
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»Die Sache des Herzogs wird es nur, wenn wir es wollen. Wollen wir aber nicht. Wetten, dass Seine Lordschaft von dem kleinen Haus keine Ahnung hat?« »Na und? Ist doch nur ein ganz normales kleines Haus, Marcus. Ja, wenn wir Lucius Perry zu Madame Glinleys Etablissement für Du-Weißt-Schon-Was folgen würden — na, das wäre was!« »Machen wir nächstes Mal.« Marcus zog die Stiefel an, fast atemlos vor Aufregung. »Oh, Katie, verstehst du nicht? Dein Perry ist ein Adliger, der ganz unterschiedliche Leben führt, und niemand weiß über alle Bescheid, nicht mal Tremontaine! Wir sind die Einzigen, und niemand außer uns hat alle Teile des Puzzles in der Hand.« »Ich will ihm nicht schaden«, warnte ich Marcus. Nach dem, was ich in der Küche miterlebt hatte, war ich nicht mehr so sicher, ob ich Marcus wirklich so gut kannte, wie ich gedacht hatte. »Ich meine, wenn du an Erpressung denkst oder so was...« »Rede doch keinen Unsinn.« Marcus zog die Schnürsenkel fest zu. »Ich will nur herausfinden, was los ist. Du etwa nicht?« Wir waren beide nicht sehr groß, aber irgendwie war Marcus in den letzten Wochen größer geworden als ich. Er ging so schnell, dass ich fast laufen musste, um mit ihm Schritt halten zu können, wobei ich mir ziemlich unwürdig vorkam. »Warum hast du es so eilig?«, keuchte ich, als wir eine steile Straße auf dem anderen Flussufer hinaufstiegen. »Bist du sicher, dass du noch weißt, wo das Haus ist? Ich will vor ihm dort sein, damit wir ihn beobachten können, wenn er an die Tür klopft. Will sehen, was er dann macht.« Wir stritten uns kurz darum, welche Nebenstraße es war, doch dann erkannten wir den Kirschbaumast wieder, der über die rückwärtige Mauer hing. Es war tatsächlich eine Kirsche,
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das konnte ich deutlich erkennen, nachdem sich jetzt die ersten Knospen zeigten. Wir wussten also, dass wir uns in der richtigen Straße befanden. Geschickt befestigten wir das Seil an dem Ast, und damit war es recht einfach, hinaufzuklettern und uns über die Mauer zu schwingen, ohne unsere Hosenbeine mit Kalktünche zu beschmutzen. Der Garten war nicht sehr groß, aber schön gestaltet. Schmale, mit Steinplatten gepflasterte Wege schlängelten sich zwischen Büschen und Kräutersträuchern hindurch, die man für den Winter zurückgeschnitten hatte; an mehreren Stellen war der Boden mit Stroh abgedeckt, wahrscheinlich lagen darunter Blumen- oder Erdbeerbeete. Das zum Garten hinausgehende hintere Zimmer des Hauses hatte große Fenster; an der Hausmauer rankten sich Büsche empor, die uns perfekte Deckung boten, zugleich einen ungestörten Blick in den Raum und auf die Person ermöglichten, die sich darin aufhielt. Es war eine Frau, ungefähr im Alter meiner Mutter, mit ausdrucksvollem Gesicht und kastanienbraunem Haar, das mit seinen geflochtenen Locken und dem Nackenknoten den
Eindruck erweckte, an diesem Morgen besonders sorgfältig frisiert worden zu sein, wovon jetzt aber nur noch ein wirres Durcheinander übrig geblieben war, da sie ständig Stifte und Pinsel hineinsteckte oder herauszog. Ihre Augen standen recht weit auseinander, und die Unterlippe war so voll, dass man glauben mochte jemand habe sie mit einem Kaffeelöffel ein wenig stärker herausgedrückt. Sie war nicht füllig, jedoch stattlich, wie die Statue einer heldenhaften, klassischen Frauengestalt. Und selbst unter dem losen Arbeitskittel war deutlich zu erkennen, dass sie einen prächtigen Busen hatte. Die Frau saß an einem langen Tisch und betrachtete eingehend eine große Schale mit Früchten. Dann zog sie einen Pinsel aus dem Haar, leckte kurz die Spitze an, tauchte ihn in Farbe und zog ein paar feine Linien über eine weiße Schale. 128 »Was zum Teufel macht sie da?«, zischte Marcus in mein Ohr. »Porzellanmalerei.« »Also ist sie Malerin? Ist das alles, was er hier zu suchen hat? Er lässt sich von ihr porträtieren?« »Das ist was anderes. Bemaltes Porzellan ist im Moment der letzte Schrei, alle wollen es haben. Selbst Damen von hohem Stand versuchen sich selbst manchmal damit, Tassen zu bemalen.« Wir beobachteten sie, wie sie die Schale bemalte. Allmählich erschienen Blüten darauf. »Also ist sie eine Dame von Stand? Sieht aber nicht wie eine aus. Sie hat Farbe auf dem Kittel, und ihre Hände sind schmutzig.« »Vielleicht ist sie seine Schwester?«, raunte ich zurück. »Komm, wir gehen. Ich friere.« »Dann zieh die Kapuze über«, murmelte er gefühllos. »Wir warten, bis er kommt.« Ich war unruhig. Das Gebüsch kratzte mich am Nacken. Die Frau blickte plötzlich auf, und ich war sicher, dass sie mich gehört hatte, aber es war nur ein Dienstmädchen, das in das Zimmer eingetreten war, dicht gefolgt von Lucius Perry. Kaum hatte das Mädchen mit seinem Mantel den Raum wieder verlassen, als er sich schon über sie beugte und sie küsste. Nacheinander zog er ihr die Stifte und Pinsel aus dem Haar, schob seine Finger hinein und öffnete ihr Haar. Die Frau hatte sehr volles Haar, und wie er es in den Händen hielt, ließ erraten, dass es sehr schwer war. Er küsste sie erneut und wollte sie offenbar zu der Couch am Fenster ziehen. »Mir reicht's«, flüsterte ich und versuchte, nicht nervös zu klingen. »Ich gehe.« »Pst!«, zischte Marcus. »Was meinst du, können wir noch ein wenig näher herankommen? Ich will hören, was sie miteinander reden.« 128 »Sie werden nicht viel reden, Marcus. Höchstens Ohhh, ahhh, mein Liebling oder so ähnlich.« »Sie reden wohl«, widersprach er. »Sie scheint wütend auf ihn zu sein.« »Vielleicht hat sie die Sache mit Glinleys Etablissement herausgefunden.« »So wütend ist sie nun auch wieder nicht.« »Also, was sagt sie denn?« Sie sagte: »Ich muss diese Schicht noch fertig malen, bevor sie zu trocken wird, Lucius.« »Du kannst später drübermalen.« Lucius Perry war bereits damit beschäftigt, mit einer Hand ihren Kittel aufzubinden, während er mit der anderen darunter nach ihrem Mieder tastete. »Später. Ich helfe dir dann.« »Großer Gott. Welcher Eifer.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und schob gleichzeitig ihr Hemd über die Schulter und fuhr mit einem Finger seine Lippen nach. Sie spürte, wie seine Hand sich lockerte, sah, dass seine Lippen sich leicht öffneten, und lächelte. »Was hast du denn heute wieder getrieben, dass du so inspiriert wurdest?« »Ich habe dem Herzog seinen Anteil gebracht.« »Hätte ich mir denken können. Das gefällt dir immer sehr.« Erwartungsvoll ließ er sich zurücksinken und räkelte sich ergeben. Blitzschnell sprang sie von der Couch und ging zu ihrem Arbeitstisch zurück. »Teresa!« Lucius Perry beugte sich gefährlich weit über den Rand der Liege und streckte die Hände nach ihr aus. »Lass mich nicht in diesem Zustand allein!« »Geh ins Bett, Lucius«, sagte sie und nahm einen Pinsel. »Ich meine, ins richtige Bett. Ich komme dann, wenn ich hier fertig bin.«
»Wann?«, wollte er in klagendem Ton wissen, ließ sich zurücksinken und starrte an die Decke.
3H »Spielt es eine Rolle, wann? Du wirst sofort einschlafen, ich kenne dich doch. Du warst die ganze Nacht in dem anderen Haus und den halben Tag beim Herzog.« Sie beobachtete ihn, als er sich in aufreizender Haltung zurechtlegte -den linken Arm schob er lässig hinter den Kopf, die rechte Hand drapierte er leicht gekrümmt auf dem Oberschenkel. Er streckte sich wie eine Katze in der Wintersonne, sodass sich alles, was er zu bieten hatte, klar und deutlich unter den Kleidern abzeichnete. Teresa trank einen Schluck Kräutertee, der inzwischen kalt geworden war. »Hör mal«, sagte sie, »heute Nachmittag kommt Helena Montague hierher, um eine Tasse Kakao mit mir zu trinken. Sie gehört zu den wenigen Damen, die noch mit mir reden. Ich darf sie nicht enttäuschen. Und sie hat sechs Schalen bei mir bestellt, die genau gleich bemalt sein müssen.« Sie zog den Pinsel vorsichtig über den Rand der Schale, sodass sie einen azurblauen Rand bekam. »Ich habe ihr ein paar Arbeiten gezeigt, und sie war voller Bewunderung. Behauptete, es seien die schönsten Muster, die sie jemals gesehen habe, und sie wollte einen ganzen Satz von Schalen haben, wenn ich nicht zu beschäftigt sei.« Teresa lächelte wehmütig. »Ich versicherte ihr, dass das nicht der Fall sei. Keine Ahnung, was sie damit macht, vielleicht verschenkt sie die Schalen an ihren Hutmacher oder sonst jemanden, aber sie zahlt mir dafür gutes Geld, und das ist alles, was zählt.« »Gutes Geld?«, fragte Lucius verträumt. Er hatte sich entspannt, und er klang, als redete er im Schlaf, was offenbar fast zutraf. »Ich habe Geld.« »Natürlich hast du Geld, jede Menge. Geh und kauf dir einen neuen Hut.« Endlich schloss er die Augen. Sein Gesicht wurde plötzlich still und wirkte so entrückt wie das einer Königsstatue auf dem Grab. »Heirate mich.« »Dieses Jahr nicht. Vielleicht nächstes Jahr. Komm schon, 129 wach auf«, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. »Möchtest du denn nicht lieber eine angesehene Frau heiraten? Du lümmelst auf meiner Couch herum, als ob du für eine Statue des Liebhabers des Eichengottes Modell liegen müsstest! Wenn Helena Montague dich hier in dieser Pose entdeckt, verpuffen auch noch die letzten kläglichen Reste meines guten Rufs!« »Heirate...« »Hm. Na ja, zumindest trocknet die Farbe schnell. Aber vermutlich muss ich ihr so lange Kuchen hinstellen, bis die Schalen ganz trocken sind, damit sie sie genau anschauen kann. Ich hätte damit schon letzte Woche anfangen sollen, aber dann kam mir eine neue Idee für den ersten Akt. Das wäre doch schön, wenn Schreiben so viel einbringen würde wie Porzellanmalerei, es ist nämlich viel unterhaltsamer. Aber das Publikum ist unberechenbar, und das Theater ist ein einziger Sumpf. Ich bin mir sicher, dass Sterling mich von Anfang an hereingelegt hat. Ich wünschte, ich könnte etwas Eigenes schreiben, eine Komödie vielleicht, aber ich bin einfach nicht... Lucius!«, rief sie plötzlich so laut, dass die beiden Lauscher draußen das Echo von den Wänden zurückhallen hörten. »Wach auf und geh ins Bett! Und schick mir Nancy herein, damit sie meine Frisur richtet, sie hat sich völlig aufgelöst.« Wir sahen, dass sich Lucius Perry von der Couch erhob und aus dem Zimmer schleppte. »Für den Herzog zu arbeiten«, flüsterte Marcus, »ist wirklich sooo anstrengend!« Ich kicherte. »Und was jetzt?« »Rückzug über die Mauer, Katie, und zwar presto! Wir müssen sehen, ob er das Haus durch den Haupteingang verlässt.« »Und wenn, dann folgen wir ihm, einverstanden? Vielleicht hat er noch irgendwo ein anderes Mädchen.«
3i6 »Zwei Mädchen! Und vergiss das Pony nicht...« Wir schafften es kaum noch über die Mauer, und als wir den Vordereingang lange genug aus einem nicht sehr guten Versteck neben einem Nachbarhaus beobachtet hatten — »Nächstes Mal bringst du ein Würfelspiel mit«, ordnete Marcus an, »denn es muss so aussehen, als wohnten wir in der Nachbarschaft und spielten hier nur eine Partie« -, gingen wir noch einmal zurück und zerrten den Strick vom Baum. Niemand jagte Hunde oder
Wächter auf uns, also mussten wir wohl ziemlich leise und geschickt gewesen sein. Allerdings hatte uns unser Erfolg so übermütig gemacht, dass ich sicher war, man würde uns doch noch ertappen. Aufgeregt, schwitzend und grinsend verstauten wir das Seil. »Und was machen wir jetzt?« »Lebkuchen kaufen«, antwortete Marcus. »Hat ja bei uns Tradition.«
Kapítel 7
Sie versuchten, sie zum Essen zu zwingen, und sie versuchten, sie auszuhungern. Das Ergebnis war dasselbe: Artemisia blieb stur. Sie versprachen ihr alles Mögliche, wollten ihr Schoßtiere oder Juwelen kaufen, selbst zu den Pferderennen hätte sie jetzt gehen dürfen, worum sie seit Monaten vergeblich gebettelt hatte. Aber nichts wirkte. Ihre Mutter überlegte sogar, ob sie ihr androhen solle, ihr das Haar kurz abschneiden zu lassen — das hatte schon früher einmal funktioniert —, aber das würde dann auch die Hochzeit verderben. Lord Ferris schickte Blumensträuße und jeden Tag einen Brief, in dem er sich nach ihrem gesundheitlichen Befinden erkundigte, aber nach dem, was sie mit dem ersten seiner Briefe angestellt hatte, hielten sie die übrigen zurück. Ihre gute Freundin Lydia Godwin kam zu Besuch, um sich nach ihr zu erkundigen, und sie hätten sie beinahe wieder nach Hause geschickt. Aber Lydia glühte förmlich vor Freude über ihre Verlobung mit Armand Lindley, sodass Lady Fitz-Levi dachte, das Mädchen könne ihrer Tochter vielleicht ein wenig Vernunft beibringen. Als Lydia in Artemisias Zimmer trat und diese das hübsche Gesicht ihrer Freundin erblickte, löste sie sich völlig auf. Sie warf sich in Lydias Arme und weinte sich wortlos aus. Tief bewegt begann auch Lydia zu weinen, und erst als beide aufhörten, um nach frischen Taschentüchern zu suchen, fragte Lydia: »Meine liebste Mi, was ist denn nur geschehen?« Artemisia ergriff die Hand ihrer Freundin. »Dein Vater«, 130 sagte sie mit bebender Stimme, »Lord Godwin, er kennt sich doch mit den Gesetzen aus, nicht wahr? Könntest du... könntest du ihn vielleicht fragen, ob ein Mädchen von ihren Eltern gezwungen werden kann zu heiraten, wenn sie selbst es nicht will? Wenn sie sich durch die Verlobung gebunden hatte, jetzt aber nicht mehr will?« »Natürlich frage ich ihn, meine Liebe. Aber sicherlich werden dich doch deine Eltern nicht gegen deinen Willen verheiraten? Selbst sie können doch nicht so hoffnungslos altmodisch sein?« »Doch, das werden sie. Jeden Tag fallen sie über mich her, und niemand versteht es!« »Liebste Mi, was ist denn nur mit dir geschehen? Was hat Lord Ferris denn getan, dass du ihn jetzt so heftig verabscheust?« Einen Augenblick lang überlegte Artemisia, ob sie ihrer Freundin alles erzählen sollte. Aber sie wusste, dass ihre liebste Lydia ihr immer alle Neuigkeiten über ihre Freunde weitergab. Und deshalb war ihr auch klar, dass Lydia, bei aller gegenseitigen Zuneigung, diese sensationelle Neuigkeit von Artemisias Entehrung niemals würde für sich behalten können. Deshalb beschränkte sie sich klugerweise darauf auszurufen: »Ich kann ihn nicht heiraten! Lieber sterbe ich!« Lydia tat ihr Bestes, um Artemisia zu erklären, dass nach ihrer Erfahrung wahre Liebe und gegenseitiges Verständnis, wie sie von ihr und ihrem wunderbaren Armand empfunden wurden, vollauf genügten, um jedes Hindernis zu überwinden. Aber ihre Worte riefen nur geringe Wirkung hervor. Artemisia presste die Hände vor den Mund und weigerte sich, ihre Freundin auch nur anzublicken. Lydia streichelte ihrer Freundin sanft über das Haar. Die Sache war schlimmer, als sie erwartet hatte. Zwar hatte sie schon früher Artemisias Launen erlebt, vor allem, wenn sie 130 versuchte, ihre Eltern einzuschüchtern. Aber nie zuvor hatte sie sich geweigert, ihr Herz vor ihrer liebsten Freundin zu öffnen — und nie zuvor waren ihre Augen so gerötet, ihr Gesicht so angespannt, ihr Atmen so hektisch gewesen. Lydia hielt es für das Beste, sie ein wenig abzulenken, bis sie sich vielleicht beruhigte und gefasster wurde. »Mi«, sagte sie, »erinnerst du dich, als wir im Theater das Stück Die Kaiserin anschauten und du nachher Albträume bekamst?«
Artemisia erschauerte. »Diese furchtbare Frau! Ließ so viele Männer umbringen! Warum fragst du, wird das Stück wieder gespielt? Denn jetzt würde ich es mir gerne anschauen, wirklich! Jetzt endlich verstehe ich nämlich vollkommen, warum sie das tat!« »Nein, es wird nicht gespielt, aber dieselbe wunderbare Schauspielerin, die in der Rolle der Kaiserin so stolz wirkte — man nennt sie die Schwarze Rose —, was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ihre Truppe für ein neues Stück verpflichtet wurde und dass sie die Rolle der Stella spielen wird?« »Du meinst...« Artemisia hielt den Atem an, während sie nachdachte. »Du meinst, sie wollen Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß als Theaterstück aufführen?« »Es ist schon aufgeführt worden! Lavinia Perry und Jane Hetley haben es gesehen, an Janes Geburtstag.« »Und?« »Lavinia sagt, dass Henry Sterling als Fabian einfach ein schlechter Witz sei, aber Jane sagt, dass sie ihn auf der Stelle heiraten würde. Lavinia hat ohnehin kein gutes Wort für das Stück übrig, sie ärgert sich nämlich, dass sie die ganze Szene mit den Mäuse jagenden Katzen ausgelassen haben, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie sie das auf der Bühne hätten darstellen können. Jane meint, dass es keine Rolle spiele, weil Mangroves Reue am Ende im Stück weit wirkungs
131 voller dargestellt wird als im Buch. Doch Lavinia sagt, dass das Stück den wahren Geist des Romans nicht erfasst habe.« »Ich habe auch nie geglaubt, dass seine Reue echt war. Das ist alles nur eine List, um Stella bis zum Ende zu verwirren.« »Das behauptet Jane auch. Sie sagt, dass man ihn am liebsten selbst umbringen möchte, weil er so durch und durch böse sei. Köstlich böse, sagt sie.« »Und was ist mit Tyrian? Sieht er wenigstens gut aus?« »Ach, bei Tyrian spielt das keine Rolle. Sie lassen ihn nämlich von einem Mädchen spielen.« »Ein Mädchen spielt Tyrian? Dieselbe, die auch die Freundin des Helden in Der Zauberer des Königs spielte? Ich wette, sie ist es. Mein Bruder Robbie war ziemlich in sie verknallt. Aber dass Tyrian von einem Mädchen gespielt wird, also wirklich...« »Wie man hört, soll sie mit dem Degen ganz großartig umgehen.« »Und küsst sie Stella?« »Das haben sie nicht erwähnt.« »Was? Lavinia sagt nichts darüber, obwohl wir das Küssen so oft mit ihr geübt haben? Das ist doch kaum zu glauben.« »Nun, dann müssen wir uns das Stück eben selber anschauen«, sagte Lydia fröhlich. »Dann werden wir es schon herausfinden.« Artemisia zog sich sofort zurück. »Das kann ich nicht.« »Aber du kannst dich auch nicht ewig hier einschließen!« »Ich will nicht ausgehen, ich kann nicht ausgehen, bis ich mich von dieser Heirat befreit habe.« »Dann schlage ich dir etwas anderes vor!« Lydia hatte die Gewohnheit, auf ihrem Sitz hin und her zu rutschen, wenn sie aufgeregt war. Auch jetzt konnte sie nicht mehr still sitzen. »Wir können dich doch heimlich aus dem Haus schmuggeln! Du könntest dich maskieren...«
131 »Nein! Nein! Nein!« Artemisia presste die Hände auf die Ohren. Lydia fuhr erschrocken zurück, machte sich aber im selben Moment Vorwürfe, keine gute Freundin zu sein. Vorsichtig beugte sie sich wieder zu ihr. »Meine liebste Artemisia, sag mir doch bitte, was mit dir los ist!« »Ich kann ihn nicht heiraten!«, wiederholte Artemisia. »Ich werde überhaupt nie heiraten. Schon der bloße Gedanke ist nicht auszuhalten!« »Mi«, sagte Lydia feinfühlig, »hat dir deine Mama vielleicht ein paar Dinge über das Verheiratet sein gesagt, die dir Angst einjagen oder gar unangenehm vorkommen?« Artemisia blickte sie verwundert an. War das dieselbe Lydia, die ihr erst kürzlich geholfen hatte, ein Buch mit dem schönen Titel Die Couch des Eros unter ihren Hüten vom letzten
Jahr zu verstecken? »Mama redet ständig von Kleidern und Schmuck und Häusern auf dem Land. Und sie sagt«, fügte sie ein wenig boshaft hinzu, »wenn ich Lord Ferris heirate, übertrumpfe ich dich, egal wen du heiratest.« Lydia setzte sich wieder aufrecht. »Sagt sie das?« »Ich hasse sie!«, explodierte Artemisia. »Ich hasse sie! Ich hasse euch alle!« Man muss es Lydia Godwin hoch anrechnen, dass sie diesen Sturm durchstand. Sie gab ihrer Freundin sogar sämtliche Taschentücher, die sie in ihrer Taschentuchschachtel dabei hatte, eins nach dem anderen, und erklärte aufmunternd: »Ich werde nachher mal mit Dorrie ein Wörtchen reden, damit sie deine Schachtel immer gut nachfüllt.« »Robbie sagt, ich sei schlimmer als eine Gießkanne. Ihn hasse ich auch.« »Robbie kann manchmal wirklich gemein sein. Aber hoffentlich weißt du, dass ich dir nie irgendwelchen Kummer zufügen würde, meine Liebe.« Das löste einen weiteren Tränenstrom aus und endete mit ewigen Freundschaftsgelöbnissen. Und in diesem wunderbaren 132 Augenblick kam Artemisia plötzlich ein Gedanke. »Lydia, erinnerst du dich: Wie Stella auf dem Land weilt und von Mangroves Günstlingen umgeben ist und nicht mehr weiß, wem sie noch vertrauen kann? Und wie sie dann einen Brief an abian schicken muss, der ihn das Leben kosten würde, wenn er in die falschen Hände geriete? Nun, ich habe hier einen Brief, den du für mich überbringen musst. Du brauchst ihn nur aus dem Haus zu schaffen und draußen jemand zu geben, der ihn dann an den Empfänger ausliefern wird.« Lydia riss die Augen weit auf. »Artemisia Fitz-Levi! Du hast doch nicht etwa einen Liebhaber?« »Sei nicht so abgeschmackt, Lydia. Was sollte ich denn mit einem Liebhaber anfangen? Nein, es ist nur eine Freundin. Aber verstehst du denn nicht: Ich werde hier wie eine Gefangene gehalten! Sie lassen keine Besucher zu mir, nur dich, mein Liebling, und natürlich lesen sie auch meine Briefe! Ich habe bald nichts mehr, womit ich Dorrie noch bestechen kann. Du musst das für mich tun!« »Ich verstehe«, murmelte Lydia und zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand. »Gib mir den Brief.« »Hier.« Artemisia hob eine Ecke des mit rosa Blümchen verzierten Teppichs hoch. »Die Mädchen putzen darunter nur einmal in der Woche, die faulen Dinger.« Der Brief war an KT, Riverside House adressiert. Lydia schob ihn in ihre Schürzentasche, und Artemisia ergriff ihre beiden Hände und schaute ihr mit jener ohnmächtigen, verzweifelten Wut in die Augen, die auch im Blick der Kaiserin gelegen haben musste, als sie ihren Favoriten auf das Schwert Treue schwören ließ. »Und jetzt schwöre!«, forderte Artemisia. »Schwöre bei deiner unerschütterlichen Liebe zu Lindley, dass du niemandem davon erzählen wirst. Nicht deiner Mama, nicht deinem Papa, nicht einmal ihm, den dein Herz vergöttert. Niemandem! Wenn du das für mich tust, Lydia, werde ich eines Tages bei deiner Hochzeit tanzen, auch wenn 132 ich für mich selbst niemals mehr das Glück erhoffen kann, das dir zuteil wird.« Wenn sich Lydia beim Frühstück mucksmäuschenstill verhielt, vergaßen ihre Eltern manchmal, dass sie noch am Tisch saß. Das war einer der Gründe, warum sie nicht sehr oft in ihrem Zimmer frühstückte. Sie aß den Toast sehr langsam und hörte zu, als ihre Mutter ihrem Vater erzählte: »Tremontaine hat wieder einmal zugeschlagen. Dora Nevilleson hat mir erzählt, ihr Mann habe ihr erzählt, dass sein Butler ihn beim Schurkenball gesehen habe. Natürlich kannst du dir denken, dass Nevilleson auch selbst dort war, es aber nicht zugeben will. Wenn man all den Ehemännern glauben würde, hätten so viele Butler auf dem Ball sein müssen, dass es wie eine Versammlung von Herren mit Kleiderbürsten ausgesehen hätte.« »Lustig.« Lydias Vater Michael, Lord Godwin, bestrich eine Toastscheibe mit Butter und schaute zu, wie die Butter in der knusprigen Brotscheibe versickerte. Mit seinem Toast nahm er es immer sehr genau. »Mein Butler ging aber nicht zum Ball. Oder falls doch, gibt er es jedenfalls nicht zu.«
»Gut«, sagte seine Frau. »Dann weißt du also nichts über diese angebliche Nichte des Herzogs? Das Mädchen mit dem Degen, das auf dem Ball gegen Todd Rippington kämpfte?« »Aber natürlich habe ich schon von der Nichte gehört. Rosamund, wofür hältst du mich eigentlich? Ich bin Rabenkanzler, Vorsitzender des Ehrengerichts. Wenn der Herzog von Tremontaine ein Mädchen am Degen ausbilden lässt und wenn das Mädchen mit ihm verwandt ist und nun Duelle ausficht, dann kommt die Sache früher oder später vor den Ehrengerichtshof. Es gehört zu unseren Aufgaben, darüber Bescheid zu wissen. Wir wollen uns schließlich nicht wie ahnungslose Tölpel überraschen lassen, wenn dann etwas geschieht.« 133 »Warum sollte euch das beunruhigen?« »Das Privileg des Degens ist ein Vorrecht des Adels. Aber nur das Privileg, nicht der Degen selbst. Den überlassen wir den Profis.« Sie berührte leicht seine Hand. »Ich kenne einen Adligen, der die Sache einmal ganz anders aufgefasst hat.« So, wie Papa Godwin den Blick seiner Frau erwiderte, fürchtete Lydia, dass ihre Eltern gleich wieder zu einem ihrer kleinen Gespräche nach oben entschwinden und sie mit ihrem nicht beendeten Frühstück und ihrer ungestillten Neugier allein am Tisch zurücklassen würden. Aber Michael Godwin sagte nur: »Jener Adlige nahm das Privileg und den Degen nur ein Mal selbst in die Hand und auch nur, weil es um einen sehr wertvollen Preis ging.« War damit das berüchtigte Duell gemeint, das ihr Vater um ihre Mutter ausgetragen hatte? Lydia hielt den Atem an und wartete gebannt auf die Einzelheiten. Aber selbst ihr Schweigen schien sie zu verraten: Ihre Mutter wandte sich wieder dem unverfänglichen Thema ihres Gesprächs zu. »Also«, fragte Rosamund beharrlich, »ist eine junge Adlige mit einem Degen, die für sich selbst kämpfen kann, wenn es ihr gefällt, etwas ganz anderes als ein junger Mann?« »Schon möglich«, seufzte Lord Godwin. »Du hast keine Vorstellung, was für ein Durcheinander die Regeln und Traditionen des Ehrengerichtshofs darstellen. Erstreckt sich das Privileg überhaupt auf Frauen, oder leitet es sich nur von männlichen Verwandten ab? Für beides gibt es Präzedenzfälle, und sie werden je nach Fall und je nach Jahr anders ausgelegt, weil auch die Mitglieder des Gerichtshofs durch Zufall oder Zuwahl ständig wechseln. Die Herzöge und Arien sind die Einzigen, die ständige Sitze haben, was dem Ganzen ein wenig Stabilität verleihen soll. Und du kannst dir ja sicher denken, was es bedeutet, wenn man von Stabilität spricht und damit den Herzog von Tremontaine meint?« Seine Gat 133 tin nickte mit ironischem Lächeln. »Ehre — das ist offenbar ein Labyrinth von ungeschriebenen Gesetzen und eifersüchtig verteidigten Traditionen. Und wo steht dieses Mädchen in diesem ganzen Durcheinander? Was ist ihr rechtlicher Status, was ist ihr gesellschaftlicher Status? Ist sie mal Adlige, mal Degenfechterin, ganz nach Belieben? Und wenn ja, wessen Beheben?« »Das ihres Onkels, würde ich sagen. Sofern sie ihn nicht tötet.« »Sie kann ihn nicht töten. Jedenfalls nicht durch eine ehrenhafte Herausforderung. Der Ehrengerichtshof erlaubt niemandem, aus einer Herausforderung innerhalb der eigenen Familie einen Nutzen zu ziehen. Wenn sie jemanden tötet, dann nur in seinem Namen.« »Oder in ihrem eigenen Namen.« »Ja. Du siehst, es ist ein einziges Chaos, und das beunruhigt uns.« »Ich verstehe. Und was gedenkt ihr noblen Herren jetzt in der Sache zu unternehmen?« »Beobachten und abwarten.« »Gefällt mir nicht, Michael. Wenn sie wirklich das Kind seiner Schwester Talbert ist, dann wäre es schändlich, wenn der Herzog sie dazu anstiftet, dermaßen wild herumzulaufen. Eine adlige Tochter sollte fein erzogen und ordentlich umsorgt werden. Jemand sollte etwas dagegen unternehmen.« »Tremontaine ist das Oberhaupt der Familie, und die Familie hat sich nicht beklagt — jedenfalls nicht gegenüber dem Rat der Lords, wo es vielleicht etwas genutzt hätte. Wie ich höre, hat sich Greg Talbert lieber mit Grippe krank gemeldet, als sich irgendwelchen Fragen zu stellen.«
»Sie ist ja nur ein Mädchen, wie man sagt, kaum älter als unsere Lydia hier.« »Nun ja, manchmal frage ich mich«, überlegte Michael Godwin, »ob ich Lydia nicht auch das Degenfechten hätte 134 beibringen sollen. Ich werde schließlich nicht immer dabei sein können. Und wenn dieser bocksgeile Lindley irgendwas mit ihr versuchen sollte, wenn sie erst mal verheiratet sind...« »Ach, Papa!« Der Scherz war schon beim ersten Mal nicht besonders lustig gewesen und wurde auch durch ständiges Wiederholen nicht lustiger. Ihre Mutter kam ihr hastig zu Hilfe. »Und wie geht es deiner Freundin Artemisia, Lydia? Ich habe gehört, sie sei krank. Hast du sie gestern besucht?« Ihre Mutter war so feinfühlig und freundlich, ganz anders als Lady Fitz-Levi. Sie würde nicht ihr Wort gegenüber Artemisia brechen, wenn sie ihrer Mutter erzählte, wie unglücklich Mia war. »Sie ist nicht wirklich krank, Mama, sondern herzenskrank. Sie will auf gar keinen Fall Lord Ferris heiraten, aber ihre Eltern wollen sie dazu zwingen. Sie weint und weint und will nichts mehr essen, es ist wirklich jammervoll. Oh, gibt es denn nichts, was wir tun können?« Ihre Mutter, die schon genügend Erfahrung mit Lady Artemisias Temperament hatte sammeln können, meinte vorsichtig: »Weißt du denn, was den Umschwung in ihren Gefühlen für ihren Verlobten verursacht hat, Liebes?« »Sie will es mir nicht verraten. Aber sie ist wirklich unglücklich, Mama. Ich habe sie noch nie so verzweifelt erlebt. Oder jedenfalls fast nie. Und noch nie so lange.« Ihr Vater warf ihrer Mutter einen viel sagenden Blick zu. »Ich wette, sie hat die Sache mit der Schwarzen Rose herausgefunden.« »Michael«, sagte Lady Godwin warnend, »das ist jetzt sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt...« »Rosamund, im Gegenteil. Ich denke, es ist höchste Zeit dafür, denn Lydia wird bald selbst verheiratet sein, und spätestens dann wird sie gewisse Wahrheiten der Welt draußen kennen lernen. In der Tat habe ich schon länger geplant, mit 134 ihr darüber zu sprechen.« Er wandte sich an seine Tochter. »Lydia, meine Liebe, vielleicht weißt du schon, dass es Frauen gibt, die... äh, Lydia, ich fange noch mal von vorne an.« Lady Godwin seufzte hörbar, kam aber ihrem Mann nicht zu Hilfe. »Männer haben, wie du vielleicht schon weißt, gewisse, hm, Interessen im Leben, und diese Interessen führen dazu, dass sie manchmal, äh, törichte Dinge tun. Dinge, die ihre Frauen nicht gutheißen können. Und ich hoffe sehr, dass du, wenn du jemals deinen Mann bei irgendeiner Torheit ertappst, nicht einfach wegschauen, sondern ihn zur Rechenschaft rufen wirst.« Lydia gab sich größte Mühe, so erwachsen und vertrauenswürdig wie möglich zu wirken. »In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Papa. Armand und ich haben uns geschworen, uns gegenseitig nichts zu verschweigen.« »Gut, trotzdem«, meinte Lord Godwin. »Natürlich ist es jungen Männern gestattet, sich ab und zu ein wenig töricht zu verhalten. Das gibt ihnen Gelegenheit, sich zu bessern, und auch ihren Frauen. Deshalb hoffe ich, dass du nicht aus allen Wolken fällst, wenn du eines Tages erfährst, dass einer der Jungverheirateten Ehemänner einer deiner Freundinnen vor seiner Heirat mit gewissen Frauen in der Stadt, nun, äh, näher befreundet war, Schauspielerinnen oder Damen in den Gasthäusern und so weiter, und dass er ihr Beschützer wurde. Tatsächlich haben die meisten Männer eine ähnliche Vergangenheit.« »Aber ihre Ehefrauen doch wohl nicht?«, fragte Lydia. »Oh, die Ehefrauen, niemals«, lächelte ihre Mutter, ohne den Blick vom Tisch zu heben. »Frauen haben niemals eine Vergangenheit, nur eine großartige und wunderbare Zukunft.« Lydia hatte ihre Gesichtszüge so gut unter Kontrolle, dass es ihr gelang, so auszusehen, als wäre ihr das alles völlig neu. »Also ist die Schwarze Rose eine Schauspielerin«, half sie ihren Eltern weiter, »und Lord Ferris ist ihr Beschützer?« 134 »War«, verbesserte Lord Godwin. »Sie ist ja nun wirklich ein Prachtstück, ein edelstes Geschöpf, genau die Art von Trophäe, auf die Lord Ferris scharf ist, und deshalb setzte er alles daran, sie zu erringen. Fiel ihm nicht ganz leicht. Die Rose ist ziemlich wählerisch. Langweilt sich leicht, sagt sie jedenfalls, und wenn man in Betracht zieht, wie viele
>Beschützer< sie schon abgewiesen hat, wird es wahrscheinlich stimmen. Aber er liebt eben die Herausforderung, unser Kreiskanzler.« »Michael.« In Lady Godwins Stimme lag eine gewisse Schärfe. »Ach, das weiß doch jeder«, fügte er mit verbindlichem Lächeln hinzu, »und die Sache dauerte auch nicht sehr lange. Sie haben sich ein wenig gezankt.« »Ein wenig gezankt?«, wiederholte Lady Godwin genüsslich. »Wie ich gehört habe, hat er sie mitten in der Nacht wie ein Gossenmädchen aus dem Haus werfen lassen, und sie trug nur ein dünnes Hemd auf dem Leib.« Lydia schnappte geschockt nach Luft. »Wenn Artemisia etwas tun würde, das ihm missfällt, würde er dann auch sie in den Schnee hinauswerfen lassen? Kein Wunder, dass sie ihn nicht heiraten will!« »Ganz gewiss nicht, mein Liebling. Kein Adliger würde es wagen, seine Frau auf diese Weise zu behandeln. Das würde natürlich sofort ihren Eltern und ihrem Bruder zur Kenntnis gelangen, und dann müsste er teuer dafür büßen. Nein, keine Angst, das ist sicherlich nicht die Ursache.« »Denk doch mal nach, Lydia«, sagte ihr Vater. »Deine Freundin hat sehr viel Stolz. Sie hört von der Affäre, und jetzt will sie erreichen, dass er das alles bereut. Du wirst zugeben, sie hat bei allem gern die Oberhand.« Lydia runzelte nachdenklich die Stirn. Es stimmte: Mia hatte sich ausgesprochen interessiert gezeigt, als der Name der Schwarzen Rose gefallen war. Und wenn man gerecht war, musste man zugeben, dass sich Mia nicht gern vorführen ließ. 135 »Aber wenn Lord Ferris seine Geliebte bereits verlassen hatte, warum sollte sie dann noch solches Aufhebens darum machen?« »Weil«, mischte sich ihre Mutter knapp und bündig ein, »sich die ganze Sache ungefähr im Mittwinter abspielte. Er machte also beiden Frauen ungefähr zur selben Zeit den Hof, das ist der Grund.« Lydia stieß einen leisen Pfiff aus. »Da!«, rief Lady Godwin vorwurfsvoll ihrem Mann zu, »das hast du jetzt von deinem vulgären Gerede! Lydia: Du pfeifst niemals in der Öffentlichkeit, das weißt du doch!« »Wenn ihr über die Sache mit Lord Ferris und der Schwarzen Rose Bescheid wisst, dann wissen es auch ihre Eltern. Warum hat niemand etwas gesagt?« Lord Godwin erklärte: «Artemisias Vater ist, nun ja, ein in der Stadt sehr bekannter Mann. Selbst wenn er über Lord Ferris 'Affäre mit einer Schauspielerin Bescheid wusste, nahm er sicherlich an, dass die Sache bald vorüber sein würde. Er würde niemals zulassen, dass sie den vorteilhaften Heiratsvertrag infrage stellt.« Lydia brauchte eine Weile, bis sie all diese Neuigkeiten verdaut hatte. Sie wusste, Artemisia hatte Lord Ferris eigentlich nie wirklich geliebt. Durchaus möglich, dass sie Recht hatte, ihn nicht heiraten zu wollen. Ihre Eltern konnten sie doch bestimmt nicht dazu zwingen! Bei dieser Sache ging es wieder einmal darum, wer mehr Willensstärke besaß, und die FitzLevi-Familie war für solche zähen Kämpfe bekannt. Lydia schwor sich, Artemisia sobald wie möglich mit einer Schachtel ihrer Lieblingspralinen zu besuchen und sie ein wenig abzulenken. »Die Schwarze Rose spielt in einem neuen Stück«, sagte Lydia, »und alle meine Freundinnen haben es schon gesehen. Darf ich es auch sehen?« »Ach, du meine Güte«, seufzte Lady Fitz-Levi, »das ist doch dieser grauenhafte Kitsch über einen Geliebten, der ein Degen135 fechter ist, nicht wahr? Meine Freundinnen waren ganz verrückt nach dem Buch, als wir noch jung waren.« »Es ist kein Kitsch«, widersprach ihre Tochter. »Es enthält viele edle und großartige Wahrheiten in Herzensangelegenheiten. Und auch Fechtkämpfe.« »Dann muss ich es unbedingt lesen«, warf ihr Vater gut gelaunt ein, aber niemand achtete auf ihn. »Ich wünsche mir so sehr, dass Mia das Stück sieht«, fuhr Lydia fort. »Wenn ich ihr nur fest versprechen könnte, dass Lord Ferris nicht im Theater auftaucht...«
»Wird er ganz bestimmt nicht«, kicherte ihre Mutter. »Die Schwarze Rose hat ihm am nächsten Morgen Hausverbot erteüt, und seither hat er sich im Theater nicht mehr blicken lassen.« »Nun, da hast du's«, sagte Michael Godwin zu seiner Tochter. »Schauspielerinnen sind rachsüchtige Geschöpfe. Du solltest unbedingt deinem Armand sagen, er solle aufpassen, wen er sich als Geliebte aussucht.« Noch vor einem Jahr hätte Lydia bei solchen Bemerkungen ihres Vaters zu kichern begonnen. Aber die Liebe hatte sie in eine ernsthafte Person verwandelt, jedenfalls dann, wenn es um die Liebe ging. »Ach, Papa!«, sagte sie. »Du weißt doch, dass Armand so etwas niemals tun würde.« »Natürlich weiß ich das«, antwortete er. »Aber er weiß auch, dass ich ihn sehr genau im Auge behalte.«
Kapitel 8 Allein die Tatsache, dass wir über Lucius Perry und seine heimliche Liebe Bescheid wussten, machte das Leben angenehmer. Wann immer uns der Herzog von oben herab behandelte und uns klarzumachen versuchte, dass wir zu jung und unerfahren seien und infolgedessen auch keine Ahnung hätten, bissen wir uns auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, denn schließlich wussten wir Dinge, von denen er keine Ahnung hatte. Marcus und ich spekulierten endlos über das, was wir beobachtet hatten. Ich hielt die Dame für sehr klug, weil sie seine Neigungen erkannt hatte und sich weigerte, seinem Werben nachzugeben, denn er würde rasch wieder abkühlen, sobald sie erst einmal nachgegeben hatte. Marcus hingegen vermutete, dass sie über seine anderen Leben nicht Bescheid wissen könne, denn sonst hätte sie ihn bestimmt nicht ins Haus gelassen. Zu seinen fantasievollen Theorien gehörte auch die Vermutung, dass die Dame in Wirklichkeit seine Schwester sei, denn sie habe ihm nicht mehr erlaubt als ein paar kleine Küsse. »Er besteht von Kopf bis Fuß aus Laster«, erklärte er. »Ist doch gut möglich, dass das in der ganzen Familie vererbbar ist?« Ich wies ihn ziemlich spitz darauf hin, dass solche Dinge nicht unbedingt vererbbar seien. Wir hätten eigentlich herausfinden sollen, wem das Haus gehörte, in dem sie wohnte. Dann wäre es uns nämlich ein Leichtes gewesen, so zu tun, als hätten wir eine Mitteilung 136 auszuliefern und hätten uns in der Adresse geirrt, um dann die Gelegenheit zu benutzen und das Hausmädchen oder die Bediensteten in einem Nachbarhaus auszufragen ... Wir besprachen den Plan, aber wir führten ihn nicht aus. Schließlich war das kein Spiel. Uns ging es viel eher darum, Lucius und seine Geliebte zusammen zu erwischen und herauszufinden, wie sie auf unsere Nachfragen reagieren würden. Was bedeuteten sie einander? Was hatten sie zu verbergen und warum? Wir wollten ihre innersten Geheimnisse erkunden, wollten etwas in Erfahrung bringen, das niemand wusste und das sie niemals freiwillig preisgeben würden. Dieses Wissen wollten wir für uns bewahren, wollten es niemandem mitteilen, es sollte unser eigenes, vollendetes und einzigartiges Geheimnis bleiben. Außerdem hatte die Kammerzofe Fischaugen. Allerdings schien es durchaus möglich, dass das Herumlungern in den Gärten im Spätwinter unserer Gesundheit nicht sehr zuträglich war. Ein paar Tage später holte sich Marcus eine ernsthafte Erkältung. Während er im Bett lag, ließ mich mein Onkel zu sich rufen. Er saß im Arbeitszimmer, zusammen mit seiner Freundin Flavia, der unbarmherzig hässlichen Dame, die er in seiner Nähe hielt, damit sie sich zusammen über andere Leute lustig machen und mathematische Rätsel oder ähnliches Zeug lösen konnten. Damit schienen sie jedenfalls immer beschäftigt, wenn ich sie zusammen antraf. Heute bastelten sie an einer Art Modell — einen Turm vielleicht, konnte allerdings auch eine Uhr sein, aber ich wollte nicht fragen, weil ich mir sonst wieder einen Vortrag hätte anhören müssen. Ich trug meinen neuen, prächtigen Umhang, und an diesem Tag war es endlich warm genug, sodass ich ihn mit den hübschen Quasten über den Schultern zurückbinden konnte und mir über Tauwasserpfützen keine Gedanken zu machen brauchte. Flavia betrachtete mich von oben bis unten, als ich ins 136
Zimmer trat, und bemerkte: »Ich hab's: Ihr habt eine Karriere auf der Bühne vor Euch.« »Als was?«, erkundigte sich mein Onkel. »Sie kann sich nichts merken, das kann niemand in dieser Familie. Mit den Lebensdaten von Herrschern oder den Jahreszahlen großer Schlachten kann sie rein gar nichts anfangen.« »Ich kann Gedichte auswendig«, widersprach ich, aber sie achteten nicht auf mich. »Nun«, fuhr Flavia fort, »falls Ihr es nicht bemerkt haben solltet: Die Nachfrage nach weiblichen Degenfechtern beschränkt sich ziemlich eindeutig auf Tremontaine House und auf das Theater. Dort ist der Beruf gewissermaßen in Mode gekommen.« »Die im Theater können nicht fechten«, sagte er verstimmt. »Sie kennen ein paar Bewegungen, und ansonsten springen sie nur auf der Bühne herum und zeigen ihre Waden. Dagegen ist Katherine eine herausragende Duellantin — und außerdem immer sehr bescheiden gekleidet«, fügte er schmal-lippig hinzu. »Drei Ellen reinster Samtseide würde ich nicht unbedingt als bescheiden bezeichnen«, sagte sie, aber mit »bescheiden« hatte er natürlich gemeint, dass ich nicht meine Waden zur Schau stellte. »Also«, fuhr mein Onkel fort, »da wir gerade vom Theater sprechen: Hättest du nicht Lust, dir ein Stück anzuschauen?« »Ich?«, entfuhr es mir quiekend. »Warum nicht? Ich habe eine eigene Loge im Hirschsprung-Theater, die würde dann wenigstens mal benutzt. Sie spielen heute Nachmittag. Du solltest wirklich hingehen. Gönne dir doch das Vergnügen.« Ich wartete ab, was noch kam. Die Rolle des wohlwollenden Onkels spielte er nicht sehr überzeugend. »Und wenn das Stück zu Ende ist, könntest du hinter die Bühne gehen und vielleicht eine der Schauspielerinnen kennen lernen.«
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»Die Degenfechterin vielleicht?« Wollte er, dass ich ihr ein paar Tipps gebe? Lieber würde ich sterben. »Nein, die romantische Hauptrolle. Man nennt sie die Schwarze Rose. Ich möchte, dass du ihr etwas überbringst.« Er gab mir einen Brokatbeutel, in dem etwas Schweres herumglitt. »Eine Goldkette«, erklärte er, »und ich vertraue dir, dass du damit nicht durchbrennst. Du brauchst sie ihr nur zu übergeben. Sie wird wissen, wer ihr die Kette schickt und was sie bedeutet. Sollte aber jemand fragen, dann ist es ein Geschenk für sie, in bewundernder Anerkennung ihrer schauspielerischen Leistung.« »Ist sie wirklich so gut?« Mein Onkel setzte sein anzüglichstes Lächeln auf. »Sie ist die Beste.« »Mein Lieber«, mischte sich Flavia ein, »schaltet Eure lüsternen Gedanken endlich ab und reicht mir das Stückchen dort — nein, ich meine den Butterkeks.« »Selber Butterkeks.« Und so besuchte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Theater. Zuerst kam es mir mit seinen bemalten Säulen und der strahlend hellen Fassade wie ein Tempel vor, aber ein großes Banner über dem Eingang verkündete, worum es sich bei diesem Haus handelte: HIRSCHSPRUNG-THEATER, HENRY STERLING, THEATERDIREKTOR UND SCHAUSPIELER. In letzter Minute war dem Herzog eingefallen, dass ich doch lieber nicht in seiner Loge sitzen sollte, weil sonst jeder erraten könne, woher die Goldkette stammte. Deshalb hatte er mir Geld mitgegeben, damit ich ein Billett für einen guten Platz im Parkett vor der Bühne kaufen konnte und für das Trinkgeld für den Platzanweiser sowie für Knabbersachen und sonstige Ausgaben. Ein Mädchen mit außerordentlich tief ausgeschnittenem Mieder verkaufte Nüsse; ich kaufte eine Tüte, vergaß aber völlig, sie zu essen, so aufgeregt war ich, hier sein zu dürfen.
137 Ein wenig kam ich mir selbst wie eine Schauspielerin vor, denn ich trug meinen prächtigen Umhang und einen neuen Hut mit einer schwungvollen Feder, den Betty in allerletzter Minute besorgt hatte. Der Kontrolleur am Eingang nannte mich »Sir«, und ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu berichtigen. Warum sollte ich nicht als Junge auftreten und dann auch alle Freiheiten genießen, die einem Jungen zustanden? Hier war offenbar alles erlaubt. Ich konnte es kaum erwarten, die Schauspielerin mit dem Degen zu sehen. Auf der Bühne wurden Kerzen angezündet, obwohl es immer noch heller Tag war. Mitten auf der Bühne stand ein Bett, ein sehr großes Bett mit Vorhängen. An der hinteren Wand
des Bühnenbilds hingen ebenfalls Vorhänge vor sehr hohen Fenstern, davor stand ein Toilettentisch und auf dem Boden lag ein großer Teppich. Es sah wie das Schlafzimmer einer Dame von Stand aus. Auf einer Seite der Bühne begann ein winziges Orchester zu spielen, und im Publikum wurde es still. Eine Frau trat auf. Vereinzelte Seufzer waren zu hören, denn sie war sehr schön, mit prächtigem Busen und dunklem Haar, und sie trug ein wunderbares rosa Kleid mit vielen Rüschen. Um ihren weißen Hals hing jedoch nur eine einfache Perlenkette. »Nein danke«, sagte die Schauspielerin zu irgendjemandem außerhalb der Bühne, offenbar war die Zofe gemeint. »Ich bereite mich selbst auf die Bettruhe vor.« Jemand kicherte und wurde sofort mit Zischlauten zum Schweigen gebracht. Die Frau hakte ihren Umhang auf und legte ihn über einen Stuhl. Das tat sie mit einer so anmutigen Müdigkeit, dass man irgendwie ahnte, dass sie ausgegangen und erst sehr spät nach Hause gekommen war. Sie hatte zwar ihren Spaß gehabt, war nun aber mehr als nur froh, dass der Tag zu Ende ging. Müde griff sie in ihr Haar und zog zwei Nadeln heraus. Eine Kaskade von Locken ergoss sich über Schultern und Rücken wie ein befreites Tier. Sie griff nach der Kette an ihrem Hals, um
138 den Verschluss zu öffnen. In diesem Augenblick, als wir alle ihre intimste Stimmung und Entspannung miterlebten, überzeugt, dass es nur für uns bestimmt sei, trat ein Mann hinter den langen Vorhängen am Fenster hervor. Er sah umwerfend gut aus und trug einen Degen am Gürtel. Seine Stimme klang warm und weich wie heiße Schokolade, aber das war nicht der Grund, dass es mir förmlich den Atem verschlug. »Lady Stella«, sagte er, »bitte gestattet mir...« Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen, um nicht laut aufzuschreien. Und dann bewegten sich meine Lippen mit den Worten, die von der Bühne kamen. Ich kannte sie alle auswendig, denn es war das erste Kapitel meines Lieblingsbuches. Fabian blies die Kerzen aus. Auf der fast dunklen Bühne zog er Stella an sich, und sie verschwanden hinter den Bettvorhängen. Hinter mir quiekte eine Frau vor Glückseligkeit. Die Vorhänge bewegten sich nicht, aber das Orchester begann eine langsame und hübsche Melodie zu spielen. Als es endete, trat eine Zofe herein und zog die Vorhänge zurück, zuerst die hohen an den Fenstern, dann die am Bett. Stella lag allein im Bett; ihr dunkles Haar fiel über ihr weißes, rüschenbesetztes Nachtgewand. Sie stand auf und trat ans Fenster. Erst jetzt bemerkten wir, dass es ein wenig offen stand, als ob es jemand nicht richtig geschlossen hatte. Dann wandte sie sich um und blickte über das Publikum in die Ferne, wobei sie sich mit einer Hand über das Haar strich. »Noch gestern war ich nur ein Mädchen, heute bin ich eine Frau.« Für mich war es das seltsamste Gefühl der Welt, etwas, das mir so ganz und gar allein gehört hatte, nun plötzlich auf der Bühne dargestellt zu sehen, mit lebenden Personen, die es ausführten, und anderen, die ihnen dabei zusahen. Einmal hatte ich Marcus das Buch geliehen. Als ich es dann wieder zurückverlangte, hatte er keinen Kommentar abgegeben, also
138 hatte es ihm entweder nicht gefallen, oder er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, es zu lesen. Als dann die Kampfszene zwischen Mangrove und Fabian im Glockenturm an der Reihe war, wurden endlich die Degen gezogen. Henry Sterlings Fechtkunst war nicht mal so schlecht, er hatte den Schwung und den Geist Fabians, aber wer auch immer Mangrove spielte, wusste genau, wie er seine Degenhand zu bewegen hatte. Deshalb war es auch fast eine Überraschung, als er die Waffe fallen ließ und überstürzt die Flucht ergriff. Bei Mangrove stimmte natürlich überhaupt nichts: Er war zu kurz geraten, denn er sollte eigentlich viel größer als Fabian sein, aber Henry Sterling gab einen wirklich überzeugenden Fabian, vor allem in der Szene, in der er Stella — fälschlicherweise - erklärt, er sei froh, dass es Tyrians Kind sei, weil Mangrove Recht habe und seine eigene Saat verflucht sei. Aber es wäre ohnehin nicht leicht gewesen, einen Schauspieler zu finden, der größer als Sterling war. Und Mangrove hätte eigentlich einen Schnurrbart haben sollen, weil sich Stella in der Szene, in der er sie küsst, davon abgestoßen fühlt, aber das ließen sie natürlich weg. Die
wundervolle Schauspielerin, die Stella spielte und die sicherlich die Schwarze Rose war, stellte das Gefühl des Abgestoßen-Seins trotzdem sehr gut dar: Sie hakte hinter dem Rücken ihre Finger ein wenig seltsam ineinander, was bedeutete, dass sie sich ekelte, und das konnte man ganz genau sehen. Tyrian. Ich war nicht sicher, was ich von Tyrian halten sollte. Eigentlich konnte man es erkennen, dass er von einer Frau gespielt wurde, wenn man wirklich genau hinschaute und ein wenig nachdachte. Aber alle auf der Bühne sprachen von ihr als einem »Er« und behandelten sie wie einen Mann, also musste man auch als Zuschauer gewissermaßen mitspielen. Und sie stolzierte wie ein Mann auf der Bühne herum, und sogar ihre Kopfhaltung war gewissermaßen männlich.
139 Außerdem hatte sie das Haar kurz geschnitten, sodass es in hübschen kleinen Locken vom Kopf abstand. Selbst im Buch spürte man eine gewisse Weichheit, wenn Tyrian auftrat, eine Sanftheit, für die man ihn einfach mögen musste und die einen denken ließ, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn Stella ihn statt ihrem Freund bevorzugen würde. Genau das brachte die Schauspielerin sehr gut zum Ausdruck, schon wie sie Stella anschaute, wenn diese gerade mal wegsah, oder wie sie sich zurückzog, wenn Stella nachdachte. Vielleicht hatten sie einfach keinen Mann finden können, der Tyrian so gut darstellen konnte. Jedenfalls sah sie wirklich sehr schneidig aus mit dem Degen an ihrer Seite, und ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, wie sie ihn benutzen würde. Tyrian gab Fabian sein Versprechen, und die beiden verschwanden von der Bühne, und alle klatschten. Ich wartete in höchster Spannung, doch nichts geschah. Die Bühne war leer, das kleine Orchester spielte, aber die Zuschauer begannen miteinander zu reden und erhoben sich von ihren Sitzen. Bekümmert überlegte ich, was wohl schiefgelaufen sein mochte, aber niemand sonst schien sich darüber Sorgen zu machen. Die Verkäufer kamen in das Theater und verkauften ihre Nusstüten und Blumengebinde. Manche boten kleine schwarze Rosetten aus Seide an und winzige Degen aus Silber, die man an Ärmel, Kragen oder Hut stecken konnte als Zeichen dafür, welche der beiden Hauptdarstellerinnen man besonders mochte. Die Schauspielerin, die Tyrian spielte, hieß Viola Fine. Der kleine Degen hätte mir gefallen, aber ich dachte, es sei besser, eine Rose zu kaufen, da ich nach dem Stück die Schwarze Rose besuchen wollte. Am Ende kaufte ich dann gar nichts, nur ein gedrucktes Bild von dem Schauspieler Henry Sterling in der Rolle als Fabian, auf dem er mit zorniger Miene den Arm ausstreckte. Die Bilder gab es auch koloriert, aber die kosteten mehr, und außerdem dachte ich, dass ich es zuhause ganz gut selber kolorieren könne. Ich
139 würde nur meinen Onkel endlich bitten müssen, mir Aquarellfarben zu besorgen. Dann bliesen plötzlich die Fanfaren, und wir kehrten auf unsere Sitze zurück. Die zweite Hälfte war dann nicht mehr so gut wie die erste, weil sie eine Menge Handlung weglassen mussten, wie zum Beispiel Stellas Pferderennen und den Terror, den die nach Mäusen jagenden Katzen veranstalteten. Stattdessen hielten die Schauspieler lange Reden über die Liebe, die überhaupt nicht im Buch vorkamen und auch nicht sehr gut waren. Ich beobachtete Tyrian noch genauer. Viola Fine sollte ein richtiger Mann sein, nicht eine Frau, die Degenfechterin war, aber wenn man es sich richtig überlegte, dann war sie genau das. Genau wie ich. Aber eben doch nicht in Wirklichkeit, denn mein Onkel hatte Recht: Ihre Fechtkunst war reine Schau. Der Arretstoß, zu dem sie viel zu weit ausholte, hätte sie in einem richtigen Kampf glatt das Leben gekostet. Ich fragte mich, ob sie gern einen Mann spielte. Hatte sich Viola Fine zu Beginn ihrer Schauspielkunst Rollen ausgesucht, in denen sie aufschneiderisch herumstolzieren und den Umhang wie ein Mann mit großer Geste über die Schulter werfen konnte? Oder hatte sie insgeheim gehofft, eines Tages Stella oder eine andere Frau mit prächtigen Kleidern und wunderbaren Locken und Juwelen spielen zu dürfen, wobei die Juwelen ganz bestimmt nicht echt sein konnten, aber wirklich fantastisch glitzerten, und männlichen Mitspielern, die ihr ständig sagten, dass sie für sie sterben würden? Übrigens war ich ganz bestimmt nicht die Einzige im Publikum, die den Atem anhielt, als sich Tyrian Stella näherte, um sie zu küssen. »Ihr habt heute Abend mehr getan, als tausend Männer vollbracht hätten«, sagte sie.
»Doch nun«, murmelte die Schwarze Rose leise, »lasst mich Euch zeigen, was eine Frau allein zu tun vermag.« Sie neigte sich zu Viola, und Viola schloss, schwach werdend, 140 die Augen. Plötzlich riss die Schwarze Rose die Augen weit auf, da Mangroves Günstlinge auf dem Dach auftauchten — nach dem Buch hätten es eigentlich die nach Mäusen jagenden Katzen sein sollen. Vielleicht wäre es doch recht nett, Schauspielerin zu sein. Ich war schließlich schon jetzt eine weitaus bessere Degenfechterin als Viola, oder etwa nicht? Vielleicht konnte jemand ein Stück nur für mich schreiben, ein Drama, in dem eine echte Frau mit dem Degen kämpfte und viele schöne Abenteuer erlebte und ständig die Kostüme wechselte? Henry Sterling würde darin vielleicht einen Mann darstellen, der vor lauter Liebe zu mir fast verrückt wurde, aber glaubt, dass ich nur meinen Degen liebte, während ich mich doch vor Leidenschaft für ihn fast verzehrte. Oder vielleicht konnte Viola die Heldin spielen und ich eine Frau, die sich als Mann verkleidet, um mich ihr nähern zu können, und dann würden wir — was? Am Schluss gäbe es dann möglicherweise noch einen prächtigen Kampf, wir könnten einander den Todesstoß versetzen, und das Publikum würde schluchzend in den Sitzen hängen, wie es jetzt schluchzte, als Tyrian Stellas Kopf in seinen Armen barg und sie sanft hin und her wiegte und sie glauben ließ, dass sie oder vielmehr er Fabian sei, der bereits das Gift geschluckt hatte, aber das konnte Stella nicht wissen. Schon der bloße Gedanke trieb mir die Tränen in die Augen. Und wie Viola aufstand und sich nach jemandem umsah, mit dem sie kämpfen konnte, doch es war niemand mehr am Leben, und in ihrem Gesicht lag so abgrundtiefe Verzweiflung ... Ich fragte mich, ob auch sie sich einsam fühlte. Und plötzlich sprangen alle Leute um mich herum auf, klatschten und schrien und warfen Sachen auf die Bühne: Blumen, Nüsse, Taschentücher mit roten Kussspuren darauf, und auch sie wischten sich die Tränen aus den Augen. Hinter mir sagte ein Mädchen zu ihrer Freundin: »Ich habe es jetzt 140 elf Mal gesehen, und jedes Mal nehme ich mir vor, nicht zu weinen, und dann muss ich doch wieder weinen.« »Ich weiß«, antwortete die Freundin, »ich will jedes Mal, dass es anders endet, aber es endet nie anders. Oh, schau doch, da ist sie!« Die Schwarze Rose rauschte auf die Bühne, und sie glühte fast vor lauter tragischer Würde. Ihr prächtiger Busen hob sich, als sie Atem holte und sich vor dem Publikum tief verneigte. Das Mädchen hinter mir keuchte: »Das halte ich nicht aus, ich sterbe. Oh, halt mich fest! Ist sie nicht einfach wunderbar? Ich habe ihr schon Dutzende Briefe geschrieben, aber sie hat mir nie geantwortet.« Süffisant dachte ich an die Kette in meiner Tasche, die mir Zugang zu ihrer Garderobe verschaffen würde. Aber wie sich zeigte, war das nicht so einfach. Vor der Tür zu den Garderoben stand ein Aufpasser, denn nicht wenige Leute versuchten ebenfalls, hinter die Bühne zu gelangen. Die meisten hatten kleine Blumensträuße mitgebracht, und ein paar davon waren wirklich sehr hübsch. Die größten Sträuße wurden von livrierten Dienern überbracht, deren Herren in ihren Kutschen saßen und versuchten, durch die offen stehenden Türen einen Blick auf das zu erhaschen, was sich ergeben würde. Mir blieb keine Zeit mehr zurückzugehen und einen Blumenstrauß zu besorgen; es war wohl das Beste, die Sache gleich hinter mich zu bringen. Ich schob mich durch das Gedränge bis ganz nach vorn, bis ich gegen eine Frau stieß, die eine Kette aus kleinen Silberdegen um ihren turbanähnlichen Hut geschlungen hatte. Sie wich zurück, als hätte ich sie gebissen. »Wie kannst du es wagen, Bursche!« »Tut mir leid«, stotterte ich, furchtbar verlegen, denn für einen Mann wäre es wirklich undenkbar gewesen, eine Frau derart heftig anzurempeln. »Ich bin kein... wirklich, es tut mir leid, ich bin eine Dame, wie Tyrian, wie Viola, meine ich...« 140 »Wi-i-irklich?« Sie betrachtete mich von oben bis unten. »Ist das jetzt der letzte Schrei?«
»Ich wünschte, ich hätte die Beine dafür«, mischte sich eine gut gekleidete ältere Frau neben ihr ein, die ein schwarzes Halsband trug, an dem ein silberner Degen hing. »Wie heißt du, Süße?« »Katherine.« »Und ist das ein echter Degen, der da an deinem Gürtel hängt?« »Magst du Degen, Katherine?« Die Leute hinter uns drängten immer weiter voran, sodass ich gegen die beiden Damen gepresst wurde. Sie rochen nach Puder und teuren Parfüms. Ihre eigenen Waffen waren kaum so lang wie mein kleiner Finger, aber trotzdem wich ich zurück, als ob sie richtige Waffen trügen und ich ihnen völlig wehrlos gegenüberstünde. Dabei trat ich dem Wärter auf die Zehen. »Au!«, rief er. »Damit kommst du hier nicht weiter. Was fällt dir denn ein!« Ich drehte mich um und schaute in sein kantiges Gesicht. »Ich bin Katherine Talbert. Ich möchte die Schwarze Rose sprechen.« »Und mit dir die halbe Stadt«, brummte er. »Hör mal zu, Kindchen, netter Versuch, aber die Tyrian-Rolle ist schon vergeben. Wenn du dich um eine Rolle bewerben willst, solltest du ein andermal herkommen. Meister Sterling hält jeden Dienstagmorgen eine Sprechstunde für neue Schauspielerinnen.« »Oh, bitte!«, flehte ich. »Es dauert auch nur einen Augenblick. Ich muss ihr etwas überbringen...«, sagte ich und hielt die Kette in ihrem Beutel in die Höhe, sodass er sie leise klirren hörte. »Wie schön für sie«, sagte er mürrisch. Ein aggressiver Diener schob ihm einen riesigen Blumenstrauß, frisch aus dem Gewächshaus, ins Gesicht, und als der Wärter sich dagegen wehrte,
141 drückte ich ihm schnell eine Münze in die Hand. Und genau so, wie mein kleiner Seitwärtstrick immer funktionierte, wenn ich etwas aus der Küche stibitzte, sobald die Köche beschäftigt waren und mal nicht hinschauten, schlüpfte ich an ihm vorbei und verschwand durch die Hintertür des Theaters. Ich trat in eine andere Welt: still und gehetzt zugleich, echt und unwirklich. Es roch nach Ol, nach Wachs, nach Schweiß und nach Sägemehl. Fein gemalte, riesige Szenen hingen von grob zugehauenen Balken herab, dazwischen schwebten Staubwolken, und Menschen eilten geschäftig hin und her. »Ich habe endgültig genug!« Einer von Fabians Freunden hastete mit einem anderen Schauspieler vorbei; er trug nur noch einen Teil seines Bühnenkostüms. »Das macht er jedes Mal, nur damit ich billig aussehe!« »Natürlich macht er das. Du bist nämlich eine Gefahr für ihn.« An der Wand standen einige Requisiten des Stücks: der Kerzenständer aus Stellas Schlafgemach, Mangroves mit Samt bezogener Sessel, die Reisetruhe von der Schiffsreise und Hellebarden der Wächter. Ein Bühnenarbeiter schwang eine Hellebarde herum und brüllte: »Der spinnt wohl! Wie soll ich bis morgen ein neues Pferd bauen? Hab ich denn nichts anderes zu tun, als Holzpferde zu basteln? Ich nagle einfach das alte wieder zusammen, das könnt ihr ihm ausrichten!« Ich zupfte ihn am Ärmel. »Entschuldigung. Ich möchte zur Schwarzen Rose. Wo ...« Er nickte in Richtung einer Tür, die ein paar Schritte entfernt war. »Dort drin.« Dann hob er wieder drohend die Hellebarde und brüllte weiter: »Und nächstes Mal sollen sie gefälligst aufpassen! Das ist nämlich kein echtes Pferd!« Die Tür war nur angelehnt; ich blieb einen Augenblick davor stehen und versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, mich darauf einzustellen, wo ich mich befand und was ich zu tun hatte.
141 Von drinnen hörte ich eine Frauenstimme. »Mein Gott, du bist wirklich das aufreizendste Ding der Welt. Ich will dich jetzt küssen, Rose, bitte!« Ein tiefes, kehliges Lachen erklang. Ich erkannte es wieder — aus der Szene bei Stellas Ball. »Ich habe nichts dagegen, du hast schließlich hart dafür arbeiten müssen!«
Gestärkte Kleider raschelten; jemand summte. Dann zitierte die Stimme, die nicht Rose gehörte, einen Satz aus dem Stück, leicht abgewandelt, spöttisch und romantisch zugleich: »Heute Abend war ich nur ein Mädchen; jetzt bin ich eine Frau.« Ich schob den Kopf sehr langsam und leise durch die Tür. Ein schwarzer Haarschopf und ein blonder mit kurz geschnittenen Locken, eng beieinander. Das war der Kuss, den sie in Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß ausgelassen hatten, der Kuss, den Tyrian immer gewollt, aber nie bekommen hatte. Stella gab ihn Tyrian jetzt, während ich zusah. Meine Hand fuhr unwillkürlich an die Lippen, und ich konnte kaum noch atmen. Viola trug noch immer ihr Kostüm; die Schwarze Rose hatte einen leichten Garderobenmantel über ihr Hemd geworfen. Violas Finger krallten sich in den vollen Haarschopf der Schwarzen Rose, zogen ihren Kopf näher. Sie stöhnte leise — und ich glaube, auch ich stöhnte leise. Ich spürte ein seltsames Glühen in meinem Körper, genau zwischen meinen Beinen. Es war so völlig anders als alles, was ich jemals gefühlt hatte, und es ereignete sich genau dort, wo Männer ihr Ding haben. O mein Gott. Hitze und Kälte rollten in Wellen über meinen Rücken. Verwandelte mich der ganze Mummenschanz mit den Männerkleidern und dem Fechten am Ende tatsächlich in einen Mann? War das bei der Schauspielerin mit dem Degen, den Hosen und dem kurz geschnittenen Haar bereits geschehen? Niemand hatte mir etwas davon erzählt, niemand hatte mich gewarnt.
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Was konnte ich nur tun? Lieber würde ich sterben, richtig sterben, als mir so ein Ding wachsen zu lassen. Langsam und vorsichtig tastete ich die Stelle zwischen meinen Beinen ab, um zu fühlen, was geschehen war. Ich fühlte nichts Ungewöhnliches durch den Stoff der Hose, nichts, was nicht schon vorher dort gewesen war. Ich drückte ein wenig fester, um ganz sicher zu gehen, und schnappte unwillkürlich nach Luft, als eine wunderbare, nie erlebte Empfindung durch meinen Körper schoss. Es war ein unbeschreibliches, unendlich schönes Gefühl. Plötzlich war es mir völlig gleichgültig, was dort unten geschah. Und wenn schon — wenn mir einer wuchs? Die Männer beschwerten sich doch nie darüber, oder? Und wenn das tatsächlich das freudige Erlebnis war, über das sie ständig faselten, dann war ich keineswegs sicher, ob ich nicht doch so ein Ding haben wollte. Unwillkürlich kam mir Marcus in den Sinn. Er hatte doch bestimmt auch so ein Ding, oder nicht? Er musste mir unbedingt zeigen, was man damit anstellen konnte. Hätte überhaupt nichts dagegen, wenn er es mir beibrachte. Ich drückte noch ein wenig fester. Meine Augen waren geschlossen, doch ich sah vor mir Tyrian, der die Schwarze Rose küsste, und Viola, die Stella küsste. Ich sah mich selbst unter der Bettdecke zusammengerollt, die Bettvorhänge waren zugezogen, und ich las wieder das Buch, aber dieses Mal war ich dabei und sah zu, wie sich die beiden küssten, küssten, küssten, und das Stück war längst zu Ende, und das hier war die wirkliche Geschichte. Ich drückte meine Finger noch fester zwischen die Beine, und dann dachte ich überhaupt nichts mehr und hoffte nur noch, dass das, was dort unten geschah, niemals mehr enden möge — nur endete es ganz plötzlich, und ich musste mich mit der Hand am Türpfosten festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Sie hörten auf, sich zu küssen, und schauten sich tief in die Augen.
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»Du bist und bleibst ein Mädchen«, sagte die Schwarze Rose, »lass dich von dem Degen nicht täuschen.« Viola lachte heiser. »Danke für den Rat. Ich weiß genau, wofür so ein Ding gut ist.« »Sei vorsichtig«, mahnte die Schwarze Rose. »Es kann dir schnell zu Kopf steigen, aber am Schluss bleibt dir vielleicht nichts mehr.« »Gilt auch für dich, Süße.« Viola strich ihre Jacke glatt. »Ich weiß schon, wie ich damit umzugehen habe.« Rose schüttelte den Kopf. »Es ist dir doch egal, nicht wahr?« »Was meinst du?« »Dass sie dich als Mann sehen wollen.« »Warum denn nicht? Ich hebe die Schauspielerei. Du etwa nicht?« »Natürlich, aber nur in einem gut geschriebenen Stück. Ich gebe keine Privatvorstellungen.«
»Dann weißt du auch nicht, was dir entgeht.« Viola wandte sich zur Tür, und ich riss mich zusammen und klopfte. »Ah, die Bewunderer strömen herbei«, rief sie fröhlich, als sie an mir vorbeiging. Meine Wangen brannten noch, und ich war ein wenig außer Atem. »Herein!«, trällerte die Schwarze Rose melodisch, doch als sie mich in meiner Knabenkleidung erblickte, fügte sie nur tonlos hinzu: »O herrje.« »Es ist nicht so, wie Ihr glaubt«, sagte ich schnell, »ich bin echt.« »Ach?«, fragte sie, dann fügte sie in anderem Tonfall hinzu: »Ach so, jetzt verstehe ich. Ihr seid das Mädchen des Herzogs.« »Er schickt Euch das hier.« Ich fummelte mit meiner schweißnassen Hand in der Hosentasche herum, zog schließlich den brokatbestickten Beutel mit der Kette heraus und hielt ihn ihr hin. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.
143 Die Schwarze Rose war sehr groß. Sie schaute mich an, ging zur Tür, schloss sie und setzte sich wieder. Sie zog die Kette aus dem Beutel, ein schweres Schmuckstück, das aus mehreren ineinander verschlungenen Gliedern bestand und sehr lang war. »Sie ist sehr wertvoll«, sagte sie, beugte den Kopf nach vorn, fasste das Haar zusammen und schob es aus dem Nacken. »Wollt Ihr sie mir nicht um den Hals legen?« Es musste ihr klar sein, dass mein Gesicht ihr Haar berühren würde. Es duftete unvergleichlich, wie nichts anderes auf der Welt. Ich küsste ihr Haar, legte meine Hand auf ihre weiße Hand, die das Haar über dem Nacken hielt. Sie drehte sich langsam um, hob mir ihr Gesicht entgegen, und ich küsste sie auf den Mund. Ihre Lippen waren weich und warm und voll. Ich spürte, dass sie sich unter meinen Lippen zu einem Lächeln formten. Ich konnte nicht anders; ich lächelte ebenfalls. »Jetzt verstehe ich«, sagte sie nur, ließ das Haar wieder fallen, drehte sich ganz zu mir herum, zog mein Gesicht näher an sich und küsste mich. Es war ein mütterlicher Kuss. »Wie heißt du, mein liebes Kind?« »Katherine. Katherine Talbert.« »Nun, Katherine Talbert, ich danke dir für das Geschenk.« »Es ist von meinem...« »Das habe ich nicht gemeint.« »Oh.« Ich spürte, dass mir das Blut in die Wangen schoss, aber ich wich nicht zurück. Der Kuss musste ihr wohl gefallen haben, obwohl ich sicher war, dass ich die Sache völlig falsch gemacht hatte. Sie wog die lange Kette in der Hand. »Dein Onkel ist ein feiner Mann. So rücksichtsvoll. Bitte richte ihm aus — wir sind hier ja ganz unter uns -, richte ihm aus, dass ich bald etwas für ihn haben werde.« »Er mag andere Männer, müsst Ihr wissen«, platzte ich heraus.
143 »Ich auch«, lächelte die Schwarze Rose. Sie streckte die Hand aus und schob mein Haar zurück. »Du bist ein hübsches Mädchen, Katherine. Hat dir das Stück gefallen?« »Ja. Ganz arg!« »Dann komm wieder. Nächstes Mal gelingt mir der Monolog Jetzt bin ich eine Frau< vielleicht besser. Heute habe ich ihn nicht so gut hingekriegt, glaube ich. Obwohl die Szene mit Mangrove auf der Treppe ziemlich gut lief, würde ich denken...« Es wurde hart an die Tür geklopft. »Meine Garderobiere«, erklärte sie. »Wird besser sein, wenn du gehst, bevor die Horden über mich herfallen.« Ich verließ den Raum, so leicht, so unbeschwert, als wäre ich körperlos geworden. Das Gefühl war keineswegs nur angenehm: Ich hatte mich daran gewöhnt gehabt, genau zu wissen, wer ich war. Ich lehnte mich an eine Wand und beobachtete, wie die Garderobiere die Tür weit öffnete, um ein paar gut gekleidete Herren mit großen Blumensträußen einzulassen. Ich hörte die Schauspielerin flöten: »Mein Lieber! So lange nicht mehr gesehen! In welcher Höhle hattet Ihr Euch verkrochen?« Ich lief aus dem Theater, irrte lange Zeit ziellos durch die Stadt, überall hin, nur nicht nach Hause, nach Riverside. Und als ich endlich stehen blieb, fand ich mich vor dem Haus der Porzellanmalerin wieder, Lucius Perrys Geliebter. Letztes Mal, als wir hier gestanden hatten, hatte ich gehen wollen, als sie sich zu küssen begannen, aber nun wollte ich es noch
einmal sehen. Ich wollte an ihre Tür klopfen, bis sie mit den nassen Pinseln im Haar heraustrat, wollte, dass sie mich zum Tee ins Haus einlud, damit ich sie fragen konnte, ob es ihr denn wirklich gefallen hatte, ob sie es schon einmal mit jemand anderem als Lucius Perry getan hatte, und wann und warum? Aber ich wagte es nicht. Ich trug meine besten Kleider, und deshalb konnte ich nicht einmal über die Mauer klettern. Und selbst wenn ich es getan hätte, hätte ich sie
144 wahrscheinlich sowieso nur beim Porzellanmalen beobachten können. Teresa lag auf der Couch in ihrem Studio und weinte und weinte. Sie war fast damit fertig, als Lucius Perry hereinkam, mit leicht gerötetem Gesicht und zerzaustem Haar, weil er in ihrem Schlafzimmer ein kurzes Nickerchen gehalten hatte, nachdem die Nacht davor ziemlich lang gewesen war. Er blinzelte, als er sie in Tränen aufgelöst vorfand, und sagte: »Ich muss gehen. Ich werde zum Kartenspiel bei meinem Cousin erwartet und habe schon viel zu oft abgesagt.« »Na, dann geh doch«, antwortete Teresa, und ihre Stimme kam selbst ihr fremd vor. Schnell schob sie den Brief in ihre Tasche. »Was ist das?«, wollte er wissen. »Ach, nichts. Noch eine Rechnung, nichts weiter.« »Aber du hast geweint.« »Hab nur meine Augen zu heftig gerieben. Vielleicht ein Spritzer Farbe oder so.« »Brauchst du Geld?«, fragte er und setzte sich auf die Couch direkt auf ihren Schal, der noch feucht und zerknittert von ihren Tränen war. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Was ist los? Sag es mir.« Sie starrte auf seine Hand, als ob sie fürchtete, von ihr gebissen zu werden. »Ach, es ist wieder einmal Roddy... die Familie meines Mannes, meine ich. Sie schicken mir immer diese furchtbaren Briefe. Ich sollte sie eigentlich gar nicht mehr lesen, es steht sowieso stets dasselbe darin: Sie werden mir meine Mitgift nicht zurückzahlen, oder was immer davon noch übrig ist, weil ich ihn verlassen habe. Das ist alles.« Zwischen ihnen stand ein kleiner Tisch, übersät mit Malutensilien, dennoch zwängte er sich daneben auf die Knie, wobei ihm die theatralische Geste durchaus klar war, und streckte die Arme nach ihr aus. 144 »Heirate mich. Ich weiß, dass ich keine besonders großartige Partie bin, aber wenigstens kann ich dir den Schutz meines Namens bieten und so viel Verehrung, wie du nur ertragen kannst.« Sie starrte ihn an. »Oh, Lucius.« Sie lachte, aber gleichzeitig wollten die Tränen nicht versiegen. »Oh, Lucius, nein, ich kann nicht.« »Bin ich dir zu leichtfertig? Selbst ich kann mich bessern, musst du wissen.« »Ich will doch gar nicht, dass du dich besserst. Du bist noch unartiger als ich, und das gefällt mir.« »Dann heirate mich, damit wir gemeinsam unartig sein können.« »Ich kann nicht«, wiederholte sie. Er sah so lächerlich aus, wie er da vor ihr kniete, dass sie lachen musste, die paar Tränen waren grade noch übrig geblieben. »Komm schon, Teresa, bitte!« »Es geht nicht. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich dich nicht heiraten.« »Warum nicht?« »Weil mein Mann noch lebt.« Er ließ die Arme sinken. Immer noch auf den Knien, blickte er zu ihr auf. »Dein Mann ist tot.« »Nein, ist er nicht. Ich wünschte, er wäre es, aber er ist es nicht.« »Aber du hast mir doch gesagt, dass er tot sei.« »Das habe ich nie gesagt. Ich habe dich nur glauben lassen, dass er tot sei.« »Und du glaubst wirklich, dass ich mich nicht längst bei anderen erkundigt hätte? Seit Jahren ist Roderick Trevelyn nicht mehr gesehen worden.« Sie schob die Hand in die Tasche. »Wie kommt es dann, dass er mir immer noch Briefe schreibt?« Ihr Liebhaber nahm ihr den Brief aus der Hand. Sie wi 144
dersetzte sich nicht und Heß zu, dass er ihn entfaltete und den Inhalt überflog. Voller Abscheu verzog er das Gesicht. »Das ist doch verrückt«, sagte er schließlich, »absolut widerlich. Er kann doch nicht... das ist verrückt.« »Ja. Sie haben ihn irgendwo weggesperrt, aber er schreibt trotzdem immer noch Briefe.« »Aber wer lässt zu, dass die Briefe verschickt werden?« »Seine Familie natürlich. Sie stimmen einer Scheidung nicht zu. Sie wollen, dass ich zurückkomme.« »Um Himmels willen, warum?« Sie wischte sich die Augen trocken und holte tief Luft. »Um mich zu bestrafen, vermute ich. Ich konnte ihnen nicht geben, was sie wollten. Er wurde noch schlimmer, nachdem ich gegangen war, sagten sie mir. Aber wenn ich zurückkäme, würde sich sein Zustand wieder bessern.« »Niemand, der solche Briefe schreibt, wird wieder gesund. Warum hast du nicht versucht, dich scheiden zu lassen, bevor du weggegangen bist? Dann hättest du Zeugen gehabt, du hättest...« Sie nahm ihm den Brief aus der Hand. »Glaubst du wirklich, dass ich Zeugen haben wollte?«, brauste sie auf. »Glaubst du wirklich, ich wollte, dass die ganze Welt erfährt, was er mir angetan hat? Ich hatte keine Familie, kein eigenes Geld. Wer hätte mir denn gegen meinen Mann und seine ganze Familie auch nur ein Wort geglaubt, wenn ich meine Geschichte vor einem Gericht erzählt hätte?« Er schaute ihr zu, wie sie voll glühendem Zorn im Zimmer auf und ab lief wie ein gefangener, wütender Tiger. »Es tut mir leid«, sagte er. Sie warf sich auf ihn, als wollte sie ihn angreifen, aber er wich nicht zurück, sondern blieb mit hängenden Armen unbeweglich stehen. Sie schlang ihm die Arme um die Schultern und klammerte sich in höchster Verzweiflung an Lucius Perry. 145 Im Schatten des Hauses war es kalt. Ich fühlte mich ein wenig schwindelig, denn seit Stunden hatte ich nichts mehr gegessen. In der Tasche fand ich die Nüsse, die ich im Theater gekauft hatte, die ich alle aufaß, und danach fühlte ich mich ein wenig besser. Als ich das Papier, in das die Nüsse eingewickelt gewesen waren, auseinanderfaltete, entdeckte ich, dass es ein Theaterzettel war. DER FECHTER, DER NICHT TOD HIESS Ein Drama von einer Dame von Stand JETZT NEU im Hirschsprung-Theater am Westufer Henry Sterling, Schauspieler und Theaterdirektor Zahlreiche Mitwirkende: Die unvergleichliche Schwarze Rose Der wilde Meister Pincus Fury und — erstmals auf unserer Bühne — die kühne und schneidige junge Dame Viola Fine sowie viele andere talentierte Darsteller Fesselnde Unterhaltung und Spannung sind garantiert EIN NEUES DRAMA, das nie zuvor aufgeführt wurde! Unbeschränkte Dauer — solange die Gunst des Publikums besteht Kommt, wann immer ihr wollt — wir spielen! »Von einer Dame von Stand.« War sie dieselbe, die auch den Roman verfasst hatte? Oder vielleicht war es eine jüngere Frau, die das Buch als Mädchen gelesen hatte und es nun auf der Bühne sehen wollte? »Eine Dame von Stand.« Das konnte nur eine Adlige sein. War es vielleicht eine Dame, die ich kannte? Jemand, der schon bei einem der Feste meines Onkels gewesen war? Flavia, die hässliche Freundin meines Onkels, hatte vom Theater geredet. Sie war zwar gescheit, aber ich glaubte
145 nicht, dass sie adlig war. Ich versuchte, sie mir als die geheimnisvolle Autorin vorzustellen, aber ich konnte sie mir nicht einmal beim Lesen eines Romans ausmalen, geschweige denn beim Schreiben einer Liebesgeschichte. Ob sich wohl die Dame von Stand jemals ihr eigenes Stück im Theater ansah? Was würde sie davon halten, wie die Schauspieler ihre Figuren darstellten? Und würde sie nach der Aufführung hinter die Bühne gehen, um sich mit den Schauspielern zu unterhalten? Teresa schluchzte tief auf, dann noch einmal. Er hielt sie fest, und sie fand Trost in seiner sicheren Umarmung. »Jetzt verstehe ich«, sagte er. »Alles wird gut. Das ist schließlich nicht deine Schuld, du konntest es ja nicht wissen.«
»Ich wusste es auch nicht«, weinte sie wie ein kleines Kind, »ich wusste es wirklich nicht. Woher denn auch? Das hatte mir niemand erklärt.« Es war ihr nicht bewusst, wie sehr sie den Brief zerknüllt hatte. »Oh, Lucius, er war damals wirklich ein schöner Mann. Wie ein junger Waldgott mit goldenen Locken. Deshalb fiel es mir auch so schwer zu begreifen, wozu er fähig war. Selbst wenn ich blutend und verkrümmt vor Schmerzen dalag und in sein Gesicht schaute, in dieses vollkommen schöne Gesicht, konnte ich mich nur darüber wundern, wie ich mich so hatte täuschen können. Und ob ich nicht doch selbst etwas so Furchtbares getan hatte, dass er das Recht hatte, mich so zu behandeln. Aber nie sagte er, dass es ihm leid tat. Daran habe ich dann auch gemerkt, was wirklich mit ihm los war. Andere Mädchen — ich kannte Frauen, die mit Männern verheiratet waren, die sich nur betranken oder Wutanfälle hatten —, auch sie erfuhren so etwas nicht vor der Heirat, vielleicht hätten ihre Mütter Bescheid gewusst, aber ich hatte keine Mutter. Erst später kam das alles heraus. Wenn wir beieinandersaßen,
146 beim Nähen oder bei einer Tasse Schokolade, zuckte immer wieder mal eine schmerzhaft zusammen oder wollte einen Bluterguss verbergen, und dann wussten wir anderen Bescheid. Und manchmal, aber nur ganz selten, sagte eine vielleicht: Es ist meine Schuld, ich weiß es. Ich muss mir mehr Mühe geben. Ich mache ihn immer so wütend. Und später weint er dann, er weint und sagt, wie sehr es ihm leid tut, und bittet mich, ihn nicht mehr so wütend zu machen. Und dann zeigte sie uns vielleicht ein Schmuckstück, das er ihr gekauft hatte, um ihr zu beweisen, dass er sie trotz allem noch liebte. Roderick sagte kein einziges Mal, dass es ihm leid tue. Er schaute mich nur an, als ob ich gar nicht da wäre, als ob es für ihn nur ein Ärgernis wäre, dass ich weinte. Vielleicht hatte ich sogar Glück: Ich kannte wenigstens die Wahrheit.« Sie lachte, und ihr Lachen hallte gebrochen von den Wänden. »Einmal habe ich sogar versucht, ihn umzubringen.« »Warum hast du es nicht getan?«, fragte Lucius Perry hart. »Ich bin nicht sicher.« Sie löste sich von ihm und ging zum Fenster. Wenn sie von diesen Dingen erzählte, dann durfte sie niemand berühren oder in den Armen halten. »Ich stand mit einem Schürhaken neben ihm, als er eines Nachts im Sessel vor dem Kamin eingeschlafen war. Wir hatten an dem Abend gelesen, ganz ruhig und vertraut, bis Roddy einschlief. Aber ich wusste nicht, wie er sein würde, wenn er wieder aufwachte. Bei ihm konnte man das nie vorher wissen. Und da stand ich nun mit dem Schürhaken in der Hand und wusste, ich hatte nur ein paar Minuten Zeit und dass ich ihm wirklich den Schädel völlig zertrümmern müsste. Und es hatte auch nichts damit zu tun, dass ich seine vollkommene Schönheit nicht zerstören wollte, obwohl ich das eigentlich wirklich nicht tun wollte. Es war nur... mir wurde in diesem Augenblick vollkommen klar, dass ich mein Leben zerstören würde, wenn ich seins zerstörte. Aber das war nicht, was ich eigentlich wollte. Mir wurde bewusst, dass ich noch eine
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dritte Möglichkeit hatte, die zwar nicht einfach war, aber viel besser.« Sie legte die Hand auf die Fensterscheibe und schaute in den Wintergarten hinaus. »In diesem Moment wurde mir klar, dass ich weggehen würde und dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Es machte mir das Warten erträglicher, obwohl das Leben mit ihm immer schlimmer wurde. Ich hatte alles genau geplant — was ich mitnehmen wollte, wie ich fliehen konnte —, nur nicht, wohin ich fliehen wollte. Nichts schien wichtiger, als durch die Tür zu gehen und zu verschwinden. Ich hätte es auch nicht gewagt, jemand anderen in meine Pläne einzuweihen. Also ging ich eines Tages nach oben, packte meine Sachen und ging durch die Tür hinaus — und geriet schnurstracks in jede Menge Schwierigkeiten. Aber wenigstens hatte ich, was ich haben wollte. Und habe es immer noch.« Wie gebannt hörte er ihr zu. »Die anderen, die ich zurückließ, haben es mir nie verziehen.« Ihr Atem beschlug die Scheibe. »Damen, die sich an meinem Busen ausgeweint hatten, wie ich mich an ihrem, Mädchen, mit denen ich das Geheimnis geteilt hatte, wie man die Blutergüsse Schicht um Schicht überpudert, damit niemand etwas bemerkte. Das sind nicht die Frauen, die heute meine Arbeiten kaufen oder die mir die Blumengebinde schicken, die bei ihren Gesellschaften übrig blieben. Das sind die Frauen, die mich in aller Öffentlichkeit an den
Pranger stellen, weil ich meinen armen Ehemann verlassen habe, obwohl er mich so dringend brauchte. Das sind die Frauen, die mich niemals zu sich einladen und die sich schnell abwenden, wenn sie mir auf der Straße begegnen.« »Ich lasse nicht zu, dass sie dich jemals wieder verletzen.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte freudlos. »Jetzt klingst du wirklich wie einer meiner Bühnenhelden. Vielleicht mag ich dich deshalb so sehr.« »Liebe mich«, drängte er.
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»Vielleicht liebe ich dich schon. Aber ich habe schon ausprobiert, was das Wort und die Gefühle bedeuten, und du siehst ja, was aus mir geworden ist.« »Also schwörst du der Liebe ab? Im wirklichen Leben tut das niemand. Jetzt bist du es, die wie eine Bühnenheldin klingt. Aber im wirklichen Leben ist das anders, wirkliche Menschen folgen ihrem Herzen, wo auch immer es sie hinführt. Echte Menschen lassen sich nicht in kleine Schubladen stecken. Du kannst mir sagen, dass du mich liebst oder dass du mich nicht liebst, es spielt keine Rolle; ich weiß, dass du nichts abgeschworen hast, außer einer Existenz, die für dich unerträglich war.« Nun lächelte sie wirklich. »Damit machst du mich zur Bühnenheldin. Sei ehrlich, Lucius. Obwohl du ständig von der wirklichen Welt und den wirklichen Menschen faselst, willst auch du keinesfalls in der wirklichen Welt leben.« »Ich möchte nur eine Wahl haben«, sagte er im blasierten Ton eines Edelmannes, »in welcher Welt ich lebe, das ist alles.« »Ja. Und ich auch. Und genau deshalb bin ich vollkommen damit zufrieden, wo ich bin und was ich bin.« Sie trat an den Tisch und schob ein paar Pinsel beiseite. »Also wirklich, ich weiß gar nicht, warum ich jetzt eine solche Szene veranstalte. Muss wohl zu viel Zeit mit dem Theater verbracht haben. Porzellanmalerei ist doch viel entspannender. Die ganzen hübschen Muster! Ich muss unbedingt weiterarbeiten.« »Nun, dann...«, sagte er zögernd. »Nun, dann«, sagte sie und küsste ihn lange und innig. »Und du hast ja auch noch etwas zu erledigen.« Sie knöpfte seine Jacke zu. »Geh nur zu deiner Kartenrunde. Aber komm zurück, sobald du kannst.« Ich sah ihn aus dem Haus kommen. Er trug einen Umhang mit Kapuze, der zwar altmodisch sein mochte, ihn aber gut verbarg. Natürlich erkannte ich ihn trotzdem. Lord Lucius Perry
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ging schnellen Schrittes die Straße entlang, und ich folgte ihm. Er schlug die Pachtung zum Hügel ein und blickte sich kein einziges Mal um. Schließlich blieb er vor einer Stadtvilla stehen, die bewacht und von einer hohen Mauer umgeben war. Die Tore standen offen, das Haus war hell erleuchtet. Also plante er keinen seiner heimlichen Besuche. Wahrscheinlich fand hier im Haus eines Adligen eine Feier statt. Ich überlegte, ob ich ihm durch das Tor folgen und mich als Gast ausgeben sollte, aber dann dachte ich: Wozu denn? Sie wollten mich nicht, niemand wollte mich. Alcuin hatte Recht gehabt: Ich war ein Ding, nichts weiter als ein Degen, auf den die Leute Wetten abschlossen, selbst Schauspielerinnen durften mit mir ihre Spielchen treiben. Und sogar der mysteriöse Lucius Perry, sogar er, das Schoßhündchen des Herzogs, der Strichjunge von Riverside, der heimliche Liebhaber einer Porzellanmalerin, selbst dieser Lucius Perry kannte Orte, an denen er willkommen war, wo er sich hinsetzen und reden und essen und trinken konnte wie jeder andere normale Mensch, nur ich hatte nichts. Und so stand ich allein vor den Toren der Villa und zog meinen schönen Samtumhang enger um mich, weil es sehr kalt war und mich fröstelte. Außerdem wurde es rasch dunkel. Wie konnte ich im Dunkeln sicher nach Riverside zurückgelangen? Ich würde wohl einen Fackelträger anheuern müssen. Es war ein langer Weg, er führte durch die schlimmsten Bezirke der Stadt, und außerdem war ich müde. »Aus'm Weg, verdammt!« Eine Sänfte, getragen von zwei kräftigen Männern, bog plötzlich um die Torecke und rannte mich fast über den Haufen. Ich erschrak so sehr, dass mein Herz wie rasend klopfte, dann allerdings auch vor Wut, als die Sänfte an mir vorüber war. Aber als sie wieder
herausgetragen wurde, sah ich, dass sie kein Wappen mehr trug und vermutlich wieder frei war.
148 »Halt!«, befahl ich heiser. »Könnt ihr mich nach Riverside bringen?« »Ziemlich langer Weg. Brauchst vier Leute dafür.« »Also dann eben nur bis zur Brücke. Könnt ihr das?« »Vielleicht. Kostet ein bisschen. Zwei Silberlinge. Und wir wollen Euer Geld vorher sehen.« Ich suchte in meinen Taschen nach Geld. Zwei Kupfermünzen und fünf Stärlinge waren alles, was ich fand. Plötzlich fiel mir das Gewicht der Goldkette ein, die ich ins Theater gebracht hatte, und ich wurde richtig wütend. Schließlich war ich nicht der Botenjunge des Herzogs! Wenn mein Onkel von mir solche Dienste erwartete, dann sollte er auch dafür bezahlen! Dachte Seine Hoheit, der Herzog von Tremontaine, denn nie an solche nebensächlichen Kleinigkeiten? Ich dachte jedenfalls daran. »Zum Palast des Herzogs in Riverside!«, befahl ich herrisch. »Der Butler wird euch das Geld geben. Drei Silbermünzen.« Er konnte es sich schließlich leisten. »Und wenn ihr sie nicht haben wollt, finde ich bestimmt andere Träger.« Sie waren gute Träger, ich wurde kaum durchgeschüttelt. Aber selbst wenn es der Fall gewesen wäre, wäre es mir nicht aufgefallen, denn ich war viel zu müde, um darauf zu achten. Ich schloss die Augen und sah wieder die Bühne vor mir, grellbunt gekleidete Schauspieler, die sich alle Mühe gaben, für uns Mangrove und Fabian, Tyrian und Stella darzustellen, sah die vielen Männer und Frauen, die sich in der Pause in der Halle drängelten, und alle trugen winzige Degen und Rosetten an den Kleidern. Ich versuchte, die Schauspielerin Viola mit ihrem kurz geschnittenen Lockenhaar und ihren engen Hosen zu vergessen, aber sie war wie ein Pickel in meinem Selbstbewusstsein — ich musste immer wieder daran kratzen. War ich so wie sie? Wollte ich so wie sie werden? Die Schwarze Rose hatte sie geküsst, und dann hatte sie mich geküsst. Ich erinnerte mich, wie das Haar der Schau-
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Spielerin geduftet hatte, wie sanft es durch meine Hände geglitten war. Ich spürte erneut die Wärme zwischen meinen Schenkeln. Dieses Mal war es nicht so heftig wie beim ersten Mal, und plötzlich fiel mir ein, dass ich schon einmal etwas Ähnliches verspürt hatte. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte mich mein Kindermädchen dabei ertappt, dass ich im Halbschlaf die Decke zwischen meinen Beinen zusammengerollt hatte, weil es sich schön anfühlte, so ähnlich, wie es sich manchmal anfühlte, wenn ich auf einem Ast ritt. Sie hatte mich gescholten: »Reib dich bloß nicht da unten! Du willst doch nicht, dass dir ein Schwänzchen wächst wie bei deinen Brüdern?« Ich hatte sie gefragt, ob sie die Schwänzchen meiner Brüder manchmal rieb, damit sie schneller wuchsen, und sie hatte einen solchen Lachanfall bekommen, dass sie kaum noch reden konnte, aber dann hatte sie gesagt: »Das habe ich tatsächlich getan. Wenn du erst mal verheiratet bist, wirst du auch den von deinem Mann reiben, damit er wächst, da bin ich ganz sicher.« Als ich ein wenig älter war, nahm mich die Tochter des Kochs einmal mit in den Hühnerstall, um die Hühner zu füttern, und dabei erklärte sie mir, was der Hahn mit den Hennen trieb und dass das nichts Besonderes sei, jedes Geschöpf auf der Welt tue das. Meine Mutter behauptete, dass das nicht ganz stimme, denn wir Männer und Frauen seien eben nicht wie die Tiere; bei uns funktioniere die Sache erst, wenn wir verheiratet seien. Aber noch nie hatte ich diese Geschichten zusammengebracht und miteinander verwoben, doch als ich jetzt in der Sänfte saß, brachte ich sie endlich zusammen. Natürlich würde mir kein Schwänzchen wachsen. Ich schüttelte den Kopf und konnte mich nur noch wundern, wie ich im Theater dermaßen in Panik hatte geraten können. Ich war schließlich kein Säugling mehr! Frauen verspürten da un 148 ten gewisse Freuden. Ich hatte nur nicht gewusst, dass das so plötzlich und ohne ersichtlichen Grund passieren konnte. Meine Großmutter — die Mutter meiner Mutter und des Herzogs — hatte in ihrem Haus eine besondere Kapelle. Sie gehörte zu den Reformanten, was offenbar bedeutete, dass sie glaubte, alles Übel der Welt sei den alten Königen zu verdanken gewesen, die besonders
böse gewesen seien und Dinge getan hätten, welche die Götter verärgerten, und dass die Adligen unser Land von allen Unreinheiten befreiten, als sie die Monarchie abschafften. Sie war sehr fromm gewesen und hatte am Fest des Gestürzten Königs immer eine Kerze entzündet, und dann hatte sie mir von unserem heldenhaften Vorfahren erzählt, der den letzten König bei einem Duell getötet habe. Sie versuchte, mich zur Reform zu bekehren, aber ich war noch sehr jung gewesen, als sie starb, und seither hatte ich keine Reformgläubigen mehr kennen gelernt. Ich dachte auch, dass das, was sie mir erzählt hatte, nicht sonderlich viel Sinn ergab, und jetzt wurde mir klar, dass sie etwas anderes gemeint hatte — dass nämlich die Könige nicht deshalb so schrecklich gewesen seien, weil sie nicht immer verheiratet waren, sondern deshalb, weil sie mit anderen Männern gegangen waren. Kein Wunder, dass mein Onkel nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, als sie starb. War ich wie er? Wurde das vielleicht doch in der Familie weitervererbt? Nein. Niemals im Leben würde ich mich mit jemandem wie diesem widerlichen Alcuin einlassen, ganz zu schweigen davon, dass ich fünfzehn nackte, betrunkene Männer in mein Schlafzimmer einladen würde. Niemals im Leben. Ich war nicht so, und ich würde niemals so werden. Ich zog den Umhang enger um mich, denn mir lief plötzlich ein Schauder über den Rücken. Ich erinnerte mich an Dinge, die ich vergessen geglaubt hatte. Die Jahresendnacht, der weiche Wider
36i schein des Kaminfeuers in Highcombe, das Gefühl, dass mein Onkel dorthin gehörte, dass er in diesem kleinen Raum mit mir und meinem Meister war. Er gehörte genau so dorthin wie ich, denn St.Vier liebte ihn so, wie die früheren Könige andere Männer nicht hatten lieben dürfen. Und was auch immer der Herzog mit all den anderen trieb, liebte er doch den Mann von Highcombe mehr als alle anderen und beinahe zu sehr, um es noch ertragen zu können. Nun ja — wenn ich jemals einen anderen Menschen, Mann oder Frau, so sehr liebte, würde ich doch niemals das tun, was er tat. In Highcombe war ich glücklich gewesen, hatte gewusst, wo ich war und wozu ich dort war. Doch dann war der Herzog aufgetaucht und hatte alles zerstört, hatte mich an diesen Ort hier zurückgezerrt, an den ich nicht gehörte. Er konnte nicht in Highcombe bei der Person bleiben, die er am meisten auf der Welt liebte, und deshalb durfte ich es auch nicht. Er war nichts als ein selbstsüchtiges, verrücktes altes Schwein, und ich hasste ihn mit jeder Faser meines Körpers. Die Tränen begannen zu fließen, denn alles war so hoffnungslos, und ich war so einsam, und nichts ergab noch einen Sinn in meinem Leben. Und dann diese Stadt! Ein grauenhafter Ort. Man musste sich nur ansehen, was mit Artemisia geschah. Als ich sie kennen lernte, hatte sie alles, was ich glaubte, auch für mich haben zu wollen, aber schau doch nur, was jetzt aus ihr geworden war. Ich fragte mich, ob sie das Theaterstück gesehen hatte und was sie wohl davon und von der Schwarzen Rose hielt. Und was sie von mir halten würde, wenn sie wüsste, dass die Rose mich geküsst hatte. In ihren Briefen an mich hatte sich Artemisia Lady Stella genannt. Sah sie Fabian in mir, den unvergleichlichen, rechtschaffenen Fechtmeister? Plötzlich war ich froh, dass ich den Degen beherrschte und sie verteidigen konnte; ich hebte den Gedanken, ihr Beschützer zu sein. Aber was war mit dem Kuss, der danach kam? 149 Würde mich Artemisia küssen, wenn ich es wollte? Was wäre, wenn ich ihren Mangrove tötete und dann vor sie hintrat und erklärte: »Lady Stella, obgleich Eure Feinde Euch ins Verderben stürzen wollten, habe ich sie zu meinen Feinden gemacht und habe sie den höchsten Preis bezahlen lassen« - und was würde dann kommen? Lady Stella würde ich auf jeden Fall küssen. Bei Artemisia war ich mir nicht so sicher. Sie war vielleicht ein klein wenig albern und nicht immer sehr verlässlich. Die Sänfte hielt an und wurde mit einem letzten, heftigen Stoß abgestellt. Ich zog die Vorhänge zurück: Wir waren bereits vor Schloss Riverside angekommen, und ich hatte es nicht einmal bemerkt, als wir die Brücke überquert hatten. Die Fackeln am Eingang leuchteten hell, und mein Freund Ralph hatte heute Abend Wachdienst. Ich stieg mit all der würdevollen Großartigkeit aus der Sänfte, die ich noch aufbringen konnte — wenn man berücksichtigte, dass meine Füße so kalt waren, dass ich sie nicht mehr fühlte —, raffte den Umhang um mich und meinen Degen und sagte: »Ralph, bitte sorge dafür, dass die Männer
ihren Lohn erhalten. Drei Silberlinge, keinen Starling mehr. Ach, und lass ihnen ein heißes Getränk reichen. Es war ein langer Weg.« Dann schritt ich ins Haus. Ich fühlte mich zwar, als wäre ich ein Jahrhundert lang weg gewesen, aber es war erst kurz nach Abendessenszeit. Der Herzog dinierte früh und manchmal, wenn er plötzlich hungrig wurde, auch zweimal. Betty war im Raum der Bediensteten, und ich rief sie persönlich herbei. Sie nahm mir Hut und Umhang ab und begleitete mich in mein Zimmer. »Die Feder ist ruiniert«, erklärte sie vorwurfsvoll. »Hattet wohl einen recht schönen Abend, Mylady?« »War ganz nett.« »Macht nichts, ich besorge eine neue. Essenszeit ist vorbei, aber ich bringe Euch etwas auf einem Tablett.«
150 »Bring es in Marcus' Zimmer. Ich will nachschauen, wie es ihm geht.« »Schlecht geht es ihm«, erklärte Betty mit Bestimmtheit. »Und Cora kümmert sich um ihn. Aber darüber wollte ich mit Euch sowieso reden.« Mein Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus: War Marcus kränker, als wir gedacht hatten? War vielleicht sein Hals entzündet? Ich griff nach Bettys Hand. »Was ist los? Sag es mir endlich!« »Setzt Euch erst mal«, sagte sie, und ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. »Seid nicht so ängstlich, Mylady. Ihr wisst, ich habe im Leben so einige Erfahrungen gesammelt...« »Was hat das mit Marcus zu tun?« »Und ich habe so manchen Fehler begangen«, fuhr sie unbeirrbar fort, »wie jede andere auch. Aber ich möchte nicht erleben, dass Ihr dieselben Fehler macht.« Sie schüttelte meinen Umhang aus und machte sich daran, meine Jacke aufzuknöpfen. »So ist es. Versteht Ihr jetzt?« Also ging es gar nicht um Marcus, nur um ihr ewiges Jammern über ihre Vergangenheit. »Betty, ich bin hungrig. Hol mir endlich was zu essen, ja?« »Ihr wächst«, stellte sie fest, »ich werde Euch bald das Korsett enger schnüren müssen. Schade eigentlich; sonst könnte ich sie nämlich ein wenig höher schieben und das, was Ihr da habt, wunderbar zur Geltung bringen. Aber dann wäre halt die knabenhafte Figur weg.« »Die knabenhafte Figur ist mir egal. Kann ich endlich meinen Morgenmantel haben? Ich will Marcus besuchen.« »Aber davon rede ich doch die ganze Zeit«, sagte sie. »Ihr habt keine Mutter, und Eurem Onkel ist es gleichgültig, und so bin halt nur ich übrig, um es Euch zu sagen: Ihr solltet diesen Jungen nicht allein in seinem Zimmer besuchen, und schon gar nicht in halb bekleidetem Zustand.« »Mach dich nicht lächerlich. Cora ist ja auch dort.«
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»Cora ist dort, und er ist zu krank, um auch nur seinen kleinen Finger zu rühren. Aber ich frage Euch: Was passiert danach?« »Was passiert nach was?« Meine Zofe ragte vor mir auf und schüttelte den Kopf. »Ihr mögt vielleicht noch ein wenig unschuldig sein, aber dieser Junge war es nie. Er ist längst alt genug, um seine Spielchen mit Euch zu treiben, Mylady.« Einen Augenblick lang verspürte ich den Drang, sie zu schlagen. Aber dann blickte ich in ihr rundes, rosiges Gesicht und erinnerte mich, dass sie ja nur Betty war und nichts weiter. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich sie. »Marcus ist nicht so und ich auch nicht. Wir reden, wir spielen Shesh, und die übrige Zeit beschäftigt uns der Herzog so sehr, dass wir auf keine dummen Gedanken kommen.« Plötzlich spürte ich eine Welle der Zuneigung zur ihr. Sie war nichts Besonderes, aber sie sorgte sich um mich, auf ihre Weise jedenfalls. Und das galt auch für Marcus. Komisch war nur, dass ich ihn so völlig vergessen hatte, als ich mich in der Sänfte so elend gefühlt hatte.
Kapitel 9
Als Seine Hoheit, der Herzog von Tremontaine, endlich geruhten, doch wieder einmal an einer Ratssitzung der Lords teilzunehmen, schien er Gegenstand von mehr als nur
oberflächlichem Interesse zu sein. Wann immer eine kleine Pause in den Verhandlungen eintrat, drehten sich die Leute um und schauten ihn an. Sie taten zwar so, als wollten sie mit ihren Nachbarn reden oder den Stand der Sonne durch eines der Fenster prüfen, aber ihre Köpfe drehten sich stets zu ihm. Was habe ich jetzt wieder angestellt?, fragte er sich. Bestimmt nicht die Sache mit Galing oder Davenant, das war Schnee von gestern. Oder hatten sie erst jetzt von der Sache beim Schurkenball erfahren? Bestimmt nicht. Es musste etwas mit Katherine zu tun haben. Und tatsächlich: Als der Herzog in der Eingangshalle Lord Ferris begegnete, bemerkte Ferris freundlich: »Eigenwilliges Kind, Eure junge Nichte. Bringt sie doch nächstes Mal mit, wenn Ihr im Rat zu tun habt! Für eine Tremontaine-Lady hat sie noch ein wenig zu scharfe Ecken und Kanten.« »Wie die frühere Herzogin«, entgegnete Alec, »bekundet auch meine Nichte, sie sei an Politik nicht interessiert.« Die Antwort kam ganz automatisch und enthielt eine kleine Spitze gegen den Mann, der nicht nur der Liebhaber der Herzogin, sondern auch ihr politisches Sprachrohr gewesen war. Währenddessen überschlugen sich seine Gedanken förmlich, weil er immer noch nicht herausgefunden hatte, wovon der Kreiskanzler eigentlich redete.
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»Dann bringt es ihr doch bei«, riet der Kreiskanzler. »Dann würde sie vielleicht nicht mehr auf den gefährlichsten Straßen herumlungern und sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen.« »Meine Nichte kann sich auf der Straße absolut sicher fühlen«, antwortete der Herzog frostig, »dafür habe ich gesorgt.« »Eure Nichte ist ein charmantes Geschöpf«, erklärte ihm die Schwarze Rose, als sie ihn am selben Abend in Riverside House im roten Samtzimmer besuchte. »Aber ist sie wirklich Eure Nichte?« »Sie ist wirklich meine Nichte. Meine Schwester hat sie vor einigen Jahren höchstpersönlich geboren.« »Dann solltet Ihr aber ein wenig netter zu ihr sein.« » Wie bitte?«. Der Herzog ließ ihr Bein auf das Bett zurückfallen. »Sie ist noch sehr jung. Junge Leute sind hungrig, sehr hungrig auf alle möglichen Dinge, und die meiste Zeit haben sie nicht einmal eine Ahnung, wer sie selbst sind. Wisst Ihr das eigentlich?« »Ich bin absolut nett zu ihr«, sagte er. »Schließlich habe ich sie ins Theater geschickt.« »Wie wart Ihr in ihrem Alter?« Die Schauspielerin streichelte seinen Rücken mit ihrem Fuß. »Ihr müsst wirklich ein entsetzlicher Junge gewesen sein. Nur Arme und Beine und Wut und namenlose Begierde.« »Das«, schnurrte er, »ist genau mein Punkt. Ich lasse nicht zu, dass sie das durchmacht, was ich damals durchmachen musste. Oder meine Schwester.« »Ihr seid ein seltsamer Mann.« Ihr Fuß streichelte ihn jetzt ein wenig weiter unten. »Ihr nähert Euch nicht vielen Frauen so weit, wie Ihr Euch mir nähert, aber trotzdem kommt es Euch nicht in den Sinn, mich einmal um Rat zu fragen, was ein junges Mädchen will.«
151 »Ist mir egal, was sie will. Schließlich weiß ich, was gut für sie ist.« »Gütiger Himmel.« Sie ließ sich auf dem riesigen Bett zurücksinken und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. »Ist das nun die Stimme Eurer Mutter oder Eures Vaters, die ich da höre?« Er zuckte zusammen und richtete sich jäh auf. »Wollt Ihr mich jetzt aus dem Bett werfen?«, fragte sie träge. »Durchaus möglich.« »Ich bin zwar nur eine Schauspielerin, Mylord, aber ich bin trotzdem nicht dumm.« Er schloss die Finger um ihre Handgelenke, und sie wehrte sich nicht, als er sich in voller Länge auf ihr ausstreckte; wenn sie ihm erlaubte, die Oberhand zu gewinnen, fühlte sie sich sicherer, noch tiefer in ihm zu bohren. »Was ist mit dem Jungen«, fragte sie, »dem, der Euch wie ein Schatten folgt? Der ist doch nicht mit Euch verwandt?« »Lasst den Jungen in Ruhe«, sagte er scharf, »niemand rührt Marcus an.« »Nicht einmal Ihr selbst?«
Er verstärkte den Druck an ihren Handgelenken, aber antwortete leichthin: »Ich wäre sehr überrascht, wenn er mich jemals darum bitten würde. Aber Ihr lasst ihn in Ruhe, habt Ihr das verstanden?« »Als ich mich mit Lord Ferris zerstritt, behauptete er, ich hätte zu oft eine Kaiserin gespielt. Was er wirklich meinte, war, dass ich mir einbildete, ihm gleichgestellt zu sein. So etwas würdet Ihr zwar nie sagen, aber ich halte es durchaus für möglich, dass Ihr Euch der Illusion hingebt, ich sei ein Geschöpf voll unbeherrschbarer Gelüste auf alles, das auf zwei Beinen daherkommt, einschließlich schlaksiger Knaben.« »Ich habe niemals...« »Schon in Ordnung. Ich versuche Euch nur klarzumachen, wie ärgerlich es für mich ist, dass mich die Leute ständig mit meinen Rollen verwechseln, nichts weiter.«
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»Glaubt mir, ich habe keinerlei Verlangen danach, mit einer Kaiserin zu schlafen.« »Freut mich. Wisst Ihr, ich glaube, Ihr seid möglicherweise doch nicht irre.« »Bleibt trotzdem bei mir.« »Das werde ich.« »Aber erzählt mir«, sagte er, »doch noch ein wenig mehr über Lord Ferris.« Liebste Katherine, meine einzige wahre Freundin, wie lange schon scheint es her zu sein, dass wir zusammen beim Tr-Ball unschuldig unsere Verehrer verglichen! Wie sehr bewahre ich unsere Begegnung im Herzen! Noch immer habe ich die Feder, die ich in jener Nacht im Haar trug — manche mögen sie sogar als Federbusch bezeichnen —, aber ihr Glanz ist verblasst. Oder vielleicht ist es nur die Trübheit meines Blicks, der sie so erscheinen lässt? Denn ich bin sicher, wenn Du mich jetzt sähest, würdest Du keinen zweiten Blick opfern. Meine Augen sind gerötet von unaufhörlichem Weinen, und doch könnte ich Deinen Augen vertrauen, die tief in mein Herz zu blicken vermögen, wie Du es immer schon konntest, und die so grausam mit den Füßen getretene Blüte sehen, die dort verborgen liegt und welkt. Oh, wenn ich nur an ihn denke, fühle ich mich beschmutzt und abstoßend! Doch dann erscheint mir wieder Dein liebliches Gesicht, erglühend in rechtschaffenem Zorn, und es ist, als könnten Deine Tränen der Wut meine Befleckung hinwegwischen. Wie Stella beim Pferderennen sehe ich vieles, aber ich erkenne so wenig — und ich glaube, dass Du wie Fabian den Glauben an mich nicht verlierst, auch wenn es anders erscheinen mag. Oh, lass mich wieder Deine Zeilen lesen! Und sei es nur, um mir mitzuteilen, dass es Dir gut geht und dass Du Dich immer noch erinnerst an Deine Dich liebende A F-L
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Ihre Schrift war groß und geschwungen und in lila Tinte. Sie brach mir beinahe das Herz. Doch was konnte ich tun? Ich hatte Lord Ferris herausgefordert, aber er hatte die Herausforderung abgelehnt. Arme Artemisia! Ich hatte gehofft, dass die Herausforderung den Kanzler wenigstens zum freiwilligen Rückzug von der Verlobung veranlassen würde, aber nicht einmal das hatte er getan. Dennoch: Ich musste ihr antworten. Und so schickte ich ihr eine kurze Antwort. Lady S, Du sollst wissen, dass Du und Deine Schmach, so selten sie auch Erwähnung finden mögen, keineswegs vergessen sind. Ich beobachte, ich warte auf den Augenblick, und ich werde obsiegen. Hast Du das Stück schon gesehen? Deine unerschütterliche Freundin
KT
Ich versiegelte den Brief mit Kerzenwachs, schob ihn in meine Tasche und machte mich auf, um meinen kleinen Botenjungen zu suchen. Aber in der großen Halle traf ich auf Marcus. Er trug eine Fellmütze, gefütterte Stiefel und einen dicken Schal um den Hals; in der Hand hielt er ein Taschentuch. »Die Stühle«, schniefte Marcus. »Er will unbedingt die Stühle sehen.« »Wieso bist du nicht im Bett?« »War mir zu langweilig. Wollte sie eben auch sehen.« »Welche Stühle?« »Neue.« Er hustete. »Neues Muster. Schönes Wetter heute. Wie Frühling. Wir gehen zu Fuß. Kommst du mit?« »Gern.«
Und so sah der schöne, frühlingshafte Tag uns drei, wie wir durch den Matsch von Riverside stapften. Wir waren auf dem Weg zu einer Werkstatt, die uns die Stühle höchst bereitwil 153 lig zur Musterung ins Schloss gebracht hätte, wenn wir uns damit zufrieden gegeben hätten, im Schloss zu bleiben. Seit meinem Theaterbesuch achtete ich sehr viel mehr auf meine Kleidung, wenn ich ausging, denn die Leute sollten sofort bemerken, dass ihnen hier jemand von Stand und Bedeutung begegnete. Heute trug ich meinen grünen Anzug, doch ohne meinen Samtumhang. Dazu hatte ich meine mit Brokat bestickte Degenscheide umgeschnallt. Die Hemdmanschetten waren mit Spitzenbordüren besetzt. Mein Onkel bemerkte es. »Hübsch«, sagte er, »aber kaum besonders praktisch. Du bist mein Degenfechter, nicht meine Ehrenjungfer. Eine Stahlklinge verfängt sich leicht in der Spitze; Richard würde so etwas niemals anziehen. Wenn es jetzt zum Kampf käme, solltest du die Spitze in den Ärmel stecken. Ich weiß, du bist ein junges Mädchen und voller Gelüste, was die Mode angeht, aber du möchtest schließlich nicht schon bei deinem nächsten Kampf durch deine Eitelkeit ums Leben kommen. Wann immer das auch sein mag.« Er blickte sich um. »Wirklich ein Wunder, dass dich noch niemand herausgefordert hat, besonders nach deinem triumphalen Auftritt bei Sabinas Ball. In der guten alten Zeit hätten sie im ganzen Viertel Schlange gestanden, um sich mit dir zu messen, der neuen jungen Degenklinge in der Stadt. Heute scheint niemand mehr irgendeinen Ehrgeiz zu verspüren. Alle bleiben doch immer nur auf ihren hübschen muskulösen Hintern sitzen und lassen sich von den Adligen gut dafür bezahlen, dass sie Leute verteidigen, die nicht mehr zu verteidigen sind.« »Ich gehöre zu Eurem Haushalt«, erklärte ich ihm schnell, bevor er noch weitere Bemerkungen über die Körperteile von Degenfechtern machen konnte. »Vielleicht fordern sie mich deshalb nicht heraus, weil sie fürchten, damit auch zugleich Euch zu beleidigen.« »Riverside«, seufzte er angewidert und schlug einen Bo 153 gen um einen Haufen von unbeschreibbarem Etwas, das vom schmelzenden Schnee freigegeben wurde. »Nicht mehr das, was es früher mal war.« »Und wer ist schuld daran?«, murrte Marcus. Wir gingen über die Brücke und nahmen am Wachposten von Schloss Tremontaine noch ein paar Wächter als Eskorte mit. Mir kam ein Gedanke. »Aber«, fragte ich vorsichtig, »wenn nun ich selber eine Herausforderung aussprechen würde? Ich meine, wenn ich jemand ohne Eure Erlaubnis herausfordern würde, dürfte ich das überhaupt?« Der Herzog blieb mitten auf der Straße abrupt stehen. Marcus und die Wächter und ich blieben ebenfalls stehen und konnten nur knapp vermeiden, von einer Kutsche überrollt zu werden, die direkt hinter uns dahergerattert kam. Unser Gefolge und die Lakaien auf dem Kutschbock gerieten sich sofort in die Haare, während mich der Herzog von oben herab durchdringend anstarrte. »Wen zum Beispiel?«, fragte er. »Welche Art hypothetischer Person würdest du denn rein hypothetisch möglicherweise herausfordern wollen?« Darauf hatte ich momentan keine Antwort parat. »Nicht irgendeinen dahergelaufenen Banditen«, überlegte der Herzog laut, »auch nicht wegen einer Rauferei in einer Spelunke oder bei einem Straßenkampf — das ist nicht dein Stil. Das sind Kinderspiele.« »Glaubt Ihr denn«, fragte ich, momentan abgelenkt, »dass sie mich nicht herausfordern wollen? Dass sie glauben, es lohne sich nicht, sich mit mir anzulegen, weil ich ein Mädchen bin? Oder hat es vielleicht nur damit zu tun, dass wir verwandt sind?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete der Herzog. Hinter uns hatte sich der Streit beinahe zu einer Schlägerei hochgeschaukelt. »Tremontaine weicht niemandem aus!«, brüllte Ralph für unsere Seite. Damit hatte er natürlich vollkommen Recht, denn der Herzog beachtete den Aufruhr in keiner Weise. 153 »Aber es wäre mir wirklich sehr recht, wenn du dein Blut nicht für irgendeine triviale Angelegenheit vergössest.« »Sie ist nicht trivial!«, platzte ich aufgebracht heraus. »Mylord Tremontaine!«, rief eine gut erzogene, affektierte Stimme aus der Kutsche. »Mit Eurer Erlaubnis! Ich habe hier ein sehr krankes Kaninchen in der Kutsche!«
»Ein Kaninchen?«, fragte Marcus. »Darf ich es mal sehen?« »Der verdammte Furnival und seine blöden Schoßtierchen«, brummte der Herzog. »Es beißt. Dabei hat er erst neulich behauptet, es sei krepiert. Was denkt ihr eigentlich, mitten auf der Straße herumzulungern? Ihr seid hier, um mich zu beschützen, nicht um irgendwelche Adligen mit abnormalen Neigungen zu ermuntern, mich über den Haufen zu fahren!« Aber er vergaß die Sache nicht. Wir gingen weiter und beschauten uns die Stühle. Er wählte ein Dutzend aus, alle kunstvoll gedrechselt und eigenartig — sehr modern, erklärte er billigend —, und machten uns auf den Weg zu White, wo wir noch eine heiße Schokolade trinken wollten, als er plötzlich sagte: »Nein, gehen wir lieber zum Schloss. Ich will mir das Zimmer noch einmal anschauen, in das die Stühle kommen sollen, solange ich sie noch frisch im Gedächtnis habe. Was meint ihr«, fuhr er fröhlich fort, als wir den Hügel hinauftrotteten, »soll ich nicht den ganzen Raum renovieren lassen, damit alles zu den Stühlen passt? Ich könnte die Ecken abrunden lassen, dann hätte das Zimmer nur noch Kurven und Biegungen. Das würde sicherlich helfen, den Fluch von dem Haus zu nehmen.« Wir gingen an der Abzweigung zu der Straße vorbei, in der Lucius Perrys Geliebte wohnte. Ich schaute zu Marcus, in der Hoffnung, seinen Blick aufzufangen, und es gefiel mir gar nicht, was ich sah. Sein Gesicht war kreidebleich, die Augen waren gerötet, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Ich schwenkte zu ihm hinüber. »Geh nach Hause!«, riet ich ihm.
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Marcus hustete. »Wir sind fast da.« »Gut, aber wenn wir in Tremontaine House ankommen, gehst du sofort zu Bett.« Seine Kraft reichte gerade noch zu einem schwachen Nicken, und als der Weg steiler wurde, griff er tatsächlich nach meinem Arm. Erstaunlicherweise war Tremontaine House auf unseren Empfang vorbereitet. Marcus ging sofort in sein Zimmer hinauf und brach förmlich in dem frisch bezogenen Bett zusammen. Die Dienstboten stellten einen Tisch in den hübschen Raum, der auf den Garten hinausging, und der Herzog und ich setzten uns vor eine kleine Auswahl von Schokoladen, Keksen, Trockenfrüchten und Nüssen. Vor den hohen Fenstern zeichneten ein blühender Haselstrauch und Forsythien helle Farbtupfer in den düsteren Abend. »Bald wird es Frühling«, bemerkte der Herzog. »Riverside verwandelt sich bereits wieder in einen Sumpf. Wir werden mit dem Haushalt bald wieder hierher umziehen.« Gerade als ich mich an Riverside zu gewöhnen begonnen hatte, plante er schon wieder den nächsten Umzug. Passte zu ihm. »Es ist so still hier oben«, sagte ich. »Irgendwie langweilig, meint Ihr nicht?« »Ich werde mir Mühe geben«, antwortete er affektiert, »die Dinge ein wenig zu beleben. Und jetzt sag mir, Katherine, ob deine hypothetische Herausforderung etwas mit einem der Nachbarn hier oben zu tun hat?« Ich verschüttete ein wenig Kakao in der Untertasse. »Welche Herausforderung?« »Die, über die offenbar jeder außer mir in der Stadt Bescheid weiß.« »Aber das stimmt doch gar nicht! Niemand weiß darüber Bescheid außer Lord...« Ich spürte, dass mein Gesicht vor Verlegenheit rot anlief. Ich war in seine Falle gerannt. »Ich war sehr diskret«, fügte ich lahm hinzu. »Diskret ist gut«, ermunterte mich mein Onkel. Er neigte
154 sich über den Tisch zu mir herüber wie ein Lehrer, der mir bei einer schwierigen Rechenaufgabe helfen will. »Nun also, wo wohnt er?« »Das weiß ich nicht genau.« »Du kannst nicht gegen ihn kämpfen, wenn du ihn nicht finden kannst, Katherine.« »Ich werde ihn schon finden.« »Ich könnte dir helfen. Ganz diskret natürlich. Das ist schließlich, wie du gesagt hast, dein eigener Kampf. Was ist denn eigentlich der Anlass?« »Das ist eine persönliche Angelegenheit.« Sein Körper spannte sich plötzlich wie die Sehne eines Bogens, wenn man daran zieht. »Wie persönlich? Hat dich jemand beleidigt?«
Er kam mir geradezu wie ein Vater aus dem Bilderbuch vor, sodass ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Bitte, ich komme schon allein zurecht.« »Natürlich kommst du allein zurecht, dafür habe ich schließlich gesorgt. Aber wenn irgendjemand etwas getan hat, dir irgendetwas Schlimmes zugefügt hat, dann kann ich dir versichern, dass ich...« Da war sie wieder, seine vollendete Hochmut, arrogant und aufreizend, aber dieses Mal war ich aufmerksamer als sonst und sah, dass seine grünen Augen wütend glitzerten. Ich streckte die Hand aus und legte sie tatsächlich auf seine Hand. »Nichts dergleichen. Bei mir ist alles in Ordnung. Es geht um jemand anderen, eine befreundete Person.« Sein Blick wurde noch wütender, wenn das überhaupt möglich war. »Nicht dein Freund Marcus?« »Marcus? Nein, natürlich nicht. Jemand anders. Ich kann es Euch nicht verraten, es ist ein Geheimnis.« Der Herzog verschluckte sich fast an seinem Kakao. »Meine liebe Nichte! Ich kenne mehr Geheimnisse, als du Zähne im Mund hast. Glaub mir, ich kann ein Geheimnis bewahren.«
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Ich gab keine Antwort. »Macht nichts«, winkte er schließlich ab, »ich werde es schon herausfinden. Erzählst du mir also, wen du herausforderst, oder muss ich dich bei Wasser und Brot in dein Zimmer einsperren und aushungern, bis du es verrätst?« »Spielt sowieso keine Rolle mehr«, sagte ich düster. »Er hat mich abgewiesen.« Mein Onkel setzte die Tasse hart auf den Unterteller zurück. »Nun mal langsam. Du hast einen Adligen dieser Stadt öffentlich herausgefordert, und er hat dich abgewiesen?« »Es war nicht so öffentlich. Nur zwei oder drei andere Männer waren in der Nähe, und er nahm mich beiseite und sagte, ich solle nicht albern sein. Schon dafür hätte ich ihn umbringen können. Er hat mich überhaupt nicht ernst genommen. Und er dachte, ich sei von Euch geschickt worden, obwohl ich ihm sagte, dass es nicht so war.« Mein Onkel hob die Augenbrauen, dann breitete sich langsam ein erfreutes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ferris«, sagte er. »Du hast den Kanzler des Großen Kreises höchstpersönlich herausgefordert. Kein Wunder, dass er mich nicht mehr besuchen kommt.« »Ist er denn. . . ist er denn mit Euch befreundet?« Auf diesen Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. Nie hatte ich Lord Ferris bei einer der herzoglichen Abendgesellschaften gesehen, aber er hatte eindeutig nicht viel Selbstbeherrschung, wenn es um gewisse Dinge ging, bei denen auch der Herzog nicht viel Selbstbeherrschung hatte, also waren sie vielleicht. . . »Ferris ist in so vielerlei Hinsicht eindeutig nicht mein Freund, dass ich schon längst den Überblick verloren habe. Und das gilt übrigens auch für Tremontaine ganz allgemein: Er hat was gegen unsere gesamte Sippe, und wenn er glaubt, dass er dich töten kann, wird er es auch tun. Glücklicherweise kenne ich einige seiner Geheimnisse, deshalb ist er uns ge
155 genüber wachsam. Alte und neue Geheimnisse. Und was ist das neueste? Was hat er denn nun deiner befreundeten Person angetan?« »Das darf ich Euch nicht verraten«, sagte ich unglücklich. »Es ist zu schändlich. Außerdem ist es nicht mein Geheimnis, es ist eine Frage der Ehre.« Der Herzog holte tief Luft. »Pass mal auf. Hast du denn Ferris erklärt, warum du ihn herausforderst?« »Natürlich habe ich das. Und er hat es getan. . . diese schändliche Sache! Die Sache, wegen derer ich ihn herausfordere.« »O lala.« Mein Onkel schüttelte traurig den Kopf. »Sie erzählt es Ferris, aber mir will sie es nicht erzählen.« Unsere Blicke begegneten sich. Plötzlich wirkte er sehr ernst. »Es gibt einige Dinge, deretwegen sich Ferris schämen müsste. Geld ist so eine Angelegenheit. Eine andere betrifft die Schwarze Rose.« Bei dem Namen zuckte ich zusammen. Mein Onkel beobachtete mich einen Augenblick lang aufmerksam, folgerte befriedigt, dass die Herausforderung nicht die Rose betraf, und fuhr fort: »Nur weiß Ferris über diese Dinge nicht Bescheid, jedenfalls noch nicht. Er wird sich nicht freuen, wenn er es herausfindet, wenn er es jemals tut. Aber ich kann mich selber schützen, denn es könnte sich wirklich als nützlich erweisen, dass ich einiges über ihn weiß. Bei dir jedoch . . . bei dir ist das anders. Solange du etwas über ihn weißt, wovon niemand sonst eine Ahnung hat, wird er sich in
Bezug auf dich nie völlig sicher fühlen. Und wenn Ferris erst einmal beunruhigt ist, kann er sehr unangenehm werden.« Mein Onkel lehnte sich zurück; erneut kam er mir wie ein Lehrer vor, als er den Blick zur Stuckdecke hob. »Geheimnisse«, erklärte er der Decke, »sind wie Geld. Je mehr man erhält — von anderen Leuten, meine ich —, desto reicher wird man, und desto eher ist man in der Lage, sich das kaufen zu können, was man wirklich braucht. Nun bin ich zufällig das
156 Familienoberhaupt und im Besitz des größten Teils des Familienvermögens, der Häuser, der Ländereien und der Geheimnisse. Du wiederum bist das jüngste Mitglied der Familie, und du bist im Besitz eines einzigen. Gibst du es mir, dann bereicherst du den Familienbesitz. Verweigerst du es mir, dann werde ich dich Tag und Nacht bewachen lassen. Nur für den Fall, dass der Kanzler des Großen Kreises auf den Gedanken kommt, verhindern zu wollen, dass du es jemandem weitererzählst.« Ich starrte auf meine Hände. Ich glaubte nicht, dass er bluffte. Er machte sich wirklich Sorgen. »Wenn ich es Euch erzähle«, sagte ich schließlich, »versprecht Ihr mir, es niemandem weiterzuerzählen?« Mein Onkel nickte. »Und auch wenn Ihr es für töricht haltet, werdet Ihr mich nicht in mein Zimmer einsperren und mir verbieten, das Duell auszutragen?« Er betrachtete weiterhin die Decke. »Gute Frage. Werde ich das tun oder nicht? Sagen wir mal, ich werde dich nicht daran hindern, dieses Mal nicht.« »Was Ihr vorhin gesagt habt«, murmelte ich, »als Ihr glaubtet, dass ich es sei? Es war nicht ich, es war jemand anders.« »Vergib mir, dass ich ganz unverblümt nachfragen muss, aber in diesem Punkt muss ich Klarheit haben: Anthony Deverin, Lord Ferris, Kanzler des Großen Kreises, hat ein Mädchen vergewaltigt, und dafür willst du ihn nun töten?« »Bin nicht sicher, ob ich ihn töten werde. Er muss nur zugeben, dass er Unrecht getan hat, und sie um Verzeihung bitten.« »Bist du selbst in sie verliebt?« Ich spürte, dass mein Gesicht eine höchst interessante Farbe annahm. Aber so weit wollte ich ihn nicht in die Sache hineinlassen. »Ist das alles, woran Ihr denken könnt?« »Nicht alles. Wollte nur sichergehen.«
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»Nun, das spielt dabei keine Rolle. Der Punkt ist doch, dass er diese schlimme Tat gegen ihren Willen getan hat und dass es ihm völlig egal ist und dass es ihrer Familie völlig egal ist. Sie wollen, dass sie ihn trotzdem heiratet, aber sie will nicht mehr. Und niemand unternimmt etwas dagegen, wenn ich es nicht tue!« »Ahhh.« Der Herzog nickte zufrieden. »Die kleine Fitz-Levi.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Oh, Ferris! Die Jahre in Arkenvelt haben dich zu einem groben Menschen gemacht, fürchte ich, und dir eine Krämerseele verschafft. Du wolltest die Katze nicht im Sack kaufen.« Er wandte mir den Blick wieder zu. »Du hast Recht, dass du ihn herausforderst. So darf man sich nicht benehmen, vor allem wenn er glaubt, dass er alles haben kann, was und wann immer er will. Er soll erst mal ein wenig Bescheidenheit erlernen. Das ist eine Lektion, die ihm schon lange bevorsteht. Frauen hat er stets schlecht behandelt, und bisher haben wir ihn nur ein einziges Mal dafür büßen lassen.« In seinen Erinnerungen verloren, schälte der Herzog einen Apfel, sodass sich eine lange Spirale bildete. Plötzlich blickte er auf und fuhr fort: »Er ist nicht mehr jung, musst du wissen. In diesem Tempo kann er nicht mehr lange weiterleben. Warum empfiehlst du nicht einfach deiner Freundin, ihr Bestes zu tun, dann fällt er vielleicht noch in der Hochzeitsnacht tot um?« »Das ist absolut widerlich. Habt Ihr mir überhaupt zugehört? Sie will ihn nicht heiraten!« »Du denkst nicht weit genug«, sagte er mit all dieser Oberflächlichkeit, die mich immer ärgerte, »die Kleine ist jetzt Mängelware. Sie ist entehrt. Ihr einziger sicherer Weg ist die Heirat mit Ferris.« »Wie könnt Ihr nur so etwas sagen«, fauchte ich wütend, »ausgerechnet Ihr von allen Menschen! Wie könnt Ihr nur behaupten, sie sei bei ihm sicher? Den Rest ihres Lebens mit jemandem verbringen zu müssen, der ihr so etwas angetan
157 hat?« Ich entdeckte plötzlich, dass ich aufgesprungen war, mich über den Tisch beugte und ihn wutentbrannt anstarrte. »Jemand, den nicht einmal Ihr ausstehen könnt!« »Oh, danke«, sagte er trocken. »Setz dich wieder, bitte. Mit sicher meine ich nur: in den Augen aller anderen. Ich habe nicht gesagt, dass ich es gutheißen würde. Das solltest du doch wissen. Du von allen Menschen!« Aber ich setzte mich nicht. »Dann unternehmt etwas!«, forderte ich aufgebracht. »Warum tut Ihr denn nichts, wenn es Euch so viel bedeutet? Die Wahrheit ist nämlich, dass sie Euch völlig gleichgültig ist! Wir alle sind Euch völlig gleichgültig, und Ihr werdet auch nie etwas tun. Aber ich will etwas tun, und ich werde etwas tun!« Er hielt die Tischplatte mit beiden Händen gepackt, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich befürchtete schon, zu weit gegangen zu sein, aber seine Stimme klang ruhig, als er sagte: »Habe ich das richtig verstanden: Du willst Lord Ferris herausfordern, nicht nur, um ihn für seinen Fehltritt zu bestrafen, sondern auch, damit dieses Mädchen ihn nicht gegen ihren Willen heiraten muss?« »Ich will ihn herausfordern, weil man Menschen nicht auf diese Weise behandeln darf. Niemandem scheint das klar zu sein; niemanden scheint es zu interessieren. Ihn schon gar nicht. Er denkt, er besitzt sie bereits, ihre Eltern denken es auch und sogar Ihr. Es ist zum Kotzen!« Mein Onkel betrachtete mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, als müsste er gleich weinen, wenn das überhaupt möglich war. Und was er dann sagte, war noch verwirrender: »Katherine!« Ein seltsames Lächeln zuckte um seinen Mund, als wäre ihm plötzlich etwas ganz Wunderbares eingefallen. »Was wünscht du dir zum Geburtstag?« Ja, was wünschte ich mir? Er war schließlich der Herzog von Tremontaine. Er konnte mir alles Mögliche schenken. Und er hatte mir auch eine Menge genommen. Aber warum 157 fragte er mich ausgerechnet jetzt? Im Moment fiel mir nichts dazu ein. »Ich überlege es mir.« »Das genügt für jetzt. Und nun setz dich doch bitte endlich wieder hin. Ich werde überhaupt nichts tun. Aber ich werde zulassen, dass du etwas tust.« Ich setzte mich. »Na also.« Ganz sachlich fuhr er fort: »Du hast Ferris ein Mal herausgefordert, und er hat es nicht akzeptiert. Aber du hast die Herausforderung nicht widerrufen. Also muss er jederzeit damit rechnen, dass du auftauchst und ihm dein Spießchen ins Gedärm rammst. Das dürfte ihm kaum gefallen.« »Ich habe ihm gesagt, was er tun kann, nämlich sich bei ihr zu entschuldigen.« Der Herzog lächelte. »Oh, das wird ganz bestimmt geschehen. Wenn das Wasser im Fluss zu brennen anfängt. Aber jetzt geht es gar nicht mehr darum.« »Warum nicht? Er hat ihre Ehre befleckt. Es ist nämlich nicht so, dass Mädchen kein Ehrgefühl hätten.« »Hast du dich denn nie gefragt, warum er den Kampf nicht will? Und warum er so sehr darauf beharrt, die Heirat durchzuziehen, obwohl deine Freundin Einwände hat?« Er hob abwehrend die Hand. »Fang nicht noch mal damit an. Ich bin nicht so ungehobelt; ich weiß, dass er die Sache genossen hat, die er ihr antat, was immer das war, aber es ist nicht Ferris' Art, mit seinem... nun, mit seinem Gemächt zu denken. Er tat es, um sich die Heirat zu sichern. Er tat es, um sich die Mitgift zu sichern.« »Aber er ist doch schon reich!« Der Herzog teilte den Apfel mit dem Obstmesser. »Mitnichten. Das ist sein kleines Geheimnis, das, welches ich kenne, und er dürfte äußerst besorgt sein, dass es nicht bekannt wird.« »Aber woher wisst Ihr darüber Bescheid?« »Ich weiß Bescheid, weil mir bestimmte Leute Dinge erzählen, die sie mir nicht erzählen sollten.« Er biss in den Ap
38i fei, dann grinste er. »Manchmal bezahle ich sie dafür. Das ist abscheulich. Vertraue niemandem; oder wenn schon, versuche jedenfalls, keine Geheimnisse zu haben.« »Verstehe ich nicht.«
»Ferris war schon immer sehr wendig. Aber manchmal betrieb er die Dinge viel zu kompliziert und verlor den Uberblick. Daran ist er früher schon gescheitert und abgestürzt. Schon bevor du auf der Welt warst, versuchte er deine Urgroßmutter hereinzulegen - das ist sie, auf dem Bild dort an der Wand.« Er deutete auf die prachtvoll gewandete Dame in grauer Seide, das Porträt, das ich so sehr bewundert hatte. »Ich hatte das Vergnügen, ihn beim ersten Mal zu Fall bringen zu dürfen und dafür zu sorgen, dass er nach Arkenvelt verbannt wurde. Von wo er dann vor zehn Jahren zurückkehrte, beladen mit kostbaren Feilen, die er sofort in Gold verwandelte, und damit konnte er sich die Wiederaufnahme in die Gesellschaft erkaufen. Außerdem machte er eine sehr gute Partie und erkaufte sich den Aufstieg auf der Hierarchieleiter im Rat der Lords bis hinauf zu der ruhmreichen Position, die er jetzt innehat. Aber er besaß nie größere Ländereien, und was er besitzt, ist über und über mit Hypotheken belastet. Jetzt hat er fast kein Geld mehr. Er hat auch keine Reserven mehr und kann nur noch von dem leben, was er mit eigenen Händen erarbeitet. Die Sache ist absolut offenkundig: Jede Gesetzesvorlage, die er selber einbringt oder im Rat der Lords unterstützt, dient immer nur dazu, sein eigenes Nest auszupolstern. Wenn er den Landbesitzern höhere Steuern auferlegt, wenn er den Handel ankurbeln will. Bei alledem wirkt er wie ein fortschrittlicher Politiker - Karleigh und seine Freunde hassen ihn, aber aus den völlig falschen Gründen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Politik. Ich langweile dich. Vielleicht sollte ich dich künftig zu den Ratssitzungen schicken, dann würdest du erfahren, was Langeweile wirklich ist. Aber pass genau auf: Ferris braucht diese Heirat 158 dringend. Und was er nicht brauchen kann, ist, dass du ihm die Sache vermasselst. Du musst froh sein, dass er dich nicht allzu ernst nimmt, sonst hätte er dich auf der Straße längst erdolchen lassen.« Mir lief es kalt über den Rücken. »Aber das ist doch unehrenhaft!« »Ferris hat nicht mehr echtes Ehrgefühl als der Türknauf dort. Ehre ist ein Instrument, mit dem er andere manipuliert. Fordere ihn bald heraus. Und dieses Mal tu es richtig: Fordere ihn in aller Öffentlichkeit heraus, wenn es alle sehen und hören können. Dann kann er sich nicht mehr herauswinden. Willst du dafür sorgen, dass wir ihn für alle Zeiten loswerden, oder willst du ihm Zeit geben, einen Degenfechter zu finden, der die Herausforderung für ihn annimmt?« »Ich glaube nicht, dass ich ihn töten sollte.« »Wird auch besser sein. Wird ein Adliger im Duell getötet, kommt die Sache vor den Ehrengerichtshof, und dann käme alles heraus. Entweder das, oder ich müsste selbst vortreten und die Herausforderung von dir auf mich nehmen, aber ich bin nicht besonders daran interessiert, mir auf ewige Zeiten die Dankbarkeit der Fitz-Levis zu sichern. Nein, du kämpfst gegen den Verfechter seiner Ehre. Danach verweigerst du jede Erklärung. Sag einfach, es sei eine private Angelegenheit der Ehre gewesen. Die Leute werden ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen, aber mit ein bisschen Glück werden sie es völlig falsch verstehen, und dann würde der Name deiner Freundin gar nicht ins Spiel kommen. Aber halte dich genau an die Regeln und fang bald damit an.« »Wie bald?« »Umgehend.« Der Herzog erhob sich. »Oh, und noch etwas...« »Ja?« »Wo steckt eigentlich Marcus?« »Im Bett. Er ist wieder krank geworden.«
158 »Nun ja, egal. Ich muss noch einen Brief schreiben und nach Riverside schicken. Und du kannst Marcus fragen, wo er... ach egal, ich suche das Zeug selber.« Das war das letzte Mal an diesem Abend, dass ich ihn nüchtern sah. Ich ging nach Marcus schauen. Er schlummerte im Bett. Sein Zimmer in diesem Schloss war kleiner als das in Riverside, aber es war heimelig. Ein Feuer knisterte im Kamin, und der Regen zeichnete Muster auf die Fensterscheiben. Er schlug die Augen auf, als ich hereintrat. Ich ließ ihm eine Schale Brühe bringen und schaute ihm zu, als er sie trank. Es war beruhigend, einfach nur still bei ihm zu sitzen. Es war so vieles geschehen. Ich konnte ihm jetzt nicht davon erzählen, nicht über Lord Ferris und nicht über Artemisia und
nichts über das, was mir der Herzog erklärt hatte. Aber Marcus und ich hatten auch unsere eigenen Geheimnisse. »Wir können sie nicht ewig >die Freundin von Lucius Perry< nennen«, erklärte ich plötzlich. »Ach«, grinste Marcus, »das müssen wir auch nicht. Ich hab ihren Namen herausgefunden.« »Wie hast du...« »Ich gehe schon manchmal raus.« Er klang genau wie der Herzog, nur war sein Husten immer noch so schlimm, dass ich ihm den kleinen Triumph nicht verderben wollte. »Na gut, erzähle es mir endlich.« »Sie heißt Teresa Grey.« »Wer hat dir das gesagt?« »Niemand. Ich habe die Adresse auf einem Brief gelesen, der auf dem Tisch lag.« »Du bist tatsächlich in ihr Studio eingebrochen?« »Sei nicht albern. Ich bin über die Mauer gestiegen. Sie war nicht zuhause, also ging ich bis zum Fenster und entdeckte den Brief.« »Ohne mich mitzunehmen!«, fauchte ich. »Ich kann es nicht fassen!«
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»Hätte dich schon mitgenommen, aber ich konnte dich nirgends finden. In letzter Zeit warst du sowieso schwer zu finden. Außerdem war ich ja nicht lange dort.« Natürlich erzählte ich ihm nicht, dass auch ich nach dem Schauspiel ohne ihn hingegangen war. Was hätte ich ihm schon erzählen können? Ich hatte keine Briefe gesehen, hatte nur auf der Straße gelauert und war dann Lucius Perry auf den Hügel nachgeschlichen, bis er durch ein Tor verschwand und ich es nicht wagte, ihm weiter zu folgen. Ich hatte Marcus auch nichts über das Theater oder über die Schwarze Rose oder sonst etwas erzählt. Also war ich ihm wohl etwas schuldig. Deshalb sagte ich: »Gut, in Ordnung. Du bist wirklich erstaunlich. Teresa Grey. Der Name gefällt mir.« Marcus ließ sich in die Kissen sinken und schloss die Augen. »Ist es nicht einfach wunderbar, Katie?« »Was?« »Dass wir etwas wissen, wovon er keine Ahnung hat.« »Und wenn er etwas weiß?« »Er weiß nichts. Ich gehe jede Wette ein.« Ich kicherte. »Dann sollten wir ihm vielleicht die Information anbieten. Er mag Geheimnisse.« »Dieses nicht. Es gehört uns.« »Uns und Teresa Grey.« Mein Freund hielt die Augen geschlossen; es sah so aus, als träumte er bereits. Leise sagte ich: »Er würde ganz schön wütend sein, wenn er wüsste, was wir treiben.« »Wir gehören ihm nicht. Er mag der Herzog von Tremontaine sein, aber er ist nicht König der ganzen Welt.« »Und was ist, wenn er es selber herausfindet?« »Wird er nicht.« »Und wir erzählen es ihm auch nicht?« Marcus öffnete die Augen, braune, entwaffnende und ausgesprochen freimütige Augen. »Ich sehe keinen Grund dafür. Du etwa?«
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Ich stopfte seine Bettdecke fest. »Überhaupt keinen. Gute Nacht.« Auf dem Rückweg kam ich am Arbeitszimmer des Herzogs vorbei. Im Korridor hing ein seltsamer, süßlich riechender Duft. Ich ging sehr schnell an seiner Tür vorbei; ich konnte ihn drinnen herumtoben hören, hörte, dass er nach Marcus rief. Ich ging nach unten und bat einen Diener, sich um den Herzog zu kümmern, und die Bediensteten gaben mir ein wenig heiße Suppe und versuchten, aus mir Futter für den neuesten Klatsch von Riverside House herauszupressen. Deshalb machte ich mich bald davon, ging durch das dunkle, leere Haus nach oben und fand mich plötzlich vor der Tür mit dem nassen Kaninchen wieder. Kam mir komisch vor, mich daran zu erinnern, wie ich diese Tür zum ersten Mal gesehen hatte, Betty neben mir, während ich nervös an meinem kurzen Umfang fingerte und versuchte, meine Beine darunter zu verstecken. Und Meister Venturus, der hinter der Tür gewartet hatte, um mir beizubringen, wie man den Degen nicht halten dürfe. Ich hatte möglicherweise Marcus bereits kennen gelernt, ohne zu wissen, wer er eigentlich war, und träumte davon, in einem weiten Ballkleid breite Treppen hinunterzuschweben. Es war
derselbe Tag, an dem ich aus dem Haus und zu Artemisia gelaufen war. Und ich war St.Vier noch nicht begegnet. Ich trat in den dunklen Raum. Die Spiegel spiegelten die schwache Glut vom Kamin wider, aber ich brauchte auch nicht viel zu sehen. Ich dachte an Highcombe, dachte an den Mann, der dort ohne Gegner übte, der vielleicht sogar in genau diesem Augenblick übte. Ich ging alle Eröffnungsaktionen eines Kampfes durch, irgendeines Kampfes, und dann begann ich endlich zu überlegen, was er wohl als Nächstes tun würde, und bewegte mich sehr schnell, um die Angriffe zu parieren.
160 Am nächsten Morgen, als ich meine Jacke anzog, fand ich meinen Brief an Artemisia, der noch in meiner Tasche steckte. Ich öffnete den Brief, setzte mich und fügte einige Worte hinzu. Meine liebreizende Lady Stella, die Herausforderung wurde ausgesprochen und wartet nun darauf erfüllt zu werden, doch durch eine schicksalhafte Wendung birgt sie eine bittere Frucht: Bitter für manche Leute, aber, wie ich hoffe, süß auf Eurer Zunge und Balsam für Eure bekümmerten Augen. Ich sagte Euch doch, dass er es noch bereuen würde, und das war nicht scherzhaft gemeint. Seid also guten Mutes, bleibt standhaft und verliert Euer Vertrauen in mich nicht, denn ich werde seinem Degenfechter im offenen Kampf gegenübertreten und Eure Befleckung mit seinem eigenen Blut wegwischen. Nicht Fabian, aber Euer wahrer und treuer Tyrian Ich setzte die schwungvolle Unterschrift unter den Brief und versiegelte ihn mit mehreren großen Tropfen vom besten Wachs, das der Herzog besaß.
T EIL I V
Das Duell Kapítel 1
Am nächsten Tag ging es Marcus besser, dafür hatte der Herzog einen schweren Kater und duldete es nicht, dass ihm irgendjemand so nahe kam, dass er ihn atmen hören konnte. Ich war furchtbar aufgeregt — wegen der Herausforderung, wegen des Briefes, den ich Artemisia geschrieben hatte - den ich ihr dieses Mal ohne großes Aufhebens einfach durch einen Diener von Schloss Tremontaine überbringen ließ, mit dem strengen Auftrag, ihn nur ihr persönlich auszuhändigen. Marcus wollte ich nicht um seine Meinung fragen, warum ich mich so fühlte. Um uns beide abzulenken, schlug ich daher einen kleinen Spaziergang zu dem Haus vor, das ich unter uns ein wenig kess als »Lucius Perrys Liebesnest« bezeichnete. Erfreut stellten wir fest, dass Perry anwesend war. Er saß auf dem Sofa, ein Schlafrock hing ihm lose über den Schultern, er trank eine Tasse Kakao und schaute Teresa beim Malen zu. Offensichtlich hatte er die Nacht bei ihr verbracht: Der Morgenmantel hatte ein Muster aus gelb-goldenen Blumen auf dunkelgrünem Hintergrund und passte wunderbar zu Teresas Haar, aber in keiner Weise zu seinem Teint. Als ich sah, dass er einen ihrer Morgenmäntel trug und auch so schmächtig war, dass ihm ein Frauenmantel passte, verspürte ich plötzlich eine große Zuneigung zu diesen beiden Menschen. Es war eine sehr häusliche Szene. Wir schauten zu, wie Perry sich noch eine Tasse Kakao eingoss und die Tasche des
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Morgenmantels abtastete, schließlich hineingriff, ein gefaltetes Blatt Papier herauszog und darauf starrte. Teresa Grey hatte ebenfalls einen Brief erhalten. »Noch einer?« »Nicht öffnen!«, befahl sie schnell. » Es ist nur noch mehr Unsinn: wilde, wirre Beschuldigungen, Flehen, Angeberei. Ich hätte das Siegel gar nicht mehr aufbrechen sollen. Sollte die Briefe einfach ins Feuer werfen.« Sie schloss die Hand um seine, um ihn zu hindern, den Brief aufzufalten. »Warum lassen sie ihn so etwas schreiben?«
»Sie lassen ihn nicht schreiben, Lucius, sie zwingen ihn dazu. Er will mich eigentlich gar nicht. Aber sie stacheln ihn immer wieder auf, geben ihm genug zu trinken, bis er schließlich vor Wut überkocht und diese Briefe produziert. Ich bezweifle, dass er sich am nächsten Tag überhaupt noch daran erinnern kann, was er getan hat.« »Aber warum? Warum lassen sie dich nicht einfach los?« »Grausamkeit, nehme ich an. Und seltsamerweise bin ich immer noch ihre letzte und beste Hoffnung, doch noch einen Erben zu bekommen. Wenn die Ehe aufgelöst wird, werden sie nie mehr jemand finden, der ihn so, wie er jetzt ist, noch haben will.« Perry verzog angewidert das Gesicht. »Ein Erbe!« »Nun ja«, sagte sie, »bevor ich ging, haben wir es versucht.« »Gut, das reicht.« Er stand auf, zog den Mantel enger um sich. »Ich bin ein Idiot. Keine Ahnung, warum mir das nicht schon früher eingefallen ist. Dabei ist es doch so einfach.« »Was meinst du?« »Ich werde ihn töten.« »Du kannst Roderick nicht töten!« »Doch, ich kann.« Er stellte einen Fuß auf den Fenstersims, wobei er über die Schulter weiter zu ihr sprach. »Ich weiß ge 161 nau, wie man so etwas macht. Man sucht einen Degenfechter, bezahlt ihn dafür, den armen Roderick ohne jede Vorwarnung auf Leben oder Tod herauszufordern, und — bumm! Keine Briefe mehr. Kein Ehemann mehr. Und du bist frei und kannst dich entscheiden« — er öffnete den Morgenmantel — »für einen anderen.« Sie kicherte und kam in seine Arme. Er schloss den Mantel um sie beide. »Entscheide dich für mich«, murmelte er in ihr Haar und spürte, wie sie sich an ihn lehnte. »Nein«, murmelte sie. Ihre Lippen lagen an seinem Hals, und er fühlte, dass sie lächelte. »Dann eben nicht«, sagte er artig. »Aber auf jeden Fall wärst du frei.« »Wirklich, Lucius, das darfst du nicht tun. Du solltest nicht einmal daran denken.« »Ach nein?« Er zog sich zurück und entließ sie aus seiner Mantelumarmung. »Hegst du etwa doch noch ein gewisses Verlangen nach deinem Waldgott?« »Sei kein Ekel. Ich hege ein gewisses Verlangen, meine Privatsphäre zu schützen. Und dich nicht ins Gefängnis zu bringen.« »Gefängnis? Wofür denn?« »Dafür, Lucius!«, rief sie verärgert. »Dafür, dass du mit ihrem Eigentum spielst! Ich habe ihren Sohn geheiratet, in den Augen des Gesetzes bin ich ihr Eigentum. Begreifst du das denn nicht?« »Auch für eine Herausforderung gelten Gesetze...« »Ja, ja, ich weiß. Dein Fechter wird ihn töten, und dann wirst du vor dem Ehrengerichtshof allen stolz verkünden, warum du ihren Sohn hast töten lassen. Und der Oberrichter wird sagen: >Na prima, gut, das ist in Ordnung, es macht nichts, nimm sie und werde glückliche Stellst du dir die Sache so vor?« »Ich halte die Sache geheim, wenn es sein muss. Besteche den Fechter, damit er den Mund hält.«
161 »Und Roddys Familie wird in die Stadt gestürmt kommen und lauthals die Wahrheit herumschreien. Soweit ich weiß, haben sie längst Spione auf mich angesetzt und sparen sich die saftigen Dinge auf, bis sie sie brauchen. Für den Fall, dass ich jemals etwas unternehme, um die Scheidung zu erreichen.« »Aber...« »Für mich ist das kein Spiel, mich ständig zu verstecken und alles geheim zu halten. Ich mache das nicht aus Spaß, so wie du. Wenn unsere Beziehung bekannt würde — und ich versichere dir, wenn du Roderick herausforderst und tötest, wird sie bekannt werden -, dann wird sich ein Skandal entwickeln, der mir alles nehmen wird, was mir das Leben noch erträglich macht.« »Du bist bereits ein Skandal. Du hast deinen Mann verlassen, du schreibst Kitsch, um zu überleben...« »Es ist kein Kitsch. Und außerdem ist auch das ein Geheimnis. Die Leute wissen nur, dass ich vom Wohlwollen anderer Menschen lebe, in einem Haus, das mir von einem mit-
fühlenden Cousin zur Verfügung gestellt wird. Ich verdiene mir mein Nadelgeld von Freunden, die mir meine Porzellankunst abkaufen. Das ist mein Leben und die Welt wird es glauben, solange mein anderes Leben nicht bekannt wird.« »Ich kenne es aber«, sagte er leise. »Ja, du kennst es. Und ich kenne deins.« Er lächelte. »Glaubst du, dass wir deshalb so gut miteinander auskommen?« »Ich liebe deine Geheimnisse. Aber ich will auch meine eigenen behalten. Und deshalb vertraue ich dir.« »Du kannst mir in allem vertrauen.« »Kann ich dir auch vertrauen, vorsichtig zu sein? Du liebst die Gefahr, den Nervenkitzel, jederzeit ertappt zu werden.« Statt einer Antwort beugte er sich tief hinab und küsste ihre Hand. Sie legte ihm die Hand auf das Haar. »Du bist mein
162 einziger Luxus, Lucius. Bisher waren die Kosten dafür noch nicht zu hoch. Das ist der Grund, warum es keine Herausforderung geben wird. Nicht von dir.« Er richtete sich wieder auf. »Ich bin ein Adliger. Ich entstamme dem Haus Perry. Ich habe das Privileg des Degens, der Herausforderung, wenn die Ehre verletzt wurde.« »Hör auf, mit dem Gedanken herumzuspielen!«, sagte sie gereizt. »Wenn du schon mein Geheimnis nicht respektierst, solltest du wenigstens an dein eigenes denken. Sobald du ihn herausforderst, wird sich seine Familie einmischen. Das wird dir nicht gefallen, das weißt du auch. Aber wenn Selbstopferung deine neueste Leidenschaft sein sollte, dann denke wenigstens einen Augenblick lang auch an mich. Wie würde ich mich fühlen, zusehen zu müssen, wie sie den letzten Groschen meiner Mitgift dafür verschwenden, uns zu verfolgen?« »Aber zumindest würdest du am Ende deine Mitgift zurückbekommen.« »Glaubst du das wirklich? Du hast wohl noch nie Rechtsanwälte angeheuert? Und wie würde wohl der Rest des Hauses Perry die ganze Sache sehen? Deine Familie würde dich verstoßen, Lucius, sie hätten gar keine andere Wahl. Kann sein, dass du dir in der Rolle meines edlen Verfechters gefällst, aber es ist eine Rolle, die ich dich auf keinen Fall werde spielen lassen.« »Es wäre gleichgültig«, sagte er leise. »Es ist keineswegs so, dass ich uns beide nicht ernähren könnte.« »Ach, wie edel und schön«, sagte sie und schluckte Tränen der Wut hinunter. »Du zahlst für unsere Wohnung und unsere Nahrung, indem du deinen Körper in Riverside verkaufst. Das gefällt mir! Und wenn du mal nicht mehr arbeiten kannst, bemale ich Porzellanteller mit Blümchen und schreibe Stücke für jedes Theater, das sie mir abnimmt.« »Unerträglich«, knurrte er, »die ganze Bande ist unerträg-
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lich. Ich fange mit ihm an, und dann knöpfe ich mir einen nach dem anderen vor, du wirst schon sehen.« »Du könntest vielleicht meinen Mann mit einigem Grund töten«, antwortete sie sanft, »für das, was er mir angetan hat. Aber du kannst nicht alle anderen umbringen, mein Lucius. Und du würdest alle umbringen müssen, wenn du das Leben für uns beide sicherer machen willst.« »So redet er auch manchmal mit mir«, sagte Lucius nachdenklich, »wenn er überhaupt mit mir redet.« »Nein!« Sie packte sein Handgelenk mit festem Griff. »Hör auf, daran zu denken. Ich lasse das nicht zu.« »Er mag mich. Er sagt, ich sei keiner dieser Scheinheiligen. Ich denke, er würde dich auch mögen.« »Lucius, nein!« »Was nützt mir der Herzog von Tremontaine als Gönner, wenn er mir nicht mal helfen kann, wenn ich es am dringendsten nötig habe?« »Du hast dir das nicht richtig überlegt«, sagte sie, aber sie klang nicht verärgert. Eher ein wenig belustigt und zugleich ein wenig traurig. »Er ist nicht dein Gönner, und er meint es nicht gut mit dir. Er hält dich aus demselben Grund, den auch ich habe: Es ist einfach wunderbar, dich als kleines Geheimnis zu haben.«
»Ich meine es ernst«, sagte Lucius Perry. »Für dich würde ich es mit der ganzen Welt aufnehmen.« »Ich glaube dir.« Sie küsste ihn. »Aber ich werde es nicht zulassen.« Marcus musste niesen. »Komm, wir gehen nach Hause«, sagte ich. »Ich muss noch üben.«
Kapitel 2
Es wurde eine Herausforderung ausgesprochen. Robert Fitz-Levi wedelte ein Blatt Papier mit der edel manikürten Hand. »Meine liebe Schwester, was hat das zu bedeuten?« Artemisia starrte ihren Bruder wütend an. Sie machte sich nicht einmal die Mühe aufzustehen. Ihre Stickerei lag in einem wirren Haufen auf ihrem Schoß. »Es bedeutet, mein lieber Bruder, dass du meine privaten Briefe liest, ohne mich um Erlaubnis gebeten zu haben.« »Mutter hat ihn gelesen. Und sie hat mich gebeten, mal ein Wörtchen mit dir zu reden.« Artemisia setzte sich aufrecht, die Arme auf den Armlehnen. »Also dann, was hast du mir zu sagen, Robert?« Robert holte tief Luft, ging zum Fenster, ließ die Luft aus seinen Lungen strömen und drehte sich endlich wieder zu ihr um. »Weißt du, was ich wirklich sagen möchte? Ich will dir sagen, dass du endlich erwachsen werden solltest. Hör endlich auf, dich wie die Königin in einer Tragödie zu benehmen. Du hast einen dummen Fehler gemacht, und nun weigerst du dich, ihn einzugestehen und dich den Konsequenzen zu stellen. Hör mal, Artie, weißt du eigentlich, wie viel Glück du hast?« »Glück? Das soll Glück sein, gegen meinen Willen gezwungen zu werden...« »Aber doch nur von deinem Verlobten und auch nur ein paar Wochen vor eurer Hochzeitsnacht! Was macht das schon für einen Unterschied?«
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»Mir wird schlecht, wenn ich dir noch länger zuhören muss. Ich dachte, wenigstens du würdest mich verstehen, aber du hast dich auf ihre Seite geschlagen.« »Ich stehe auf deiner Seite, aber du bist einfach zu dumm, um es zu begreifen!« »Wenn ich dir wichtig wäre, würdest du für mich kämpfen! Du würdest meine Ehre schützen, statt um Vater herumzuschleimen, damit er dein Taschengeld erhöht, damit du und deine blöden Freunde Degenfechter anheuern können, damit sie sich für euch wegen irgendwelcher Frauen duellieren, mit denen ihr nicht mal verwandt seid!« »Und wenn du nicht so ein romantischer Knallkopf wärst, würdest du einsehen, dass kein Schatten auf deine Ehre fallen kann, solange diese Sache nicht herauskommt!« »Robert«, widersprach sie, »der Schatten fiel in dem Augenblick auf meine Ehre, in dem dieses Ungeheuer Hand an mich legte. Wenn du das nicht einsiehst, gibt es immer noch andere, die es tun.« »Das reicht!«, schrie er und fuchtelte wild mit dem von Siegelwachs befleckten Brief vor ihrem Gesicht herum. »Wer ist denn dieser Tyrian?« »Ein Freund. Ein wahrer Freund, der gewillt ist, für mich zu kämpfen.« »Mein Gott«, stöhnte er, »wie viele von der Sorte gibt es denn? Es reicht dir offenbar nicht, Ferris zu einem schmierigen Ball zu schleppen, nur damit du deinen Spaß hast, sondern du musst auch noch einen abgerissenen Degenfechter anheuern?« Seine Schwester schleuderte den nächstbesten Gegenstand nach ihm, zufällig war es ein zierliches Tischchen. »Wie kannst du es wagen! Ich werde dafür sorgen, dass sie dich als Nächsten tötet, warte es nur ab!« »Du hast eine Frau angeheuert, um Lord Ferris umbringen zu lassen?«, rief er fassungslos.
163 »Ja, stell dir vor, sie ist ein Mädchen, genau wie ich! Tapfer und kühn und treu, und niemand könnte sie zu etwas zwingen, das sie verabscheut oder das einem Unschuldigen schadet. Sie ist keiner von deinen angeberischen Schlägern, die für Geld kämpfen; sie ist ein echter Degenfechter. Wie Fabian.« »O mein Gott.« Ihr Bruder war blass geworden. Er stützte sich mit einer Hand an die Wand, ohne zu merken, dass er eine frohlockende Nymphe bedeckte. »Wer ist Fab...«
»Fabian ist jetzt unwichtig.« Lady Fitz-Levi hatte den Raum betreten, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Jetzt reicht es aber mit dem Unfug. Ich habe keine Ahnung, wo du diese heldenhafte junge Dame kennen gelernt hast, aber solange du nicht vorhast, sie zu heiraten, solltest du ihr dringend raten, ihr Heldentum in ihrem stillen Kämmerlein auszuüben und uns gefälligst in Ruhe zu lassen. Hier, zieh das an.« Sie hielt ein hellrosa Seidenkleid mit perfekten Rüschen in den Händen. »Ich hasse Rosa!« »Es gibt dir ein wenig Farbe ins Gesicht, die dir dringend fehlt. Dorrie!« Artemisias Zofe erschien. »Das Haar, bitte.« »Was...« »Sitz still, sonst verknotet es sich.« »Ich will nicht...« »Tochter, sitz still! Du wirst jetzt präsentabel gemacht, dann werden wir ausgehen. Ob du dabei Spaß hast oder nicht, liegt allein an dir, aber ich bitte dich, versuche es wenigstens. Robert, dreh dich um. Die ganze Stadt weiß inzwischen, dass du krank und launisch warst und dass sich Lord Ferris vor Kummer um dich verzehrt. Nein, Dorrie, die Perlenkette! Bevor wir ausgehen, wirst du deiner heldenhaften Freundin schreiben und ihr mitteilen, dass sie unter keinen Umständen einen solchen Zirkus veranstalten soll.« »Das ist kein Zirkus, Mama!«, protestierte Artemisia, wäh
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rend sich die schwere Perlenkette um ihren Hals schmiegte. »Es ist eine Herausforderung, und es geht um meine Ehre.« »Deine Ehre geht niemanden außer uns etwas an, Kind. Oder um genauer zu sein: Ehre ist immer Männersache.« »Aber Männer sollen doch um die Ehre der Frauen kämpfen! Wenn Papa und Robert...« »Wenn sich dein Vater oder dein Bruder beleidigt fühlten, würden sie natürlich für dich kämpfen. Ist es nicht so, Robbie?« »Selbstverständlich, Mama. Wie könnte es auch anders sein?« »Na also, siehst du? Die Locken ein wenig höher, Dorrie. Wo ist die Haarklammer mit dem Schmetterling? Deine Ehre ist nur dann befleckt, wenn auch ihre befleckt ist. Und wir haben alle sehr gründlich dafür gesorgt, dass es nicht den Hauch eines Skandals gibt, also gibt es auch keine Flecken auf deiner Ehre. Nicht zu eng schnüren, Dorrie, sie sieht schon dünn genug aus. Hast du das alles jetzt endlich verstanden, mein Liebes?« »Gib dir wenigstens Mühe, Artie«, wurde sie von ihrem Bruder aufgemuntert. »Du warst doch sonst immer ein guter Kumpel. Tut mir leid, was ich vorhin über deine Fechterin gesagt habe. Du musst wissen, dass ich deine Ehre sehr ernst nehme, ich gebe dir mein Wort darauf. Ich bin dein Bruder, und von mir wird erwartet, dass ich dich beschütze. Ich weiß, dass es für dich ziemlich hart war, gutes Mädchen, aber du musst verstehen, dass wir uns Sorgen um dich machen. Während du hier oben deine Taschentücher nass geheult hast, haben wir dafür gesorgt, dass es nichts gibt, worum gekämpft werden müsste. Verstehst du?« »Ich glaube schon.« »Natürlich versteht sie es. Sie weiß doch, wie sehr wir sie lieben und dass wir nur ihr Bestes wollen.« Lady Fitz-Levi kniff ihrer Tochter mehrmals in die Wangen, um sie zum Glü 164 hen zu bringen. »Oh, schaut sie euch doch an: Sieht sie nicht hübsch aus?« »Ein Bild von einem hübschen Mädchen, Madam.« »Genau. Wir alle können stolz auf unser kleines Mädchen sein. Und ich weiß, dass du niemals etwas tun würdest, was uns Kummer bereiten könnte. Welche Schuhe möchtest du anziehen, die rosaroten mit den niedrigen Absätzen oder die satingrauen?« »Die hab ich doch erst letztes Jahr getragen.« »Also dann die rosaroten. Steh auf. Ja, du hast Recht mit den Absätzen, meine Liebe. Die Linie stimmt so besser. Dreh dich um. Robert, ist sie nicht ein wunderbarer Anblick? Oh, Dorrie, schau dir doch nur diese Rüsche an, die ist so ungleichmäßig! Hol dein Nähzeug, Mädchen, und zwar schnell! Ja, Kirk, was ist denn nun wieder?« »Die Kutsche, Mylady.« »Herrje, jetzt schon? Ich muss nur noch schnell in ein anderes Kleid schlüpfen. Ist ja allen ohnehin egal, wie ich aussehe. Und du setzt dich jetzt hin und schreibst diesen Brief.« »Aber Mama...«
Mit einem Musselinschal um die Schultern, um ihre hübsche Aufmachung zu schützen, schrieb Artemisia: Mein liebster Fabian, alles ist verloren. Ich bin endgültig entehrt. Meine lieben Eltern und mein Bruder haben mir alles erklärt. Es gibt keine Hoffnung mehr. Betrachte mich nunmehr als Tote, als eine, die für diese Welt endgültig verloren ist. Ich werde mich immer liebevoll an Dich erinnern und werde niemals vergessen, was Du so willig tun wolltest, um die Ehre derjenigen zu retten, die immer bleiben wird Deine Artemisia 165 »Hmrri.« Lady Fitz-Levi las den Brief durch. »Das wird wohl reichen. An wen ist der Brief adressiert? Los, sag es mir! Ich habe keine Lust, die Dienstboten ausfragen zu müssen, um es herauszufinden, denn ich weiß, dass sie schon andere Briefe zugestellt haben.« »An... an Lady Katherine Talbert. Tremontaine House.« »Oh. Mein. Gott«, sagte ihr Bruder mit viel Gefühl. In der Kutsche wurde kaum gesprochen. Als Artemisias Mutter zum Fenster hinausschaute, reichte Robert seiner Schwester schnell eine kleine Flasche, und Lady Fitz-Levi tat so, als bemerkte sie es nicht. »Ein kleines Singspiel am Nachmittag«, erklärte die Mutter besänftigend, »bei deinen Freunden, den Godwins. Du wirst deine liebe Freundin Lydia wiedersehen, das wird dir guttun. Sie hat dir fast jeden Tag geschrieben, das weißt du ja.« »Ja, ich weiß.« »Und du brauchst auch nicht viel zu reden, nur ab und zu nicken und lächeln, ganz einfach.« »Wird... wird er auch dort sein?« »Großer Gott, woher soll ich das wissen? Er lässt mich schließlich nicht wissen, wo er hingeht und wo nicht.« »Mach dir darüber keine Sorgen, Schwester.« Ihr Bruder tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Wenn er dich wirklich in aller Öffentlichkeit beleidigt, werde ich ihn natürlich herausfordern.« »Wirklich, Robbie?«, flüsterte sie. »Würdest du das wirklich tun? Versprich es mir! Wenn er dort ist und versucht, mich irgendwo allein hinzuführen, dann wirst du mich doch nicht aus den Augen lassen, oder?« »Natürlich nicht. Bei mir bist du so sicher wie das Häschen unter der Hecke.« Mit dieser Anspielung auf eines ihrer gemeinsamen Kind 165 heitserlebnisse brachte er sie zum Lächeln. Beruhigt ließ sie sich in das Polster zurücksinken. Auf der Gesellschaft der Godwins wurde Artemisia von den Gästen wie ein rohes Ei behandelt, aber alle zeigten sich sehr erfreut, dass sie gekommen war. Lydia zerdrückte ihr praktisch sämthche Rüschen durch ihre heftigen Umarmungen und flüsterte ihr ins Ohr: »Du siehst einfach himmlisch aus! So blass und interessant! Ich muss verhindern, dass Armand dich zu sehen bekommt, sonst wird er mich im Vergleich zu dir für ein Bauernmädchen halten.« Auch ihr Vetter Lucius war gekommen, wie immer perfekt gekleidet. Er ergriff ihre Hand und verbeugte sich: »Es ist schön, dass du dich besser fühlst.« Mehr sagte er nicht. Sie sah auch ihren alten Verehrer Gregory, Lord Talbert, der am anderen Ende des Raumes mit einer älteren Dame flirtete. Für einen flüchtigen Augenblick überlegte sie, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn sie sich mit ihm verlobt hätte. Sie wünschte ihm jedenfalls alles Gute. Sie setzte sich auf eine samtbezogene Ottomane, zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder eingezwängt, und hörte den beiden Damen zu, die Flöte und Harfe spielten. Die Sonne fiel durch die hohen Fenster, die zum Garten hinausgingen. Lydia und Armand saßen zwischen zwei Fenstern; sie hatten einen Vorhang zwischen sich gezogen, damit niemand sah, dass sie sich heimlich an den Händen hielten. Als er den Raum betrat, wusste sie es, ohne hinzuschauen. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken; die Luft schien plötzlich schwerer zu werden, sein Blick belästigte sie. Die Musik brach nicht ab. Ihre Hand verkrallte sich in Ro-
berts Jackettärmel. Sie glaubte ihn riechen zu können, trotz der Gerüche der anderen Gäste und des Duftes der Blumenarrangements aus dem Gewächshaus. Sie tastete nach ihrem Taschentuch, holte ein kleines Fläschchen Geranienduft he 166 raus, ließ ein paar Tropfen auf das Taschentuch fallen und atmete heftig durch das Tüchlein ein, obwohl der Duft viel zu süßlich war. Die Musik schien nie enden zu wollen, obwohl sie still darum betete. Doch schließlich endete sie, die Gäste applaudierten, sie zerknüllte ihr Taschentuch in einer Hand und klatschte ebenfalls. Ihre Mutter stieß sie an; sie setzte sich aufrecht und wappnete sich innerlich, den ihr versprochenen Bräutigam zu begrüßen. Lord Ferris sah genau so aus wie bei ihrer ersten Begegnung: perfekt gekleidet, perfekt frisiert, perfekt im Verhalten. Er begrüßte sie und ihre Familie mit genau dem richtigen Maß an Wärme und Freundlichkeit. Ihre Mutter flirtete mit ihm wie eine Idiotin; Robert bemühte sich, so geschliffen und erwachsen wie möglich zu erscheinen, klang stattdessen aber wie ein schleimiger Wichtigtuer. Nur Lord Ferris benahm sich vollkommen normal: charmant, mitfühlend und, soweit sie betroffen war, fast wie ein Mitverschwörer, als teilte er ihre Meinung über ihre Familie voll und ganz und wollte ihr zu verstehen geben, dass er jetzt ganz brav sein würde. »Fühlt Ihr Euch schwach?«, fragte er Artemisia im Ton eines intimen Vertrauten. Er neigte sich so sehr zu ihr herunter, dass sie sämtliche Poren auf seiner Nase sehen konnte. »Darf ich Euch ein Getränk holen?« Artemisia fühlte sich wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück. Und in gewisser Weise war sie das tatsächlich: Sämtliche Anwesenden beobachteten sie aufmerksam. Was auch immer sie für ihre Familie noch empfinden mochte, sie durfte sich selbst jedenfalls keine Schmach antun. Aber ihre Hand zitterte, das war nicht zu ändern. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Sache durchzustehen: Sie musste wie Stella sein, wie Stella auf dem Landsitz, als Mangrove sie besuchen kommt. Wie Stella, als sie Fabians Kind unter dem Herzen trägt, aber weiß, dass es ihren Tod und den ihres ungeborenen Kindes 166 bedeuten würde, wenn Mangrove davon erführe... und deshalb lacht sie und tanzt und flirtet mit einem Cousin, den sie damit überrascht, zum Entsetzen Tyrians, der ohne ihr Wissen gekommen ist, um sie zu beschützen... und um ihren Mut zu beweisen, nimmt sie an dem Rennen teil und reitet das Pferd ihres Cousins zum Sieg... Glücklicherweise wurde hier von Artemisia nicht erwartet, dass sie tanzte oder Rennpferde ritt, und Robert wäre ohnehin nur ein kümmerlicher Ersatz für den treuen Tyrian. Also holte sie ein Mal tief Luft, dann noch ein Mal, und endlich hörte ihre Hand auf zu zittern. Lord Ferris kehrte mit einem Glas Zitronenwasser zurück. »Gefällt Euch die Musik?«, fragte er. Endlich erwies sich die Angewohnheit ihrer Mutter, für Artemisia zu antworten, einmal als Segen. Aber dann bat er um Erlaubnis, sich neben sie setzen zu dürfen, und die Röcke ihrer Mutter raschelten, als sie ihm Platz machte. Artemisia starrte zu Boden und dachte: Vielleicht ist es nicht so schlimm, wenn ich ihn nur nicht anschauen muss. Und dann geschah die wunderbarste Sache der Welt: Ein Paar Schuhe traten in ihr Blickfeld. Kleine Schuhe an den Füßen eines Mädchens, aber geformt wie Männerschuhe, darüber ein Paar wunderbare Knöchel und hübsche Waden in dicken Strümpfen, die direkt unterhalb der Knie unter den Bünden einer Hose verschwanden, und daneben hing die Spitze eines Degens herab, dessen Klinge in einer grünen Samtscheide mit einer reizenden goldenen Quaste steckte. »Ich kam so schnell wie möglich«, sagte Katherine Talbert. »Oh!« Artemisia verschlug es vor Bewunderung fast die Sprache. »Du siehst wunderbar aus!« »Und sie ist bewaffnet und kommt wahrscheinlich wieder mit ihrer Herausforderung!«, seufzte Lord Ferris. »Lady Godwin wird Euch kaum dafür danken, dass Ihr den Musikabend stört.« »Ich werde Lady Godwin mein Bedauern ausdrücken.« 166 »Tut es am besten sofort«, riet Lord Ferris. Er betrachtete sie mit seinem gesunden Auge von oben herab. »Sie steht dort drüben beim Fenster, die Dame in Blau.«
»Sogleich«, gab Katherine zurück, »aber erst, wenn wir unsere Angelegenheit geregelt haben, Lord Ferris. Wenn Ihr mir für einen Augenblick nach draußen folgen würdet?« Das Erscheinen des Mädchens in Männerkleidung mit dem langen, im Nacken zurückgebundenen Haar und dem Degen an der Seite war den übrigen Gästen der Godwins nicht verborgen geblieben. Artemisia spürte, wie sich Lord Ferris' Haltung versteifte, als sich der Kreis interessierter Zuschauer enger um sie schloss. Und sie merkte, dass er die Situation völlig falsch einschätzte, als er antwortete: »Zwischen Euch und mir gibt es keine Angelegenheiten zu regeln.« »Das stimmt nicht«, sagte Katherine laut und deutlich. »Ich habe Euch schon vor Wochen herausgefordert. Ihr habt Euren Fehltritt seither nicht gutgemacht.« Auf Artemisias linker Seite griff ihre Mutter nach ihrer Hand, auf ihrer rechten Seite schien sich ihr Bruder zu wappnen, etwas zu unternehmen. Artemisia sah voller Bewunderung, dass Katherine sie nicht anschaute, und sie genoss das unerhörte Aufsehen, das das Mädchen in dem Musikzimmer erregte. Wenn es Artemisia bewusst gewesen wäre, dass sie breit grinste, hätte sie es wahrscheinlich zu verbergen versucht. Tatsächlich war es schon so lange her, dass sie aus tiefstem Herzen gelächelt hatte, dass ihr in diesem Augenblick nur allzu klar wurde, wie glücklich sie war. »Oh. Ja, richtig, die Herausforderung. Aber das ist schon eine Weile her«, lachte Lord Ferris gutmütig. »Dachte eigentlich, meine Liebe, Ihr hättet meinen Ratschlag befolgt und sie wieder zurückgezogen.« »Nein, das habe ich nicht getan. Deshalb frage ich Euch jetzt: Werdet Ihr selbst kämpfen, oder werdet Ihr Euch durch einen Degenfechter vertreten lassen?« 167 Es war vollkommen still im Raum, denn die Umstehenden verfolgten die Szene aufmerksam, doch nun trat Michael Lord Godwin vor, der prächtige gold-blaue Kleidung trug, und sagte: »Ferris, mein Degenfechter steht Euch natürlich zur Verfügung.« »Sehr freundlich von Euch, Godwin, aber ich habe einen eigenen Fechter mitgebracht. Wenn jemand so freundlich wäre, ihn holen zu lassen.« Lord Godwin betrachtete den Neuankömmling von oben bis unten. »Ihr also seid Tremontaines Nichte?« »Die bin ich, aber der Herzog ist nicht der Herausforderer, das dürft Ihr nicht glauben. Ich ... ich kämpfe für eine andere Person, die Lord Ferris zutiefst beleidigt hat.« »Ah, ich verstehe«, sagte Lord Godwin tiefernst. Lady Godwin legte die Hand auf den Arm ihres Mannes. »In meinem Musikzimmer wird kein Degenkampf stattfinden«, erklärte sie resolut. »Meinetwegen draußen auf dem Hof, unsere Gäste können dann von der Treppe aus zuschauen.« »Was ist mit dem Garten?« »Der ist zurzeit zu schlammig, meinst du nicht auch?« Lady Godwin versuchte, Artemisia zurückzuhalten, aber sie drängte sich ganz nach vorn bis an die Balustrade, von der aus man den mit Steinplatten belegten Hof der Stadtvilla der Godwins überblicken konnte. Ihr Herz pochte keineswegs unangenehm in ihrer Brust und bis zum Hals, sie wünschte sich nur, dass Lydia an ihrer Seite stünde, aber ihre Freundin stand ein Stück weiter hinten an einer Säule neben Armand Lindley, der ihr den Arm schützend um die Hüften geschlungen hatte. Ferris' Degenfechter war ein gut aussehender Mann, langbeinig und mit anmutigen Bewegungen. Er verbeugte sich vor seinem Herrn, dann vor der versammelten Gesellschaft, schließlich vor seiner Gegnerin. Katherine verneigte sich nur ein Mal vor allen, doch Artemisia kam es so vor, als wäre der schwungvolle Gruß mit dem Degen nur für sie bestimmt. 167 Eine Männerstimme hinter Artemisia sagte: »Großer Gott, Kitty!« »Talbert«, näselte eine andere affektierte Stimme, »sag bloß, du kennst den Hemdenmatz. Wer ist das?« »Meine Schwester«, stöhnte Gregory Talbert, »oder jedenfalls war sie es. Weiß es wirklich nicht.« Artemisia wollte eine scharfe Bemerkung machen, aber im selben Augenblick schien die Sache loszugehen. »Auf Tod«, fragte Lord Godwin, »oder auf Kleinen Tod?«
Ferris stand im Hof neben einem Zaumzeug, das an der Wand hing. »Ach, doch wohl nicht auf Tod, so schlimm war die Sache nun auch wieder nicht. Kleiner Tod reicht doch vollkommen.« Artemisias Hass stieg wieder in ihr auf. Aber Katherine nickte zustimmend und grüßte ihren Gegner, dann galt Artemisias ganze Aufmerksamkeit nur noch der Sorge um ihre Freundin. Neben Ferris' sehnigem Fechter wirkte Katherine Talbert so klein und zierlich wie sollte sie mit ihrer kurzen Klinge jemals an ihn herankommen? Das dachte offenbar auch ihr Gegner. Er umkreiste sie lässig, betrachtete ihre Kampfhaltung spöttisch, dann Heß er die Degenspitze in ihrer Richtung herausfordernd kreisen, um sie zu provozieren. Aber sie achtete nicht darauf; ihre Blicke folgten jeder seiner Bewegungen, den Degen hielt sie dabei völlig ruhig. Er täuschte ein paar Halbausfalle vor, aber ihr Handgelenk bewegte sich kaum. Katherines Gesicht war vor Konzentration angespannt, während seine Miene nichts als Verachtung ausdrückte. Er stampfte mit einem Fuß auf und führte ein paar kleine Stöße mit dem Degen aus, um sie zu reizen. Jemand lachte. Sie rührte sich nicht. »Fünf Goldtaler auf das Mädchen«, verkündete ein Mann, aber ein anderer sagte: »Hier wird nicht gewettet.« Ferris' Fechter machte einen wunderbaren Ausfall, einen 168 Vorstoß mit kurzer Drehung, und sein Degen schoss wie ein Pfeil auf das Herz der stämmigen kleinen Person zu. Sie runzelte die Stirn noch stärker, verlagerte ihr Gewicht und schlitzte blitzschnell den Arm ihres Gegners tief auf. Sie wirkte außerordentlich erstaunt. Der Degenfechter jaulte höchst unelegant auf. Der Degen flog ihm aus der Hand. »Blut!«, brüllte Lord Godwin, und ein paar Diener liefen herbei, um den Verwundeten zu stützen. Wenn es Katherines Blut gewesen wäre, dachte Artemisia, hätte ich es mit meinem eigenen Taschentuch gestillt. Jetzt allerdings zerknüllte sie das Tüchlein in der Faust und dachte immer wieder: Ich habe gesiegt. Ich habe gesiegt. »Lord Ferris?« Michael Godwin nickte seinem Gast ernst zu. »Werdet Ihr Euch zurückziehen?« »Von dieser Abendgesellschaft, wenn Ihr gestattet«, erklärte der Kreiskanzler, »aber natürlich nicht aus der Stadt.« »Seid Ihr sicher?« »Die Angelegenheit war nicht sehr wichtig. Ich werde morgen meinen Platz im Rat einnehmen wie immer.« »Seid Ihr sicher, Mylord? Wenn es Euch genehmer wäre, Euch zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort aufzuhalten, können wir die entsprechenden Maßnahmen treffen.« Der Kreiskanzler richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Godwin, wollt Ihr etwa den Ehrengerichtshof in Eurem Stallhof zusammenrufen? Ich habe gesagt, dass diese Angelegenheit nicht so wichtig war, dass sie meine Abwesenheit rechtfertigte. Ich werde morgen im Rat sein.« »Entschuldigt mich bitte.« Lord Godwin verneigte sich knapp und führte seine Gattin in den Saal zurück. Obwohl sie noch liebend gern geblieben wären, folgten die anderen Gäste Lord Godwins Beispiel. Katherine Talbert blieb allein im Hof zurück und wischte sorgfältig das Blut von der Klinge. Gregory Talbert trödelte noch eine Weile auf der Treppe 168 herum und beobachtete seine Schwester, die sich mit ihrer furchtbaren Waffe beschäftigte. Hatte sie ihn überhaupt bemerkt? Sie blickte nicht auf. Sollte er mit ihr reden? Das war gegen die Regeln. Und was könnte er schon zu ihr sagen? Gut gemacht, Kitty, wir sind so stolz auf dich! Niemals hätte er zugeben dürfen, dass sie seine Schwester war. Er ging eilig davon. Artemisias Mutter packte ihr Armgelenk mit eisernem Griff und zwang sie, mit ihr das gesamte Ritual des Danksagens bei den Gastgebern und der Verabschiedung durchzustehen, wobei ihre Mutter unentwegt Artemisias Kopfschmerzen vorschützte, die all der
Aufregung an ihrem ersten Tag nach der langen Krankheit zuzuschreiben seien. Aber kaum waren sie in die Kutsche gestiegen, schlug sie Artemisia hart auf die Hand. »Du miese kleine Schlampe! Du dummes Ding!« Lady Fitz-Levi brach in Tränen aus. »Ach, wer wird dich jetzt noch heiraten wollen?« Und tatsächlich: Am nächsten Tag zog Lord Ferris seinen Heiratsantrag diskret zurück, und der Verlobungsvertrag wurde annulliert.
Kapitel 3
Bei meiner Rückkehr in das Schloss fand ich meinen Onkel, den Irren Herzog, in der Bibliothek, wo er irgendwelche Dokumente zerfetzte. Vor ihm lag bereits ein großer Haufen Papierstücke. Er blickte auf, als ich eintrat. »Alte Bücher«, sagte er, »von Würmern zerfressen. Theo behauptet, dass es dringend getan werden müsse. Hilf ihm dabei.« Neben ihm stand eine Branntweinkaraffe, die fast leer war. »Na, wie ist es gelaufen?« »Ganz gut«, antwortete ich. Ich gab mir Mühe, so gelassen wie möglich zu klingen, aber es fiel mir nicht leicht. In meinem Körper strömte noch die ganze Energie, die sich während des Kampfes aufgestaut hatte und die nun meinen Triumph in fröhlichen Übermut verwandelte. »Eigentlich besser, als ich erwartet hatte. Er nahm mich nicht ernst, deshalb hatte er keine Chance. Es war genau, wie St.Vi..., wie er es mir beigebracht hatte: Wenn dich dein Gegner mit einer angeberischen Bewegung blenden will, muss man versuchen herauszufinden, was er insgeheim plant, und es als Einladung zum Angriff auffassen. Nach nicht einmal fünf Aktionen hatte ich einen Treffer mit erstem Blut.« »Na, werde bloß nicht übermütig. Der nächste Gegner wird dich ernst nehmen, und was wird dann aus dir?« In meinem Übermut vollführte ich einen höchst eindrucksvollen Ausfall gegen die Bücherregale. »Wehe, du beschädigst meine Bücher!« »Ich bin hungrig.« 169 »Haben sie dir bei Godwins Musikabend nichts zu essen gegeben?« »Hab nicht danach gefragt. Niemand hat mir was angeboten. Bin dann wieder gegangen. Warum veranstaltet eigentlich Ihr nie einen Musikabend?« »Habe ich, aber nur ein Mal. Sie hat mich gebissen.« Ich lachte. »Und Lord Ferris?« »Er ist dann auch gegangen. Ich denke, die Hochzeit wird abgeblasen.« »Gute Arbeit«, sagte er und leerte die Karaffe. »Marcus!« Mein Freund erschien. »Besorge unserer Heldin hier mal was zu essen.« Ich wollte Marcus zur Küche folgen, aber er drehte sich um und sagte: »Du brauchst nicht mitzukommen, ich bringe dir etwas auf dein Zimmer. Soll ich Betty sagen, dass du wieder da bist? Sie kann dir ein Bad einlassen.« »Jetzt nicht, sie macht immer so ein großes Getue. Komm, wir gehen in den Park. Es ist schön draußen. Ich will dir alles über mein Duell erzählen.« »Aber ich will nichts über dein Duell hören! Du hast jemanden mit deinem Degen getroffen, und er hat dich nicht getroffen. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Am Fischteich?« »Ich warte dort auf dich.« Karpfen flitzten zwischen den Teichpflanzen herum. Ich nahm einen großen Bissen Brot mit Käse, das er mir gebracht hatte. »Ich mag es hier oben«, sagte ich. »Hier auf dem Hügel ist es viel schöner als in Riverside.« Marcus' Erkältung hatte nachgelassen, aber er aß immer noch sehr wenig. Er rollte kleine Stückchen von meinem Brot zu Kugeln und warf sie den Karpfen zu. »Und die Luft ist hier oben auch viel gesünder.« Ich zog einen meiner Strümpfe aus, damit ich einen Fuß in den Fischteich halten konnte. »Warum willst du nichts über mein Duell wissen?« 169 »Ich will eben nicht, das ist alles. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich interessiere mich nicht besonders für das Degenfechten.« »Aber ich. Dann hältst du mich für langweilig?« »Das wohl kaum.« Marcus rollte sich auf den Bauch, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.
Ich kickte mit dem Fuß in das Wasser, um die Karpfen vom Brot wegzutreiben. Ich fragte mich, ob ich im Wasser schwimmen könnte, ohne sie gleich in die Flucht zu schlagen. Ein Degenfechter, dachte ich, sollte eigentlich jede Bewegung so schnell spüren wie ein Fisch. »Wen hältst du für interessanter, den Herzog oder mich?« »Also das«, gab er affektiert zurück, »ist genau die Art von Frage, die er stellen würde.« Dafür hätte ich ihn am liebsten in den Fischteich geworfen. »Und das«, sagte ich, »ist genau die Art Stimme, mit der er immer redet, wenn er sich aus einer Antwort herauswinden will.« »Ach nein, wirklich? Und aus was versuche ich mich deiner Meinung nach herauszuwinden?« Das tat er natürlich absichtlich, aber ich stürzte mich trotzdem auf ihn. Mit meinem nassen Fuß stieß ich ihn an, sodass er auf den Rücken rollte und wie ein Fisch am Bratspieß unter mir lag, und presste seine Schultern mit meinen Knien ins Gras. »Das will ich von dir wissen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, aber wenn du glaubst, dass es meine Laune verbessert, wenn du dich wie mein Onkel aufführst, dann hast du wohl nicht alle Tassen im Schrank.« »Du bist genau so wie er, nicht ich.« Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Wie kannst du so etwas behaupten?« »Ist das nicht offensichtlich?« Ich suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen, dass er sich nur über mich lustig machte. Keine Ahnung, wie ich 170 das deuten sollte, was ich dort zu lesen bekam. »Mach dich nicht lächerlich, Marcus.« Er versuchte, meine Knie von seinen Schultern zu stemmen. »Du tust mir weh.« »Ist mir egal. Du hast mich beleidigt.« »Siehst du, was ich meine? Dir sind doch alle anderen völlig gleichgültig. Du merkst nicht einmal, was andere empfinden, niemals. Dir geht es nur darum zu bekommen, was du willst, und wie du dich fühlst. Willst du denn tatsächlich immer mehr wie er werden?« »Du verdammter, mieser, kleiner...« Ich griff eine Hand voll Erde und rieb sie ihm ins Gesicht. »Das nimmst du sofort zurück!« Marcus spuckte Erde aus. »Du bist nicht Tremontaine«, sagte er trotzig. »Bring mich erst mal dazu!« Trotz der ganzen langen Fechterziehung wurde ich jetzt doch so wütend, dass ich die Beherrschung verlor und ihn ein paar Mal hart ins Gesicht schlug. Mit einer einzigen jähen Bewegung rollte er sich unter mir hervor. Seine Augen blitzten vor Wut. »Du wirst mich nie mehr, nie mehr schlagen! Hast du das verstanden?« »Ist es dir lieber, wenn ich dir den Degen ins Gedärm stoße?«, fauchte ich zurück. Er boxte mich in den Bauch, und ich krümmte mich im frischen Gras zusammen, wo ich keuchend und nach Luft ringend liegen blieb. Als ich wieder aufblickte, saß Marcus auf einem Ast, weit außerhalb meiner Reichweite, schaute lässig auf mich herab und schwang die Beine. »Alles in Ordnung?« Ich hustete und wischte mir die Schmerztränen aus den Augen. »Du kämpfst wie ein Gossenjunge.« »Dafür gibt es einen guten Grund. Und du kämpfst wie ein Mädchen.« »Dafür gibt es auch einen guten Grund.« 170 Marcus hörte auf, mit den Beinen zu baumeln. »Frieden. Kann ich runterkommen?« Ich starrte zu ihm hinauf, wie er sicher und wohl verwahrt auf dem Baum hockte. Aber mein Bauch schmerzte immer noch, und ich hatte einen üblen, bitteren Geschmack im Mund. »Nein«, sagte ich, »ich rate dir davon ab, jedenfalls noch für eine ganze Weile.« »Jetzt siehst du auch noch aus wie er.« »Und du benimmst dich wie er!«, zischte ich wütend. »Du hast vielleicht Nerven, mir das zu sagen, während du mir doch ständig irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf wirfst! Das mache ich nie, ich bin nämlich immer vorsichtig! Keine Ahnung, was plötzlich in dich gefahren ist! Du kannst manchmal ein richtiges Schwein sein, Marcus, und so benimmst du dich jetzt schon seit Wochen. Was habe ich denn getan, dass du mich so behandelst? Sag es mir, dann werde ich mich entschuldigen. Aber ich kann mich nur entschuldigen, wenn du mir sagst, was es ist.«
»Sei nicht blöd«, sagte er affektiert. »Was hättest du denn schon tun können? Die Schuld liegt natürlich bei mir, weil ich dich so geärgert habe, dass du mir wie einer Küchenmagd eine Ohrfeige gegeben hast, und danach habe ich dich höchst unfair in den Bauch geboxt. Du solltest mich eigentlich beim Herzog verpfeifen. Ich muss bestraft werden, entlassen, aus dem Haus gejagt...« »Ach, hör schon auf mit dem dummen Gerede.« Warum wollte er jetzt plötzlich nicht mehr ernst werden? »Das alles ist ihm doch völlig egal. Du bist für ihn die Familie, mehr als ich...« Ich hielt plötzlich die Luft an. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? »Du bist sein Sohn, stimmt's?« Marcus stieß ein spöttisches Heulen aus. »O nein, jetzt fängst auch du damit an! Nein, natürlich bin ich nicht sein Sohn. Er hat mich buchstäblich aus der Gosse freigekauft. Du zahlst doch kein Geld für dein eigenes Fleisch und Blut, oder? 171 Oder warte mal...« Marcus überlegte kurz. »Vielleicht würde er tatsächlich zahlen. Dich hat er ja schließlich auch gekauft.« Damit wollte er mich verletzen, und es gelang ihm vollkommen. Es war, als hätte ich einen Stich ins Herz bekommen. »Glaubst du etwa, dass ich nichts davon wüsste? Ich war dabei, als er sich mit seinen Rechtsanwälten beriet. Ich war dabei, als ihm der Gedanke mit deinem Vertrag kam«, quälte er mich unerbittlich weiter. »Ich bin immer dabei, also höre ich auch alles. Ich hörte ihm zu, als er all diese Briefe an deine Mutter schrieb. Ich hörte, wie sehr sie das Geld brauchte ...« Ich hob einen kleinen Stein auf, und meine Hand verkrampfte sich darum. »Wahrscheinlich wusste ich über den ganzen Handel längst Bescheid, bevor sie es dir erzählten. Der ganze Haushalt wusste Bescheid. Arthur Ghent schrieb schließlich all diese Briefe. Wir wussten längst alles über dich, bevor du hier ankamst.« Ich hielt den Stein so fest umklammert, dass seine scharfen Kanten in meine Handfläche schnitten, aber ich ließ mir nichts anmerken. »Er hat mich nicht gekauft«, sagte ich, »so war es nicht.« »Wie dann? Du glaubst, weil ihr vom selben Blut seid, würde er sich mehr um dich kümmern? Er hat für uns beide gutes Geld gezahlt, aber wenigstens mache ich mich dafür nützlich. Du bist für ihn nichts weiter als ein hübsches kleines Spielzeug.« »Und du bist nicht mehr mein Freund.« Der Schmerz war echt, ich spürte ihn in meiner Kehle, in meiner Brust, und er war so stark, dass ich kaum noch ein Wort hervorbrachte. »Ich dachte, du wärst mein Freund, aber ich habe mich getäuscht.« Ich warf den Stein in den Fischteich. »Ich weiß nicht einmal, was du eigentlich bist, Marcus.« Ich drehte mich um und machte mich auf den Rückweg zum Haus. »Nein, warte!« Er kletterte so schnell vom Baum herab, dass er seine Jacke zerriss. »Oh, verdammt! Kit, warte doch!« 171 Als er mich eingeholt hatte, berührte er mich an der Schulter und zog dann so hastig die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Ich ging weiter. »Bleib doch wenigstens mal stehen und schau mich an!« Ich achtete nicht auf ihn. »Katie, bitte, hör mir zu! Ich bin manchmal ein wenig unbeherrscht. Das ist schlecht, wirklich schlecht, und ich verliere auch sonst nie die Beherrschung, aber wenn es mal passiert, rede ich irgendwelches Zeug. Ich sage dann alles Mögliche, aber ich meine es nicht so. Ich merke es nicht einmal, wenn es passiert, es sprudelt einfach so aus mir heraus, und nichts davon ist wahr. O Gott, Katie, ich wünschte, ich könnte mir die Zunge herausschneiden, wirklich. Bitte, geh nicht weg. Bitte!« In seinem Tonfall lag etwas Seltsames - nicht nur einfaches Flehen, sondern geradezu panische Angst, als würde er, wenn ich nicht stehen blieb und mich wieder zu ihm umdrehte, nicht mehr weiteratmen können. Und so blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um und blickte ihm in die Augen. Er zerrte verzweifelt an seinen Fingern, als wollte er sie einzeln ausreißen, während weiter die Entschuldigungen aus ihm heraussprudelten. »Ich hab es wirklich nicht so gemeint, was ich gesagt habe, wirklich, alles war gelogen, ich schwöre es! Es war falsch, das zu sagen, und ich weiß, dass ich kein zivilisierter Mensch bin, obwohl ich eine Menge Bücher gelesen habe und viele Wörter kenne, aber am Ende bin ich
nichts, nichts, nichts. Ich bin nur ein nichtsnutziger, abgerissener, billiger Strichjunge, der in hübschen Kleidern steckt und dem sie ein paar gute Manieren beigebracht haben.« Seine Verzweiflung war so echt, dass sie schließlich den Knoten der geschockten Wut in mir löste. Ich begann zu weinen. »Bitte weine nicht, Katie, bitte weine nicht, nur weil ich...« Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Wie konntest du mir nur so etwas ins Gesicht sagen?« 172 »Ich hab es nicht so gemeint, bitte, du darfst mich deshalb nicht hassen...« »Und ich hab gedacht, dass du mich verstehst«, wimmerte ich unglücklich. »Ich dachte, wir beide würden hier zusammenhalten...« »Das tun wir auch, schau nur, wir passen aufeinander auf. Und wir beide haben doch unsere Geheimnisse!« »Das bedeutet nichts, wenn du mir gegenüber nicht aufrichtig bist«, schniefte ich. »Wie kann ich dir jemals wieder vertrauen?« »Aber ich habe deine Geheimnisse nicht verraten, stimmt's? Ich bin ein guter Freund. Ich schnüffle dir nicht nach, ich verpetze dich nicht. Ich weiß, dass du dieses Duell ohne mich geplant hast, ich weiß, dass du ohne mich noch einmal hinter Perry hergeschnüffelt hast, und ich hab nichts gesagt, weil ich wusste, dass du es nicht wolltest.« »Ja, aber...« »Und was ist mit Highcombe? Hab ich dich jemals gefragt, wer dort in Highcombe ist, von dem du mir nichts erzählen willst, und obwohl du doch genau weißt, dass ich es rasend gern wissen möchte, quälst du mich damit.« Etwas in seiner Stimme brachte mich plötzlich zum Lachen. Er machte das alles absichtlich, und in seinem Gesicht lag ein dümmlicher, aber gleichzeitig hoffnungsvoller Ausdruck. »Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages.« »Es ist jemand, den du vermisst, der dir fehlt. Er fehlt euch beiden. Ist es jemand, den du mehr liebst als mich?« »Marcus, du bist doch nicht etwa eifersüchtig?« »Du bist alles, was ich habe«, sagte er leise, »du und er.« Langsam entfaltete er ein makellos gebügeltes Taschentuch. Streckte sehr vorsichtig die Hand aus. Tupfte die Tränen von meinem Gesicht. Ich hielt völlig still, ließ ihn meine Tränen abwischen, was er sehr zärtlich und sehr gründlich tat. »Du weißt, dass ich dich am liebsten habe«, sagte ich. 172 »Wirklich?« »Mehr als alle anderen.« Er reichte mir das Taschentuch. »Putz dir die Nase.« »Vor allem mehr als den Herzog. Du liebst ihn doch auch, oder nicht? Keine Ahnung, wie du ihn die ganze Zeit ertragen kannst.« »Er ist interessant.« »Interessant? Das gilt auch für eine Fledermaus oder ein Gewitter. Aber ich möchte trotzdem nicht mit ihnen leben.« »Er ist klug, und er kann sehr nett sein, wenn er einen mag. Sofern er sich daran erinnert.« Ich schniefte. »Man kann sich nicht auf ihn verlassen.« Marcus schaute mich mit seinen ruhigen braunen Augen an. »Auf mich kannst du dich verlassen.« In diesem Augenblick spürte ich es wieder — die seltsame Wärme dort unten. Sie hatte etwas damit zu tun, dass ich seine Lippen berühren wollte, dass ich wusste, auch er wollte es. Er schaute mich sehr aufmerksam an. Wenn etwas geschehen sollte, würde ich den ersten Schritt tun müssen. Ich berührte seine Lippen ganz vorsichtig mit den Fingern, spürte seinen warmen Atem an den Fingerspitzen. Er stand ganz still, seine Arme hingen herab. Was in diesem Moment hätte geschehen können, kann ich nicht sagen, denn es geschah nicht. Stattdessen hörten wir Schritte: Jemand kam auf dem Kiesweg schnell auf uns zugelaufen, und schon hörten wir Betty rufen: »Lady Katherine!« Wir fuhren auseinander, gerade noch rechtzeitig, denn sie erfasste mich mit einem einzigen Blick und sprudelte heraus: »Und schaut doch nur, wie Ihr wieder ausseht! Von oben bis unten verdreckt, und jetzt habt Ihr nicht einmal genug Zeit, Euer Haar zu waschen. Ich
werde es hochstecken müssen, etwas anderes ist jetzt nicht mehr möglich, und Ihr seid doch jetzt auch noch der Leibfechter des Herzogs, nach allem, was ich gehört habe, aber ich habe keine Ahnung, wann wir das 173 feiern sollen, denn jetzt kommt sie plötzlich, und es herrscht das reinste Durcheinander und es ist völlig unmöglich, dass ich Euch noch rechtzeitig herrichten kann. Und was für eine feine Dame sie doch ist, was wird sie wohl denken, wenn sie sieht, wie wir uns hier um Euch gekümmert haben? Aber Ihr wollt natürlich nur Degenkämpfe austragen und im Park herumtollen.« »Wer, Betty?«, fragte ich, »wer ist gekommen?« »Eure Mutter!« Mir war plötzlich, als würde sich die ganze Welt drehen und als ob der Boden unter meinen Füßen ins Unendliche fiele. »Meine Mutter?« Was hatte sie hier zu suchen? Warum hatte mir niemand etwas davon erzählt? »Macht Euch über Eure Hände keine Gedanken, wir decken das einfach mit einer Schicht Creme zu.« Aber es waren nicht meine Hände, die mir Sorgen machten. »Marcus, ich kann das nicht«, keuchte ich entsetzt. »Ich kann ihr jetzt nicht vor die Augen... Schau doch nur... Ich habe nicht mal richtige Kleider! Oh, sag ihr, sie soll wieder gehen, ich würde ihr schreiben, aber jetzt kann ich nicht.« »Katie, hör auf damit.« Er nahm meine Hände und hielt sie fest. »Sei keine Närrin. Natürlich kannst du das. Geh dich erst mal waschen und zieh ein sauberes Hemd an. Und dann heißt du deine Mutter auf Schloss Tremontaine willkommen. Ich gehe jetzt zu ihr und sage ihr, dass du gleich kommen wirst.« Ich hielt ihn an den Armen fest. »Nein! Nein, ich will nicht, dass sie dich sieht...« »Wird sie auch nicht.« Er lächelte sein seltsames Lächeln und ließ mich zusehen, wie er sich in einen unterwürfigen, gut ausgebildeten, vollkommen selbstbeherrschten Lakaien verwandelte. »Siehst du? Niemand. Niemand ist da.« 173 »Du darfst ihr nicht sagen, dass...«, flüsterte ich eindringlich. Er lächelte ein wenig, aber es war unecht, nur für meine Augen. »Macht Euch keine Sorgen, Lady Katherine. Ich bin ein Meister der Kunst, den Leuten nichts zu erzählen. Und ich bin sehr diskret.« Er verbeugte sich und küsste meine Hand. Es gelang ihm nicht sehr gut, aber ich bewunderte ihn dennoch dafür. Ich reckte die Schultern und lief schnell ins Haus, um mich herzurichten. Ich hatte völlig vergessen, wie schön sie war und wie sehr sie dem Herzog glich. An ihren Schläfen spannte sich die feinste Haut; ihr Haar war sehr einfach frisiert. Sie saß im Spiegelzimmer auf einem mit Samt bezogenen Stuhl am Fenster und blickte auf den Park und den weiter hinten liegenden Fluss hinaus. Ich war sehr leise eingetreten, sodass ich Zeit hatte, sie eine Weile zu betrachten. Seltsam, wie gut sie in diesen Raum passte; sie wirkte überhaupt nicht wie vom Land, sondern nur schlicht und gerade deshalb so elegant. Ein Buch lag geöffnet auf ihrem Schoß, aber sie las nicht darin, sondern blätterte immer weiter, während sie durch das Fenster blickte. »Hallo, Mutter«, sagte ich. Sie wandte sich zu mir um und starrte mich geschockt an. »Es stimmt also!«, sagte sie. »Oh, mein Gott, Katherine, was hat er nur mit dir gemacht?« Sie wartete meine Antwort erst gar nicht ab. Ich spürte, wie mich meine Fechtmeisterhaltung schlagartig verließ; plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, und mir wurde klar, wie seltsam meine Beine in den engen Hosen aussehen mussten. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen. Gregory erzählte mir, dass du in irgendeinen Kampf verwickelt gewesen seiest, und eigentlich wollte ich noch einen Tag warten, aber dann 173 bin ich schon gestern mit höchster Geschwindigkeit hierher gefahren, denn es sind jetzt genau sechs Monate, mein Liebling, sechs lange Monate und ich konnte es keinen Augenblick länger aushalten. Ich wollte dich überraschen...«
»Das ist dir auch gelungen«, sagte ich trocken, »und zwar vollkommen.« Sie lief zu mir und nahm mein Gesicht in beide Hände. »Oh, mein Liebling, ist alles in Ordnung?« Ich versuchte, sie nicht spüren zu lassen, dass ich mich innerlich versteifte und zurückweichen wollte. »Natürlich ist alles in Ordnung, Mutter. Der Kampf dauerte nicht sehr lange. Ich habe gesiegt.« »Oh, Katherine.« Ihre Stimme klang besorgt. »Mein süßes, tapferes kleines Mädchen. Ich kann mir kaum vorstellen, was du durchgemacht hast.« Ich wand mich aus ihrer Umarmung. »War nicht so schlimm, Mutter, wirklich nicht.« »Du brauchst jetzt nicht mehr die Tapfere zu spielen«, sagte sie leise. »Du hast es geschafft, mein Liebling, du hast uns gerettet.« Ich blickte zu Boden, denn ich spürte, dass mir vor Freude das Blut ins Gesicht stieg. Dieser Ton gefiel mir schon besser. Als sie erneut die Arme ausstreckte, ließ ich mich umarmen und atmete den Lavendelduft unseres Gartens ein. Sie führte mich zu ihrem Stuhl, und ich setzte mich auf einen Zipfel ihres Rocks, meinem Lieblingsplatz, an dem ich mich stets sicher gefühlt hatte. »Dein Haar ist dichter geworden«, stellte sie fest und strich darüber. »Meine Zofe wäscht es mit irgendeinem besonderen Mittel«, erklärte ich. »Du hast eine eigene Zofe? Oh, Kitty!« »Und ein großes Zimmer mit Blick auf den Fluss und einen Samtmantel mit hübschen goldenen Quasten und - oh, Mutter! Wohnst du bei Gregory? Ich möchte dir mein Zim 174 mer zeigen. Du kannst bei mir schlafen, wenn du willst, das Bett ist riesig.« »Langsam, Kitty, darüber reden wir später. Im Moment haben wir wichtigere Dinge zu besprechen.« »Was für Dinge?« Sie lachte und tätschelte mir wie einem Schoßhündchen den Rücken. »Geh erst mal nach oben und lass dir von deiner Zofe in deine netten Kleider helfen. Und dann könntest du uns beiden Erfrischungen bringen lassen, wenn du magst.« »Ich... soll ich uns jetzt sofort etwas bestellen?« »Was ist denn los, mein Liebling?« »Nichts. Es ist nur. . . Im Moment habe ich keine große Lust, mich umzuziehen.« »Ich dachte nur, dass du mir vielleicht eines deiner hübschen neuen Kleider zeigen möchtest?« »Vielleicht später.« Ich wollte den Augenblick so lange wie möglich hinausschieben, bis sie entdeckte, wie ich im Haus des Herzogs wirklich lebte. Sie würde darüber nicht sehr erfreut sein, das war mir klar. Aber ich wollte, dass sie wenigstens jetzt glücklich war. »Erzähle mir erst einmal, wie es dir geht. Ist dein Zahnweh wieder verschwunden? Wie geht es den Jungen? Hat Annie schon ihren Seemann geheiratet? Hat die uralte Eiche den Winter überlebt? Was hat Seb dieses Jahr auf dem Südanger angebaut?« »Das alles wirst du doch bald schon selber sehen, nicht wahr?«, sagte sie schelmisch. »Werde ich das?« »Aber natürlich, mein Liebling! Allerdings nicht sofort, denn ich dachte, ich könnte noch ein wenig in der Stadt bleiben und ein paar Einkäufe erledigen. Du möchtest doch sicherlich nicht mit einer Mutter gesehen werden, die wie ein dummes altes Landei aussieht, oder? Und ich möchte gern noch einmal eine Ballsaison erleben, auch wenn es schon 174 ein wenig spät ist.« Sie lachte. »Es macht dir doch nichts aus, wenn wir noch ein paar Wochen hier bleiben?« »Natürlich nicht, Mutter«, sagte ich automatisch. Sie drückte meine Schulter. »Ich wusste doch, dass du es verstehen würdest, Katherine, du hast immer alles verstanden. Außerdem haben wir es doch nicht eilig, nicht wahr?« »Vermutlich nicht. Ich meine, solange Sebastian zuhause ohne dich zurechtkommt. Außerdem hast du Gregory seit undenklichen Zeiten nicht mehr gesehen. Wird er mich auch besuchen kommen?« »Ich glaube nicht, Liebling, er und dein Onkel gehen sich Heber aus dem Weg.« »Oh.« Das überraschte mich nicht.
»Jedenfalls spielt es auch gar keine Rolle. Greg wird mich schon eine Zeit lang aushalten, und wenn sich die Stadt dann für die Sommerpause leert, können wir drei zusammen nach Hause zurückfahren.« In meinem Magen verkrampfte sich etwas. »Nach Hause?« »Ja, mein Liebling.« »Aber mein Onkel. . . der Vertrag. . . muss ich denn nicht mehr hier bleiben?« Sie warf die Hände in die Luft, genau wie der Herzog. »Er mag eine Menge Geld haben, aber er hält sich für schlauer, als er ist. Ich habe neue Rechtsanwälte, sie sind besser als die früheren. Sie haben mir erklärt, dass es absolut keinen Grund gibt, dass du hier bleiben musst. Wir haben ihm sechs Monate versprochen, die er bekommen hat.« Den Vertrag hatte ich nie gelesen, aber ich hatte beobachtet, dass meine Mutter ihre Anwälte schneller wechselte als ihre Hemden, wenn sie aus irgendwelchen unklugen Verträgen herauskommen wollte. Ich fragte mich, was wohl dieses Mal die Wahrheit sein mochte. Außerdem wunderte ich mich, warum es mir bis zu diesem Moment nie in den Sinn gekommen war, Arthur Ghent einfach zu bitten, den 175 Vertrag mit mir durchzulesen, damit ich darüber Bescheid wusste. »Denk doch nur, du wirst all die vielen kleinen Entchen wiedersehen und die Lämmer! Es hat dir doch immer so viel Spaß gemacht, ihnen Namen zu geben und Fergus zu helfen, sie großzuziehen.« »Natürlich, Mama.« Die Lämmer hatte ich vollkommen vergessen, die Lämmer und die Leinentücher und den Geruch der Einreibemittel und all das. Es kam mir so vor, als wäre das alles hundert Jahre her oder als hätte ich es in einem Buch gelesen. Mochte ich Lämmer? Aber natürlich. Lämmer waren lieb. Warum klopfte dann mein Herz so wild, als wäre ich mitten in einem Fechtkampf? Ich holte tief Luft. »Im Moment noch nicht, wie du selbst gesagt hast. Du möchtest doch erst noch die Stadt sehen.« »Genau das habe ich von meinem Liebling erwartet.« Sie umarmte mich. Ich hatte davon geträumt, von ihr umarmt zu werden, aber jetzt hatte ich das Gefühl, eingeengt zu werden. »Ich wusste doch, dass ich mich immer auf dich verlassen kann.« Sie lächelte mich liebevoll an. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön jetzt alles werden wird, nachdem wir unser Geld zurückbekommen haben. Sämtliche Gelder, die nicht freigegeben werden durften, während er einen Streit nach dem anderen vom Zaun brach, werden mir nun mit Zinsen zurückgezahlt, und es ist eine ganze Menge, viel mehr, als ich erwartet hatte, und ich habe vor, einen Teil davon auszugeben. Außerdem will ich eine Kutsche haben und neue Vorhänge für die Schlafzimmer habe ich auch schon bestellt, und alle möglichen wunderbaren Stoffe und Porzellan.« Wie immer verschwendete sie keinen Gedanken an die praktischen Dinge. »Was ist mit dem Dach?«, unterbrach ich sie. »Ach so, ja, ein neues Dach natürlich auch und Bücher für den armen Sebastian und mehr Küchenmädchen, damit der 175 Koch nicht doch noch kündigt. Es wird alles so schön sein, viel schöner als früher, du wirst schon sehen! Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie viel Geld es war! Und das alles haben wir dir zu verdanken, meiner tapferen heldenhaften Tochter, die geradewegs in die Höhle des Ungeheuers marschierte, ohne auch nur einen Augenblick lang an sich selbst zu denken, und die dann diesen Schatz für uns herausholte!« Wieder eine Umarmung. »Ich habe vor, dir das Beste von allem zu geben: hübsche Kleider, edle Möbel und eine eigene Näherin, damit du nie mehr deine Kleider selbst ausbessern musst. Und eines Tages kannst du sogar deine eigene Saison haben, wenn du willst, mit Bällen und Kleidern und Blumen und allem.« Der Musikabend bei den Godwins kam mir in den Sinn, die Mädchen mit ihren hellen Kleidern und ich mittendrin mit Degen und in Männerhosen. Wie ich vor Artemisia stand und Lord Ferris, den Kreiskanzler, zum Duell herausforderte. »Ach, lass nur«, sagte ich, »daran liegt mir nicht mehr so viel, denke ich.« »Aber willst du denn nicht so sein wie all die anderen Mädchen hier in der Stadt?«, fragte sie besorgt. »Eigentlich nicht.«
»Oh, Katherine.« Sie seufzte tief auf vor Bewunderung — oder vielleicht war es auch Erleichterung. »Was würde ich nur ohne dich tun?« Ich wickelte sanft eines ihrer Haarbänder um meinen Finger und zupfte ein wenig daran, während ich begierig auf die Antwort meiner Frage wartete: »Aber du bist doch auch ohne mich zurechtgekommen, nicht wahr? Grade so vielleicht, aber du hast es dann doch ganz allein geschafft, sechs Monate lang?« »Nun ja, ich bin gerade so zurechtgekommen. Und natürlich war mir Sebastian eine große Hilfe im Haus, als er endlich zu schmollen aufhörte. Ich denke, er wollte, dass der Her 176 zog ihn zu sich hätte rufen sollen und nicht dich. Der Herzog ist der Schirmherr der Universität, und du weißt doch, wie sehr Seb die Bücher liebt.« »Vielleicht kann er hier in der Stadt ein Studium beginnen, wenn wir erst einmal alles geregelt haben.« Zwischen ihren Augenbrauen erschien eine kleine steile Falte. »O nein! Niemand weiß mehr über die Landwirtschaft als Seb. Ich hätte keine Ahnung, was wir anpflanzen sollen oder wie ich herausfinden könnte, ob uns die Pächter betrügen.« Sebastian war mit weitem Abstand mein Lieblingsbruder. Ich fragte mich, ob der Herzog auch ihn mögen würde. Vielleicht könnte er ihm sogar dabei helfen, einen Aufseher für unsere Ländereien zu finden, sodass Seb auf die Universität gegen könnte. »Ich würde Seb so gern wiedersehen! Vielleicht kann er mich begleiten, wenn ich im Herbst wieder hierher in die Stadt reise?« Die steile Falte vertiefte sich. »Aber warum möchtest du denn so bald schon hierher zurückkommen?« »Hierher?« Ich starrte sie verblüfft an. »Nun. . . ich. . . ich habe hier eben ein paar Dinge zu erledigen.« »Was für Dinge, Katherine?« »Nun ja, Freunde besuchen und so. Und natürlich meinen Fechtunterricht fortsetzen. Und, na ja, andere Sachen eben.« »Katherine Samantha«, seufzte meine Mutter, »du hast offenbar nicht auf das aufgepasst, was ich dir erklärt habe. Du kommst mit mir nach Hause, und das alles hier kannst du dann endgültig hinter dir lassen.« »Was? Nein. Ich meine, nein, das ist unmöglich.« »Meine liebe kleine Heldin. Natürlich muss es dir so erscheinen, nachdem du hier so lange von diesem Irren eingesperrt wurdest und niemanden hattest, an den du dich wenden konntest, um Rat zu suchen. Hör mir genau zu.« Sie beugte sich vor. »Du kannst immer noch ein normales Leben führen. 176 Niemand wird dich für das hier verantwortlich machen. Alle wissen, dass mein Bruder verrückt ist. Gregory sagt, kein anständiger Mensch will ihn noch besuchen oder ihn zu sich einladen. Es ist nicht deine Schuld, dass er dich in aller Öffentlichkeit in diesem Aufzug herumlaufen lässt« — sie deutete auf mein Jackett und meine Hose — »und dich dann auch noch in diesen furchtbaren Kampf bei den Godwins treibt.« Wenigstens hatte ihr Gregory nichts über den Schurkenball erzählt. Oder vielleicht hatte er davon keine Ahnung. »Nun, nach einer Weile werden sie das wieder vergessen haben, wenn wir Gras darüber wachsen lassen. Das Beste, was wir tun können«, erklärte sie mit übertriebener Geduld, »ist, dich wieder in dein normales Leben zurückzuführen, verstehst du? Nur so lange, bis die Leute diese ganze Sache vergessen haben. Ein Jahr oder so sollte eigentlich reichen.« »Und was dann?« »Nun, dann...«, sagte sie leichthin, »wenn du eines Tages beschließt, dass du ohne mich zurechtkommst — denn ich selber bin sicher, dass ich niemals ohne dich zurechtkommen werde —, nun, dann können wir vielleicht für dich einen netten jungen Mann zum Heiraten finden, und ihr könnt dann...« Ich konnte es ihr nicht sagen. Nicht direkt ins Gesicht und schon gar nicht, wenn meine Brust so eingeschnürt schien, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich stand auf, ging zur gegenüberliegenden Wand, stellte mich unter das Porträt der Dame in Grau und hielt mich am Marmorsims des Kamins fest.
»Das kann ich nicht«, sagte ich. »Nichts von all dem, was du gesagt hast, Mutter. Es tut mir leid, aber es ist zu spät.« »Aber das versuche ich dir doch zu sagen! Es ist nicht zu spät! Wir können dich immer noch retten.« »Ihr braucht mich nicht zu retten.« Meine Mutter wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger. Das hatte ich schon hunderte Male an ihr beobachtet. Es 177 war mir immer so lieb erschienen, aber jetzt kam es mir nur noch einfältig vor. »Katherine, hör auf damit. Du benimmst dich nicht gerade wie eine Erwachsene. Es gibt noch eine Menge Dinge, von denen du keine Ahnung hast. Gregory gehört schon eine ganze Weile zur Gesellschaft in der Stadt, und er kennt sie sehr viel besser als du. Und er ist völlig meiner Meinung, dass es das Beste ist, wenn du dieses Irrenhaus so schnell wie möglich verlässt. Ich habe schon alles geplant. Du wirst einen ruhigen Sommer zuhause erleben, und dann kannst du neu beginnen, als hätte es diese Sache hier niemals gegeben.« »Aber es hat diese Sache ge...«, begann ich, doch dann brach ich ab. Der eigenen Mutter konnte man solche Dinge nicht erklären. »Du kannst nicht auf ewig im Haus deines Onkels leben und die Degenfechterin spielen, verkleidet wie eine Zirkusgauklerin«, fuhr sie fort. Wenn sie in dieser Stimmung war, konnte man nicht dagegen ankommen. Wenn sie nur einen Augenblick lang schweigen würde, damit ich nachdenken konnte! Aber sie ratterte weiter, und ihre Stimme wurde immer schriller. »Du hast jetzt vielleicht deinen Spaß, aber mein Bruder ist völlig irre. Wenn er deiner überdrüssig wird, wirst du auf der Straße landen, und dann wirst du nach Hause gelaufen kommen, aber der Schaden wird schon angerichtet sein. Und was willst du dann tun? Beantworte mir mal diese Frage.« Welchen Schaden konnte ich wohl erleiden, der nicht schon längst angerichtet war? Mir fiel ein, was Marcus gesagt hatte: »Er hat auch dich gekauft.« Wenn mich mein Onkel gekauft hatte, dann musste mich meine Mutter wohl an ihn verkauft haben. »Wir müssen an deine Zukunft denken, Katherine. Du weißt, dass ich nur das Beste für dich will.« »Daran hättest du denken sollen, bevor du mich hierher geschickt hast.« Die Worte waren heraus, ehe ich sie aufhalten konnte. 177 Ich öffnete schon den Mund, um mich zu entschuldigen und zurückzunehmen, was ich gesagt hatte, aber meine Mutter war ganz still geworden. Sie stand nur da und schaute mich an wie eine Fremde, wie jemand, den sie nicht liebte und nicht einmal besonders mochte. »Du wirst tun, was ich dir sage«, befahl sie mir. »Pack deine Sachen. Wir gehen.« »Nein, Mutter, bitte! Wenn du nur einfach. . . « »Katherine«, sagte sie, und ihre Stimme schwang vor unterdrückter Wut, »mach jetzt bloß keine Szene.« Sie hob ein seidenes Kissen hoch, dicht bestickt mit exotischen Vögeln mit langen Schwanzfedern, und begann, mit ihren Fingernägeln an den Stickfäden zu zupfen. »Dieser Unfug muss endlich aufhören. Wir müssen an deine Zukunft denken.« »Ich kann nicht«, sagte ich unglücklich, während ich die bunten Seidenfäden aus ihren Händen fallen sah, die herabschwebten, an ihrem Kleid hängen blieben und schließlich zu Boden fielen. »Ich würde, wenn ich könnte, ehrlich, Mutter, aber jetzt gerade kann ich nicht.« Ihre Nägel bohrten sich in den Kissenbezug. »Du bist eigentlich nie eigensüchtig gewesen. Willst du denn Schande über unsere ganze Familie bringen? Was soll ich ohne dich nur tun? Ich schaffe das alles nicht alleine!« Die Tür wurde mit leisem Geräusch geöffnet. Der Herzog von Tremontaine trat ins Zimmer, zum Ausgehen gekleidet und offenbar kaum nüchterner, als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er schaute erst mich an, dann seine Schwester. Er blinzelte. »Hallo, Janine«, sagte er. »Willkommen in Tremontaine.« Meine Mutter schaute ihrem Bruder in die Augen. Er war größer als sie, aber ihre Augen blitzten wütend. »Meine Tochter!«, sagte sie. »Du hast meine Tochter ruiniert!« Mein Onkel antwortete verblüfft: »Ruiniert? Ich habe sie nie angerührt!« 177 »Das brauchtest du auch nicht. Schau nur, was du ihr angetan hast!«
»Sie scheint mir völlig in Ordnung zu sein. Geht es dir gut, Katherine?« Ich presste meinen Rücken an die Wand, als könnte ich mit ihr verschmelzen, und gab keine Antwort. Ich wusste, was jetzt kommen musste, auch wenn er offenbar keine Ahnung hatte. Er näherte sich meiner Mutter um einen Schritt. »Deiner Tochter geht es gut. Meinem Kissen hingegen geht es gar nicht gut, das hast du nun wirklich ruiniert.« »Was kümmert es dich?«, fauchte sie und riss weiter Fäden aus dem Stoff. »Du hast noch genug davon. Du hast hier alles, was es auf der Welt gibt, nicht wahr? Schau doch nur dieses Schloss an! Und schau deine Kleidung an. Ich kann mir nicht mal vorstellen, was deine Kleider gekostet haben mögen!« »Ich auch nicht, deshalb lasse ich meine Kleider auf Rechnung liefern.« »Das soll wohl witzig sein? Du hast alles, alles, alles - Geld, Juwelen, Land, der Himmel weiß was noch, und trotzdem hast du nie genug. Du hast alles, was du willst, und noch viel mehr. Und nun willst du nur auch noch mein Kind wegnehmen!« Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, wenn ich alles aus ihrem Weg räumte, aber das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Außerdem hatte sie Recht: Er konnte jederzeit alles neu kaufen. »Lächerlich«, antwortete der Herzog mit schwacher Stimme. »Wirklich?«, zischte meine Mutter. »Ist es wirklich lächerlich?« »Janine, hör endlich auf, dich wie die irre Hexe in einer Schmierenkomödie aufzuführen.« Sie griff nach einer gravierten Glasvase und zückte sie wie einen Dolch. »Janine, hör mir zu und sei vernünftig. Und stell bitte die Vase wieder hin.« 178 »Warum sollte ich vernünftig sein? Warst du jemals vernünftig? Hast du dich für sehr vernünftig gehalten, als du damals abgehauen bist und unsere Chancen bei Großmutter völlig ruiniert hast? Als wir dich für tot hielten? Du hast mich im Stich gelassen. Ich musste allein mit Mutter fertig werden, obwohl du genau wusstest, was das heißt.« »Ich habe dich im Stich gelassen? Ich?« Plötzlich schien sich etwas in ihm zu verändern, wie bei einem Degenfechter, der glaubt, es handle sich nur um ein Übungsgefecht und plötzlich feststellt, dass die Degenspitze seines Gegners keinen Schutz trägt. Sein Gesicht war kreideweiß, und seine Hände wirkten nicht mehr elegant, als er sie sinnlos öffnete und schloss. »Du bist gegangen, Janine! Ich habe auf dich gewartet. Erinnerst du dich nicht mehr? Du sagtest, du würdest lieber weglaufen, als diesen alten Narren zu heiraten. Und ich sagte: Also gut, in Ordnung, wir laufen zusammen weg, ich lasse mir nicht meine Schwester auf diese Weise wegnehmen. Wir treffen uns im Obstgarten, habe ich dir gesagt, im Obstgarten, Janine, nicht in der gottverdammten Kapelle!« Noch nie hatte ich ihn so brüllen gehört. Sie starrte ihn an, völlig gebannt, noch blasser als er, und die Blässe hatte sogar ihre Lippen erreicht, als ob seine Worte ihr alles Blut raubten. Er trat noch einen Schritt auf sie zu, und sie rührte sich nicht. »Was um alles in der Welt hatte ich die ganze Nacht lang frierend im Obstgarten zu suchen, mit einem Beutel Verpflegung und zwei Umhängen, während du dich eifrig in dein Hochzeitskleid schnüren ließest?« Meine Mutter schüttelte nur stumm den Kopf. Ich entdeckte, dass ich mir die Hand auf den Mund presste, während ich zuhörte, nichts als nur zuhörte. Das Problem war: Ich konnte es klar und deutlich vor mir sehen, viel zu klar, viel zu deutlich. »Ich verpasste das wichtigste Ereignis«, fuhr er trocken fort und klang jetzt wieder ein wenig wie er selbst. »Natürlich 178 bekam ich Probleme, weil ich die Hochzeit meiner Schwester verpasst hatte. Mutter sperrte mich in die . . . « — einen Augenblick lang schien es ihm an Wörtern zu fehlen, schien ihm die geschmeidige, grausame Wortwahl zu entfliehen, doch dann holte er tief Luft und gewann wieder die Oberhand — » . . . s i e ließ mich in die Vorratskammer sperren, erinnerst du dich noch? Aber natürlich erinnerst du dich noch, du wurdest ja selbst dort eingesperrt, nicht lange davor. Ich wurde nicht ausgepeitscht, sondern nur eingesperrt, um mir Manieren beizubringen. Es war sehr eng dort drin, denn inzwischen war ich zu groß dafür geworden, aber es spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle, denn du würdest nicht mehr zurückkommen.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Das alles wusste ich nicht. Ich dachte, du seiest wütend auf mich und deshalb weggegangen. Ich wollte kommen, aber ich hatte solche Angst vor ihnen.« »Ich hätte dir geholfen!« »Nein, du hättest mir nicht helfen können.« Als sie das sagte, zuckte er zurück, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. »Du hättest mir nicht helfen können. Du hättest gar nichts tun können. Du hättest sie genauso wenig daran hindern können, mich mit ihm zu verheiraten, wie du es verhindern konntest, dass sie dich einsperrten, Davey. Das war mir damals schon klar.« Sie versuchte, ihn zu berühren, aber er wandte sich ab. »Das ist schon so lange her«, sagte sie, »aber ich habe das Richtige getan.« »Du hast getan, was sie dir sagten. Und was hast du damit erreicht?« »Ich hatte einen Mann«, antwortete sie. »Ich habe meine Kinder. Ich tat meine Pflicht.« »Du hättest kämpfen sollen«, knurrte er, »du hättest dich hinstellen und kämpfen sollen!«
179 Oh, hör schon auf!, wollte ich schreien, Mutter kämpft doch nie, nicht so, wie du denkst. Hört endlich auf, bevor noch etwas passiert. Aber ich hatte Angst, mich zwischen sie zu stellen. »Jetzt bist du aber ungerecht. Unsere Eltern meinten es nur gut. Sie wollten immer nur unser Bestes.« Er blickte sie mit ungespielter Überraschung an. »Nein, das wollten sie nicht. Wir wurden von den Bediensteten aufgezogen. Weißt du es nicht mehr? Vater kümmerte sich nur um seine Karten. Mutter kümmerte sich um die Kapelle und stritt sich ständig mit ihrer eigenen Mutter, der furchtbaren Herzogin Tremontaine, die übrigens, wie ich dir mitteilen darf, ein richtiges Goldstück war.« »Woher hätte ich das wissen sollen? Ich habe sie nie kennen gelernt. Sie sei nicht an mir interessiert, sagte Mutter immer.« »Mutter wollte gar nicht abwarten, um das herauszufinden, nicht wahr? Sie hatte es furchtbar eilig, dich mit dem meist-bietenden Kürbisbauer zu verheiraten. Ich hätte dich mit in die Stadt genommen. . . « »Nein, Davey. Sie versuchte es wirklich. Als Charles um meine Hand anhielt, schrieb Mutter an die Herzogin und fragte sie, ob sie mich nicht ordentlich in die Gesellschaft einführen wolle, damit ich eine bessere Partie machen könne. Aber die Herzogin schrieb zurück, nein, sie sei nicht interessiert. Deshalb nahm Mutter Charles' Antrag an.« Mein Onkel starrte sie fassungslos an. »Aber doch nur, um ihr eins auszuwischen! Sie verheiratete dich mit diesem Idioten, um ihrer eigenen Mutter eins auszuwischen!« »Charles war kein Idiot. Er war ein wohlhabender Landedelmann und stammte aus einer angesehenen Familie. Im Grunde hatte ich großes Glück. Und Glück hatten auch Vater und Mutter, weil ich immer in der Nähe lebte und mich um sie kümmern konnte.« »Hör schon auf!«, tobte er. »Hör auf zu lügen Wie kannst
179 du das alles nur behaupten! Du, du. . . du warst. . . o Gott! Du, Janine! Du warst immer so reinen Herzens. Du hast mir das Leben gerettet, du hast mich in den Armen gehalten, du hast mir Geschichten erzählt, wenn es für mich wirklich schlimm wurde. Du hast ganze Länder erfunden, in denen wir beide uns verstecken konnten, hast dir Pferde ausgedacht, die uns in diese Länder trugen. Kannst du dich nicht mehr an Sturmwolke und Seefeuer erinnern?« Meine Mutter hatte die Hände in die Falten ihres Kleides verkrallt; sie gab keine Antwort. Er drehte ihr den Rücken zu, goss sich ein Glas Branntwein ein. »Du warst stark und aufrichtig. Ich wollte immer so sein wie du.« Er kippte den Branntwein hinunter. »Ich weiß, dass du dich gegen sie gewehrt hast. Du hast es nur vergessen, das ist alles. Ich war nicht dabei, ich war im Obstgarten. Aber du hast es versucht, ich weiß es, ich erinnere mich, selbst wenn du es nicht mehr weißt. Und danach — alles, was ich tat, tat ich nur, um das zu rächen, was sie dir angetan hatten. Alles.« »Und dazu gehörte auch, dass du versucht hast, mich und meine Familie zu ruinieren?« Er drehte sich langsam zu ihr um und schaute sie resigniert an. »Du hättest dich an mich wenden können. Du hättest mir schreiben oder selbst zu mir kommen können.«
Sie wandte sich ihm mit derselben Geste zu, die er zuvor gemacht hatte — die Hände ausgestreckt, die sich ohne Sinn öffneten und schlossen. »Du weißt, warum ich nicht kommen konnte.« »Ich weiß es jetzt«, sagte er grob. »Weil du alles vergessen hast. Du hast deine bequemen Lügen wie eine neue Haut übergestreift. Du bist jetzt genau wie alle anderen. Geh weg! Ich will dich nicht mehr in meinem Haus sehen!« »Nein!« Ich hörte meine Stimme, die die grausame Stille zerschmetterte. Dieses Mal war ich nicht schnell genug. Hätte ich aber sein sollen. Hatte ich es schon vergessen? Ich hätte
180 es bemerken sollen, als sie einen kurzen Blick auf die Vase warf, die sie in der Hand hielt, hätte wie der Blitz an ihrer Seite auftauchen, ihr die Vase aus der Hand nehmen sollen, bevor sie sie an der Tischkante zertrümmerte und die Scherben so fest gepackt hielt, dass Blut zwischen ihren Fingern hervordrang. »Oh!« Der Herzog sog heftig den Atem ein, nicht geschockt, sondern so, als hätte er sich plötzlich an etwas erinnert. Sie ließ die Scherben auf den Teppich fallen, öffnete die Hand und zeigte ihm das Blut. »Das ist die Wahrheit«, sagte sie, »ich weiß, dass das die Wahrheit ist, weißt du es auch?« »Oh, ja«, antwortete er, »das habe ich auch immer gemacht.« Er nahm ihre Hand und begutachtete die Wunden. »Nicht sehr tief.« Sie ließ es zu, dass er sein großes weißes Taschentuch eng um ihre Hand band, um die Blutung zu stillen. »Aber jetzt habe ich noch etwas Besseres für dich. Ich will es dir zeigen. Willst du es sehen?« Sie starrte ihn wie gebannt an. Er durchquerte den Raum, trat vor einen Wandschrank und zog einen Schlüssel aus der Tasche. Ich wusste, was er dort aufbewahrte. »Das dürft Ihr meiner Mutter nicht geben!« »Du wirst schon sehen, dass ich es kann«, sagte er gelassen und nahm die kleinen Fläschchen mit dem kostbaren Inhalt heraus. »Oder vielmehr wirst du es nicht sehen.« Ich schrie: »Stellt es sofort weg!« »Sprich nicht in diesem Ton mit deinem Onkel!«, mahnte mich meine Mutter. »Er wird sonst glauben, ich hätte dich nicht gut erzogen.« »Geh schon, Katherine«, sagte mein Onkel, »deine Mutter und ich haben eine Menge zu besprechen.« Ich rannte die Treppen hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und schloss sie ab. Vielleicht konnte ihn Marcus davon abhalten, aber er hatte den Herzog noch nie von irgendetwas ab
180 gehalten, und ich wollte auch nicht, dass Marcus meine Mutter in diesem Zustand zu sehen bekam. Außerdem wollte ich Marcus um nichts bitten müssen, nicht nach den Ereignissen im Park. Ich stieg ins Bett und zog heftig die Vorhänge an ihren Bangen zu, dann zerrte ich die Decke über den Kopf. Famihengeheimnisse — ich hatte sie immer wissen wollen. Nun, jetzt kannte ich sie. Mein Onkel hasste meine Mutter keineswegs. Und er war schon immer wütend auf alle, nicht nur auf uns. Er wusste nicht, dass sie immer noch wunderbare Geschichten erzählen konnte, dass sie sich manchmal in den Obstgarten schlich, um Apfel von den Bäumen zu stibitzen, während sie eigentlich die Silberlöffel zählen sollte. Er wusste nicht, dass meine Eltern gemeinsam einen neuen Garten geplant hatten und dass sie die ganze Nacht wach blieben, als ich krank war. Vielleicht erzählte sie es ihm jetzt. Wenn sie noch bei ihm war. Wenn sie überhaupt noch reden konnten. Die Nacht fiel. Ich wickelte mich wieder aus der Decke, lag steif und still und starrte auf den dunklen Baldachin über mir. Heute hatte ich einen Mann verwundet, meinen besten Freund geschlagen und ihn fast geküsst. Ich hatte meine Mutter zum ersten Mal nach einem halben Jahr wiedergesehen und mich ihrem Willen widersetzt. Drei Kämpfe an einem einzigen Tag, und nur einen davon hatte ich sicher gewonnen, den einzigen, bei dem es feste Regeln gab. Erst an diesem Morgen hatte ich meinen Degen für das Duell frisch poliert und mir klar gemacht, dass ich, was immer heute auch passieren würde, die Ehre meiner Freundin Artemisia wiederhergestellt hätte. Ich hatte einen echten Degenfechter herausgefordert, der weder dumm noch betrunken gewesen war, und hatte ihn überwunden. Vielleicht wollte
meine Familie nichts über den Kampf wissen, aber der halbe Adel der Stadt war Zeuge gewesen. Die Leute würden über mich reden, und mein Name würde bekannt wer
181 den. Ich hatte ihn laut und deutlich genug ausgesprochen, sodass es alle hatten hören können. Vielleicht würde ich richtig in Mode kommen, die Leute würden mich zu Abendgesellschaften einladen und würden alle Einzelheiten wissen wollen. Im Kopf ging ich sämtliche Aktionen des Duells noch einmal durch. Es fiel mir schwerer, als ich gedacht hatte, aber ich wollte sie mir einprägen, für den Fall, dass mich jemand endlich danach fragen würde. Es war dunkel, als ich aufwachte. Betty hatte meine Tür aufgeschlossen. Ich hörte das Klappern, als sie Milch auf dem Herd für mich wärmte. »Wo ist der Herzog?«, wollte ich wissen, und sie sagte: »Ausgegangen.« »Und wo ist meine Mutter?« »Sie ist auch weg, mit ihm gegangen. Macht Euch darüber jetzt keine Gedanken, meine Heldin, es spielt keine Rolle. Entspannt Euch.« Sie goss ein wenig Whiskey in die Milch, rührte darin und reichte mir die Tasse. Ich trank, während sie ein paar Eimer warmes Wasser in meinen Zuber schüttete. Sie badete mich; sie wusch, trocknete und flocht mein Haar, wobei sie immerzu säuselte: »Meine Heldin, meine großartige Fechterin, Ihr seid so . . . Ihr seid so . . . « Ich roch Whiskey in ihrem Atem, aber es war mir egal. Ich saß in der Wanne und weinte und ließ mich abtrocknen und wieder ins Bett bringen. Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Im Haus regte sich noch kaum jemand. Der Herzog würde erst in ein paar Stunden aufstehen. Marcus mochte schon wach sein, aber ich war noch nicht soweit, ihn zu sehen. Erst musste ich mit meinem Onkel sprechen. Ich zog lockere Kleider an, ging zum Nasses-Kaninchen-Zimmer und übte voller Wut und sehr lange. Als ich den Auf
181 rühr hörte, der normalerweise bedeutete, dass der Herzog aufgewacht war und nach allen möglichen Dingen verlangte, ging ich in mein Zimmer, um meine Übungskleider abzulegen. Ich hatte Zeit; es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis er so weit hergestellt war, dass man mit ihm sprechen konnte. Um die Mittagszeit fand ich den Herzog von Tremontaine beim Frühstück im Morgenzimmer. »Wo ist meine Mutter?«, verlangte ich zu wissen. Er blickte mich fragend an. »Willst du mich etwa beschuldigen, dass ich sie ruiniert hätte? Bitte tu es nicht. Und sprich nicht mit mir in diesem Ton, ich dachte, du seiest anständig erzogen worden.« Ich lachte nicht. »Wo ist sie?« »Woher soll ich das wissen? Sie weinte sehr lange. Wir redeten miteinander. Wir verschlangen acht ganze Tafeln Schokolade und tranken den Rest des Branntweins. Wir redeten bis Mitternacht, bis es Zeit für mich wurde, zu Blackwoods zu gehen. Sie verlor Geld beim Kartenspiel. Sie spielt nämlich ziemlich schlecht, deine Mutter.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Ist sie nach Hause zurückgefahren?« »Sie ist bei deinem Bruder. Deinem achtbaren Bruder, der in der Sankt-Patrick-Straße wohnt. Keine Ahnung, was sie als Nächstes zu tun gedenkt; ich vermute, sie weiß es ebenfalls nicht. Du kannst ihr ja schreiben und sie fragen.« Dann fügte er hinzu: »Du weißt, es steht dir jetzt natürlich frei, mit jedem zu korrespondieren. Woran sie mich auch mehr als nur einmal erinnert hat. Diese Frau kann keinen Alkohol vertragen, keinen Tropfen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, wird sie dir recht oft schreiben. Ich bin sicher, dass du bald alles von ihr erfährst.« Er war offenbar in einer ziemlich absonderlichen Stimmung.
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»Und pack deine Sachen. Wir gehen nach Riverside zurück, bis dieses Haus hier wirklich richtig bewohnbar ist.« »Ich bleibe«, verkündete ich. »Hier? Auf dem Hügel? Allein?« »Ich meine, ich bleibe bei Euch.« »Nun, natürlich bleibst du bei mir. Reich mir mal die Marmelade rüber.«
Ich hätte ihm am liebsten ein Stück Toast an den Kopf geworfen. »Was ist mit mir? Wart Ihr so damit beschäftigt, meine Mutter zu verderben, dass Ihr völlig vergessen habt, warum sie überhaupt hierher kam? Habt Ihr sie betrunken gemacht, damit Ihr mit ihr nicht über meine Zukunft zu reden braucht?« »Deine Zukunft liegt völlig in deinen eigenen Händen.« Die Marmelade stand in seiner Reichweite, wenn er sich nur die Mühe machte, sich ein wenig vorzubeugen. »Na, und wer wird für mich sorgen?« »Bitte schrei nicht so.« »Ich schreie nicht. Meine Mutter glaubt, Ihr würdet mich hinauswerfen, wenn Ihr meiner überdrüssig werdet, müsst Ihr wissen. Sie denkt, Ihr habt mich in ein abartiges Wesen verwandelt, das niemand mehr heiraten würde.« Er unterbrach mich nicht, sondern biss knackend in das Toastbrot. Ich hatte genug. »Denkt Ihr überhaupt jemals über mich wie über eine Verwandte, oder bin ich für Euch nur ein billiges Groschenmädchen vom Gossenstrich mit hübschen Kleidern und einem Degen?« Jetzt endlich schenkte er mir seine Aufmerksamkeit, aber nicht so, wie ich es gewünscht hatte. Er legte den halb gegessenen Toast auf den Teller und starrte mich eisig an. »Wo hast du denn diesen Ausdruck her, bitteschön?« So ähnlich hatte sich Marcus gestern selbst bezeichnet, aber das durfte ich ihm natürlich nicht verraten. »Weiß nicht.« »Aber du weißt, was er bedeutet?« Eingeschüchtert antwortete ich wie ein Schulmädchen im 182 Unterricht: »Eine Gosse ist ein Abwassergraben zwischen den Häusern, und ein Strich. . . ein Strich ist eben eine Art Linie, würde ich mal vermuten. . . « »Vermute nur weiter«, sagte er trocken. »Aber diesen Ausdruck will ich von dir nie mehr hören.« Ich starrte ihn wütend an. »Ihr seid nicht meine Mutter!« »Sie würde auch nicht wissen, was der Ausdruck bedeutet. Aber wenn du ihn vor jemandem benutzt, der ihn kennt, wird er dir entweder eine Ohrfeige geben oder dich auslachen. So, jetzt bist du gewarnt.« Er klatschte noch mehr Marmelade auf den halb gegessenen kalten Toast. »Ich denke, wenn Janine unvernünftig ist, werde ich dir wohl etwas bieten müssen, weil du mir sonst bis in alle Ewigkeit auf die Nerven gehen wirst. Ein Gehalt, ein Stück Land oder so etwas. Mach mir einen Vorschlag. Das wird dir guttun, weil du so den Wert des Geldes kennen lernst und begreifst, wie das alles funktioniert. Komm wieder zu mir, wenn du eine Idee hast, dann können wir verhandeln. D u wirst dabei eine Menge lernen.« »Ich werde sehr viel verlangen«, erklärte ich entschlossen, und er sagte: »In Ordnung.« »Übrigens«, fügte ich hinzu, »kenne ich jetzt alle Eure Namen.« »Was?«, fragte er durch eine Mund voll Toast. »Am ersten Tag, als ich hier ankam. . . Ihr könnt Euch nicht mehr daran erinnern, stimmt's?« »Natürlich erinnere ich mich an den Tag, als du hier ankamst. Bitte läute nach mehr Toast. Hast du überhaupt schon etwas gegessen? Gut. Und hast du heute schon Marcus gesehen? Er kommt mir heute ein wenig seltsam vor.« Ich hatte Marcus noch nicht gesehen, denn ich wollte erst meinem Onkel gegenübertreten, bevor sonst noch etwas geschah. Jetzt ging ich nach oben, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Marcus benahm sich tatsächlich ausgesprochen seltsam. 182 Ich fand ihn in seinem Zimmer; er war bereits mit Packen beschäftigt. Jedes Hemd faltete er äußerst sorgfältig, sodass die Nähte immer genau aufeinanderlagen wie eine gefaltete Landkarte. »Dein Mutter ist sehr hübsch«, sagte er, während er weiterfaltete. »Was hat sie zu dir gesagt?« »Nichts. Ich spiele den Lakaien absolut überzeugend.« »Nun. . . hm, danke.« Es machte mich wütend, wie er da ständig seine Hemden faltete und mir nicht ins Gesicht blicken wollte. »Marcus! Bist du etwa noch böse auf mich?« »Nein.«
»Dann sag mir bitte sofort, was dich stört, bevor ich dir dieses Hemd aus der Hand reiße!« Er legte das Hemd hin und schaute mich direkt an. »Du reist ab?«, fragte er. Sein Gesicht war kreideweiß — ich konnte ein paar Bartstoppeln sehen. Wusste gar nicht, dass er sich rasierte. »Nein. Sie will, dass ich mit ihr zurückfahre, aber ich habe nein gesagt.« »Oh.« Er hob das Hemd hoch, legte es wieder hin. »Oh.« »Warum machst du das überhaupt? Ich wette, Fleming würde für dich packen, wenn du ihn darum bittest.« »Ich mag es nicht, wenn andere Leute meine Sachen anfassen.« »Und was ist mit mir?«, bot ich an. »Ich wette, wir wären in kürzester Zeit fertig, wenn du mich helfen lässt.« Marcus lächelte milde. »Katie. Was führst du jetzt wieder im Schild?« »Ich denke nur. . . « Und so war es auch. Ich brauchte meinen Freund jetzt; was gestern gewesen war, musste ich hinter uns bringen, wir mussten dorthin zurückkehren, wo wir vorher gewesen waren, zusammen, verbunden durch unsere kleinen Boshaftigkeiten und unser gemeinsames Anliegen. »Der 183 Herzog ist immer noch im Morgenmantel und isst Toast«, erklärte ich. »Er braucht noch ein paar Stunden. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir noch einen kleinen Ausflug zu Teresa Greys Haus, bevor wir nach Riverside abreisen. Das heißt, wenn es dich überhaupt noch interessiert, was sie vielleicht vorhat.« »Gib mir mal die Bürsten rüber«, sagte Marcus. Wir verließen das Haus, während sich der Herzog von seinem Diener rasieren ließ und ständig seine Meinung über die Kleider änderte, die er heute tragen wollte, und liefen zusammen den Hügel hinunter zu dem Haus, in dem Lucius Perrys geheimnisvolle Dame wohnte.
Kapitel 4
Lucius Perrys Geliebte war offensichtlich verrückt geworden. Fasziniert starrten wir durch die Büsche hinüber zu den Fenstern, hinter denen Teresa Grey hin und her lief, über die gesamte Breite des Raumes, wobei sie mit den Händen herumfuchtelte und brüllte. Wir konnten zwar nicht verstehen, was sie schrie, aber es waren offenbar ziemlich schlimme Wörter, die sie benutzte. Plötzlich sprang sie hoch, drehte sich in der Luft, fiel zu Boden, sprang wieder auf und rannte zum Tisch, wo sie einen Federkiel in das Tintenfass tauchte und wie wild zu schreiben begann. Marcus schubste mich mit dem Ellbogen an und grinste. Ihr Haar war völlig durcheinander, und auf ihrer Nase prangte ein großer Tintenfleck, den sie gedankenlos überall auf der Haut verschmiert hatte. »Liebesbrief?«, formte ich geräuschlos mit den Lippen, aber er schüttelte den Kopf. »Warten wir erst mal ab.« Und wir warteten es ab. Sie stand wieder auf und begann wieder von vorn, lief zurück zum Tisch, griff nach der Feder und schrieb, dann richtete sie sich auf, drehte uns den Rücken zu und schrie etwas. Sie musste wohl Lucius Perry gerufen haben, denn er erschien sofort, so frisch wie ein Maiglöckchen und offenbar sehr froh, dass sie ihn gerufen hatte. Sie begann mit denselben Bewegungen, die sie zuvor vorgeführt hatte, doch mit dem Unterschied, dass er nun ebenfalls gestikulierte und redete, sodass sie nicht mehr so irre wirkte, und dann kam mir plötz 183
lich die Erleuchtung. Sie spielten eine Szene durch, die irgendeinen Streit darstellte: zuerst ein Wortgefecht, dann ein Handgemenge, das damit endete, dass Teresa Grey zu Boden stürzte. Lucius half ihr wieder auf die Beine, dann beugte er sich tief über ihre Schulter und schaute zu, wie sie schrieb. Er deutete auf das Papier, worauf sie lachte und ein paar Wörter abänderte. Unser Lucius wirkte sehr jung: In diesem Moment versuchte er nicht, irgendetwas zu sein - er hatte einfach Spaß. Sie schüttete Löschsand über die feuchte Tintenschrift, blies ihn weg, hob ein Blatt hoch und begann den Text vorzulesen. Sie hob die Stimme, sodass sie bis zu uns drang, obwohl
wir die einzelnen Wörter nicht verstehen konnten. Wir lagen im Gebüsch und wanden uns vor frustrierter Neugierde. Wenn wir nur nahe genug ans Fenster schleichen könnten, um zu hören, was sie sagte! Wir sahen die beiden durch die hohen Doppelfenster, auf deren beiden Seiten Vorhänge herabhingen — es kam uns so vor, als säßen wir mit verstopften Ohren im Theater. »Ein Roman!«, murmelte Marcus. »Einer dieser furchtbaren Wälzer, die Mädchen so gern lesen?« Teresa Grey verneigte sich, und Lucius Perry applaudierte. Aber ich wusste jetzt Bescheid. »Ein Theaterstück«, sagte ich. »Sie schreibt Theaterstücke.« Lucius legte die Arme um sie, und das Papier flatterte zu Boden. Sie erwiderte seine Umarmung höchst bereitwillig und gefühlvoll. Oh, wie er sie hielt, wie er ihr Haar berührte! Wie sie lächelte und ihr Kinn hob, um seinen Kuss an ihrem zarten Hals zu empfangen! Meine Fingernägel gruben sich tief in meine Handflächen. Wie sie die Hände tief auf seinem Rücken öffnete und spreizte, wie er sich bewegte, um noch enger bei ihr zu sein. Ich wagte einen verstohlenen Blick zu Marcus hinüber. Sah auch er, was ich sah? Wie zwei Menschen zusammen sein konnten, wie sie sich berührten, wie sie Freunde sein und
184 ohne Furcht glücklich sein konnten! Was wäre, wenn er über sie lachte oder sich ekelte? Oder vielleicht nahm er die Szene ganz anders wahr? Aber Marcus beobachtete die beiden mit enormer Konzentration, als sähe er hier etwas zum ersten Mal und müsste sich größte Mühe geben zu begreifen, was er sah, etwa irgendein mathematisches Problem oder eine bestimmte Abfolge von Zügen beim Shesh, wobei er aber keineswegs sicher war, ob er die Sache richtig verstanden hatte. »Wenn es ein Schauspiel ist«, sagte er, »hat es hoffentlich ein glückliches Ende.« Ich war ein wenig näher an ihn herangerückt, ohne es selbst zu merken, aber jetzt rückte ich wieder von ihm weg. »Komm schon«, sagte ich, »wir sollten nicht zu spät nach Hause kommen.« Wir machten uns nicht die Mühe, heimlich, still und leise über die Mauer zu steigen. Sie würden uns ohnehin nicht hören. Artemisia Fitz-Levi war nun wieder frei und konnte jeden heiraten, der sie noch haben wollte. Allerdings stand es ihr nicht frei, aus dem Haus zu gehen. Sie beschäftigte sich neuerdings mit feinen Handarbeiten. Das gab ihren Händen eine Beschäftigung, sodass sie sie nicht benutzen konnte, um ihrer Mutter die Augen auszukratzen oder, was ihr noch mehr Spaß gemacht hätte, ihr die Zunge auszureißen. Stattdessen konzentrierte sie ihre Rachegelüste auf die winzigen Stick- oder Häkelnadeln und erzeugte ganze Stapel ausgesprochen schlampig ausgeführter Häkeldeckchen und Spitzenbordüren unterschiedlicher Größe. »Zumindest benimmt sich Lord Ferris wie ein Gentleman«, erklärte Lady Fitz-Levi zum wiederholten Male. Artemisia trieb mit der Sticknadel ein weiteres Loch in den Stoff. Wenigstens war das eine Abwechslung gegenüber dem
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gestrigen Refrain von »Na also, nun hast du erreicht, was du wolltest, bist du jetzt zufrieden?«, oder dem vorgestrigen schrillen Kreischen von »Du bist zerstört, entehrt, deine so genannte Freundin hat dich endgültig ruiniert!« »Ein echter Gentleman hätte mir gestattet, selbst die Verlobung zu beenden.« »Damit du nicht wie ein verschmähtes Mauerblümchen ausgesehen hättest? O nein, Lord Ferris benimmt sich genau so, wie er sollte. Obwohl ich wünschte, er hätte nach dieser abscheulichen Herausforderung noch eine kleine Weile gewartet, damit die Leute gar nicht erst auf den Gedanken gekommen wären, die beiden Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. Solange er aber weiterhin bestes Benehmen zeigt und niemandem zu der Vermutung Anlass gibt, dass du die Schuldige warst...« »Aber Mutter, ich habe das Duell gewonnen! Das beweist, dass es nicht meine Schuld war!« »Pst, Liebling. Wir wissen das doch, aber du musst begreifen, dass es niemand sonst wissen darf, das verstehst du doch, nicht wahr? Sonst würden sie diese... andere Sache herausfinden, und das wollen wir doch nicht, oder? Oh, Artemisia, wir müssen tun, was wir können, um dich wieder auf die Beine zu bringen! Vielleicht eine neue Gefährtin. Eine
ruhige, gesetzte Person. Meine Cousine Lettice heiratete einen Trunkenbold, sie hatte ja noch nie viel Verstand, und jetzt, als Witwe, ist sie ein wenig knapp bei Kasse, vielleicht wäre sie gewillt, deine Anstandsdame zu werden?« »Ist mir egal.« Ihre Mutter betrachtete sie aufmerksam. »Nein, ich glaube, Lettice würde nicht mit dir fertig werden. Es gibt eigentlich nur eine Lösung. Du brauchst einen neuen Verehrer, und zwar schnell.« »Was?« »Ja, natürlich, Liebling. Das ist der einzige Weg, um jeden
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Verdacht zu zerstreuen: Die Sache muss so aussehen, als hättest du dich in jemand anderen verhebt und als ob Ferris dich deshalb freundlicherweise wieder freigegeben hätte. Nun, wen unter all den jungen Schonungen magst du am zweitliebsten?« »Keinen.« Artemisia stieß mit inzwischen recht geübten Fingern die Nadel durch den Stoff. »Ich will überhaupt nie heiraten.« »Das schwebt dir also vor: eine entehrte alte Jungfer zu werden? Das ist kein Leben für dich, meine Liebe, glaube mir das.« Ihre Mutter betrachtete sie erneut aufmerksam und fiel plötzlich wieder in sanftere Stimmung. Selbst schmollend und widerspenstig bot Artemisia einen hübschen Anblick, wie sie in ihrem niedrigen Sessel beim Fenster saß, mit dunkel glänzenden Locken, den schlanken Nacken anmutig über ihre Stickarbeit gebeugt. »Du magst lebhafte Menschen um dich und hübsche Dinge. Du magst es, in Gesellschaft zu sein, und die Gesellschaft wird dich auch wieder lieben, wenn wir erst einmal wieder ein wenig Gras über die Sache haben wachsen lassen. Die Frage ist aber Wer von denen, die es wert sind, ist noch zu haben? Jemand eher in deinem Alter, denke ich, meine Liebe, damit ihr euer gemeinsames Leben möglichst lange genießen könnt.« Artemisia schauderte. »Wirklich schade, dass Terence Monteith schon vergeben ist. Er war einfach verrückt nach dir, nicht wahr?« »Er ist einfach ein Langweiler.« »Ja, da ist was dran. Trotzdem, er wirkt irgendwie so sicher und verlässlich. So wenig ungewöhnlich.« »Der will mich jetzt nicht mehr.« »Meinst du wirklich?« Ihre Mutter blickte sie mit gehobenen Augenbrauen an. »Ich weiß zufällig, dass er dich auf der Stelle schnappen würde. Aber dazu müsste er erst wieder mit Lady Eugenia brechen. Und das würde einen Skandal bedeuten, und ich meine, wir haben in dieser Saison bereits genug davon gehabt. Und was ist mit Gregory Talbert?«
185 »Du hast neulich doch selbst gesagt, er komme nicht infrage.« »Aber jetzt ist seine Mutter in die Stadt gekommen und gibt eine Menge Geld für neue Kleider aus und kauft Möbel für ihren Landsitz. Er ist nicht mehr so ungeeignet, wie er vor kurzem noch war. Und außerdem ist er noch zu haben.« »Träum weiter, Mama. Tatsache ist doch, ich bin Ware aus zweiter Hand.« »Sei keine Närrin, Kind. Niemand weiß von diesem unglücklichen Zwischenfall, und solange sich Lord Ferris weiterhin wie ein Gentleman benimmt, muss auch niemand davon erfahren, zumal die Sache keine ... hm, unangenehmen Folgen nach sich gezogen hat. Diskretion, gute Erziehung und, nun ja, ein vernünftiges Angebot unsererseits, das wir natürlich unterbreiten würden. Deine Mitgift wäre weiterhin so hoch wie für Lord Ferris oder vielleicht sogar noch höher. Er wird das natürlich erfahren und die Sache bis an sein Lebensende bereuen.« »Möge es bald kommen«, murmelte Artemisia. Ihre Mutter überging die Bemerkung geflissentlich. »Viele der besten Familien sind geradezu überlastet mit zweiten, dritten oder vierten Söhnen, die kein nennenswertes Erbe zu erwarten haben. Sie alle wären höchst erfreut über eine solche Partie. In der Tat — oh!« Lady Fitz-Levi lächelte plötzlich. »Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen? Dabei ist es doch so naheliegend, und ihr seid ja auch schon seit Geburt die allerbesten Freunde!« »Ich werde wohl kaum meinen Bruder heiraten können«, bemerkte Artemisia spitz. »Nein! Ich dachte eher an deinen Vetter Lucius.«
»Lucius Perry«, sagte Artemisia leise. Ja, natürlich! Er kannte die Umstände längst, schließlich hatte er sie nach dem Schurkenball nach Hause begleitet und niemandem auch nur ein
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Sterbenswörtchen verraten. »Aber ich dachte, er hätte sich irgendwie ... entehrt?« »Nun, meine Liebe...« Ihre Mutter erwog die Situation und beschloss, dass es Zeit war, aufrichtig zu sein. »Die Wahrheit ist, als Lucius damals zum ersten Mal in die Stadt kam, war er noch sehr jung und hat sich mit den falschen Leuten eingelassen. Er erregte damals ziemlich viel Aufsehen, und deine Tante und dein Onkel waren entsetzt.« Artemisia erinnerte sich, wie Lucius eines Tages in ihrem Zimmer am Fenster gesessen und gesagt hatte: »Immer dieselbe alte Geschichte: Junge kommt in die Stadt, schlägt ein wenig über die Stränge, Familie erfährt davon, und schon gibt's Krach.« Hatte er damit sich selbst gemeint? »Aber er ist ein braver Junge, verstehst du. Als er schließlich merkte, wie viel Schaden er seiner Familie und sich selbst zufügen könnte, versprach er, dass er sich bessern würde. Und ich denke, auch du wirst zugeben, dass er sich seither mustergültig verhält. Lucius Perry kann nicht einmal der Hauch eines Skandals zur Last gelegt werden.« »Nein«, antwortete Artemisia nachdenklich, »er wird ja von den Leuten kaum noch wahrgenommen. Er wirkt immer schläfrig, ist immer still und verspätet sich stets.« »Aber damit schadet er niemandem. Er ist ein gut aussehender Junge mit netten Manieren. Außerdem mag er dich sehr. Ich denke, ich sollte wirklich gleich meiner Schwester schreiben und sie fragen, ob wir das nicht arrangieren können.« »Darf ich dann wenigstens ins Theater gehen?« Sie stellte die Frage eigentlich nur, um ihre Mutter zu ärgern, denn sie kannte die Antwort längst. Und wie zu erwarten, stürzte sich ihre Mutter sofort in ihr übliches Lamento: »Glaube bloß nicht, ich wüsste nicht, welchen Unsinn dieses Buch in deinen Kopf gepflanzt hat! >Fabian!< Dass ich nicht lache! Als ich und meine Freundinnen 186 es damals lasen, wussten wir genau, dass er ein Ungeheuer ist, ein Verführer, ein Hochstapler. Wir alle waren der Meinung, dass Tyrian zweimal so viel wert ist wie er. Helena Nevilleson hatte sogar vor, ihren Erstgeborenen Tyrian zu nennen, aber ihr Mann wollte nichts davon wissen. Diesen ganzen Schmalz auf die Bühne zu bringen, und auch noch ausgerechnet mit einer Schauspielerin wie der Schwarzen Rose, das ist schon...« »Alle Mädchen außer mir haben es schon gesehen«, bettelte sie. »Na ja«, sagte ihre Mutter, »vielleicht solltest du ja wirklich hingehen, wenn ich es mir recht überlege. Wir wollen schließlich nicht, dass du von der Bildfläche verschwindest, nicht wahr? Warum gehen wir nächste Woche nicht alle zusammen hin und laden deinen Cousin Lucius ein, sich uns anzuschließen?« Der Herzog von Tremontaine war in seine Residenz in Riverside zurückgekehrt. Die Schwarze Rose besuchte ihn dort nicht gerne, denn sie mochte das Haus auf dem Hügel lieber, aber da sie nun einmal ein Geschenk von beträchtlichem Wert von ihm angenommen und ihre Bindung an ihren letzten Beschützer gelöst hatte, glaubte sie nicht, im Hinblick auf die Örtlichkeit allzu wählerisch sein zu dürfen, an der ihr neues Arrangement vollzogen würde. »Punktgewinn für Euch«, sagte sie, »für Euch und Eure kleine Nichte.« »Wovon zum Teufel redet Ihr?« Der Herzog sog den Pfeifenrauch tief in seine Lunge. »Bitte vergebt mir, aber ich war zutiefst in familiäre Angelegenheiten verwickelt. Im Hinblick auf das Stadtgespräch bin ich nicht auf dem Laufenden.« »Das Stadtgespräch ist, wie Ihr sehr genau wisst, dass Eure Nichte Katherine den Kreiskanzler Anthony Deverin herausforderte und im Duell besiegte, was aber Ferris offenbar nicht
186 im Geringsten störte. Und da niemand die Siegerehre einforderte, steht es jedem frei zu raten, worin die Beleidigung eigentlich bestand und gegen wen sie sich richtete. Aber sämtliche Wetten lauten natürlich auf Euch, im Namen von jemandem, den Ferris beleidigt haben könnte. Oh Alec«, flüsterte sie und wand sich geschmeidig um seine Glieder, »darf ich zu hoffen wagen, dass das Duell in meinem Namen aus-gefochten wurde?«
»Ihr könnt hoffen, was Ihr wollt«, gab er zurück, »nur war's nicht so.« Sie lachte. »Wenn Ihr nicht so völlig nutzlos wäret, mein Herzog, würde ich mich spätestens jetzt in Euch verlieben. Ihr seid der einzige Mensch, der mir die Wahrheit sagt.« »Es war eigentlich Katherines Idee. Fragt sie doch, wenn Ihr wollt. Sie ist irgendwo im Haus. Ich hielt es für das Beste, sie für eine Weile hier in Riverside zu lassen. Auf dem Hügel ist es im Moment zu betriebsam.« »Ja, Ihr habt Recht. Für sie ist es hier viel sicherer, falls der liebe Tony etwas unternehmen sollte. Er gehört nicht zu den Menschen, die eine Schmähung leicht vergeben können, wie ich selbst erfahren musste.« Er bot ihr die Pfeife an, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht. Solltet Ihr eigentlich auch nicht.« »Warum nicht? Rauchen entspannt mich.« »Ihr solltet auf der Hut sein«, warnte sie. »Ihr habt Euch mit Lord Ferris einen echten Feind gemacht.« »Das habe ich schon getan, bevor Ihr auf der Welt wart.« Er legte seine warme Hand auf ihren Schenkel, und sie sah keinen Anlass, seiner Altersberechnung zu widersprechen. »Küsst mich«, sagte er affektiert, »ich spüre meine Knie nicht mehr.«
Kapitel 5
Anthony Deverin, Lord Ferris, war bereit, eine Menge Unannehmlichkeiten hinzunehmen, ja sogar Beleidigungen zu schlucken. Jemandem zu vergeben fiel ihm jedoch schwer. Die Schuld an seiner verhinderten Hochzeit wies er klar und eindeutig zu: nicht etwa dem dämlichen Clan der Fitz-Levis oder deren aufgeblasener Tochter, sondern seinem alten und lästigsten Feind, dem Herzog von Tremontaine. Ferris wollte unbedingt die Ursache für das Duell in Erfahrung bringen: War es lediglich einer spontanen Laune zuzuschreiben, eine Gelegenheit etwa, ihm Scherereien zu machen oder vor aller Welt mit der jüngsten Exzentrikerin der Familie zu prahlen? Oder war es mehr als das, nämlich der Eröffnungszug eines Meisterplans mit dem Ziel, ihn endgültig zu Fall zu bringen? Er konnte es kaum erwarten, die Antwort herauszufinden. Er musste zuerst zuschlagen und dafür sorgen, dass Tremontaine klar wurde, dass auch er, Ferris, nicht ohne Ressourcen dastand. Ferris zog gewisse Erkundigungen ein und wurde nicht enttäuscht; wenn überhaupt, war er eher überrascht, auf wie vielen Seiten der junge Campion sich ungeschützte Blößen gab. Ihn anzugreifen war ungefähr so, als würde man mit Pfeilen auf einen an einer Stange festgebundenen Paradiesvogel schießen. Nur eine Frage blieb offen: St.Vier. Aber Ferris hatte ja eben erst angefangen. Es begann recht unschuldig, zunächst sogar ein bisschen ungeschickt und mit wenig Raffinesse, nichts Ungewöhn
187 liches in einer Stadt, in der die Drucker immer alles druckten, was dem Geschmack der Einwohnerschaft entsprach — einer Einwohnerschaft, die sich ganz gern im Glanz des Adels sonnte, die aber auch nichts dagegen hatte, wenn die Adligen ab und zu ein wenig gedemütigt und bloßgestellt wurden. Nun war eben wieder einmal der Herzog von Tremontaine an der Reihe, auf einem besonderen Flugblatt verunglimpft zu werden. Aber statt wie in früheren Fällen einen Lustknaben oder einen mit überdimensionaler Männlichkeit ausgestatteten Degenfechter abzubilden, war der Partner des Herzogs dieses Mal eine ungeheuer fette Frau, deren Kleidung, soweit sie überhaupt noch zu erkennen war, sich aus einer Mischung von Bäuerinnentracht und Händlerinnenkleidung zusammensetzte. Allerdings waren ihre Röcke hoch über ihren Kopf geschoben, während seine Hoheit darunter herumkroch und dabei ausrief: Sehet die Bewegung der Gestirne!, während sie nach oben deutete und antwortete: Nein, Ihr seid ein Narr: Sie stehen immer noch dort oben! % Die Dienstboten des Herzogs in Riverside House, von den Küchenjungen bis zu den Privatsekretären, waren alles andere als amüsiert. Was innerhalb dieser Mauern vor sich ging, war Privatangelegenheit und ging nur die Familie an. Die hochnäsigen Bediensteten im Tremontaine House auf dem Hügel mochten sich am Geschwätz in der ganzen Stadt rege beteiligen, aber hier in Riverside verhielt es sich völlig anders. Das hässliche Mathematikmädchen des Herzogs derart vor der ganzen Stadt in den Schmutz zu ziehen,
war völlig falsch. Jemand musste zu viel geredet haben und dabei an den falschen Zuhörer geraten sein. »Wer immer das war, fliegt auf die Straße«, versicherte der Herzog Flavia. »Ihr seid ein Narr«, antwortete sie rein gewohnheitsmäßig. Der Hässlichen Dame war überhaupt nicht bewusst, dass der gesamte Haushalt ihretwegen von einer Welle des Mitgefühls
188 überwältigt wurde. Sie war in ihrem Leben auf wenig Anteilnahme gestoßen und rechnete schon lange nicht mehr damit. »Das könnte jeder gewesen sein, vielleicht hat einer Eurer Gelehrten in einer Kneipe zu viel getrunken und eine witzige Bemerkung fallen gelassen, die dann irgendein Druckerlehrling aufschnappte. Mehr braucht man dazu nicht.« »Gut, dann werde ich eben dafür sorgen, dass jemand den Drucker verprügelt, wenn es Euch so sehr zusetzt.« »Spielt doch jetzt bloß nicht den Idioten.« Das zweite Flugblatt enthielt noch stärkere Beleidigungen: Berechnungen auf einer Schiefertafel, niedergeschrieben von einer mastschweinähnlichen Person, deren fleischige Hand den prallen Hammer des Herzogs umklammerte. »Und sie können nicht mal richtig rechnen!«, jammerte sie und wedelte mit dem Flugblatt. Er lachte. »Habt Ihr von diesen Leuten etwas anderes erwartet?« »Ja, verdammt noch mal. Das zumindest sind sie mir schuldig.« Erneut sagte er: »Ich kann sie zwingen, damit aufzuhören, wenn es Euch so sehr verletzt.« Ungerührt schaute sie ihren Freund an. »Wie wollt Ihr sie dazu bringen aufzuhören? Würdet Ihr wirklich ein paar Schläger auf die Drucker hetzen? Oder auf den Künstler?« »Warum denn nicht?«, sagte er leichthin, aber es war ihm klar, dass das nicht stimmte. Die unausgesprochene Beschuldigung trug er selbst vor: »Wäre jedenfalls nichts völlig Neues. Karleigh machte es, als sie seine Mutter ins Visier nahmen. Davenant ist dafür bekannt, dass er sich nie über andere lustig macht. In einer Stadt, in der der größte Teil des Vermögens von einigen wenigen Leuten kontrolliert wird, werden bestimmte Dinge immer wieder mal übersehen, vor allem, wenn es darum geht, das Privileg geltend zu machen.« »Wagt es bloß nicht.« Sie stand steif und aufrecht vor ihm
188 und hielt das neueste Flugblatt mit beiden Händen vor sich wie eine Deklamation. »Nun, ich kann ja nicht ein paar Kaufleuten eine Herausforderung vor die Füße werfen, so schade das auch sein mag.« »Ihr verdammter Scheinheiliger, wagt es bloß nicht!« Der Herzog lief ein-, zweimal in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Mit dem Rücken zu ihr gewandt, blieb er plötzlich stehen und sagte: »Flavia. Ich bin der Herzog von Riverside. Ich baue hier alles auf und sorge recht ordentlich für Frieden und auch dafür, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht überhand nehmen. Falls Ihr glaubt, dass das alles immer nur auf völlig zivile und rechtmäßige Weise erreicht werden konnte, dann steckt Ihr wohl ständig den Kopf in den Sand.« »Ich habe es immer genossen, den Kopf in den Sand zu stecken. Für einen Kopf ist Sand ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Ich habe es genossen: die Bücher, das warme Kaminfeuer, die Unterhaltung. Aber Ihr habt Recht, wenn Ihr mich nun daraus hervorruft. Ihr habt Recht.« Sie nahm ein paar Bücher und betrachtete die Buchrückenschilder. »Die hier gehören mir, nicht wahr? Ihr habt sie mir wirklich geschenkt?« »Legt sie wieder hin«, befahl er. »Spielt nicht die Idiotin. Unsere Theorien sind noch nicht widerlegt. Wir sehen beide sehr klar, und wir wissen, was richtig ist. Selbst wenn es nicht immer möglich ist, genau danach zu handeln: Haltet Ihr es nicht auch für wichtig, dass man die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen kann?« »Es ist doch nicht Eure Schuld!«, rief sie. »Ich bin ja keine vollkommene Idiotin. Ich weiß, was Ihr am besten tun könnt. Ich war nur so dumm zu glauben, ich könnte...« Sie zuckte mit den Schultern und wischte sich mit dem Handgelenk die Nase, da sie beide Hände voller Bücher hatte. »Ich dachte, ich sei hier in Sicherheit.« »Das seid Ihr auch.« Zum ersten Mal berührte er sie, legte
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seine Hand auf ihren Arm. »Sicher vor allem, nur nicht vor Papier und Druckerschwärze. Bitte. Legt die Bücher wieder hin.« »Papier und Druckerschwärze.« Sie presste die Bücher an ihren üppigen Busen. »Sie bedeuten nichts, Alec. Aber mir bedeuten sie so ziemlich alles auf der Welt: die Verkörperung von Gedanken, des Denkens überhaupt — von freiem und offenem Denken. Von Versuch und Irrtum. All das eben.« »Ich weiß. Aber...« »Ihr habt alles andere, was Euch wichtig ist: Eure Dichtung, Eure Rauschmittel, Eure hübschen Knaben und Eure modischen Kleider. Das hier braucht Ihr nicht. Aber ich.« Mit ungewöhnlich viel Geduld sagte er: »Glaubt Ihr denn, dass, wenn Ihr mein Haus verlasst, alles plötzlich wieder in Ordnung kommen wird?« Und als sie nicht sofort antwortete, fügte er hitziger hinzu: »Und wohin wollt Ihr denn zurückkehren? In ein unbeheiztes Zimmer in der Universität mit einer einzigen warmen Mahlzeit in der Woche, wo Ihr Studenten unterrichtet, die zu dumm und zu faul sind, um den Vorlesungen folgen zu können, die von Lehrern gehalten werden, welche nicht einmal halb sc viel Verstand besitzen wie Ihr? Wollt Ihr wirklich dafür mein Haus verlassen?« »Eure Patronage«, berichtigte ihn die Hässliche Dame. »Ich verlasse Eure Patronage. Versteht Ihr denn nicht? Ich mag es nicht, wenn man mich schief ansieht. Ich mag es nicht, wenn man über mich redet. Und ich mag eigentlich auch keine Kompromisse.« »Und ich mag nicht zulassen, dass sie Euch von mir und aus meinem Haus vertreiben. Das scheint mir, nun, irgendwie feige.« »Ist es auch. Aber ich habe eben meine Grenzen. Recht clever von ihnen, dass sie das herausgefunden haben. Wer sind >sie< denn überhaupt?«
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»Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Herzog. »Ich frage mich nur, wen ich in letzter Zeit beleidigt haben könnte?« »Alle. Ihr beleidigt immer alle.« »Geht nicht weg«, bat er sie. »Es würde ihnen nur Genugtuung verschaffen.« »Das ist der einzige Grund, der mich zurückhalten könnte, aber nur beinahe. Nein, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.« »Kommt nächste Woche zum Abendessen«, drängte er sie. »Ridley und seine Bande wollen über den Blutkreislauf debattieren. Vielleicht demonstriert er seine Thesen wieder an einem Brathähnchen.« »Nein. Ich werde für eine Weile verschwinden, solange ich kann, jedenfalls; an der Universität kümmert das ohnehin niemanden. Und diese Dinnergesellschaften habe ich nie wirklich gemocht. Habt Ihr das nie bemerkt? Das Beste war immer, wenn Ihr mir später davon erzählt habt.« »Dann also zum Frühstück am Morgen danach?« »Aber wartet nicht auf mich.« Sie ließ die zerknitterte Bettdecke auf dem Boden liegen. Und sie ließ eine furchtbar große Leere in der Bibliothek des Herzogs, in seinem Arbeitszimmer, in seinen Tagen und Nächten zurück. Aber am Ende bekam er sie wieder, auch wenn er sie niemals wieder zurückbekam. Bevor das Jahr zu Ende war, konnte sich die ehrwürdige, verknöcherte alte Universität plötzlich des ersten Mathematik-Lehrstuhls für Frauen rühmen. Der Lehrstuhl wurde mit der einzigen vorhandenen und geeigneten Kandidatin besetzt, einer großen und hässlichen Frau von unbestimmbarem Alter, die über ihren unförmigen Kleidern einen voluminösen schwarzen Gelehrtentalar trug und deren Vorlesungen von einer Mischung aus Strenge und trockenem Humor gekennzeichnet waren, die sie im Laufe der Zeit ungeheuer populär werden ließ.
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Artemisia Fitz-Levi wurde persönlich Zeugin des zweiten Schlags, den Lord Ferris gegen den Herzog ausführte. Sie beobachtete die Sache von einer Loge im Theater aus, wo sie sich in Gesellschaft ihrer Mutter, ihres Bruders und ihres Cousins Lucius aufhielt. Lucius Perry hatte sich noch nicht als offizieller Freier bekannt, obwohl ihm seine Eltern angedeutet hatten, dass sie die Verbindung mit Wohlwollen betrachten würden. Lady Fitz-Levi wollte dennoch, dass ihre
Tochter mit ihm gesehen würde, und Artemisia war schlicht und einfach dankbar für seine Gesellschaft. Denn in Wahrheit erforderte es von ihr viel Mut, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Obwohl ihr ihre Freunde immer wieder versicherten, dass es nicht der Fall sei, wusste sie doch, dass die Leute immer noch über ihre abgebrochene Verlobung und deren möghche Ursachen tuschelten. Wer die Familie Fitz-Levi gut kannte, konnte zwar nicht annehmen, dass die Familie selbst Tremontaines wilde Nichte angeheuert hätte, doch war die zeitliche Nähe des Bruchs zwischen Ferris und Artemisia und der Herausforderung von Lord Ferris zum Duell schwerlich zu ignorieren. Es gab auch Gerüchte über eine Liebesromanze zwischen den beiden Mädchen, aber niemand hatte sie je zusammen gesehen. Auch wer glaubte, dass die eigentliche Ursache für die Herausforderung zwischen Lord Ferris und dem Irren Herzog liegen müsse, hatte damit noch keine hinreichende Erklärung, was den Kreiskanzler veranlasst haben mochte, Lady Artemisia von ihrem Heiratsversprechen zu entbinden. Wenn sie in dieser Angelegenheit nicht das Opfer war, musste etwas anderes geschehen sein, das Lord Ferris verstimmt hatte, und so wurden auch Artemisias charakterliche Fehler sorgfältig aufgezählt, selbst von ihren Freunden. Deshalb setzten die Fitz-Levis alles daran, so frühzeitig zum Theater zu gelangen, dass sie sich in ihre Loge begeben konnten, bevor die anderen Zuschauer hereinströmten. Ar
190 temisia saß weiter hinten in der Loge, wo sie nicht leicht zu sehen war, doch wünschte sie sich, dort nicht sitzen zu müssen. Jeder Gedanke an ihre eigene Lage verschwand jedoch in dem Augenblick, in dem das Schauspiel begann. Kerzen wurden entzündet, dann war Stellas Schlafzimmer zu sehen, mit einem hohen Fenster und einem Himmelsbett genau wie im Roman. Schon betrat eine schöne Frau die Bühne - Artemisias kritischem Auge erschien sie ein bisschen zu alt für die mädchenhafte Stella, aber sie spielte die Rolle gut. »Nein danke«, sagte die Schauspielerin zu irgendjemandem außerhalb der Bühne, offenbar war die Zofe gemeint, »ich bereite mich selbst auf die Bettruhe vor.« »Lass dich doch vom Herzog bereit machen«. Es war eine Männerstimme, und sie kam von einem der hinteren Ränge. Ein allgemeines »Pssst!« war zu hören, aber auf der Bühne lief alles ungestört weiter. Die Schwarze Rose gewann sofort Artemisias Herz, weü sie Stellas sanfte Unschuld so hervorragend darstellte. Als Fabian in ihrem Zimmer erschien, bewaffnet und entschlossen, sie seinem Auftrag entsprechend zu töten, verkrampfte sich Artemisias Hand so sehr um ihren Fächer, dass sie ihn fast zerbrach. Stella flehte nicht um ihr Leben; sie keß ihre Jugend und ihre innere Schönheit für sich sprechen. Und der Degenfechter ergab sich schließlich, was unvermeidlich war. »Lady Stella«, sagte er, »Eure unschuldige Mädchenzeit endet noch heute Abend. Ob durch meinen Degen oder in meinen Armen, müsst Ihr selbst entscheiden.« »Es ist keine Entscheidung«, antwortete sie mit bebender Stimme, »denn beides tut meinem Willen Zwang an.« »Ist das so?« Obwohl er ihr den Degen entgegen reckte, schaute er ihr tief in die Augen. »So wisset denn: Ihr entscheidet für uns beide. Denn nähme ich Euch heute das Leben, so würde ich auch mein eigenes beenden. Die Sonne darf nicht mehr in das Angesicht des Mannes scheinen, der ein solches Juwel zerstörte.« 190 »Wie lautet Euer Name?« »Wenn Ihr so wollt, lautet er Tod. Tod für uns beide.« »Und wenn ich mich anders entscheide?« »Dann werde ich Euch Freude schenken.« Er fiel vor ihr auf die Knie, den Degen jetzt wieder an der Seite, doch noch immer in einiger Entfernung von ihr. »Und ich bin von nun an Euer Diener, bis ich meinen letzten Atemzug tue.« Artemisia bemerkte, dass sie weinte — nicht die schwerfälligen, freudigen Tränen, die das Theater normalerweise entlockt, sondern jenes herzerschütternde Schluchzen, das sie kaum noch unterdrücken konnte. Sie versuchte es dennoch, denn sie musste hören, was als Nächstes geschah, obwohl sie die Zeilen längst auswendig konnte: »Erhebt Euch«, sagte die kluge Stella, »ich entscheide mich frei, und ich entscheide mich für Euch.« Sie streckte die Hand aus.
»Spar dich für Tremontaine auf!«, brüllte eine andere Stimme aus einer anderen Ecke des Theaters. »Halt endlich die Klappe!«, brüllte eine Frauenstimme zurück, und andere murmelten ihre Zustimmung. Das war Stellas großer Augenblick, und kein Mann durfte ihn ihr wegnehmen. Das Publikum war still, als die Schwarze Rose die Vorhänge ihres riesigen Bettes auseinanderschob, und es blieb still, als sich das Paar hinter den Vorhängen zu umarmen begann. Still blieb es auch, als Viola auf der darüber liegenden Bühne auftrat, mit Männerjackett und in Männerhosen wie Tyrian, und laut überlegte, warum sich Fabian wohl verspätete. Die beiden Freunde trafen sich schließlich, während das Schlafzimmer in den Kulissen verschwand, und Fabian erklärte seinen verzweifelten Fall und die noch verzweifeltere Lösung. Um Stellas Leben zu retten, musste er seinen Schutzpatron verraten und damit auch seine eigene Ehre beflecken, das höchste Gut eines echten Degenfechters und, von seinem 191 Degen abgesehen, auch sein wertvollster Besitz. Aber eine klarsichtige, vom Schicksal geschlagene Frau hatte die Welt zuunterst gekehrt, hatte Ehre und Schande und Tod in Leben verwandelt. Er würde die Stadt nun verlassen und seinem Patron mitteilen, dass er das Ziel ein wenig zu leicht empfunden habe, denn er, sein Degenfechter, lehne sich dagegen auf und würde nun einen würdigeren Gegner suchen. »Deucht Euch«, sprachTyrian, »dass es damit seine Bewandtnis hätte? So träumt denn weiter, mein Freund. Ich werde Eure Schönheit überwachen und ist sie Eurer Liebe nicht würdig, so werde ich sie selbst herausfordern.« Als Nächster trat Mangrove auf. Im Buch geschah das zwar erst später, aber Artemisia war klar, dass es hier im Theaterstück höchste Zeit war, den Bösewicht dem Zuschauer zu präsentieren, der nicht nur der Leibfechter von Stellas bösartigem Vetter war, sondern auch die zweitwichtigste Figur in dem Stück. Mangrove wartete im Tempel auf Stella, denn er wusste, dass sie zum Gebet hierher kommen würde, was zwar ebenfalls nicht im Buch stand, es jedoch der Regie ermöglichte, ein paar eindrucksvolle Säulen aus dem Schnürboden herabzulassen. Mangrove lehnte sich arrogant gegen eine dieser Säulen und verkündete: »Hier kommt nun die Lady.« Die Schwarze Rose trat auf, von Kopf bis Fuß in einen mitternachtsblauen Schleier gehüllt. »Regnet es?«, erkundigte sich Lady Fitz-Levi. Aber das Geräusch kam nicht vom Regen: Im ganzen Theater war Zischen zu hören, das durch die zunehmenden »Pssst«-Laute noch schlimmer wurde. Die Schwarze Rose sagte etwas, aber niemand konnte sie verstehen. Sie blieb völlig unbeweglich stehen, und auch Mangroves verächtliches Grinsen fror ein. Irgendwo im Theater begann man, rhythmisch zu klatschen, sodass sich die Schauspieler nicht mehr verständlich machen konnten. Ein paar Zuschauer fingen an zu brüllen, und sie verwendeten keine sehr anständigen Wörter. 191 Endlich erstarb der Lärm. Stella hob ihren Schleier über dem Gesicht hoch. Mangrove trat vor: »Edle Dame«, sagte er, eine grausame, spöttische Imitation der Eröffnungsrede Fabians, »wenn Ihr gestattet...?« Aber sie ließ den Schleier nicht los. »Sir, Ihr seid mir unbekannt. Mein Antlitz...« Der Rest ihrer Rede ging in einem neuerlichen Zischkonzert unter. Jedes Mal, wenn die Schwarze Rose den Mund öffnete, begann das Zischen von neuem. »Gehen wir«, sagte Lucius Perry. »Auf diese Weise werden sie das Stück niemals zu Ende spielen können.« Artemisias Mutter war außer sich vor Zorn. »Können sie die Leute denn nicht zwingen, damit aufzuhören?« »Ihr könnt die Zuschauer nicht unter Kontrolle halten, Tante.« »Aber was stimmt denn nicht?«, fragte Artemisia. »Ich denke, sie ist sehr gut.« »Gänschen«, sagte ihr Bruder liebevoll, »natürlich ist die Sache arrangiert. Jemand hat ein paar Zuschauer bestochen, damit sie die Rose auspfeifen. Eine Rivalin vielleicht, die entweder ihre Rolle haben will oder ihren Liebhaber.« »Egal - wer immer das auch tat, ich würde diesen Leuten liebend gerne eine Ohrfeige geben«, sagte Artemisia. »Oh, schau doch nur, Robert! Die Leute werfen Blumen auf die
Bühne! Schnell, lauf hinaus und kauf mir ein paar, ich will auch Blumen auf die Bühne werfen!« Der Fußboden der Bühne verschwand allmählich unter einem Blütenteppich. Als die Blumen dicht genug lagen, hob die Schwarze Rose einen Arm voll Gebinde auf und rauschte von der Bühne. Die Neuigkeit sprach sich blitzschnell nach Riverside durch. Der Herzog von Tremontaine schickte ihr sofort eine Kutsche, welche die Schwarze Rose ohne weitere Hindernisse
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zur Brücke brachte, wo eine Sänfte auf sie wartete, um sie zu ihm zu bringen. »Man hat mich ausgezischt!« Ihre Augen blitzten herrisch; sie wollte sich nicht setzen, aber sie nahm ein Glas Branntwein entgegen. »Noch nie bin ich auf der Bühne ausgezischt worden. Niemals.« »Ihr könnt Euch glücklich schätzen«, sagte der Herzog. »Wen habt Ihr denn geschafft zu beleidigen?« Sie hielt mitten im Schritt inne, lang genug, um ihn mit ihren erstaunlichen Augen anzustarren. Die Schwarze Rose war keine kleine Frau, und der Herzog saß in einem Sessel und zupfte an einer Blume, die aus ihrem Haar gefallen war. »Das wisst Ihr nicht?«, fragte sie. »Ich habe es ganz klar gehört, und ich wette, das gut auch für alle anderen. Es war Euer Name, mein Lieber, nicht meiner. Ich bin sehr populär. Ihr, scheint mir, seid es nicht.« »Welch eine Überraschung.« Er ließ Blütenblätter zu Boden fallen. »Wie schön, dass ich mir nichts daraus mache.« »Wie schön für Euch, dass Ihr Euch nichts daraus zu machen braucht.« »Was bedeutet«, sagte er affektiert, »dass Ihr Euch etwas daraus macht.« »In der Tat.« Sie beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn lang und hart auf den Mund; erst als sie spürte, dass sich sein Atem beschleunigte und seine Hände ruhelos wurden, wich sie zurück und sagte selbstzufrieden: »Es ist doch eine gute Sache, dass Ihr nicht darauf fixiert seid, Schauspielerinnen zu vögeln, mein Lieber, sonst hättet Ihr jetzt nämlich eine längere Eiszeit vor Euch.« Der Herzog zog sein Jackett zurecht. »Ihr seid nicht zufällig in Riverside aufgewachsen?« Sie kniete vor ihm nieder, wobei ihre Röcke raschelten, bis ihre Augen auf einer Höhe mit seinen waren. »Ihr erinnert Euch wirklich nicht an mich, stimmt's?« Er schaute sie zwei
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felnd an. »Nun ja, warum denn auch? Ich war damals nur ein schlaksiges Mädchen, wischte die Tische ab und räumte die Bierkrüge in die Regale. Damals, in Rosalies Kneipe.« »Bei Rosalie?« Das war ein Name, den er seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte: Die Kneipe, in der er trank und mit seinem Liebhaber, dem Degenfechter St.Vier, auf eine Herausforderung oder irgendeinen Streit wartete. »Ich hielt Euch damals für einen Prinzen«, fuhr die Rose fort. »Ich dachte mir Geschichten über Euch aus. Ihr und er, ihr beide wart wie ein Zauber, etwas, das niemand anfassen durfte. Ich wollte immer, dass die Leute auch mich so ansehen würden. Und Eure Redeweise — o mein Gott! Rosalie erlaubte mir, Euch zu bedienen, aber nur ein Mal. Ihr wart beim Würfelspiel...« »Wahrscheinlich verlor ich wieder mal.« »O ja, Ihr wart am Verlieren.« Sie lächelte. »Als ich Euch das Bier brachte, sagtet Ihr: >Schaut, hier kommt ein Glas frisches Glück« Sie ahmte seinen Tonfall perfekt nach. »Ihr habt das Bier genommen, aber Euer Fechter bezahlte es, weil Ihr bereits pleite wart. Ich erinnere mich noch, dass er sagte...« »Nein.« Der Herzog hob die Hand. »Das reicht.« »Es ist schon in Ordnung«, sagte die Rose. »Ich habe ihn nie so gut nachahmen können wie Euch. Damit brachte ich früher immer die anderen Mädchen zum Lachen.« »Wie gut, dass ich das nicht wusste! Ich hätte ihm vielleicht befohlen, Euch umzubringen.« »Niemals.« Die Schwarze Rose lächelte. »Er tötete niemals Frauen, das wusste jeder.« »Letztes Jahr. Ich schickte Euch meinen Ring, mit einer Nachricht. Ihr müsst doch überrascht gewesen sein, als Ihr hierher gekommen seid und mich erkannt habt?« »O nein, Alec. Überhaupt nicht.« Sie hatte die Arme um seinen Nacken gelegt. »Warum, glaubt Ihr, bin ich denn gekommen?«
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Er ließ die Lippen über ihren Nacken gleiten. »Aus Rache an einem verlogenen Liebhaber, dachte ich. Nicht dass ich nicht dankbar gewesen wäre. Ich habe das, was Ihr mir gebracht habt, gut verwenden können, das darf ich Euch versichern. Und ich bin Euch heute noch dankbar dafür. Ich werde nicht zulassen, dass Ferris Euch von der Bühne jagt.« »O nein«, sagte sie, »das werdet Ihr nicht zulassen.« Stolz und Perversität trieben ihn dazu, sie so lange wie möglich bei sich behalten zu wollen, aber am Ende erhob sie sich aus dem Gewirr ihrer Kleider und sagte: »Lebt wohl, mein Prinz. Tut so, als bräche Euch das Herz, wenn Ihr könnt. Verflucht mich, wenn es sein muss. Doch lieber vernehme ich den Fluch von Euren Lippen als hundert Schmährufe des erzürnten Publikums.« Er schaute sie kritisch an. »Das stammt aber nicht von Euch.« »Doch. Ich habe es nur ein wenig abgewandelt, um es den Umständen anzupassen, sonst nichts.« Sie beschäftigte sich mit den Haken ihres Korsetts, aber er versuchte nicht, ihr zu helfen. »Ich tue, was ich kann, um ihnen klar zu machen, dass wir uns zerstritten hätten. Ihr tut dasselbe.« Auf der Treppe begegnete sie der Nichte des Herzogs, diesem sonderbaren Mädchen mit dem Degen. Rose reckte sich noch ein wenig mehr und setzte eine strahlende Miene auf, sodass sie wieder wie die Schwarze Rose aussah. »Katherine«, säuselte sie, »wie schön, Euch wiederzusehen.« »Oh!« Das Mädchen schien zu erschrecken. »Hallo. Wie geht es Euch?« »Seid gegrüßt«, sagte Rose, »Ihr seid die Heldin der Stunde.« »Bin ich das?« »Der Herzog ist sehr stolz auf Euch, und das sollte er auch sein. Erinnert ihn daran, wenn Ihr Gelegenheit dazu findet. Im Moment ist er traurig. Und ich bin auch traurig, ein klein wenig jedenfalls.« Sie legte sanft die Hand auf Kathe
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rines Wange, und das Mädchen errötete. »Ich weiß«, fuhr die Schwarze Rose fort, »es ist alles so schwierig, bis man die Dinge in den Griff bekommt.« Sie küsste das Mädchen auf die Stirn und verließ das Haus. Es war einfach nicht fair. Der Herzog bekam immer, was er wollte. Wozu brauchte er auch noch die Schwarze Rose? Ihm stand doch die ganze Stadt zur Verfügung, er musste sich nur jemanden auszusuchen! Sie mochte mich, da war ich sicher. Hatte sie mich nicht im Theater geküsst? Wahrscheinlich war es gar nicht ihre Schuld, dass sie schließlich an ihm hängen blieb. Sie war nur eine Schauspielerin, während er Geld und Einfluss hatte, und beides brauchte sie vermutlich. Und ich hatte gar nichts anzubieten als mein treues Herz und meinen Degen. Überall in der Stadt schmachteten die Mädchen nach der Schwarzen Rose. Und da kam sie einfach daher, tätschelte meine Wange und sagte mir, ich solle meinen Onkel ein bisschen aufmuntern und mich um ihn kümmern. Warum sagte sie nicht jemand anderem, man solle sich um mich kümmern? Ich ging nicht zum Abendessen hinunter. Keinesfalls wollte ich an diesem Abend den Herzog vor die Augen bekommen. In meiner Notverpflegungsschachtel fand ich noch ein paar alte Kekse, die ich restlos aufaß. Aber wie sich herausstellte, war das völlig überflüssig gewesen, denn der Herzog nahm sein Dinner ebenfalls in seinem Zimmer ein. Jedenfalls erzählte mir das Marcus, nachdem er an meine Tür gehämmert hatte, um zu schauen, was mit mir los war. Ich öffnete die Tür einen schmalen Spalt. »Hau ab«, sagte ich. »Du darfst hier nicht allein mit mir sein. Betty würde es nicht gefallen.« Marcus lachte. »Betty ist vollauf mit Meister Osborne beschäftigt, der sie schon von früher her kennt, aber damals war er eben noch nicht gut genug für sie. Uber Betty brauchst du
193 dir eine Zeit lang keine Sorgen mehr zu machen. Schließlich hat Osborne auch den Schlüssel zum Weinkeller.« »Egal, ich bin beschäftigt. Muss nachdenken.« »Ich auch«, sagte Marcus einschmeichelnd. »Ich plane gerade ein bisschen Unterhaltung und Ablenkung. Willst du nicht wissen was?« »Sag's mir.«
»Erst, wenn ich alle Einzelheiten ausgearbeitet habe. Vielleicht morgen, wenn alles gut läuft. Mittlerweile habe ich in der Küche Bescheid gesagt, sie schicken dir ein Tablett mit dem Abendessen herauf. Du musst bei Kräften bleiben. Dann kannst du noch ein bisschen üben, wie du Leute umbringst. Das dürfte dir sicherlich guttun.« Der Junge konnte einen manchmal wirklich auf die Palme bringen. David Alexander Tielman Campion, Herzog von Tremontaine, wusste, dass er schon sehr viele Leute verärgert hatte. Es war nicht fair, alle Schuld auf Lord Ferris zu schieben. Er legte sein Netz aus, mit dem er sich Informationen beschaffte, zuerst durch die gewöhnlichen Kanäle innerhalb der Universität und im Stadtviertel Riverside. Dessen Einwohner kamen in der ganzen Stadt herum. Manche waren virtuose Einbrecher und Taschendiebe, andere hatten den sozialen Aufstieg geschafft und waren irgendwelche Hausbedienstete geworden. Und Bedienstete, von den wirklich disziplinierten einmal abgesehen, schwatzten gerne. Das galt auch für die Gelehrten. Alle waren entsetzliche Schwätzer, selbst jene, die Tutoren und Sekretäre der Adligen geworden waren. Vielen Universitätsleuten hatte der Herzog während ihrer hungrigen Studentenjahre über die Runden geholfen. Er musste nur sein Netz weit genug auswerfen, dann würde er schon irgendetwas Nützliches erfahren — und gewöhnlich kam dabei auch eine ganze Reihe von Dingen ans Tageslicht, nach denen er
194 gar nicht gesucht hatte, die sich aber später als recht nützlich erweisen konnten. Die Frage war nun, wie ernst waren die Anschläge auf seine Freunde gemeint? Wollte sein Feind ihn nur ärgern, oder war das alles das Vorspiel zu einer schlimmeren Sache? Es war nicht das erste Mal, dass der Herzog unter Beschuss geriet. Als er damals den herzoglichen Besitz erbte, hatten gewisse Leute, deren Hoffnungen enttäuscht worden waren, mit halb sauberen oder auch absolut unsauberen Methoden versucht, die Erbfolge zu ändern. Seither hatte es weitere Angriffe gegeben, aber er wurde immer gut verteidigt, durch Degenfechter und Rechtsanwälte und alle möglichen anderen Personen, mit denen er sich umgab. Nur: Gegen wen musste er sich dieses Mal verteidigen? Er stellte eine Liste seiner möglichen und ernst zu nehmenden Feinde zusammen. Ganz oben stand Anthony Deverin, Lord Ferris. Ferris könnte legitime Beschwerden gegen Tremontaines Liebhaberin vorbringen, weil diese ihn ausspioniert hatte, wenn er es jemals herausfand. Und gegen des Herzogs Nichte, die ihn herausgefordert hatte. Außerdem war es auch eine Frage des Stils. Diese kleinlichen Grausamkeiten, vor allem, wenn sie sich gegen verletzliche Personen richteten, kamen Tremontaine nur allzu bekannt vor. In den alten Geschichten waren aller guten und schlechten Dinge immer drei. Wer war als Nächster dran? Der Herzog versuchte es zu erraten, so gut er konnte, und verdoppelte die Wachen für gewisse Leute, die, wenn er Glück hatte, nicht bemerken würden, dass sie bewacht wurden. Und er schickte eine letzte Botschaft an die Schwarze Rose, ihn in Riverside House zu besuchen, weil er sie bitten wollte, in seinem Auftrag mit einer Botschaft nach Highcombe zu reisen. Artemisia begann allmählich, sich wieder auf sorgfältig ausgewählten Festen blicken zu lassen. Immer trug sie den Kopf
194 hoch, selbst wenn sie manche Tänze ohne Partner aussitzen musste. Sie weigerte sich, mit ihren alten Verehrern zu flirten. Wenn einige von ihnen, die früher nach einem Lächeln von ihr gelechzt hatten, nun glaubten, zu schade für sie zu sein, dann brauchte es ihr um diese Männer nicht leid zu tun. Sie hatte ihre Herausforderung gewonnen. Sie war frei, und das Recht war auf ihrer Seite. Lydia Godwins Vater achtete stets darauf, mit ihr zu tanzen, und das galt auch für Armand Lind-ley. Lydia nahm manchmal Artemisias Arm und flanierte mit ihr durch den Ballsaal, um offen ihre Zuneigung zur Schau zu steilen. Jane Hetley schloss sich ihnen häufig an, während sich Lavinia Perry, jetzt verlobt mit Petrus Davenant, ausgesprochen rar machte. Und so würde es wohl auch in Zukunft sein, wurde Artemisia klar: Sie würden nur dann noch Freundinnen sein, wenn ihre Männer gut miteinander auskamen. Sie musste feststellen, dass sie zunehmend darauf hoffte, Lucius Perry bei diesen Ereignissen zu sehen. Er unterhielt sich stets mit ihr, war unbefangen und amüsant. Er gab ihr das Gefühl, wieder sie selbst zu sein. Außerdem war er ein guter Tänzer und hatte noch
nie versäumt, sie um einen Tanz zu bitten und sich tief zu verneigen, wenn der Tanz zu Ende war. Er tanzte immer zwei Mal mit ihr, aber um den dritten Tanz, der ihn zu einem ernsthaften Anwärter um ihre Hand gemacht hätte, um diesen dritten Tanz bat er sie nie. Einmal, aber nur ein einziges Mal, wäre es beinahe passiert. Die Musik hatte aufgehört zu spielen, Artemisia hielt seine Hand noch einen kleinen Augenblick länger als nötig, und als die Musik wieder einsetzte, wären sie beinahe automatisch in den nächsten Tanz geglitten. Sie merkte, dass er zögerte, dass er sie anblickte, dass ihm die Situation plötzlich klar wurde. Er ließ ihre Hand zwar nicht los, aber er führte sie zu ihrem Platz zurück. Unterwegs schob er den Arm um ihre Hüfte und zog sie ein wenig näher an sich — sie wollte nicht zurückschrecken, aber es geschah einfach. 195 »Was für ein Tölpel ich doch bin«, sagte er sanft, »dass ich den Leuten immer auf die Zehen trete!« Sie verspürte eine plötzliche Welle der Zuneigung zu ihm. Lucius verstand sie. Und als sie ihm nachblickte, wie er aus dem Ballsaal verschwand, wohin auch immer ihn seine Verpflichtungen an diesem Abend noch führen mochten, wurde ihr klar, dass sie ihn heiraten würde, wenn er sie nur darum bat. Sie würde sich gut um ihn kümmern. Sie würde ihm ein wundervolles Zuhause bieten, würde seine Freunde zum Dinner einladen, würde dafür sorgen, dass genügend Schalen mit seinen Lieblingskeksen, den braunen, knusprigen Zimtkeksen, bereitstünden. Gemeinsam würden sie das Theater besuchen und Teekränzchen mit Musik veranstalten. Und an den ruhigen Abenden würde sie nähen, und er würde ihr vorlesen. Und nie, niemals, würde er ihr etwas antun, was sie nicht wollte. Ganz bestimmt nicht. Die Schwarze Rose hatte nicht geahnt, dass eine Reise mit der Kutsche so anstrengend sein konnte. Eigentlich war es absolut lächerlich: Sie saß im reinsten Luxus, denn der Herzog hasste es zu reisen, wie er behauptete, und so hatte er seine Kutschen so bequem wie möglich ausstatten lassen. Sie wurde von seinen Lakaien begleitet, die nicht die herzogliche Livree, sondern einfache Kleidung trugen. Auch das herzogliche Wappenschild an der Kutsche war abgedeckt worden. Die Lakaien umsorgten sie aufmerksam, aber unaufdringlich, und der Korb mit der Reiseverpflegung war sehr reichhaltig gefüllt. Die Fahrt war daher das genaue Gegenteil dessen, womit sie sich abzufinden hatte, wenn sie mit ihrer Bühnentruppe auf Tour ging, und daher hätte sie eigentlich in diesem Luxus schwelgen sollen. Aber alles, was sie wollte, war schlafen. Das war ärgerlich, weil sie noch ihre Rolle zu lernen hatte. Henry hatte sich entschlossen, eine alte Romanze in einer neuen Produktion auf die Bühne zu bringen: Lord Ruthvens
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Dame. Es war ein ziemlich schwieriges Stück, das nur selten aufgeführt wurde, da es weder eine Tragödie noch eine Komödie war. Doch Henry glaubte, besonders nach dem Erfolg des Stückes Der Fechter, Der Nicht Tod Hieß, dass auch Lord Ruthvens Dame das Publikum in Massen ins Theater locken würde. Lord Ruthven ist ein Höfling, der Helena, die junge Schwester des Königs, durch sein rücksichtsloses Verhalten gegenüber Frauen verärgert. Helena überredet den Hofzauberer, Ruthven in eine Frau zu verwandeln; der Fluch soll so lange anhalten, bis Ruthven die Liebe einer anderen Frau gewinnen kann. Als Frau wird Ruthven klar, dass er Helena liebt, und er muss sein ganzes Geschick und seine Macht einsetzen, um sie in seiner Frauengestalt zu verführen, andernfalls würde er an einem so furchtbaren, unstillbaren Verlangen, wie er es noch nie erlebt hatte, zugrunde gehen. Die Schwarze Rose sollte Ruthven nach seiner Verwandlung spielen. Sie hatte das Stück schon früher einmal in einer Aufführung gesehen, bei der es völlig ins Lächerliche gezogen worden war, aber sie hatte nicht die Absicht, das zuzulassen, wenn sie selbst mitwirkte. Zwar gab es darin durchaus auch komische Momente, an denen man arbeiten konnte, aber ihr Ruthven würde ein zutiefst verstörter, leidenschaftlicher, verletzlicher und verwirrter Mann sein, letztlich also eine tragische Gestalt. Rose war entschlossen, dafür zu sorgen, dass sämtliche Damen im Publikum vor Verlangen stöhnten, wenn Helena schließlich Ruthvens Liebe erwidert. Ihre liebe Freundin Jessica Bell war für die Rolle der Helena vorgesehen. Jess würde die Prinzessin mit genau der richtigen Mischung von Verletzlichkeit und Entschlossenheit spielen, und ihre schlanke, blasse Erscheinung würde sich gut von Rose' robuster Statur abheben. Henry, der keine
Gelegenheit ausließ ,jeden potenziellen Vorteil auszubeuten, hatte darauf bestanden, auch für Viola Fine eine Rolle in das Stück hineinzuschreiben. Deshalb hatte Helena nun ei 196 nen Pagen, der sich in Ruthven-die-Frau verliebt, was aber nach Rose' Meinung dazu fuhrt, dass das Stück nun wirklich zu süßlich wurde. Allerdings hegte die Rose keinen Zweifel daran, dass sie, wenn das Stück erst einmal aufgeführt wurde, freie Auswahl unter jeder Menge adliger Verehrerinnen haben würde, Frauen, die sie vergötterten und die ihr eine hübsche kleine Abwechslung von den verwickelten Intrigen eines Lord Ferris oder eines Herzogs von Tremontaine bieten würden. Natürlich würde das alles nur eintreten, wenn sie es schaffte, ihre Rolle zu lernen. Die Schwarze Rose machte sich an den Text und fand ihn fast unmöglich zu lernen. Lange Reden und Monologe bereiteten ihr normalerweise keine Schwierigkeiten, denn sie liebte den Rhythmus der Wörter. Aber diese Sätze hier weigerten sich, in ihrem Kopf zu bleiben. Außerdem gab es eine Menge schlagfertiger Antworten und Wortspielereien, und sie brachte ständig die Sätze durcheinander. Doch sie musste ihre Rolle bis aufs Komma beherrschen, sonst würde das Komödiantische verloren gehen, und in einem Stück wie diesem brauchte man schließlich Humor und Witz als Gegengewicht zur schmerzlichen Haupthandlung. Noch mal von vorne, meine Liebe, befahl sie sich selbst, deckte den Text mit der Hand ab und begann mit der Verwandlungsszene: Welche Schwere drückt auf meine Brust? Die Arme — leichter, ohne Macht noch Kraft. Bin ich im Schlafe noch? Ich kann's nicht sagen. He, Junge! Hilf mir auf! — Welch ein Geräusch ist das? Es wird doch nicht — meine eig'ne Stimme sein? Meine Stimme! Meine Stimme! Oh, diese Szene würde ihr großer Auftritt werden. Dreifache Wiederholungen gaben einem so viele Möglichkeiten! Und
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die nächste Zeile war auch... war... o Gott, sie hatte sie schon wieder vergessen! Wie weggewischt aus ihrem Kopf, und gleich würde sie sich auch noch übergeben müssen. Sie hätte doch wissen müssen, was geschehen würde, wenn sie in einer fahrenden Kutsche zu lesen versuchte. Allerdings hatte sie damit bisher überhaupt keine Probleme gehabt. Sie öffnete den Korb und suchte nach einer Flasche Wein. Im Korb war etwas, das wie Quitten roch. Quittentorte. Sie mochte Quittentorte, und daran hatte der Herzog gedacht, wie lieb von ihm. Aber nicht diese Quittentorte. Diese hier roch nämlich einfach... überwältigend. Ihr war plötzlich, als müsste sie sich schon beim bloßen Geruch von Quitten übergeben. Sie hielt ein Tortenstück in der Hand, knusprig und golden gebacken. Und Warfes aus dem Fenster. Durch die frische Luft fühlte sie sich ein wenig besser. Sie nippte an dem Wein und lehnte sich entspannt zurück. Ihr Korsett war zu eng. Sie hatte ihrer Zofe gesagt, dass sie es lockerer schnüren solle, aber Emily hatte wahrscheinlich wieder einmal nicht hingehört. Ihre Brüste quollen förmlich aus dem Mieder hervor. Die Schwarze Rose lehnte sich noch weiter zurück und schloss die Augen. Sie schlief, als die Kutsche die Auffahrt von Highcombe hinaufrollte und auf dem weiträumigen Auffahrtsplatz vor dem Haupteingang anhielt. Fackeln brannten bereits, offenbar hatte man ihre Ankunft erwartet. Der Herzog hatte darauf bestanden, dass sie allein reiste, aber er hatte einen berittenen Boten vorausgeschickt, und wundersamerweise gehörten zum Hauspersonal auch ein paar Frauen, die sich nun um sie kümmerten. Benommen vor Müdigkeit, ließ sie sich in ein ruhiges Schlafzimmer führen, ließ sich die Schuhe aufbinden, ließ das Getue um ihre eleganten Kleider und Unterröcke über sich ergehen, die sofort aufgehängt wurden, und ließ sich Wasser bringen, um die Spuren der Reise abzuwaschen. »Legt die Füße hoch, Mylady«, sagten die Frauen in
196 ihrem schwerfälligen Dialekt, und sie widersprach der Annahme nicht, dass sie eine Lady sei. Sie hatte schließlich schon oft genug hochstehende Damen gespielt, sodass es ihr jetzt nicht schwer fiel. Nie zuvor hatte sie es so sehr genossen, als die Korsettbänder gelockert wurden. Sie war hier auf dem Land, hier wurde sie nicht vom Publikum gefeiert, hier hatte
sie überhaupt kein Publikum außer einem geheimnisvollen Sonderling, den sie hier treffen sollte. Ihm sollte sie den Brief des Herzogs vorlesen, den sie mit sich führte. Sobald sie dieser Pflicht Genüge getan hatte, konnte sie sich für einen oder zwei Tage ausruhen; vielleicht würde sich dann der schmerzhafte Druck in ihren Brüsten wieder legen. Die Schwarze Rose saß aufrecht auf ihrem Stuhl, die Füße auf einen Hocker gelegt und wartete auf einen Beruhigungstee. Schon bald schlief sie erneut ein und wurde von einem ältlichen Dienstmädchen aufgeweckt, das sich offenbar der Verhaltensregeln im Hinblick auf das Aufwecken von Adligen nicht ganz sicher war, denn sie hielt ihr einfach eine dampfende Tasse Tee unter die Nase. Der scharfe Kräuterduft keß sie zurückweichen. »Bring den Tee weg«, sagte sie, »ich will ihn nicht mehr.« Sie war selbst überrascht, wie scharf ihre Stimme klang. Diese Leute versuchten doch nur, freundlich zu ihr zu sein. Rose schüttelte den Kopf und lachte: »Tut mir leid! Ich weiß wirklich nicht, was heute mit mir los ist!« »Das macht nichts, Mylady«, sagte das Dienstmädchen, »manchmal ist es bei den Frauen eben so.« »Ach nein«, lachte Rose. »Normalerweise macht mir das Reisen überhaupt nichts aus.« Die ältere Frau lachte. »Fast alle Frauen empfinden die Fahrt hierher als sehr hart, Madam«, und Rose sagte noch einmal: »Ach nein«, aber plötzlich in einem ganz anderen Tonfall.
Kapitel 6 Doch vor einem Jahr hätte Alec Campion Lord Ferris' knappe Einladung postwendend ins Kaminfeuer befördert. Wir sollten uns doch einmal zusammensetzen, hieß es da, und wie vernünftige Menschen zum gegenseitigen Nutzen über verschiedene Dinge reden. Nun entwarf der Sekretär des Herzogs ein Antwortschreiben, in dem stand, Seine Lordschaft, der Herzog von Tremontaine, würde Lord Ferris an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Zeit aufsuchen. Ferris antwortete, das Datum der Besprechung sei ihm genehm, und was den Zeitpunkt angehe, so hoffe er, dass sich Seine Lordschaft nicht zu sehr verspäte. Der Herzog kam zu früh. Ferris drückte seine Anerkennung dieser Geste dadurch aus, dass er ihn nicht warten, sondern sogleich in sein Arbeitszimmer führen ließ und darauf bestand, dass Erfrischungen serviert würden. Mit seinem gesunden Auge betrachtete er den jüngeren Mann genau. Tremontaine hatte sich mit seiner Kleidung für diesen Besuch doppelt so viel Mühe gegeben wie gewöhnlich: Die Spitzenmanschetten waren strahlend weiß; es gab überhaupt reichlich Spitzenbordüren an seinen Kleidern. Statt des gewöhnlichen Schwarz trug er das Grün des Hauses Tremontaine, das hervorragend zu seinen beunruhigenden Augen passte. Dem Herzog mangelte es auch nicht an Edelsteinen: Besonders auffällig war der ovale Ring mit dem Tremontaine-Rubin, der 197 von Diamanten umgeben war. Ferris kannte den Ring gut; er selbst hatte das Schmuckstück gewissermaßen beleidigt und damit seine Erniedrigung durch Tremontaine vor fast zwanzig Jahren persönlich herbeigeführt. Dass der Junge ausgerechnet diesen Ring zu der Besprechung trug, war entweder als direkte Provokation gedacht oder zeugte von schlechtem Urteilsvermögen. Möglicherweise traf ja auch beides zu. Der Herzog wollte keinen Branntwein. »Ihr wollt wohl einen klaren Kopf behalten?«, fragte Ferris und nippte delikat an seinem Glas. »Gut. Wir wollen die Sache schnell hinter uns bringen, und ich möchte, dass Ihr Euch genau an alles erinnern könnt, was wir hier besprechen.« »Hört mit dem albernen Theater auf, Ferris. Ich bin hier, ich bin nüchtern, und jetzt will ich wissen, was die ganze Sache eigentlich soll.« »Betrachtet es einfach als Einladung«, sagte Ferris höflich. »Es ist schließlich das erste Mal, dass Ihr Euch dazu herablasst, mich zu besuchen. Auch wenn erst einmal einigen Eurer Freunde ein wenig Schwierigkeiten gemacht werden musste, um Euch hierher zu bringen, war es vermutlich die Sache wert.« »Ihr gebt es also zu? Alles?«
»Warum denn nicht? Eine Einladung, wie ich schon sagte. Dass Ihr herkommt, Euch zu mir setzt und wir gemeinsam unsere Lage besprechen, wie noble und vernünftige Männer es tun sollten.« »Und dazu gehört auch, dass Ihr meine Freunde bedroht?« »Ich musste befürchten, dass Ihr mich sonst nicht ernst nehmen würdet.« »Habe ich. Aber im Moment«, entgegnete der Herzog, »bin ich dabei, meine Meinung zu überdenken. Hört also auf mit dem Spiel und sagt mir endlich, was Ihr wollt.« »Und dann werdet Ihr es mir geben?« »Was glaubt Ihr denn? Wenn es vernünftig ist, werde ich
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darüber nachdenken. Wenn nicht, verfüge ich über die Mittel, um Euch genau so zu ärgern, wie Ihr mich geärgert habt. Es ist zwar richtig, dass ich mehr Skrupel habe, aber in diesem Fall wäre ich bereit, sie kurzfristig außer Kraft zu setzen. Und ich habe mehr Geld, versteht Ihr, eine Menge mehr als Ihr. Hatte zwar nicht vor, auch nur einen Starling an Euch zu verschwenden, aber ich könnte mich durchaus überzeugen lassen, meine Meinung zu ändern.« »Aha.« Ferris rollte das Glas zwischen seinen feinen Fingern. »Das beantwortet bereits meine erste Frage. Eure Einmischung in meine Heiratspläne war also nichts weiter als einer Eurer kleinen Warnschüsse vor den Bug, nicht etwa die Ouvertüre zu einem größeren Feldzug.« »Ich habe mich niemals...«, wollte der Herzog widersprechen, doch dann überlegte er es sich und unterbrach sich. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken — Ferris freute sich ungemein zu sehen, dass der Sessel ein bisschen zu klein war für diesen langen Kerl von einem Herzog — und fuhr in sachlichem Ton fort: »Es gibt keinen Feldzug. Eure Verlobte wollte raus aus der Sache, und das war leicht zu bewerkstelligen.« »Na, dann ist das in Ordnung, denke ich«, sagte Ferris. Jetzt passten die Mosaikstückchen zusammen, und sie passten genau in eines der vielen Muster, die er sich für dieses Treffen zurechtgelegt hatte. Er verspürte eine fast sexuelle Erregung bei dem Gedanken, dass bei dieser Begegnung die gesamte Macht in seinen Händen lag. Selbst die Sätze, die er nun sprechen würde, schienen eigens für ihn geschrieben worden zu sein. »Für Eure und meine Probleme kann ich nun eine Lösung leicht bewerkstelligen, wie Ihr es ausdrückt. Ihr traut mir nicht, dass ich aufhören werde, Euch dort anzugreifen, wo Ihr am leichtesten zu verwunden seid — jedenfalls solltet Ihr mir diesbezüglich nicht trauen -, und ich wiederum traue Euch nicht so weit über den Weg, dass ich meine Angriffe auf Euch nicht mehr für nötig hielte. Obwohl Ihr über einen großen
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Vorrat an Skrupeln verfügt, könnt doch selbst Ihr nie völlig sicher sein, was Ihr als Nächstes tun werdet, nicht wahr?« Der Herzog starrte ihn wütend und wortlos an. »Und deshalb«, fuhr Lord Ferris fort, »werdet Ihr mir einen sehr hübschen Beweis für Euren guten Willen liefern, einen Beweis, der mich auch für all die Schwierigkeiten entschädigt, die Ihr mir bereits zugefügt habt.« »Und der wäre?« »Ihr sichert mir vertraglich zu, Eure Nichte heiraten zu dürfen.« Der Herzog wurde schlagartig blass, die Blässe erfasste sogar seine Lippen. Dann liefen seine Wangen rot an, sodass seine grünen Augen noch wütender funkelten. »Ach, kommt schon, Campion, was wollt Ihr denn sonst mit ihr anfangen? Das ist ein großzügiges Angebot. Auf einen Streich wird sie in der Gesellschaft in einer Position etabliert, von der sie sonst nicht einmal hätte träumen dürfen. Selbst Eure Vergehen gegen ihr zartes Jungmädchentum« —Tremontaine wollte schon aus dem Sessel hochfahren, aber Lord Ferris hob abwehrend seine wunderbar manikürte Hand —, »womit ich natürlich nur die dümmliche Maskerade mit Degen und Hosen meine, werden dann im allgemeinen Taumel der Romanze vergeben und vergessen sein. Wir werden einfach sagen, dass ich mich während des Degenkampfs bei den Godwins in sie verliebt hätte. Darüber wird die ganze Stadt erfreut sein, genau wie im Theater. Eigentlich genau wie in dem Stück mit dem Degenfechter, in dem die Schwarze Rose im Moment auftritt. Und Lady Katherine mag das Theater, wie ich gehört habe.« Der Herzog schwieg.
»Natürlich werdet Ihr ihr eine angemessene Mitgift geben. Ich weiß, dass Ihr sie sehr mögt. Und sollten wir beide dann mit Nachwuchs gesegnet werden... Nun, ich würde mich ja nie in die Frage der herzoglichen Erbfolge einmischen wol
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len, das entspräche nicht meinem Stand, nicht wahr? Aber ich bin mir sicher, Ihr würdet unsere Abkömmlinge in Betracht ziehen, da Ihr Lady Katherine so gern mögt und immer nur das Beste für Eure Familie im Sinn habt.« Der Herzog saß absolut still, als fürchtete er sich vor der geringsten Bewegung. Doch dann führ er mit der Zunge über die Lippen. »Seid Ihr sicher«, fragte er langsam, »dass es nicht irgendwo in den Gesetzesbüchern eine Regel gibt, wonach ein Mann eine Frau nicht heiraten darf, wenn er zuvor mit ihrer Urgroßmutter geschlafen hat?« »Nicht dass ich wüsste.« »Schade. Dann werde ich wohl eine entsprechende Gesetzesvorlage im Rat einbringen müssen.« »O nein, das werdet Ihr nicht«, sagte der Kanzler des Großen Kreises selbstbewusst. »Auf unzüchtige Gesetzesvorlagen steht eine Strafe.« »Die zahle ich gern. Aber möglicherweise kommt es mich billiger, wenn ich die Sache einfach durch einen Degenfechter klären lasse und Euch damit aus Eurem vorehelichen Elend befreie.« »Na, na, na.« Ferris lehnte sich zurück, er platzte fast vor Glück, einem ganz besonderen Glück. Er hatte immer schon gewusst, dass er zehnmal schlauer war als dieser Mann hier, aber bisher hatte er nur selten eine Gelegenheit gefunden, es zu beweisen. »Vielleicht möchtet Ihr Euch die Sache erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Denn Ihr müsst verstehen: Wenn sich herausstellt, dass wir doch nicht heiraten, werde ich vielleicht stattdessen Eure Nichte herausfordern. Nachdem ich sie nun fechten gesehen habe, gebe ich zu, dass ich letztes Mal ihre Fähigkeiten wie auch ihre Hartnäckigkeit falsch einschätzte. Aber diesen Fehler mache ich kein zweites Mal. Ich kann einen Degenfechter verpflichten, der sehr viel geschickter kämpft und ihr so überlegen ist, dass er sie als Staubwedel verwenden kann. Denn Ihr müsst wissen, dass es
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noch immer ein paar wirklich ernsthafte Degenfechter gibt, und jeder von ihnen kann diese junge Fechterin schlagen, selbst wenn sie offenbar von St.Vier so manchen Trick gelernt hat.« Der Herzog sagte: »Ich könnte sie wegschicken. Nach Hause, zu ihrer Mutter.« »Oh, wirklich? Und glaubt Ihr etwa, ihre Mutter würde sich meiner Bewerbung widersetzen? Ich nicht. Zwischen Euch und ihr gibt es reichlich böses Blut, nicht wahr? Was genau hat eigentlich Eure edle Schwester getan?« »Sie heiratete«, erklärte der Herzog trocken, »gegen meinen Willen.« »Ich bin sicher, Ihr habt ihr längst genug Gelegenheit gegeben, das zu bereuen.« Lord Ferris erhob sich, streckte sich und zog an der Klingelschnur neben dem Kaminsims. »Ihr handelt schnell«, sagte er zu seinem Besucher, »aber Ihr denkt nicht immer sehr schnell. Deshalb will ich Euch ein wenig Zeit geben, damit Ihr Euch mein Angebot und seine Auswirkungen noch einmal durch den Kopf gehen lassen könnt.« »Wie wenig Zeit?« Ferris legte den Kopf leicht schief. »Ein Tag müsste eigentlich reichen. Danach erwarte ich Eure Antwort, andernfalls werde ich eine weitere Einladung aussprechen. Und bis zu diesem Zeitpunkt werde ich mich gut bewachen lassen.« Ein Diener trat ein. »Seine Hoheit von Tremontaine wünscht seine Kutsche. Melde es weiter und geleite ihn hinaus. Ich habe wichtige Staatsangelegenheiten zu erledigen. Gute Nacht, Mylord.« Das war eine Entlassung, ein ungnädiger Rauswurf eines Lords durch einen anderen Lord. Lord Ferris' Diener war daher sehr überrascht, als ihm der Irre Herzog nicht nur ein ordentliches Trinkgeld gab, sondern ihm auch noch wie ein Lausejunge zuzwinkerte, bevor er in seine prächtige Kutsche stieg. Offenbar nannte man ihn nicht umsonst den Ir 199 ren Herzog. Der Diener konnte keinen Grund für das vergnügte Augenzwinkern erkennen. Zwar konnte das auch der Herzog nicht, aber, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, er wollte lieber verdammt sein, als Ferris etwas merken zu lassen.
Die Schwarze Rose zählte an ihren Fingern ab und kam auf kein angenehmes Ergebnis. Die Sache war immerhin möglich. Wenn es so war, würde ihr einiges klar werden. Sie würde den zur Frau gewordenen Ruthven wirklich vollkommen spielen können, denn sie begriff endlich, wie es sich anfühlte, wenn sich der eigene Körper völlig veränderte — eine Verwandlung, die unerwünscht, nicht gewollt, ihr von außen durch eine andere Person aufgenötigt worden war. Aber konnte sie den Rest der Saison noch durchstehen, ohne dass man ihr etwas ansah? Konnte sie sich wach halten? Sich an ihre Rolle erinnern? Ihre Brüste fühlten sich riesig an, nachdem sie jetzt Bescheid wusste; sie waren wie die Brüste einer anderen Frau, dunkler, größer als ihre eigenen. Welche Schwere drückt auf meine Brust? Ja, wahrhaftig. Die Schwarze Rose riss sich zusammen. Vor ihr lag eine morgendliche Begegnung mit dem geheimnisvollen Bewohner von Highcombe. Doch sie war schließlich eine professionelle Schauspielerin, und Tremontaine zahlte ihr gutes Geld dafür, dass sie irgendeinem Menschen einen Brief vorlas, einem älteren Verwandten vielleicht, und keine einzige Frage beantwortete, die er stellen mochte. Wie auch immer ihr eigener Zustand sein mochte, diese nicht sonderlich anspruchsvolle Rolle würde sie wohl mit Anmut, Würde und Gelassenheit spielen können. Als Richard St. Vier ins Zimmer trat, stieß sie einen Laut aus, der halb wie ein Krächzen, halb wie ein lauter Aufschrei klang. Er war unbewaffnet, aber sie sah, dass er instinktiv in Abwehr 200 haltung ging, bis er die Situation durchschaute. Er lächelte. »Er hat es Euch also nicht gesagt.« »Nein.« Ihre Hände zitterten. Sie fummelte an ihrem Mieder. »O Gott! Ich habe einen Brief... Ich hatte ja keine Ahnung ...« »Setzt Euch bitte. Es ist alles in Ordnung. Er ist nur vorsichtig oder vielleicht auch ein wenig theatralisch.« Rose verzog das Gesicht. »Nun ja, warum auch nicht?« »Oder vielleicht hat er sich über Euch geärgert.« »Das wohl auch, ein wenig jedenfalls.« Rose sank in den Sessel am Fenster und blickte besorgt zu dem Fechter auf. »Aber er sagte, er würde vollkommen auf meine Diskretion vertrauen.« Sie lachte unsicher. »Er muss wirklich verzweifelt sein.« »Glaubt Ihr denn, dass er verzweifelt ist?«, fragte St.Vier. »Verärgert oder verzweifelt?« Sie bemühte sich, wieder zu ihrer normalen Unbefangenheit zurückzufinden. Schließlich schleppte sie schon lange keine Bierkrüge mehr in den Tavernen von Riverside. Sie war die Schwarze Rose, das Stadtgespräch, der leuchtende Stern auf jeder Bühne. »Das ist manchmal dasselbe«, meinte St.Vier, »vor allem bei ihm.« Er zog einen Stuhl heran und setzte sich so dicht zu ihr, dass sein Knie, wenn er atmete, ihr Kleid berührte. »Was will er denn?« Sie dachte an die Streiche zurück, die der Irre Herzog spielte, an seine Laster und Exzesse, seine stiUen Wutanfälle und seine Feinde. »Euch«, sagte sie. »Ah«, antwortete St.Vier. »Was steht in dem Brief?« An diesem Morgen hatte sie den Brief sorgfältig zusammengefaltet und in die Spalte zwischen ihren Brüsten gesteckt. Sie hatte geplant, ihn schwungvoll mit zwei Fingern hervorzuziehen und dem mysteriösen Mann zu präsentieren. Wenn sie zuvor nicht so aufgeschrien hätte, wäre der Brief vielleicht nicht noch ein Stückchen weiter hinuntergerutscht,
200 sodass sie nun mit just diesen beiden Fingern tiefer danach fischen musste, während sie mit der anderen Hand ihr Mieder festhielt. »Ihr wisst nicht einmal, wer ich bin«, sagte sie. »Stimmt, das weiß ich nicht. Ihr habt Euch nicht vorgestellt, und ich wollte nicht neugierig erscheinen.« Das ernüchterte sie. »Ich bin Schauspielerin. Ich bin die Schwarze Rose.« Es erinnerte sie daran, dass selbst der am besten eingeübte Witz auf der Bühne manchmal nicht zündete
oder sich ein Kostüm zum falschen Zeitpunkt verhakte, und endlich brachte sie den Brief ans Tageslicht. Die Rose brach das Siegel, dann erstarrte sie. Warum konnte sie ihm den Brief nicht einfach übergeben? »Tut mir leid, aber er gab mir die Anweisung, ich solle Euch den Brief vorlesen.« »Ja, bitte tut das.« Sie blickte auf das Blatt Papier. »Er ist nur kurz. Eine einzige Zeile: Wirst du für Katherine kommen, wenn schon nicht für mich?« Sie räusperte sich. »Das ist alles.« »Er drückt sich sehr zurückhaltend aus«, sagte St. Vier, stellte ihr aber keine Fragen. »Katherine ist ein nettes Mädchen«, sagte sie. »Ja, ich weiß.« Er hatte sich erhoben und stand nun völlig unbeweglich mitten im Raum. »Er hat sich eine Menge Leute zu Feinden gemacht. Ihm macht es nichts aus, aber ihnen. Ich glaube nicht, dass er fragen würde, wenn es... wenn es nicht...« Halt endlich den Mund, Rose, sagte sie sich. Er blickte eine Weile durch das Fenster hinaus, dann wandte er sein Gesicht wieder zu ihr. »Ja«, sagte er, »ich werde kommen. Er sagte nicht, wie bald?« »Er sagte gar nichts. Aber ich würde sagen, je eher, desto besser.« »Ich kann in einem oder zwei Tagen bereit sein.«
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»In Ordnung.« Plötzlich wurde sie von Müdigkeit überwältigt, eine Art Traurigkeit, die sie schon ihr ganzes Leben lang zu verdrängen versucht hatte. Sie stand auf. »Macht es Euch etwas aus, wenn ich mich ein wenig hinlege?«, fragte sie. »Die lange Reise hat mich sehr ermüdet.« Eigentlich hatte sie einen guten Abgang geben wollen, aber ihr Gleichgewicht schien abhanden gekommen zu sein; sie taumelte gegen St.Vier, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie die Hand des Degenfechters, die sich warm und fest um ihren Ellbogen schloss und sie stützte. »Ist Euch nicht wohl?«, fragte er, und sie dachte: Nein, mir ist nicht wohl. Ich hah mir von Eurem süßen Alec den Bauch vollstopfen lassen mit seinem Kind! Laut sagte sie: »Mir geht es gut. Ich bin nur müde, das ist alles.« »was werdet Ihr tun?«, fragte er, und sie dachte, dass er irgendetwas bemerkt haben müsse oder dass er mit seinem übernatürlich schlauen Körper die Wahrheit spürte, dem Körper, der ihn durch so viele Kämpfe, durch all die Jahre in Tavernen und auf den Straßen am Leben gehalten hatte, dass dieser Körper sie irgendwie sehen und ihr Unglück, ihren Zustand, erkennen konnte, und dass er es wisse — aber dann fuhr er fort: »Könnt Ihr so lange warten und dann mit mir zurückreisen, oder habt Ihr es eilig, wieder nach Hause zu kommen?« Rose schloss die Augen. »Ich weiß es nicht. Ich muss erst einmal über einige Dinge nachdenken. Es war eine sehr schwierige Saison. Ich könnte eine Weile hier bleiben; die Ruhepause würde mir gut tun. Und danach... Wir werden sehen. Das Theaterleben ist so unberechenbar.«
Kapitel 7
Wenn ich ernsthaft übte, vergaß ich immer, in Wörtern zu denken, deshalb verstand ich es nicht sofort, wenn mich die Leute ansprachen. Ich hatte schon eine ganze Weile geübt, hatte mir zuerst einen bestimmten Rhythmus angedrillt und dann versucht, mich selbst mit plötzlichen Ausfällen auszutricksen, als Marcus hereinkam und etwas sagte. Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen. »Was?« »Ich hab gerade für eine Weile frei. Es ist fast dunkel, und du musst sowieso bald aufhören.« »Ja, gut, in Ordnung.« Ich machte meine Streckübungen durch das ganze Zimmer, säuberte den Degen sorgfältig und verstaute ihn. »Schön, Katie, dass ich jetzt endlich deine volle Aufmerksamkeit habe. Ich möchte dich heute Abend in die Stadt ausführen. Was meinst du dazu?« Ich war gerade wieder ein wenig zu Atem gekommen, aber jetzt setzte mein Herzschlag einen Augenblick lang aus. Seine fesche Unbekümmertheit stimmte irgendwie nicht, wirkte ein wenig zu gekünstelt. Er führte etwas im Schilde und schien mächtig stolz auf sich zu
sein. »Ein Abend in Riverside?« Ich tat mein Bestes, mich seinem flotten Ton anzupassen. »Ist das nicht ein bisschen zu fesch? Aber warum nicht? Was ist los?« Marcus versetzte dem Degenständer lässig einen Tritt, sodass die Degen in ihren Halterungen rasselten. »Ich möchte mit dir Madame Glinleys Etablissement besuchen.«
202 Das verschlug mir nun wirklich die Sprache; ich brachte gerade noch ein Quieken hervor. Nur die herzogliche Redensweise half mir weiter: »Ach, wü-ürklich?« »Natürlich nicht nur wir beide. Dein Onkel würde das nie erlauben.« Der Ausdruck auf meinem Gesicht musste Bände gesprochen haben, denn Marcus gab endlich seine angeberische Pose auf und grinste mich breit an. »Sondern Perry. Er ist gerade hier, und ich weiß zufällig, dass er heute Abend arbeitet. Wie wär's, wenn wir ihn verfolgten?« Auf diesem Gelände kannte ich mich aus; hinter Perry herzuspionieren gehörte eben zu unseren Lieblingsbeschäftigungen. »Warum nicht?«, sagte ich und meinte es auch so. In meinem Zimmer rieb ich mich mit einem Handtuch trocken und zog ein frisches Hemd an, darüber dunkle Kleider und weiche Stiefel, dann schnallte ich meinen Degen um, denn schließlich ging es um einen Nachtausflug durch Riverside. In der Küche war gerade niemand, sodass wir uns ungestört mit Brot und Käse und unserem Lieblingsingwerbier eindecken konnten. Durch den Nebeneingang der Küche schlichen wir aus dem Haus und warteten auf Lucius Perry. Perry kam bald danach aus dem Haus. Er trug seinen altmodischen Umhang, die Kapuze über den Kopf gezogen, und ging schnell davon. Die Tageszeit war ideal, um jemanden zu beschatten, denn die zwischen den Hausdächern sichtbaren Flecken Himmel waren immer noch perlgrau, während die Straßen zwischen den Häusern schon im Dunkeln lagen. Ich gab mir Mühe, wie ein Schatten durch die Straße zu huschen, und wie ein zweiter Schatten lief Marcus leise schnaufend neben mir her. Nur Perry schien echt zu sein, ein lebender Mensch, der an anderen Schatten vorübereilte — Schatten von Frauen, die sich möglichen Freiern näherten, Schatten von Taglöhnern, die nach Arbeit suchten, Schatten von Einbrechern, die sich an den Hauswänden entlangschlichen, Schatten
202 von Katzen, die nach Mäusen schnüffelten. Wir hatten fast die Brücke erreicht, als Perry plötzlich in eine Seitenstraße einbog und vor einem großen, verwinkelten Haus mit einem Portikus unter einem tief herabgezogenen Dach stehen blieb. »Ah«, sagte ich leise, »das also ist Madame Glinleys Etablissement.« »Ja, das ist Madame Glinleys Haus«, sagte Marcus selbstgefällig, als hätte er es extra für mich aus dem Hut gezaubert. Wie Tremontaine House bestand auch Madame Glinleys Haus aus mehreren kleineren Einzelhäusern, die man zu einem einzigen lang gestreckten Gebäude zusammengefügt hatte. Lucius Perry zögerte vor der Haustür und wandte sich plötzlich ab, als ein paar Diener herauskamen, die Fackeln in die Wandhalterungen an der Frontseite steckten. Wir zogen uns tiefer in den Schatten zurück. »Und was jetzt?«, flüsterte ich. »Er reißt sich die Kleider vom Leib und suhlt sich in seiner lüsternen Verderbtheit, oder was glaubst du denn?« »Nein, ich meine, was machen wir jetzt? Können wir ihm nicht folgen?« Ich hörte am Rascheln seiner Kleider, dass Marcus entsetzt einen Schritt zurückfuhr. »In das Haus, meinst du? Du kannst da nicht reingehen!« »Warum denn nicht?« Schließlich hatten wir es doch auch bei Teresa Greys Haus geschafft, über die Mauer zu steigen. »Weil... weil du eine Dame bist!« Ich starrte dorthin, wo ich in der Dunkelheit seine Augen vermutete. »Marcus«, sagte ich übertrieben geduldig, »das ist doch vollkommen idiotisch. Der Herzog hat sich grade ein halbes Jahr lang die größte Mühe gegeben, dafür zu sorgen, dass ich keine Dame bin!« »Katie...« »Ich will ja gar nichts tun, Marcus! Ich will doch nur mal gucken, wie es da drin aussieht.« Ich spürte förmlich, wie er
202 sich sträubte. »Marcus, warst du etwa schon mal dort drin, ohne mich mitzunehmen?« »Nein, war ich nicht. Aber ich weiß, wie es in solchen Häusern zugeht.«
»Na, das weiß ich auch. Ungefähr so wie bei dem Herzog mit seinen Freunden, stimmt's?« Er spielte den Beschützer wieder mal so aufdringlich, dass ich zunehmend in Versuchung geriet, irgendetwas wirklich Schlimmes zu tun, nur um ihm eins auszuwischen. Aber allein wollte ich natürlich nicht in das Haus gehen. »Du hast doch selbst gesagt, es sind nur lauter Leute drin, die ständig kopulieren. Kann ja nicht viel schlimmer sein als zuhause. Also, wovor hast du Angst?« »Ich habe keine Angst, vor nichts. Es ist nur... Es wird dir nicht gefallen.« »Wenn es mir nicht gefällt oder wenn es dir nicht gefällt, gehen wir wieder.« »Versprochen?« »Versprochen. Ich will nur mal schnell schauen, das ist alles. Wie bei Teresa Grey. Wir schauen uns die Sache an, aber wir tun nichts.« »Gut«, sagte er, »denn es kostet Geld, und wir haben nicht genug dabei. Du hast Recht, es ist nur ein Haus. Ein Haus mit ein paar Leuten darin, die etwas tun, was Leute überall tun. Nichts, worüber wir uns Sorgen zu machen brauchten. Also los, gehen wir.« Ich folgte ihm über die Straße, und wir traten in den Lichtkreis der Fackeln unter dem Portikus. Schon standen wir vor der Eingangstür zu Madame Glinleys Etablissement. »Und was jetzt?«, flüsterte ich. »Klopft man da einfach an oder was?« »Sie haben eine Klingel.« Marcus drehte den schlichten Messingknauf der Türklingel. Nach einem kurzen Augenblick, der gerade lang genug schien, um vorzutäuschen, dass nicht jemand auf das Läuten gewartet hatte, öffnete sich die Tür. Licht fiel heraus und blendete uns beinahe. Ein musku
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löser, untersetzter Mann stand in der Tür, einfach gekleidet, diskret bewaffnet. Ich spürte es förmlich, als sein Blick an uns hinunterglitt, während er unsere Kleider und damit unsere Geldbörsen abschätzte. »Ach, hallo«, begrüßte er Marcus, »hätte nicht gedacht, dich nach so langer Zeit mal wiederzusehen. Mit welchem Vergnügen können wir dienen?« Marcus richtete sich auf. »Wir möchten Madame Glinley sprechen«, sagte er hochmütig. Es funktionierte. Ich hatte zwar keine Ahnung, was wir mit ihr besprechen könnten, aber der Mann trat beiseite, verbeugte sich und ließ uns eintreten. Die Flure waren dunkel und voller Schatten, wie es sich für ein solches Haus des Lasters gehörte. Ich war mir aber sicher, dass die Bordelle in der Stadtmitte besser beleuchtet waren. Hier gehörte die schummrige Beleuchtung zur Riverside-Atmosphäre, wie es der Herzog ausdrücken würde. Wir folgten dem Mann in einen kleinen Raum, der vollständig mit rotem Stoff ausgekleidet war; eine Couch stand neben einem kleinen runden Tisch. Er zündete ein paar Kerzen an. Auf dem Tisch standen eine Karaffe Wein und zwei Gläser. Marcus schaute dem Mann aufmerksam zu, der die beiden Gläser für uns füllte. Weshalb kannte er Marcus? Vielleicht hatte der Mann früher einmal im Haushalt des Herzogs gearbeitet. »Ich hoffe, es ist bequem genug für Euch und Euren... Freund«, sagte der Mann mit einem viel sagenden Blick auf die Couch. Ich fragte mich, wie viele Frauen mit Degen er im Verlauf einer Woche zu sehen bekam. Er blickte Marcus noch einmal an und verzog das Gesicht zu einem schlauen Grinsen. »Bequem genug, Sir«, wiederholte er. »Geschäftliche Angelegenheiten für Tremontaine, Sir?« Marcus wandte ihm den Rücken zu und nahm ein Glas Wein. »Ich dachte, Ihr würdet dafür bezahlt, keine Fragen zu stellen.« 203 »O nein, Sir, natürlich, Sir«, versicherte der Mann schnell und zog sich mit vielen Verbeugungen aus dem Raum zurück. Nun hatten wir Couch, Tisch, Kerzen und Wein ganz für uns allein. »Na, ich bin echt beeindruckt«, bemerkte ich und ließ mich auf die Couch plumpsen, um die Polsterung zu testen. Sie schien mit Gänsedaunen ausgestopft zu sein. »Das war eine ziemlich schnelle Reaktion, Marcus. Du hast ihn regelrecht in die Flucht geschlagen, du Schlingel. Ich weiß zwar nicht, was wir Madame Glinley erzählen wollen, aber es wird uns schon noch etwas einfallen, nicht wahr?« »Sie wird glauben, der Herzog habe uns geschickt«, meinte er und nippte an dem Glas. »Ich hoffe nur, dass sie es ihm hinterher nicht erzählt.«
»Wofür, glaubst du, ist dieses Zimmer bestimmt?« Ich wippte ein paar Mal auf der Couch auf und nieder, wobei ich meinen Degen hübsch ordentlich vom Polster fernhielt. »Meinst du, dass die Leute schon zu zweit hierher kommen oder lassen sie sich jemand hier hereinschicken? Was meinst du, hätten wir beide auf der Couch Platz?« »Hör auf damit.« Er hielt mich mit beiden Händen an den Schultern fest. »Du bist nicht mehr fünf.« »Ich kann wippen, solange ich will. Dafür ist die Couch da.« Er schaute mich an, die Hände immer noch auf meinen Schultern. »Wisst Ihr eigentlich, Lady Katherine, wenn Ihr hier schreien würdet, würde sich niemand darum scheren.« »Ich weiß.« Ich hörte auf zu wippen und schaute ihm direkt in die Augen. »Ich könnte dasselbe auch zu dir sagen.« »Sie würden einfach annehmen, dass wir eine Menge Spaß miteinander haben.« Seine Augen waren dunkel, die Pupillen groß im sanften Kerzenlicht. »Na ja, dafür ist die Couch schließlich da, oder nicht?« 204 »Natürlich.« »Und? Möchtest du es nicht mal versuchen?« »Ich denke schon.« Kaum hatte er es gesagt, als seine Lippen auch schon auf meinen lagen, hart und warm und exotisch und sehr, sehr nett. Ich hielt die Arme locker an meinen Seiten. Seine Finger bewegten sich nicht, alles geschah nur mit unseren Lippen, die ständig ihre Form und ihre Weichheit veränderten, um alle möglichen Gefühle zu übertragen. Meine Augen schlossen sich. Ich spürte den Samt unter meinen Händen und wollte mich auf den samtenen Bezug sinken lassen, während wir einander mit Zunge und Lippen erkundeten. Ein sanftes Klopfen an der Tür veranlasste uns aufzuhören. Niemand mochte sich darum scheren, wenn wir schrien, aber in diesem Fall musste wohl einer von uns »Herein« sagen. Nan Glinley war so, wie sich wohl jeder eine Mutter vorstellt: klein, rundlich, gemütlich und mit freundlichem Gesicht. Sie trug graue Kleider, und ihr Haar war nach der schlichten städtischen Mode frisiert. Sie blickte mich nur kurz an, und mir war sofort klar, dass sie wusste, wer ich war. Aber sie wandte sich an uns beide. »Womit kann ich Euch dienen?« »Ah«, sagte ich, und Marcus fügte hinzu: »Wir stellen gewisse Nachforschungen an.« »Bei Euch selbst«, sagte Madame Glinley, »oder in meinem Haus?« War es so offensichtlich? Vermutlich ja. Mit dem Rest an Verstand, der mir noch geblieben war, wurde mir klar, dass wir in diesem Raum nicht mehr allein bleiben durften. Marcus und ich würden nackt auf der Couch enden, und das war nicht, weshalb wir zu Madame Glinley gekommen waren. »Ich möchte einen Mann«, erklärte ich herrisch, »aber er muss wirklich richtig gut aussehen. Dunkle Haare. Nicht zu jung, aber erfahren, darauf kommt es mir an. Und von Klasse, kein Abschaum.« 204 »Ich verstehe.« Sie wandte sich an Marcus. »Und Ihr?« »Dasselbe gilt für mich«, sagte er schnell, offenbar hatte er kapiert, was ich vorhatte. »Wir, äh, machen das zusammen.« »Darf ich Euch zeigen, was momentan verfügbar ist?« Ich nickte. Hier drin würden wir Lucius Perry aufstöbern. Wir würden ihn tatsächlich bei der Arbeit in den Gemächern von Madame Glinleys Haus-für-Ihr-Wisst-Schon finden. Sollten wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen? Danach würden wir verschwinden. »Ihr könnt Euch zuerst einen Partner aussuchen, wenn Ihr möchtet«, erklärte sie, »und danach können wir vereinbaren, welche Umgebung Ihr bevorzugt und welches Arrangement. Oder wir können uns jetzt gleich zusammensetzen und alles im Voraus festlegen.« »O Gott!«, entfuhr es mir ungeschickt, als ich endlich begriff, was sie sagen wollte. »Ich meine ... Wir wollen uns erst einmal umschauen... erst mal sehen...« »Ah.« Madame Glinley nickte. »Versteckte Beobachtung? Auch das können wir arrangieren.« Ich atmete tief auf vor Erleichterung; hoffentlich hörte sie es nicht. Auf gar keinen Fall wollte ich mit Lucius Perry auf einer Couch enden, und das galt auch für Marcus.
»Diskretion ist hier wohl entscheidend«, sagte sie, »vor allem angesichts Eures zarten Alters. Wir werden Euch maskiert auf die Suche gehen lassen. Bitte entschuldigt mich für einen Augenblick.« Madame Glinley verließ den Raum. Marcus und ich schauten uns an und brachen in Gelächter aus. Versteckte Beobachtung? Das hatten wir doch schon die ganze Zeit gemacht. »Damit kommen wir nicht durch«, kicherte Marcus nervös. »Was ist, wenn sie uns hinauswerfen?« Ich musste die Hand vor den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.
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»Krieg dich nur wieder ein. Das würden sie nicht tun. Denk dir lieber eine Erklärung aus, warum —« Nan Glinley kam mit einem kleinen Bündel zurück. »Ihr solltet vielleicht die Waffe ablegen«, sagte sie. »Euren Degen könnt Ihr unbesorgt hier zurücklassen. Sofern er nicht für Eure, hm, persönlichen Neigungen erforderlich ist.« Es war ihr natürhch vollkommen klar, dass das nicht der Fall war. Aber sie behandelte uns wie echte Kunden. Ich war beeindruckt. Wenn ich jemals wirklich ein wenig Erfahrung sammeln wollte, dann wäre das der richtige Ort dafür, wo sich eine nette Frau um mich kümmerte. Ich legte den Degen ab, und mein reumütiges Lächeln sollte ihr sagen, dass wir ihn natürlich im Haus einer so netten Frau nicht benötigen würden. Bei Madame Glinley war nichts verboten, aber die Privatsphäre wurde geachtet. Wir wurden in Seidencapes gehüllt, die uns vom Hals bis zu den Zehen bedeckten, und setzten Tiermasken auf. Ich war eine Katze, Marcus ein Uhu. Im Flur vollführte er ein paar Luftsprünge mit ausgebreiteten Armen, sodass sein Schatten wie ein Flügelwesen über die Wände flatterte. »Bitte folgt mir«, sagte Madame Glinley, und das taten wir. Am Anfang schauten wir durch kleine Gucklöcher in Schlafgemächer, die in sehr unterschiedlichen Stilen dekoriert waren. Zur Dekoration gehörten auch junge Männer, die herumsaßen oder -lagen und sich unterhielten. Es war noch zu früh für ihre eigentlichen Betätigungen, aber offenkundig erwarteten sie, schon bald sehr beschäftigt zu sein. Einer bemalte seine Nägel, ein anderer klimperte auf einer Gitarre, wieder ein anderer ölte seinen ganzen Körper ein. Ich wäre am liebsten stehen geblieben, um zu erleben, was mit ihm geschehen würde, aber er war schließlich nicht Perry. »Nein?«, fragte Madame Glinley am Ende des Flurs. Wir schüttelten stumm die Köpfe.
205 »Dann wollen wir es mal im Blumengarten versuchen.« Der Blumengarten war wirklich erstaunlich — ein großer Raum, der einen Teich enthielt, um den echte Pflanzen wuchsen und an dessen Ufern sich spärlich bekleidete Menschen aalten. Wir stiegen vorsichtig zwischen ihnen hindurch, wobei wir uns geradezu unanständig bekleidet fühlten. Außerdem kamen wir uns komisch vor, weil wir immer den ganzen Kopf drehen mussten, um durch die kleinen Augenlöcher der Masken überhaupt etwas sehen zu können. Unter unseren Umhängen waren wir geschlechtslos. Sowohl Männer als auch Frauen versuchten, mit lasziven Blicken, einem flatterhaften Winken mit dem Finger, einem betörenden Hüftschwung unsere Aufmerksamkeit auf ihre Körper zu lenken. Plötzlich schien alles möglich — nein, es schien nicht möglich, es war mögkch —, man hätte irgendeine Person an der Hand nehmen und mit ihm oder ihr davonspazieren und in völliger Sicherheit und Abgeschiedenheit den eigenen Gelüsten frönen können. Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen. Der hier, die dort. Goldenes, gelocktes Haar, das sich über dem tief sitzenden Hosenbund kräuselte, aber wie schnell würden sie alles abwerfen und damit alles enthüllen. Weiche Brüste, die unter dem Gazestoff bebten und wogten und nur darauf warteten, gestreichelt, liebkost, enthüllt zu werden. »Komm schon!«, zischte Marcus. »Bist du aus Stein oder was?«, fauchte ich zurück. »Das sind nur Huren«, antwortete er, als ob sie schon dadurch völlig wertlos würden, weil sie verfügbar waren. Beinahe hätten wir Lucius Perry verpasst. Er war wie ein Edelmann gekleidet, in schwarzen Brokat mit silbernen Spitzenbordüren, der mal kurz vom Hügel herabgeschlendert war und
hier kurz hereinschaute. Aber sein Gesicht war wie eine Maske, die Haut dick und weiß gepudert, die Augenlider blau und gold geschminkt und die Augen schwarz umrandet, so
206 dass sie riesig wirkten. Die Lippen waren blutrot bemalt. Er saß allein neben einem Brunnen und starrte ins Wasser. Wie er so dasaß, wirkte er hilflos, zerbrechlich und verlassen. Nicht nur sein geschminktes Gesicht ließ ihn fast unkenntlich erscheinen, sondern auch diese Haltung, die ich an ihm noch nie hatte beobachten können. Ich fragte mich, ob es nur eine Pose sei, die er absichtlich einnahm, wie die geschminkte Maske, die er trug. Im Gegensatz zu den meisten anderen hier hatte er schließlich die Wahl zu tun, was er wollte. Marcus deutete auf ihn. Perrys Blick zuckte kurz in unsere Richtung, und er erhob sich mit geschmeidigen, anmutigen Bewegungen. Aber Nan Glinley trat schnell auf ihn zu, legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und verließ das Gartenzimmer. »Er gefällt Euch, nicht wahr?« Sie lächelte. »Und damit habt Ihr eine gute Wahl getroffen. Außerdem habt Ihr Glück. Er wird in Kürze Kunden empfangen, und es macht ihm nichts aus, heute Abend beobachtet zu werden.« Uns wäre nicht genug Zeit geblieben, ihr zu sagen: »Nein, das ist schon in Ordnung, wir wollen das nicht sehen, danke auch vielmals, tut uns leid, Euch all die Mühe gemacht zu haben, vielleicht ein anderes Mal...« Ist jemals ein Mensch vor lauter Verlegenheit gestorben? Ich drehte mich kurz zu Marcus um, aber natürlich verhinderten die dummen Masken, dass ich ihm die Gedanken von den Augen ablesen konnte. Mein Freund war eine Eule. Verblüfft hörte ich, wie er dumpf unter der Maske hervor sagte: »Gut, das würde mir gefallen. Ich will sehen, was er macht. Und ich will sehen, wie er es macht.« Na, wenn er es sehen wollte, dann wollte ich es erst recht. Die Sache versprach doch weit interessanter zu werden als alles, was wir bei Teresa Grey hatten beobachten können. Der letzte Teil des Puzzles, das Lucius Perry hieß, und auch noch mit seiner vollen Zustimmung.
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Sie führte uns in ein winziges Zimmer, kaum größer als eine Besenkammer. Wir legten unsere Umhänge und Masken ab und gaben sie ihr zurück. »Ich komme in einer Stunde wieder«, sagte Nan Glinley. »Das sollte eigentlich reichen.« Na, das würde ich doch auch meinen. Ich konnte ja jederzeit die Augen schließen, wenn es mir zu viel wurde. Ich blickte mich in dem Zimmer um. In einer Wand befand sich eine lange, schlitzförmige Öffnung, eine Art schmales Fenster mit dichtem Drahtgeflecht, durch das wir in ein luxuriös möbliertes Schlafzimmer blicken konnten. Es war nur spärlich beleuchtet und wirklich prächtig ausgestattet; man hätte es jedoch nicht als geschmackvoll eingerichtet bezeichnen können, denn es strahlte geradezu aufdringlich Macht und Reichtum aus. Es gab nichts, absolut nichts, vom Kaminbesteck über die Kerzenhalter bis hin zu den Bettpfosten, das nicht vergoldet oder in irgendeiner Weise kunstvoll verziert war. In seinem Brokat und den silbernen Spitzenbordüren wirkte auch Lucius Perry wie eine Verzierung, und nicht einmal wie eine besonders geschmackvolle Verzierung. Er saß in einem schmalen Sessel neben dem Bett, so still, wie er auch neben dem Brunnen im Blumengarten gesessen hatte. Der goldene Kerzenschein auf den reichen, glitzernden Bettund Wandbehängen ließ die Szene wie ein Gemälde erscheinen. Ich fragte mich, was er wohl in diesem Moment dachte. Wusste er, dass wir ihn jetzt beobachteten? Wahrscheinlich nicht, sonst würde er sich doch ein wenig verführerischer benehmen, oder nicht? Warum hatte er nichts zu lesen mitgebracht? Wann passierte endlich mal was? Marcus rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und ich rutschte von ihm weg. Hier drin war nicht sehr viel Platz, und wir bemühten uns beide sehr, einander nicht zu berühren. Wir fuhren erschreckt hoch, als plötzliches Klopfen an der Schlafzimmertür die Stille zerriss. Perry drehte sich langsam
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zur Tür. Ein Mann kam herein und warf seinen Mantel über einen Stuhl. »Halli-hallo«, lächelte Lucius Perry.
Ich linste zu seinem Kunden hinüber. Der Mann war recht klein und ein wenig dick, ein Jedermann, an dem man auf der Straße ohne einen zweiten Blick vorbeigehen würde. Er starrte Perry an, als traute er seinen Augen nicht. »Ja«, sagte er dann, »ja. Mein Gott, du bist wunderschön. Sie hatten Recht.« »Ich bin nur für dich hier. Nenne mir deine Begierden. Oder noch besser, nenne sie mir nicht, zeig mir einfach, wie du es haben willst.« Perry ging langsam auf ihn zu, aber der Mann hielt eine Hand hoch. »Nein, warte noch. Ich will dich erst einmal betrachten.« Perry blieb gehorsam stehen. »Du bist exquisit. Aber die Schminke — um die Augen und sonst auch — ist ein bisschen zu dick aufgetragen. Würde es dir etwas ausmachen, sie abzuwischen?« »Das«, sagte Lucius, »darf ich nicht.« Und als der Mann Luft holte, um zu protestieren, fügte er schnell hinzu: »Aber warum möchtest du dich auf das Anschauen beschränken, wenn du doch alles berühren darfst?« »Ja«, sagte der Mann noch einmal, »ja. Komm zu mir.« Er legte seine Hände an Perrys Wangen, zog seinen Mund zu sich herunter und küsste ihn. Dann schob er Perrys Kopf ein wenig zurück und fuhr die Umrisse seiner Augen, seiner Wangen mit den Fingern nach. Die Schminke war überall auf seinem Gesicht verschmiert und ließ die Maske noch wirkungsvoller erscheinen. Ich sah, wie Perry weich wurde und in einer einzigen, fließenden Bewegung dahinschmolz, als sänke er unter die Wasseroberfläche in die Namenlosigkeit herab. Der Mann erforschte Perrys Körper mit beiden Händen, überall, er öffnete seine Jacke, seine Hände verschwanden unter dem Hemd, streichelnd, drückend, er zog ihn an sich
207 heran, und Lucius Perry floss unter seinen Berührungen dahin, den Kopf weit in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Er genoss es, berührt zu werden. Er genoss es, verehrt zu werden. Madame Glinleys Etablissement war wie für ihn geschaffen. Aber der Kunde war nicht an Lucius Perrys lüsternem Genuss interessiert. Er knöpfte nun seine eigene Hose auf, führte Perrys Hände zu der Stelle hinunter, an der sein eigener Pinsel steif hervorragte. Ich musste einen Moment lang die Augen schließen; dann hörte ich ein Stöhnen und blinzelte durch meine Wimpern. Lucius kniete vor dem Mann und verdeckte so den schlimmsten Anblick. Selbst mir war vollkommen klar, was dort geschah. »Hm«, brummelte Marcus neben mir. »Das hätte er an der nächsten Straßenecke für sehr viel weniger Geld bekommen, als er hier hinblättern muss.« »Pst!«, zischte ich. Der Mann grub seine Finger in Lucius' Haar, bog sich weit zurück und brüllte plötzlich so laut auf, dass ich dachte, das ganze Haus würde herbeistürzen. Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann fiel auf das Bett, und Lucius reichte ihm ein Handtuch. Der Mann wischte sich trocken und wollte wieder aufstehen, obwohl man deutlich sehen konnte, dass er sich eigentlich nicht von der Stelle bewegen wollte. »Wir haben es nicht eilig«, sagte Perry. »Kann ich dir etwas zu trinken bringen?« Sein Kunde trank ein Glas Wein. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war es besserer Wein, als er zu trinken gewohnt war. »Danke«, sagte er. Er sammelte seine Kleider ein. »Ich wünschte, ich könnte noch eine Weile bleiben, aber...« Er zuckte mit den Schultern. Glinleys Etablissement war teuer. Perry nickte. »Komm wieder«, sagte er. »Komm wieder und frag nach mir, wenn du magst.«
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Der Mann lächelte. »Führe mich nicht in Versuchung. Zuerst werde ich eine ganze Weile lang nur von dir träumen.« Er zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. Das war's wohl. Machten es alle so? Diese Sache eine geschlagene Stunde lang zu beobachten, würde mir den Rest geben. Unser Versteck war nicht sehr geräumig, und es war sehr dunkel. Ich konnte Marcus nicht sehen, aber ich hörte ihn dicht neben mir atmen, flach, schnell und ein bisschen ungleichmäßig. »Alles in Ordnung?«, flüsterte ich. Allmählich fragte ich mich, ob wir überhaupt hätten herkommen sollen. »Alles prima. Reg dich ab.«
Lucius Perry war damit beschäftigt, sich sorgfältig wiederherzurichten. Wie ein Schauspieler reinigte er zuerst sein Gesicht, und einen Augenblick lang sah ich den Mann, den wir kannten, die Haut bleich im Kerzenlicht, aber seine Augen leuchteten. Er starrte in den Spiegel über der Frisierkommode, drehte sein Gesicht von einer Seite zur anderen und schien zu prüfen, was andere Leute von ihm zu sehen bekamen. Er berührte seine Lippen, ließ den Finger über den geraden Nasenrücken wandern, streckte sich die Zunge heraus und lachte. Er nahm mehrere kleine Töpfchen aus einer Schublade und begann, neue Schminke auf seine Augenlider und um die Augen aufzutragen. Die Farben gaben ihm das Aussehen eines Magiers oder einer Traumgestalt. Zuletzt schminkte er die Lippen, fuhr mit dem scharlachroten Finger über sie, genoss die Empfindung. Dann rieb er ein paar Mal darüber, bis sie völlig mit Schminke gesättigt waren. Hätten wir die Farbe nicht gesehen, hätten wir glauben können, er habe sie durch heftiges Reiben gerötet. Schließlich griff er nach einem Kamm und zog ihn langsam durch sein zerzaustes Haar, immer und immer wieder, bis es glatt auf seinem Kopf anlag. Er warf einen kritischen Blick in den Spiegel, fuhr sich noch einmal mit der Hand durch das Haar und blickte auf. 208 Ich hatte das leise Klopfen völlig überhört. Ein anderer Mann trat ein. Lucius Perry stand auf und verbeugte sich. Der neue Kunde war wie ein Kaufmann gekleidet, vielleicht war er Ladenbesitzer. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, über das Bett mit dem hübschen Kanapee, das Kaminfeuer, die Tapeten; einmal schaute er uns direkt an, was mir einen ordentlichen Schrecken einjagte, aber unser Guckloch musste wohl durch ein Bild oder einen Wandbehang gut getarnt sein, und ich vermutete, dass er es bewunderte. »Nun gut«, sagte er, »das Schlafzimmer eines Edelmanns. In einem solchen Raum war ich noch nie.« Lucius Perry entgegnete affektiert: »Es sieht nicht viel anders aus als das Schlafzimmer eines ganz normalen Mannes.« Der Mann rang unsicher die Hände. »Und bist du denn ein ganz normaler Mann?« »Ich bin besser. Schau mich an. Meinst du nicht auch?« »Ein besserer Mann als ich? Doch wohl kaum.« »Nein? Vielleicht solltest du noch mal genauer hinsehen.« »Jeder sieht gut aus, wenn er in Kleidern für dreißig Golddukaten steckt. Zieh sie aus.« »Was für eine Unverschämtheit!«, rief Perry arrogant. Oh, er genoss die Szene, das merkte sogar ich, und verhielt sich genau so hochnäsig und gemein, wie der Mann es von ihm erwartete. Dieser Kunde war ganz anders als der erste. Sie trugen einen Wettkampf aus und spielten zugleich eine Art Drama. »Der Mantel allein hat fünfzig gekostet!« »Ich handle mit Stoffen, du Hurenbock. Ich weiß genau, was deine ganze Aufmachung gekostet hat. Wahrscheinlich bist du hundertmal an meinem Laden vorbeigelaufen und hast mich nicht ein einziges Mal angeschaut. Aber jetzt wirst du mich anschauen. Du wirst mich anschauen, und es wird dir gefallen.« Er keuchte so heftig, dass ich schon dachte, er würde den armen Lucius schlagen. Aber der schien in keiner Weise beunruhigt. 208 »Ich schaue dich an«, sagte Perry. »Schau mich weiter an«, knurrte der Mann. »Ich schaue immer noch.« Inzwischen keuchten beide sehr heftig. »Was siehst du?« »Ich sehe dich. Ich sehe dich, und es gefällt mir. Du bringst mich dazu, dass ich etwas begehre, das ich nicht begehren sollte.« »Und was ist das?« »Ich will mir für dich die Kleider vom Leib reißen. Ich will, dass du mich ganz nackt ausziehst. Ich will, dass du mich so siehst, wie mich noch niemand jemals gesehen hat.« »Deine adligen Freunde würden das aber nicht billigen.« »Meine adligen Freunde können sich wahren Genuss nicht einmal vorstellen. Zieh mich aus. Entblöße mich.« »Entblöße dich selbst«, sagte der Mann heiser, »ich will dir dabei zusehen.« Perry hob die Hand an seine Jacke und knöpfte sie langsam auf, dann auch die Hose, bis er in seinem Hemd dastand, so wunderschön wie Elfenbein, und die silberne Spitze umrahmte seine Schultern.
Wie verzaubert beobachtete der Mann ihn. Es war wie Hexerei: Lord Lucius Perry, der hier nicht er selbst war, sondern jemand, der ihm genau glich, nahm Schicht um Schicht seine Verkleidung ab, bis er sich als bemalte männliche Hure entblößt hatte und nun seltsamerweise nicht mehr sich selbst glich, sondern wie ein völlig bekleideter Edelmann aussah. Jedenfalls dachte ich das; er wollte selbst erproben, wie weit er gehen konnte, und das tat er auf diese Weise. Ich hoffte, dass er sich nicht eines Tages in seinen verschiedenen Leben verirrte. Der Stoffhändler hob Perrys Hemd über dem Hintern hoch und streichelte ihn. »Leg dich hin«, befahl er. »Du gehörst jetzt mir.« 209 »Ich gehöre dir«, seufzte Perry und legte sich mit dem Gesicht nach unten auf das geschmacklose, vergoldete Bett. Was sie dann dort taten, schien mir nicht mehr so furchtbar zu sein, denn ich konnte nicht sehr viel davon sehen, sah genau genommen nur einen Rücken und ein paar Beine. Aber die Geräusche, die sie von sich gaben, waren am schlimmsten, vor allem gegen Ende. Ich spürte, dass sich Marcus neben mir zur Wand drehte. Ich tastete im Dunkeln nach seiner Hand, erwischte aber nur den Rand seines Umhangs. Er zitterte heftig. Der Mann war bereits wieder aufgestanden und knöpfte seine Hose zu. »Zieh dich an«, befahl er brüsk. »Ich will dich nächste Woche wiedersehen. Aber zieh etwas anderes an.« »Wie Ihr wünscht.« Der Mann ging, und Perry begann, sich zu waschen. Marcus murmelte leise: »So. Jetzt weiß ich endlich, wie es von außen aussieht.« »Wie was von außen aussieht?«, flüsterte ich zurück. Er riss sich plötzlich von mir los. »Tut mir leid«, sagte er und stieß die kleine Tür auf. Ich stolperte hinter ihm in den Flur hinaus, wo er bereits neben einem der kleinen Waschbecken kniete und sich übergab. Ich entdeckte überall solche kleinen Waschbecken, die den ganzen Flur entlang aufgestellt waren. Vermutlich wurden sie in diesem Etablissement ziem-Hch häufig benutzt, wofür auch immer. Ich versuchte, ihn bei den Schultern zu halten, aber er schob mich weg. Und natürlich hatte er auch selber ein sauberes Taschentuch dabei. »Du solltest Wasser trinken«, sagte ich, »damit kannst du den bitteren Geschmack wegspülen. War es der Wein, Marcus? Ist dir davon schlecht geworden?« Er setzte sich auf den Boden, die Knie hochgezogen, die Arme darum geschlungen. »Nein. Ich könnte sogar noch mehr 209 davon vertragen.« Seine Zähne klapperten. »K-kannst du m-mir noch ein Glas Wein holen?« Ich schaute mich verzweifelt im kerzenbeleuchteten Korridor um. Da war eine Klingelschnur, und ich zog daran. Der Mann, der uns am Eingang begrüßt hatte, tauchte auf. »Meinem Freund ist schlecht«, erklärte ich. »Bring uns unsere Sachen, wir wollen gehen. Tut mir leid, dass wir hier alles verdreckt haben.« »Ist normal«, gab er zurück. »Hat Euch wohl ein wenig zu sehr auf den zarten Magen geschlagen, Sir?« »Halt die Klappe«, knurrte Marcus. »Hör auf, den großen Herrn zu spielen«, sagte der Mann. »Jetzt bist du vielleicht der Rammeljunge des Herzogs, aber ich bin ein alter Freund vom Roten Jack und weiß, was du früher mal warst.« Marcus stützte sich wieder mit beiden Händen auf das Waschbecken. »Lass ihn in Ruhe!«, befahl ich dem Freund des Roten Jack. »Er kann den Herrn spielen, so oft und lange er will.« Ich hörte ein ersticktes Lachen, das von Marcus kam, ein grauenhaftes Geräusch, weil er es ausstieß, während er gleichzeitig würgte, aber es ermutigte mich. »Und jetzt zeig uns den Weg zu unserem Zimmer!«, sagte ich herrisch, »und dann kannst du verschwinden!« Der Mann starrte mich wütend an, aber als Marcus wieder stehen konnte, führte er uns zu dem Zimmer mit der Couch zurück.
»Von dem kriegt Ihr nicht mehr viel Spaß ab, Mylady«, sagte der Mann grob. »Wirklich schade, er war nämlich mal der hübscheste kleine Wichser auf dem Gossenstrich.« »Raus!«, fauchte ich und blickte mich nach meinem Degen um. Noch bevor ich die Waffe zur Hand nehmen konnte, war er verschwunden — und zwar ohne Trinkgeld, wie ich wohl kaum hinzufügen muss. 210 Mein Freund saß zitternd auf der Couch. Ich legte meinen Mantel um seine Schultern und flößte ihm ein wenig Wein ein. »Mach dir nichts draus«, tröstete ich ihn. Ich musste auf und ab gehen, da mich Marcus nicht an sich heranließ. »Der ist doch nichts weiter als ein schmutziger, blöder, idiotischer Zuhälter. Wir sagen es meinem Onkel, und der wird ihn auf die Straße werfen lassen.« »Nein, Katie, nein, davon darfst du Tremontaine nichts erzählen, bitte Katie, schwöre es mir!« »Na gut, in Ordnung«, sagte ich. »Du hast ja Recht. War vermutlich sowieso eine blöde Idee. Aber jetzt ist es vorbei, Marcus, du wirst dich bald wieder besser fühlen. Tut mir leid, dass dir davon schlecht geworden ist. Hast du ja nicht wissen können.« »Doch, hätte ich!«, widersprach er heftig. »Ich wusste es ganz genau. Verstehst du denn nicht?« Er zitterte so sehr, dass er kaum noch das Weinglas halten konnte, deshalb schluckte er den ganzen Inhalt auf einmal hinunter. »Du hast gehört, was der Bursche gesagt hat. Und ich hab's dir damals im Garten auch gesagt, aber du hast es eigentlich immer noch nicht begriffen, stimmt's?« Allmählich begann ich zu begreifen, aber ich wünschte mir, ich müsste es nicht begreifen. »Es ist doch nicht deine Schuld«, sagte ich. »Du warst noch ein Kind! Das war in Riverside, und du warst nur ein kleiner Junge und brauchtest das Geld, nicht wahr?« »Ich bekam kein Geld. Der Mann, nüt dem meine Mutter zusammen war, verkaufte mich an Jack, als sie starb. Jack gab mir was zu essen und eine Ecke zum Schlafen, und ich musste für ihn arbeiten. Als ich dann nicht mehr so nett und klein und süß war, konnte er mich plötzlich nicht mehr brauchen. Jemand erzählte ihm, der Irre Herzog mochte eher ein wenig ältere Jungen. Also brachte er mich zum Herzog und verkaufte mich an ihn.« 210 Es stimmte also, das mit ihm und meinem Onkel, das, was die Leute sich zuraunten, das, was ich mich geweigert hatte zu glauben. Ich schluckte einen bitteren Brechreiz hinunter. Ich wusste nicht, wie ich das aushalten sollte, aber ich musste es durchstehen. Furcht ist der Feind des Fechters. Ich hörte zu, ich verhielt mich ganz still, aber ich konnte meinem Freund nicht mehr in die Augen schauen. »Tremontaine rettete mir das Leben. Er gab mir ein Zimmer mit einer Tür, die sich abschließen ließ.« Ich ließ den Atem entweichen, hatte nicht einmal gemerkt, dass ich ihn angehalten hatte; ich kippte einen kräftigen Schluck Wein hinunter. »O Marcus.« Ich wollte ihn umarmen, aber ich sah, dass er nicht berührt werden wollte. Und dass er mir noch nicht alles gesagt hatte. »Er gab mir Lehrer, Bücher und - nun ja, du weißt ja, alles. Ich verdanke ihm mehr als irgendjemandem sonst. Er hat mich seither immer beschützt, niemand wagt mehr, mich anzufassen, und ogottogottogott, wenn Tremontaine herausfindet, dass ich nach alledem trotzdem hierher gekommen bin, wird er mich verdammt noch mal umbringen, Katherine. Das wird er, du darfst es ihm nicht erzählen!« »Werde ich auch nicht«, versprach ich ihm. »Ich meine, weil es jetzt schon so lange her ist und alles in Ordnung war, dachte ich, es spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich dachte, ich könnte mich selber auf die Probe stellen, einfach nur Perry zuschauen. Ich habe keine Ahnung, wie er es aushält, ehrlich, ich weiß es wirklich nicht.« »Er stellt sich selbst auf die Probe«, erklärte ich, »wie ein Degenfechter. Das hier ist für ihn eine Herausforderung.« »Na, die kann er annehmen, wenn er will. Er ist offenbar verrückter, als ich gedacht hatte.« »Ist noch Wein übrig?« Ich goss unsere beiden Gläser voll und trank. Sofort wurde mir wärmer, und ich fühlte mich mutiger. »Komm, wir gehen«, schlug ich vor. »Ich glaube, ich 210
kann den Weg zum Ausgang selbst finden.« Ich schnallte meinen Degen um, allerdings waren meine Hände ein bisschen zittrig. »In Ordnung.« Er schaute mich mit dunklen, weit aufgerissenen Augen an. »Hasst du mich jetzt?« »Dich hassen? Wieso sollte ich dich hassen?« Ich legte ihm den Arm um die Schultern, und dieses Mal ließ er es zu. »Komm schon, wir gehen nach Hause.« In Madame Glinleys Etablissement duftete es nach Sandelholz und Bienenwachs und Rauch und Rauschmitteln und Körpern. Wir suchten unseren Weg durch unzählige, völlig gleich aussehende Korridore und gaben uns Mühe, möglichst nicht bemerkt zu werden. Einmal stellten wir uns tatsächlich wie Statuen in leere Nischen, als uns neue Kunden entgegenkamen. Die Räume wirkten nun irgendwie bekannt. »Waren wir hier schon mal?«, flüsterte ich. Eine Tür ging auf, und da keine Nische zu finden war, pressten wir uns gegen die Wand. Es war Lucius Perry, der aus dem Raum kam, in dem er arbeitete. Er war gebürstet und geschniegelt, trug einen Mantel und war offenbar auf dem Weg nach Hause. Wir folgten ihm durch das Haus, hielten uns aber weit genug zurück, sodass er uns nicht bemerkte. Einmal blickte er sich um, und schnell umarmten wir uns wie ein Liebespaar. Ich verbarg meinen Kopf an Marcus' Schulter, und er legte sein Gesicht in mein Haar, bis wir hörten, dass sich Perrys Schritte entfernten. Als wir nach draußen kamen, roch sogar die Luft von Riverside frisch. Ich wollte mich auf den Heimweg machen, aber Marcus hielt mich am Arm zurück. Er nickte hinter Perry her und hob die Augenbrauen. Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte für heute genug. Außerdem war Perry schon fast aus dem Lichtschein der Fackeln des Hauses verschwunden. Er würde sich wahrscheinlich bald eine Sänfte oder einen Fackelträger nehmen, und ich hatte keine Lust, ihm im Dunkeln zu fol
211 gen. Wir warteten im Schatten des Etablissements, bis Lucius Perry in der Nacht verschwunden war. Plötzlich entdeckten wir zwei Männer, die ihm folgten, die immer schneller gingen, und hörten ein lautes, dumpfes Geräusch und einen noch lauteren Aufschrei. Wir rannten in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war, Marcus hatte ein Messer gezogen und ich den Degen. Es war eine der vielen kleinen Riverside-Gassen, in denen sich die Dächer der Häuser fast berühren. Wir konnten kaum die Umrisse der beiden Männer und eines weiteren Mannes ausmachen, die auf eine am Boden kauernde Gestalt einprügelten, die sich aber keineswegs still verhielt, obwohl sie ihr sehr zusetzten. »Aufhören!«, schrie ich, und zu meinem Entsetzen hörte ich einen der Männer fragen: »Ist das das Mädchen? Ja, sie ist es!« »Lauf, Katie!« Mit dem Degen in der Hand konnte ich nicht davonlaufen. Ich konnte es einfach nicht. Ich wusste, ich konnte es mit ihnen aufnehmen. Sie hatten keine Degen, aber ich hatte einen. »Katie! Bitte!« »Hol Hilfe!«, befahl ich Marcus, als die Männer bereits auf mich zuliefen, während sich der arme Lucius Perry keuchend auf dem Boden krümmte. Aber Hilfe war bereits im Anzug. Die Männer gehörten zur Schutztruppe des Herzogs — ein Diener und ein Degenfechter, die zwar keine Livree trugen, aber ich kannte beide gut und war noch nie so froh gewesen, sie zu sehen. Sie stellten sich den drei Schlägern in den Weg. Sie waren auch viel besser ausgebildet und ausgezeichnet bewaffnet. Ich würde nun gern behaupten, dass ich sie unterstützte, aber das tat ich nicht. Die Männer waren alle sehr viel größer als ich, außerdem war das hier ein Straßenkampf ohne jede Regel. Also hielt ich mich zurück. Die Sache war dann 211 auch sehr schnell vorbei, als zwei der Schläger die Flucht ergriffen und der dritte gefangen genommen wurde, damit man ihn verhören konnte. Sie banden ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Der Degenfechter führte ihn ab, während sich der Diener um Lucius Perry kümmerte, der nicht mehr allein gehen konnte. Wir machten uns langsam auf den Rückweg. Der Fechter, Twohey hieß er, sagte: »Lady Katherine, wärt Ihr wohl so freundlich, den Burschen hier mit Eurem Degenknauf in die Rippen zu schubsen? Richtig schön hart?
Genau so, prima, danke. Und jetzt komm, Bürschchen.« Danach fühlte ich mich plötzlich sehr viel besser. Mein Onkel trug einen hellgelben Morgenmantel, eine Farbe, die ihm nicht stand. Er stand blinzelnd oben an der Treppe in der großen Empfangshalle, nachdem er bereits vorgewarnt worden war, dass sich etwas ereignet hatte — durch etwas, das ich allmählich als ein wirklich bewundernswert ausgeklügeltes Netzwerk von Spitzeln zu erkennen begann. »Ein Mal im Leben«, deklamierte er affektiert von oben herab, »begebe ich mich zu einer rechtschaffenen Stunde zu Bett, und was schleift ihr herbei? Menschliche Körper.« »Einen zum Verhören, den anderen für das Bett, Mylord«, erwiderte Twohey frohgemut. »Nicht für mein Bett, möchte ich hoffen«, sagte der Herzog, »der Mann ist ja halb verblutet.« Erst jetzt erkannte er, wer es war. »O mein Gott. Lasst ihn gleich verarzten. Sofort. Warum zum Teufel hältst du ihn wie ein Lumpenpaket?« »Und was ist mit dem hier?« Mein Gefangener stöhnte, also rammte ich ihm noch einmal den Degenknauf in die Rippen. »Katherine, meine Liebe! Ich brauche Informationen von ihm, der Mann ist keine Übungspuppe für dich. Bringt ihn in den Keller. Finian soll sich ein wenig mit ihm beschäftigen. Ich komme später runter. Marcus, komm her und hilf mir.« »Ich würde gern direkt ins Bett gehen, bitte, jetzt sofort.« 212 »Wü-ürklich?«, sagte der Herzog gedehnt, dann befahl er scharf: »Komm sofort hier rauf!« Marcus stieg leicht taumelnd die Treppe hinauf. Ich beobachtete die beiden ängstlich. Stimmte das alles? Hatte der Herzog wirklich meinen Freund gerettet und trotzdem immer die Finger von ihm gelassen? Wenn er Marcus wehtat, würde ich ihn töten. Als ob er meine Gedanken erraten hätte, sagte der Herzog kalt: »Katherine, ich kann es nicht glauben. Kaum lasse ich dich für einen Augenblick allein, und schon führst du meinen persönlichen Assistenten ins Verderben.« Ich spürte Übelkeit aus meinem Magen hochsteigen. Woher wusste er es? Was würde er jetzt tun? »Der Junge ist betrunken«, erklärte der Herzog, »und das heißt vermutlich, dass auch du betrunken bist. Geht zu Bett, alle beide! Und wenn ihr morgen früh mit einem dicken Kopf aufwacht, lasst euch von Betty diesen unsäglich ekelhaften grünen Tee verabreichen. Aber stört mich bloß nicht. Ich werde die ganze Nacht aufbleiben müssen, um den Gefangenen zu foltern.« Er stolzierte in seiner ganzen strahlenden senfgelben Glorie davon. Ich denke, ich war betrunken genug, um es für eine gute Idee zu halten, ihm erklären zu wollen, dass ich keineswegs betrunken sei — jedenfalls spürte ich nichts davon. Marcus hatte viel mehr Wein getrunken als ich; aber er hatte ihn ja auch viel nötiger gehabt. Ich schaute Marcus nach. Der Junge hatte wirklich sehr hübsche Schultern. »Gute Nacht«, sagte ich, aber es war niemand mehr da, der es hörte. Lucius Perry träumte, dass er ein Baum sei und dass Holzfäller auf die Rinde einhackten, aber die Rinde war sein Gesicht. Es tat höllisch weh. Nun, wenigstens wusste er jetzt, welche Schmerzen ein Baum erleiden musste. Er würde sei 212 nem großen Bruder sagen, er dürfe auf seinem Landsitz keine Bäume mehr fällen. Dann wieder flog er hoch über dem Wald, aber etwas zerrte an seinem Bein, und schon verlor er das Gleichgewicht, stürzte in die Bäume, die Zweige und Aste peitschten seinen Körper von allen Seiten, bis er schließlich auf dem Waldboden aufschlug wie eine Wildgans, die von hundert Pfeilen getroffen worden war. Sie stachen ihn überall, sobald er sich zu bewegen versuchte. Haltet still, sagte ein Reh. Trinkt das hier. Das Getränk, das ihm das Reh einflößte, ließ ihn wieder in den Schlaf sinken. Als er erneut aufwachte, befand er sich in seinem eigenen Körper und lag in einem Bett. Der Herzog von Tremontaine beugte sich über ihn. Lucius' Lippen klebten zusammen, und er konnte nur auf einem Auge sehen. Schon bei der geringsten Bewegung schössen solche Schmerzen durch seinen Körper, dass er mit einem schwachen Stöhnen zu protestieren begann. Der Herzog wich ein wenig zurück und sagte beruhigend: »Ich bitte nicht um deine Gunst.« Je-
mand, den Lucius nicht sehen konnte, schob etwas zwischen seine Lippen, vielleicht eine Art Schnabeltasse, und Wasser tröpfelte in seinen Mund. Wieder hörte er Tremontaines Stimme: »Perry, es tut mir sehr leid. Ich kenne den Mann, der das getan hat, aber es ist alles meine Schuld.« Was ist denn passiert?, wollte er fragen, aber seine Lippen waren so steif, dass sie keine Worte formen konnten. »Ich dachte, ich hätte einen ganzen Tag Zeit«, fuhr der Herzog fort, »aber ich hatte keine Ahnung, dass die Frist schon um Mitternacht enden würde. Doch das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Du kannst hier bleiben, bis du dich völlig erholt hast. Ich verspreche dir, dass du dich hier sicher fühlen kannst. Oder ich kann dich nach Hause bringen lassen, sobald es dir wieder ein wenig besser geht.« Der Herzog fügte noch etwas hinzu, etwas über irgendwelche Botschaften und Zusi 213 cherungen, aber Lucius schloss die Augen, damit er sich die Wände eines kleinen weißen Hauses besser vorstellen konnte, auf die das Sonnenlicht fiel, und einen Strauß Rosen, die frisch erblüht waren; der Strauß stand auf einem Tisch, und der Tisch spiegelte sich im Wandspiegel. »Dein Onkel benimmt sich wieder mal sehr gemein«, sagte Marcus. Wir hatten den ganzen Vormittag in seinem Zimmer Shesh gespielt, weil er uns verboten hatte, das Haus zu verlassen. Marcus konnte sich nicht sehr gut auf das Spiel konzentrieren, deshalb gewann ich endlich einmal. »Er spricht nicht mehr mit mir und will mir auch nicht sagen, was los ist.« »Ist es wegen Madame Glinley? Du hast ihm doch nicht... Du hast ihm doch nicht etwa davon erzählt, oder?« »Machst du Witze? Er müsste mich erst foltern, bevor ich ihm das verrate, und dazu hat er im Moment keine Zeit. Aber er weiß, dass wir etwas angestellt haben. Nur sagt er eben nichts.« »Ist er betrunken?« »Nein, denn dann würde er reden. Er starrt mich nur einfach wütend an und sagt, ich solle ihm nicht auf die Nerven gehen. In der Küche weiß auch niemand Bescheid. Er isst nur Käse und Brot. Und bespricht sich dauernd mit seinen Sekretären und mit Rechtsanwälten und ziemlich zweifelhaften Gestalten und schreibt viele Briefe.« »Dann hat es was mit Perry zu tun«, behauptete ich weise. »Wahrscheinlich plant der Herzog, sich an den Tätern zu rächen. Wissen wir denn schon, wer es war?« »Woher soll ich das wissen? Er redet doch nicht mehr mit mir!« »Aber er weiß es bestimmt. Der Mann im Keller...« »Der ist weg. Ich habe schon nachgesehen.« »Matt.« »Was?« 213 »Matt. Du bist matt. Dein Magier befindet sich in einer auswegslosen Situation.« Marcus schaute kurz auf das Spielbrett, dann nahm er mir einen meiner Bauern, »wusste doch, dass du auf den Trick hereinfällst.« Ich überhörte den Spott. »Wir sind wirklich eingesperrt«, sagte er. »Ich glaube, er meint, dass jemand hinter uns her ist, wie bei Perry. Hinter dir her, um genau zu sein.« »Und du wirst nur mit mir zusammen eingesperrt, um mir Gesellschaft zu leisten?« Dieses Mal nahm er mir die Königin. »Oh, verdammt, Marcus, ich hab das nicht mal gesehen!« »Ich weiß.« Meine Hand lag neben dem Spielbrett; er legte seine eigene Hand darauf. Seine Haut fühlte sich warm an und ein klein wenig feucht. »Marcus«, sagte ich, »bereust du es, dass du mich geküsst hast?« »Eigentlich nicht. Solange du es nicht bereust?« »Nein, ich bereue es nicht«, antwortete ich. »Ich würde es sogar wieder tun.« Seine Hand drückte ein wenig stärker auf meine, aber sonst bewegte er sich nicht. »Dir wird nur schlecht von Männern, nicht von mir, hab ich Recht?« »Nein, von dir ganz bestimmt nicht.« »Ich meine, nur weil ich mich manchmal wie ein Mann anziehe... Wenn dich das abstößt, kann ich mal... na ja...« »Deine Kleider ausziehen?«
»...weil ich doch eigentlich gar kein Mann bin, verstehst du. Ich habe ... na ja, ich habe gewisse Ausformungen.« »Ist mir schon aufgefallen.« »Also, was ist? Willst du nun oder nicht?« »Wenn du willst?« Ich berührte seine Lippen mit den Fingern. »Ich will.« Diese Küsse waren anders: mehr wie essen, eigentlich befriedigten wir unseren Hunger, obwohl wir gar nicht gewusst hatten, dass wir so hungrig gewesen waren, bis wir den Mund 214 voll angenehmster Empfindungen hatten. Es war, als wäre unser Verstand, der gerade noch Shesh gespielt hatte, plötzlich durch das Dach geflohen. Ich wusste nur noch eins, dass sich alles so wundervoll anfühlte und dass ich noch viel mehr davon wollte. Ich hatte mir Marcus noch nie ohne Kleider vorgestellt, und nun stand ich vor ihm und riss sie ihm vom Leib, um endlich an seine Haut zu kommen. Es machte mir gar nichts aus, als seine Hände meine Brüste fanden. Ich ermunterte ihn sogar dazu und schob seinen Kopf hinunter, damit ich sein Gesicht und seinen Mund an ihnen spüren konnte. Wir endeten auf dem Teppich, weil wir zu schüchtern waren, ins Bett zu steigen. Dann rollten wir auf dem Teppich herum und streichelten einander und stießen den Tisch mit dem Shesh-Spiel um. Einen schwarzen Bauern konnten wir später nicht mehr finden. Marcus begann zu stöhnen und stieß plötzlich hervor: »Katie, hör auf«, aber ich sah keinen Grund aufzuhören. Plötzlich packte er mich, zog mich an sich und schrie auf, und dann wurde er ganz still. Als er leise zu weinen begann, hielt ich ihn eng an mich gepresst, und es machte mir überhaupt nichts aus, dass sein klebriges Zeug überall an unseren Körpern war. »Wer möchte eigentlich noch raus?«, flüsterte ich in sein Haar. Da musste er lachen, und ich leckte sein salziges Ohr. Lord Ferris saß in einem bequemen Ohrensessel in seinem Arbeitszimmer und las die Geschichte des Aufstiegs des Rats der Lords nach dem Sturz des dekadenten Königtums, als man ihn informierte, dass David Alexander Tielman Campion, Herzog von Tremontaine, an seiner Haustür vorgefahren sei und ihn zu sprechen wünsche. Lord Ferris lächelte. »Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt. Er kann jedoch warten, wenn es ihm behebt.« »Soll ich ihm Erfrischungen anbieten, Mylord?« 214 »Natürlich. Aber keine sehr süßen Dinge. Ich glaube, seine Hoheit mag eher Salziges. Und viel Wein. Möglicherweise möchte er auch ein wenig Ablenkung. Warum geben wir ihm nicht das hier?« Er reichte dem Diener ein Buch: Der Triumph des Großen Kreises. »Könnte für ihn recht lehrreich sein.«
Kapitel 8
Der herzogliche Haushalt war ein einziges, riesiges Durcheinander; die Chance war hoch, dass wir den ganzen Tag auf dem Teppich hätten liegen können, ohne dass uns jemand entdeckt hätte. Aber wir wollten unser Glück nicht auf die Probe stellen, deshalb spürten wir unseren weit verstreut herumliegenden Kleidungsstücken nach und zogen uns wieder an. Es würde noch andere Morgen geben, an denen der Herzog nicht so früh aufstand, um Gefangene zu foltern. An einem normalen Morgen bemerkte er absolut gar nichts. Marcus ging hinaus, um die allgemeine Lage zu erkunden, während ich mein Haar in einen halbwegs ordentlichen Zustand brachte. »Er ist ausgegangen«, sagte Marcus, als er zurückkam. »Aber wir dürfen immer noch nicht.« Er hatte ein paar Stücke Apfelkuchen mitgebracht, und wir setzten uns ans Fenster und fütterten einander. Wir wünschten uns dringlich, dass das, was mit Lucius Perry geschehen war, mit uns nichts zu tun hatte, aber wir mussten die Möglichkeit in Betracht ziehen. Durchaus denkbar, dass wir die Schläger überhaupt erst zu ihm geführt hatten. Oder vielleicht hatten sie auch erst damit begonnen, nachdem wir angefangen hatten, ihm nachzuspüren. Einer von ihnen hatte mich erkannt, obwohl ich, wie Marcus erklärte, allmählich in der Stadt recht gut bekannt war. Aber warum hatten wir jetzt Hausarrest, wenn nicht zu unserem eigenen Schutz? Wenn wir Lucius Perry nicht verfolgt hätten, 214 wäre er vielleicht gar nicht angegriffen worden. Oder vielleicht hatte auch das, was ihm zugestoßen war, den Herzog erst in Sorge um uns versetzt.
Dann war da noch die Frage der Schlosswächter von Tremontaine. Sie waren bemerkenswert schnell am Ort des Geschehens aufgetaucht und uns zu Hilfe gekommen. Vielleicht hatte der Herzog sie in der Nähe postiert, damit sie ein beschützendes Auge auf Lucius hielten oder auf Madame Glinleys Etablissement, das ihm schließlich zum Teil gehörte. Er hatte seine Späher überall in Riverside im Einsatz. Aber möglicherweise — und das war ein besonders furchtbarer Gedanke! - sollten sie auch ein Auge auf uns halten? Vielleicht waren sie uns schon immer überall hin gefolgt? In diesem Fall würde der Herzog sehr genau Bescheid wissen, wo wir gewesen waren. Dann würde es zweifellos ziemlich Krach geben, sobald er von wo auch immer zurückkehrte. Wir mussten uns von diesen Aussichten ablenken. Außerdem war das Letzte, was wir wollten, dass er plötzlich zurückkehrte und uns nackt auf dem Teppich fand. Deshalb zogen wir los, um uns nach Perrys Zustand zu erkundigen. Aus Gründen, an die sich niemand mehr erinnern konnte, hieß Perrys Krankenpfleger Gobber Slighcarp, oder wenn sie es wussten, verrieten sie es uns nicht — wie er zu diesem seltsamen Namen gekommen war, meine ich. Aber Gobber war ein sehr fähiger Krankenpfleger, und es war eine absolut richtige Entscheidung, ihm Lucius Perry anzuvertrauen. Er pflegte normalerweise verletzte Degenfechter, seit er wegen irgendwelcher unerhörter Verbrechen, an die sich ebenfalls niemand mehr erinnern konnte, von der Medizinschule geflogen war. Wir gaben uns Mühe, das, was geschehen war, wieder gutzumachen, und machten uns für Gobber nützlich. Marcus besorgte Sachen aus der Küche. Ich gab Betty Geld, damit sie in der Stadt Blumen und Duftkerzen kaufte, denn es ist 215 doch nett, solche Dinge neben dem Bett zu haben, wenn man krank ist. Wir waren allerdings nicht so begierig darauf, Perry selbst zu sehen. Aber dann kam Gobber aus dem Krankenzimmer und sagte, dass der Edelmann mich zu sprechen wünsche, und bevor ich mir auch nur eine halbwegs vernünftige Ausrede einfallen lassen konnte, stand ich auch schon am Bett des Verletzten. Nach allem, was ich durch das Guckloch bei Glinleys beobachtet hatte, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, mit Lord Lucius jemals wieder sprechen zu können. Aber dieser Gedanke war wie weggewischt, als ich ihm nun gegenübertrat. Er sah ganz anders aus als der Mann, den ich gekannt hatte. Sein Gesicht war violett und grün, ein Auge war völlig zugeschwollen, die Nase war verbogen, wirkte übergroß und war verbunden. Und sein Mund, dieser sinnliche, elegant geschwungene Mund... »Oh!«, stieß ich hervor. »Es tut mir so leid.« »Nicht doch«, krächzte Lucius Perry, »Ihr habt mir das Leben gerettet.« »Es ist nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht«, versicherte Gobber mir und auch Perry. »Es wird nicht sehr hübsch heilen und Narben hinterlassen, aber heilen wird es. Die Rippen auch. Ich hab schon Schlimmeres gesehen. Und wenn wir vorsichtig mit dem gebrochenen Bein umgehen, wird es vielleicht nicht sehr steif bleiben.« »Kommt näher«, sagte Lucius und winkte mit seiner von Schürfwunden bedeckten Hand. Mir wurde klar, dass er mich nur sehen konnte, wenn ich mich im Blickfeld seines gesunden Auges befand. »Ihr seid Cousine Artemisias Freundin. Ihr wisst schon — muss sie heiraten.« »Warum denn das?« »Familie.« »Die Familie will, dass Ihr Artemisia heiratet?« Das war nun 215 wirklich furchtbar. Er war der völlig falsche Mann für sie. Und was würde dann aus Teresa Grey? »Aber will sie Euch denn heiraten? Habt Ihr sie schon gefragt?« »S' hat keine an're Wahl mehr«, nuschelte er undeutlich. »Is' Sicherheit für sie. Sowieso mein' Schuld, ,s passiert is'. Schreibt Ihr. Fragt sie. Ich unterschreibe.« Gobber schaute mich an und zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was Perry damit sagen wollte. Aber ich wusste es. Und war entschlossen, das Spiel nicht mitzuspielen. »Ich werde ihr schreiben«, sagte ich und ging hinaus, um nach Marcus zu suchen. Er sträubte sich zuerst, aber nicht lange. Schließlich machte es ihm Spaß, mir zu beweisen,
dass er sich jederzeit unbemerkt aus Riverside House schleichen konnte, ohne erwischt zu werden. Als er weg war, ging ich in mein Zimmer und schrieb Artemisia einen Brief, in dem ich ihr mitteilte, dass sie unter gar keinen Umständen der Heirat mit Lucius zustimmen dürfe, was auch immer ihre Familie sagte. Ich schrieb ihr nicht, dass Lucius praktisch die Verkörperung aller Laster sei oder dass er bereits eine andere liebte. Ich wies sie nur darauf hin, dass es ohne Liebe auch kein frohes Zusammenleben geben könne. Und ich fügte hinzu, dass mein Herz nachempfinden könne, was sie durchlitt, und brachte meine Hoffnung zum Ausdruck, dass sie einen netten jungen Mann finden möge, den sie heiraten könne, und wenn nicht, solle sie lieber überhaupt nicht heiraten. Dann tat ich etwas, das ich schon lange hätte tun sollen: Ich ging zum Hauptsekretär des Herzogs, Arthur Ghent, und erklärte ihm, dass Artemisias Familie mir nicht erlaubte, ihr Briefe zu schicken und möglicherweise sogar ihre Briefe las, und fragte ihn, ob er dafür sorgen könne, dass dieser Brief hier sicher in ihre Hände gelangte? Arthur lächelte, was aber fast wie ein Grinsen aussah, und versprach, sich darum zu kümmern.
216
Danach wurde ich zur zutiefst zerknirschten Büßerin, außerdem brauchte ich eine Ablenkung: Ich erbot mich, Lucius Perry vorzulesen. Er überließ mir die Auswahl der Lektüre, und ich hatte bereits einen guten Teil von Die Königliche Jagd vorgelesen, als Marcus mit der Frau vom Hügel zurückkehrte, der Frau, die Lucius Perry wirklich liebte. Sie verkraftete es nicht sehr gut. Marcus schwor mir später, dass er sie gut darauf vorbereitet habe, wie schlimm Perry aussah und dass er sich wieder erholen würde, aber das spielte offenbar keine Rolle. Als Teresa Grey Lucius Perry erblickte, stieß sie einen tief unglücklichen Laut aus und taumelte gegen die Wand. Gobber führte sie zu einem Stuhl und sagte ihr, dass sie den Kopf tief senken solle. »O nein«, stöhnte sie, »o nein.« Ich holte schnell ein Fläschchen Lavendelwasser, das ich ihr in die Haut an den Handgelenken rieb. Sie hatte sehr kräftige und bewegliche Hände, bestimmt hätte sie das Degenfechten leicht lernen können, wenn sie gewollt hätte. »Das ist alles meine Schuld«, seufzte sie, »oh, was sollen wir nur tun? Was sollen wir tun? Oh, Lucius!« Ich hielt ihre Hände fest in meinen eigenen und brachte sie dazu, mir in die Augen zu sehen. »Ihr seid nicht schuld«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Wahrlich, Ihr habt damit nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob Ihr es wisst, aber Lord Lucius hat für Tremontaine gearbeitet.« »Das weiß ich natürlich, Ihr neugieriges Kind«, sagte sie, und das war wenigstens besser als ihr Stöhnen. »Na also. Die Sache ist deshalb passiert. Er hat eine Menge Feinde, der Herzog, meine ich.« »Wirklich?«, sagte sie in dem ärgerlichen Ton, den Erwachsene annehmen, wenn sie von Kindern etwas hören, das sie längst wissen, ihnen aber den Spaß nicht verderben wollen. »Ja, und wenn Ihr das schon wisst, dann wisst Ihr sicherlich auch, dass das hier nichts mit Euch zu tun hat. Das hat jemand gemacht, der unserem Haus schaden wollte.« 216 Teresa Grey stand auf. Selbst mit unfrisiertem, wirrem Haar und der unordentlichen Kleidung schaffte sie es, erstaunlich schön auszusehen. »Wo ist der Herzog?«, verlangte sie zu wissen. »Ich muss ihn sprechen, ich will das von ihm persönlich hören.« Marcus mischte sich ein. »Er weiß noch nichts von Ihnen. Wir beide sind die Einzigen, die es wissen.« Sie schaute ihn durchdringend an. »Tatsächlich? Und was wisst ihr über mich, bitteschön?« Ich sagte: »Ihr seid Lucius Perrys einzige und wahre Liebe. Alle anderen bedeuten ihm nichts — und der Herzog erst recht nicht. Ihr seid Malerin, Dichterin und — nun ja, eine Dame von Stand.« Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Oh, das ist zu viel!«, rief sie schließlich. »Ihr! Ihr seid ein Mädchen! Seid Ihr eine Art Schauspielerin, einer seiner Schützlinge? Soll ich vielleicht für Euch eine tragende Rolle schreiben, geht es darum? Denn dann sage ich Euch gleich, dass ich weder für ihn noch für irgendjemand sonst etwas tue, bevor ich nicht herausgefunden habe, wer dafür verantwortlich ist. Jetzt im Moment würde ich ... Selbst wenn der Herzog lichterloh in Flammen stünde, würde ich nicht mal meine Pisse verschwenden, um ihn zu löschen.«
»Seid bloß vorsichtig!«, sagte Marcus. Zu meiner Überraschung war er zornig. »Katie ist eine Lady!« Sie wirbelte zu ihm herum, dann wieder zu mir und zurück zu ihm. »Du! Du bist das! Der Junge, der die Farben lieferte!« Er zog den Kopf ein. »Marcus, du Ratte!«, fauchte ich. »Das hast du getan, ohne mir davon zu erzählen!« »Ihr steckt also mit ihm unter einer Decke?«, wollte sie wissen. Vom Bett kam ein ersticktes Geräusch. Wir alle zuckten 217 zusammen und traten schnell ans Bett, um uns um den Verletzten zu kümmern. Aber es gab keinen Grund zur Besorgnis. Lucius Perry lachte. »Raus, alle!«, befahl uns Teresa, auch Gobber Slighcarp. Wir gingen aus dem Zimmer. Wir ließen die beiden allein, und es kam uns nicht einmal der Gedanke, durch das Schlüsselloch zu spähen — die Idee kam mir erst viel später. Aber da waren sie bereits eingeschlafen; sein Kopf lag sanft auf ihre Brust gebettet, und Die Königliche Jagd lag aufgeschlagen auf dem Boden neben dem Bett. Der Herzog von Tremontaine wartete im gelb-schwarzen Salon. Das Zimmer war nach der neuesten Mode gestaltet und erinnerte ihn an gereizte Wespen. Er sei bereit, keß er Lord Ferris durch den Butler mitteilen, falls nötig sogar die ganze Nacht hindurch zu warten, sofern sie ihm wenigstens ein Kissen brachten. Er aß nur die Nüsse, die er selbst mitgebracht hatte, und trank ein wenig Wässer, aber er schlug das Buch auf, das Ferris ihm hatte schicken lassen, las ein paar Seiten und nahm dann einen Bleistiftstummel heraus, um Anmerkungen an den Rand zu kritzeln. Der Tag war schon recht fortgeschritten, als Lord Ferris den Herzog endlich in sein Arbeitszimmer führen ließ. Er hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. »Ihr kommt unbewaffnet?« »Ihr wisst, dass ich nicht kämpfen kann.« »Das, Mylord, wird immer offensichtlicher. Würdet Ihr dennoch Eure Taschen leeren, bitte?« »Ihr beliebt zu scherzen.« »Ich scherze nicht. Wir sind allein in diesem Raum. Lasst mich sehen, was Ihr bei Euch führt.« Tremontaine funkelte ihn wütend an. »Ihr verlangt doch nicht etwa, dass ich meine Murmeln gegen Euren zerbrochenen Kreisel tausche? Wir sind keine Knaben mehr!« 217 »Wollt Ihr mich zwingen, Euch durchsuchen zu lassen? Bitte fasst das nicht als Beleidigung auf. Oder vielmehr, seid so beleidigt, wie Ihr wollt. Wir wissen beide, dass Ihr nirgendwo hinkönnt.« Der Herzog von Tremontaine legte drei Nüsse, zwei Taschentücher, ein kleines Taschenmesser und seinen Bleistiftstummel auf den Tisch. Dann grub er noch ein wenig tiefer in den Taschen und förderte noch einen Knopf zutage sowie zwei Visitenkarten und zwei Tarot-Karten — Bube der Kelche —, auf die er ein paar mathematische Berechnungen gekritzelt hatte. Ferris betrachtete die Gegenstände ungerührt. »Und wo ist mein Vertrag?« »Euer was?« »Mein Heiratsvertrag mit Eurer Nichte.« »Sie ist noch ein Mädchen«, sagte der Herzog unverblümt. »Was könntet Ihr denn schon mit ihr anfangen? Sie ist viel zu jung.« »Frühe Heirat zählt zu den Traditionen Eurer Familie«, entgegnete Lord Ferris. »Sie ist jetzt sechzehn. Seht Ihr, ich habe mir die Mühe gemacht, mich über sie zu erkundigen! Sie ist damit älter, als Eure Mutter war, als Ihr geboren wurdet, genau wie ihre eigene Mutter. Aber Ihr macht Euch nichts aus Euren eigenen Traditionen, nicht wahr? Die Eurer Familie oder überhaupt irgendwelchen Traditionen. Glaubt Ihr denn, die Familie Perry wird sonderlich erfreut sein zu erfahren, dass Ihr ihren Sohn als Edelstrichjungen in einem Puff in Riverside beschäftigt? Und auch die Fitz-Levis nicht, die jetzt gerade versuchen, ihm ihre neuerdings keineswegs schwer zu habende Tochter anzudrehen? Wirklich pingelige Leute, die Eff-Ells.«
»Ihr weist mir zu viel Verdienst zu«, sagte der Herzog. »Nicht ich habe ihm zu seinem Gewerbe verholfen; ich habe ihn bereits in diesem Beruf vorgefunden.« 218 »Das werden sie möglicherweise nicht glauben.« »Sie können ihn ja selbst fragen. Ich habe ihn in mein Haus bringen lassen, oder das, was von ihm übrig geblieben ist.« Ferris lachte laut auf. »Wenn sie ihn fragen, wird er Euch beschuldigen, wenn er auch nur ein Fünkchen Verstand im Kopf hat.« »Und selbst wenn? Macht das wirklich einen Unterschied? Der Irre Herzog verführt einen jungen Adligen zum Laster — wieder mal. Gähnen ringsum. Die Frage ist doch eher, was sie sagen werden, wenn sie erfahren, wie Ihr seine Schönheit ruiniert habt.« »Ich?« Lord Ferris legte den Kopfschief. »Was habe ich getan?« »Ach, kommt schon, Mylord.« Der Herzog äffte den Älteren recht gut nach. »Es ist nicht so schwer, aus einem angeheuerten Schläger ein paar Informationen herauszupressen.« »Oder ihn zu bestechen. Natürlich könntet Ihr einen Schlägertypen aus Riverside dafür bezahlen, dass er behauptet, ich hätte ihn angeheuert. Ihr habt ja jede Menge Geld, das weiß doch jeder.« Der Herzog starrte ihn nur wütend an. »Seid doch mal ehrlich, Mylord. Ihr mögt viele Freunde haben, und ich behaupte ja gar nicht, dass das nicht der Fall ist, alle möglichen exzentrischen Leute bewundern Euch. Aber Ihr habt keine Verbündeten. Jedenfalls keine, die zählen.« Lord Ferris nahm das Taschenmesser, ein langes, silbernes Instrument, das mit einer lasziven Nymphe verziert war. Er rieb mit dem Daumen über die Figur, während er weitersprach. »Ihr habt das Euch selbst zu verdanken, müsst Ihr wissen. Was glaubt Ihr denn, was ich während der letzten zehn Jahre getan habe? Ich habe meine Verbindungen aufgebaut, habe ein Netz von Beziehungen geschaffen, auf das ich mich jederzeit verlassen kann. Ja, es hat eine Menge gekostet, aber ich kann mir immer wieder auf verschiedenen Wegen neue Gelder besorgen. Die Leute achten mich, und sie fürchten
218
mich. Und das sollten sie auch, wie Ihr jetzt endlich ebenfalls wisst. Fürchten sie Euch, Alec? Doch wohl kaum. Früher vielleicht schon, damals, in Euren mörderischen RiversideTagen. Aber diese Art von Macht habt Ihr einfach verfallen lassen. Ihr seid zimperlich geworden. Und hier sitze ich, der gewählte Führer des wichtigsten Staatsrates des Landes, und Ihr seid... Was denn nun? Eine Volksbelustigung. Eine Kuriosität.« Er hielt die Nymphe in die Höhe. »Um Eurer Großmutter willen habe ich Euch zu warnen versucht .Von jetzt an seid Ihr auf Euch selbst gestellt.« »Ferris«, sagte Alec Campion in einem seltsamen, knurrenden Ton. »Ihr macht mich zornig...« »Versucht, Euch zu beherrschen«, unterbrach ihn Lord Ferris gut gelaunt, »sonst werdet Ihr es im Leben nicht weit bringen.« »... sehr zornig«, fuhr der Herzog im selben melodiösen Tonfall fort. »Und das bringt mich nun zu der Überlegung, wie es wäre, wenn diese Schlacht nun zu ihrem nächsten logischen Schritt geführt würde. Nämlich Leute anzuheuern, die Eure Leute ohne jegliche Provokation auf der Straße angreifen, einzig und allein deshalb, weil sie Euch unterstützen. Natürlich würdet Ihr mit gleicher Münze zurückzahlen. Ich wiederum würde meine Freunde bewaffnen oder würde sie gut beschützen lassen. Es laufen genügend Degenfechter herum, die nach Arbeit suchen.« Ferris drehte den ganzen Kopf wie ein Vogel, um den Herzog mit seinem guten Auge direkt anschauen zu können. »Das würdet Ihr tatsächlich tun, nicht wahr? Ihr würdet diese Stadt um hundert oder noch mehr Jahre zurückwerfen, als sich die Wappen-Clans auf der Straße richtige Schlachten lieferten, als die Häuser zu Festungen ausgebaut werden mussten, als die Adligen Degenfechter anheuerten, um zu verhindern, dass sie sich selbst gegenseitig abschlachteten. Das alles würdet Ihr eher tun als zu kapitulieren oder einen vernünftigen, gemä 218 ßigten Kompromiss auszuhandeln. Tatsächlich!« Ohne Vorwarnung schlug Ferris kräftig mit der Hand auf den Tisch. »Was hat sich diese Frau eigentlich gedacht? Als sie jemanden
wie Euch zu ihrem Erben machte? Ich habe sie bewundert, habe sie eine Weile sogar geliebt, aber am Ende musste sie wohl verrückt geworden sein.« »Man sagt, es liege in der Familie«, sagte der Herzog süffisant. »Ich hoffe, dass es nicht der Fall ist.« »Plant Ihr immer noch, meine Nichte zu begatten?« »Wir überspringen einfach eine Generation. Euch schreiben wir als Fehlschlag ab und machen einfach weiter. Das Mädchen hat weder das Aussehen Eurer Großmutter noch ihren Charme, aber vielleicht hat sie wenigstens Verstand. Ich wurde von der Herzogin ausgebildet, sie hat mir alles weitergegeben, was sie über das Regieren und menschliche Gefühlsregungen wusste. Und glaubt mir, sie wusste eine ganze Menge darüber. Ich habe ihr sogar verziehen, dass sie mich in die Wüste schickte, als sie sich mit Michael Godwin einließ. Inzwischen habe ich erkannt, dass sie eine gute Wahl traf, er ist ein sehr fähiger Mann.« Lord Ferris' Nasenflügel waren weiß und weit geöffnet; er atmete heftig. Er verlor die Beherrschung, aber das war ihm noch nicht bewusst. »Oder vielleicht...«, fuhr er unbarmherzig fort, »vielleicht musstet Ihr sogar mit ihr schlafen, bevor Ihr die ganzen Reichtümer einstreichen durftet. Das habe ich mich schon eine ganze Weile gefragt, aber jetzt bin ich mir sicher, dass Ihr nicht mit ihr geschlafen haben könnt, sonst wärt Ihr nämlich kein solcher Narr.« »Ich bin am Boden zerstört.« Es geschah gelegentlich, dass Leute, die der Herzog nicht mochte, die Beherrschung verloren, wenn sie in seiner Nähe waren. Das war ein besonderes Talent, das er besaß, und gewöhnlich genoss er es. Auch jetzt wartete er ab, was Ferris 219 wohl sagen würde. Der Kreiskanzler steigerte sich allmählich so in seine Wut hinein, dass er bald etwas Unverzeihliches tun würde; der Herzog war gespannt darauf, was es sein mochte. »Hat sie gedacht, Ihr würdet Euch noch ändern, oder hat sie einfach nur geglaubt, dass Euch St.Vier zügeln würde?« »Darüber haben wir nie gesprochen. Und ihr Gesicht war immer wie starr gefroren.« »Sie glaubte jedenfalls, dass Ihr ihn bei Euch behalten würdet, da bin ich ziemlich sicher. Ich hätte selber darauf gewettet. Er schien wirklich ganz unerklärlich an Euch zu hängen. Was um Himmels willen habt Ihr getan, dass Ihr ihn schließlich doch verloren habt?« »Woher wollt Ihr wissen, dass er nicht längst tot ist?« »Ich weiß es«, sagte Ferris. Der Rubin an der Kehle des Herzogs hüpfte plötzlich auf dem Spitzenkragen auf und nieder, an dem er befestigt war. »Hat auch er Euch plötzlich unerträglich gefunden? Was musste denn geschehen, um ihn von Eurer Seite wegzujagen? Keifen hätte das nicht bewirkt, wie bei Eurer Hure von einer Schauspielerin, und auch nicht Spott, wie bei Eurer fetten Freundin. St. Vier war ein vernünftiger Mann und sehr begabt. Kein Mann, den man kaufen konnte, wie ich zu meinem eigenen Leidwesen feststellen musste. Vielleicht ist seine Liebe zu Euch ausgetrocknet, und Ihr habt einfach darauf vertraut, dass all das hübsche Geld, das Ihr besitzt, ihn an Euch binden würde, und dann musstet Ihr irgendwann entdecken, dass das nicht genug war. Eigentlich könnt Ihr gar nichts Besseres tun, als mir Eure Nichte zu geben, bevor auch sie Euch unerträglich ...« Plötzlich befand sich eine Bronzestatuette in der Hand des Herzogs, und er ließ sie auf Ferris' Kopf krachen — wobei er den Schlag natürlich von der Seite ausführte, auf der sich die Augenklappe befand. Ferris stöhnte auf und ging zu Boden. Es war nur eine kleine Statuette eines Gottes, der sich auf eine kleine Säule stützte. Die Säule allerdings hatte scharfe 219 Kanten; Ferris blutete stark am Hinterkopf. Seine Augen waren geschlossen, aber seine Hände zuckten ein wenig. Der Herzog von Tremontaine betrachtete die Statue. Kleine Hautstücke und Haare klebten daran. Nachdem er seinen Gefühlen mit einem Schlag Ausdruck verliehen hatte, empfand er eigentlich kein sehr großes Bedürfnis mehr, Ferris mit der Statue den Schädel einzuschlagen. Allerdings gefiel ihm auch der Gedanke nicht, was Ferris tun würde, falls er überlebte. Sein Auge fiel auf das Messer mit der Nymphe, die aus Ferris' Hand gefallen war. Das lange
Messer war nicht aus Silber, sondern nur eine silberplattierte Legierung. Das erkannte der Herzog am Gewicht. Er stopfte Ferris seinen schmalen Seidenschal in den Mund, um ihn nicht nur am Atmen, sondern auch am Schreien zu hindern. »Hört mir zu, wenn Ihr mich hören könnt«, sagte Alec Campion. »In einer Hinsicht hattet Ihr Recht. Die Herzogin hat mich nicht als ihren Erben eingesetzt. Sie glaubte nämlich bis zuletzt, dass sie immun gegen den Tod sei. Sicher, sie war widerstandsfähig, aber als der Tod sie dann doch fällte, atmete sie noch eine ganze Weile weiter. Man fragte sie, wen sie als Erben auserwählt habe, aber sie konnte bereits nicht mehr antworten. Deshalb gingen sie eine Liste von Namen durch. Vielleicht stand sogar Euer Name darauf, ich weiß es nicht. Aber als sie zu meinem Namen kamen, zuckte sie mit der Hand, und sie nahmen das als Zustimmung.« Lord Ferris stöhnte. Der Herzog öffnete Ferris' Jackett: Es bestand kein Anlass, die Sache schwieriger als unbedingt nötig zu machen. Dritte und vierte Rippe, genau dazwischen... Er schloss die Augen, stellte sich die Abbildung in einem Anatomielehrbuch vor. Bei Richard hatte das immer so leicht ausgesehen! Ein Stoß, direkt ins Herz — wenn er einen mochte. Wie viele Männer hatte Alec seinem Freund St.Vier vor den Degen getrieben? Jetzt war er selber dran. Messerverlierer, Stahlliebhaber... Es war mehr Kraft erforderlich, als 220 er besaß. Ferris stöhnte und schlug um sich. Ich werde wie ein Idiot dastehen, dachte er, wenn ich das nicht richtig machen kann. Er holte tief Luft, stieß zu und traf die richtige Stelle. Der Herzog klingelte nicht nach dem Diener. Er ging einfach aus dem Zimmer und aus dem Haus und ging zu Fuß nach Riverside zurück. An einem öffentlichen Brunnen wusch er sich die Hände. Wenn man einen sehr großen Mann in sehr teuren, aber ungeordneten Kleidern zu Fuß durch die gesamte Stadt gehen sah, konnte man ihn kaum übersehen. Allerdings war es auch leicht, ihn einfach zu ignorieren, wenn man die manchmal absurden Neigungen des Adels kannte. Und was Alec Campion betraf, so trug er, wenn er sich wie jetzt in seiner schlechtesten Stimmung befand, stets eine Aura unbekümmerter Gefährlichkeit mit sich, die dafür sorgte, dass selbst die brutalsten Bewohner einen großen Bogen um ihn schlugen.
Kapitel 9 Nach Einbruch der Dunkelheit rollte eine kleine, schmale Kutsche in den Hof des großen
herzoglichen Hauses in Riverside. Die Pferde schwitzten und waren von einer Staubschicht überzogen. Der Lakai wusste inzwischen, dass er seinem Passagier nicht aus der Kutsche helfen durfte, und so lud er nur das Gepäck ab, während der Mann steif aus der Kutsche stieg. Er blieb einen Moment lang im Hof stehen, wartete und blickte sich um. Viele Fenster waren beleuchtet; andere Fenster leuchteten nacheinander auf, während Leute durch das Schloss hasteten. Eines der Lichter kam auf ihn zu. »Endlich«, sagte ein junger Mann, »endlich seid Ihr angekommen. Er wartet schon die ganze Zeit auf Euch. Bitte kommt mit.« Er streckte die Hand aus, zuckte aber bei der Reaktion des Ankömmlings zusammen. »Es geht auch so«, sagte der Mann. »Ich folge dir.« In seinem Arbeitszimmer war der Herzog damit beschäftigt, Papiere zu verbrennen. Als die beiden Männer eintraten, blickte er auf, erhob sich aber nicht, sondern warf weiter Papiere ins Feuer. »Gut«, sagte er, »da bist du ja. Ich hatte befürchtet, die Brücke könnte schon gesperrt sein.« »Noch nicht. Wird sie gesperrt?« »Schon bald, wenn sie genug Verstand haben.« »Alec, was um Himmels willen hast du jetzt wieder angestellt?« 220 »Du bist nicht rechtzeitig gekommen, deshalb musste ich Ferris selbst umbringen.« Der Herzog wartete einen Augenblick, bis die Nachricht wirkte. »Du hast es getan?«, fragte sein Freund neugierig. »Wie?« »Eklektisch. Aber doch unwiderlegbar.« »Du hast ihn doch nicht etwa vergiftet?«
»Gütiger Himmel, nein. Das wäre nun wirklich unehrenhaft. Nein, ich habe ihn mit einer Nymphe erdolcht.« Der andere Mann lachte. »Ich war in seinem Haus, alle seine Bediensteten wissen es. Ich erwarte jede Minute, verhaftet zu werden. Deshalb reise ich ab.« »Willst du dich nicht lieber dem Ehrengerichtshof stellen? Schau doch, die Sache ist nicht so schlimm. Hast du ihn vorher herausgefordert?« »Das habe ich vergessen. Hatte ohnehin keine Zeit dafür. Aber ich kann immer behaupten, dass ich ihn herausgefordert hätte. Es war sonst niemand im Raum.« »Damit würdest du durchkommen.« »Nicht unbedingt. Ich musste ihm erst einen kleinen Schlag auf den Kopf versetzen. Keine sehr überzeugende Herausforderung, nicht einmal für einen sehr milde gestimmten Gerichtshof. Und das wird der Hof in meinem Fall bestimmt nicht sein. Habe ich dir schon gesagt, dass er auch der Kreiskanzler war?« »Oh, Alec.« St.Vier schüttelte den Kopf. »Trotzdem; du bist immer noch der Herzog von Tremontaine. Vielleicht kannst du jemanden bestechen. Und bestimmt hast du auch Gefolgsleute.« »Die ganze Sache erfordert viel zu viel Mühe. Und außerdem habe ich es satt, hier zu leben. Du hattest Recht.« St.Vier starrte in die Flammen. »Ich weiß.« Zum ersten Mal mischte sich der junge Mann ein. »Wollt Ihr damit sagen, dass wir die Stadt verlassen, Mylord? Warum 221 habt Ihr mir das nicht gesagt? Ich muss gleich anfangen zu pack...« »Ich gehe«, sagte der Herzog. »Du bleibst.« »Nein, ich bleibe nicht. Dieses Mal nicht.« »Doch, das wirst du, Marcus. Katherine bleibt hier, also bleibst auch du hier. Dort drüben auf dem Tisch liegen die Papiere, alle unterzeichnet und besiegelt. Sorge dafür, dass sie sie öffnet und liest, sobald ich das Haus verlassen habe. Das ist sehr wichtig. Schau jetzt noch nicht hinein - hol mir mal mein Taschenmesser, bitte — ich weiß, ich habe es irgendwo hingelegt, aber es ist nicht mehr da.« »Du also bist Marcus?«, fragte St.Vier. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich hatte gedacht, du seiest viel jünger.« »War er auch mal«, erklärte der Herzog. »Jungs wachsen eben.« »Also dann, wohin gehen wir?« »An einen angenehmen Ort. Wo es Bienen gibt und Sonne und jede Menge Thymian.« Sie saß auf ihrem Fensterplatz und schaute hinaus, sah, wie die Schatten über die Wände im Hof huschten, als Leute mit Fackeln hin und her hasteten und sich um Pferde und Gepäck kümmerten. In ihrem Zimmer brannte kein Licht. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie gelegt, presste die Wange an die Fensterscheibe, leicht zur Seite geneigt, damit ihr Atem die Scheibe nicht beschlug. Es ist ein Schauspiel, dachte sie, irgendeine Art Schauspiel, und wenn es zu Ende war, würde jemand kommen und ihr erklären, was es zu bedeuten hatte und welche Rolle sie in der Zukunft spielen würde. Dann entdeckte sie ihn: Den Mann, der früher einmal hier gewohnt hatte und erklärt hatte, dass er nie mehr hierher zurückkehren würde. Er stand im Hof, an eine Säule in der Nähe des Brunnens gelehnt, stand nur einfach da und beobachtete alles. 221 »Meister!« Ihr Atem bildete einen dünnen Nebel auf dem Glas. Sie mühte sich mit dem Fensterriegel ab. »Meister!« Er schaute nicht auf. »Meister St.Vier!«, schrie sie in den Hof hinunter. Endlich wandte er den Kopf in ihre Richtung. Sie konnte nicht hören, was er sagte. »Wartet!«, schrie sie, rannte aus dem Raum, flog eine Treppe hinunter, durch einen Korridor, erneut eine Treppe tiefer und zur Tür hinaus. »Ihr seid hier!«, rief Katherine. »O mein Gott, Ihr seid es wirklich!« Sie dachte nicht daran, ob sie ihn berühren durfte oder nicht, sie warf sich einfach in seine Arme, roch den Geruch des Holzfeuers, als er sie umarmte und sie zugleich in seinen Umhang hüllte. »Geht's dir gut?«, fragte er.
»Ja«, keuchte sie, »ich bin anders geworden, aber es geht mir gut.« »Das ist schön.« Vorsichtig löste er sich aus ihrer Umarmung und schob sie ein wenig von sich. »Ich kann nicht bleiben«, sagte er. »Dein Onkel hat nun endlich jemanden umgebracht.« »O nein!« »O ja.« »Und Ihr werdet...« »Nein, dieses Mal nicht. Ich kann nicht hier bleiben.« »Bitte!«, flehte sie, »ich muss Euch noch einige Dinge zeigen, muss Euch noch etwas erzählen...« »Gehen wir ins Haus. Ich glaube, es gibt auch noch einiges, was dir erzählt werden muss.« In der Stunde vor der Morgendämmerung war plötzlich ein lautes Hämmern und Klopfen an den Toren von Tremontaine House in Riverside zu hören: ein paar Soldaten der Stadtgarde, einige geschmückt mit den Resten von verschimmeltem Gemüse, mit dem sie von Einwohnern von Riverside
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beworfen worden waren, denen es nicht gepasst hatte, dass die Stadtgarde in ihr Revier eindrang. Sie bildeten den Begleitschutz eines Offiziers des Ehrengerichtshofs des Hohen Rats der Lords, der eine mit schweren Siegeln behängte Vorladung zu überbringen hatte. Man hatte den größten Teil der Nacht gebraucht, um die Vorladung zu formulieren, ausfertigen und unterzeichnen zu lassen. Das Schreiben verfügte, dass sich der Herzog von Tremontaine vor dem Ehrengerichtshof zu verantworten habe. Ein verschlafener Wächter öffnete das Tor. Wie die meisten Mitglieder des Haushalts war auch er erst vor Kurzem zu Bett gegangen. »Was um aller sieben Höllen willen wollt Ihr?«, verlangte er barsch zu wissen. »Im Namen des...« »Wisst Ihr überhaupt, welche Zeit es ist?« »Keine Frechheiten!«, bellte der Offizier, »holTremontaine, und zwar schnell!« Man lud ihn nicht ein näherzutreten, doch er trat trotzdem ein, gefolgt von so vielen Stadtgardisten, wie die kleine alte Vorhalle aufnehmen konnte. Der Offizier überlegte, in welchem Zustand er wohl den Herzog antreffen würde — vor Wut rasend und blutverschmiert, im Rauschzustand oder behängt mit hübschen Jungen oder anderen unsäglichen Dingen. Ein junges Mädchen erschien oben auf der Treppe. Sie hatte einen grün-golden verzierten Samtumhang über ihre Nachtkleidung geworfen; ihr langes braunes Haar war für die Nacht zu einem dicken Zopf geflochten. »Ja?«, sagte sie. »Junge Dame, ich muss Tremontaine sprechen. Würdet Ihr ihn bitte...« »Ich bin die Herzogin von Tremontaine«, sagte sie. »Was wollt Ihr?«
Epilog
Die junge Herzogin von Tremontaine war bester Laune, hatte sie doch nicht nur an diesem Morgen ihren Fechtlehrmeister in einem ernsthaften Kampf besiegt, sondern würde sich jetzt, am Nachmittag, auch noch ein neues Kleid anpassen lassen. Sie stand in einem sonnendurchfluteten Zimmer in Tremontaine House, dessen Fenster zum Schlosspark hinausgingen, und bat ihren Sekretär, einen frühzeitig kahl werdenden jungen Mann namens Arthur Ghent, ihr die Korrespondenz vorzulesen. Derweil saß der persönliche Assistent der Herzogin am Fenster und überprüfte die Buchhaltung ihrer Landbesitztümer, aß Orangen und bewarf sie mit kleinen Stückchen Orangenschalen, wenn er glaubte, dass sie nicht hersah, während sie versuchte, den Schalengeschossen auszuweichen und gleichzeitig für die Schneiderin stillzuhalten, die ihr das Kleid anpasste, ständig angefleht von ihrer Zofe, sich nicht vor den Augen aller Anwesenden zum halb nackten Spektakel zu machen. »Ich bin vollkommen bekleidet, Betty«, sagte die Herzogin und versuchte, nicht an dem Mieder zu zupfen, das furchtbar zwickte. »Ich trage ellenweise feinste Seide über einer Menge Unterröcken und einem Korsett und dazu noch ein sehr keusches Schultertuch. Aua!«
»Ich bitte unterwürfigst um Vergebung, Mylady«, sagte die Schneiderin, »aber Euer Hoheit Taille ist schmaler geworden, seit wir die letzte Anprobe hatten, und wir müssen noch weitere Abnäher in das Kleid einarbeiten.«
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»Es zwickt!«, quengelte Katherine. »Und die Ärmel sind viel zu eng, ich kann meine Arme kaum bewegen. Könnt Ihr nicht die Naht hier wieder auftrennen?« »Das wäre nicht nach der neuesten Mode, Madam.« »Nun, dann machen wir es doch zur allerneuesten Mode, nicht wahr? Befestigt einfach ein paar Bänder darüber.« »Ausgesprochen verführerisch«, kommentierte der persönliche Assistent der Herzogin von seinem Fensterplatz aus. »Oh, komm schon, Marcus, es geht nur um meinen Arm!« Die Schneiderin beriet sich mit ihrer Gehilfin. »Wenn Hoheit gestatten, werden wir die obere Hälfte des Kleides noch einmal überarbeiten.« Die Herzogin seufzte. »Mach die Augen zu, Arthur. Betty, gib mir meine Jacke. So, sind jetzt alle zufrieden? Also bitte! Lydia kommt bald zum Schokoladenkränzchen, danach kommen Lord Armand und die Godwins zum Abendessen, danach wollen wir alle ins Konzert. Oh, sei doch still, Marcus, es handelt sich um sehr erhabene und getragene Musik, kein Lalala, sagt jedenfalls Lydia. Und außerdem reist morgen meine Mutter an, auch wenn niemand weiß, wann genau das sein wird. Ach, Betty, hast du schon überprüft, ob die Blumenarrangements für ihr Zimmer bestellt wurden? Und ich habe Arthur versprochen, vorher noch dieses ganze geschäftliche Zeug mit ihm zu klären. Und jetzt ist wirklich die einzige Zeit, die wir zur Verfügung haben, also mach schon weiter, Arthur.« Arthur Ghent nahm einen Stapel farbenfroher Doppelkarten zur Hand. »Das hier sind die Einladungen für den kommenden Monat, aber da heute die Zeit knapp ist, können wir uns das bis zum Schluss aufsparen. Fangen wir mit den geschäftlichen Angelegenheiten an.« Er nahm ein einfaches Blatt Papier von einem anderen Stapel und entfaltete es. »Der Herzog von Hartsholt schreibt, Ihr könnt die Stute seiner Tochter zum vereinbarten Preis haben, aber nur, wenn Ihr heute noch den Kauf bestätigt.«
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»Schreib ihm zurück, ich bestätige.« »Du wirst herunterfallen«, sagte Marcus missmutig, »oder abgeworfen werden und dir das Genick brechen.« »Ganz bestimmt nicht. Ich bin auf dem Pferderücken aufgewachsen und durch Feld und Wiesen geritten. Das ist noch gar nichts. Aber es scheint mir doch ein wenig viel für ein einziges Pferd. Können wir uns das wirklich leisten?« Marcus tat so, als müsste er erst in seiner Buchhaltung nachschauen. »Hm. Können wir uns das leisten? Nur, wenn du keinen Branntwein mehr trinkst.« »Ich trinke nie Branntwein.« »Na also. Dann kauf dir dein Pferd. Oder zehn, wenn du magst, sie fressen ja nicht viel, oder?« »Hm«, machte sich Arthur Ghent bemerkbar und stieß ein paar Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen, »das hier sollte Euch interessieren. Die TrevelynScheidung. Wenn wir schon von Sachen reden, die Ihr Euch leisten könnt. Die Lady hat eine schriftkche Erklärung zu den Ursachen der Trennung eingereicht, und ihre Rechtsanwälte haben irgendein längst vergessenes Gesetz ausgegraben, das eine öffentliche Anhörung in dieser Sache verhindert, bis eine private Einigung erzielt wird. Das sollte der Familie etwas zu beißen geben.« »Exzellent. Und was ist aus Perrys Rente geworden?« Arthur zog einen weiteren Brief hervor. »Lord Lucius schickte einen Dankesbrief. Er und Lady, äh, Miss Grey wohnen nunmehr in Teverington. Er schreibt, dass er wieder größere Strecken gehen kann und dass er hofft, bald die Krücke weglegen zu können.« »Oh, das ist schön! Lege es auf den Briefstapel, den ich später selber noch lesen möchte. Was ist mit meinem Schauspiel?« »Was das betriff...« Arthur Ghent warf einen Blick zur Tür. Aber wenn er gehofft hatte, dass das Schauspiel irgendwie plötzlich erscheinen würde, dann wurde seine Hoffnung nicht erfüllt.
224 »Mylady?« Die Schneiderin und ihre Assistentin halfen der Herzogin wieder in das Oberteil des Kleides. Schmale Bänder überkreuzten sich über den aufgelassenen Nähten an den oberen Ärmeln. Die Herzogin winkelte die Arme an, probierte einen Ausfall und eine Riposte, während die Schneiderin mühsam einen Protestschrei unterdrückte, dass solche Kleider nicht fürs Degenfechten geeignet seien und sie wahrlich hoffe, die Herzogin würde ihre Schöpfungen nicht mit solcherlei Übungen einer Zerreißprobe unterziehen. »Das ist wirklich ein wundervoller Stoff«, erklärte die Herzogin. »Er fällt und bewegt sich so anmutig! Glaubt Ihr, Ihr könntet mir auch eine Sommerhose aus diesem Stoff nähen?« »O mein Gott!« Artemisia Fitz-Levi stand in der Tür, ein dickes, in Leder gebundenes Buch unter dem Arm. Ihr Haar fiel wie immer in perfekten Spirallöckchen herab, aber auf ihrer Stirn war ein winziger Schmutzfleck zu sehen, und auf ihrer Schürze, die sie zum Schutz ihres Seidenkleids trug, zeigten sich Staubflecken. Nichtsdestoweniger straffte Arthur Ghent sein Jackett, fuhr sich schnell mit der Hand durch die Überreste seines Haars und verneigte sich vor Artemisia. »Katherine«, sagte sie und starrte das neue Kleid an, »das ist. . . Das ist über alle Maßen... Oh, Katherine, jede junge Dame in der Stadt wird nun solche Ärmel haben wollen!« Die Schneiderin gestattete sich ein kleines erleichtertes Lächeln. In modischen Dingen lag Lady Artemisia mit ihrer Meinung selten daneben. »Glaubst du wirklich?«, fragte Katherine schüchtern. »Ich will nicht töricht aussehen.« »Wirst du ganz bestimmt nicht.« Ihre Freundin küsste sie auf die Wange. »Ich gehe gerade mit Arthur die Korrespondenz durch. Wir sind fast fertig.« Artemisia zog sich zur Wand zurück, das
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wahre Musterbild einer nützlichen Person, die nicht im Weg sein wollte. »Mach weiter, Arthur.« Der Sekretär reichte der Herzogin zwei fertige Briefe, die sie nur noch unterzeichnen musste. Sie las sie im Stehen. »Kein Brief von meinem Onkel?« »Nein, kein neuer Brief. Soweit wir wissen, haben er und Meister St.Vier die Küste erreicht und sind wie geplant in See gestochen. Wir werden also vermutlich eine Weile keine Briefe mehr erhalten.« »Wenn er überhaupt noch schreibt.« »Er wird schreiben«, versicherte Marcus. »Sobald ihm das Geld ausgeht. Oder die Bücher.« »Nun gut. War das alles?« »Ja, für den Augenblick, aber hier sind noch die Einladungen für nächsten Monat.« »Einladungen?«, platzte Artemisia dazwischen. »Für den nächsten Monat? Aber, meine Liebe, niemand wird nächsten Monat noch in der Stadt sein! Niemand von Bedeutung jedenfalls. Alle gehen aufs Land. Kommt, Arthur, gebt mir mal diese Briefe.« Sie hielt Arthur die Hand hin, der ihr die Einladungen mit einer tiefen Verbeugung überreichte. »Ich schaue mal nach, ob irgendwelche Einladungen dabei sind, die wichtig sein könnten. Aber ich bin mir sicher, dass das nicht der Fall sein wird.« Sie schob sie in ihre Schürzentasche. »Du willst doch sicherlich auch nicht hier in der Stadt bleiben, Herzogin. Nun, ich habe schon mal eine Liste deiner Landbesitztümer zusammengestellt und dir fünf zur Auswahl angekreuzt, die am besten geeignet sind. Wenn du willst, hole ich gleich mal die Liste.« »Jetzt nicht.« Katherine wurde immer noch von Spitzen und Nadeln gefangen gehalten. »Ist das die Geschichte des Rats der Lords, Band vier, die du da in der Hand hast? Ich denke, wir können uns davon noch ein Kapitel zu Gemüte führen, während die Schneiderin die Anprobe zu Ende führt.«
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Artemisia wedelte mit dem Buch in der Luft, und ein paar Papiere fielen heraus. »Hoppla! Noch mehr Einladungen. . . « Aber Katherine hatte das schwere, einfache Papier bereits erkannt. »Ist es nicht! Das ist mein Schauspiel, du mieses Stück, der erste Akt, nicht wahr? Sie hat es also doch geschickt!« Artemisia und der Sekretär warfen sich schnell Blicke zu, ihr Blick war schelmisch, während er hilflos und leicht verzweifelt dreinblickte. »Ich habe es mir aufgespart«, erklärte Artemisia streng, »bis wir das Kapitel über die Rechtsreform hinter uns haben.«
»Bist du verrückt geworden? Das erste Schauspiel, das ich in Auftrag gegeben habe? Lies es vor! Sofort!« »Sehr wohl, Hoheit.« Artemisia setzte sich mit lautem Kleiderrascheln auf einen von der Sonne bestrahlten Sitz im Fenster. Sie spürte die Augen aller auf sich gerichtet. Sorgfältig entfaltete sie die schweren Blätter, die dicht mit einer klaren Handschrift in schwarzer Tinte bedeckt waren, und begann vorzulesen: »>Der Triumph der Degenfechterin. Von einer Dame von Stand. «<
Danksagung Ich brauchte ein paar Jahre, um dieses Buch zu schreiben, allerdings lagen auch zahlreiche Pausen dazwischen. Viele Menschen ermutigten mich dazu, und ihnen allen schulde ich Dank. Ich hoffe, dass ich niemanden vergessen habe, aber falls doch: Vielen Dank euch allen. Ihr werdet seihst wissen, wer gemeint ist, auch wenn ich es nicht mehr weiß. Holly Black, Gavin Grant, Kelly Link, Delia Sherman und Sarah Smith (die Massachusetts All-Stars) waren sehr aufmerksame Leser und ließen mich größtmöglichen Nutzen aus ihrem messerscharfen Denken und ihren für Nuancen so empfindsamen Gemütern ziehen. Justine Larbalestier erweckte Katherine aus ihrem Schlaf in einem Aktenschrank und hörte mir zu, als ich ihr stundenlang aus einem Manuskript mit vielen Eselsohren vorlas, bis ich mich selbst wieder in Katherines Geschichte verliebte. Eve Sweetser zählt zu Tremontaines ältesten Freundinnen, und ihre scharfen Beobachtungen und klugen Vorschläge erwiesen sich wieder einmal als zutreffend. Paula Kate Marmor gab mir ein Versprechen und hielt es. Der Schurkenball war Skye Brainards Idee, eluki bes shahar zeichnete die Bilder. Debbie Notkin hatte die Hässliche Dame als ihre Heldin auserkoren. Christopher Schelling trieb mich an, die Sache durchzuziehen, bevor sich der Rauch verzogen hatte, und Julie Fallowfield wird sicherlich wissen wollen, warum das alles so lange dauerte. Mimi Panitch ist eine Schlangenkanzlerin von unschätzbarem Wert und sagt immer genau das Richtige. Patrick J. O'Connor ist 225 nicht nur großzügig in seiner Zuneigung, sondern auch mit seiner Gelehrsamkeit, weitere kluge und geduldige Leser waren Sara Berg, Beth Bernobich, Cassandra Ciaire, Theodora Goss, Anne Hudson, Deborah Manning, Helen Pilinovsky, Terri Windung und natürlich meine Lektorin Anne Groell. Viele Leute bei Livejournal ließen mich großzügig an ihrem Wissen über Bäume und Enten und Schwangerschaft teilhaben. Joshua Kronengold und Lisa Padol überprüften aUe Fakten, die ein imaginäres Land betrafen; alle Versäumnisse und Fehler sind nicht ihnen, sondern mir selbst zuzuschreiben — sie haben stets versucht, mich zu warnen. Nancy Hanger ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Korrekturlesern. Der Büroarchäologe Davey Snyder schaufelte große Blöcke ungestörter Zeit für mich frei. Gavin Grant und Kelly Link verschafften mir die Gelegenheit, in ländlicher Abgeschiedenheit zu schreiben, als ich es am dringendsten nötig hatte, und das taten auch Leigh und Eleanor Hoagland. Und besonders großen Dank schulde ich der britischen Schriftstellerin Mary Gentie, die mich mit Dean Wayland bekannt machte, der wiederum mich in die wahre Welt des Degenfechtens einführte. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich niemals begriffen, wie scharf und wie gefährlich so ein Degen ist, wie schwierig es ist, ihn richtig an die Hüfte zu hängen, und wie leicht es doch ist, vollkommen still zu stehen, während ein Mann, dem das zentrale Sehfeld völlig fehlt, mit dem Degen auf dich einsticht. Einen großen Teil ihrer erfreulichen Existenz verdanken dieses Buch und seine Autorin Deka Sherman, der perfekten Verlegerin, Geliebten und Freundin.