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Ariadne Krimis bei Argument »Nicht nur der turbulenten Handlung wegen ist der Krimi für Feinschmeckerinnen witzig zu lesen: Vor allem der britische Humor und die kongeniale Übersetzung von Heidi Zerning lassen den Leidensweg Ellies zu einer amüsanten Gratwanderung zwischen drei Stück Sahnetorte und zwei Tomaten werden. « (Vorarlberger Nachrichten) »Die abgemagerte Architektin kriegt endlich ihren Märchenprinzen zum Heiraten. Und dies in einer feministischen Reihe. Seltsam.« (Tages-Anzeiger) »Das Klischee, eine glückliche Frau kann nur eine Frau mit Mann und Kindern sein, wird reichlich ironisiert.« (else wohin) »Amüsant und spannend. Breit empfohlen.« (ekz-Informationsdienst) »Zieht euch in euren Lieblingssessel zurück oder setzt euch, wie ich, vor die Heizung und genießt … und alle eure Bedürfnisse werden von diesem Buch befriedigt.« (Radio Z, Nürnberg)
Dorothy Cannell ist gebürtige Britin und lebt heute mit ihrer Familie in Peoria, Illinois. Die dünne Frau, ihr erster in Deutschland veröffentlichter Krimi, ist bereits jetzt ein Riesenerfolg. Die Fortsetzung Der Witwenclub erscheint Ostern 1992 bei Ariadne. ISBN 3-88619-516-3
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Dorothy Cannell
Die dünne Frau Krimi für Feinschmeckerinnen Aus dem Englischen von Heidi Zerning
Ariadne Krimi 1016 Argument
Titel der englischen Originalausgabe: The Thin Woman ©1984 by Dorothy Cannell Redaktion und Lektorat: Else Laudan
Alle Rechte vorbehalten © Argument Verlag 1991 Rentzelstraße 1, 20146 Hamburg Telefon 040 / 45 36 80 — Telefax 040 / 44 51 89 Ariadne Krimis werden herausgegeben von Frigga Haug Titelgrafik: Johannes Nawrath Signet: Martin Grundmann Texterfassung durch die Übersetzerin Fotosatz: Barbara Steinhardt, Berlin Druck: Clausen & Bosse, Leck Siebte Auflage 1995
Eins Nette Menschen in aller Welt wissen, daß Familientreffen Anlässe harmlosen Vergnügens sind und mehr rechtschaffenes Behagen spenden als Wäscheschränke voller lavendelduftender Bettücher oder Speisekammern voll selbstgemachtem Brombeergelee. Darum hoffe ich, die Nachwelt wird mich nicht verurteilen, wenn ich gestehe, die Einladung in Merlins Schloß hatte auf mich die gleiche Wirkung wie eine amtliche Aufforderung, mich zu meiner Hinrichtung einzufinden. Der liebenswürdig formulierte Brief auf dünnem veilchenfarbenen Papier lud mich zu einem Sippentag auf den Stammsitz eines betagten Onkels. Mir wurde mit Schrecken bewußt, daß ich mein schändliches Geheimnis vor der Verwandtschaft, die ich in den letzten Jahren so sorgfältig gemieden hatte, nicht länger verbergen konnte. Die Werbung belegt solche wie mich mit dem beschwichtigenden Attribut ‘vollschlank’. Aber machen wir uns nichts vor. Ein einfaches Wort mit vier Buchstaben sagt alles. Gab es irgendeine Verschleierungstaktik? Nicht in Form neuer Garderobe (mein Vertrauen in Kleidungsstücke war dahin), sondern allenfalls in Gestalt eines breitschultrigen Mannes an meiner Seite. Zum Beispiel ein gutaussehender, liebevoller Ehemann sowie eine Schar entzückender, goldblonder Kinder, die stets mit geschlossenem Mund kauen und nie in Gegenwart Fremder unanständige Wörter benutzen. Mit deren Unterstützung konnte ich vielleicht dem Blick meiner deprimierend hübschen Kusine Vanessa standhalten. Ach, alles Tagträume! Ich war natürlich alleinstehend und würde es auch – es sei denn, Zeus stiege plötzlich vom Olymp herab und machte mir einen Heiratsantrag – aller
Wahrscheinlichkeit nach bleiben. Das Wetter an diesem Abend entsprach meiner Laune. Es war naßkalt und stürmisch, typisch für Ende Januar in London. Ich kam mit einem Gesicht so rauh wie ein Reibeisen von der Arbeit und fand den Brief auf der Fußmatte. Meine Wohnung lag im obersten Stockwerk eines düsteren viktorianischen Hauses. Es wurde von einer geisterhaften Hauswirtin verwaltet, die immer, wenn die Wasserhähne tropften, unauffindbar war, bei Fälligwerden der Miete jedoch plötzlich Gestalt annahm. Nachdem ich meinen Mantel an den Haken neben der Wohnungstür gehängt und den Regenschirm so drapiert hatte, daß er meine Geranien bewässern konnte, strebte ich der Küche zu und tat, was ich in Zeiten der Heimsuchung immer tue — ich öffnete die Kühlschranktür. Diesmal war ich versucht, hineinzukriechen und die zudringliche Welt einfach auszusperren. Doch das hätte keins meiner Probleme gelöst. Das Ergebnis wäre eine Neuauflage vom Besuch Puh des Bären bei dem Kaninchen gewesen, der nach Verzehr eines üppigen Mahles bekanntlich in der Tür steckenblieb und eine Woche lang ausgehungert werden mußte, in welcher Zeit das praktische Kaninchen seine Beine als Handtuchhalter benutzte. Meine Beine sollte niemand als Handtuchhalter benutzen! Also tat ich etwas anderes Tröstendes und sehr Puh-Bärenhaftes. Ich häufte Baguettebrot und sechs Liebesknochen auf einen Teller, klemmte mir ‘Mrs. Biddles Beste Erdbeermarmelade’ unter einen Arm und schnappte mir die Butterdose. Dann packte ich meine Beute auf den gescheuerten Holztisch neben die Morgenzeitung mit den Kaffeeflecken und das vom Kater umgestoßene Usambaraveilchen, steckte eine Kerze in eine Colaflasche und entzündete sie mit Schwung. Ich verdrückte zwei Liebesknochen und vier Scheiben
krosses Brot dick mit köstlicher gelber Butter bestrichen. So gestärkt las ich noch einmal die Einladung in Merlins Schloß — mein Spitzname für den Wohnsitz meines verknöcherten Oheims. Der richtige Name war irgendwas Banales wie Fliederheim oder Villa Immergrün, was zur Verschrobenheit des Hauses überhaupt nicht paßte. Der Brief war natürlich nicht vom hohen Herrn selber zu Papier gebracht worden. Solche Aufmerksamkeit hätte mir ja ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit geben können. Tante Sybil, die bei dem alten Schatz lebte und jede seiner Schrullen vergötterte, hatte das Schreiben in ihrer wunderlichen viktorianischen Handschrift verfaßt mit hauchfeinen Schleifen und Schnörkeln wie gesenkte Wimpern. Ich hatte Angst, auf das Papier zu atmen, damit die Schrift nicht verschwand. Das gesellige Wochenende sollte am Freitagabend, dem dreizehnten Februar, beginnen und am Sonntag nach dem Vier-UhrTee zu seinem (zweifellos unverzüglichen) Schluß kommen. Eine Ablehnung dieser noblen Einladung wurde offenbar für undenkbar gehalten. Falls ich in Herrenbegleitung käme, war ich gebeten, Tante Sybil zu verständigen, damit ein getrenntes Schlafzimmer vorbereitet werden konnte. Herrenbegleitung: was für ein reizendes Wort! Da denkt man an Strandpromenaden, an Zylinder und wirbelnde Spazierstöcke und an herrliche junge Männer mit schlimmen Hintergedanken. Die letzte Herrenbegleitung, die mir zuteil wurde, war ein Krankenpfleger, der mich an jenem Abend, als ich mir auf der Jagd nach einem Taxi den Fuß verstaucht hatte, in die Ambulanz rollte. »Iß noch einen Liebesknochen, Ellie!« »Habe nichts dagegen.« Dicke gelbe Creme troff mir von den Fingern. Ich wischte einen Klecks von der Zeitung und da stand es in großen fetten schwarzen Lettern, extra für mich: Kultivierte Herren- und
Damenbegleitung. Höchst seriöses Institut. Nie mehr allein ausgehen! Wenn sonst niemand kann, rufen Sie uns an. »Und du wirst ermordet«, sagte ein feines Stimmchen in meinem Ohr. »Weswegen?« sagte ein anderes feines Stimmchen. »Du hast kein Geld. Du bist keine Schönheit.« Ich verputzte den letzten Liebesknochen, was sehr bedauerlich war. Wieviel würde es kosten, einen Mann über das Wochenende zu mieten? Zweifellos einen Batzen. Aber ich hatte Mutters Geld. Ich kaufte mir selten etwas zum Anziehen oder Sachen für die Wohnung. Als Innenarchitektin zog ich meinen Lustgewinn daraus, anderer Leute Häuser zu möblieren. Wählerisch zu sein war mein Beruf. Diese Fertigkeit konnte ich jetzt darauf verwenden, einen Mann auszusuchen, einen, der jede Saloneinrichtung schmückend ergänzte. Hochgewachsen sollte er sein und elegant, mit fein geschnittenen Gesichtszügen und einem Paar dunkler, sardonisch geschwungener Augenbrauen. Ich war solchen Exemplaren schon oft begegnet: zwischen den Seiten höfischer Liebesromane; sie hatten so artige Namen wie Julian St. Trope oder Eduard Van Heckler und galten als perfektes Accessoire junger Damen, die einen guten Eindruck machen wollten. »Blöde Gans.« Ich zerknüllte die Zeitung und räumte den leeren Teller ab. »Du würdest an jemand namens Fred Potts geraten, der ohne Steuerkarte an der Haustür Bohnerwachs verkauft.« Wie auf Stichwort klingelte es. Es war mein Mitbewohner Tobias Katertier. Ein ausgesprochen spießiger Kater, der sich weigerte, die Feuerleiter zu benutzen und durchs Fenster zu kommen. Er pflegte auf dem Tischchen im Flur vor meiner Wohnung zu thronen und so lange auf die Klingel zu stupsen, bis bei mir der Groschen fiel und ich aufmachte.
Tobias war nicht allein. Meine Nachbarin von unten, Jill, kam hinter ihm herein, was ihm nicht paßte. Tobias mag keinen Besuch. Seine finstere Miene sagte: »Schmeiß die Hexe raus.« Er schnupperte angewidert an seinem Freßnapf und stolzierte davon, um in meinem winzigen Wohnzimmer seine Krallen am Sofa zu schärfen. Die arme Jill sah wirklich ein bißchen hexenhaft aus. Sie hatte ihr kurzes Stoppelhaar einmal zu oft gefärbt (sie benutzt die Alle-zwei-Tage-Sorte) und es war jetzt schmutzig grün, was sich mit ihren Augenbrauen biß. Ich habe versucht, Jill zu hassen, weil sie winzig ist mit einem großen W (einsachtundvierzig), weniger wiegt als ich bei meiner Geburt, immer ihren nicht vorhandenen Bauch einzieht und ständig davon redet, daß sie unbedingt abnehmen muß. Aber sie ist auch nett mit einem großen N. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, schleuderte ihre Zwergenschühchen von den Füßen, stellte eine Flasche Pflaumenwein auf den Tisch, streckte ihre mageren Ärmchen über den Kopf und sagte, sie sei total erschöpft. Was mich nicht wunderte. Sie bringt Frauen, die Angst haben, abends alleine vor die Tür zu gehen, Selbstverteidigung bei und hat einen Judohieb drauf, der Mr. Universum krachend durch drei Stockwerke befördert hätte und wieder zurück. »Puuh! Was für ein Wetter. Und dieser Wind! Ich bin praktisch nach Hause geflogen. Zeit zum Aufwärmen. Hol zwei Becher, Elli Schatz, und wir kriegen beide einen Schuß von dem Pflaumen-Gaumen-Traum.« »Machts dir was aus, alleine zu trinken?« Ich holte ein Glas aus dem Geschirrschrank, auf dem ‘Ein Geschenk aus Blackpool’ stand. »Ich möchte nämlich nicht, daß meine Liebesknochen gerinnen.« »Was ist los? Du siehst sowieso schon sauer aus.« Jill
füllte ihr Glas und sah mich durchdringend an. Sie bildet sich ein, Amateurpsychiaterin zu sein und hat sich in den letzten drei Jahren durch meine Neurosen gearbeitet. Bis jetzt hat sie mir Gruppentherapie verordnet, Meditation, Knüpfarbeiten, Yoga und eine Brieffreundschaft mit einem Guru. Ich gab ihr die Einladung und genehmigte mir eine doppelte Dosis ‘Andrews Lebertinktur’. »Na und? Hört sich zwar nicht an wie die aufregendste Fete des Jahres, aber immerhin ein Wochenende am Meer. Langweilig, aber harmlos.« »Du kennst meine Tante Astrid nicht oder ihre teure Tochter, die betörende Vanessa — von klein auf zum Männermagneten herangezogen — keine Spur von Hirn, aber wer merkt das schon?« »Miau!« Jill fuhr mit dem Finger auf dem Rand ihres Glases entlang und goß sich noch einen Schluck ein. Tobias steckte ein Ohr um die Ecke, kam zu dem Schluß, daß er nicht gemeint war und zog sich wieder zurück. »Bosheit ist eine der wenigen Freuden in meinem Leben. Ich rauche nicht, ich trinke kaum und ich habe keine losen Affären mit Männern, die lediglich nach meinem Körper lechzen.« »Wenn du nicht für Sechs futtern würdest, gäb’s noch Hoffnung. Hör auf, dir leid zu tun. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn du mitmachst, mache ich eine Abmagerungskur. Zusammen packen wir’s. Frühmorgens zur U-Bahn joggen und zurück, während der Arbeit Gymnastik und pro Tag drei klitzekleine Mahlzeiten — ohne Schummeln!« »Vielen Dank, Jill, aber die Nummer mit Tomaten, Essig und altbackenem Kuchen halte ich nicht noch mal durch. Außerdem ist eh schon alles zu spät. Die Galaveranstaltung ist nur noch drei Wochen hin. Und
schlag bloß nicht vor, ich soll die Einladung ablehnen. Die wissen doch alle, warum ich nicht wage, mich zu zeigen.« »Obwohl sie dich seit über zwei Jahren nicht gesehen haben? Damals warst du noch nicht so massig wie heute.« »Nein, aber rundlich war ich immer. Schon als Teenager hat mir Tante Astrid prophezeit, ich kriegte mal den gleichen Umfang wie die Kuppel der Paulskathedrale. Und daß ich Briefe und Weihnachtskarten nicht mehr beantwortet habe, wird sie in ihrem schlimmsten Verdacht bestärkt haben.« »Hast du mir nicht erzählt, dein Onkel Merlin lebt völlig zurückgezogen und hat dich seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen? Woher plötzlich die Sehnsucht nach der lieben Familie?« »Weiß der Himmel. Vielleicht ist der alte Knabe dabei, den Löffel abzugeben, obwohl, als letztes hörte ich, daß er damit gedroht hat, hundert zu werden. Du kennst die Sorte — seit fünfzig Jahren nicht beim Arzt und nie erkältet. Aber Onkel Merlin ist nicht mein Problem; er interessiert sich nicht für Frauen. Der kann auf seinen Mottenkugeln hocken, bis er abkratzt. Die anderen machen mir Sorgen, nicht bloß die göttliche Vanessa und ihre Mammi, auch Onkel Maurice, Tante Lulu und mein Vetter Frederick. Ich will nicht, daß sie mich fragen, was tut ein so nettes Mädel wie du in einem solchen Körper!« »Flotte Sprüche helfen dir auch nicht weiter, Ellie. Du mußt in den Griff kriegen, was dich in die Selbstzerstörung treibt. Wahrscheinlich irgendein Schockerlebnis in frühester Kindheit …« »Gut und schön. Aber Wunder brauchen ihre Zeit, und die hab ich nicht. Dafür hab ich das!« Ich schob die Zeitung über den Tisch, zeigte auf das Inserat für die Kultivierte Herrenbegleitung und wartete auf ihre
Reaktion. Wenn Jill lästern würde … aber sie tat es nicht. »Ellie, das ist doch super! Probierst du’s? Du bist immer so steifleinen.« »Nur, wenn ich weiß, daß die Agentur seriös ist. Viele von den Dingern sind doch bloß Tarnung.« »Für unanständige Absichten? Hast du Angst, sie interviewen dich für einen Posten als Königin der Nacht? Ellie, den Job kriegst du nie.« »Vielen Dank.« »Nicht nur weil du, sagen wir mal, voluminös bist. Es ist deine deprimierende Ausstrahlung lupenreiner Ehrbarkeit.« Jill goß sich noch ein Glas ein und schwenkte es vor meinem Gesicht. Das ist einer der Gründe, warum ich sie mag, sie macht keinen Bogen um das Thema meines Gewichts. »Auf Ellie! Möchte mal wissen, wie so ein Laden funktioniert. Mietest du den Mann stundenweise, tageweise? In deinem Fall würde ich mal fragen, ob sie eine Wochenendpauschale im Sonderangebot haben.« »Sei nicht albern.« Ich hatte wieder Hunger, entschied mich aber statt dessen für den Rest Wein. »Ich rufe morgen an. Ganz unverbindlich, nur ein paar diskrete Erkundigungen. Wenn die Person am anderen Ende sich vernünftig anhört, bitte ich um einen Termin. Ich kann mich immer noch in letzter Minute entscheiden, nicht hinzugehen.« »Du wirst hingehen. Dabei fällt mir ein, meine Kusine Matilda ist mal hingegangen, dahin oder zu einem ähnlichen Dings. Sie mußte die Zeit bis zum nächsten Ehemann überbrücken, und sie kann buchstäblich nicht aufrecht stehen, wenn sie keinen männlichen Arm zum Anklammern hat. Sie fand, wenn sich der Bräutigam Anzug und Zylinder mieten kann, ist nichts dagegen zu sagen, wenn sie sich einen Mann mietet. Ich glaube, er wurde für den Vater der Braut gehalten oder für den
Oberkellner, eins von beidem.« »Trinken wir auf ansehnliche Männer, egal woher«, rief ich und erhob das Glas. »Egal, was es kostet.« *** Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht mehr ganz so locker und überlegen. Ich verschob den Anruf bei der Kultivierten Herrenbegleitung bis in den späten Nachmittag. Dann ging ich in den hinteren Teil des Ausstellungsraumes, in dem ich arbeitete, goß mir aus der Kaffeemaschine, die gefährlich auf einer Kiste balancierte, eine Tasse ein, spitzte drei Bleistifte, bis sie tödlich waren, setzte mich an meinen Schreibtisch, stand auf, besorgte mir eine Schachtel Büroklammern, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder hin und wählte schließlich die Nummer. Besetzt. Fünf Minuten später kam ich durch und wurde von einer anonymen Stimme am anderen Ende der Leitung informiert, daß eine Terminvereinbarung nicht nötig sei. Geschäftsstunden von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr dreißig und drei Empfehlungsschreiben müsse ich vorweisen, maschinegeschrieben, in dreifacher Ausfertigung. Klick. Nicht sehr freundlich, aber ausgesprochen geschäftsmäßig. Langsam ging es mir besser. Ich sagte meinen letzten Termin mit einer Frau ab, die ihr Vorkriegs-Siedlungs-Häuschen in ein französisches Château verwandelt haben wollte, fuhr mit der U-Bahn bis Strand, überprüfte zum vierten Mal die Adresse in meinem Portemonnaie und machte mich auf den ZehnMinuten-Fußweg zur Goldfinch Street. Meine Füße dehnten ihn auf zwanzig Minuten. Ferner trugen sie mich zu Woolworth, wo ich einen Lippenstift erstand, den ich nicht brauchte in einer Farbe, die ich nie trug sowie eine Tüte Kartoffelchips, die ich als Rückhalt
in meine Handtasche stopfte. Unglücklicherweise hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten, das Gebäude zu finden, das die Kultivierte Herrenbegleitung beherbergte. Es war nicht zu verfehlen. Der Architekt hatte kein postmodernes Mätzchen ausgelassen. Die Fahrt im Fahrstuhl — einer gläsernen Röhre, die ohne sichtbare Abstützung um ihre eigene Achse rotierte — durch einen Dschungel von Treibhauspflanzen war ein Erlebnis für sich. Jetzt noch ein gutgelaunter Tenor, der selbstvergessen losträllerte — ein einziger Schmetterton und alles würde in tausend Splitter zerspringen. Ich wandte die Augen nicht von einem korpulenten Herrn mit olivfarbenem Teint und schwarzem Operettenbart, am liebsten hätte ich ihm das Atmen verboten. In letzter Sekunde kam die kugelförmige Kabine zum Stillstand, hing einen Moment in der Luft und öffnete dann mit geräuschlosem Gähnen ihre Pforten. Ich erwog kurz, auf der Stelle die Rückreise anzutreten. Aber ich verachte Feiglinge, auch wenn ich meist selbst einer bin. Ich bog um eine Ecke und fand mich unmittelbar vor einer Glastür, die in auffälligen Lettern von der Kultivierten Herrenbegleitung kündete. Darunter war eine ekelerregende Abbildung von zwei ineinander verschlungenen Herzen. Ich kramte in meiner Handtasche, fischte eine Sonnenbrille heraus und klappte den Kragen meines Kamelhaarmantels hoch. Vor wem wollte ich mich verstecken? Vor mir selbst? Mein Innenleben implodierte. Ich machte ein bißchen Lamaze-Atemtechnik, die ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, und öffnete die Tür. Wie so oft, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, lauerte auch hier nichts Unheimliches. Es war die übliche Art Empfangsraum, wo astronomische Honorare kassiert werden: skelettfarbene Wände, Bambusrollos und
sparsamster Einsatz ausgesuchter Utensilien. Optischer Mittelpunkt des Raumes war eine silikongepolsterte, geschickt als Empfangsdame getarnte Blondine. Sie saß hinter einem sichelförmigen orangefarbenen Kunststoffschreibtisch, feilte ihre bereits rasierklingenscharfen Nägel, kaute affektiert Kaugummi und blies niedliche kleine Blasen, die genau zu ihrem bonbonrosa Lippenstift paßten. Sie sah nicht auf, als ich auf den Wogen einer Engelbert-Schnulze eintrat. Ich räusperte mich und schluckte vernehmlich. »Entschuldigen Sie.« »Ja?« Goldlöckchen sog den kleinen Ballon ein und schaute noch gelangweilter drein als vorher. »Wenn Sie wegen der Stellung gekommen sind«, die Nagelfeile schmirgelte weiter, »die ist schon weg. Bedaure, aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« »Welche Stellung?« Sie hielt mich für begriffsstutzig. »Na Putzhilfe, männlich oder weiblich, Berufserfahrung nicht erforderlich, keine Nebenleistungen, Alter Mitte vierzig …«, sie unterbrach sich, »oder wollten Sie die nicht?« Konnte ich innerhalb weniger Stunden derartig gealtert sein? Das versprach ja heiter zu werden mit dieser chemieblonden, zuckerlasierten Pute. Ihrem Röntgenblick nach hätte ich eine Raupe sein können, die gerade von einem Silbertablett mit hübsch dekorierten Gurkenschnittchen kroch. Nerven hin, Nerven her, ich würde mich nicht behandeln lassen wie Katzenfutter. Ich nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche. »Ich bin als Kundin hier, nicht als Ganztagsangestellte. Vielleicht erinnern Sie sich« — ich blickte mich in dem leeren Wartezimmer um — »ich habe heute nachmittag angerufen und Sie sagten, ich könne ohne Termin vorbeikommen. Hoffentlich habe ich meine Zeit nicht verschwendet. Ich habe nämlich auch Kunden,
die deswegen zurückstehen mußten.« Das schluck mal, dachte ich, während ich spürte, wie ihre verschlagenen Äuglein mich langsam von oben bis unten musterten, meinen fallschirmförmigen Mantel, mein solides Schuhwerk. Warum tat ich mir das an? »Die Anforderungen der Geschäftsleitung sind fürchte ich recht hoch —« »Wie hoch? Hätte ich gewußt, daß Sie 92 – 61 – 89 verlangen, hätte ich kein Mittagbrot gegessen.« »Schauen Sie, Fräulein, ich hab die Regeln nicht gemacht. Das Leben ist nicht immer fair.« Der Tiefsinn des Tages. »Wenn ich so aussehen würde, wie ich Ihrer Meinung nach sollte, wäre ich nicht hier. Also, können Sie mir helfen oder ist jemand zu sprechen, der es kann?« Ihr Seufzer ließ die Büroklammern scheppern. »Ich treffe hier nicht die Entscheidungen … Na schön, Mrs. Swabucher will die ausgefüllt haben, bevor Sie reingehen.« Ein Bündel Aufnahmeformulare, deren obere rechte Ecken die unvermeidlichen Herzchen zierten, wurde mir in die Hand gedrückt. »Gehen Sie in das Kabuff neben dem Fenster.« Goldlöckchen machte sich nicht die Mühe, aufzustehen; sie winkte lediglich mit einem Kaugummipäckchen. »Da finden Sie, was Sie brauchen, Kugelschreiber, Bleistifte und einen Taschenrechner.« Ich hörte, wie eine Tür am anderen Ende des Raumes auf- und wieder zuging, dazwischen schnappte ich die Worte auf: »Puuh, wir haben Miss World im Wartezimmer.« Bis dahin hatte ich Bewerbungsformulare stets gerne ausgefüllt. Sie bescheinigen einem schwarz auf weiß, daß man eine Person ist, die Leistungen, Pläne und Ziele aufzuweisen hat — fein säuberlich tabelliert. Kreuzen Sie Kästchen A, B oder C an und unterschreiben Sie. Kein
Platz für Seelenbekenntnisse. Ich habe keine Vorstrafen, nicht in Bigamie gelebt und keiner obskuren exotischen Sekte angehört. Aber dieser Fragebogen war offensichtlich das Geisteskind eines Freudianers, der wollte, daß ich mir mein eigenes Grab schaufelte und mich dann auch noch hineinlegte. Ob ich bei Benutzung des Badezimmers immer die Tür schloß. Ob ich anderer Leute Zigaretten rauchte. Welche Art von Nachtgewand ich bevorzugte. Irgendwo zwischen diesen kunstgerecht punktierten Linien waren Bomben versteckt, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit hochgehen konnten. Ich hatte bereits die Enden von zwei Bleistiften zerkaut und mußte befürchten, wenn nicht von diesem Schwachsinn, dann von Bleivergiftung dahingerafft zu werden. Also übersprang ich zwei Zeilen und kam zu einer Frage in größerer Schrift, die mehrmals unterstrichen war. Offensichtlich das Kernstück. »Was war mir im Leben am wichtigsten?« A. Eine sexuell befriedigende Beziehung. B. Geld. C. Die Achtung meiner Mitmenschen. Ich war versucht zu antworten: »Bratfisch und Pommes mit viel Majo und Erbsen, eine große Cola und ein Schokoladeneisbecher mit extra Sahne, zwei Kirschen, keine Nüsse.« Eine Alarmglocke schrillte, daß mein rechtes Trommelfell platzte. Goldlöckchen war wieder da, fachmännisch hielt sie eine poppige Stoppuhr in ihren kirschroten Krallen. »Am besten gehen Sie gleich zu Mrs. Swabucher rein. Sie verreist übermorgen zu einer Konferenz.« Dem blöden Grinsen nach war ich für Goldlöckchen der Witz des Tages. Haltet euch den Bauch und wälzt euch am
Boden vor Lachen, hier kommt Miss Wollene Unterwäsche auf der Suche nach Mr. Tadellos. Das innerste Heiligtum glich einer gigantischen Puderquaste, kuschelig und rosa und dezent duftend. Alles war rosa — der Teppich, die Tapete, die Vorhänge, der Lampenschirm in Form eines Sonnenschirmchens; sogar der große Schreibtisch in der Mitte des Zimmers war perlmuttrosa und natürlich herzförmig. Hinter dem Schreibtisch saß eine kuschelige ältere Dame, die selber ein bißchen wie eine Puderquaste aussah. In dem rosigen Licht hatte ihr Haar einen rosa Schimmer. »Miss, äh, Ellie Simons.« Goldlöckchen knallte meine Testformulare auf den Schreibtisch und stöckelte auf ihren Zwanzig-Zentimeter-Pfennigabsätzen hinaus. »Kommen Sie, kommen Sie, meine Liebe. Ach je, Sie sehen ja zu Tode erschrocken aus, Sie Arme.« Mrs. Swabucher kam hinter ihrem Schreibtisch hervorgewatschelt. Zu meiner Überraschung entdeckte ich an ihren Füßen bequeme Pantoffeln mit dicken rosa Seidenpompoms, die die Wirkung ihres rosa Wollcomplets zunichte machten. Sie fing meinen Blick auf und zwinkerte mir heftig zu. »Ich weiß, ich weiß, ich sehe damit aus wie eine alte Miezekatze, aber meine Füße machen mir so zu schaffen und meine Tochter Phyllis hat sie mir letzte Weihnachten geschenkt. Sie ist das hochgewachsene Mädchen hier auf dem Foto neben dem Jungen mit dem Hamster — meinem Enkel Albert. Geben Sie mir Ihren Mantel, meine Liebe, und ziehen Sie sich den Stuhl heran, damit wir gemütlich plauschen können. Wie wärs mit einem Kaffee?« Das sollte nun der führende Kopf hinter allem sein? Zu meinem Erstaunen merkte ich, daß meine Hände nicht mehr zitterten. Ich war in der Lage, die zierliche Kaffeetasse mit dem zarten Rosenknospenmuster ruhig
zu halten. Das Zimmer war wunderbar warm, trotz des Regens, der draußen niederprasselte. Es hätte ein behaglicher Abend bei einer älteren Freundin oder Verwandten sein können, nur daß meine Verwandten alle so behaglich waren wie Giftschlangen. »Hat das Mädchen Sie schikaniert?« Mrs. Swabucher nahm wieder hinter den Fotos Platz und nippte an ihrem Kaffee. »Ich wußte vom ersten Moment an, sie ist die Falsche. Aber was soll man machen? Heutzutage ist es absolut unmöglich, gute Kräfte zu finden: schlampig, unverschämt und schrecklich ungebildet. Aber Sie, Miss Simons, Sie sind eine Dame, das sehe ich sofort.« »Und der Test?« »Ach, zerbrechen Sie sich bloß nicht den Kopf über diesen Unsinn. Das war eine Idee von meinem Sohn Reginald. Er ist Wirtschaftsprüfer und Sie wissen ja, wie die sind — ‘Mutter, du mußt rationell arbeiten, auf dem neuesten Stand sein, dich an die Bestimmungen halten.’ Ich halte mich an meinen Instinkt und ich irre mich nie. Dadurch bin ich ja überhaupt erst in diese Branche geraten. Ich verstehe mich auf Menschen. Mein lieber verstorbener Mann sagte immer, ich wäre die geborene Ehestifterin, und als er von mir ging … was hatte ich schon anderes zu tun?« Sie setzte vorübergehend aus wie eine zu schwach aufgezogene alte Uhr und ich murmelte, es ginge mir eigentlich nicht um etwas so Dauerhaftes wie einen Ehemann. Mrs. Swabucher strahlte mich an. »Man kann nie wissen! Nehmen Sie ein Konfekt, alle mit Cremefüllung. Meine Spezialmarke.« Ich beäugte sie gierig, lehnte aber dankend ab. »Sie machen sich Sorgen wegen Ihrer Figur, stimmt’s? Sollten Sie nicht. In Ihrem Alter ist das wahrscheinlich nur Babyspeck.«
»Ich bin siebenundzwanzig.« »Oh je, oh je! Sie sterben gleich an Altersschwäche!« Mrs. Swabucher kicherte kehlig. »Kommen Sie, seien Sie kein Frosch! Amüsieren Sie sich! Ach Sie haben Angst — Sie denken, das ist wieder ein Test wie der Mumpitz da draußen. Lassen Sie mich etwas klarstellen, Miss Simons. Ich bin nicht doppelzüngig, dazu bin ich einfach nicht schlau genug. Jetzt essen Sie, und dann kommen wir zum Geschäft. Erzählen Sie mir alles über sich.« Es war gar nicht schwer. Ich aß ein Konfekt, ich aß noch eins. Mrs. Swabucher gab mir die ganze Schachtel und sagte, ich sollte sie auf dem Schoß behalten. Sie goß mir immer wieder Kaffee ein. Ich erzählte ihr von der Einladung in Merlins Schloß, beschrieb Vanessa und wie gräßlich minderwertig ich mir in ihrer Gegenwart vorkam, wie ich mein Gewicht haßte, aber unfähig war, es unter Kontrolle zu halten, und wie ich glaubte, selbst eine vorgetäuschte Beziehung würde mir genügend Selbstvertrauen geben, um das große Wochenende zu überstehen. Am Ende meines Vortrages hatte Mrs. Swabucher Tränen in den Augen und putzte sich mit einem rosa Seidentaschentuch geräuschvoll die Nase. »Wie schade, daß mein Jüngster, der arme William, nie Gelegenheit hatte, Sie kennenzulernen.« Mir gingen Bilder von einem frühen und tragischen Tod durch den Kopf. Doch Mrs. Swabucher erklärte, letzten Juni habe ihr Sprößling eine unmögliche, emanzipierte Person geheiratet, die für getrennte Ferien sei und gegen Kinder. Ich aber war die Gegenwart, mir konnte geholfen werden. Die liebe Frau machte sich umfangreiche Notizen in einer sonderbaren Kurzschrift, die mit Kringeln und Pfeilen durchwoben war: Arbeitsstellen, Hobbies, Vorlieben und Abneigungen, alles kam in einen Topf, wo
es eine Weile schmoren sollte, wie Mrs. Swabucher sich ausdrückte. In der Zwischenzeit würde sie ihre Kartei durchgehen und ihre Grübelkappe aufsetzen. Irgendwo da draußen war der Mann, dessen Leben kurz das meine berühren würde. »Fahren Sie nicht in ein paar Tagen zu einer Konferenz?« fragte ich, denn mir fiel plötzlich auf, wie spät es war. Seit zwei Stunden saß ich in diesem Zimmer. »Das Mädel ist unfähig, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Konferenz! Hört sich großartig an, was? In Wirklichkeit besuche ich ein paar Tage meine Enkelkinder. Aber vor dem Vergnügen kommt die Pflicht. Bevor ich irgendwohin fahre, werde ich diesen Mann für Sie finden.« Wir erhoben unsere Kaffeetassen und tranken auf Mr. Tadellos, egal, wo er war.
Zwei In der Woche nach meinem Besuch bei der Kultivierten Herrenbegleitung versuchte ich mich damit zu trösten, daß keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind, aber selbst in meinen Ohren hatte der Spruch einen falschen Klang. Entweder war Mrs. Swabucher übertrieben wählerisch oder ihre Suchexpedition war kläglich gescheitert. Ich hatte ihr Jills Nummer gegeben, denn mein eigenes Telefon, das einem Trappistenkloster Ehre gemacht hätte, war längst abgeschafft. Jedesmal, wenn ich Jills Schritte auf der Treppe hörte, hielt ich die Luft an, bis ich Sternchen sah. Meistens kam sie nur rauf, um sich von mir ein Ei zu borgen. Ihre neueste Masche war, eins in Salzwasser zu verrühren und damit um Mitternacht zu gurgeln. Ansonsten berichtete sie nur von drei obszönen
Anrufen einer Dame aus dem vornehmen Knightsbridge, die Jill für ihren Zeitungsjungen hielt. Am Mittwoch endlich rief sie mich herunter und drückte mir den Hörer in die Hand. Er klinge traumhaft! Falscher Alarm, es war nicht er, sondern nur Mr. Green von der Reinigung an der Ecke, der mir überglücklich verkündete, er habe den Gürtel von meinem blauweiß gepunkteten Seidenkleid gefunden. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, er solle ihn als Wäscheleine behalten, aber er war ein freundliches Männlein und pflegte eine alte Mutter. Der Samstag kam herauf und Jill bestand auf einem Einkaufsbummel. Ich müsse unbedingt neu eingekleidet werden für das Wochenende. All mein Jammern, sobald ich den Rücken drehte, werde er anrufen, half nichts und so trottete ich hinter ihr her nach Soho in eine schmuddelige Boutique. Die Besitzerin, eine Schlampe mit verfilztem schulterlangem Haar und einem tätowierten kopflosen Huhn auf dem linken Unterarm, begrüßte uns überschwenglich. Sie, Serena, werde mich verwandeln! Fragte sich nur, in was. Trotz passiven Widerstandes wurde mir ein bodenlanger purpurroter Seidenkaftan aufgezwungen, dessen Ausschnitt mit Perlenstickerei prunkte, während Ärmel und Saum von Goldborte glänzten. Serena und Jill behaupteten, ich sähe märchenhaft aus. Ich hätte es anders ausgedrückt: der Schrecken Arabiens. Aber ein Quentchen Rückgrat bewahrte ich und verweigerte die Schnabelpantoffeln aus Goldbrokat. »Was gluckert denn da so?« fragte ich, als wir endlich Jills Tür erreicht hatten, völlig durchnäßt, denn auf dem Weg von der U-Bahn hatte uns ein Wolkenbruch überrascht. »Hört sich an wie Tobias. Er ist irgendwo eingesperrt. Er erstickt!« Sie nahm ihren Schlüssel raus. »Das ist nicht Tobias.
Du weißt ja, wie Miss Renshaw im Souterrain sich aufregt, wenn den ganzen Tag das Telefon klingelt und keiner rangeht. Deshalb schieb ich’s immer, wenn ich länger weg bin, unter den Sitzsack.« Ihre Hand verharrte vor dem Türschloß. Wir blickten uns an. »Das Telefon!« kreischten wir im Chor. »Es klingelt!« Ich grapschte nach dem Schlüssel. Jill ließ ihn fallen und mit leisem, metallischen Klackern trudelte er über das dunkle Linoleum. »Rindvieh«, sagten wir gleichzeitig. Auf allen Vieren krabbelten wir im Kreis herum, in unserer Panik prallten wir aufeinander. »Zu spät!« schrie Jill. »Ist er in eine Spalte gerutscht?« »Nein, du Trampel! Das Telefon hat aufgehört. Ah! Hab ihn!« Sie hielt den Schlüssel so weit wie möglich von mir weg und verbot mir, mich zu rühren, bevor sie die Tür aufgeschlossen hatte. »Soll ich vielleicht ewig hier kauern? Ich kriege einen Krampf in den Knien.« Jill knurrte nur kurz, als ich mich aufrappelte und ihr in die Wohnung folgte. Da standen wir nun in unseren tropfnassen Mänteln traurig mitten im Zimmer; das Telefon hockte da und sagte keinen Ton. »Klingle, du schwarze Kröte«, befahl ich und es gehorchte. »Geh du ran.« Jill schälte sich aus ihrem Mantel. »Und wenn das wieder diese Labortante ist und fragt, ob ich meinen Körper für Versuchszwecke spende, sag ihr, geben tu’ ich nur im Leben.« »Riverbridge 6890«, krächzte ich. Wie kann einer Frau mit siebenundzwanzig schon die Stimme brechen? »Ellie Simons?« kam es vorwurfsvoll vom anderen Ende. »Em, äh, was, äh, wer …?«
»Bentley Haskell. Den ganzen Vormittag versuche ich, Sie telefonisch zu erreichen. Ich habe Mrs. Swabucher im Büro so verstanden, daß es sich um eine Art Notfall handelt. Sollten Sie inzwischen anders disponiert haben, wäre mir das durchaus recht, allerdings weiß ich bei diesen Aufträgen gern, woran ich bin.« »Ja natürlich! Ich kann Sie vollkommen verstehen.« Vor lauter Schreck ließ ich den Hörer fallen, er polterte zu Boden. Jill hockte auf einem Stuhl neben meinem linken Ohr. »Hör auf zu katzbuckeln.« »Sst.« Ich entriß ihr die Schnur und sprach ins Mundstück. »Keine Sorge, mir ist nur das Telefon runtergefallen, nicht das Gebiß.« Ungeduldiges Atmen kam durch den Draht. »Miss Simons, ich nehme pro Monat nur wenige Aufträge an. Die Begleitung alleinstehender Damen ist nicht mein Hauptberuf, deshalb trachte ich, meinen Terminplan so weit wie möglich im voraus aufzustellen. Um welche Zeitspanne handelt es sich bitte, und wann?« »Wann?« echote ich. »Ich dachte, Mrs. Swabucher hätte Ihnen — einen Moment bitte. Sie müssen vielmals entschuldigen. Ich weiß, ich hab die Einladung hier irgendwo in meiner Handtasche. Sie wollen die Daten wissen?« »Leiden Sie an Gedächtnisschwund, Miss Simons?« »Wie witzig, Mr. äh …!« Ich kicherte wie ein blondes Doppeldummchen. »Ich mag Männer — Leute — mit Sinn für Humor.« Ich hielt die Hand über den Hörer und zischte Jill verzweifelt zu: »Wann fahre ich?« Sie schloß schmerzlich berührt die Augen. »An was erinnern dich schwarze Katzen und Spinnen am Morgen? Freitag der dreizehnte! Und hör auf, so zu winseln, das ist menschenunwürdig.« Jill hatte recht. Schluß mit dem Unsinn! Ich reckte die
Schultern und ahmte meinen Bankmanager nach, wenn er mir klarmacht, daß er meine Schecks mit einer Hand platzen lassen kann. »Mr. Hammond, ich habe alle Informationen parat. Die Daten sind dreizehnter bis fünfzehnter Februar.« »Haskell. Bentley T. Haskell. Wie ich von unserer gemeinsamen Bekannten Mrs. Swabucher erfahre, ist Ihre Situation etwas ungewöhnlich und Sie suchen mehr als lediglich einen Begleiter. Ich soll mich als der getreue Lebengefährte ausgeben?« »Kostet das extra? Kein Problem. Sie können das Geld in bar haben, wenn Sie wollen.« »Vielen Dank, und zwar in nicht registrierten Scheinen, wenn’s geht.« Komischer Mensch. Verachtete er seine Arbeit, fand er sie erniedrigend? Er klang in Eile, sich rasch wieder einem Zeitverteib zuzuwenden, wie er kultivierten Herren ansteht. »Sollen wir uns treffen, bevor wir losfahren?« fragte er. »Dann können Sie mich über die Einzelheiten ins Bild setzen.« »Nein, das wird nicht nötig sein.« Ich sah keine Veranlassung, diesem ohnehin feindseligen Herrn einen Grund zu liefern, sich zu drücken. Mrs. Swabuchers barmherzige Beschreibung von mir mochte von der Wirklichkeit abweichen. »Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, Mr. Haskell, schicke ich Ihnen den Terminplan — Abfahrtszeit, Reiseziel usw.« »Vielen Dank, aber richten Sie alle Korrespondenz an das Büro. Meine Privatadresse gebe ich Klienten nicht.« Hatte der Mann Angst, ich könnte in einer stürmischen Nacht auf seiner Türschwelle erscheinen und ihn vergewaltigen? »Wunderbar.« Wo hatte ich nur meine Gedanken? »Wie Sie, Mr. Haskell, möchte ich das Ganze rein geschäftlich behandeln.« Ich lachte silberhell auf, um
ihm zu zeigen, wie spaßig ich alles fand. »Störe ich Sie gerade beim Essen?« »Nein.« Wollte er das Visier herunterlassen und mich einladen? »Ich dachte schon, Sie hätten sich verschluckt.« So viel zu meinem Charme! Bevor er auflegte, erwähnte ich Transportmittel. Ich hatte daran gedacht, mit dem Zug zu fahren, aber als er sein Auto vorschlug, fand ich das Angebot unwiderstehlich. Sofort hatte ich vor Augen, wie wir majestätisch durch die Tore von Merlins Schloß rauschten. »Gut«, sagte ich zu Mr. Haskell. »Setzen Sie das Benzin mit auf die Rechnung.« Was er zusicherte, bevor er auflegte. Ich saß neben dem Telefon, starrte die Decke an und preßte die Knie zusammen. Sie schlotterten schlimmer, als meine Zähne klapperten. »Wie heißt er?« fragte Jill. Ich sagte es ihr. »Hört sich an wie ein Auto«, fand sie. »Jill, du weißt, ich reagiere sehr empfindlich auf Namenswitze.« »Entschuldige. Hatte vergessen, daß Ellie eine Abkürzung ist. Wie wär’s, wenn wir zur Feier eine Flasche Rhabarberwein köpfen?« Sobald ich mich von dem Schock erholt hatte, wurde es ein schöner Abend. Ich ließ das Telefongespräch noch einmal Revue passieren und redete mir ein, jemand, der so schroff und unhöflich war wie Bentley Haskell mußte ein Prachtexemplar sein. Weniger attraktive Männer geben sich mehr Mühe. In jedem Lore-Roman ist der ansehnliche Held anfangs ein abweisendes Rauhbein, bis die Heldin ihn sich mit samtweichen Pfötchen gekrallt hat. In Gedanken versah ich Mr. Haskell mit einem interessanten Hinkegang und einer Narbe auf gebräunter
Wange — Überbleibseln des unvermeidlichen Jagdunfalls. Nach dem dritten Glas Wein war ich richtig gut drauf. Wieder nüchtern fiel mir am nächsten Morgen ein, daß all diese Heldinnen aussehen wie Vanessa. Sollte ich je in einem Lore-Roman besetzt werden, dann mit der drallen Minna, die als treuer Dienstbolzen durchs Leben trudelt. Das ist die Wirklichkeit. Die nächste Woche verging in einem Taumel der Entschlußlosigkeit. Ich verbrauchte meinen gesamten Vorrat an Briefpapier — Geschenke aus drei Jahren — für Entwürfe an Mrs. Swabucher mit der Anweisung, meinen Auftrag zu streichen; alle wurden wütend zerrissen und im Küchenherd verbrannt. Tobias, dieses furchtlose Raubtier, wagte nicht mehr, »miau« zu sagen. Ich war barsch zu Jill. Mit einem Wort, ich war völlig fertig und wurde von Minute zu Minute fetter. Die Zeit wurde knapp. Ich schrieb Tante Sybil, ich käme in Begleitung und schickte der Agentur den Terminplan mit der Bitte, ihn an Mr. Haskell weiterzuleiten. Als der Schicksalstag heraufkam, waren meine Augen blutunterlaufen und meine Haut — meine einzige Attraktion — übersäht mit roten Flecken. Die Minuten verrannen unaufhaltsam und brachten den geisterhaften Mr. Haskell immer näher. Ich konnte die Schlüssel zu meinem Koffer nicht finden, und die Haferschleim-EiweißGesichtsmaske, die mir Jill verpaßt hatte, war zu Beton erstarrt. Eine Weile hatten wir Angst, wir müßten jemand von der nächsten Tankstelle holen, um mich rauszumeißeln. »Schade, daß es kein Kostümfest ist«, seufzte Jill. »Du könntest prima als Felsbrocken gehen.« Glücklicherweise mußte ich lachen und der Fels bröckelte. Jetzt kam die nächste schwierige Prozedur — mich in neue Strumpfhosen zu quetschen, ohne daß sie
platzten wie zu stark aufgeblasene Ballons. Jetzt noch den Kaftan über den Kopf. »Meinst du wirklich, ich bin passend angezogen?« Ich mühte mich mit einem widerspenstigen Perlohrring ab. »Klar!« Jill stopfte meinen linken Fuß in einen schwarzen Ripsschuh, den ich seit Jahren nicht getragen hatte. »Heutzutage kannst du in Packpapier rumlaufen und keiner zuckt auch nur mit der Wimper.« »Wie spät ist es?« Ich suchte meine kleine goldene Uhr. Meine normale im Big-Ben-Format paßte nicht zu der Aufmachung. »Er kommt um halb vier.« »Du hast noch Zeit. Obwohl ich finde, du solltest nicht ewig diesen Oma-Dutt tragen oder wenigstens was mit deiner Haarfarbe machen. Mittelbraun ist dies Jahr nicht angesagt.« Jill war beim rechten Fuß angekommen. »Noch zehn Minuten.« Es klingelte und Jill büßte beinahe ihre Hand ein, als ich zurückfuhr. Ich hasse Zufrühkommer. Pünktlichkeit steht ganz oben auf meiner Liste unverzeihlicher Sünden. Es klingelte wieder, hartnäckig. Jill machte die Tür auf, während ich zwischen Schlaf- und Wohnzimmer hin- und herflatterte wie eine riesige rote Motte. »Miss Simons?« Er hörte sich nett an und irgendwie — erleichtert? »Nein, Jill, eine Freundin aus dem Haus; Ellie ist da drin.« Tusch und Trommelwirbel — meine verflixten Knie schlotterten wieder. Endlich standen wir uns Auge in Auge gegenüber. Er war nicht groß, dunkel und gutaussehend, aber zwei von drei möglichen Punkten sind immerhin was. Seine Körpergröße war höchstens durchschnittlich, vielleicht einsfünfundsiebzig, drei Zentimeter mehr als ich auf hohen Absätzen. Sein Haar war lockig und dunkel, fast schwarz. Bei seiner
olivfarbenen Haut hätten seine Augen von Rechts wegen braun sein müssen, aber sie waren intensiv blaugrün. Er trug eine Nickelbrille, die ihm keineswegs Minuspunkte einbrachte (später erfuhr ich, daß er sie nur zum Autofahren aufsetzte), und er war schlank, schlank, und nochmal schlank. Vielleicht nicht hübsch wie es im Buche steht, aber entschieden attraktiv. Angesichts seines gut geschnittenen Mantels über dem Anzug aus dunklem Wolltuch, dem weißen Hemd und der gestreiften Seidenkrawatte wurde mir klar, wie ich aussah — wie die Dicke vom Rummelplatz, nuttig, ordinär und grotesk. Der arme Mann, was für eine Art, sein Geld zu verdienen! Ich nahm mir vor, nett zu ihm zu sein. Morgen würde ich zu meinen Tweedsachen zurückkehren und ihm am Schluß des Wochenendes ein anständiges Trinkgeld geben, damit er seine Mutter oder seine Freundin zum Essen ausführen konnte — oder seine Frau. Gab es vielleicht ein Gesetz, daß Begleiter ledig zu sein hatten? Ich band mir mein bestes Lächeln um, ging auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Er hatte einen angenehm festen Griff, aber seine Augen waren kalt und unpersönlich. Absurderweise nahm ich ihm das übel. Kein Mensch hatte ihn gezwungen, herzukommen. Er entdeckte meinen Koffer und ergriff ihn schwungvoll mit einer Hand. »Ich bringe ihn ins Auto, während Sie sich fertig anziehen.« Ich bedachte ihn mit einem frostigen Blick. »Sie stehen vor dem Endprodukt.« Die leuchtend graugrünen Augen musterten jeden purpurroten Quadratzentimeter; seine Lippen verzogen sich. »Sie müssen mir verzeihen«, sagte er, »Aber Damenbekleidung war mir immer ein Rätsel. Ich hielt das für den Morgenmantel. Sie sind so weit?« »Nicht ganz.« Meine Stimme verrutschte um eine
Oktave, aber das war mir egal. »Bevor wir aufbrechen, möchte ich etwas klarstellen. Mr. Haskell, Sie sind hier, um Ihre Arbeit zu tun, so gut wie irgendein Angestellter. Da ist nichts dabei, die meisten von uns sind gezwungen, sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Ich habe mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die ich nicht auf eine Tasse Kaffee gebeten hätte, selbst wenn ich auf einer einsamen Insel mit ihnen gestrandet wäre, aber ich habe eine wichtige Lektion gelernt.« »Ja?« »Sorgen Sie immer dafür, daß die Chefin mit Ihnen zufrieden ist, denn sonst kriegen Sie womöglich kein Geld, weder per Scheck noch in bar noch sonstwie.« Seine Brauen waren ein einziger schwarzer Strich. Einen Augenblick dachte ich, er würde den Koffer nach mir werfen, und athletisch wie er war hätte er ins Schwarze getroffen — meine Nase. »Amüsiert euch gut« zwitscherte Jill und reichte mir meinen Mantel. Wir machten uns auf den Weg.
Drei Ich war an diesem Tag noch nicht draußen gewesen, ja ich hatte noch nicht einmal die Vorhänge zurückgezogen, und so wurde ich unsanft davon überrascht, daß es schneite. Dicke weiche Flocken wie aus Seifenschaum wirbelten durch die Luft. Badewetter? Dieser irrigen Ansicht war offenbar Bentley Haskells Auto. Das übel zerschrammte rostiggraue Gefährt stand dicht am Rinnstein mit runtergeklapptem Verdeck. Ich wußte, daß Kabrios einen Hang dazu haben, aber doch bitte nicht mitten im Schneegestöber bei eisigem Ostwind. Mr. Haskell hatte meinen Koffer verstaut und hielt mir die Tür
auf. »Darf ich beim Einsteigen behilflich sein, Schatz?« Er lächelte grimmig. »Ich übe schon mal.« »Nein. Sie dürfen den Deckel von diesem Ding zumachen.« »Das geht leider nicht. Die Scharniere sind seit Jahren festgerostet. Keine Sorge — Sie werden nicht naß.« Als ich mich auf einem sehr feuchten Sitz niederließ, drückte er mir einen rotweiß gepunkteten Sonnenschirm in die Hand, löste die Verriegelung und schon wölbte sich über mir ein riesiger Fliegenpilz. Meine Füße trafen auf eine Wärmflasche, aber auch das besänftigte mich nicht. Ich hätte jetzt in einem gemütlichen Zugabteil sitzen können, indes die Landschaft an mir vorbeiglitt, und der Schaffner zum Abendessen in den Speisewagen bat. Es gab nur eine Erklärung: Der Mann, der ruhig an meiner Seite saß und die Straßenkarte studierte, war aus Dartmoor entflohen. Mrs. Swabucher hätte ausnahmsweise auf Sohn Reginald, den Wirtschaftsprüfer, hören und ihre Hausaufgaben machen sollen. »Zu Ihrer Linken finden Sie zwei Reisedecken.« Mr. Haskell faltete die Karte säuberlich zusammen, steckte sie in die Ledertasche unter dem Armaturenbrett und setzte das Monstrum in Gang. Es antwortete mit Geheul, das sich zu wütendem Knurren steigerte. Wir schossen vorwärts, verfehlten knapp eine Frau auf einem schwankenden Fahrrad, drückten uns an einem Laster und einem Doppeldeckerbus vorbei und schwammen mit im abendlichen Berufsverkehr, der London vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich lassen wollte. »Behaglich, Schatz?« Er hatte kleine, schneeweiße Zähne. Einer stand ein wenig über und betonte das Ebenmaß der übrigen. »Ich erfriere.«
»Wickeln Sie sich die andere Decke um. Mein Problem ist, ich finde dieses Wetter erfrischend und vergesse, nicht alle teilen meine Begeisterung für die Natur im Rohzustand.« »Im Zug wäre es sicher zu heiß?« »Zum Ersticken.« So sollte ich also Einzug in Merlins Schloß halten? Die Finger festgefroren an diesem lächerlichen Sonnenschirm, das Haar schneeweiß und vor der Zeit gealtert? Männer! Und nach so einem hatte ich mich all die Jahre gesehnt! »Versuchen Sie, in Bewegung zu bleiben«, sagte er, die Augen fest auf die Straße geheftet. »Na toll! Ich stehe auf und jogge um den Rücksitz. Halten Sie ja nicht an, wenn ich über Bord gehe. Ein rascher Unfalltod ist mir lieber als zentimeterweise zu erfrieren.« »Ich meinte, wackeln Sie mit den Zehen, wedeln Sie mit den Händen — nicht die mit dem Schirm.« Er zuckte zusammen. »Für diese Fahrt brauche ich beide Augen — die Sicht wird immer schlechter.« »Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?« Ich schloß die Augen und sofort wurden mir die Lider schwer. Schnee drückte sie nieder, nicht süßer Schlaf. Eingemummelt in meine Decken kam ich nicht an die Tafel Nußschokolade, die in meiner Handtasche steckte und inzwischen mit klagender Stimme nach mir rief. »Kann ein Mensch in Leichenstarre fallen«, fragte ich, »obwohl er noch lebt?« Er schnaubte ärgerlich, fügte dann aber recht sanft hinzu: »Vielleicht hilft es, wenn wir uns unterhalten.« Schmolz der Eisberg? »Um überzeugend zu sein«, fuhr er fort, »muß ich in etwa wissen, wer wer ist auf dem Anwesen, dem wir unseren Besuch abstatten. Ist es ein Landhaus?«
»Eher ein Schloß. Kein echtes natürlich«, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie seine Augenbrauen in die Höhe schossen. »Eine Miniaturausgabe, die Onkel Merlins Großvater vor über hundert Jahren erbaut hat. Familienlegenden behaupten, daß er bereits an Altersschwachsinn litt, als die Pläne gezeichnet wurden. Nur jemand im Endstadium der zweiten Kindheit besitzt diese Art Phantasie. Das Haus ist schnurstracks aus dem Märchen entsprungen — jede Menge Türme, efeubewachsene Mauern, ein Schloßgraben nicht größer als ein Goldfischteich und sogar ein winziges Fallgitter zum Schutz der Eingangstür, obwohl sie das jetzt offen lassen.« »Wiedersehen mit Dornröschen?« »Genau. Es gibt sogar ein richtiges Schloßgespenst.« »Lassen Sie mich raten. Onkel Merlin höchstselbst?« »So ist es. Seine Verworfenheit besteht darin, was er dem Haus angetan oder vielmehr nicht angetan hat. Er hat es verrotten lassen. Streng genommen ist er kein Onkel — mehr ein Vetter zigsten Grades, aber meine Mutter war eine praktische Frau. Sie bestand darauf, die Verbindung zu unserem einzigen begüterten Verwandten aufrechtzuerhalten. Als Kind mußte ich ihm jede Weihnachten Bettsöckchen stricken und wurde nur zweimal eingeladen. Beide Male flog ich vorzeitig raus. Er sagte, ich fräße ihm die Haare vom Kopf und für den Rest des Jahres bliebe ihm nur trocken Brot.« »Hoffentlich wird das nicht unsere Wochenenddiät.« Bentley Haskell lenkte das Auto um eine rutschige Kurve. Wir näherten uns der Londoner Peripherie. Ich wechselte den Schirmarm und verkroch mich so tief wie möglich in meinen Deckenkokon. Bedauerlicherweise zeigte mein Begleiter keinerlei Frostschäden. »Welch faszinierenden Persönlichkeiten werde ich sonst noch begegnen?«
»Allen möglichen.« Ich zitterte vor Kälte. »Einem Vierer mit Partnertausch aus dem East End, einem Wunderdoktor, dem kürzlich die Approbation entzogen wurde, weil er …« »Wenn Sie rumalbern«, sagte Mr. Haskell durch die Nase, »konzentriere ich mich eben aufs Fahren.« Zusammengestaucht saß ich da wie ein dicker runder Wackelpudding, der auf seinem Teller zittert. Großmütig reichte er mir einen Ölzweig. »Wohl alles Verwandte?« »Da ist Onkel Maurice«, plapperte ich wie ein Kind, das aufsagen muß. »Er ist Börsenmakler und Mitte fünfzig — ziemlich klein mit Schmerbauch, die drei Haare, die er noch hat, kleistert er sich mit stark parfümierter Pomade an. Onkel Maurice riecht man durchs ganze Haus.« »Bei Mord ein schönes Indiz. Ist ihm zuzutrauen, daß er den Butler erschlägt?« »Wohl kaum. Sonst hätte er schon vor Jahren seine Frau beseitigt, Tante Lulu, ein Puttputt.« »Ein was?« »Ein Huhn. Tante Lulu könnte man das Gehirn komplett entfernen und keiner würde was merken, sobald die Frisur wieder drauf ist. Sie bohnert ihre Böden stündlich, bügelt das Klopapier, bevor sie es aufhängt und lebt nur für ihre Friseurbesuche dreimal die Woche. Sie und Onkel Maurice haben einen Sohn namens Freddy. Der kommt nach keinem von beiden. Freddy ist ein Freigeist: stolz darauf, daß er sich nie wäscht, trägt die Haare in einem Pferdeschwanz und läßt sich einen Bart sprießen, der aussieht wie ein alter Scheuerlappen, den der Müllschlucker wieder ausgespien hat. Unser Freddy weiß, was angesagt ist — düst auf dem Motorrad durch die Pampas, hat ein Loch im Ohrläppchen und qualmt Hasch wie ein Drache.«
»Also angepaßter als sein Vater.« Bentley Haskell spähte durch das Schneetreiben nach einem halbverwehten Wegweiser, schlug an der Weggabelung einen scharfen Haken, erwischte Glatteis, kam kurz ins Schleudern und war wieder auf Kurs. Ich fühlte mich wie ein Klumpen Eiskrem, so hart gefroren, daß sich daran jeder Löffel verbiegt. »Freddy macht Musik«, schnatterte ich, »so eine Art Garagen-Punk auf Haushaltsgeräten. Gegenwärtig pausiert er. Laut Tante Astrids letzten Katastrophenmeldungen ist der Kuckuck ins Nest heimgekehrt und die armen Vogeleltern haben nicht die Kraft, ihn rauszuschmeißen.« »Tante Astrid?« Mr. Haskells Augenbrauen zogen sich zu einem konzentrierten Strich zusammen, während wir durch das Städtchen St. Martin’s Mill glitten vorbei an Fachwerkhäusern, die uns im schwindenden Dämmerlicht beäugten. Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Ich nahm den Schirm herunter und machte vorsichtig Armbeugen. »Tante Astrid ist Witwe, zieht sich immer zum Abendessen um und wurde noch nie ohne ihre Perlen gesehen. Ich glaube, sie hält sich für eine Reinkarnation von Königin Viktoria — sie spricht von sich stets im Pluralis majestatis. Sieht immer aus, als hätte sie sich gerade auf einen glühenden Feuerhaken gesetzt. Sie hat eine Tochter — Vanessa«, murmelte ich, da bog Mr. Haskell von der Straße ab und ersparte mir, Vanessa in all ihrer femme fatale-Pracht zu beschreiben. »Zeit zum Auftanken«, sagte er. »Benzin oder Nahrung?« »Weder noch«, zügelte mich Mr. Haskell, während mir Visionen von Rührei mit Pommes durch den Kopf tanzten. »Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, wenn wir Ihre Wärmflasche aufheizen.«
»Durchaus nicht«, schoß ich zurück. »Sie hat sich schon vor Stunden in einen Grabstein verwandelt. Aber wenn das da drüben ein Gasthaus ist, werde ich reingehen und mich bei einem dicken, saftigen Steak und Meeren von dampfendem Kaffee auftauen. Sie können machen, was Sie wollen, hier draußen Schneemann spielen oder mitkommen.« Der arme Mr. Haskell sah hin- und hergerissen aus. Aber das Fleisch war schwach, denn er hielt unter dem knarrenden Gasthausschild, auf dem passenderweise »Zur Zuflucht« stand, entriß mir die Wärmflasche und stieß seine Tür auf. »Ich hoffe, Sie zahlen«, fauchte er, klopfte sich den Schnee von den Armen und stapfte ums Auto, um mir herauszuhelfen. »Bleibt mir was anderes übrig? Sie entwickeln sich zu einem sehr kostspieligen Bedarfsartikel, Mr. Haskell.« Meine Würde litt etwas darunter, daß ich mich fest an seinen Arm klammern mußte, damit mir nicht die Beine wegrutschten. »Mein Mantel« — zehn Jahre war er alt — »ist völlig ruiniert, und wenn Sie nicht auf die hirnrissige Idee gekommen wären, in Ihrem Frischluftauto zu fahren, säßen wir jetzt beide kuschelwarm in Merlins Schloß und könnten Tante Sybils köstlichen Kochkünsten zusprechen.« »Was Sie nicht sagen. Nach Ihrer Beschreibung hatte ich eher den Eindruck, sie serviert sehr tote Fledermäuse in sehr kalter Suppe.« Seine Vorstellung kam der Wahrheit ziemlich nahe, was meinen Zorn weiter anfachte. Wutschnaubend erreichten wir die Tür. Drinnen würdigten wir uns keines Blickes und gaben, während sich um uns kleine Pfützen bildeten, dem irritierten Mädchen hinter der Theke zu verstehen, daß wir einen Tisch für zwei brauchten. Die Antwort war patzig, aber ich schaute stur geradeaus.
Bald saßen wir vor einem prasselnden Kaminfeuer, um uns glänzte gut geputztes Messing vor handgeschnitzter Täfelung. Es war unmöglich, sich der besänftigenden Wirkung von so viel AchtzehntemJahrhundert-Charme zu entziehen. Ich beschloß zu vergessen, welch Wurm Mr. Haskell war. »Gemütlich, nicht?« »Reichlich übertrieben, die Altertümelei. Warum läuft das Mädchen da mit einer Lockenwickelhaube und im Nachthemd rum?« »Die Kellnerin? Das ist kein Nachthemd, das ist die Tracht der Kammerzofen am Hofe Karls des Zweiten. Haben Sie Angst, sie enthüpft ins Bett, bevor wir bestellen können?« Wir entschieden uns beide für Steak mit Champignons. Es war hart, auf die Kartoffeln zu verzichten, aber er sollte doch mein Problem für eine Drüsenstörung halten. Unser Essen kam, es brutzelte auf irdenen Tranchiertellern. »Miss Simons«, sagte er und nahm die Gabel zur Hand, »ich schlage vor, wir üben uns in der Benutzung des Du, damit wir uns im Schloß nicht verplappern.« Behutsam spießte ich einen Pilz auf. »Ihre Sorgfalt im Detail ist beeindruckend. Sehr professionell. Ist ihr Rufname Bentley oder haben Sie eine Kurzform, Benny?« »Ben«, sagte er frostig, »und Ellie, kommt das von Ellen?« Ich schnitt ein Stück Fleisch ab, schob es auf dem Teller hin und her, zerschnitt es noch einmal. »Von Ellen also nicht.« »Da wir angeblich eng befreundet sind, werden Sie es erfahren müssen. Mein richtiger Name ist Giselle.« Ich schaute auf und erwischte ihn dabei, wie seine Lippen zuckten. Ob die Kellnerin was merken würde, wenn ich
ihn mit der Gabel erstach und das blütenweiße Tischtuch Blutflecken bekam? Zu meiner Überraschung wurde sein Gesicht ernst und er berührte meine Hand. »Eltern können sehr unreif sein. Solche Höhenflüge der Phantasie sind für Kleinkinder hübsch, die in ihren Stühlchen ruckeln und babbeln, aber auch Herzblättchen und Heideröschen werden erwachsen. Namen sollten zur Ansicht vergeben werden — mit Umtauschrecht nach Entfaltung des Verstandes.« »Danke.« Meine Stimme gab einen rauhen Ton von sich. Ich werde unsicher, sobald Leute, besonders Männer, nett zu mir sind. »Mutter hat es gut gemeint, die arme. Sie träumte davon, ich würde in ihre Fußstapfen treten und in einem duftigen rosa Tutu umherflattern.« »Deine Mutter ist Tänzerin?« »War. Nur in der Gruppe an kleinen Stadttheatern. So viele Pirouetten und Arabesken, und dann stolperte sie, als sie die Bahnhofstreppe runterrannte; genau wie ich kam sie immer zu spät. Inzwischen ist sie seit zehn Jahren tot.« »Tut mir leid. Und dein Vater?« »Irgendwo auf der Suche nach sich selbst. Momentan ist er Landwirt und Schafzüchter in Neusüdwales. Zuletzt hatte er zwei — Schafe, nicht Bauernhöfe — und wie ich Papas Pech kenne, nimmt das Mutterschaf die Pille. Eigentlich ist er toll; nächstes Jahr versucht er’s vielleicht als Feuerwehrmann oder Zirkusclown.« »Was meine Theorie untermauert, daß Eltern, sie mögen noch so liebenswert sein, die wahren Kinder sind.« Ben ließ sich von der Kellnerin mit der Morgenhaube einen Kaffee servieren. Sie umschwänzelte ihn in sattsam bekannter Manier. Zeit, Mr. Haskell daran zu erinnern, daß er im Dienst war. Ich hatte ihn zur Genüge mit spritzigen Einzelheiten aus meiner Familiengeschichte — ausgenommen Vanessa —
versorgt, jetzt war Bentley T. Haskell dran. Er begann seine Erzählung mit der Eröffnung, er sei von seinen Eltern verstoßen, enterbt und zum Teufel gejagt worden. Wieder ein Familienstammsitz verloren? Dieser entpuppte sich als Gemüseladen in Tottenham. Ich sah die armen Eltern mit ihren verarbeiteten Händen vor mir, wie sie den aus der Art geschlagenen Sohn mit Kohlköpfen zur Tür hinausbombardierten, abriegelten und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« anbrachten. Aber warum? Sein Vergehen war interessant. Mammi und Pappi konnten sich nicht damit abfinden, daß ihr Sohn praktizierender Atheist war. »Praktizierend?« »Ich war Mitorganisator einer Protestversammlung vor der Hallelujah-Erweckungskirche. Das ist eine von diesen giftigen engstirnigen Sekten, die Ketzer immer noch am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden. In diesem Fall hatten sie sich geweigert, ein kleines Kind in geweihtem Boden zu bestatten. Wenn das Religion sein soll, kann ich darauf verzichten.« »Deine Eltern sind fromm?« »Sehr. Vater ist orthodoxer Jude und Mutter stramme Katholikin. Eines muß man den beiden lassen, sie führen eine großartige Ehe. Seit vierzig Jahren verzehren sie sich in missionarischem Eifer und versuchen, sich gegenseitig zu bekehren. Wir haben eine Mesusah in der Haustür und auf dem Kaminsims eine Jungfrau Maria. Mutter behauptet, sie habe Vater schon vor Jahren beim Haarewaschen getauft und er nennt sie vor seinen Freunden immer Ruth, obwohl sie Magdalene heißt.« »Dann staune ich, daß sie bei dir so schnell aufgegeben haben. Hinter deiner Vertreibung muß doch mehr stecken als nur die Hallelujah-Erweckungs-Demo. Was für Sünden hast du noch begangen?«
Ben hielt nach der Kellnerin mit der Rechnung Ausschau und sagte dabei in liebenswürdigem Tonfall: »Und ich staune, daß du beim Gehen nicht über deine Nase fällst. Wie kommst du dazu, mir Missetaten zu unterstellen?« Fasziniert beobachtete ich, wie die Kammerzofe auf seinen leisesten Wink hin angedackelt kam. Mit nervtötender Langsamkeit steckte sie das Geld ein, das ich hingelegt hatte. Endlich verzog sie sich schweifwedelnd. »Heraus damit!« rief ich. »Die Spannung schlägt mir auf den Magen. Was hast du angestellt, die Tochter vom Bürgermeister entführt? Die Leihbücher nicht zurückgegeben?« »Mein Kardinalfehler war, als einziges Kind geboren zu werden. Meine Eltern hatten alles auf eine Karte gesetzt. Als ich zur Welt kam, war Mutter fast vierzig. Danach war es aus mit dem Kinderkriegen.« Hatte wahrscheinlich Angst, die arme Frau. »Dann ist deine Mutter nicht mehr die Jüngste?« soufflierte ich listig. »Sie geht auf die Siebzig zu.« Also war Ben an die Dreißig, in meinen Augen das beste Alter, vor allem für ledige Männer. »Was weiter?« fragte ich. »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ein Buch geschrieben, ein sehr … anschauliches Buch, sehr … avantgardistisch.« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sehr … sinnenfreudig.« »Mit diesem Adjektiv schmücken sich eigentlich Weinkenner und Frauen mit meiner Figur. Vielleicht wäre pornographisch treffender?« »Der Ansicht bin ich durchaus nicht.« Seine schwarzen Brauen senkten sich in jener arroganten Manier, die Lore-Roman-Helden auf der Stelle zu
verwegenen Teufelskerlen macht. Bentley Haskell dagegen sah aus wie ein kleiner Junge, der seinen Ball wiederhaben will. »Hat das Meisterwerk schon das Licht der Öffentlichkeit erblickt?« »Bitte keinen Hohn. Ich arbeite an der zweiten Fassung.« »Ah ja. Der Ruhm läßt also noch auf sich warten. Aber deinen Eltern mußtest du es sofort an den Kopf werfen, noch bevor es gedruckt ist? Was ist an solcher Ehrlichkeit bewundernswert? Wolltest du zwei alten Leuten neue Schimpfwörter beibringen?« Ben war verletzt. »Ich dachte, es gefällt ihnen. Außerdem mußte ich ihnen was entgegensetzen. Sie verlangten, ich sollte bei Onkel Solomon arbeiten. Er hat ein Restaurant am Leicester Square.« »Ins Familienunternehmen einsteigen, hört sich doch gut an.« »Sicher, es war ja auch mal das, was ich wollte. Ich bin in den besten Hotels Europas und der Vereinigten Staaten ausgebildet worden, bis zum Chef. Aber dann letztes Jahr in Paris hat mich das Schreibfieber gepackt und ich habe meine Kreativität in andere Bahnen gelenkt. Es reizt mich nicht mehr, für den Rest meines Lebens am Herd zu stehen.« Ein Koch? Gab es für mich kein Entrinnen vom Essen? Mitgefühl für jemand, der einem Cordon Bleu fröhlich den Rücken kehrt, war mir nicht gegeben. »Auch nur halbtags«, sagte ich scharf, »für Onkel Solomon zu arbeiten, hätte sich natürlich nicht mit deinem künstlerischen Gewissen vertragen. Ich nehme an, du haust in einer zugigen Mansarde?« Ben faltete seine Serviette und warf sie auf den Tisch. »Ich bin nicht am Verhungern, dank der Kultivierten
Herrenbegleitung und dank Frauen wie dir.« »Du meinst ‘sinnenfreudige’ Mauerblümchen.« Schwerfällig erhob ich mich und ergriff meine Tasche. »Aber du bist so beschissen verklemmt, daß du dich nicht traust, es auszusprechen.« »Wie redest du!« Seine entrüstete Stimme folgte mir zum Ausgang. »Meine Mutter hat mir immer verboten, mit Mädchen zu spielen, die fluchen.« Der Mann war nicht mal komisch. Wir traten aus der Gasthaustür in die schneidende Kälte, nur unser Schweigen war eisiger. Beim Losfahren fiel ihm die Wärmflasche ein. Er riß das Auto herum und verschwand wieder im Wirtshaus. Die zweite Hälfte der Fahrt war doppelt so beschwerlich wie die erste. Die Nacht hatte sich um uns geschlossen, und unsere Scheinwerfer bohrten sich vergeblich in brodelnde Nebelschwaden — wir sahen keine drei Meter weit. Ben war ein guter Fahrer, aber selbst er hatte Schwierigkeiten, nicht im Graben zu landen. Je näher wir der Küste kamen, desto rauher und salziger wurde der Wind. Schnee wehte von den Bäumen und formierte sich zu dicken weißen Polstern. Wahrscheinlich war es gut, daß Ben und ich nicht miteinander redeten. Tante Sybil erwartete uns gegen sieben. Jetzt war es fast halb zehn. Wir fuhren durch das schöne Städtchen Walled Minsterbury und blieben auf Nordostkurs. »Wenn wir Chitterton Fells erreicht haben, kannst du mich dann zum Haus deines Onkels dirigieren?« Bens Stimme brach das lange Schweigen mit solch einem Krächzer, daß ich schlaftrunken vor Kälte gegen das Lenkrad kippte und uns ins Schleudern brachte. Ben benutzte ein Wort aus seinem Buch (ich konnte es ihm nicht mal verübeln), stieß mich grob mit dem Ellbogen weg und lenkte mühsam wieder geradeaus.
»Bevor du uns beide umbringst — weißt du den Weg?« Das war meine Bewährungsprobe. Leider bin ich eine von den Unglücklichen, die selbst unter normalen Umständen ihre eigene Haustür nur mit einem guten Stadtplan finden, und dies waren keine normalen Umstände. Ich konnte kaum Ben sehen, geschweige denn einen Wegweiser. »Es wird dir zwar nicht gefallen«, bemerkte ich im Plauderton, »aber ich war zum letzten mal hier, als ich zwölf war … Knurr mich nicht an!« Ich stierte ins Dunkel. »In solchem Wetter strecken Leute ihre Hand aus und sehen sie nie wieder.« »Vielen Dank«, kam es höhnisch von dem Unsichtbaren. Das Auto hopste hoch, rutschte aus und glitt ganz langsam gegen einen Baum oder Telegraphenmast oder irgendein anderes vertikales Hindernis, das in den schneegeschwängerten Nebelschwaden nichts zu suchen hatte. Nicht oft, aber gelegentlich ist es ein Vorteil, viel zu wiegen. Jetzt trug ich redlich dazu bei, das Auto aus dem Graben zu schieben, zu ziehen und zu locken. Meine Anstrengungen brachten mir ein widerwilliges Lob ein. Ben nannte mich »Kumpel«! Eine Stunde später — meine Füße waren inzwischen zwei Scheiben Tiefkühlfisch — hatten wir das eigenwillige Vehikel auf die Straße gehievt. Schnaufend und schniefend stiegen mein Weggefährte und ich wieder ein. Ich war zwar darauf vorbereitet, daß meine Wärmflasche an Unterkühlung gestorben war, aber zu meinem Schreck starb nun auch die Batterie. Der Motor gab einen asthmatischen Huster von sich, stotterte zweimal und verröchelte. Kein Horoskop hatte mir vorausgesagt, daß der Tag so enden würde. Unter einem
viel zu dünnen Mantel klatschte mir ein nasser, zerfetzter Rocksaum um die Knöchel, und so stapfte ich eine öde Landstraße entlang am Arm eines Mannes, der mir noch vor wenigen Stunden wildfremd gewesen war. »Durchhalten«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, »irgendein Dorf erreichen wir bestimmt noch vor Ablauf des Jahrhunderts.« Ein Baum ragte uns plötzlich entgegen und ein dürrer Zweig griff nach meiner Wange. Das war zu viel. Ich war fertig — eine gebrochene Frau. »Licht in Sicht!« schrie Ben. Er brach in wildes Kriegsgeheul aus und warf mich fast um, aber das war nicht der rechte Augenblick für Vorwürfe. Zu unserer Rechten tauchte ein Haus auf, ein nächtlicher Spuk mit funkelnden gelben Augen. Unwillkürlich umarmten wir uns als zwei Kameraden, die tödliche Gefahren bestanden hatten. »Auf geht’s, Ellie!« Er drückte meine Hand und wir kämpften uns weiter voran. Wenige Minuten später standen wir vor einem windschiefen Eisentor. »Das Ende der Wildnis!« jauchzte er. »Mehr als das«, sagte ich. »Kein Brieftaubenpärchen hätte uns übertreffen können. Das ist Merlins Schloß.«
Vier »Man sollte meinen«, grollte Ben, »daß ein Haus dieser Größe sich eine Klingel leisten kann.« »Geduld! Onkel Merlins Großvater, der Erbauer dieses mittelalterlichen Phantasiegebildes, hatte eine Abneigung gegen das Naheliegende.« Ich stapfte hinter ihm her durch den Matsch über das Schloßbrückchen und fühlte mich wie eine Tiefseetaucherin, die nach ihren Landbeinen sucht. »Irgendwo links von dir ist ein
Wasserspeier, so ein Teufelskopf. Das ist der Türklopfer.« »Das hier? Das habe ich für Fäulnisschwamm gehalten! Was mache ich damit? Knalle ich ihm eine?« »Dummbeutel! Du reißt ihm die Zunge raus und guckst, wie er mit den Augen rollt.« Ben zog eine Fratze und tat wie geheißen. Frierend traten wir von einem Bein aufs andere, während sich im Haus scheppernder Lärm erhob, als ginge ein Stapel Geschirr zu Bruch. »Wer ist da?« fragte eine mißtrauische Stimme von drinnen. »Tante Sybil? Ich bin’s, Ellie!« »Geh du vor«, sagte Ben wohlerzogen. »Falls du eins über den Schädel kriegst, kann ich um Hilfe rennen.« Ein Riegel knarrte und ein fahler Lichtstreif wurde langsam breiter. »Meine Liebe! Wir hatten schon aufgegeben, auf dich zu warten. Onkel Merlin ist vor einer Stunde zu Bett gegangen.« Tante Sybil spähte kurzsichtig in die Nacht. »Und das ist sicher dein Bekannter. Kommt rein, bevor der Wind die Tür wegbläst. Guter Gott! Ihr seht ja aus …« »Bitte«, Ben streckte meiner verwirrten Tante die Hand entgegen, »kleiden Sie es nicht in Worte. Wir wissen, daß wir aussehen wie wildernde Vampire.« Inzwischen standen wir in der Empfangshalle, einer düsteren Höhle, von deren Wänden Gaslampen flackerndes Licht auf hungrig grinsende, mottenzerfressene Fuchsköpfe warfen. »Ach du jemine.« Tante Sybil gab mir einen ihrer schlaffen Küsse. »Ein heißes Bad für jeden von euch wäre wohl das Beste, aber der Boiler macht uns Kummer. Der alte Jonas, unser Gärtner, der sowas in Ordnung halten soll, fühlt sich elend. Ärgerlich, aber jedes Ding hat zwei… sonst hätte es uns passieren
können, daß er sich mitsamt seinen dreckigen Stiefeln im Salon niederläßt, als gehörte er zur Familie. Kennt seinen Platz nicht und Merlin ist viel zu nachsichtig mit ihm. Tja dann, will einer von euch vorher nach oben« — sie machte eine Anstandspause — »oder kommt ihr lieber gleich in den Salon ans Kaminfeuer?« Obwohl meine Besuche viele Jahre zurücklagen, erinnerte ich mich lebhaft an die gräßliche Kälte in den oberen Regionen und stimmte für sofortige Wärme. »Gute Idee«, meinte auch Ben, zog den Mantel aus und legte ihn mit meinem zu dem unordentlichen Haufen auf dem Intarsientisch. »Ich glaube, ich fange an zu schimmeln.« »Merlin wird so enttäuscht sein, eure Ankunft versäumt zu haben.« Tante Sybil ging voran. Von hinten sah sie aus wie ein kleines empörtes Nashorn, ihr dunkles Seidenkleid warf verkniffene Falten. Schlechtes Wetter war bei Tante Sybil keine Entschuldigung für Unpünktlichkeit. Als Kind hatte mich der Salon immer an eine Leichenhalle erinnert. Die Zeit hatte ihn nicht verschönt. Wie in der Halle flackerte trübes Licht von einer Gaslampe und vereinzelten Kerzen. Dunkle schwere Möbel ließen keinen Fußbreit Boden frei. Eine passende Zutat war auch das Gemälde über dem Kamin — ein holdes Mägdelein auf ihrem Totenbett, die Lippen zu einem Lächeln verklärt, in der wächsernen Hand eine Rose, während im Hintergrund ein Klagechor schluchzte. Meine Verwandtschaft hatte sich im Halbkreis um den Kamin drapiert wie Schauspieler in einem viktorianischen Melodrama. Aber das war falsch herum. Sie waren das Publikum — die Akteure waren Ben und ich. »Großer Gott, Ellie!« näselte Tante Astrid so steif wie ihre fischbeinverstärkte Taftbluse. »Was hast du mit dir angestellt?«
»Sieht aus wie eine übergroße ertrunkene Ratte«, steuerte Freddy wenig einfühlsam bei. Der mußte reden! Wie er sich am Kaminsims lümmelte, hätte man ihn mit einem schmutzigen Lappen verwechseln können, wäre nicht der goldene Totenkopf an seinem Ohrläppchen gewesen. Ich beschloß, das Verfahren abzukürzen. »Schön!« sagte ich und zerrte Ben in die Mitte des Zimmers. »Wie ihr seht, bin ich völlig durchgeweicht, aber leider in der Wäsche nicht eingegangen. Können wir jetzt artig Guten Tag sagen?« »Mußt du so streitlustig sein, Schatz!« Vanessa ringelte sich wie drei Ellen Fallschirmseide aus dem Stuhl empor, der dem Feuer am nächsten stand, und richtete ihre strahlenden Topasaugen auf Ben, der zu seiner Schande dümmlich griente. »Willst du uns nicht deinen reizenden Freund vorstellen?« schmollte sie. »Oder ziehe ich voreilige Schlüsse? Sogar pitschnaß ist er nicht dein üblicher Typ, Ellie Liebes.« Da der einzige Mann, mit dem Vanessa mich bislang gesehen hatte, der Gepäckträger von Charing Cross war, beschloß ich, mich in würdiges Schweigen zu hüllen. Sollte Ben sich doch selber vorstellen. Er schien ganz glücklich, Konversation machen zu dürfen. Reihum Hände schüttelnd pflichtete er bei, daß das Wetter abscheulich sei und schwang dann wie ein Pendel zurück zu meiner bildhübschen und charakterlosen Kusine. Ben brauchte sehr bald einen Rüffel, denn Ranschmeiße an den Feind stand nicht in seinem Vertrag. Mein Retter war der leutselige, beleibte Onkel Maurice. Er langte nach der Karaffe mit Portwein, goß welchen in ein reichlich schmutziges Glas und fragte dabei mit seiner Stentorstimme, ob er mich nun seit zwei oder seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich hörte nicht zu. Der Mann von der Kultivierten Herrenbegleitung
lieferte einen witzigen Bericht von unserer Reise, in dem ich keine gute Figur machte. Vanessa kann als vorzügliche Zuhörerin posieren, vorausgesetzt, ein Mann ist der Redner. Das Feuer spie wie ein müder alter Vulkan mehr Rauch als Wärme aus. Aber da er sehr dicht davor stand, begannen Bens Hosenbeine zu dampfen und — dem Glimmen seiner Augen nach — seine Gedanken gleichfalls. Tante Sybil murmelte gequält etwas von Roastbeef-Schnittchen und Tee und verfügte sich in die Küche, wobei sie die Tür nur anlehnte. »Diese Zugluft«, erschauerte Tante Astrid, »ist noch mal mein Tod.« »Hab dich nicht so, Tantchen!« Freddy war in die Hocke gegangen und wippte auf den Fußsohlen. »Wenn dein Ischias, dein Hexenschuß, dein Sodbrennen und andere ausgewählte Leiden dich noch nicht zur Strecke gebracht haben, dann wird eine Verkühlung es kaum schaffen. Hat Mammi nicht letzten Monat erzählt, du hättest so häßliche Hämorrhoiden?« »Mußt du so ordinär sein!« Tante Astrid richtete sich empört auf. »Entschuldigung, Tantchen! Hatte ganz vergessen, wie schlecht es sich darauf sitzt«, erwiderte Freddy fröhlich, während er mit beiden Händen an seinen Bartbüscheln zupfte. »Herrgottnochmal, Frederick«, bellte Onkel Maurice, »hör auf, an dir rumzurupfen. Man könnte meinen, du bist in der Mauser. Und wenn es nicht zu viel verlangt ist, dann steh’ entweder auf oder setz dich ordentlich hin. Hör auf, herumzuhopsen wie ein Springteufelchen! Du machst mich seekrank.« Freddy stand auf, zeigte aber keine Reue. Er stupste mich schelmisch in den Bauch. »Schon mal versucht, abzunehmen, Ellie?«
»Schon mal versucht, Arbeit zu finden, Freddy?« Er schaut mich vorwurfsvoll an. »Certainement! Aber die Arbeitgeber sind nie bereit, meine Bedingungen zu akzeptieren — ich arbeite von zwölf bis eins mit einer Stunde Mittagspause.« »Welch großer Kummer muß dein Sohn und Erbe für dich sein, Maurice, und für unsere arme Lulu«, warf Tante Astrid bissig ein. »Da wir von der liebenden Mutter sprechen«, sagte ich und blickte in die Runde, »wo ist Tante Lulu?« »Oben, scheucht Wanzen durchs Zimmer, um sich abzuregen. Das alte Mädchen hat wieder mal Zustände.« Freddy rollte mit den Augen und pochte sich dumpf an die Brust. »Wie du unschwer erraten kannst, natürlich meinetwegen. Vanessa hat mich wieder mal in den Schatten gestellt, die Zähne sollen ihr verfaulen. Da berichtet sie deinem Galan gerade von ihrem letzten Coup. Mutter konnte es einfach nicht ertragen.« »Lulu ist mit Migräne zu Bett gegangen«, schnaubte Onkel Maurice. Aber niemand beachtete ihn. »Wie lautet die Sensationsmeldung, Vanessa?« Meine Stimme sollte teilnehmende Neugier ausdrücken, aber ich bin keine gute Schauspielerin. Wollte denn niemand hören, daß ich kürzlich Mrs. Hermione Boggsworth-Smith ein dänisches Sonnenstudio eingerichtet hatte? »Ach, Mammi, mußtest du das ausplaudern? Du weißt doch, ich mag keinen Rummel.« Die schöne Heuchlerin sank auf die Sofalehne. Sie hob die wohlgeformten Arme über den Kopf und ließ ihre langen, schlanken Finger in einer zaghaften und zugleich betörenden Geste durch ihre schweren kastanienbraunen Locken gleiten. »Lügnerin.« Freddy sprach fröhlich das aus, was ich dachte. Tante Astrid und (schlimmer noch) Ben hingen mit den Augen an Vanessa mit einer Ergebenheit, wie sie nur
Götzenbildern oder goldenen Kälbern zukommt. Apropos Rindvieh, wo blieben eigentlich die RoastbeefSchnittchen? »Vanessa«, psalmodierte Tante Astrid ehrfürchtig, »ist in aller Form gebeten worden, Model bei Felini Senghini zu werden.« »Bei wem?« krächzte ich über Freddys Gelächter hinweg. Bens entgeisterter Gesichtsausdruck gab mir zu verstehen, daß er mich für ein öffentliches Ärgernis erster Ordnung hielt. »Ellie, du machst wohl Witze! Von Felini Senghini hat nun wirklich jeder gehört!« »Auf leeren Magen mache ich nie Witze.« Meine Stimme schwoll bedrohlich, aber ich besann mich darauf, daß dieser Mann angeblich mein Herzallerliebster war, hakte ihn besitzergreifend unter und entblößte die Zähne zu einem freundlichen Lächeln. »Ist das der Mann mit dem Olivenölteint auf den Spaghettischachteln?« fragte ich hoffnungsvoll. »Nein, ich weiß! Das ist der Opernsänger, der den Figaro zur Begeisterung des Publikums nur in Schnurrbart und Krawatte sang.« Wie ihr großes Vorbild, Königin Viktoria, war Tante Astrid nicht belustigt. Über Vanessa und deren Karriere wurden keine Witze gerissen. »Es muß wirklich schwer für dich sein, Ellie, eine Kusine wie Vanessa zu haben«, schnarrte sie und schaute dabei über mich hinweg, »aber Gehässigkeit ist nie kleidsam.« Freddy zwinkerte mir zu. »Ich mag Ellie, wenn sie kiebig ist. Nicht kleidsam ist dieser scheußliche rote Aufzug. Bist du aus einem Harem entsprungen oder ist der Scheich als erster geflohen?« Tante Astrid redete über uns hinweg. »Felini Senghini gilt unter Eingeweihten als der Modeschöpfer des Jahrhunderts.«
»Ellie, meine Liebe«, miaute Vanessa, »willst du mir nicht gratulieren?« Diese Zumutung wurde mir erspart durch die Ankunft von Tante Sybil mit dem Abendbrottablett. Einen freien Platz dafür aufzutreiben erforderte einige Findigkeit. Ben eilte zu Hilfe und schob auf dem Büffet zwei Messingleuchter und eine angelaufene Silberschale voll mit Haarnadeln, Zuckerwürfeln und einem grauen Wollknäuel beiseite. »Was ist denn los mit dir?« hauchte er mir ins Ohr. »Ich fange an, mich zu amüsieren.« »Gewöhn dir das nicht an«, zischte ich zurück. »Soll heißen?« »Soll heißen — wenn du nicht aufhörst, dich an Vanessa ranzuschmeißen, kannst du deinem Honorar ade sagen.« Ben besaß die Frechheit, ein erstauntes Gesicht zu machen. Bevor er antworten konnte, schlich sich Freddy von hinten an. »Reden wir ein bißchen über euch zwei, alle blutrünstigen Einzelheiten — wo ihr euch kennengelernt habt und so.« Ben und ich schauten uns an, für den Augenblick einte uns ein labiler Waffenstillstand. »Wo war das, Ellie?« murmelte mein Mitverschwörer durch einen Mundvoll altbackenem Sandwich. »Wir kennen uns … schon eine Weile, und das Drum und Dran … die Einzelheiten sind recht …« Und dieser Mann wollte ein schöpferisches Genie sein! »Ball der Einsamen Herzen?« schlug Freddy vor. Ich trat Ben fest auf den Fuß und signalisierte ihm, daß er das Fabulieren mir überlassen sollte. Er stöhnte kurz auf, vor Erleichterung oder auch vor Schmerz, denn seine Augen waren etwas glasig, als ich seelenvoll hochblickte. Zur Beruhigung drückte ich ihm noch zärtlich
die Hand, was ein leises Autsch auslöste und ein Aufblitzen der weißen Zähne, das er Freddy zuliebe hastig in ein strahlendes Lächeln umwandelte. »Ben leidet durchaus nicht an Gedächtnisschwund«, sagte ich, »aber unsere erste Begegnung fand unter recht traurigen Umständen statt. Nämlich auf einer Protestversammlung gegen Kindesmißhandlung vor der Hallelujah-Erweckungskirche.« »In der Kirche!« Tante Sybil gab mir einen Krug mit lauwarmem Wasser, um darin die Kaffeekanne aufzuwärmen. »Wie hübsch. Das ist doch mal etwas anderes als immer nur diese Discos und Single-Bars. Welcher Konfession gehören Sie an, Mr. Händel?« »Haskell. Gläubiger Ath…« »Jedes Kind sollte im Glauben erzogen werden«, mischte sich Tante Astrid gewichtig ein und gab Ben zu verstehen, daß sie nicht beeindruckt war. »Warum kann nicht jeder in der Anglikanischen Kirche sein? Was der Königin gut genug ist, ist es mir allemal!« Ich vermied sorgfältig, Ben anzuschauen. »Tante Sybil«, fragte ich, »wann werden wir Onkel Merlin sehen?« »Wahrscheinlich nicht vor morgen abend.« Tante Sybil versuchte, drei Leute gleichzeitig mit Kaffee zu versorgen. »Ihr jungen Leute müßt bedenken, daß der arme Merlin nicht jünger wird.« »Nicht gerade ungewöhnlich«, murmelte Freddy. Glücklicherweise bekam Tante Sybil diesen ruppigen Kommentar nicht mit. Sie fuhr fort: »Der Morgen macht ihm immer zu schaffen. Er sagt, das Licht tut seinen Augen weh.« »Verwandelt sich allmählich in Dracula, was?« witzelte mein unverbesserlicher Vetter. Er und Ben grinsten sich zu wie ungezogene Schuljungs. »Ist das die Erklärung für das funzlige Licht überall?«
Onkel Maurice ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schweren Schrittes auf dem abgewetzten Kaminvorleger auf und ab. »Es tut mir leid, wenn du das Gaslicht bedrückend findest.« Tante Sybil sah tief verletzt aus, als sie sich der Gruppe um den Kaminvorleger zugesellte. Ben bot sein charmantestes Lächeln dar. »Ist eine Sicherung durchgebrannt? In einem alten Haus, das so einsam liegt, und bei dem Schneesturm würde mich das nicht wundern.« »Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, Mr. Hamlet. Aber wir leiden keineswegs unter Strommangel. Wie ich schon sagte, mag Merlin kein helles Licht; aber der Grund, weshalb er auf dieser Etage keinen Strom benutzt, ist völlig selbstlos. Er mag etwas abgeschieden leben, aber er liest Zeitungen — nicht diese grauenhaften Skandalblätter, die Partnertausch und Geschlechtsumwandlungen herausposaunen, sondern die Times und den Telegraph. Und Merlin meint, auch er müsse einen Beitrag zur Bekämpfung der Energiekrise leisten.« »Kokolores!« donnerte Onkel Maurice. »Da bin ich anderer Meinung.« Ben wandte sich um und betrachtete ihn kühl. »Ich finde, der Mann verdient Respekt.« »Selbstaufopferung ist schön und gut«, schaltete sich Tante Astrid ein, als hätte sie selbstverständlich das letzte Wort zu diesem Thema, »so lange sie nicht fanatisch wird. Wenn Weltraumraketen hin- und hersausen wie Fernlaster, dann besitzt hoffentlich niemand die Unverfrorenheit, von mir den Verzicht auf alles zu verlangen, was zum Leben einer Dame gehört.« »Keine Sorge, Tantchen«, tröstete Freddy, »die Zeiten des Außenklos sind lange vorbei.« »Müssen denn alle meckern?« Vanessa sprach zum
ersten Mal seit langem. (Ohne Zweifel braucht es angestrengte Konzentration, um stundenlang hinreißend auszusehen.) »Ich hatte mir vorgestellt, wir verbringen alle ein himmlisches Wochenende miteinander.« Sie befeuchtete ihre schimmernden Lippen und bedachte Ben mit einem verführerischen Augenaufschlag. »Ich meckere nicht«, sagte ich griesgrämig. »Das trübe Licht stört mich nicht. Ich mag es sogar.« »Natürlich!« schnurrte Vanessa. »So sehen wir nur die Hälfte von dir.« Schweigen verdickte die Luft und etwas Düsteres und Finsteres ergriff Besitz von meinem Hirn. »Ach ja? Deshalb muß wohl Ben gesagt haben, er könne gar nicht genug von mir kriegen, als er mir in einer Mondnacht einen Heiratsantrag gemacht hat. Oh, Liebling, tut mir leid.« Ich wandte mich zu meinem neuen Verlobten und senkte entschuldigend meine verkümmerten Wimpern. »Ich weiß, wir wollten mit der entzückenden Neuigkeit warten, bis Onkel Merlin hier ist, aber ich konnte nicht widerstehen. Will uns niemand gratulieren?« »Du willst heiraten?« tönte Tante Astrid, als hätte ich ein heiliges Sakrament obszön entweiht. Der Rest war erstarrt. Meine Verwandten sahen mit ihren offenen Mäulern herzlich komisch aus. Ich wollte schon lachen, da sah ich Bens Gesicht. Richtig schade, daß ihm das keinen Spaß machte. Schließlich bekommt man nicht alle Tage eine neue Verlobte, noch dazu, ohne zu fragen. »Ach das ist hübsch«, sagte Tante Sybil. »Ich selber war ja nie sehr aufs Heiraten aus, aber heutzutage, wo man sich ohne weiteres scheiden lassen kann, ist natürlich alles viel einfacher. Und jetzt sind wir alle müde, also gute Nacht. Ihr müßt jeder eine Kerze mitnehmen, damit ihr die Treppe rauffindet. Rechts vom Treppenabsatz ist ein Lichtschalter. Ich sehe euch dann morgen früh.«
»Die Klasse kann abtreten!« wisperte Freddy und langte nach der größten Kerze. Zweifellos die Macht der Gewohnheit; als Kind hatte er sich immer das Kuchenstück mit der Kirsche drauf geschnappt. Das, das ich haben wollte. An der Tür wandte ich mich um, ob Ben mir wohl folgte, um mir sobald wir allein waren den Hals umzudrehen, aber er sagte gerade Vanessa ausführlich gute Nacht. Wären ihre Kerzen sich noch näher gekommen, wären beide in Flammen aufgegangen. Unter dünnem Gemurmel verspäteter Glückwünsche ging ich verzagt in die Empfangshalle und stieß prompt mit Onkel Maurice zusammen, der mir an der Treppe aufgelauert hatte. Er stellte unsere Kerzen auf ein Marmortischchen und umklammerte meine Hände mit seinen feuchten und schwammigen Fingern. Sein Gesicht hing dicht über meinem. Ich konnte seine Pomade riechen und seinen heißen, portweingeschwängerten Atem. »Meine liebe Ellie«, sagte er, »verzeih einem alten Trottel, daß er dich so abfängt, aber da dein Vater am anderen Ende der Welt Schafe scheucht, brauchst du, meine ich, Rat und Zuwendung eines erfahrenen Mannes von Welt. Ist diese plötzliche Verlobung klug? Eine Frau von deinen herausragenden Qualitäten hat etwas Besseres verdient als diesen Mr. Haskell. Irgendwas an dem Burschen kommt mir komisch vor. Hat was von einem Araber, würde ich sagen.« »Ach komm, Onkel, glaubst du, er wird seine Kerze fallen lassen und das Haus abbrennen, damit er das Grundstück billig aufkaufen kann?« Ben war ein Windhund, der für die Lockungen von Vanessas Fleisch nur allzu anfällig war, aber eine von uns beiden mußte unserer Beziehung treu bleiben. »Na na, Ellie.« Onkel Maurice drückte mir wieder die Hände und gluckste tadelnd, in seine hervorquellenden
Augen trat ein Glitzern. »Meinst du nicht, meine Liebe, daß du Maurice zu mir sagen kannst? ‘Onkel’ in meinen Jahren, da kommt man sich direkt alt vor. Außerdem ist es lediglich eine Höflichkeitsanrede. Wir sind nur ganz entfernt miteinander verwandt. Deine Mutter war Merlins was, Kusine zweiten Grades?« »Irgendsowas«, sagte ich und überlegte, wie ich die Flucht antreten konnte. Onkel Maurice bekam offenbar Schwierigkeiten mit der Atmung. »Ellie«, keuchte er und kam mir noch näher. Ich konnte seine Westenknöpfe durch die rote Seide spüren. »Ein paar von meinen Freunden sagen Maury zu mir.« Bevor ich mit »Ach, ja?« antworten konnte, ging die Tür zum Salon auf und Ben kam mit Vanessa heraus, sie hing an seinem Arm. Etwas betreten rückte er von ihr ab. »Da bist du ja, Liebling«, sagte ich. »Hast du Vanessa gesagt, daß ich sie als Brautjungfer möchte?« Meine Kusine erbleichte, Onkel Maurice ließ meine Hände los und verdrückte sich zur Treppe. Nicht ganz so gelassen wie sonst ergriff er seine Kerze und wünschte uns gute Nacht. Vanessa rankte sich graziös hinter ihm die Treppe hoch. Als sie fort waren, sagte Ben: »Starr mich nicht so an. Schließlich mußte ich höflich zu dem Mädel sein. Mrs. Swabuchers Anweisungen waren, deine Verwandtschaft mit meinem umgänglichen Wesen zu bezaubern. Worauf sie mich nicht vorbereitet hat, ist die Verlobung, in die ich plötzlich geraten bin.« »Mach dir keine Sorgen.« Ich zuckte die Achseln. »Sie muß nicht vollzogen werden.« »Nichts, was mit Heiraten zu tun hat, ist komisch.« »Quatsch. Niemand wird dich in Handschellen vor den Altar schleppen. Nur eine unschuldige Schwindelei. Außerdem hast du es dir selber zuzuschreiben, so wie du bei Vanessas Anblick zu sabbern anfingst. Das gehörte
nicht zu unserer Abmachung.« »Weißt du, was du bist?« Ben zog so heftig an seinem Schlips, daß er zu ersticken drohte. Sein Gesicht wurde zinnoberrot. »Eine Plage! Schon als ich dich zum ersten Mal sah, ein Taifun in einem roten Leichenhemd, war mir das klar, und seitdem bist du ein einziger Alptraum. Dir traue ich zu, daß du mich als Heiratsschwindler vor Gericht bringst, wenn ich unsere erfundene Verlobung löse.« »Das bist du nicht wert.« Ich ging zur Treppe. »Du hast nicht das Geld, um mich in Versuchung zu bringen.« »Und noch etwas«, fuhr er hinter mir fort. »Ich verstehe nicht, warum du so eine Komödie aufführst. Sie sieht phantastisch aus, aber ansonsten ist deine Kusine Vanessa eine Null. Eine Unterhaltung mit ihr ist eine Strafe. Ich konnte dabei nur an eins denken — an mein Bett.« »Was sonst?« sagte ich. »Gute Nacht, meine Lieben.« rief Tante Sybil von unten, es sollte sanft, aber endgültig klingen. Sie hatte mir unsere Schlafzimmer zugewiesen, so konnte ich Ben informieren, daß seine Tür die vorletzte auf der linken Seite war. »Nicht die letzte«, warnte ich ihn. »Das ist der Speiseaufzug. Der wurde vor Jahren eingebaut, um Mahlzeiten aus der Küche nach oben zu befördern.« »Ein Ort, den ich lieber nicht aufsuchen möchte.« Ben schüttelte sich. »Nach dem Fraß heute abend sehe ich sie vor mir: Spinnweben an der Decke, Schleim an den Wänden, und in einem Bottich mit Brühe schwimmt der Butler mit dem Gesicht nach unten.« »Unsinn! Der ging schon vor Jahren in Pension. Entweder weigert sich Onkel Merlin, Geld für Personal auszugeben, oder die haben Angst, hier zu arbeiten.« Wenn ich auf einen zärtlichen Abschied gehofft hatte, dann stand mir eine herbe Enttäuschung bevor. Ben gab
mir einen soldatischen Klaps auf die Schulter, erklärte, daß er kein Frühaufsteher sei und entschwand den Korridor entlang. Mein Schlafzimmer war kein heiterer Ort. Arger Schüttelfrost schien es zu plagen, denn die Wände schwitzten in großen Flecken durch die schimmelfarbene Tapete. Die Decken auf dem großen Himmelbett stanken vor Alter und das nervöse Feuerchen zischte und stotterte im Kamin, aber unternahm nichts, um die Kälte zu vertreiben. Zum Glück hatte ich in weiser Voraussicht meinen wollenen Schlafanzug mit den Bettsöckchen dran eingepackt. Dieser Gedanke tröstete mich, bis mir einfiel, daß er sicher in meinem Koffer verstaut war, der immer noch in Bens Auto lag. Zitternd zog ich mich bis auf BH und Unterwäsche aus, hing das rote Ungetüm über einen Stuhl, den ich so placierte, daß er jeden kleinsten Wärmestrahl des mürrischen Feuers abfangen konnte, und kroch wie ein gehäuteter Eisbär zwischen die verflohten Bettücher. Vom Bett aus konnte ich den Lichtschalter erreichen. Das Zimmer versank in Finsternis, aber der Schlaf tänzelte wie eine rüstige alte Elfe außerhalb meiner Reichweite. Ich traute mich nicht, die Beine völlig auszustrecken, falls etwas Weiches, Pelziges im Bett nistete. Die Ereignisse des Tages drängelten und knufften sich in meinem Kopf, aber aus dem Chaos kam eine Erkenntnis: Ben hatte zwar meinen Erwartungen an das Betragen eines Mannes von der Kultivierten Herrenbegleitung überhaupt nicht entsprochen, aber ich fühlte mich, kaum daß wir uns fünf Minuten gezankt hatten, in seiner Gesellschaft ausgesprochen wohl. Statt Schafe zu zählen spielte ich mein Lieblingsspiel: Was, wenn? Was, wenn ich schlank bis zur Magersucht wäre und völlig erhaben über Cremetorte, Yorkshirepudding und große lockere Klöße in dicker, fetter Soße? Ach zum Teufel! Bei solchem
Festschmaus, wer braucht da Männer! Vor meiner Tür waren leise Schritte zu hören. Die Klinke bewegte sich ächzend. Ben? Essen konnte ich auch noch morgen; Nahrung gab es immer, wohingegen … Er tapste durchs Zimmer. Es krachte und ein erstickter Aufschrei verriet mir, daß er Kopf voran Bekanntschaft mit dem Kleiderschrank gemacht hatte. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen und meine Temperatur ging rauf und runter wie ein Kaufhausfahrstuhl. »Schrei!« rieten mir Anstand und Vernunft. »Damit du in ewiger Unwissenheit stirbst?« fragte deren Widerpart. Seine Hand war auf der Bettdecke, Zentimeter von meinem entblößten Fleisch. Die Decke hob sich. Ich spürte ein pyjamabehostes Bein an meinem. Dann war alles vorbei. Meine Hand fand den Lichtschalter und das Zimmer erwachte blinzelnd. Ich drehte mich um, Ben mit empörten, aber dankbaren Augen zu durchbohren. »Onkel Maurice?« bebte ich und zerrte mir die Bettdecke um den Hals. »Kannst du mir erklären, was das soll? Ich zähle bis zehn, dann schreie ich.«
Fünf Ich hätte wissen müssen, daß ein Mann, der mitten in der Nacht in mein Zimmer schlich, nur eine verirrte Seele auf dem Heimweg vom Badezimmer sein konnte. Onkel Maurice, der in seinem lavendelfarbenen Flanellschlafanzug ziemlich lächerlich aussah, entschuldigte sich vielmals für die Störung und flehte mich an, Tante Lulu nichts davon zu sagen. Sie würde sich fürchterlich aufregen, wenn sie erführe, daß er bei mir hereingeplatzt sei und meine Nachtruhe gestört habe. Ich schwor, meine Lippen seien versiegelt und knipste
das Licht aus. Nun aber schlafen. Ein Geräusch weckte mich, ein bedrohliches Knurren. Ich schreckte hoch, verschlafen und überhaupt nicht aufgelegt, mitternächtliche Vagabunden zu empfangen. Noch ein falscher Alarm: Der Lärm entsprang meinem knurrenden Magen und gemahnte mich, daß es Zeit war für meine Lieblingsrendezvous — nur wir zwei ganz allein — ich und Essen. Ich versuchte, stark zu sein. Ich ermahnte mich, daß es mehr als gierig war — bereits diebisch, nachts um zwei die Treppen hinunterzustapfen und Tante Sybils Küche zu überfallen. Mir juckte die Nase. Staub! Nahm Tante Sybil je ein Staubtuch in die Hand, lüftete sie je die Betten, kochte sie je eine anständige Mahlzeit? Mein Groll wuchs. Diese popligen Schnittchen! Und auch noch altbacken! Was für eine Mahlzeit für Menschen, die gerade einem sibirischen Schneesturm entronnen waren! Außerdem hatten Freddy und Ben die meisten verdrückt! Ich klopfte energisch das Kissen auf und genoß meinen Zorn. Wenn Tantchen nicht kochen konnte, was war schon dabei, vom Bäcker ein paar Bratwürstchen im Schlafrock zu holen und vielleicht noch Blätterteigpasteten? Mein Magen fluchte und jubelte abwechselnd. Jedenfalls schien er entschlossen, mir keine Ruhe zu gönnen. Eine Lichtspirale erhellte das ansonsten dunkle Zimmer: Mondlicht, vom Schnee zurückgeworfen. Diese Beleuchtung reichte zum Ablesen der Uhr. Halbdrei. Noch Stunden bis zum Frühstück, und ich setzte in dieses Mahl keine großen Hoffnungen. Klumpiges Porridge und kalter Tee waren keine ausreichende Ernährung für eine Frau im Wachstum. Ich kletterte aus dem Bett und fröstelte in der kalten Luft. Das Feuer hatte längst den Geist aufgegeben und es wunderte mich nicht, daß das rote Ungetüm immer noch eher naß als feucht war. Was sollte ich anziehen? In meiner Unterwäsche die
Treppe hinabzusteigen kam nicht in Frage. Es gab keine größere Pein, als von Ben in meinem Taillen-BH und meinem Schnürkorsett erwischt zu werden. Ich tappte im Mondlicht umher und fand den Kleiderschrank. Sein Inneres stank nach Mottenkugeln und alten Zeitungen, enthielt aber nichts außer einem Paar Knöpfstiefel und einem Federhut, den ich zuerst für einen toten Vogel hielt. Das reichte nicht, um mich zu bedecken. Meine Hand ertastete auf einer Seite ein Bord und meine Suche wurde belohnt. Unter einer Staubschicht lag etwas, das sich als Tagesdecke entpuppte. Sie schien aus Chenille und gottlob für ein Doppelbett gedacht. Vorsichtig öffnete ich meine Tür und spähte in den Flur. Mehrere Fenster, besonders ein großes mit farbigem Glas oberhalb der Treppe, warfen unheilvolle Schatten, die an den Wänden entlangkrochen. Nur die Aussicht auf heißen Toast mit Butter und eine anständige Tasse Tee trieben mich voran. Eine der ermutigenden Theorien über schwere Leute besagt, daß ihr Schritt leicht ist. Ich hoffte inständig, daß sie stimmte. Den schmalen Läufer hatte ich überquert und mußte nun die Treppe in Angriff nehmen. Meine Toga verrutschte und ich steckte sie wieder zusammen. Ich kam mir vor wie ein Ozeanriese, der in flaches Gewässer vom Stapel läuft. Also schön sachte! Die Küchentür schüttelte sich und schwang nach innen auf. Mit dem ersten Griff fand ich den Lichtschalter. Die schwache Birne gab wenig Licht. Der Rest des Hauses mochte deprimierend sein, die Küche war schlimmer. Schmuddeliges graues Linoleum und lachsrosa Wände. Wenig hilfreich war auch die Versammlung altersschwacher Küchenschränke, denen fast alle Farbe und etliche Türen fehlten. Das Gewirr angelaufener Kupferleitungen, das vom altmodischen Boiler die Wände hochlief, hing voller schmieriger Wischlappen und
fleckiger Geschirrhandtücher. Ob Tante Sybil sie manchmal verwechselte? Selbst jemand mit geringen hausfraulichen Instinkten mußte sich hier ekeln. Ich betrachtete den Raum aber auch mit professionellem Blick. Ausmaße und Proportionen der Küche waren gut, auch die Fenster waren groß und gingen nach Süden. Unter dem ekelhaften Linoleum befand sich wahrscheinlich ein Steinfußboden. Schon stellte ich mir die Küche vor, wie sie hätte sein können, mit marineblauem Herd, zu warmem Glanz polierten Kupferpfannen, vielen Grünpflanzen, die die Vorhänge ersetzten, und einer cremefarbenen Tapete mit marineblauen und korallenroten Akzenten. Die Vision entschwand und ich starrte auf Berge schmutzigen Geschirrs, die den Tisch, das Ablaufbrett und andere Flächen bedeckten. Kein Wunder, daß Onkel Merlin gedämpftes Licht wollte. Ich bin nicht dafür, per Gesetz vorzuschreiben, daß jeder Haushalt vollkommen steril zu sein hat. Tobias hatte mein Sofa zerfetzt und manchmal machte ich eine Woche lang nicht das Bett. Aber dieser Dreck war unerträglich. Gottseidank war der Boiler noch heiß. Ich kramte tapfer in den Spinnweben unter dem Ausguß und fand einen aufgeweichten Karton mit einer Dose feuchtem Scheuerpulver und einer Schachtel Seifenflocken. Damit mußte es gehen. Geschirrspülmittel stand offenbar nicht auf Tante Sybils Liste lebensnotwendiger Dinge. Ich hievte meine Bettdecke hoch, band sie im Genick zu einem dicken Knoten, beschwor sie, nicht runterzurutschen und machte mich daran, den Unrat aus dem Ausguß zu graben. Zwei Stunden später war das Geschirr gespült, getrocknet und möglichst ordentlich in die Schränke gestellt. Der Tisch hatte recht gut auf das Schrubben angesprochen. Die Hälfte der Farbe war dabei
abgeblättert, aber was darunter zum Vorschein kam, sah sauber aus. Ich füllte einen Eimer mit heißem Wasser, goß eine ganze Flasche Bleichmittel (so alt, daß der Deckel völlig zerfressen war) hinein, nahm mit den Fingerspitzen die Lappen von den Leitungen und sah zu, wie sie in den Dämpfen versanken. Ich unterdrückte ein Gähnen und plinkerte ein paarmal heftig, um meine Augen daran zu erinnern, daß ich noch wach war. Wie wollte ich Tanty Sybil meine Einmischung erklären? Vielleicht würde sie ja denken, die Heinzelmännchen seien dagewesen. Ich verbiß mir noch ein Gähnen, füllte den Wasserkessel, stellte ihn auf den frischgescheuerten Herd und zündete das Gas an. Endlich kam ich dazu, die Märchentür zu öffnen. Die Speisekammer war wiederum ein Raum, der altmodischen Charm hätte ausstrahlen sollen. Ihre Marmorborde waren für Schinken und Käselaibe gebaut worden, für Schweinesülzen und -pasteten. Sie hätte Düfte verströmen sollen, die von kulinarischen Köstlichkeiten kündeten. Die Wahrheit war, sie stank. Geruch von ranzigem Fett mischte sich mit Gestank von verdorbenem Fleisch und Mäusekötteln. Überall lagen Krümel, und verschüttete Milch war zu einer gelben Kruste angetrocknet. Bis auf ein halb verzehrtes Huhn, eine Schüssel mit sauer gewordenem Pudding und einen Korb mit keimenden Kartoffeln war sie wie die Speisekammer der Eltern von Hänsel und Gretel — leer. Ich fand den Brotkasten. Er war aus Metall mit einem gut schließenden Deckel, also entnahm ich ihm ohne allzu großes Mißtrauen ein Brot, ging hinaus und schloß hinter mir die Tür. Der Kessel pfiff, ein gellendes Schrillen, bei dem mir einfiel, daß ich noch den Tee finden mußte. Es schien den Kessel zu ärgern, daß ich seinem Ruf nicht sofort folgte, denn das Geräusch wurde tiefer, ein bedrohliches Gepolter, das die Kasserolen auf
dem Brett über dem Herd tanzen und die Tassen auf ihren Haken unter den Schränken klingeln ließ. Ziemlich viel Getöse für einen Kessel. Eher wie von eine Dampflok! Ich drehte das Gas ab, der Lärm ging noch ein Weilchen weiter, ehe er sich legte. Donnergrollen? Aber der Streifen Himmel, den das Küchenfenster freigab, war recht klar. Wahrscheinlich kam der Krach vom Heißwasserbehälter, der sich wieder aufgefüllt hatte. Wo war die Teedose? Zurück in die Speisekammer. Ich öffnete die Tür, mir war als bewegte sich etwas. Mäuse? Ich mochte sie zwar nicht aber wenn ich nicht endlich meine Tasse Tee bekam … Eine Gestalt wuchs aus den Schatten; mit ausgestreckten Armen und flatterndem weißen Gewand kam sie langsam auf mich zu. Der Geist von Merlins Schloß! Mein Schrei endete in einem Quieken, über das jede Maus sich scheckig gelacht hätte. Ich vermochte nicht, das Gesicht der Erscheinung zu erkennen, denn eine weiße Zipfelmütze bedeckte den Kopf. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Sie lachte, ein entsetzliches, halbersticktes, heiseres Gelächter … Jede jugendliche Heldin, die ihr Pulver wert war, wäre jetzt in Ohnmacht gefallen. Ich schaffte es fast; ich stolperte über die Chenille und ging bis neun zu Boden, wobei ich das Gespenst stöhnen hörte: »Himmel, es ist Aphrodite.« Eigentlich hätte mich der beißende Geruch von Riechsalz zu mir bringen müssen. Doch solches Glück war mir nicht beschieden. Jemand hatte mich unter den Achseln gepackt und zerrte mich über den holperigen Fußboden, was mir den Popo aufschrammte und das letzte bißchen Mut raubte. »Herr des Himmels, lieber würde ich einen Ochsen schleppen.« Ben! Wie kam der denn hierher? Er war doch nicht das Speisekammergespenst. »Das muß reichen.« Er lehnte mich an die Wand wie einen Sack
Mehl. »Wenn ich sie auf einen Stuhl hieve, hole ich mir einen Bruch — einen doppelten.« Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht! Aber sobald ich die Arme bewegte, nahm die Chenille endgültig Reißaus. Die einzige Möglichkeit, es ihm heimzuzahlen, war, mich bei der Kultivierten Herrenbegleitung über ihn zu beschweren. Eine andere Stimme sprach, eine neblige, bellende, unmenschliche Stimme. »Was wollen Sie von mir — Mitleid? Sie ist doch Ihr Schatz. Ein Mann, der sich mit einer doppelt so großen Frau einläßt, sollte an der Stelle, wo sonst das Gehirn sitzt, wenigstens Muskeln haben. Hören Sie auf, rumzutändeln wie eine Narzisse im Wind und bringen Sie sie wieder zu Bewußtsein, wenn sie welches hat. Kippen Sie den Eimer da über ihr aus. Sieht aus, als hätte sie hier rumgefummelt und die naturgegebene Unordnung durcheinandergebracht. Verdammte Einmischung.« Das Bleichmittel! Ich wollte schon immer erblonden, aber nicht durch so drastische Maßnahmen. »Das wirst du nicht tun!« Meine Augen sprangen auf wie Schnapprollos. Ich machte mich von Ben los, ließ die Fäuste fliegen und hatte die Befriedigung, ihn voll am Kinn zu erwischen. »Idiot!« brüllte ich und rappelte mich auf. »Laß den Eimer fallen und wir haben ein Loch im Boden, das bis nach Australien reicht.« Ich drehte mich um und drohte der knochigen Gestalt in Weiß mit einem wütenden Lehrerinnen-Zeigefinger. »Hören Sie zu, Sie spukendes Heinzelmännchen, warum verziehen Sie sich nicht und kauen an Ihrer Troddel? Ich bin vielleicht kein Schönheitsideal, aber Sie müßten sich mal sehen mit Ihrem lächerlichen Kopfputz!« Bens eines Auge hatte plötzlich einen nervösen Tic, aber ich kümmerte mich nicht drum. Ich war unfähig, klar zu denken, geschweige denn, optischen Morsecode zu
entziffern. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?« fragte ich das dürre Gespenst. »Ungebeten mitten in der Nacht aus Speisekammern zu hopsen!« Ein freudloses Kichern entfuhr seinem zahnlosen Mund, dann zischte er in bösem Flüsterton: »Erkennst du mich nicht, mein Puddingbäckchen, sehr ungezogen! Du bringst einen alten Mann noch zum Weinen. Du Trampel! Ich bin dein Gastgeber, Giselle, dein lieber alter Onkel Merlin.« »Welch geselliges Beisammensein«, griente Ben in die ungemütliche Stille. »Mr. Grantham erzählte mir, während du in Ohnmacht lagst, daß er oft mitten in der Nacht Appetit bekommt und dann mit dem Speiseaufzug zu einem Imbiß runterfährt. Ich habe durch den Schlafzimmerfußboden deine Angstschreie gehört und kam phantasieloserweise die Treppe runter, um nachzuschauen.« »Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen.« Wütend starrte ich beide an. »Ich bin gestolpert. Vielleicht bin ich später weggeblieben, als ich mit dem Kopf aufgeschlagen bin, aber das ist nicht dasselbe.« Ich zupfte die Chenille hoch. »Und mal angenommen, ich habe mich wirklich blöde angestellt. Wenn du auch nur einen Funken Anstand besäßest, Onkel Merlin, dann würdest du einen Teil der Verantwortung dafür übernehmen. Ich bin es nicht gewohnt, mitten in düsterer Nacht Männer in weißen Nachthemden und Zipfelmützen umherschlurfen zu sehen.« »Hah! Wohl nicht gewohnt, nachts Männer in irgendeiner Gewandung zu sehen. Es sei denn … hast du diesem Londoner Burschen erzählt, du erbst mein Geld? Da bist du an der falschen Adresse, Mädel! Meine Nachthaube hindert die Körperwärme daran, während des Schlafs durch den Kopf zu entweichen. Kann mir
diese elektrischen Heizapparate nicht leisten, besonders heute nacht. Einer meiner Blutsverwandten könnte sich reinschleichen und einen Kurzschluß einbauen.« »Um auf den nächtlichen Imbiß zurückzukommen, Mr. Grantham«, schlug Ben vor, während er den Herd inspizierte, »soll ich Ihnen ein bißchen was Schaumiges machen? Vielleicht Benedikt-Eier?« »Ach, jetzt wird mir alles klar«, krächzte der liebe alte Onkel. »Einer von denen sind Sie! Im Dekorateurgeschäft triffst du wohl viele schwule Jungs, was, Ellie?« Was hatte dieser abscheuliche alte Mann für eine ekelhafte Phantasie. Ich wollte zur Tür, doch dann überlegte ich es mir anders. So leicht sollte er den Sieg nicht davontragen. »Weißt du was? Ich glaube, es ist gut, daß du dich hier all die Jahre vergraben hast. Die Welt draußen ist zu gut für dich.« Onkel Merlin saß auf einem Stuhl und rührte sich nicht. Einen grausigen Moment dachte ich, ich hätte ihn zu Tode erschreckt, dann sah ich unter der Zipfelmütze ein Flackern eisiger Belustigung in seinen Augen aufglimmen. »Wenn Sie Eier nicht göttlich finden«, Ben klimperte mit den Wimpern in Richtung Onkel Merlin, »dann vielleicht etwas, das ein bißchen mehr prickelt, sagen wir eine reizende kleine Speise aus Quark und Molke?« Mit seiner normalen Stimme fügte er hinzu: »Gleichzeitig eine Methode, Ihre verdammten Spinnen zu verscheuchen.« »Richtige Männer«, bellte Onkel Merlin, »essen keine aufgemotzten Eier oder sowas zum Frühstück. Wir mögen unsere Bücklinge. Gehen Sie Ihrer Nase nach und Sie finden ein Paket aus Zeitungspapier in der Schublade rechts vom Ausguß. Richtig, unter den Geschirrtüchern. Habe sie vor Sybil versteckt. Die Bücklinge waren für Jonas und mich. Freitag abend
spielen wir immer Karten, sobald sie in ihrem Bett liegt und nicht mehr über uns die Nase rümpfen kann. Sybil hat nichts gegen Glücksspiele — ein Zeitvertreib für Gentlemen — aber sie billigt es überhaupt nicht, daß ich mit der Dienerschaft verkehre. Hah! Wenn ich so von Jonas dächte, hätte ich ihn schon längst in Rente geschickt. Ich mag die Art, wie er beim Kartenspiel betrügt. Herrgott noch mal, was muß der alte Esel auch auf der Nase liegen! Wer will seinen Fisch? Meiner ist der große.« »Da du Bücklinge zur Männerspeise erklärt hast, Onkel Merlin, werde ich jetzt zwei Scheiben Brot in diesen Toaster stecken, der aussieht wie eine Rattenfalle, hinein damit, mir eine Tasse von dem Tee nehmen, den Ben gerade braut und mit einem Tablett nach oben verschwinden.« »Was, und mich diesem jungen Ganoven ausliefern? Deine Schuld, wenn du morgen früh runterkommst und mich mit einem Fleischspieß im Herz vorfindest! Wo hat sie Sie überhaupt aufgegabelt, junger Mann? Wahrscheinlich in einer von diesen Kontaktbars. Und was machen Sie außer mit Bratpfannen zu schlenkern?« »Er schreibt Bücher.« Wütend kratzte ich Butter von einer angeschlagenen Untertasse und schmierte sie auf meinen Toast. »Herrlich schmutzige Bücher, richtig schweinisch, aber nicht so schweinisch wie diese Küche, bevor ich sie saubergemacht habe. Gute Nacht, liebster Onkel, und tu mir nicht den Gefallen, an einer Gräte zu ersticken.« *** Das Frühstück am nächsten Morgen war gräßlich. Glücklicherweise war Tanty Sybil nicht anwesend, um die Kommentare mitzukriegen, die diese Mahlzeit hervorrief.
Sie hatte das Essen hereingebracht und trug jetzt ein Tablett zu Onkel Merlin hinauf. Freddy saß da und rührte in seinem Porridge wie ein Kind, das auf Mammis »Einen Löffel für die Mutti, einen für den Vati« wartet. Er ließ den Löffel fallen und brummelte: »Entweder hat jemand auf meinen Teller gekotzt oder ich tu’s gleich.« Genau mein Gefühl. Auf diese Mahlzeit konnte ich verzichten, insbesondere da Tante Lulu, ihr Kopf ein Schaum seifiger Löckchen, gerade von ‘Der Verlobung’ erfahren hatte und einen mürrischen Ben nach Einzelheiten piesackte. Schlafmangel hatte seine Stimmung nicht gebessert. Ich entschuldigte mich und kehrte in mein Zimmer zurück, wo ich auf der Kommode am Fenster meinen Koffer vorfand. Ben hatte mir gesagt, daß er und Freddy schon früh draußen gewesen waren und das Auto wiederbelebt hatten, das jetzt neben dem alten Pferdestall stand. Eine Diät, auch eine unfreiwillige, sollte von körperlicher Bewegung begleitet werden. Ein Spaziergang im Schnee! Nichts wie runter mit dem roten Ungetüm, und ich war glücklich wieder vereint mit meinem Kamelhaarrock, meinem grauem Pullover, den soliden Tretern, mit Wollmantel und Kopftuch. Der Spiegel verriet mir, daß ich aussah wie eine treue alte Zugehfrau. Immer noch besser als eine Karnevalsprinzessin. Ich übergab das Rote dem Mülleimer. Ich hatte ganz vergessen, wie nah Merlins Schloß am Meer lag. Der klatschende, brausende Rhythmus der Wogen mischte sich mit dem Wind, der mich vorantrieb und mir den Mantel so eng um die Beine wickelte, daß das Gehen schwierig wurde. Sicher, ich hatte in meinem Leben alles falsch gemacht, aber ich hatte kein brennendes Verlangen, es zu beenden, indem ich mich von den Klippen wehen und auf den zackigen Felsen
drunten zerschmettern ließ. Ich machte eine Kehrtwendung, da sah ich durch den Schnee, der von den Bäumen stob, die gebeugte Gestalt eine Mannes auf mich zu stolpern, er hatte sich den Hut tief über die Ohren gezogen und Mund und Nase waren mit einem dunklen Schal vermummelt. Das mußte der Gärtner sein — Jonas. Hieß er nicht so? Statt stetig auszuschreiten taumelte ich im Wind hin und her, aber ich kam voran, so gut ich konnte. Als unsere Wege sich trafen, lüftete der alte Mann seinen zerbeulten Hut, duckte kurz den Kopf und sagte »Morgen, Fräulein«, gab einen trockenen Huster von sich und wollte weitergehen. »Scheußlicher Tag zum Spazierengehen«, sagte ich. »Zumal Sie erkältet sind.« Er warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Ordentlicher Frost tötet die Bazillen. Mr. Merlin, der geht an so einem Tag nicht raus. Könnte sich ja den Tod holen und andern eine Freude machen. Sie sind Miss Giselle, wie? Ja, ich kenn mich aus mit euch. Außer beim Kartenspiel zu betrügen, schwatzt er gern über die, wie er sagt, Maden im Familienkuchen. Hähhäh! Seid alle sofort gekommen, was? Bei Ihnen war er nicht so sicher, aber ich hab ein Pfund gewettet, daß Sie kommen. Haben sich auch einen Burschen mitgebracht, höre ich. Einen Pornoschreiber noch dazu. Und Sie so eine züchtige alte Jungfer!« »Wir sind verlobt«, fauchte ich und stapfte zum Haus zurück. Tante Sybil war in der Küche, als ich durch die Hintertür hereinkam. Sie hängte sehr zerlöcherte Abtrockentücher über die Rohre und war offenbar wenig begeistert, mich zu sehen. Hatte wohl Angst, daß ich den Fußboden schmutzig machte. »Ich bin dem Gärtner begegnet«, sagte ich. »Ach, der! Wohnt in dem Häuschen beim Eingangstor. Klippenblick heißt es.« Sie zog die Nase hoch, vielleicht
machten die Bleichdämpfe aus den Tüchern ihr die Nebenhöhlen frei. »Bei dem schlechten Wetter gestern abend wird es dir nicht aufgefallen sein. Warum Merlin diesen Jonas behält, ist mir ein Rätsel. Dauernd fehlt ihm was. Aber so sind die Männer — nur glücklich, wenn sie was zum Jammern haben. Mit Merlin ist das natürlich eine andere Geschichte.« Ihre von der Bleichlauge verschrumpelten Hände wanderten zu ihren Haaren und richteten eine Strähne. »Jonas' Husten hat sich ziemlich echt angehört und damit läuft er draußen rum.« Ich schälte mich aus meinem Mantel. »Will nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und wenn’s keine Erkältung ist, dann ist es was anderes. Letzten Sommer war es der Stuhlgang und davor Krampfadern. Nicht ein Unkraut im Garten gejätet, außer um irgendeinen Heiltrank zu brauen. Und Merlin bestand darauf, daß ich Jonas morgens, mittags und abends heißen Tee davon brachte.« Ihr Unterkiefer zitterte. »Als ob ich nicht genug zu tun hätte, ohne hypochondrische Dienstboten zu verwöhnen. Ja, ich weiß, wir haben unsere Verpflichtungen gegenüber dem Proletariat — und wenn Jonas der Butler wäre oder zumindest irgendwas Sauberes, würde es mir auch nicht so viel ausmachen.« So etwas von blasiertem Dünkel! Langsam fragte ich mich, ob Onkel Merlin hinter der Maske des bösartigen Einsiedlers nicht doch ein oder zwei lobenswerte Charakterzüge besaß. Wenigstens behandelte er jedermann mit gleicher Verachtung, und er schien an Jonas zu hängen. Oder war das nur, weil der Mann ihm zur Unterhaltung diente? »Onkel Merlin muß doch froh darüber sein, daß seine eigene Gesundheit unverwüstlich ist«, regte ich an. Tante Sybil fixierte mich mit einem Blick, der sagte
»Was weißt du schon davon?« Sie schälte Kartoffeln und zog eine regelrechte Schau ab. Unter dem Ansturm ihres Messers flogen die Schalen in alle Richtungen. Meine Hilfe wurde kategorisch abgelehnt, nur sie allein wußte, wie Onkel Merlin sein Gemüse mochte. »Der Arme, er ist einsam«, sagte sie. »Er und Jonas kleben zusammen wie Pech und Schwefel, stecken ständig die Köpfe zusammen über Kreuzworträtseln oder Spielkarten. Ich mache mir Sorgen, denn« — sie fixierte mich mit ausdruckslosen, wässerigen Augen — »abgesehen vom Klassenunterschied hat Jonas für mein Gefühl keinen guten Einfluß auf Merlin. Er bringt ihn zum Lachen, ja manchmal dazu, sich völlig albern aufzuführen. Sehr unschicklich! Sein Vater, der selige Onkel Arthur, sagte nie mehr als Holen! und Bringen! zur Dienerschaft. Aber ich habe so wenig Zeit, mich hinzusetzen, wo ich das ganze Haus in Ordnung halten muß, und er ist schließlich, wie man so sagt, eine neue Generation.« Onkel Merlin voll im Trend? Unter Anpassungsdruck? »Jonas sah ziemlich harmlos aus«, sagte ich. Tante Sybil schniefte und wütete weiter mit ihrem Messer. Das Mittagessen war noch eines der Erlebnisse, die man besser rasch vergißt, denkwürdig allein, weil ich mehrere Pfunde abnahm. Vanessa mit Schmollmündchen war verführerischer denn je, mein Verlobter verdrossen und Onkel Merlin beehrte uns nicht mit seiner Anwesenheit. Tante Sybil verkündete, als bereite sie uns eine große Freude, daß er zum Tee herunterkäme. Der Nachmittag neigte sich zur Dämmerung. Die Standuhr in der Halle schlug vier und prompt gingen die Verwandten in Stellung. Tante Sybil drückte sich bei der Tür herum wie ein
begeisterter Fan, der seinem Idol an der Bühnenpforte auflauert. Aus der Halle ließen sich langsame, gedämpfte Schritte vernehmen. »Da kommt er«, rief sie. »Mein lieber Merlin, ich habe sie mit dem Tee nicht ohne dich anfangen lassen. Wir haben alle auf dich gewartet.« »Das glaube ich gerne.« Onkel Merlins Stimme war kräftig, obwohl er sich schwer bei Tante Sybil aufstützte, eine graue, schattenhafte Gestalt im Halbdunkel. »Eine Bande von Aasgeiern seid ihr, alle miteinander«, schnaubte er giftig. »Stürzt euch auf mich, um mir das Fleisch von den morschen Knochen zu hacken, aber ich lege euch alle rein, jeden von euch. Noch bin ich nicht tot und wir wollen mal sehen, wer zuletzt lacht.« »Was für ein böser alter Mann«, sagte Tante Astrid und erstickte fast, so heftig zog sie an ihren Perlen. »Wahrscheinlich vermacht er alles einem Katzenasyl. Er gehört in eine Anstalt.«
Sechs Unsere Rückfahrt nach London am nächsten Nachmittag verlief frostig; das Wetter war ebenfalls kalt. Ben ließ sich immer wieder aus über meine Bekanntgabe unserer Verlobung. »Ach halt deinen Mund, du aufgeblasener Schnösel.« Ich hatte genug. Meine Augen tränten vor Kälte und mein linkes Bein lag im Koma. »Du ärgerst dich doch nur, weil du vor Vanessa als Trottel dastehst, der keine Bessere abkriegt. Mach dir keine Sorgen, sie wird nicht denken, daß wir miteinander schlafen. Ich habe ihr erzählt, du wärst impotent, ein Mißgeschick in früher Kindheit. Als sie erfuhr, daß du Halbjude bist, hat sie es ohne weiteres geglaubt. Die Beschneidung hört sich an wie ein einfacher Eingriff, aber manchmal rutscht eben das
Messer aus …« »Verdammt noch mal, Ellie.« Ben schlidderte elegant um eine Kurve. »Du bist unmöglich. Trotzdem hätte ich um nichts in der Welt versäumen mögen, dich kennengelernt zu haben. Es tut mir beinahe leid, daß ich von dir Geld nehme.« »Du schaffst das schon. Auf welche Weise soll ich unsere Verlobung lösen? Wärst du zufrieden mit einer offiziellen Anzeige in der Times?« Ben grinste. »Jetzt weiß ich, welche Sorte Bücher du liest. Meine Mutter liest den gleichen Schund.« Er senkte die Stimme in samtige Tiefen. »Meine Liebste, wir waren nicht füreinander bestimmt … Ich bitte dich, streiche mich für immer aus deinem Leben. Und denke daran, wenn du dein Kissen mit Tränen durchnäßt, daß ich niemals gut genug für dich war. Irgendwo wird eines Tages draußen am fernen Horizont …« »Was? Ein anderer Mann? Und auf den Kitzel verzichten, daß mein Leben durch hoffnungslose Leidenschaft zerstört ist? Nie im Leben. Ich kehre heim zu meiner Katze und dem Leben einer enttäuschten alten Jungfer.« Bens kleines Auto fädelte sich durch den Londoner Verkehr. Wir kamen überraschend gut voran. Ich hatte mich fast schon an das taube Gefühl unterhalb der Knie gewöhnt, da glitt Ben in eine kleine Parklücke und stellte den Motor ab. Zurück am Queen Alexandra Place Nr. 129. Das Zwischenspiel war vorüber. Ich bestand darauf, daß er mich nicht nach oben brachte. Wir standen am Bordstein wie Flüchtlinge, die es in die sibirische Einöde verschlagen hat, die Hände zum Abschiedsgruß ausgestreckt, meinen verbeulten Koffer zu Füßen. Wir hätten Musik gebraucht, den ergreifenden Schmerz von ‘Laras Lied’.
»Das mit dem offenen Verdeck tut mir leid«, sagte Ben, die Hände in den Taschen vergraben. »Nicht doch. Ich fühle mich richtig knackig, wie frischer Salat.« »Ich leide unter Klaustrophobie.« »Unangenehm«, sagte ich. Wir schauten uns an, diese langen Augenblicke, die sich wie Gummiband ziehen, bis sie reißen. »Donnerwetter nochmal, willst du aus diesem Abschied einen Marathon machen für das Guiness Buch der Rekorde?« »Entschuldige.« Er hörte sich barsch an. Wir drehten einander den Rücken und gingen in verschiedene Richtungen auseinander. Als ich mich umschaute, hatte er sich nicht von der Stelle gerührt, wahrscheinlich dachte er, wie komisch ich von hinten aussah — genau wie Tante Sybil. In meine Wohnung nach Hause zu kommen war eigentlich ganz schön. Tobias begrüßte mich mit ungewohnter Herzlichkeit und einem Raspler seiner rauhen rosa Zunge. Er kam mir sogar ins Badezimmer nach und schaute zu, wie ich ein kochend heißes Bad nahm und aus einer Dampfwolke rosa schimmernd auftauchte. Tobias schloß die Augen. »Laß das«, fuhr ich ihn an. Er gähnte unverschämt und verschwand um die Tür. »Mach nur so weiter, den Schwanz einziehen und verduften, du Schleicher!« rief ich ihm hinterher. »Wie ich das kenne!« »Jemand zu Hause?« Jill! Sie hatte die zermürbende Eigenschaft, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen. Ich hätte ihr nie meinen zweiten Schlüssel geben dürfen. Nicht mal mein Spiegel hatte mich in den letzten Jahren splitternackt gesehen, also gab ich auch ihr keine Gelegenheit. Ich griff mir ein Handtuch und ging ins Wohnzimmer, um sie abzuwimmeln. Aber daraus wurde nichts, denn sie kam
mit nahrhaften Geschenken. Ihre Kasserolle hätte geschmorten Tang enthalten können, nach Tante Sybils Kochkünsten würde es schmecken wie Ambrosia. »Du bist ein Engel« — ich lächelte — »und eine liebe Freundin. Stell das hin und ich setze Wasser auf.« »Ein neues Rezept. Fricassee von Thunfisch und Erdnußbutter.« Wäre ich bloß auf Merlins Schloß geblieben. *** Arbeit half. Ich fing früh an und blieb lange. Eine meiner anspruchsvollsten Kundinnen, Lady Violet Witherspoon, machte ihre Midlifecrisis durch und fand Erleichterung, indem sie alle sechs Monate ihr Landhaus in den Norfolk Broads von Kopf bis Fuß umkrempelte. Ich schickte den Scheck an die ‘Kultivierte’ ab und beschloß: das war das Ende von Bentley T. Haskell. Aber der Mann hielt sich nicht an Vorsätze. Immer wieder tauchte er in meinen Gedanken auf, mit ähnlich rücksichtsloser Selbstvergessenheit, mit der Jill in meine Wohnung spaziert kam. Tagsüber konnte ich ihn in Schach halten, aber nachts — sobald ich die Augen schloß, war er da, der Schlingel, und verströmte seinen Charme. Er war verrückt nach meinen Haaren, meinen Augen, meinen Ohren. »So hauchdünne kleine Öhrchen«, flüsterte er dann, sein Atem strich mir warm über den Hals, und ich schmolz vor Wonne. Was für ein Segen, sagte ich mir im kalten Licht des Tages, daß er ein so unmöglicher Mensch war, sonst hätte mich die Aussicht, nie wieder etwas von ihm zu hören, ziemlich mitgenommen. Um zu beweisen, wie gleichgültig er mir war, ließ ich das Telefon wieder anschließen. Geld ausgeben ist auch eine Methode, sich auf Trab zu halten. An einem meiner
leeren Samstage fuhr ich ins East End, kaufte einen königsblauen Morgenmantel und ließ Onkel Merlins Monogramm auf die Tasche sticken. Als Reaktion kam ein kurzes Schreiben von Tante Sybil des Inhalts, ich sollte kurz vor der Heirat mit meinem Geld eigentlich Besseres anzufangen wissen, als es für Kinkerlitzchen hinauszuwerfen. »Die undankbaren Alten.« Leider war ich mit meinen Verwandten noch nicht fertig. Vanessa rief an. Sie wüßte ja, wie mich ihr neuester, fabelhafter Auftrag als Model entzücken würde, und wieso hätte sie von uns eigentlich noch keine Heiratsanzeige in der Times gesehen? Das gab mir den Rest. Ich hatte ohnehin Lust, dem Streß des Großstadtlebens zu entfliehen. Am nächsten Morgen bat ich Lady Witherspoon in den Ausstellungsraum und legte ihr nahe, daß ihrem neuen Salon italienischer Einfluß durchaus wohltun könnte. Wäre es ihr recht, wenn ich einige Einkäufe dafür machen würde? In Rom? Sie betupfte ihre feuchten Augen mit einem Spitzentüchlein und hauchte: »Wenn ich denke, daß in meinem Bekanntenkreis immer wieder über die mangelnde Einsatzbereitschaft der Arbeiterklasse geklagt wird.« Meine Berufsehre verbot mir, Lady Witherspoons Angebot anzunehmen, alle Kosten zu tragen, aber ihr Scheck — für den ich immerhin etliche Stunden lang Dekostoffe inspizierte — erlaubte mir doch, komfortabler zu reisen als sonst. Nachdem ich in der Stadt der sagenhaften Antike und des ebenso sagenhaften Sonnenscheins eingetroffen war, ließ ich mich in einem kleinen, aber zauberhaften Hotel nieder, in dem die Aussicht hervorragend war und jede Mahlzeit ein Sonett. Angesichts so vieler Doppelkinne, die über ihren Fettucine Alfredo wippten, bekam ich langsam das
Gefühl, meine Maße seien ganz akzeptabel und ließ mir ohne Gewissensbisse Nachschlag geben. Was sogar noch besser war, Ben rutschte dahin zurück, wo er hingehörte, zwischen die Seiten trivialer Liebesromane. Ich klappte das Buch endgültig zu und stellte es mit einem winzigen Hauch des Bedauerns — jede Frau hat gerne so ihre Erinnerungen — ganz oben ins Regal in einer Ecke meines Hirns und ließ es Spinnweben ansetzen. Ich rief die Fluggesellschaft an und war auf dem Heimweg. London Anfang April war naß und gräßlich, die Bürgersteige schwarz und glitschig. Das hohe, schmale Haus am Queen Alexandra Place stand geduckt und ungehalten vor Kälte. Der Taxifahrer griff sich das Trinkgeld mit Fingern, die aus durchlöcherten Strickhandschuhen hervorlugten, und brauste im Nebel davon. Jill war nicht da, aber ich traf Tobias auf der untersten Treppe, er sah gepflegt und wohlgenährt aus. »Die einzige Person auf der ganzen Welt, die mich wirklich liebt!« rief ich und beugte mich vor, um ihn in die Arme zu schließen. Das undankbare Katertier kräuselte die Lippen, zuckte arrogant mit dem Schwanz, als wollte er sagen »Komm du mir ja nicht wieder angekrochen, du treulose Tomate«, und schritt die Treppe hoch. Ich konnte seinen Groll verstehen. Nach drei Wochen von Jills Küche wäre ich wahrscheinlich auch nicht mehr ansprechbar. Ich drehte den Schlüssel im Schloß und schob den Koffer mit dem Fuß über die Schwelle, da klingelte das Telefon. »Hast du wieder auf Miss Renshaws Fußmatte gepinkelt?« schrie ich Tobias hinterher, der in die Küche wutschte. »Wenn ich mir noch mehr Beschwerden von dieser alten Giftnudel anhören muß …« Ich nahm den Hörer ab und sprach im Ton eines müden Weltreisenden. »Hallo?«
»Ellie, wo zum Teufel hast du gesteckt?« knurrte Ben. »Ich habe Jill angerufen und sie hat gesagt, du wolltest vorgestern zurückkommen. Sie hat mir die Nummer gegeben und ich …« Eine Frechheit von dem Mann, mir wieder zu erscheinen, kaum daß ich ihn endlich zu Grabe getragen hatte! Ich wiegte das Telefon in meinen Armen und tanzte auf der Stelle. Er knirschte mit den Zähnen, diesen entzückenden kleinen Perlzähnen, die in all den verbotenen Träumen an meinem Ohr geknabbert hatten … »Hör zu«, sagte er mit übertriebener Langsamkeit, »ich weiß, daß der Klang meiner Stimme dir die Sprache verschlägt, aber würdest du für eine Minute aus deinem Koma erwachen, damit wir uns vernünftig unterhalten können?« Vernünftig? Das Wort mochte ich überhaupt nicht. Ich hörte auf zu tanzen. »Hast du den Scheck verloren?« »Mußt du immer auf dem Geld rumhacken? Ich kritisiere dich in solchen Zeiten ungern, aber ich finde das ausgesprochen primitiv. Wenn du je deine Kontoauszüge studiert hättest, was Frauen bekanntlich nicht tun, dann hättest du gemerkt, daß ich die paar Pimperlinge nie eingelöst habe.« »Halt mal kurz die Luft an.« Ich ließ mich auf die Sofalehne plumpsen und zerquetschte beinahe Tobias, der sich herangeschlichen hatte. Nadelscharfe Krallen fuhren in meine Rückseite und ich schoß wieder hoch. »Was meinst du damit, in solchen Zeiten?« Jetzt war es an ihm, zu schweigen. Ich schubste Tobias unsanft weg und setzte mich wieder. »Bring es mir behutsam bei …« Meine Stimme kam so stoßweise wie der Atem einer neunzigjährigen Marathonläuferin. »Du und Vanessa, ihr habt euch
heimlich getroffen und jetzt wollt ihr heiraten?« »Nein.« »Wenn das so ist …« Ich legte mir Tobias über die Schulter und kuschelte mein Gesicht in sein warmes, weiches Fell. »Ellie, ich habe langsam das komische Gefühl, du weißt es noch gar nicht.« »Mm?« Ich kitzelte Tobias am Kinn. »Onkel Merlin ist tot.« »Das kann nicht sein!« protestierte ich. »Der Mann ist unsterblich — der ist älter als die Sintflut.« »Todesanzeigen in der Times lügen nicht. Es tut mir ja leid«, sagte Ben, »daß ich der Überbringer dieser Nachricht bin, aber …« »Mach daraus keine griechische Tragödie.« Meine Stimme wurde von Tobias’ Fell gedämpft. »Der Mann war für mich ein Fremder. An dem Wochenende neulich habe ich ihn zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen.« Ich unterbrach, um tief Luft zu holen. »Und er hat sich absolut widerwärtig benommen — vielleicht tat er mir deshalb leid … hinterher.« »Du flennst doch nicht etwa?« fragte Ben vorwurfsvoll. »Ach verdammt noch mal, Ellie, du bist eine alte Heulsuse. Ich komme vorbei.« »Danke«, schniefte ich. *** Ben zu überreden, mich auf Merlins Schloß zu begleiten, war gar nicht so schwer. Ich glaube, es war sein Vorschlag — nachdem ich Tobias gut zugeredet hatte, nett zu ihm zu sein und die Schwierigkeiten herausgestrichen hatte, mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen. Ben war wieder als Begleiter tätig. »Was ist mit dieser Geschichte von unserer
Verlobung?« Wir standen im Flur, um uns zu verabschieden, als ich dieses kritische Thema anschnitt. »Bis jetzt habe ich noch nichts unternommen, der Familie beizubringen, daß wir kein Paar mehr sind.« »Dann werden wir mit der Maskerade wohl weitermachen müssen.« Ben wickelte sich einen langen gestreiften Schal um den Hals, der aussah wie ein Erinnerungsstück an seine Schulzeit. »Wir wollen doch der Beerdigung nicht die Schau stehlen, indem wir unseren Betrug bekanntgeben. Aber ich erwarte von dir, daß du das richtigstellst, sobald die Familienkrise überwunden ist, verstanden?« »Jawohl, mein Ehrenwort. Andernfalls soll mich der Schlag treffen.« Was für ein leichtfertiger, dummer Spruch. »Ob Merlin auch so dachte?« fragte Ben lakonisch, als er zur Tür hinausging. *** Als wir am nächsten Mittag kurz vor zwölf durch das schiefe Eisentor den verkrauteten Kiesweg hinauffuhren, sah Merlins Schloß mehr denn je aus wie ein verwunschenes Märchenschloß, das eine streitsüchtige Fee mit einem bösen Fluch belegt hat. Jemand hatte nach uns Ausschau gehalten. Tante Sybil, ganz in Schwarz, empfing uns an der Tür. Ihre Mundwinkel waren verkniffen, aber ansonsten war ihr Gesicht ausdruckslos. »Das muß sehr hart für dich sein, Tantchen.« Ich versuchte, sie zu umarmen, aber sie wich zurück. »Bitte kein Getue, meine Liebe. In Merlins und meinen jungen Tagen galt Kummer immer als etwas sehr Privates.« Ihre breite Hand strich eines der vielen Fältchen ihres Seidenkleides glatt und ich dachte bei mir,
mit ihrer grauen Haut und ihren Hängebacken sah sie mehr denn je wie ein Nashorn aus. Und dann zitterten ihr die Lippen. Das arme alte Mädchen, mit Ausnahme des Gärtners war sie vielleicht der einzige Freund, den Merlin je besessen hatte. »War das Ende sehr plötzlich?« fragte ich und gab Ben meinen Mantel, damit er ihn zu dem Kleiderhaufen auf dem Intarsientisch packen konnte. »Sehr. Der Doktor kam vormittags und nachmittags war Merlin tot. Lugenentzündung. Er starb ganz friedlich.« »Das erstaunt mich. Von Onkel Merlin hätte ich erwartet, daß er noch auf dem Sterbebett flucht, weil er zum ersten Mal seit vierzig Jahren einen Arzt holen muß.« »Seit fünfundvierzig Jahren.« Tante Sybil verriet unterdrückten Stolz. »Merlin war keiner, der Aufhebens von seinem Befinden machte, wie ich dir, glaube ich, schon sagte, als du endlich einmal die Zeit fandest, ihn zu besuchen.« So etwas Ungerechtes! Es war Onkel Merlins eigener Wille, sich hier wie ein Einsiedler abzukapseln. Nie hatte er auf meine Weihnachtskarten reagiert oder das leiseste Interesse bekundet, mich zu sehen. Ben erkannte das Glitzern in meinen Augen und beschwor mich mit Gesten, ruhig zu bleiben. Die übrigen Mitglieder der Sippe hatten sich schon im Salon versammelt und scharten sich abermals um ein kümmerliches Feuer. »Ach, Liebe, zeig mir deinen Ring.« Vanessa streckte ihre Hand nach meiner aus wie ein eifriges Kind, aber sie schaute dabei den Mann an meiner Seite an und hob fragend die sanft geschwungenen Brauen. Ich mußte es Ben — wenn auch widerwillig — lassen, er zeigte sich der Situation gewachsen und beschützte
mich vor dem Feind. »Ellie und ich haben uns lang und breit über Verlobungsringe auseinandergesetzt«, sagte er glatt. »Sie bestand darauf, das Geld für etwas Praktischeres auszugeben. Was wolltest du noch?« Er drehte sich zu mir um und grinste mir verschwörerisch zu. »Eine batteriebetriebene Heizdecke, Liebling, damit wir uns behaglich kuscheln können auf unseren Spritztouren in deinem Auto.« »Ist sie nicht pfundig?« Sehr verliebt klang das nicht, aber der Mann gab sich Mühe. Freddy, der sich auf dem Boden gelümmelt hatte und zotteliger denn je aussah, stand auf und machte eine Bewegung, als wollte er seiner Mutter den Hals umdrehen. »Hör auf, Mutter«, sagte er. »Der Sherry ist wässerig genug, den brauchst du nicht mit deinen Tränen zu verdünnen.« »Er war zu gut für diese Welt«, wimmerte Tante Lulu. »Menschen seines Schlages verlassen uns immer als erste!« »Mach dich nicht lächerlich«, belferte Tante Astrid. »Der Mann war über siebzig. Der ist weiß Gott lange genug hier gewesen.« »Ja«, pflichtete Freddy bei, »laß den Schmus, Mutter. Du wirst noch eine ganz andere Melodie singen, in ein paar Stunden, wenn das Testament verlesen wird und du feststellst, der alte Zausel hat dir nicht den Batzen vermacht, den du erwartest.« Freddy kippte den Sherry seiner Mutter hinunter und langte nach der Karaffe. »Möchte mal wissen, wer die Kohle kriegt.« Tante Astrid setzte sich kerzengerade auf. »Dem alten Schafskopf traue ich zu, daß er alles der Wohltätigkeit vermacht hat. Aber wenn er halbwegs gescheit war, wird er sein Vermögen denen vererbt haben, die etwas damit
anzufangen wissen. Vanessa und ich hatten immer schon Sinn für gehobenen Lebensstil.« Tante Astrid warf Freddy und mir einen abschätzigen Blick zu. Vanessa wickelte eine verirrte Locke um einen langen, schlanken Finger. »Ich erwarte nicht einen Pfennig«, widersprach sie sanft. Freddy sagte etwas sehr Ordinäres. Tante Astrid erhob sich aus ihrem Sessel. »Wie kannst du es wagen, du widerwärtiges, ungepflegtes Subjekt, wie kannst du es wagen, meine wunderschöne Tochter zu beleidigen?« »Und wie kannst du es wagen, meinen großen, gut gewachsenen Sohn zu beleidigen?« Tante Lulu knallte ihr Glas auf einen Stapel alter Zeitungen, die auf einem Kamintischchen umherlagen. Ihr sträubten sich die Federn wie einer wütenden Henne. »Was glaubst du, wer du bist, Gräfin Rotz? Vor mir kannst du dich nicht aufspielen! Meine Mutter konnte sich noch daran erinnern, wie dein Vater mit einem Lumpenkarren durch die Elendsviertel gezogen ist. Wenn man dich reden hört, könnte man meinen, er war Textilkaufmann! Ha! Trotz all der feinen Mädchenpensionate und eures affektierten Gehabes, du und dein Fräulein Tochter, ihr seid nichts weiter als Emporkömmlinge!« Das Opfer dieser Attacke sah angeschlagen aus, während wir übrigen Mühe hatten, unsere Schadenfreude zu verbergen. Onkel Maurice protestierte der Form halber, aber wir alle merkten, daß er nicht mit dem Herzen dabei war. »Na, na, meine Liebe. Nun ist aber gut, mach nicht solch Geschrei.« »Ich werde nicht still sein!« schrie Tante Lulu um so kampflustiger. »Wenn diese Frau auch nur eine Spur von Kinderstube hätte, wüßte sie, daß in den besseren Familien das Erbe immer der männlichen Linie verbleibt.« »Darauf trinke ich!« prostete Freddy süffisant und
schenkte sich noch einen ein. »Unverschämtheit«, keuchte Tante Astrid. »Beruhige dich, Mama.« Vanessa goß ein Glas Cognac ein und reichte es ihrer zitternden Mutter. »Du regst dich auf wegen nichts. Ich bin überzeugt, Onkel Merlin hatte am Ende noch so viel Verstand, sein Vermögen den Familienmitgliedern zu hinterlassen, die es am ehesten verdienen.« Onkel Maurice steckte seine Wurstfinger in die Westentaschen, streckte die Brust raus wie ein Pinguin und runzelte die Stirn. Offensichtlich war er im Begriff, etwas besonders Scharfsinniges zu sagen. »Über die Jahre«, orgelte er, »habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten Merlin meine profunden Kenntnisse in der Kapitalanlage zugute kommen lassen. Gewiß neigte er zeitweise zu Reizbarkeit, aber so war er eben. Und da, meiner Meinung nach, Merlin sich als Erben jemand mit Finanzerfahrung ausgesucht haben wird, halte ich mich für einen aussichtsreichen Anwärter auf das Gros …« »Unsinn!« Tante Astrid schoß in einer einzigen Bewegung aus ihrem Sessel. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, sie würde Maurice ihr Cognacglas ins Gesicht schleudern. Ben amüsierte sich ebenfalls köstlich. Unsere Blicke trafen sich und er zwinkerte mir verstohlen zu. »Du liegst ja nicht mal im Rennen«, flüsterte er. »Schade! Erbinnen finde ich besonders attraktiv.« »Komm, Vanessa.« Leider hatte Tante Astrid beschlossen, keine Szene zu machen. »Wir werden nicht eine Sekunde länger in diesem Zimmer bleiben und uns solchen Schwachsinn anhören. Solide Anlageberatung ausgerechnet von dir, Maurice? Daß ich nicht lache! Du solltest erstmal dein eigenes Haus in Ordnung bringen. Den Gerüchten nach, die ich zufällig letzte Woche bei meinem Schneider hörte, hat dich dein finanzieller
Sachverstand an den Rand des Ruins gebracht.« »Findest du nicht«, sagte ich, »daß jeder ein wenig voreilig ist, um nicht zu sagen geldgierig? Erinnere dich, Tante Astrid, du warst es, die gesagt hat, Onkel Merlin würde wahrscheinlich alles einem Katzenasyl vermachen. Vielleicht hat ihm deine Idee gefallen, obwohl ich es für viel wahrscheinlicher halte, daß er sein Geld dem einen Menschen zukommen ließ der ihm in all den Jahren zur Seite gestanden hat, Tante Sybil.« Genau aufs Stichwort kam sie zur Tür herein. In ihrem breitkrempigen schwarzen Filzhut, den sie sich fest aufs graue Haar gestülpt hatte, und dem dunklen, fast bis zu ihren Schnürschuhen reichenden Mantel sah Tante Sybil aus wie das Kindermädchen in einem Schauerdrama — die Sorte, wo alle Kinder zu Unholden werden und die Eltern das Haus fluchtartig verlassen müssen. »Ich denke«, sie schaute zur Uhr auf dem Kamin, »wir sollten zum Gottesdienst aufbrechen. Wer fahren will, kann das tun, ich werde zu Fuß gehen. Zur Kirche sind es nur fünf Minuten und Merlin verabscheute Automobile. Seine sterblichen Überreste werden vom Bestatter in einer Pferdekutsche befördert.« Sie fügte hinzu: »Dieses Transportmittel wurde nicht nur wegen seiner Abneigung gegen Kraftfahrzeuge gewählt, es entspricht seinen Wünschen, wie er sie schriftlich gegenüber seinem Rechtsanwalt zum Ausdruck gebracht hat. Mr. Bragg wird nach der Beerdigung mit uns hierherkommen, ihr werdet also dann Gelegenheit haben, ihn zu sprechen.« »Na das wird ein Spaß!« flüsterte mir Freddy hämisch ins Ohr. Seit unserer Ankunft hatte sich draußen dicker Nebel ausgebreitet. Unsere kleine Gesellschaft versammelte sich, um den schmalen, zerklüfteten Weg entlang der Klippen hinabzusteigen. Ein Geländer an gefährlichen
Stellen hätte mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit gegeben — wenn ich mehr als einen Meter weit hätte sehen können. Binnen kurzem hatte ich mir den Fuß verstaucht und Ben nahm meinen Arm. »Wenn du weiter so an mir zerrst«, war seine körperlose Stimme zu vernehmen, »purzeln wir beide in den Abgrund und werden von den Felsen da unten aufgespießt.« »Was bist du für ein Pessimist, hinter jeder Ecke siehst du Gespenster.« »Du hast vollkommen recht«, gab er friedlich zu. »Gerade eben zum Beispiel sehe ich eine gespenstische Kalesche um die Ecke kommen, gezogen von zwei schnaubenden, stampfenden Rössern und gelenkt von einem Geisterkutscher …« »Der Kutscher sitzt auf dem Bock, wir sehen ihn nur nicht durch den Nebel«, erklärte ich geduldig und stolperte wieder — diesmal über Onkel Maurice, der stehengeblieben war. »Kannst du dir vorstellen, wie der Sarg in der Kutsche klappert?« Ich drückte freundschaftlich Bens Arm, was er nicht erwiderte. »Lieber nicht«, sagte er. Onkel Merlin wurde in der Familiengruft beigesetzt, einem kleinen kapellenartigen Bauwerk neben der Kirche. Die Sarkophage waren mir unheimlich, auf den älteren ruhten Marmorabbilder der Verstorbenen, an den neueren waren Messingschilder. Der Sarg wurde hereingetragen, hoch auf den Schultern der Leichenbestatter. Kein Freund, kein Verwandter stand auf, um die Last zu teilen. Onkel Merlin war tot und niemand, mich eingeschlossen, empfand viel dabei. Warum konnte er nicht draußen auf dem Friedhof begraben werden, wo über ihm das Gras im Winde
wehen würde? Ich drehte mich um und sah den alten Gärtner gebeugt und düster stehen, in höflichem Abstand zur Familie. Eine Träne stahl sich aus einem Augenwinkel und kullerte langsam über seine runzlige Wange. Fragte er sich, wann wohl die Reihe an ihn käme — wieder ein Name von der Liste gestrichen? »Ich gehe«, sagte ich zu Ben. Im Haus machte ich mich nützlich, räumte den Salon auf, brachte benutztes Geschirr und alte Essensreste hinaus und setzte Tee auf. Ich war gerade damit fertig, den Kaminsims mit zusammengeknülltem Zeitungspapier abzustauben, da hörte ich Getrappel in der Halle. Der Familie hatte sich Dr. Melrose angeschlossen, der Onkel Merlin auf dem Sterbebett behandelt hatte. Er ging umher, schüttelte Hände und entschuldigte sich, daß er erst gegen Ende der Beerdigung kommen konnte. »Ich bedaure, daß ich Mr. Grantham nicht von größerer Hilfe sein konnte«, bemerkte er zu Onkel Maurice. »Die Lungenentzündung gab zwar den Ausschlag, aber der Mann war schwer herzleidend. Sehr leichtsinnig von ihm, nicht früher ärztliche Hilfe zu suchen. Er muß es geahnt haben.« »Aber wenn nichts mehr zu machen war«, sagte Tante Astrid, »und angesichts der Tatsache, daß trotz der Krankenkasse immer Ausgaben entstehen …« Der Pfarrer, Mr. Rowland Foxworth, traf ein und kondolierte mit wohltönender Stimme. Ein attraktiver Mann, mit vorzeitig ergrautem braunen Haar, kräftigen Augenbrauen und warmen grauen Augen. Er war wesentlich größer als Ben. Ich betrachtete Ben nachdenklich, während der Tee eingeschenkt wurde. Mr. Foxworth und der Arzt waren eben gegangen, da läutete die Türklingel und kündigte den Mann an, auf den wir alle warteten, Mr. Wilberforce Bragg, Rechtsanwalt und Notar von der Kanzlei Bragg,
Wiseman und Smith. Um der Familie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ich glaube, wir gaben ein reizendes Bild ab. Niemand saß da und wetzte die Krallen oder schmatzte auffällig mit den Lippen. Mr. Bragg war ein Mann in den Sechzigern von zerfließend rundlicher Gestalt wie sehr weicher Teig. Seine Gesichtshaut war ein zerfurchtes Netzwerk roter Aderchen, seine Haare sahen nicht so aus, als wären sie in der letzten Woche gekämmt worden, und sein Jackett sowie seine Hosenbeine waren fünf Zentimeter zu kurz. »Seine Mutter hat nicht gedacht, daß er so schnell rauswächst«, flüsterte Freddy, schielte mit Bedauern nach dem Sherry und nahm sich eine Tasse Tee. »Können wir anfangen?« Mr. Braggs blaurote Lippen teilten sich zu einer Art Lächeln und er setzte eine Halbbrille auf. »Meine Damen und Herren, wir sind heute hier zusammengekommen …« Ein Pochen an der Tür unterbrach ihn und hereingeschlurft kam der alte Gärtner. Er drehte die Mütze in den knotigen Händen, seine Augen wanderten zwischen uns umher. »Ich hörte, ich werde hier gewünscht, Euer Ehren.« »Sie sind Jonas Alfred Phipps? Ganz recht, mein Guter, wir legen Wert auf Ihre Anwesenheit.« Mr. Bragg nickte in der huldvollen Manier eines Mannes, der sich über Klassenunterschiede erhaben weiß. Tante Astrid teilte diese gesellschaftliche Toleranz keineswegs. Stirnrunzelnd beobachtete sie, wie der Gärtner seine schmutzigen Stiefel an der Türschwelle abtrat und zog ihre Röcke beiseite, als er hinter sie stapfte, um seinen Platz am Rand der Gruppe einzunehmen. »Wenn wir dann jetzt so weit sind«, drängte der Notar, »beginne ich mit der Testamentseröffnung: ICH, MERLIN PERCIVAL GRANTHAM,
IM
VOLLBESITZ
MEINER
GEISTESKRÄFTE,
ERKLÄRE DIES ZU MEINEM LETZTEN WILLEN, DURCH DEN ALLE ANDEREN TESTAMENTE UND VERFÜGUNGEN AUSSER KRAFT GESETZT WERDEN.
ERSTENS: ICH ERNENNE DIE STIRLING TREUHAND AG ZU MEINEN TESTAMENTSVOLLSTRECKERN UND WEISE SIE HIERMIT AN, ALLE BERECHTIGTEN FORDERUNGEN AN MEINEN BESITZ ZU BEGLEICHEN. ZWEITENS: NACH ERLEDIGUNG ALLER VERBINDLICHKEITEN WEISE ICH MEINE TESTAMENTSVOLLSTRECKER AN, MIT MEINEM NACHLASS WIE FOLGT ZU VERFAHREN: A. JONAS PHIPPS, DEM EINZIGEN DIENER, DER TOLLKÜHN GENUG WAR, IN MEINEN DIENSTEN ZU BLEIBEN, HINTERLASSE ICH IN DANKBARKEIT FÜR DAS VERGNÜGEN, DAS ER MIR BEREITET HAT, INDEM ER AUS MEINEM GRUND UND BODEN EIN AUSSTELLUNGSGELÄNDE FÜR UNKRÄUTER MACHTE, DIE SUMME VON EINTAUSEND PFUND UND DAS RECHT, SEIN LEBEN LANG IN DEN RÄUMEN ÜBER DEN STALLUNGEN AUF MEINEM GRUNDSTÜCK ZU WOHNEN.« Der Empfänger dieser großzügigen Gabe senkte den Kopf und sagte: »Ergebensten Dank, Euer Ehren.« Mr. Bragg fuhr fort: B.
MEINEM VETTER DRITTEN GRADES MAURICE FLATTS, DER SICH EINZIG DADURCH HERVORTUT, FRAUEN NACHZUSTEIGEN, DIE JUNG GENUG SIND, SEINE TÖCHTER ZU SEIN, HINTERLASSE ICH EIN PAAR PANTOFFELN. Gemurmel erhob sich, Tante Lulus Stimme übertönte alle anderen. »Schmeißt es ins Feuer. Verbrennt das Testament!« Onkel Maurice sah aus, als stünde er dicht vor einem Herzanfall. »Verleumdung! Ich werde, ich werde … vor Gericht gehen!«
Der Notar erhob die Hand. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, meine Damen und Herren, daß es völlig unerheblich ist, ob ich dieses Dokument billige oder mißbillige. Rechtlich ist es wasserdicht. Jeder, der versucht, es anzufechten, hat enorme Kosten zu gewärtigen und äußerst geringe Erfolgsaussichten. In dieser Hinsicht bin ich meiner Sache sicher. Das Testament wurde von mir aufgesetzt und ich schmeichle mir, einer der kenntnisreichsten Experten für Erbschaftsangelegenheiten in diesem Teil des Landes zu sein. Merlin Granthams Wünsche sind gültig.« »Sie meinen, es kommt noch schlimmer?« Leichtfuß Freddy klang ausnahmsweise völlig vernünftig. Der Anwalt blätterte in dem Schriftstück. »Ich dulde keine weiteren Unterbrechungen, oder ich werde das Testament öffentlich verlesen lassen, vor Richter Abernathy. C. LUISE EMILY FLATTS, DIE BEI EINER UNVERGESSLICHEN GELEGENHEIT DEM FAMILIENNAMEN SCHANDE MACHTE, INDEM SIE IM GEMEINDESAAL VON ST. MARY’S-AT-THE-MILL BEIM ROMMÉ BETROG, HINTERLASSE ICH EIN UNGEZINKTES KARTENSPIEL. D. MEINEM ENTFERNTEN (LEIDER NICHT WEIT GENUG) VETTER VIERTEN GRADES FREDERICK GEORGE FLATTS, DER ARMUT FÜR EINE MYSTISCHE ERFAHRUNG HÄLT, HINTERLASSE ICH EINE LEERE GELDBÖRSE. E.
MEINER VERWANDTEN VANESSA FITZ-GERALD, DIE ES LUSTIG FAND, SICH AUF DER SYLVESTER-’FETE’ DES VEREINS DER PFARRER IM RUHESTAND NACKT ZUR SCHAU ZU STELLEN, HINTERLASSE ICH ETWAS, DAS SIE HOFFENTLICH EBENSO LUSTIG FINDET — EINEN OVERALL.
F. MEINER VERWANDTEN ASTRID ROSE FITZ-GERALD, DIE DAS ENDE IHRES UNGLÜCKSELIGEN GATTEN BESCHLEUNIGTE, INDEM SIE STÄNDIG NÖRGELTE, VERSCHWENDERISCHEN GEBRAUCH VON KREDITKARTEN MACHTE UND UNERSÄTTLICH IN IHREM SEXUELLEN VERLANGEN WAR, HINTERLASSE ICH EINEN JAHRESVORRAT AN SÜSSSTOFF.« Ihre Augen erstarrten zu einem gräßlichen Basiliskenblick. Tante Astrid stieß einen Schrei aus, der laut genug war, um Onkel Merlin in seinem Grab zu erschrecken, versuchte, sich auf den Anwalt zu stürzen und sank in eine tiefe Ohnmacht. »Mama! Benimm dich einmal deinem Alter entsprechend.« Vanessa schaute voller Verachtung auf ihre leblose Mutter, unternahm jedoch nichts, sie wieder zu sich zu bringen. Ihre elegante Hand zitterte etwas, als sie ihrer Handtasche eine Schachtel Zigaretten entnahm, sich eine ansteckte und den Rauch tief einsog. Tante Lulu und Onkel Maurice verharrten ungerührt, der Anwalt machte tz-tz. Der Gärtner stand da und starrte auf seine Stiefel. Der Rest von uns scharte sich um die Bewußtlose. Tante Sybil holte eine gefährlich aussehende Flasche Riechsalz hervor und preßte sie der Leidenden unter die Nase. Tante Astrid erwachte für einen Moment zum Leben, schrie »Bringt ihn um! Bringt das Schwein um!« und versank wieder in Bewußtlosigkeit. Mr. Bragg erbleichte, vielleicht war ihm unklar, ob sie ihn oder Onkel Merlin meinte. Wir kamen überein, Tante Astrid aufs Sofa zu packen, in eine Wolldecke einzuwickeln und ausschlafen zu lassen. »Wenn ich jetzt fortfahren könnte.« Mr. Bragg schaute auf seine Taschenuhr und räusperte sich. G. MEINER KUSINE SYBIL AGATHA GRANTHAM,
OHNE DEREN
GRAUENVOLLE KÜCHE ICH NOCH AM LEBEN SEIN KÖNNTE, JEDOCH EINGEDENK IHRER (UNGEBETENEN) HINGABE, HINTERLASSE ICH MEINEN BESITZ KLIPPENBLICK UND DIE SUMME VON ZEHNTAUSEND PFUND.
Aller Augen hingen jetzt an Tante Sybil. Sie schien zu schlucken, dann merkte ich, daß sie eines der Kirchenlieder von der Beerdigung summte. Nun, sie hatte über fünfzig Jahre lang im Hause dieses Mannes gelebt; sie war seinen Spott gewohnt. Vielleicht war Summen für sie eine Art geistiges Oropax. Mr. Bragg blätterte eine Seite um und erhob die Hand, um zur Ordnung zu rufen. Als Nächste müßte ich drankommen. Was hatte mir wohl der liebe alte Onkel vermacht, ein Antragsformular für einen neuen Körper? Das Feuerchen hatte den Geist aufgegeben und ich, die ich sonst ein so warmblütiges Fohlen war, fröstelte bis ins Mark. Nach erneutem, verstohlenen Blick auf seine Uhr fuhr Mr. Bragg fort: GISELLE SIMONS UND BENTLEY HASKELL HINTERLASSE ICH ZU GLEICHEN TEILEN MEINEN GESAMTEN VERBLEIBENDEN BESITZ. Jemand schnappte nach Luft: War ich’s oder Ben? UND
ZWAR
UNTER
FOLGENDEN
BEDINGUNGEN:
1.DASS GISELLE SIMONS UND BENTLEY HASKELL FÜR DIE DAUER VON SECHS MONATEN BEGINNEND VOM TAGE MEINES ABLEBENS IN MEINEM HAUSE IHREN WOHNSITZ NEHMEN. 2.DASS GISELLE SIMONS INNERHALB DER GENANNTEN SECHS MONATE SECHZIG PFUND UND NICHT EIN PFUND WENIGER AN KÖRPERGEWICHT ABNIMMT UND DIES DURCH ÄRZTLICHES ATTEST NACHWEIST. 3.DASS BENTLEY HASKELL EIN BUCH ÜBLICHER LÄNGE SCHREIBT UND FERTIGSTELLT UND DASSELBE INNERHALB DER
GENANNTEN SECHS MONATE EINEM ANGESEHENEN VERLEGER VORLEGT, UND DAS GENANNTE MANUSKRIPT DARF NICHT EIN WORT BLASPHEMISCHEN ODER OBSZÖNEN CHARAKTERS ENTHALTEN. MEIN GESCHÄTZTER ANWALT, MR. WILBERFORCE BRAGG, HAT SICH BEREIT ERKLÄRT, DIESES MEISTERWERK ZU LESEN UND DABEI ZU SEIN, WENN ES DER POST ÜBERGEBEN WIRD. 4.DASS GISELLE SIMONS UND BENTLEY HASKELL, EINZELN ODER ZUSAMMEN, DEN SCHATZ ENTDECKEN, DER MIT MEINEM HAUS VERBUNDEN IST. DIE ANTWORT AUF DIE SCHATZSUCHE IST IN EINEM VERSIEGELTEN BRIEF NIEDERGESCHRIEBEN, ER BEFINDET SICH IM BESITZ MEINES ANWALTS, MR. WILBERFORCE BRAGG, UND SOLL SECHS MONATE NACH MEINEM ABLEBEN GEÖFFNET WERDEN. IM FALLE, DASS ES GISELLE ODER BENTLEY NICHT GELINGT, INNERHALB DER FRIST ALLE VIER BEDINGUNGEN ZU ERFÜLLEN, SO GEHEN SIE IHRES ERBTEILS VERLUSTIG UND DIESES SOLL ZU GLEICHEN TEILEN AN MAURICE FLATTS, LOUISE EMILY FLATTS, FREDERICK GEORGE FLATTS, VANESSA FITZ-GERALD UND ASTRID ROSE FITZ-GERALD ODER AN IHREN ODER IHRE ÜBERLEBENDEN GEHEN.
Verblüfftes Schweigen überschwemmte den Raum. Freddy holte röchelnd Luft. Dann hielt er ein Weinglas hoch und schwenkte es in die Runde. »Einen Trinkspruch!« rief er. »Auf den teuren toten Onkel Merlin, einen großen Sportsfreund. Das Spiel hat soeben begonnen.« »Ja«, stimmte Vanessa zu und ihre Lippen verzogen sich zu einem säuerlichen Lächeln, »und zwar mit allen Mitteln!«
Sieben Ben und ich beschlossen, am Abend nicht nach London zurückzufahren. Wir brauchten Zeit zum Reden. Tante Sybil erklärte sich mit sehr kühler Stimme einverstanden, noch ein paar Tage zu bleiben, bis das Häuschen für sie hergerichtet war. Aber sie ging, kaum daß der letzte die Haustür hinter sich zugeknallt hatte, sofort auf ihr Zimmer. Zuvor hatten alle unser Angebot, sie für die Nacht zu beherbergen, verschmäht. Während der späte Nachmittag die Fenster verdunkelte, blieb als einziger der Rechtsanwalt bei uns und auch er konnte es kaum erwarten, fortzukommen. Immer wieder schaute er auf die Uhr. »Sie werden jeder eine Kopie des Testaments bekommen«, sagte Mr. Bragg. »Und hier ist die Verfügung, die Ihr Onkel mir übergab in bezug auf die Ausrichtung der Beerdigung. Ich habe mich bemüht, sie zu erfüllen. Wie Sie sehen werden, ist sie ebenso exzentrisch wie das Testament.« Ich reichte Ben das Schriftstück und er las vor: »Ich, Merlin Grantham, bitte darum, daß mir die gleiche Art Beerdigung zuteil wird wie meiner Mutter, Abigail Grantham.« Ben pfiff. »Ein sentimentaler alter Kauz, was?« »Ich bin Mr. Grantham nur einmal begegnet, als er mich wegen seines Testaments aufsuchte, und da fühlte er sich gar nicht wohl, er hustete dauernd in sein Taschentuch.« Mr. Bragg sah sich nach Handschuhen und Mantel um. »Natürlich tat ich, was ich konnte, aber die Beerdigungsanweisungen stellten mich vor eine unlösbare Aufgabe.« Unzufrieden schürzte er die Lippen. »Miss Sybil Grantham erinnert sich daran, zur Zeit der Beerdigung ihrer Tante in diesem Haus gewesen zu sein, aber sie war damals ein Kind von fünf oder sechs Jahren.
Sie weiß noch, daß eine Kutsche mit Pferden verwendet wurde, aber die übrigen Einzelheiten sind so tot wie Merlin und seine Mutter.« »Ziemlich nachlässig von Onkel Merlin, so unpräzise zu sein.« Ich nahm Ben das Blatt ab und faltete es zusammen. »Aber ich nehme an, er hatte anderes im Kopf — die Schulbubenstreiche für sein Testament.« »Unrühmlich, aber alles rechtlich unangreifbar.« Mr. Bragg knöpfte seinen Mantel zu. »Machen Sie sich da nichts vor. Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück. Mögen Sie den Schatz finden und Ihr Leben lang glücklich sein. Tja, ich muß gehen. Wie im letzten Absatz des Testaments steht, erhalten Sie in der sechsmonatigen Zwischenzeit die Einkünfte aus den Vermögenserträgen Ihres Onkels.« »Gute Nacht.« Wir brachten ihn zur Tür und entließen ihn in den aufkommenden Sturm und das dräuende Unwetter. Jetzt kam der Moment der Wahrheit. »Du kannst dir das satte Schmunzeln von der Backe putzen.« Ben ging in den Salon voraus. »Ich denke nicht daran, mich zu so einer Posse verleiten zu lassen oder meine Integrität aufs Spiel zu setzen, nur um …« »Du würdest nicht so edel tun, wenn du meintest, du hättest auch nur den Hauch einer Chance, an die Knete zu kommen.« Ich warf ein Kissen aus einem der Kaminsessel, setzte mich und feixte Ben, der sich in dem Ohrensessel gegenüber räkelte, trotzig an. »Hört euch die an! Ich verwette meinen ganzen Anteil an der Beute, daß ich meinen Teil der Abmachungen erfüllen kann, während du dich immer noch mit Sahnetorte vollstopfst und flötest« — er hob die Stimme zu einem gräßlichen, gequetschten Gezirpe — »Nur noch eine winzig kleine Freßorgie und morgen oder spätestens nächste Woche fange ich ganz bestimmt — ich schwöre
beim heiligen Bimbam — mit der Diät an.« »Da haben wir’s!« rief ich triumphierend. »Du bist außerstande, zwei Sätze aneinanderzufügen, ohne etwas Unanständiges oder eine Gotteslästerung einzuflechten. Wohingegen ich, wenn ein Ansporn da ist, eine Frau von großer Willenskraft bin.« »Daß ich nicht lache!« Ben tat genau das — die elende kichernde Kreatur. »Du hast doch deine Knie zum letzten Mal gesehen, als du zwei Jahre alt warst.« »Deine boshaften Spitzen sind nicht mal originell. Ich nehme an, was du schreibst, ist genauso banal.« Ich erhob mich und deklamierte mit ausgebreiteten Armen: »Unser strammer Held Porno Hartkern riß der sinnenbetörenden süßen Rita Reizend die Kleider vom sträubenden Körper, preßte seine gierige Hand auf ihre kurvenreiche Piep-piep-piep und gröhlte: ‘Hey, Zuckerpuppe, ich bin ganz scharf darauf, dir die Pieppiep-piep zu piep-piep!’« Bens Lippen zitterten. »Du sagst es. Ich schreibe Spionagegeschichten und damit sie glaubhaft wirken, müssen die Figuren sich anhören wie richtige Menschen. Heutzutage säuselt niemand ‘Nein, wie ungezogen!’, wenn ein Krokodil das Flußufer raufkriecht und ihm das linke Bein abbeißt.« »Das ist wahr«, sagte ich, ließ mich wieder in den Sessel plumpsen und langte geistesabwesend nach einem übriggebliebenen Stück Früchtekuchen, es war trocken wie die Sahara. »Aber da gibt es einen einfachen Ausweg. Du verlegst deine Geschichte in eine andere Epoche. Das achtzehnte Jahrhundert war reichlich sittenlos, du fährst besser mit der Viktorianischen Ära; wenn man sich da wie ein Gentleman benahm, war man nicht zwangsläufig impotent oder …« Ben schüttelte den Kopf. »Das erlegt meinem Genre zu viele Beschränkungen auf. Eine Spionagegeschichte
braucht die Schnelligkeit von Funkübertragung, Flugreisen, chemischer Kriegführung und allen Raffinessen heutiger Spionage, Atomgeheimnisse, politische Intrigen …« »Na schön.« Ich brach noch ein Stück von dem Früchtekuchen ab. »Wenn du darauf bestehst, im zwanzigsten Jahrhundert zu bleiben, dann muß dein Held aus einer anderen Welt kommen.« »Toll«, sagte Ben und warf ein zerknülltes Stück Papier in den Kamin. »Ich mache aus ihm ein spitzohriges kleines grünes Männchen vom Mars mit einer Transistorbatterie im Leib und …« »Mußt du alles wörtlich nehmen? Mit ‘aus einer anderen Welt’ meinte ich, gib deinem Helden eine andere Gestalt als Mr. Durchschnittsspion mit hochgeklappten Trenchcoatkragen und Schlapphut. Mach aus ihm einen Universitätsprofessor mit einer Leidenschaft für Keats oder einen Opernsänger mit Kehlkopfkatarrh. Mach aus ihm eine Frau.« Bens Augen blitzten auf. »Ellie«, sagte er, »du bringst mich auf eine Idee.« Ich streckte meine Hand aus. »Die Hälfte der Tantiemen?« »Nichts zu machen.« Ben stand auf und tigerte zwischen unseren beiden Sesseln hin und her. »Nach Ablauf der sechs Monate möchte ich Onkel Merlin zeigen, was eine Harke ist und ihm sagen, wo er sich seine Erbschaft hinstecken kann. Eine Zeitlang ein Dach über dem Kopf ist eine Sache, aber …« Ein Pochen an der Tür unterbrach mein Triumphgeheul über Bens augenscheinliche Kapitulation. Herein kam Jonas Phipps, mit gesenktem Kopf und dem unvermeidlichen ramponierten alten Hut in den Fingern. Im Halbdunkel vermochte ich vom Gesicht des Gärtners nur die buschigen grauen Augenbrauen und den
stoppeligen Scheuerbürsten-Schnurrbart zu erkennen. Elektrizität war eine der ersten Annehmlichkeiten, die ich Merlins Schloß angedeihen lassen würde. Die Rolle der Gutsherrin war mir völlig neu und so wußte ich nicht, wie ich dieses alte Faktotum anreden sollte. Tante Astrid hätte gesagt: »Wollen Sie den ganzen Tag da stehen und glotzen? Heraus mit der Sprache!« »Ja, Jonas«, sagte Ben und bot die Hand. »Können Miss Simons und ich irgendwas für Sie tun?« »Soll ich so wie sonst im Häuschen schlafen, Sir? Wo es doch jetzt von Rechts wegen Miss Grantham gehört, will ich nichts tun, was ihr gegen den Strich geht, aber in den Räumen über den Ställen ist kein Bett und mein Ischias spielt wieder verrückt und da dachte ich, Sir …« »Kein Problem. Miss Grantham verbringt die Nacht in ihrem alten Zimmer. Ellie und ich haben das noch nicht besprochen, aber es ist eine Gemeinheit, daß die alte Dame entwurzelt werden soll — es sei denn, sie möchte ihre eigenen Räumlichkeiten für sich haben. Bestimmt sind Sie nicht gerade froh darüber, aus Ihrem Heim rausgeworfen zu werden. Auf jeden Fall bleiben Sie in dem Häuschen, bis eine Entscheidung gefallen ist.« »Ich will nicht gegen das Testament verstoßen, Sir.« Phipps war wohl ein schlichtes Gemüt, besessen von abergläubischer Furcht, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ganz zu schweigen von Onkel Merlins unzufriedenem Geist. »Haben Sie schon gegessen, Mr. Phipps?« fragte ich. »Ich glaube, in der Küche ist noch etwas kaltes Roastbeef.« »Nein, Herrin, ich koche mir meine eigenen Mahlzeiten. Dann werde ich mich mal auf den Weg machen und besten Dank auch Ihnen beiden, daß Sie mich angehört haben.« Der alte Mann machte einen Diener und ging rückwärts aus dem Zimmer.
»Das ist das richtige Leben«, gähnte Ben, »komplett mit treuem Diener und einer alten Jungfer als Anstandsdame.« »Fürchte dich nicht«, sagte ich, »deine Tugend ist vor mir sicher. Sag mal — war Sittsamkeit der Grund, warum du vorgeschlagen hast, daß Tante Sybil hier bleibt?« »Ich finde es eine Gemeinheit, das arme alte Mädchen vor die Tür zu setzen, nachdem sie immer hier gewohnt hat. Und jawohl, Ellie, ich habe wirklich das Gefühl, die Anwesenheit einer dritten Person im Haus sorgt für ein wenig« — er suchte nach dem richtigen Wort — »Ausgeglichenheit.« »Wenn du so um deine Tugend besorgt bist«, zischte ich, »kannst du jederzeit einen Eisenriegel an deiner Schlafzimmertür anbringen lassen und die Kommode davorschieben.« Ben schloß die Augen und knirschte mit den Zähnen. Die Muskeln an seinem Hals traten wie Seile hervor. »Können wir kein Gespräch führen, ohne daß du auf dein hohes Roß steigst? Zwei Personen, die allein in einem Haus leben, das ist auch ohne jegliche romantische Schwärmerei einfach eine kitzlige Situation.« »Sehr!« Ich versetzte dem armseligen Feuerchen einen Hieb mit dem Feuerhaken. »Aber diese kitzlige Situation hat auch ihre angenehmen Seiten — sechs Monate Kost und Logis umsonst, ganz zu schweigen von der Chance, den großen Preis zu gewinnen: die Hälfte des Familienanwesens, ein beträchtliches Bankkonto, Wertpapiere und wer weiß was sonst noch? Alles, Mr. Bentley Haskell, weil mein Onkel annahm, daß Sie mit mir verlobt sind!« »Willst du damit andeuten«, grollte Ben, »daß, sollte ich in den Besitz all dieser weltlichen Güter gelangen, Ehre und Anstand mir gebieten, dich zu ehelichen?« »Wenn ich es recht bedenke«, ich schwang den
Feuerhaken drohend in seine Richtung, »solch Verhalten würde einem Gentleman wohl anstehen. Die Wünsche des teuren Onkels sollten uns eine heilige Pflicht sein und die Achtung vor seinem Angedenken könnte mich dazu bewegen, meine feineren Gefühle zu opfern. Auf die Knie, junger Mann!« Ben entwand mir den Feuerhaken und verkniff sich mühsam das Lachen. »Du bist eine Schafsnase«, sagte er. Perverserweise klang das wie ein Kompliment, doch ich ließ mir die Schmeichelei nicht zu Kopfe steigen. »Aber nicht solch eine Schafsnase, daß ich mit dir den Bund fürs Leben schließe. Offen gestanden, du bist nicht mein Typ, und wenn ich erst mal Haut und Knochen bin, suche ich mir das Beste aus. Der Pfarrer zum Beispiel kommt in Frage — ansehnlich, intelligent, unterhaltsam — aber ich bin nicht in Eile.« »Für meinen Geschmack war er eine Spur zu jovial.« Bens Anflug von guter Laune hatte sich verflüchtigt und er stellte den Feuerhaken an seinen Ort. »Aber dein Leben gehört dir. Ich bin froh, daß wir die Karten auf den Tisch legen. Denn weißt du, da ist ein Mädchen in London, dem ich verbunden bin.« »Wie altmodisch«, sagte ich leichthin. »Hört sich an wie ein Bund, den Familien schließen, wenn ihre Sprößlinge noch in der Wiege liegen. Wird dein süßes junges Ding nichts dagegen haben, daß du mit mir zusammenziehst?« »Nicht unter diesen Umständen. Susan ist sehr tolerant.« »Das muß sie auch sein. Natürlich wird sie auch von unserem Abkommen profitieren. Mit ein bißchen Glück kann ich dich mit einer stattlichen Mitgift übergeben.« »Susie … Susan ist nicht käuflich. Du würdest sie mögen. Aber werden die Einheimischen gegenüber einem jungen Paar, daß ohne den Segen der Kirche
zusammenlebt, genauso tolerant sein? Dein Pfarrer zum Beispiel wird es kaum gutheißen.« »Ben, du überraschst mich. Langsam schwant mir, daß du neben deinen anderen Komplexen ein heimlicher Konformist bist. Hast du Angst, du wirst vom örtlichen Moralverein aus der Dorfschenke geschmissen? Wenn ich die Wahl habe, entweder ständig über Tante Sybil zu stolpern oder einen schlechten Ruf zu haben, weil ich in Sünde lebe, entscheide ich mich für das letztere! Beruhige dich, Lanzelot, niemand kann mich ernsthaft für einen Vamp halten.« »Ausnahmsweise«, schnaubte Ben wütend, »unterschätzt du dich. Du hast zugegeben, du hast ein Auge auf den ahnungslosen Pfarrer geworfen.« »Schon, aber ich werde mich beherrschen, bis ich nur noch ein Schatten meiner selbst bin. Bis dahin hast du dein Meisterwerk geschrieben und es wird Zeit, das Haus zu verkaufen und den Gewinn zu teilen.« »Wie zuvorkommend von dir. Aber Ellie, du übersiehst eine Bedingung in dem Testament, die vielleicht sogar deine Findigkeit überfordert — die Entdeckung des Schatzes.« Ben tigerte wieder auf und ab. Seine Augen unter den zusammengezogen schwarzen Brauen glommen wie blaugrüne Opale. »Wenn der alte Merlin nach den Regeln gespielt hätte, dann hätte er uns Hinweise gegeben.« »Was erwartest du?« höhnte ich. »Gereimte Distichen in unsichtbarer Tinte auf elfenbeinfarbenem Pergament?« »Das wäre jedenfalls längst nicht so hirnrissig wie eine wahllose Suchaktion in diesem Labyrinth von einem Haus. Wir würden Monate damit zubringen, alle Wandtäfelungen und Fußböden nach Hohlräumen abzuklopfen oder alte Sekretäre und Büffets nach Geheimfächern aufzubrechen.«
Das leuchtete mir ein. Aber vielleicht hatten wir Onkel Merlin unterschätzt. Ein Gefühl sagte mir, daß wir noch nicht zum letzten Mal vom Verstorbenen gehört hatten. »Nun sei nicht so niedergeschlagen.« Zu meiner Überraschung streckte Ben die Hand aus und berührte leicht mein Gesicht, leider nur eine kameradschaftliche Geste. »Ich weiß, ich höre mich an wie ein Spielverderber«, fuhr er fort, »aber ich muß sagen, wenn ich mich schon auf so ein schwachsinniges Unternehmen einlasse, dann lieber mit dir als irgend jemand sonst. Zusammen werden wir einen genialen Schlachtplan entwerfen.« Ben und ich gingen für die Nacht freundschaftlich auseinander, nachdem wir übereingekommen waren, am nächsten Morgen nach London zurückzufahren, um alles zu regeln. Für mich bedeutete das, meine Möbel der Heilsarmee zu spenden und meinem Chef zu raten, ein Schild »Arbeitskraft gesucht« ins Schaufenster zu hängen. So hatte ich im Geiste mein bisheriges Leben abgehakt und lag nun in dem geräumigen Doppelbett, das ich schon bei meinem letzten Besuch bewohnt hatte, und dachte nach über Ben und seine Freundin Susan. Ob sie wohl nur eine Ausgeburt der Phantasie war, erfunden, um die Rolle einer emotionalen Anstandsdame zu spielen? Möglich, aber ein Mann, der so attraktiv war wie Bentley Haskell, war bestimmt nicht ohne Frau in seinem Leben. Die Verlobte mochte durchaus existieren, aber würde er ihr über eine Abwesenheit von sechs Monaten hinweg unverändert treu und ergeben bleiben? Er konnte die Dame schlecht auf Merlins Schloß einladen, während er vorgeblich mit mir verlobt war und die Schatzsuche würde hoffentlich wenig Zeit für Spritztouren nach London lassen. Ich schlief ein und träumte von meinem neuen Ich. »Habt ihr sie gesehen?« raunte ein Chor lebender Klöße.
»Meine Güte, ist das Mädchen dünn — ausgemergelt. Steht ihr überhaupt nicht! Ihre Strümpfe schlottern ihr um die Knie. Ihr hättet sie sehen sollen, als sie noch gut gepolstert war. Sie hatte so ein hübsches Gesicht!« Diese Schmeichelei war so angenehm, daß ich gar nicht aufwachen wollte. Aber mein Fenster war nicht richtig zu und heftige Zugluft blies über mich hinweg. Ich schüttelte das schöne Hirngespinst ab, tapste durchs Zimmer und teilte die Vorhänge. Heute nacht schien kein Mond. Als ich nach dem Fensterriegel griff, durchstach ein feiner Lichtstrahl die Dunkelheit. Der Gärtner mußte wach sein in seinem Häuschen, vielleicht ging er hinunter, um sich eine Tasse Ovomaltine zu machen. Eine sehr vernünftige Idee. Ich zog meinen Morgenmantel an, dankbar, nicht mehr mit einer Bettdecke vorlieb nehmen zu müssen, schlang den Gürtel um meine Mitte und ging hinaus auf den Treppenabsatz. Wenigstens würde ich diesmal nicht mit Onkel Merlin in der Speisekammer zusammenstoßen. Die Abschaffung des veralteten Speiseaufzugs sollte eines meiner ersten Bauvorhaben werden. Meine Hand glitt an der glatten Kurve des Treppengeländers entlang; diese schöne Treppe mußte bewahrt und restauriert werden. Gängelte mich Onkel Merlin aus dem Grab heraus, wohl wissend, daß er meinen beruflichen Ehrgeiz angestachelt hatte? Mr. Bragg hatte betont, daß uns während unseres Aufenthaltes beträchtliche Mittel zur Verfügung stehen würden. Selbst nach bescheidenen Renovierungen konnte das Haus nur einen besseren Preis erzielen. In seinem gegenwärtigen Zustand von Verwahrlosung und Verfall war es nicht mal für Besetzer attraktiv. Die Küche war noch schlimmer als beim letzten Mal. Ich hatte mich vorher ihrem Anblick nicht gewachsen gefühlt und sie gemieden, indem ich Ben schickte, uns Abendbrot zu machen. Morgen, vor unserer Abfahrt,
würde ich die Ärmel aufkrempeln und viel heißes Wasser aufsetzen. Im Moment war ich noch nicht zu einer Attacke auf den Dreck bereit. Ich fand eine Dose mit Keksen und kochte mir einen starken Tee. Die Milch war sauer, also mußte ich ohne auskommen. Man konnte nur staunen, daß Onkel Merlin nicht Jahre, bevor ihn die Lungenentzündung ereilte, an Dauerdurchfall gestorben war. Tante Sybil war wirklich die Höhe. Die Wirkung meiner Mißbilligung war geradezu unheimlich: als wolle sie sich gegen die stummen Vorwürfe verteidigen erschien sie wie von Geisterhand auf der Türschwelle. Ich hörte ein stampfendes Geräusch und drehte mich im Stuhl um, da öffnete sich die Gartentür. »Tante Sybil«, rief ich, »was machst du denn da draußen mitten in der Nacht?« Sie schien für einen Augenblick aus der Fassung gebracht und fuhr sich mit flatternden Händen durch ihre miserable Dauerwelle. »Ach, Giselle, du bist’s«, sagte sie, als könnte es daran Zweifel geben. Sie erlaubte mir, ihr aus dem feuchten schwarzen Mantel zu helfen und schaute zu, wie ich ihn über einen Stuhl legte. »Ein Mädchen in deinem Alter sollte die Nacht durchschlafen. Wir alten Leute sind anders. Ich mache immer nur Nickerchen. Wenn ich nicht wieder einschlafen kann, stehe ich auf und gehe spazieren.« »Du mußt vorsichtig sein«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht, daß du dir eine Lungenentzündung holst.« »Nun reg dich nicht auf, Giselle. Ich brauchte einfach ein bißchen Luft. Außerdem wollte ich runtergehen und das Häuschen besichtigen, aber dann fiel mir ein, daß Jonas noch drin ist.« Sie setzte sich und ich goß ihr eine Tasse Tee ein. Als sie trank, bemerkte ich, daß die Haut ihrer Hände so trocken und rissig war wie zerbröselndes Herbstlaub. »Tante Sybil, du brauchst nicht auszuziehen. Das hier ist
dein Heim. Ben und ich sind die Eindringlinge.« »Das ist sehr freundlich von dir, Giselle.« Geistesabwesend summte sie ein Stückchen aus Merlin Granthams Beerdigungschoral, bevor sie ihre ausdruckslosen fahlen Augen auf mich richtete. »Aber die Wünsche des lieben Merlin sind stets auch meine. Daß er euch das Haus hinterlassen hat, sagt nichts über seine Gefühle für mich. Er war der Meinung, das wird mir hier alles zu viel. Zeit für mich, das Leben gemächlicher anzugehen und mich mit meinem Strickzeug hinzusetzen. Was er auch im Testament gesagt hat, Merlin hat meine Bemühungen immer anerkannt.« Ich vermied es so gut ich konnte, meine Blicke über das gewaltige Chaos schweifen zu lassen. Tante Sybil lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und faltete die abgearbeiteten Hände auf dem verkrumpelten, fleckigen Kleid. Sie dankte als Gutsherrin ab und übergab die Schlüssel der neuen Generation. »Ja«, sagte ich und gab mir Mühe, meine Erleichterung zu verbergen, »dann erwarten wir dich oft bei uns zum Mittagessen oder zum Tee, und wir werden dich auch oft besuchen.« »Merlin würde das erwarten«, gab sie zurück, »aber wir wollen damit warten, bis wir beide uns häuslich niedergelassen haben. Apropos häuslich, werdet ihr, Mr. Hamlet und du, bald heiraten?« »Vorerst nicht.« Ich stellte klappernd die Teetassen zusammen und räumte sie ab. »Ben findet, wir sollten bis zum Ende der sechs Monate warten. Wir wollen unser Leben erst in Ordnung bringen, damit wir die Hochzeit genießen können.« »Ich verstehe.« Tante Sybil nickte. Für sie war klar: ein Mitgiftjäger ließ mich so lange zappeln, bis er sicher sein konnte, daß unsere Heirat eine solide Kapitalanlage war. »Dir ist doch wohl klar«, warnte sie, »daß die Leute reden
werden, wenn ihr zwei hier zusammenlebt? Obwohl Merlin und ich sogar Cousin und Cousine sind — waren, haben die Dorfbewohner auch über mich getuschelt. Oh ja, aber das hat mich nie gekümmert. Und warum nicht? Weil ich voller Stolz sagen kann, daß in all den gemeinsamen Jahren dein Onkel mir nie zu nahe getreten ist. Benimm dich wie eine Dame, Giselle, und du wirst immer vor Männern sicher sein.« Jetzt wußte ich endlich, was ich falsch gemacht hatte. »Denke daran, meine Liebe, wenn du dich hinlegen mußt — außer um zu schlafen, natürlich —, tu es mit einem guten Buch. Ich lese gerade eine reizende Geschichte über ein Mädchen, das von einem Piraten mit einem einbeinigen Papagei aus einem Nonnenkloster entführt wird. Erinnere mich bei Gelegenheit daran, es dir zu leihen. Selbstverständlich ziehe ich William Shakespeare vor, wenn ich etwas mit mehr Tiefgang möchte, aber …« Als ich am nächsten Morgen herunterkam, überraschte ich Ben am Telefon. Aus seinem verstohlenen »Tschüs« und dem raschen Hörerauflegen schloß ich traurig, daß er mit seiner anderen Verlobten gesprochen hatte, aber ich würde ihn schon dazu bringen, sie zu vergessen. Auf unserer Fahrt zurück nach London erzählte ich ihm von Tante Sybil. »Die Frau macht mir Angst; vielleicht bin ich nach fünfzig Jahren in dem Haus genauso, ein taperiges Mauerblümchen, das sich immer noch fragt, was der Ritter in der schimmernden Rüstung wohl mit ihr täte, wenn er je von seinem Pferd stiege.« Ich wickelte eine Tafel Schokolade aus und biß heimlich davon ab, als Ben auf die Straße achten mußte. »Warum machst du dir nicht mal zur Abwechslung Gedanken über etwas ganz Reales wie zum Beispiel
deine Tausche-Pfunde-gegen-Pfund-Sterling-Diät. Sag mal, warum hast du plötzlich solche Hamsterbacken? Muß ich denn jede Minute auf dich aufpassen?« »Tut mir leid.« Ich schluckte. »Aber ich möchte mal wissen, wie du reagieren würdest, wenn du sechzig Pfund abnehmen müßtest, das sind dreißigtausend Gramm, und sechs Monate á sechzig Portionen …« »Macht ungefähr zwei ein Drittel Pfund pro Woche. Gib den Rest der Schokolade her. Wenn du meine Chancen auf die Erbschaft zunichte machst, werde ich dich eigenhändig deinen Verwandten ausliefern und zusehen, wie sie dich in Stücke reißen.« »Du lehrst mich das Fürchten. Aber was wäre ein Abenteuer ohne den Kitzel der Gefahr?« Ich faltete das Schokoladenpapier zusammen und legte es in den Aschenbecher. »Darauf kann ich verzichten.« Bei der Rückkehr zum Queen Alexandra Place beunruhigte mich, wie wenig ich hinterließ und wie wenig ich einzupacken hatte. »Nimmst du das Ungeheuer mit?« fragte Jill. Tobias hatte ihr gerade das bestrumpfte Bein zerkratzt und so war sie ihm nicht sehr grün. »Wenn ja, werde ich dich vielleicht doch nicht besuchen, Ellie, mein Schatz.« »Ach, Jill, du mußt kommen.« Ich zwinkerte eine Träne weg, aber sie hätte sie ohnehin nicht bemerkt, denn ihre eigenen Augen schwammen. »Aber meinen Stubentiger zurücklassen«, fuhr ich fort und riß mich zusammen, »du machst wohl Witze. Er kommt in ein Mäuseparadies. Da vermehren sich Nager in jedem Schrank. Wir werden beide alle Pfoten voll zu tun haben.« ***
Merlins Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Bei unserer Rückkehr auf sein Schloß war Tante Sybil nach ‘Klippenblick’ umgezogen. Im Ausguß hatte sie einen rekordverdächtigen Stapel schmutzigen Geschirrs hinterlassen und in ihrem Schlafzimmer jede Menge kaputte Kartons, zerbrochene Kleiderbügel und Zeitungen, die bis zur Jahrhundertwende zurückreichten. Ein riesiger Scheiterhaufen tat not, weit genug vom Haus weg, damit wir nicht alle in Flammen aufgingen. Ben hatte — typisch Mann — bereits seine Schreibmaschine auf dem Eßzimmertisch deponiert, saß da und spannte Papier ein. Ihn umgaben diverse Gegenstände, die er auf dem Fußboden verteilt hatte, eine angeschlagene Suppenterrine, eine rote Samtdecke mit Troddeln, mehrere verstaubte Eierkartons, Zeitschriften, Kerzenleuchter und eine Churchillbüste mit abgebrochener Zigarre. Ich lehnte mich in den Türrahmen und zirpte süß: »Stellst du ein paar Sachen für den Wohltätigkeitsbasar zusammen?« »Was?« Ben strich sich über die Augenbrauen. »Weißt du noch, wer ich bin? Die andere Hälfte vom ‘Verdopple dein Geld’-Team, nicht das gesamte Unternehmen. Hörst du jetzt auf, die Maschine mit Frühstück zu füttern oder muß ich dir den Stuhl wegziehen?« »Was willst du denn von mir?« Ben blinzelte, schloß ein Auge und justierte sorgfältig die Randeinstellung. »Ich dachte, meine Selbstdisziplin würde dich beeindrucken. Noch keine halbe Stunde im Haus und schon mache ich die Finger krumm, um meine puritanische Geschichte zu beginnen. Es wird dir Genugtuung bereiten, daß ich deinen Rat angenommen habe. Mein Held ist eine Frau — noch dazu eine Nonne — Schwester Maria Grazia, eine Amerikanerin, die den C.I.A. unterwandert, und zwar
getarnt als Go-go-Girl. Wie findest du das?« »Ich finde, Schwester Dingsbums kann zur Hölle fahren und du kannst mir deine Autoschlüssel geben, damit ich im Dorf Proviant für den Belagerungszustand besorgen kann. Inzwischen kannst du dir eine Schürze umbinden und Dreck schippen. Wenn ich nicht aufpasse, stellst du deine Stiefel zum Putzen vor deine Schlafzimmertür.« »Du hast mir gar nicht gesagt, daß du Auto fährst«, sagte Ben angenehm überrascht. »Ich ernähre mich auch selber, nehme alleine ein Bad …« »Funkspruch empfangen und verstanden. Die Schlüssel hängen auf einem Nagel gleich neben der Stalltür; bring mir ein Vollkornbrot mit, ja?« Ich setzte es auf meine Liste. »Geh lieber von der Schreibmaschine weg«, sagte ich und wandte mich zur Tür. »Sie ist so eingestellt, daß sie in dreißig Sekunden explodiert.« Die Ställe waren seitlich vom Haus über einen Hof, von dem aus man auf den Schloßgraben blickte und einen pseudoromanischen Brückenbogen. Ich zog ein kurzes Wolljäckchen an, schlang meine Tasche über die Schulter und die Arme um mich selbst, um mich ein wenig zu wärmen und hastete über die glitschigen, moosbedeckten Steinplatten. Ich stieß die eisenbeschlagene Tür auf und meine Augen brauchten ein Weilchen, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Nachdem ich mir nur einmal den Kopf an einem Strebebalken gestoßen hatte und in etwas Weiches, Schwammiges gefaßt hatte (es waren Spinnweben), ortete ich die Autoschlüssel und wollte schon gehen, da bewegte sich etwas in einer der dunklen Ecken. Eine Fledermaus? Aber Fledermäuse sprechen nicht, wenn man mal von der Sorte absieht, die sich in Vampire
verwandelt, um einer schutzlosen Maid das Lebensblut aus den Adern zu saugen. Diese jedenfalls redete mich an. Ich pirschte mich zur Tür. Die Stimme tönte wirklich grabeshohl. »Wer da?« »Und wer da?« Ich riß die Tür hinter mir auf und ließ einen Strahl wässeriges Tageslicht ein. Ich konnte sein Gesicht sehen, das grauweiße Haar, den stoppeligen Scheuerbürsten-Schnurrbart. Kein ungewöhnliches Gesicht. Hunderte von Landstreichern, die sich im ganzen Land in Scheunen verstecken, sahen wahrscheinlich ähnlich aus — anonym. »Jonas Phipps! Geht denn jeder in diesem entsetzlichen Haus lautlos auf Luft? Ich weiß nie, wer als nächstes auftaucht und mich erschreckt.« »Nein, Herrin, sagen Sie nicht, ich habe Sie erschreckt. Es war genau andersrum. Ich wollte gerade ein wenig Luft schnappen, da hörte ich ein grauenvolles Quieken, wie ein Schwein, dem die Eingeweide rausgeschnitten werden.« »Das Schwein war ich. Ich habe mir den Kopf an einem Balken gestoßen.« Ich streckte die Hand nach dem Buch aus, das er halb versteckt unter dem Arm hielt. »Ich sehe, Sie waren beschäftigt, Mr. Phipps. Darf ich mal schauen?« »Och, nur ein frivoles Garn über ein leichtsinniges junges Ding, das in andere Umstände gerät durch so einen Tunichtgut, und von da an geht’s bergab mit dem armen Mädel.« »Tess von d’Urbervilles.« Ich neigte meinen Kopf und buchstabierte den Titel. »Eine fröhliche kleine Geschichte. Wenn Sie vor lauter Lachen nicht zum Putzen kommen, kann ich Ihnen verraten, der Schluß ist wundervoll. Sie wird gehängt.« Jonas knurrte. »Hätte mir denken können, daß es gut
ausgeht. Hatte gehofft, sie heiratet. Da wir bei Hochzeitsglocken sind, Sie und der Herr werden wohl bald zur Kirche spazieren?« Ging das schon wieder los! Geduldig erklärte ich Jonas, daß sich eine Heirat nicht ziemte, solange die Familie trauerte. Er schüttelte den Kopf. »Muß ja kein großer Aufwand sein. Mein Vater und Mutter gingen gleich nach der Kirche in Alltagskleidern, aber zu der Zeit war das erlaubt. Damals galt ein anständiges Leben was. Mr. Merlin würde Sie verheiratet wollen, sag ich Ihnen unverblümt.« Bestimmt würde er das — der sadistische alte Teufel. *** Bens Auto ging auf und davon wie ein Leopard, dessen Käfigtür plötzlich offensteht. Ich trat aufs Gaspedal, hupte zweimal, um Jonas anzutreiben, der säumig dem Haus zustrebte, und zischte die Auffahrt hinunter, vorbei an Tante Sybils Häuschen, durch das windschiefe Eisentor und auf die Küstenstraße. Die Spitzkehren verlangten einiges Geschick, aber ich lebte richtig auf, wie ein Schulmädchen, das den ersten Tag der Ferienfreiheit genießt. Gott sei Dank begegneten mir keine anderen Autos, und obwohl ich an einer Bushaltestelle vorbeifuhr, kam mir kein schwerfälliges Ungetüm voller Urlauber entgegen. Höflicherweise Platz zu machen hätte bedeuten können, in den Abgrund auszuweichen. Im Frühling war die Aussicht hier bestimmt grandios. Doch jetzt war die See träge und aufgedunsen, teilte Watschen an die Felsnasen aus wie ein graugesichtiges, zänkisches altes Weib. In die Betrachtung der Natur versunken nahm ich eine Kurve zu scharf. Ich riß das Lenkrad herum, um einer Telefonzelle auszuweichen, stellte den Fuß auf die
Bremse, um das Auto einzufangen, fühlte es bocken wie ein wütender Droschkengaul und wurde schmerzhaft nach vorn auf die Lenksäule geschleudert. Die Straße stürzte auf mich zu, um mich ins Meer zu werfen. Ich umklammerte das Lenkrad, kurbelte mit letzter Kraft und schloß die Augen. Ich kann nicht sagen, daß nun in Bruchteilen von Sekunden mein ganzes Leben an mir vorbeizog, aber ich hörte Vanessas Stimme, es waren die Worte, die sie nach der Lesung von Onkel Merlins Testament gesprochen hatte: »… und zwar mit allen Mitteln.« Ich riß die Augen auf. Von mir aus konnte Vanessa das Haus haben, das Geld, ich war sogar bereit, Ben als Sonderprämie dazuzulegen, wenn nur das Auto aufhörte, auf den Abgrund zuzuschliddern. Ich nahm den Fuß von der Bremse und ließ das Auto mit Achterbahngeschwindigkeit sausen, bis ich ein ziemlich flaches Straßenstück erwischte. Da riß ich die Handbremse hoch und rammte es mit einem wilden Schlenker in die Böschung auf der anderen Straßenseite. Jetzt brauchte ich dringend ein trostspendendes Stück Schokoladentorte. Zehn Minuten lang saß ich da, atmete tief durch und erklärte meinen zitternden Gliedern immer wieder, daß wir heil und zusammen waren, alles noch fest dran und nichts übel zerschunden oder gebrochen. Nach dieser aufmunternden Ansprache fühlte ich mich stark genug, auszusteigen und den Schaden an Bens Stolz und Freude zu begutachten. Nicht, daß es wichtig war. Auch wenn das Auto keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte, konnte mich nichts dazu bewegen, mich wieder hinters Steuer zu setzen und den Leoparden noch einmal loszulassen. Ich inspizierte gerade auf allen vieren den Lack, da hörte ich schwerfällige Schritte. Ich war nicht allein.
»Na, ein Problemchen?« Nicht die Spur, dachte ich, dieses einsame Plätzchen habe ich mir für meine Morgengymnastik gesucht. Um die Kurve kam eine sportlich wirkende Frau um die Vierzig in einer leuchtend gelben Strickjacke und schob ein Fahrrad. »Habe ich Sie etwa erschreckt?« dröhnte sie. »Das ist bestimmt nicht der richtige Ort für Überraschungen, eine nervöse Zuckung und hoppla ab in die Tiefe, haha!« Was man bei einer Spazierfahrt über Land doch für Leute trifft!
Acht »Keine Sorge!« schnarrte meine neue Bekannte. »Den Racker habe ich runter, bevor Sie die erste Strophe der Nationalhymne singen können. Taugt der Ersatzreifen was?« So viel zu Mordanschlägen. Stilgetreu war ich das Opfer von etwas ganz Prosaischem, einem geplatzten Reifen. Miss Frohwalte Hockeyschläger summte fröhlich vor sich hin, als sie zu Werke ging. Das rote Haar hatte sie sich stramm hinter die Ohren geklemmt und ihre Hosenbeine gaben den Blick frei auf rotgelb karierte Sportstrümpfe. Mit geschickten, flinken Fingern hatte sie innerhalb von Minuten den Ersatzreifen gegen das defekte Rad getauscht. »Wirklich sehr freundlich.« Ich kam mir vor wie die Neue im Internat, die von der Stubenältesten unter die Fittiche genommen wird. »Keine Ursache. ‘Wir sind nur einmal auf der Welt.’ Jede tue das ihre, dann fällt der Planet nicht auseinander, obwohl man das von Ihrem Auto nicht sagen kann — ist nicht böse gemeint, aber das kleine
Monstrum sieht aus, als würde es nur noch von Büroklammern und Heftpflaster zusammengehalten. Aha!« Sie klappte die Motorhaube auf und spähte hinein. »Ihre Zündkerzen könnten mal geputzt werden und wenn ich mich nicht irre, kann der Kühler jeden Moment platzen wie ein vereiterter Blinddarm, aber wenigstens hat ihre Begegnung mit der Böschung nichts Schlimmeres gebracht als ein paar Kratzer — die fallen schon gar nicht mehr auf.« Ein kleiner Austin kam den Berg rauf, hielt an und ein Kopf erschien fragend im Fenster. Sportsocke hatte die Situation völlig im Griff und winkte den Fahrer weiter. »Vorsichtig fahren. Platz genug. Unser Wagen steht sicher. Gehen Sie in den zweiten — starkes Gefälle voraus.« Gelähmt vor Schreck von diesem Sperrfeuer von Befehlen schoß der Austin rückwärts, würgte ab, hustete, knirschte mit dem Getriebe und sauste an uns vorbei um die Kurve. »Das ist wohl das Ende von Ihrem Fahrrad«, sagte ich mit Bedauern. »Männer am Steuer!« Sportsocke schüttelte ihre Faust der Wolke von Auspuffgasen hinterher und hob das plattgewalzte Metallgerät so zärtlich auf wie eine Mutter ihr überfahrenes Kind. »So ist das Leben.« Sie streichelte unbeholfen das, was einmal ein Schutzblech gewesen war, legte die verbogene Konstruktion sanft an den Straßenrand und putzte sich mit einem großen, karierten Taschentuch geräuschvoll die Nase. »Ein guter Freund«, erklärte sie mit abgewandtem Gesicht. »Kann ich irgendwas für Sie tun? Ich fühle mich irgendwie verantwortlich, ohne Ihre Hilfsbereitschaft wäre Ihr Rad noch am Le… — noch ganz, meine ich.« »Keine Sorge, kleine Gefühlsduselei. Entschuldigen Sie mich einen Moment. So, jetzt geht’s wieder, alles
unter Kontrolle. Wenn ich Sie bitten dürfte, mich mitzunehmen?« »Selbstverständlich.« Ich hatte eine Idee. »Wir waren in entgegengesetzten Richtungen unterwegs, aber wenn Sie es nicht furchtbar eilig haben, kommen Sie doch mit in die Stadt. Vielleicht finden wir einen Mechaniker, der mit ein paar neuen Teilen Ihr Rad wieder zusammenflickt. Die machen ja«, sagte ich unbestimmt, »heutzutage die tollsten Sachen.« »Lieb gemeint, aber Tatsachen muß man ins Auge sehen. Zu retten ist nur noch die Klingel, die hebe ich auf als Andenken. Man muß einen Schlußstrich ziehen können, war immer mein Motto. Sobald ich eine Telefonzelle finde, lasse ich jemand kommen und den Rest abholen.« Sportsocke fischte wieder das überdimensionale Taschentuch hervor. Ein wärmeres Gemüt als ich hätte mit einer körperlichen Geste ihr Beileid bezeigt — ein Arm um die Schulter, ein freundlicher Händedruck. Ich stand da und spielte an den Knöpfen meiner Jacke. »Entschuldigen Sie!« Sportsocke schnaubte geräuschvoll. »Neige normalerweise nicht zu peinlichen Gefühlsausbrüchen. Wenn Sie so weit sind, können wir weiter. Würde anbieten, für Sie zu fahren, aber es ist was Wahres an dem alten Sprichwort — steig sofort wieder aufs Pferd oder du wirst nie wieder reiten. Das ist die richtige Einstellung!« Das Auto ruckte gereizt, als ich wendete, aber es scheute nicht, als wir bergauf fuhren. Ich ließ die Kupplung kommen und spürte, wie Sportsocke Plus- und Minuspunkte addierte. Am Ziel würde sie mir wahrscheinlich ein Zeugnis in die Hand drücken. »Wohin?« fragte ich. »Nicht weit. Großes Haus auf einem Hügel, fünfhundert Meter nach dem Friedhof und dem
Pfarrhaus, dann links durch ein Eisentor, Kiesauffahrt …« Ich trat auf die Bremse. »Hoppla! Immer mit der Ruhe. Sie kennen es?« »Will ich meinen. Ich wohne da.« »Miss Ellie Simons? Ein Wink des Schicksals. Ich bewerbe mich auf Ihre Anzeige in der gestrigen Ausgabe des Lokalblättchens, Der tägliche Nachrichter.« »Meine Anzeige???« »Haushälterin gesucht. Muß Ihnen klipp und klar sagen, habe überhaupt keine Erfahrung, bin nicht mal sicher, was der Job mit sich bringt, aber wenn Sie harte Arbeit wollen, Treue, Stehvermögen und Ehrlichkeit, dann bin ich die Richtige, Dorcas Critchley, zu Ihren Diensten.« Ben war der Kopf hinter der Anzeigenposse. Als ich ihm bei unserer Ankunft im Haus Dorcas vorstellte, gestand er, daß er gerade mit der Zeitung telefonierte, als ich am Morgen unserer Rückfahrt nach London die Treppe herunterkam. Er freute sich so über den Erfolg seiner Methode, daß er die Geschichte mit dem Reifen und den Schrammen an seinem Auto nur hochnäsig zur Kenntnis nahm. Verblüfft über das rasche Resultat ging er Kaffee holen und ich folgte ihm in die Halle, um die Mäntel aufzuhängen. »Ich habe das Gehalt offengelassen.« Er senkte die Stimme. »Warte ab, was sie verlangt und dann verhandle. Scheint ja ein fröhliches altes Haus zu sein. Aber laß dich nicht täuschen. Das sind auch die meisten Bankräuber frag nach Zeugnissen.« »Sei nicht so mißtrauisch. Wieviele Bankräuber würden vom Rad steigen, um einer von allen guten Geistern verlassenen Autofahrerin zu helfen? Übrigens habe ich das Gefühl, sie wird bei nächster Gelegenheit dein Auto auseinandernehmen, Schraube für Schraube, und es so zusammensetzen, daß es denkt, es sei
neugeboren. Wenn du brav bist, leihe ich dir Miss Critchley eventuell, sobald die Innenarbeiten getan sind.« »Die Frau ist doch kein Tintenkuli.« »Nimm dich bloß in acht«, sagte ich. »Du holst dir sonst noch was — Menschlichkeit.« Jill war die erste Freundin in meinem Leben gewesen; Dorcas wurde die zweite. Mein Entschluß, sie einzustellen, hatte nichts mit Zeugnissen zu tun. Sie hatte mir nicht nur in der Stunde der Not beigestanden, sondern unter dem barschen Äußeren war sie wie ich, verletzlich. Ihre Eigenheiten in Sprache und Benehmen waren eher liebenswert; wir würden ein gutes Team abgeben. Dorcas wies einen großen Umschlag vor mit einem drei Seiten langen Zeugnis und erklärte, daß sie von Beruf Sportlehrerin sei und an der Miriam-Akademie unterrichtet habe, ein exklusives Mädchen-Internat ungefähr fünfundzwanzig Kilometer entfernt an der Küste. Die alte Direktorin war vor kurzem in Pension gegangen und ihre Nachfolgerin eine strenge junge Dame, die die sportlichen Aktivitäten beschneiden wollte zugunsten von noch mehr Griechisch. »Wahnsinn! Mädels leben ohnehin viel zu klösterlich. Ungesund! Aber nichts zu machen. Hatte letzte Woche Krach mit ihr und beschloß zu gehen. Nicht ganz mittellos, komme also ein Weilchen aus. Habe der Frau die Hand geschüttelt, sind in Freundschaft geschieden, aber Zusammenarbeit war nicht drin. Hätten dauernd auf Kriegsfuß gestanden.« »Sie hat Ihnen ein glänzendes Zeugnis geschrieben.« »Darauf kann man nicht allzuviel geben. Die Frau kannte mich nur vier Wochen, hatte natürlich die Personalakte. Ebenfalls beigefügt Namen und Adressen von Bankmanager und Pfarrer. Werden gerne Auskunft geben.«
»Ich glaub’s.« Ich lächelte. »Männer machen sich zwar lustig über weibliche Intuition, aber Sie sind hiermit eingestellt — das heißt, wenn Sie immer noch bleiben wollen, nachdem Sie den Zustand des Hauses gesehen haben.« Dorcas’ langes blasses Gesicht, das deutlich an ein freundliches Pferd erinnerte, faltete sich zu einem Lächeln. »Konnte Herausforderungen nie widerstehen. Ein Problem — kann nicht versprechen, daß das auf Dauer ist. Werde den Hockeyplatz bald vermissen, lasse Sie aber nicht im Stich. Wenn ich bis September bleibe, wäre das annehmbar?« »Vollkommen. Unter Umständen ist danach keiner mehr von uns hier.« Und ich erzählte ihr von Onkel Merlins Testament. Am Ende meiner Schilderung schlug sich Dorcas auf das behoste Knie und lehnte sich eifrig vor. »Großartig. Habe schon immer für Schatzsuchen geschwärmt. Ihr Mr. Haskell hat recht. Zu einer sportlichen Jagd gehören Hinweise. Sie haben nicht zufällig auf dem Kaminsims oder der Flurgarderobe zusammengefaltete Zettelchen gefunden?« »Nein, aber ich hatte auch noch keine Zeit zu suchen. Gestern waren wir in Onkel Merlins Schlafzimmer, haben es aber noch nicht sorgfältig durchkämmt. Vielleicht können wir morgen mal darin stöbern.« »Toll. Männer sind die reinsten Eichhörnchen. Hab ich gehört. Mutter sagte immer, daß Großvater …« »Ja?« »Unwichtig. Will Ihnen nichts von Leuten vorschwafeln, die Sie gar nicht kennen, altjüngferlich sowas — langweilig.« »Und was ist mit mir? Ich habe Sie gerade mit Charakterskizzen aller meiner Verwandten gelangweilt.« »Was anderes, sachdienlich. Muß doch wissen, wer
wer ist, falls ich jemand dabei erwische, wie er ums Haus schleicht. Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber so ganz geheuer ist mir keiner, bis auf den kleinen Freddy vielleicht — hätte zur Armee gehen sollen. Allen anderen ist nicht über den Weg zu trauen, lassen Sie sich das gesagt sein. Aber keine Sorge; zusammen werden wir alle kleinen Komplotts, Sie um Ihr rechtmäßiges Erbe zu bringen, vereiteln.« »Sind die Damen zu einer Entscheidung gelangt?« Ben stieß die Tür zum Salon mit dem Fuß auf und kam mit einem Tablett voll klapperndem Geschirr herein. »Gut!« Er nickte zu unseren zufriedenen Gesichtern. »Bedaure, Kekse gibt es nicht.« Er goß Tee ein und reichte Tassen herum. »Unsere Versorgungslage hat jetzt das Stadium der Hungersnot erreicht. Toll für dich mit deiner Hungerkur, Ellie, aber ich kann inzwischen meine Wirbelsäule fühlen, wenn ich meinen Magen abtaste.« »Mecker, mecker! War es meine Schuld, daß die Einkaufsexpedition heute morgen abgebrochen werden mußte?« Ben zuckte vielsagend die Achseln. »Ich weiß nur, daß du mit deinen Fahrkünsten keinen Pokal gewinnen kannst. Du bist mit quietschenden Reifen die Auffahrt runtergeschossen, daß der Kies nur so spritzte …« »Wie kommt es eigentlich«, ich knallte meine Tasse hin und verschüttete die Hälfte, »daß Männer Unfälle haben und Frauen Fehler machen?« Ben fuhr sich durch das dichte, lockige Haar und sog zischend die Luft ein. »Ich wollte nur darauf hinaus, daß du dir wahrscheinlich einen Nagel oder eine Glasscherbe eingefahren hast …« »Vorschlag zur Güte« — Dorcas hob beschwichtigend die Hand. »Ellie und ich fahren jetzt ins Dorf einkaufen. Hat doch keinen Sinn, sich anzublaffen, ihr Zwei. Eine
kleine Atempause und fertig ist die Laube, ihr seid wieder die besten Freunde.« »Nie im Leben!« Ich stand auf und räumte die Tassen aufs Tablett. »Dorcas, Sie sind mir gegenüber vollkommen aufrichtig gewesen, und da Sie hier eng mit uns zusammenleben werden, finde ich nur fair, daß Sie es erfahren: Ben und ich sind nur zum Schein verlobt. Wir holen jetzt unsere Mäntel und ich erzähle Ihnen im Auto die ganze schrille Geschichte.« »Na phantastisch! Hätte das um keinen Preis versäumen mögen. Das Leben in diesem Haus wird aufregender als ein unentschiedenes Spiel am Ende der ersten Halbzeit.« »Lassen Sie sich Zeit, meine Damen.« Ben nahm das Tablett und geleitete uns unter Verbeugungen aus dem Zimmer. »Phipps und ich werden abwaschen und ihr amüsiert euch schön.« »So ist’s brav«, Dorcas gab ihm einen Klaps auf die Schulter, zog ihre Strickjacke gerade und folgte mir in die Halle. »Sie können sich nicht beklagen«, sagte sie. »Kein übler Junge; seien Sie nicht zu hart mit ihm. Der wird schon mit der Zeit.« »Genau davor habe ich Angst.« Ich nahm meine Tasche und vergewisserte mich, daß ich noch den Einkaufszettel hatte. »Wenn er sich radikal bessert, dann wird das in einem halben Jahr sein, wie wenn man sich von einem Hund trennen muß, nachdem man ihn endlich stubenrein hat.« »Künstlerpech! Aber nur nicht aufgeben!« Dorcas versetzte mir einen ihrer aufmunterden Stüber und fügte hinzu: »Will Ihnen keine Umstände machen, aber vielleicht könnten wir meine Koffer und sonstiges Zeug abholen. Hab’s im Bahnhof gelassen, der ist nicht weit vom …« Als wir in den Garten hinausgingen, redete sie
immer noch. *** Das Städtchen Upper-Biddington-Marsh bestand aus einem Dickicht kleiner Gäßchen mit strohgedeckten Postkartenhäuschen inmitten ummauerter Gärten voller Obstbäume und Rosensträucher. Die Marktstraße erreichte man durch ein zerfallendes römisches Tor, sie hatte — bis auf den modernen Verkehr — vor zweihundert Jahren wohl nicht viel anders ausgesehen. Ein Uhrenturm beherrschte den kleinen Platz auf halber Höhe der Straße. Begierig, alles zu erkunden, parkten wir am Rand des Platzes, ergriffen unsere Einkaufskörbe und stiegen aus. »Wie wär’s mit einem Imbiß?« Ich schaute hungrig über die Straße zu der Bäckerei, der verlockende Duft von heißen Fleischpasteten stieg mir in die Nase. »Für mich nicht, danke, esse nie nach einer Fahrt, aber lassen Sie sich nicht von mir aufhalten, wenn Sie sich was gönnen möchten. Leiste Ihnen gern Gesellschaft bei einer Tasse Kaffee.« »Besser nicht. Wenn die Kellnerin beladen mit Pasteten vorbeikommt, vergesse ich mich womöglich und beiße ihr beide Hände ab.« »So schlimm? Hatte selber nie Gewichtsprobleme, kann’s aber nachfühlen. Muß hart sein.« »Sie sind ein Schatz«, sagte ich. »Wenn Sie wüßten, wieviel Leute mir gesagt haben, ich bräuchte nur ein bißchen Willenskraft! Als sei das ein Artikel, den ich für einsneunundneunzig im Supermarkt kriege. Da wir von meinem Gewicht reden, ich muß mir eine ärztliche Bescheinigung über meine gegenwärtigen Pfunde ausstellen lassen. Vielleicht kann ich das gleich erledigen. Wäre doch ärgerlich, wenn ich von dem
Testament ausgetrickst werde nur durch Saumseligkeit.« Eine Frau, der ein kleines Kind an den Röcken hing, wies uns den Weg zur Praxis von Dr. Melrose. Er begrüßte mich herzlich und stellte bereitwillig das Formular über mein Gewicht aus. Um mir den Gang zum Büro von Mr. Bragg zu ersparen erbot er sich, es für mich abzuschicken. Unsere nächste Anlaufstation war der Lebensmittelladen. Irgendwas daran war falsch, daß ich nun, wo ich beim Essen auf die Zuschauertribüne verbannt war, unter der Last der Einkäufe fast zusammenbrach. Auch Dorcas schleppte ihren Teil, nur hatte sie eine bessere Haltung. Wir nahmen eine Auszeit, um den Einkaufszettel zu studieren. »Aspirin, Heftpflaster, Malz, und ein paar vorbeugende Mittel aus der Apotheke.« Um sicherzugehen, daß ich nichts übersehen hatte, drehte ich den Zettel um, auf der Rückseite stand das Wort Postamt. »Reichlich mysteriös. Ben hat das wahrscheinlich heute morgen hingekritzelt, als ich ihn bat, die Liste durchzugehen und dazuzuschreiben, was ihm noch einfiel. Offenbar traut er mir übersinnliche Kräfte zu. Will er nun Briefmarken, Telegrammformulare oder was?« »Bestimmt wollte er’s hinschreiben und wurde abgelenkt«, sagte Dorcas. »Passiert oft, das Telefon klingelt oder jemand ist an der Tür … Ich würde auf Nummer sicher gehen und Briefmarken kaufen, sind immer nützlich.« »Ich dachte, wir gehen zuerst zur Apotheke und dann rufen wir Ben an und fragen, was er von der Post wollte.« Unser Besuch beim Apotheker war kurz und unerfreulich. Der Mann im weißen Kittel lehnte es barsch ab, mir irgendwelche Patentmittelchen zur Linderung meiner Hungerqualen zu geben. »Ekelhafter Kerl!« Mit meinem braunen Tütchen voll
Aspirin und Heftpflaster marschierte ich zur Tür hinaus und redete heftig auf den Rücken von Dorcas ein. »Ich verabscheue picklige kleine Männer mit schütteren roten Schnurrbärten. Der sieht doch aus wie ein entzündetes Nadelkissen.« »Na, na! Der Mann kann nichts dafür. Tut nur seine Pflicht. Bedauerliches Benehmen, aber sinnlos, sich dran aufzuhängen. Himmel sieht nach Regen aus. Guter Zeitpunkt für eine flüssige Erfrischung im Dorfkrug, ‘Der Hase und die Meute’, um die Ecke. Kehre normalerweise nicht in Wirtshäusern ein, hätte aber nichts gegen ein Radlermaß.« »Hört sich prima an.« Und so gingen wir zum ‘Hasen’, der Anruf bei Ben geriet vorläufig in Vergessenheit. Eine recht kess wirkende Frau goß unsere Getränke ein, kam dann hinter der Theke hervor und drückte sich, die Arme in die Seiten ihres eng anliegenden schwarzen Taftkleides gestemmt, bei unserem Tisch herum. Offensichtlich hungerte sie nach Klatsch. Neuzugänge mußten in diesem Städtchen Mangelware sein, wenn zwei unscheinbare Frauen soviel Interesse weckten. Kessi wäre für jedes Polizeirevier ein Gewinn gewesen. Sie entlockte uns schnellstens unsere Eckdaten: wer wir waren, woher wir kamen und in welcher Verbindung wir zum Ort standen. »Also Sie sind in den verflixten Kasten eingezogen? Huh, sind Sie tapfer! Ich würde lieber sterben als da wohnen. Krieg sofort eine Gänsehaut.« »Zum Glück brauchen Sie sich nicht zu opfern.« Dorcas war ganz Sportlehrerin, die eine schwatzhafte Schülerin zurechtweist, bis sie die Wirkung ihres strengen Blickes zunichte machte, indem sie eifrig fragte: »Haben Sie finstere Geschichten über das Haus gehört? Irgendwas Unheimliches — Gespenster? Schmuggler? Skandale aus alten Tagen?«
»Von so Sachen weiß ich nichts.« Kessi langte lässig zu einem anderen Tisch rüber und gab Dorcas einen Bierdeckel. »Aber meine Oma sagt, in das Horrorkabinett setzt sie keinen Fuß mehr, auch nicht für tausend Pfund. Das Unglückshaus nennt sie’s. Hat da vor einer Ewigkeit als Dienstmädchen gearbeitet. Die alte Drossel ist dreiundachtzig und total tacko. Erinnert sich noch an die Zeit, wo der alte Herr ein junges Bürschchen war. Na, aus dem ist vielleicht ein komischer Kauz geworden, lebt wie’n Einsiedler und so. Ich hab gehört, seine Fingernägel sind einen halben Meter lang und sein Haar ist völlig verfilzt und klebt ihm wie Schorf am Kopf.« Kessis blaßgelbe Augen unter den heftig getuschten Wimpern quollen vor Aufregung leicht heraus. »Sie können’s mir wirklich sagen!« Sie lächelte einschmeichelnd. »Ich heiße bei allen die Schweigsame Sally. Ich schwatze nie was rum. Wie war denn das alte Scheusal so?« »Jetzt reicht es aber, mein Fräulein!« Dorcas’ lange dünne Nase bebte förmlich vor Entrüstung. »Sie sprechen von einem kürzlich Verstorbenen.« Ein sanfter Stups mit dem Fuß sollte dem Abwehrblock signalisieren, es ruhiger anzugehen. Ich wollte diese Informationsquelle nicht zum Versiegen bringen. Kessis Enthüllungen mochten voller Übertreibungen stecken, dennoch konnten sie gewisse Einsichten in das Leben auf Merlins Schloß geben. »Man kann doch keiner übelnehmen, daß sie Interesse hat.« Kessi zupfte keck ihre Schürze zurecht. »Natürlich nicht«, sagte ich besänftigend. »Besonders, da Merlin Grantham ein so zurückgezogenes Leben geführt hat. Ist es denn wahr, daß ihn seit Jahren niemand aus dem Ort gesehen hat? Na sehen Sie! Da wurde er zum Ungeheuer, dem Hörner sprossen. Nicht mal die Familie weiß, warum er sich vor der Welt
eingeschlossen hat, mit Tante Sybil als Wache vor den Toren.« »Das ist auch so eine komische alte Schachtel.« Kessi kippte die Kaffeekanne und schenkte jedem noch ein paar Tröpfchen ein. »Oma sagt, Sybil Grantham wurde mit falschen Zähnen und Haarnetz geboren. Sie kam immer für die großen Ferien ins Haus, als sie noch klein war. Merkwürdig, daß Mr. Grantham ihr nicht das Gemäuer vermacht hat, aber die Granthams waren schon immer ein Kapitel für sich. Ich muß immer lachen über Oma, sie sagt, der Vater von Mr. Merlin hatte ein Gesicht, daß frische Sahne sauer wurde und die Hühner nicht mehr legten. Hat seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht. Sie starb dann auch, als der Junge noch klein war.« »Das hatte ich vergessen«, sagte ich. Kessi zog einen Stuhl heran und setzte sich zu uns. Aus der Tasche ihrer weißen Rüschenschürze grub sie ein zerknautschtes Päckchen amerikanischer Zigaretten aus und steckte sich eine an. »Traurig«, sie blies uns Rauch ins Gesicht, »wenn ein Kind die Mutter verliert. Die Leute hier sagen, die selige Mrs. Grantham hat sich das Leben genommen. Na ja, wenn man damals ein Ekel zum Mann hatte, was blieb einer Frau anderes übrig?« »Allerdings.« Dorcas und ich schauten uns an. Kessi beobachtete gierig, wie ich in meinem Portemonnaie nach Trinkgeld suchte. Als ich ihr mein ganzes Kleingeld gab, kam ich mir vor wie eine Geheimagentin, die einer ihrer Informantinnen was in die Hand drückt. »Ihre Oma scheint eine Frau mit einem guten Gedächtnis zu sein.« Wenn ich gehofft hatte, sie würde mir auf diesen Wink hin vorschlagen, die alte Dame mal zu besuchen, so wurde ich enttäuscht. Kessi zuckte nur die Achseln und steckte die Münzen ein. »Typische Uralt-Rentnerin, weiß nicht mehr, wo sie
den Nachttopf hingestellt hat, aber kann noch genau sagen, wer 1926 Bürgermeister von London war. Wenn Oma sagt, in dem Haus spukt’s, dann ist da was dran.« Sie unterbrach sich, um die Tassen abzuräumen. »Ist Ihnen das nie spanisch vorgekommen, daß es in dem ganzen Riesenhaus keine Katzen oder Hunde gibt? Ich hab mal im Rathaus einen Film gesehen, so über außersinnliche Vernehmung; und Tiere haben’s schlimmer als Menschen. Wo die Schwingungen nicht stimmen, da bleiben die nicht. Denken Sie mal drüber nach! Mr. Merlin hat sich nicht mal einen Rehpinscher gehalten.« »Das hat nichts zu bedeuten«, tat Dorcas das ab. »Nicht jedermann ist ein Hundefreund. Zerknabbern Pantoffeln, machen überall Pfützen. Ich selber mag die Kerlchen, aber man kann nicht erwarten, daß alle Leute den gleichen Geschmack haben.« Kessi schüttelte den Kopf. »Selbst wenn der Mann Hunde nicht leiden konnte, in jedem alten Gemäuer hält man sich eine Hauskatze. Hab noch nie eine Maus getroffen, die auch nur einen blassen Schimmer von Geburtenkontrolle hatte.« Mir fielen die Visitenkarten ein, die die Mäuse in der Speisekammer hinterlassen hatten, und allmählich fand ich es seltsam, daß der Schutz einer Katze gefehlt hatte. Ich knöpfte mir den Mantel zu und teilte Kessi mit, daß das Haus nunmehr eine Dienstkatze besaß. »Ich habe meinen Kater aus London mitgebracht«, sagte ich, »und bei so viel jagdbarem Wild innerhalb der Mauern braucht er keine Pfote nach draußen zu setzen, um seinem Vergnügen nachzugehen. Der glaubt, er ist gestorben und in den Himmel gekommen.« »Könnte demnächst passieren, wenn Sie nicht aufpassen.« Kessi entfernte sich auf der Suche nach weiteren Gesprächen in Form von neuen Gästen und
Dorcas und ich gingen hinaus. Es war fast fünf, und die Straßenlaternen waren schon an, aber es regnete nicht. Wenn wir uns beeilten, konnten wir die Post noch erreichen, bevor sie zumachte; den Anruf bei Ben mußte ich jedoch vergessen. »Alberner Aberglaube!« Dorcas schritt aus und schwang die Arme, das Ende ihres Ringelschals flatterte hinter ihr her. »Würde an das Geschwätz der Frau keinen Gedanken verschwenden, wenn ich Sie wäre.« »Sie hat mir keine Angst eingejagt.« Ich stieß die Tür zum Zeitungsladen auf, in dessen hinterem Teil das Postamt residierte. Unter dem Geklingel eines Glöckchens schritten wir über die Schwelle. »Ich habe keine Sorge, daß etwas Schwarzes, Schleimiges sich nächtens erhebt, Tobias mit elfenbeinernen Krallen packt, an die schuppige Brust drückt und mit ihm auf- und davonfliegt. Aber die Frau hat eine richtige Beobachtung gemacht … ich glaube, unbewußt habe ich schon gespürt, daß im Salon etwas fehlt.« »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber dafür bedarf es keiner außersinnlichen Wahrnehmung.« Dorcas machte die Tür hinter uns zu. »Der Raum ist zwanzig Jahre lang nicht ordentlich saubergemacht worden.« »Aber Hundehaare sollten da sein, um den Schmuddel abzurunden, und ein oder zwei verwöhnte Köter, die sich auf dem Kaminvorleger aalen und das Feuer mit Beschlag belegen.« »Tut mir leid. Mir schleierhaft, was das zu bedeuten hat. Darf natürlich nicht übersehen werden. Alles, was Ihnen zu Ohren kommt, trägt dazu bei, ein Persönlichkeitsdiagramm von Onkel Merlin aufzubauen, sehr wichtig, daß Sie wissen was in dem Mann vorgegangen ist.« Im Postschalter sortierte ein junger Mann Briefe. Er schaute nicht sofort hoch. »Was echt helfen würde«, ich
setzte meine Tasche auf dem Tresen ab und wandte mich zu Dorcas um »wäre, mit jemand wie der Oma der Kellnerin zu reden. Als früheres Dienstmädchen könnte sie uns nicht nur was über Onkel Merlin erzählen, sondern auch über seine Eltern. Die müssen seinen Charakter mitgeprägt oder eben auch verbogen haben, aber über die weiß ich so gut wie nichts.« »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Der junge Mann rückte seine Hornbrille zurecht. Respektlos dachte ich bei mir, daß er aussah wie ein eifriger junger Priester, der seine erste Beichte abnimmt. »Ein Dutzend Zwölf-Pence-Marken bitte.« »Machen Sie Ferien hier oder sind Sie nur auf der Durchreise?« Der junge Mann schlug ein großes grünes Buch auf und riß einen Streifen Marken ab. »Weder noch. Wir wohnen hier oder jedenfalls ein paar Kilometer außerhalb. Ein Verwandter von mir ist vor kurzem gestorben …« Dem jungen Mann fiel die Kinnlade leicht herunter. »Ist eine von den Damen eine Miss Ellie Simons? Ja? Na, das ist aber wirklich ein Glücksfall, daß Sie hier so reinspaziert kommen. Wir schließen in fünf Minuten. Sind Sie mit dem Auto da?« »Ja, aber …« »Moment, ich bin gleich zurück.« Der junge Mann verschwand wie ein Zauberer hinter einem rotbraunen Plüschvorhang und kam mit einem großen flachen Paket zurück, daß in braunes Papier eingewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden war. »Das lehnte heute morgen am Schalter«, erklärte er. »Kein Porto drauf, nur die Namen Mr. Bentley Haskell und Miss Ellie Simons. Eigentlich ganz schön frech, dachte ich, keine Briefmarken, keine Erklärung. Ich war direkt im Zwiespalt. Sehen Sie, ich habe die Namen erkannt. In einem so kleinen Ort gibt es immer Gerede,
wenn jemand Neues herzieht, aber rein formal«, er beugte sich beflissen vor, »so wie die Vorschriften nun einmal sind, sollen wir niemand dazu ermuntern, die Post zu beschummeln. Mein Vorgesetzter kommt morgen aus dem Urlaub zurück und ich wollte ihn fragen, wie wir das handhaben sollen. Aber da Sie nun mal hier sind, übergebe ich Ihnen das Paket und Sie unterschreiben mir die Quittung. Gut, daß Sie im Auto gekommen sind — der Hügel bringt einen ziemlich ins Schnaufen.« »Wo«, fragte Dorcas, als wir das Paket vorsichtig über den Platz trugen, »haben Sie den Zettel her, auf dem Sie sich die Einkäufe notiert haben?« »Vom Sekretär im Salon. Ich habe ihn von einem kleinen Block abgerissen. Warum?« »Weil ich mir jetzt sicher bin, daß es nicht Bentley war, der ‘Postamt’ hinten draufgeschrieben hat; logisch wäre gewesen, ‘Briefmarken’ zu schreiben oder ‘Telegrammformulare’ oder was immer. Das Postamt braucht man nicht zu erwähnen; solche Artikel bekommt man nicht beim Zuckerbäcker. Ich sag’s ungern, aber wir sind beide Schlafmützen. Sind über Hinweis Nummer Eins gestolpert, ohne es zu merken. Müssen uns in Zukunft schlauer anstellen.« »Komisch!« Ich öffnete die Autotür und verstaute das Paket behutsam zwischen Vordersitzen und Rückbank. »Erst heute vormittag haben Sie gesagt, ich soll die Augen offenhalten nach verdächtigen Zetteln.« »Hab’s nicht wörtlich gemeint«, wies Dorcas das bescheiden zurück und nahm im Auto Platz. »Die Methode war aber riskant. Ich hätte meine Liste auf ein Stückchen Karton oder Papierserviette kritzeln können.« »Schatzsuche ist ein Glücksspiel, keine exakte Wissenschaft. Aber ich würde sagen, die Erfolgschancen waren diesmal nicht schlecht. Natürlichste Sache von der
Welt, auf dem Sekretär nach einem Notizblock zu suchen und das oberste Blatt abzureißen.« Vorsichtig setzte ich rückwärts aus der Parklücke. »Na gut. Jetzt müssen wir uns fragen, wer mit Onkel Merlin unter einer Decke steckt. Das Paket ist nicht von alleine ins Postamt gewackelt, und es scheint naheliegend, daß die Notiz nach seinem Tod geschrieben wurde. Unwahrscheinlich, daß er sie auf den Sekretär gelegt hat und da verstauben ließ, während er auf sein letztes Stündlein wartete.« Dorcas nickte lebhaft. »Meiner Meinung nach hat am Tage der Beerdigung der Mittelsmann, vermutlich eine neutrale Person, beispielsweise der Anwalt oder der Pfarrer, die Anweisungen ausgeführt und in dem Tohuwabohu bei der Verlesung des Testaments heimlich den alten Block gegen einen neuen ausgetauscht.« »Der Arzt war auch eine Zeitlang anwesend, aber ich denke, die Person, die Onkel Merlin am ehesten in seine Spielchen eingeweiht hätte, ist Tante Sybil. Gleichgültig, ob sie es billigte, sie hätte jeden Auftrag ausgeführt und den Mund gehalten, und das bedeutet, aus ihr wird nichts rauszukriegen sein. Sie könnte heute morgen mit dem Bus hergefahren sein. Nicht weit vom Tor ist eine Haltestelle. Dann hat sie gewartet, bis im Postamt viel los war, das Paket an den Schalter gestellt und ist unbemerkt wieder rausgegangen.« »Und sie hatte mehr als jeder andere die Gelegenheit, die Notiz hinzulegen«, pflichtete Dorcas bei. Wir hatten den Bahnhof erreicht und die nächsten fünf Minuten waren wir damit beschäftigt, das Gepäck von Dorcas aufzutreiben und im Auto zu verstauen. Wieder auf dem Fahrersitz, folgte ich dem taumelnden Strahl der Scheinwerfer den Hügel hinauf und dachte dabei weiter an Onkel Merlin. »Irgendwas an der Situation«, sagte ich zu Dorcas, »kommt mir ein bißchen zu glatt vor. Die
Familie wird zur Besichtigung einberufen, die Bühne ist aufgebaut, und der alte Mann gibt bequemerweise den Löffel ab. Ich weiß, der Arzt hat gesagt, er war herzkrank, aber …« Dorcas’ lange dünne Nase zitterte wie die eines Bluthundes, der Frühstück wittert. »Wollen Sie damit andeuten, daß Onkel Merlin bei seiner Mutter abgeschrieben und sich umgebracht hat?« »Das traue ich dem teuflischen alten Fossil glatt zu. Er war nicht der Typ, der sich zurücklehnt und Däumchen dreht, nachdem er das Leben anderer Leute in die gewünschten Bahnen gelenkt hat. Der Haken ist nur, ich kann mir nicht vorstellen, wie er’s angestellt haben soll. Der Arzt hat gesagt, Lungenentzündung.« Ich war am Eisentor angelangt und fuhr die Auffahrt entlang. »Interessante Theorie.« Dorcas nickte. »Und Mord wäre noch besser, aber ich vermute, die Wahrheit ist einfacher. Der Mann hat seine Pläne in Gang gebracht und dann für immer die Augen geschlossen.« »Ja, sogar der liebe Gott würde es sich zweimal überlegen, bevor er Onkel Merlin über die vereinbarte Zeit hinaus im Wartezimmer sitzen läßt.« Ich hielt unter dem Torbogen zwischen dem Haus und den Stallungen. »Helfen Sie mir bitte mit dem Paket. Die Einkäufe können warten. Wir müssen Ben den Hinweis Nummer Eins vorführen.« »Hoffentlich ist er nicht einer von den Fanatikern, die sich weigern, Strippen zu zerschneiden und darauf bestehen, sich Knoten für Knoten mit den Zähnen aufzuknüppern«, sagte Dorcas.
Neun »Meine Damen und Herren«, rief Ben, »wir beginnen bei einhundertfünfzigtausend Pfund mit der Versteigerung dieses bemerkenswerten Portraits einer Dame um die Jahrhundertwende mit kastanienbraunem Haar und Schoßhündchen, Maler unbekannt. Kommen Sie, verehrte Kunstliebhaber, der gesamte Erlös geht an die Stiftung zur Erhaltung von Bentley Haskell. Wer bietet mehr? Sehe ich da drüben in der Ecke eine Hand winken …?« »Das«, knurrte ich, »war eine obszöne Geste und soll heißen, wenn du nicht freiwillig von deinem Rednerpult sprich Stuhl steigst, schubse ich dich runter.« Die Vorgänge um die Paketeröffnung waren rasch einer Stimmung extremer Ausgelassenheit gewichen, hauptsächlich, weil unsere Erwartungen heftig enttäuscht wurden. Ich glaube, wir hatten alle mit einer totenschädelverzierten Karte gerechnet, (zur leichteren Besichtigung auf ein Reißbrett gepinnt), die mit Wegweisern »Zum Schatz« gespickt war. Tatsächlich kam das von Ben beschriebene Bildnis zum Vorschein. Die Dame mit dem kastanienbraunen Haar hätte sich glücklich schätzen können, wenn ihr Konterfei bei einem Trödler in einer dunklen Seitengasse fünf Pfund erzielt hätte. Eines wußten wir über den Künstler — er war kein Nachfahre der Alten Meister. »Hoffentlich schreibe ich besser, als er gemalt hat!« Ben stellte das Portrait ab und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Was ist mit Dorcas?« »Deine Beredsamkeit hat sie verscheucht«, sagte ich. Ich saß auf dem Sofa und Tobias hatte sich auf meinem Schoß zusammengerollt. »Sie hatte Angst, sie bietet einen Betrag, den sie nicht aufbringen kann, also ist sie rausgegangen und macht Tee.«
»War’s das? Dann muß ich mir das eingebildet haben.« Ben schaute immer noch das Bild an. »Ich fand, sie wirkte etwas beklommen, als wir das Paket aufmachten. Vielleicht kam sie sich überflüssig vor.« »Eher verlegen, weil es so schrecklich ist und aus Angst, wir würden fragen, was sie davon hält … Da kommt sie schon.« »Die Heimkehr des Wanderers. Macht jemand mal die Tür auf?« jodelte Dorcas aus der Halle. »Das sollen Sie aber nicht«, protestierte ich. Mir wurde der Mund wässrig, als ich sah, was sie mitbrachte. »Ben, schau mal, köstliche Schinken- und Käseschnittchen. Mm, und Brunnenkresse! Dorcas, ich muß mit Ihnen schimpfen, Sie haben die Einkäufe reingeschleppt. Das war Bens Aufgabe. Wir wollen nicht, daß seine Muskeln aus der Übung geraten.« »Was man von deinem Kiefer nicht sagen kann!« Ben nahm sich gleich zwei Schnittchen auf einmal, während Dorcas Tee einschenkte. »Ich weiß jetzt schon nicht mehr, was ich ohne Sie anfangen sollte, Dorcas.« Ich überging Bens freche Bemerkung und näherte meine Hand unauffällig dem Tellerrand. »Wirst du das lassen!« Ben schlug meine Hand weg wie eine lästige Fliege und nahm sich noch mehr. »Du bekommst eine Tomate und ein Stück Gurke. Vor einer halben Stunde hast du erklärt, Essen sei ohne Bedeutung.« »Abnehmen ist eins, Verhungern was anderes«, gab ich wütend zurück. »Na, na! Lassen Sie das Mädel in Ruhe, Bentley. Maschinen müssen geölt werden, damit sie funktionieren.« Dorcas reichte mir eine Tasse Tee. »Glaube nicht dran, Mahlzeiten wegzulassen, drei anständige am Tag, so halte ich das. Nehme nie ein
Gramm zu oder ab. Aber können nicht alle gleich sein, Ellie ist ein großes Mädchen …« »Das haben Sie gesagt, nicht ich.« Der Vielfraß grinste und verschlang sein neuntes Schnittchen. »Ständige Schikane hat nie was erreicht außer Rebellion!« Dorcas wandte sich energisch zu ihm. »Schreiben Sie Ihr Buch und lassen Sie Ellie tun, was sie zu tun hat. Sie weiß, wie das Spiel steht. War nie für all den Druck, um Frauen in Hungerharken zu verwandeln. Schauen Sie mich an! Kein Gramm Fett. Macht mich das zur Sexbombe? Ha! Kein Mann ist je auf meine Figur abgefahren.« Einen Erdbebenmoment lang fürchtete ich — nach dem Aufblitzen in Bens Augen —, er würde ihr einen Antrag machen. Ich trank meinen Tee aus und schenkte mir nach. »Möchte mal wissen, woran unsere Portraitdame gestorben ist.« »Tollwut, nehme ich an.« Ben lümmelte sich satt und zufrieden in seinem Sessel. »Der Mops auf ihrem Schoß schaut drein, als würde er jeden Moment zubeißen.« »Abkonterfeit zu werden ist für Hunde bestimmt nicht sonderlich lustig«, sagte ich. Und um zu zeigen, was er von Hundemodellen hielt, gähnte Tobias, sprang von meinem Schoß und witschte aus dem Raum. Ben nahm das Portrait hoch, das er gegen die Kohlenschütte gelehnt hatte. »Trugen Frauen zu der Zeit immer Handschuhe?« »So gut wie — sogar im Bad. Ein weiterer Feldzug gegen die Lockungen des Fleisches! Ich frage mich, ob die Viktorianer und Edwardianer je an was anderes gedacht haben als Sex. Aber die duftigen Hüte und Sonnenschirmchen haben mir immer gefallen.« »Eigentlich« — Ben hielt das Bild von sich weg — »mag ich sie. Es ist stümperhaft gemalt, aber sie hat
etwas Ansprechendes. Sie erinnert mich an jemanden.« »Ach ja?« Dorcas vergoß etwas Tee aus der Kanne. Leicht errötend wischte sie ihn weg. Ungeschicklichkeit galt wohl bei einer Sportlehrerin als gravierender Fehler. »Laß mich mal sehen.« Ungeduldig nahm ich Ben das Bild weg. »Sie ist gewiß keine Schönheit, nicht mal hübsch — das Gesicht ist zu lang und flach und die Nase zu spitz. Die Frisur ist auch nicht hilfreich. So ein Gebilde nenne ich immer ein Vogelnest.« »Du bist sehr kritisch.« Ben klang verärgert. »Überhaupt nicht«, beschwichtigte ich, »ich suche nur nach der Quelle ihres Charmes, denn genau wie du finde ich, sie hat was, es liegt an den Augen. Sie ist von der Sorte, die nicht mehr hergestellt wird.« Die richtigen Worte zu finden war gar nicht leicht; die Frau auf dem Bild beobachtete mich und hörte geduldig zu. »Eine richtige altmodische englische Lady«, fabulierte ich, »von der Sorte, die für alle Dörfler Suppe kochte und nie einen Bettler abwies; aber kein Tugendbold. Humor und Verletzlichkeit finden sich in dem Gesicht, aber auch Stärke. Sie hätte sich nicht vor Zigeunern gefürchtet oder Angst gehabt, sich die Hände am Herd schmutzig zu machen, und sie hätte die Schuhe abgestreift, um mit ihrem Dienstmädchen zusammen Tee zu trinken …« Ben wirkte beeindruckt, sagte aber trocken: »Meinst du nicht, daß du zu voreiligen Schlüssen gelangst, wenn du eine ganze Charakterstudie aus einem äußerst mittelmäßigen liest? Wir sind uns alle einig, daß der Künstler besser daran getan hätte, in das Kontor seines Vaters einzutreten oder …« »Chauvi!« sagte ich ohne Verbitterung. »Warum muß der Künstler ein Mann gewesen sein? Wenn wir nach einem Amateur Ausschau halten, dann kommt eine Frau viel eher in Frage. In der damaligen Zeit waren alle Mädchen dazu angehalten, zu sticken, zu häkeln, zu
klöppeln und Aquarelle und Ölbilder zu malen. Fleiß, nicht Talent, galt als notwendige Voraussetzung. Und wo fand eine gehorsame Tochter ihr Modell? In der Dame des Hauses natürlich.« »Ich finde trotzdem, der Stil ist männlich«, beharrte Ben. Dorcas zuckte zusammen und schüttelte leicht den Kopf, hatte sich aber offenbar entschieden, nicht in den Ring zu steigen. Hatte Ben recht, fühlte sie sich in diesem Gespräch als Eindringling? Ich stand auf und öffnete die Tür, um Tobias hereinzulassen, der seine Krallen an der Täfelung schärfte. Die Standuhr in der Halle verkündete halb zehn. Kunstkritik erwies sich als langwierig. Ben zog ein Gesicht, widmete sich aber wieder der Kunstbetrachtung. »Dieses Bildnis weist noch verschiedene andere Aspekte auf, die ich bemerkenswert finde. Sind die Damen bereit?« »Ich bin ganz Ohr«, sagte ich und kehrte an meinen Platz zurück. »Tobias, laß dich nicht auf Onkel Bens Fuß nieder. Er kann dich nicht leiden.« Ben beachtete mich nicht. »Die Dame auf dem Bild hat in diesem Haus gelebt. Ihr fragt natürlich, wie ich das erraten konnte …« Sofort meldete sich Dorcas. Ich war froh, daß sie sich nun doch an unserem Frage und Antwort-Spiel beteiligte. »Kamin im Hintergrund, stark verzeichnet, ist aber der in diesem Zimmer. Die geschnitzten Putten im Holzsims sind unverkennbar. Absolut einmalig, würde ich sagen.« »Sehr gut«, applaudierte Ben. »Der Mann meint, Sie sind fast genauso schlau, wie er selber«, ließ ich Dorcas freundlich wissen. »Können wir ein bißchen Ruhe haben!« Ben nahm mir das Bild weg und ging damit vor uns auf und ab, er drehte es langsam, damit wir es aus allen Perspektiven sehen konnten. »Was ich an dem Portrait interessant
finde, ist nicht seine Ausführung — die ist mangelhaft, darüber sind wir uns einig —, sondern die Tatsache, daß es nicht signiert ist. Möglich, daß unser Künstler anonym bleiben wollte. Ich könnte es gut verstehen, glaube aber nicht, daß das die Erklärung ist. Schaut nochmal hin.« »Es ist nicht fertig«, sagte ich langsam. »Wir haben auf die Frau geachtet, nicht auf den Hintergrund, und ich habe wohl gedacht, das ‘fehlende Etwas’ liegt an der Unfähigkeit des Künstlers, auszudrücken, was er sah, aber wenn ich nahe rangehe, stelle ich fest, daß nur die Frau fertig ist und keine Füße hat.« »Will Ihre Beobachtung nicht schmälern«, Dorcas beugte sich vor, »muß aber fragen, macht das was, ob das Bild fertig ist oder nicht? Wenn tatsächlich ein Schulmädchen das Bild gemalt hat, dann ist mangelnde Ausdauer typisch. Sonne scheint, raus mit dem Tennisdress und weg mit Pinsel und Palette.« »Zugegeben.« Ben nahm ihr den Kommentar nicht übel. »Aber wir müssen davon ausgehen, daß das Bild in irgendeiner Weise von Bedeutung ist, das heißt, wir müssen uns an jeden Strohhalm klammern. Übrigens finde ich es auch als Hinweis nicht berauschend.« »Hast du hinter der Leinwand nach einer versteckten Botschaft gestochert? So wird es in Büchern gemacht. In Die falsche Mona Lisa hatte das Bild hinten einen doppelten Boden, der in den Händen des Helden abfiel«, schlug ich schläfrig vor. Ich ertappte mich beim Gähnen. Ich mußte Dorcas noch ihr Zimmer zeigen, das bedeutete, das mit der dünnsten Staubschicht zu finden und frische Bettwäsche aufzuziehen. Dorcas sammelte Tassen und Teller ein, während Ben das Bild für einen letzten Blick ans Licht hielt. »Wenn du hoffst, ein verborgenes Meisterwerk zu entdecken, das durch die oberste Farbschicht schimmert, dann steht dir glaube ich eine Enttäuschung bevor. Ich
bezweifle, daß irgendwelche früheren künstlerischen Bemühungen diesen überlegen waren. Und ich halte es für unwahrscheinlich, daß ein Amateur einen Renoir oder Van Gogh überpinselt hat.« »Also ich weiß nicht. Bei allem, was mit Onkel Merlin zu tun hat, müssen wir mit etwas Verrücktem rechnen … Wir schreiben das Bild als Trödel ab, verstauen es auf dem Dachboden und sechs Monate später stellen wir fest …« »Da wir vom Dachboden sprechen.« Ich gähnte wieder. »Noch ein Ort, den ich erkunden muß. Deshalb sollten wir vielleicht alle ein Nickerchen machen. Ben, hol Dorcas’ Gepäck rein, ich kümmere mich um ihr Zimmer.« »Kann mich doch nicht von Ihnen bedienen lassen.« Dorcas versuchte, mir das Tablett aus den Händen zu nehmen. »Bin zum Arbeiten hier, nicht zum Rumtrödeln.« »Unsinn.« Ben hielt mir die Tür auf. »Für Ellie und mich gehören Sie zur Familie. Eher eine Gesellschafterin als eine Haushälterin.« Dorcas errötete, ein peinliches, fleckiges Rot, das sich mit ihrem Haar biß. Angesichts ihrer Verlegenheit bei einem so zahmen Kompliment schüttelte ich den Kopf. »Sie will keine von denen sein. Gesellschafterinnen sind immer unterdrückte graue Geschöpfe, die mit ihrer Klöppelei in den zugigsten Winkel des Zimmers verbannt werden, nur geduldet, weil sie entfernte Verwandte sind.« Ich sprach leichthin, aber dabei fiel mir etwas ein. Eine andere Bezeichnung paßte auf Dorcas’ Funktion in diesem Haus: 'Anstandsdame'. Von nun an waren Ben und ich nachts nicht mehr allein. War das, mehr noch als die Sorge um meine zarten Hände, der Grund, weshalb er die Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte? Während Dorcas den Abwasch machte, ging ich hinauf und holte Bettwäsche. Ich gab ihr das Zimmer gleich neben meinem, spartanisch ausgestattet mit einem
schmalen Bett und einer schmucklosen Eichenkommode. Als Ben mit den Koffern heraufkam, breitete ich gerade ein Federbett über die Decken. Er fand den Raum auch nicht sehr einladend, aber wenigstens hing die Tapete nicht feucht von der Wand und die Vorhänge zerfielen beim Berühren nicht zu Staub. Dorcas, die wenig später auftauchte, schien ganz zufrieden. »Auf keinen Fall schlimmer als meine Stube in der Schule. Das Bett hätten Sie aber nicht machen sollen, kann ganz gut für mich alleine sorgen.« »Dorcas.« Ich berührte sanft ihren Arm und sah ihr direkt in die haselnußbraunen Augen unter den struppigen Brauen. »Bitte steigen Sie — steig du von deinem hohen Roß. Ich war noch nie Arbeitgeberin, außer einmal«, ich warf Ben von der Seite einen schwelenden Blick zu, »und das wollen wir lieber vergessen. Ich dachte, wir hätten uns vorher geeinigt, das hier ist ein Mannschaftssport?« Dorcas zwinkerte rasch, schniefte kurz und schüttelte mir heftig die Hand. »Hab mich noch nie in meinem Leben so auf was gefreut. Zusammen gewinnen wir dieses Versteckspiel.« »Und uns allen viel Glück.« Ben lehnte am Türpfosten. »Bleibt nicht so lange auf, wir wollen den Gespenstern keine Spielverderber sein, diesen scheuen Geschöpfen. Die geistern nicht eher herum, als bis alle im Bett liegen.« »Die einzige, die herumgeistert, ist Tante Sybil«, sagte ich. »In der Nacht, als wir einzogen, habe ich sie dabei ertappt und seitdem noch öfter. Viele ältere Leute können nicht gut schlafen.« »Ellie, du bist wirklich naiv«, spottete Ben. »Unter dem unscheinbaren Altdamen-Äußeren ist Tante Sybil genauso gruselig wie der Rest deiner bescheuerten Verwandtschaft. Wahrscheinlich war Vollmond und sie hat ihre Stimmbänder trainiert.«
Ich war diejenige, die in dieser Nacht nicht gut schlafen konnte. Der Tag war so ereignisreich gewesen, daß der Hunger in den Hintergrund getreten war, ein wehleidiges Händchen, das leise an die Außenwand meines Bewußtseins gepocht hatte. Sobald ich flach auf dem Rücken lag und das Licht ausgeknipst hatte, drohte Hungersnot die Festung zu stürmen. Schlimmer noch! Ich bekam lüsterne Gedanken. Ich begehrte ein RoastbeefSandwich mit Meerrettich und eingelegten Zwiebelchen mit so wilder Lust, wie ich sie noch nie für einen Mann empfunden hatte. Ich habe oft gelesen, in diesen ‘Geschichten, die das Leben schrieb’-Illustrierten, wie Menschen in Augenblicken der tiefsten Krise durch eine Stimme aus dem Nichts vor dem Abgrund bewahrt wurden. Sie flüsterte ihnen Warnungen wie: »Liebste Marga, heirate ja nicht den Mann mit dem schwarzen Schnauzer und den Raubvogelkrallen da, wo andere ihre Hände haben. Fernando ist ein Mitgiftjäger, der schon neunzehn Frauen ermordet hat und auf eine gerade Zahl kommen will.« Mein Erlebnis war nicht ganz so unheimlich, aber als ich die Beine aus dem Bett schwang und nach meinen Pantoffeln angelte, fielen mir wieder ein paar ganz einfache Worte ein, die Ben am Abend zu Dorcas gesagt hatte, Worte, die so normal waren, daß ich ihnen vorhin keine Bedeutung beigemessen hatte. Jetzt spielte ich sie mir wieder vor: »Für Ellie und mich gehören Sie zur Familie.« Ben hätte ohne weiteres »zum Team« oder »zur Clique« sagen können, aber er hatte »Familie« gesagt. Er hatte sich mit mir, wenn auch nur für einen Moment, in einem wärmeren Bund verknüpft. Ich legte mich zurück und drückte die zerbrechlichen Worte an mich wie eine Blume, strich zärtlich über jede Silbe, bis sie eine nach der anderen abfielen und in die Nacht entschwebten. Ich
lächelte in die Dunkelheit, kuschelte mich in die ausgelegene Delle meiner klumpigen Matratze und verabschiedete mich von dem Roastbeef-Sandwich. Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich die Dinge wesentlich nüchterner. Schwärmerische Gefühle wirken im hellen Tageslicht recht albern, aber meine Entschlossenheit, mich an meine Diät zu halten, war gewachsen. So schaute ich beim Frühstück Ben und Dorcas ohne allzu große Qualen zu, wie sie Rühreier mit Schinken verdrückten. Eine halbe Grapefruit tat nicht viel für meinen Appetit, versprach aber (reichlich sauer), Phantastisches für meine Figur zu tun. Dorcas strich sich Orangenmarmelade auf ihren Toast. »Bin keine große Köchin, fürchte ich, fand Kochbücher immer schwerer zu entziffern als Griechisch, aber wenn ihr keine Angst habt, vergiftet zu werden, will ich mein Bestes tun.« »Sag das dem Fachmann«, sagte ich und nahm schaudernd einen Löffel voll Grapefruit. »Ben ist Kochkünstler.« »Nichts zu machen.« Der Empfänger von so viel Süßholz schaute zwischen zwei Bissen kurz von seinem Buch hoch. »Ich habe dir gesagt, ich bin im Ruhestand. Heute morgen war etwas anderes, ich habe Dorcas beim Braten geholfen, weil sie neu ist und …« Er trank einen Schluck Kaffee und prustete, »Igitt! Dorcas, welche Mixtur hast du für dieses Hexengebräu genommen? Tabaksaft und Asche?« »Nescafé.« »Ich gebe nach!« sagte Ben. »Wenn du heißem Wasser und einem Teelöffel brauner Körnchen das antun kannst, wage ich nicht, mir auszumalen, was du dem Mittagessen antun wirst. Du und Ellie, ihr könnt tun, was euch Spaß macht wie Fußböden schrubben; ich bin der Chefkoch.«
»Antrag angenommen.« Ich goß mir ein Glas Tomatensaft ein und erhob es feierlich. »Ben, glaube ja nicht, mir wäre entgangen, warum ich für diesen Posten nicht in Betracht gezogen wurde. Aber ich bin nicht nachtragend. Kochen ist in meinem Übergangsstadium eine sehr gefährliche Beschäftigung und je weniger Zeit ich in der Küche zubringe, desto besser. Was Essen anbelangt, wie kommt denn Jonas Phipps zurecht? So weit ich weiß, hat er eine Kochgelegenheit in seinen Räumen, aber was ist mit dem Einkaufen? Es gibt zwar einen Bus, aber …« »Mach dir keine Sorgen um den alten Jungen.« Ben legte ziemlich widerwillig sein Buch hin. »Leute in seinem Alter können noch ganz gut für sich selbst sorgen. Jonas überanstrengt sich schon nicht, außerdem, guter Gott, er ist nicht älter als mein Vater! Mit siebzig ist man doch noch kein prähistorisches Denkmal.« »Aber auch kein Frühlingküken«, sagte ich. »Und wenn er sich selbst bekocht, kriegt er nicht genügend Vitamine und Mineralien. Wir wollen doch nicht, daß er uns zusammenklappt. Ich schlage vor, wir laden ihn ein, morgens und mittags mit uns zusammen zu essen; auf die Art bekommt er zwei gute Mahlzeiten am Tag, und wenn er abends Brot mit Stippe essen will, macht das nichts. Für Leute in seinem Alter ist eine leichte Mahlzeit am Abend sowieso besser.« Dorcas nickte. »Guter Gedanke. Meine Großmutter hat immer gesagt«, sie unterbrach sich und trank einen Schluck Kaffee, »ein bißchen Wasser an den Eintopf und keiner merkt’s, wenn ein Esser mehr da ist.« Nach einer Runde frischen Kaffees berief ich eine Organisationskonferenz ein. Ben, so kamen wir überein, würde uns heute nicht mit seinem kulinarischen Können verwöhnen, nur ein leichtes Mittagessen und Abendbrot. Er wollte den Tag mit seinem Buch verbringen, um die
Unproduktivität von gestern wettzumachen. »Gebackene Bohnen auf Toast reicht mir völlig.« Dorcas krempelte schon die Ärmel auf. »Schön.« Ich stellte meine Tasse ab. »Dorcas, ich glaube, wir beide sollten heute vormittag Onkel Merlins Schlafzimmer in Angriff nehmen. Sind alle glücklich?« Meine Begeisterung geriet etwas ins Stocken, als wir das Zimmer betraten: ringsum Staub und Schutt, angehäuft in einem halben Jahrhundert Lotterwirtschaft. Aber ich ermahnte mich, daß unter den Spinnweben ein weiterer Hinweis vergraben sein konnte oder wenigstens eine Erklärung zu dem Hinweis, den wir schon erhalten hatten. Ein Mann, der Hemdenkartons hortete, mußte auch Erinnerungsstücke wie Zeitungsausschnitte und Briefe aufgehoben haben. Die erste Parole des Tages hieß, die durchhängenden kastanienbraunen Samtvorhänge abzunehmen und Licht und Luft hereinzulassen. »Lohnt sich nicht mehr, die zu reinigen!« schnaubte Dorcas angewidert. »Dick voll Motten und starr vor Dreck.« Wir niesten heftig, als eine Staubwolke — jedem Wüstensandsturm vergleichbar — aus den Falten quoll und wankten unter dem gewaltigen Gewicht des Materials. Als wir die Vorhänge endlich von den Haken hatten, standen wir vor der Frage, wohin damit. Von unseren Stühlen zu beiden Seiten des Fensters schauten Dorcas und ich uns an. Nickten wie zwei identische Aufziehpuppen, rissen das Fenster auf und schmissen das ganze Ding hinaus. Das nämliche Schicksal blühte der fleckigen Tagesdecke auf dem Bett. Vor fünfzig oder mehr Jahren hatte sie zu den Vorhängen gepaßt. In gewissem Sinne tat sie es immer noch. Ein erneuter Staubausbruch erstickte uns fast, als wir sie zum Fenster schleppten. Decken und Laken folgten.
»Matratze?« Dorcas zog eine struppige Augenbraue hoch. »Richtig. Raus damit.« Inzwischen beherrschten wir die gute, alte Hauruck-Methode perfekt. Die Matratze segelte zum Fenster hinaus wie ein fliegender Teppich. »Ein Segen«, Dorcas wischte den Schmutz von ihren Händen auf die Arbeitshose, »daß sie in der guten alten Zeit vernünftige Fenster gemacht haben.« So abgezogen sah das Zimmer fast unanständig aus, nackt. Dorcas und ich teilten uns auf; sie nahm den gewaltigen Kleiderschrank und ich zog mir einen Stuhl heran und öffnete den Mahagonischreibtisch. Zwei Schubladen bargen nichts von Interesse außer einem großen Sortiment alter Weihnachtskarten. Überraschenderweise waren sie säuberlich nach Jahren geordnet und auf einigen waren Kommentare notiert: »Hübsches Paar Hausschuhe dies Jahr« und »Schon wieder Schachtel Pfefferminzbonbons — weiß die Frau nicht, daß die mir die Zähne rausreißen.« Außer den Weihnachtskarten fand ich mehrere Schachteln mit verbrauchten Scheckbüchern — auch hier wieder nichts Aufregendes außer der Tatsache, daß Onkel Merlin mehrere Male Tante Astrid und auch Onkel Maurice Geld geliehen oder geschenkt hatte. Nach den Summen zu urteilen hatten beide zu seinen Lebzeiten recht ordentlich von Onkel Merlin profitiert. In der dritten Schublade fand sich ein großer Karton voller Rechnungen, alle waren mit Vermerken über ihre Bezahlung und den Daten versehen. Eine sprang mir ins Auge; es war eine Spende an eine private Tierklinik. Ich sah sie mir an und legte sie beiseite. »Wichtige Entdeckungen?« »Eigentlich nicht. Außer, daß Onkel Merlin auf dem Papier besser aussieht als im wirklichen Leben. Er hat den Verwandten finanziell ganz schön unter die Arme
gegriffen und hier spendet er für ein Tierheim. Wenn er die Vierbeiner so mochte, warum hielt er sich dann kein Haustier? Das bringt mich wieder auf das, was die Kellnerin über das Haus und seine falsche Atmosphäre gesagt hat … Wie steht’s bei dir, was gefunden?« »Vier Schachteln runde Zelluloidkragen mit Kragenknöpfen.« »Heb’ die auf. Das sind Antiquitäten!« Hinten in der Schublade mit den Rechnungen fand sich noch ein Karton, kleiner und leichter als der vorige. Als ich den Deckel lüpfte, überkam mich eine plötzliche Vorahnung. Hier war etwas Wichtiges. Ich sah sofort, daß die Briefe darin alt waren, aber was mich zuerst mehr interessierte, waren die Spielsachen. Kleine, abgenutzte Überbleibsel — so nahm ich an — von lange vergangenem Kinderbesuch auf Merlins Schloß. Ich faltete den obersten Brief auseinander und sah am Datum, daß er vor sechzig Jahren geschrieben worden war, in geschraubtem, herrischem, schwülstigem Stil. Kein lockerer Brief, wie ihn heutige Pappis an ihre Söhne im Internat schreiben. Der arme Merlin! (Denn der Brief war an ihn gerichtet.) In einer dieser merkwürdigen Rückblenden, die einem manchmal kommen, wenn man alte Briefe liest, sah ich ihn lebhaft vor mir — ein tintenverschmierter Schuljunge mit knochigen Knien in kurzen Hosen, gestreiftem Schlips und Schirmmütze. Ein Kind, daß mit solch einem Vater geschlagen war, mußte zum Sonderling werden. Von Arthur Grantham hatte ich immer nur verschwommene Vorstellungen gehabt, die übersprungene Sprosse in der Familienleiter. Ich hatte gestern von der Kellnerin Kessi mehr über ihn erfahren als von meiner Mutter oder der Familie. Die Briefe enthielten alle die gleiche Predigt. Ein Kind aufzuziehen ist im besten Falle eine beängstigende
Verantwortung. Für einen Witwer wie Arthur Grantham war es sicher eine schwere Prüfung. Wie »schärfer noch als Schlangenzahn« mußte es an ihm genagt haben, einen Sohn großzuziehen, der keine der Begabungen und Tugenden des Vaters, dafür aber die Kühnheit besaß, in Geschmack und Gefühl der Mutter zu ähneln. Es munterte mich direkt auf, daß Arthur zugab, im Laufe seines Lebens einen Fehler begangen zu haben; er hatte eine Frau geheiratet, die seiner nicht würdig war. Die Sünden der Mutter und des Sohnes wurden peinlich genau auseinandergepflückt. — Ich legte den fünften zu seinen Brüdern und nahm den sechsten zur Hand. Wollte ich wirklich noch mehr von dieser salbungsvollen Frömmigkeit lesen? Na ja, wer A sagt … Der Brief begann: Mein liebster Merlin, wenn es mich auch glücklich macht, daß Du Deine Ferien am Meer genießt, so muß ich Dir doch sagen, daß mir die Tage ohne Dich sehr langsam vergehen. Halte mich für selbstsüchtig, aber ich gestehe, ich freue mich mächtig auf Deine Rückkehr, die Tiere ebenso. Wie traurig, daß Sybils Kätzchen verschwunden ist. Onkel Arthur in leutseligerer Stimmung? Ich drehte das Blatt um und las die Unterschrift — Deine Dich liebende Mutter Abigail Grantham. Der Brief, vier Jahre vor den anderen geschrieben, war zu einem kleinen Quadrat zusammengeknifft worden. Gerade die richtige Größe, dachte ich, um ihn in einer kleinen Faust zu verbergen. Eine Art Sicherheitsdecke für einen kleinen Jungen, dessen Mutter gestorben war und dessen Vater ihn nicht mochte. Das von den Spuren der Zeit gezeichnete Spielzeug bekam eine neue Dimension. Es hatte keinem Kind gehört, das zu Besuch gekommen war und es bei
der Heimreise vergessen hatte. Das hölzerne Kamel mit dem abgebrochenen Höcker und die bunte Lokomotive waren die Spielsachen des kleinen Merlin gewesen, da war ich mir sicher. Im reifen, gesetzten Alter von neun oder zehn Jahren wurde er in ein Internat verfrachtet, und sein halsstarriger Vater befahl ihm wahrscheinlich, die Kinkerlitzchen der Kindheit wegzupacken und sich in Griechisch und Latein zu vertiefen. Ich stellte mir Arthur Grantham als einen Mann vor, der so steifleinen war wie seine Wäsche, das pomadegebändigte Haar in der Mitte gescheitelt, Augen wie braune Hustenpastillen, dazu ein gezwirbelter, sorgfältig gewachster Schnurrbart, der nie in Unordnung geriet. Wie hatte der Mann wirklich ausgesehen? Ich ging noch einmal die Schublade durch. Dann zog ich die anderen heraus, die ich schon durchsucht hatte, und ließ sie in meiner Eile wie Treppenstufen herausstehen. Keine Fotos. »Dorcas«, sagte ich zum Kleiderschrank, »kommst du ein paar Minuten ohne mich aus? Gut! Ich sag’ dir gleich, wieso!« Runter zum Sekretär im Salon. Aufgrund der Unordnung, die in ihm herrschte, wußte ich, daß Tante Sybil ihn benutzt hatte. Bei ihrem Sammeltick war es gut möglich, daß unter dem ganzen Wust ein Stoß alter Schnappschüsse steckte. Außerdem war mir wieder etwas über den Sekretär eingefallen. In einer seltenen Anwandlung von Güte hatte Onkel Merlin mir bei einem meiner Kindheitsbesuche ein Geheimnis gezeigt. Die Hauptschublade hatte einen doppelten Boden. Mit angehaltenem Atem zog ich ihn langsam heraus. Nichts. Nichts als weitere alte Rechnungen, ein zerfleddertes Telefonbuch und ein vergilbter Reiseprospekt, der die Reize eines südlichen Paradieses hervorstrich. Hatte Onkel Merlin seiner Gesundheit zuliebe eine Reise geplant? Meine Vorstellungskraft sträubte sich: Onkel
Merlin unter einem gestreiften Sonnenschirm, in knappen Badehosen, mit überdimensionaler Sonnenbrille? Ich war enttäuscht, denn die Erinnerung an das Geheimfach hatte Hoffnung auf mehr geweckt als alte Rechnungen. Eines baldigen Tages würde ich das ganze Zeug in Kisten packen und Tante Sybil runterschicken. Die Kanonade der Schreibmaschinentasten aus dem Eßzimmer verriet mir, daß Ben emsig bei der Arbeit war. Das Mittagessen hatte also noch Weile. Ich ging durch die Küche zu der Nische neben der Gartentür und nahm meinen Regenmantel vom Haken. Der Tag war trübe und wolkenverhangen. Ein böiger, nasser Wind traf mich wie ein Hieb, sobald ich den Fuß vor die Tür setzte. Ich lief über den Hof, meine Kapuze knatterte mir um die Ohren. Aus den Augenwinkeln sah ich Jonas, der in Südwester und Ölzeug hinter der Stalltür hervorlugte. Ben hatte ihm aufgetragen, den Schloßgraben zu säubern, der zur Müllkippe verkommen war, aber die Elemente hatten Jonas zum Rückzug gezwungen. Ich hielt die Hände um den Mund und trompetete gegen den Wind an: »Kommen Sie ins Haus zum Essen, Jonas.« »Da sag’ ich nicht nein. Hab die Nase voll von meiner eigenen Kocherei. Ist das auch nichts Überkandideltes? Mag mein Futter ohne Schnörkel. Wenn ich Schnecken will, die hab ich im Salatbeet.« »Sie essen, was Ihnen vorgesetzt wird«, schrie ich und machte mich davon. Ich spürte, daß Jonas mich beobachtete. Gott weiß, warum. Die Natur hat Schöneres zu bieten als eine fette Frau in vollem Galopp. Tante Sybil nahm sich Zeit, ehe sie mir aufmachte. Ich dachte, sie hätte den Bus in die Stadt genommen und wollte schon weggehen, da hörte ich Füße in zu großen Pantoffeln den Flur entlangschlappen. Die Haustür öffnete sich ein paar Zentimeter, dann ging sie für meine
Begriffe ziemlich zögernd weiter auf. »Ach, du bist es, Giselle.« Tante Sybil hörte sich an, als hatte sie jemand anders erwartet, an so einem Tag vielleicht den Kohlenmann. Oder den Pfarrer? Vielleicht war das die Erklärung für den ungleichmäßigen Streifen Lippenstift auf ihrem Mund und die unegalen Ohrringe, die an ihren Ohrläppchen sprossen. Ich erläuterte ihr meine Suche nach alten Fotographien und folgte ihr in das vollgestopfte Wohnzimmer. Jede Oberfläche erstickte unter Zeitschriften, Büchern, rostigen Blechdosen oder verhedderten Wollknäueln, in denen Stricknadeln spießten. Tante Sybil wollte mich erst mit einer fahrigen Geste einladen, Platz zu nehmen, überlegte es sich aber anders. Wie ich da so herumstand, kam ich mir wie eine Fremde vor, was ich in gewissem Sinne auch war. Ich hatte sie nie gut gekannt. »Bedaure, Giselle, aber da kann ich dir nicht helfen.« Geistesabwesend blickte sie sich im Zimmer um. »Ich habe sehr an Onkel Arthur gehangen, aber sich in meinem Alter an Erinnerungsstücke zu klammern, das ist übertriebene Sentimentalität.« (Ich vermied es, ihrem Blick über all den unnützen Krimskrams hinweg zu folgen, eine Sammlung, die Königin Viktoria vor Neid hätte erblassen lassen.) »Ich habe alle alten Fotos schon vor Jahren vernichtet.« Ich war fast sicher, daß sie log. Und konnte es ihr nicht verübeln. Sie mochte wohl meinen, daß Ben und ich schon übergenug hatten, ohne ihr nun auch noch ein Stück ihrer Vergangenheit abzuverlangen. Ich machte schon einen Schritt, um zu gehen, da taute sie ein wenig auf. Sie hatte ein paar Schnappschüsse von Onkel Merlin, ob ich die sehen wollte? Mich überraschte, wie schnell sie sie fand, außerdem waren sie säuberlich in
Seidenpapier eingewickelt. Doch leider war die Verpackung besser als der Inhalt. Auf jedem war Onkel Merlin ohne sein Wissen im Garten geknipst worden, wobei ihm der Fotograph stets den Kopf abgeschnitten hatte. »Höflichkeit contra Ehrlichkeit« war ein altes Familienmotto väterlicherseits. Meine begeisterte Reaktion auf den kopflosen Onkel Merlin trug Früchte. Tante Sybil taute noch weiter auf und entwarf für mich ein verbales Porträt von Onkel Arthur. »Er war ein lieber, wundervoller Mensch«, gab sie freiwillig zum besten und wickelte die Fotos wieder in das Seidenpapier. »Willst du wissen, welchen Kosenamen er mir gab?« Bei dem Gedanken an das Kompliment errötete sie leicht and strich eine der unvermeidlichen Knitterfalten in ihrem Kleid glatt. »'Mein kleiner Morgensonnenstrahl'. Und damals mußten Kinder sich ordentlich benehmen — Krummsitzen oder Rumzappeln gab es nicht. Du siehst also, wenn Onkel Arthur große Stücke auf mich hielt, dann war das ein ungeheures Kompliment.« »Der arme Onkel Arthur, er hatte kein leichtes Leben«, seufzte Tante Sybil. »Du weißt, er wurde früh Witwer?« »Litt Abigail Grantham an einer chronischen Krankheit?« »Oh nein, ganz im Gegenteil. Zu der Zeit, mußt du wissen, war ich noch sehr klein und lebte nicht hier im Haus. Daher weiß ich nur, daß sie sehr plötzlich von ihm ging. Ich kam zur Beerdigung, und die ist mir im Gedächtnis geblieben, aber nichts über die Todesursache. Ganz unter uns, vielleicht war es eine Erlösung, auch für Onkel Arthur. Abigail war, um es so freundlich wie möglich auszudrücken, in gesellschaftlicher Hinsicht eine Belastung. Nicht aus ersten Kreisen. Und dann hatte sie keinen guten Einfluß auf Merlin. Unter ihrer Obhut entwickelte er sich zu einem
ziemlichen Rüpel.« Tante Sybil hatte wirklich einen ekelhaften Dünkel am Leib, fand ich, aber dann verzogen sich ihre Hängebacken und sie tat mir leid. Hatte sie darunter gelitten, daß Merlin die Freiheit zum Ungehorsam besaß, während sie artig sein mußte, um zu gefallen? »So lange her«, murmelte sie. »Ein paar Jahre nach Abigails Tod starben meine Eltern und Onkel Arthur nahm mich zu sich. Natürlich war ein wenig Geld da, das er für mich verwaltete, aber ich weiß, er hätte genauso gehandelt, wenn ich ein Habenichts gewesen wäre. Er war ein so guter Mensch — hat sich die Knie aufgescheuert vor lauter Beten. Und nun«, sie straffte sich, und ich konnte ihr energisches Kinn nur bewundern, »wieder mal ein neuer Anfang. Und da ich jetzt mehr Zeit für mich habe, werde ich mehrere Hobbies in Angriff nehmen. Meinem künstlerischen Naturell entsprechend habe ich mich schon immer für die Bildhauerei interessiert, also habe ich beschlossen, zu Weihnachten für jedes Familienmitglied einen Kopf von Merlin zu machen. Ich arbeite in Papiermaché, da ich so viel alte Zeitungen habe. Was hältst du davon«, sie heftete ihre unbestimmten, farblosen Augen in beklemmender Weise auf mein Gesicht, »wenn ich Klarlack statt Farbe benutze, damit die literarische Symbolik erhalten bleibt?« Ich sah mich schon, wie ich mir einen langweiligen Moment vertrieb, indem ich Onkel Merlins Kopf las. »Und ich habe auch beschlossen, das Schwimmen aufzunehmen«, fuhr sie fort, bevor ich einen Kommentar abgeben mußte. »Erst vorige Woche habe ich von einer Sechsundneunzigjährigen gelesen, die versucht hat, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Sie hat es nicht geschafft, aber in allen Zeitungen Furore gemacht, und ich bin fast dreißig Jahre jünger. Noch dazu ist es billig.« Sie bückte sich und hob eines der verfilzten Wollknäuel
auf. »Ich kann mir selber einen Badeanzug stricken, und mit einem Paar Schwimmflügel von Woolworth bin ich dann komplett ausgerüstet.« Sie war gewiß überspannt, aber eines mußte ich ihr zugestehen: sie stürzte sich ins Getümmel und wurde so mit ihrem Kummer fertig. Dorcas fand das bestimmt gut. Ich hatte Lust, mich auf etwas anderes zu stürzen, das Mittagessen nämlich, und so war ich hochbeglückt vom appetitanregenden Duft, der mir aus der Küche von Merlins Schloß entgegenströmte. Französische Zwiebelsuppe! Außerdem besaß sie den Vorzug, informierte mich der Chefkoch, so wenig Kalorien zu enthalten, daß man sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Selbstverständlich bekam ich nicht die Scheibe gratinierten Käsetoast oder den Zitroneneierkuchen mit Preiselbeersauce zum Nachtisch. »Angeber!« sagte ich und schickte Suppenteller wie Frisbeescheiben über den Tisch. »Während du in der Küche gemurkelt und nur das getan hast, was Frauen ohne jeden Dank seit Erschaffung der Welt tun, habe ich nach alten Familiendokumenten gesucht. Nach Schlüsseln für Hinweis Nummer Eins.« »Und? Was gefunden?« Ben stellte die Flamme unter der Suppe kleiner. »Nur, daß Merlins Eltern, Onkel Arthur und Tante Abigail, nicht die Art Ehe führten, die im Himmel geschlossen wird. Und daß Onkel A. Sybil lieber mochte als seinen eigenen Sohn, meint sie. In jungen Jahren war Merlin ein ziemlicher Quälgeist.« »Auf seine alten Tage auch.« Die Küchentür sprang auf und traf um ein Haar meinen Rücken. »Fröschebein und Krebs und Fisch, hurtig, Kinder, kommt zu Tisch!« Jeder schien auf einmal den gleichen Einfall zu haben. Die Hintertür ging auf und Jonas kam hereingestapft, Wasser troff ihm vom
Regenmantel. »Komm, Dorcas«, sagte ich, nachdem ich sie mit dem Gärtner bekannt gemacht hatte, »ich nehme dir die Kragenschachteln ab. Du hättest sie nicht runterzubringen brauchen. Am besten aus dem Fenster damit zu dem anderen Krempel. Das mit den Antiquitäten war doch nur ein Witz!« »Glaube kaum, daß es dir recht wäre, wenn wir die wegschmeißen«, grummelte Dorcas. »Hier sind keine Kragen drin. Voll mit alten Fotos.« »Her damit!« Ben riß Dorcas die Kartons aus der Hand und schnappte sie mir vor der Nase weg. Wir drei steckten die Köpfe zusammen. Nur der Gärtner blieb völlig unbeteiligt und schlürfte geräuschvoll mit gesenktem Kopf die Suppe, die Ben ihm aufgetan hatte. »Das ist sie!« Dorcas zeigte auf einen braunen, fleckigen Schnappschuß. Sie beugte sich vor, dabei fiel ihr eine rote Strähne übers Auge und gab ihr einen piratenhaften Anstrich. »Die Frau auf dem Gemälde, und hier hinten stehen der Name und das Datum. Abigail Grantham.«
Zehn Diese Enthüllung war zwar interessant, deutete jedoch lediglich an, daß der Schatz auf irgendeine Art mit Abigail zusammenhing. Ben stellte die Theorie auf, daß sie vor ihrem Tod ihren Schmuck versteckt hatte, damit ihr Mann ihn nicht an eine zweite Frau weiterreichen konnte. Ich war nicht der Meinung. Laut Tante Sybil war Abigail nicht vermögend, und wie Onkel Arthur aussah (seine Fotos zeigten ihn genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte — komplett mit Mittelscheitel und gewachstem Schnurrbart), war er nicht der Mann, der sein Geld darauf
verschwendete, seine Frau mit Perlen und Diamanten zu überschütten. Nachdem wir den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht hatten, weitere ebenso schwache Theorien zu verwerfen, beschlossen wir, das beste Vorgehen war, die Ankunft von Hinweis Nummer Zwei abzuwarten. Das soll nicht heißen, daß die nächsten Wochen müßig oder langweilig waren. Der Pfarrer, Mr. Foxworth, kam mehrmals vorbei. Er war ein ausgesprochen attraktiver Mann, aber ich bin nicht die Frau, die es lässig findet, mit einem Schmutzschnurrbart und einem Staubtuch um den Kopf Konversation zu machen. Während die Tage länger wurden und sich frühlingshaft erwärmten, schlugen Dorcas und ich unsere Schlacht gegen den Schmutz. Manchmal wurde ich es müde, wie eine Flasche Allzweckreiniger zu riechen, aber gegen Mitte Mai rechtfertigten unsere Resultate langsam unsere Anstrengungen. Ich hatte Mr. Bragg, den Anwalt, konsultiert, um aus dem Vermögen Mittel für Reparaturen und Renovierungen locker zu machen. Weit davon entfernt, mich dafür zu tadeln, daß ich vor Ablauf der sechs Monate Bewährung soviel Geld ausgeben wollte, pflichtete er mir bei, der Wert des Anwesens könne durch die Anwendung meiner beruflichen Talente nur steigen. Eines wollte ich nicht: weiter buchstäblich im Dunkeln schuften. Das Gaslicht im Erdgeschoß ruinierte meine Augen. Ich rief die Elektrizitätsgesellschaft an und veranlaßte das Notwendige. So bekamen wir nicht nur ordentliche Beleuchtung, sondern ich konnte auch diese wunderbare moderne Errungenschaft, einen Staubsauger, kaufen und mit Hilfe der Steckdose in Aktion setzen. Dorcas war mir eine große Stütze. Ich machte mir schon Vorwürfe, weil sie sich so verausgabte. Das Haus in seinem verfallenen Zustand war trotz unserer Fortschritte einfach zu viel für eine dicke Frau
und eine dünne. Eines Morgens befahl ich Dorcas, die Müllschippe hinzulegen, keine Fragen zu stellen, ihren Mantel zu holen und zum Auto zu gehen. Ein freier Tag für die Dienstmädchen. »Kann ich auch mitkommen?« Ben kam aus dem Eßzimmer, sein Haar war zerwühlt, aber in seinem abgetragenen Marinepullover sah er beängstigend attraktiv aus. Vormittags pflegte er nur das Wort an uns zu richten, wenn er unter totaler Schreibsperre litt. Schwester Maria Grazia war für ihren Schöpfer zeitweilig eine schwere Prüfung. »Tut uns leid, das ist eine Frauenfete, aber nicht verzweifeln, zum Abendbrot sind wir zurück. Wie wär’s denn mit einer weiteren Ruhmestat vom Chef? Über die letzte Rinderroulade habe ich in meinem Tagebuch ein Sonett geschrieben.« »Ja, die kann wohl als eines meiner besseren Werke gelten«, zierte sich Ben. »Ich komme mir zwar schrecklich minderwertig vor, aber mach so weiter.« Ich band mir ein Kopftuch um und schnitt dem albernen Affen eine Grimasse. »Wenn du schon mal dabei bist, kannst du auch deine köstlichen Kartoffelcroquetten zaubern. Ich darf sie zwar nicht essen, aber sie riechen entzückend.« *** Der Tag war so klar und blau und die Brise vom Meer so frisch und würzig, daß ich mir wie ein Kind vorkam, das die Schule schwänzt. Auch Dorcas war bester Laune und hatte sich in Schale geworfen. Sie prangte in blaugelbem Pullover und Hosen mit ziemlich wüsten Pyjamastreifen. »Wohin, Fahrer?« fragte sie, nachdem ich das Auto in eine Parklücke bugsiert hatte und wir uns zum Landgang bereit machten.
»Zum Arbeitsamt. Ich möchte für ein paar Wochen jeden Tag zwei Putzfrauen haben, die uns über den Berg helfen.« »Dachte, wir kommen ganz gut zurecht«, protestierte Dorcas etwas gekränkt. »Das tun wir auch«, stimmte ich zu. »Aber ich möchte, daß wir uns um aufregendere Projekte kümmern. Die Dachkammern sind vollgestopft mit Sachen, die ich vielleicht runterholen möchte. Wir sind schon über einen Monat in dem Haus und es gibt noch unglaublich viel zu tun, bis unsere Zeit abgelaufen ist. Es juckt mich in den Fingern, die Küche herzurichten, und du hast neulich gesagt, du würdest gern den alten Kräutergarten ausbuddeln. Dann ist der Schloßgraben noch voll Schutt und dreckigem Regenwasser …« Fröhlich besprachen wir unsere Pläne und gingen durch den römischen Torbogen auf den Platz. Zu unserer Freude fanden wir, daß der Tag noch weitere angenehme Überraschungen für uns bereithielt. Das ganze Areal war mit Ständen übersäht. Männer und Frauen hielten ihre Waren feil und drängelnde Käufer feilschten gierig um jedes Stück. Es war Markttag. »Was, zwei Pfund wollen Sie dafür?« schrie eine Frau mit rotem Gesicht, der die Lockenwickler unter dem Kopftuch hervorlugten. »Sie spinnen ja. Die halben Knöpfe fehlen und der Kragen ist falsch rum dran. Eine Frechheit!« Dorcas und ich waren sehr in Versuchung, zu verweilen und im Gedränge mitzuschwimmen, aber zuerst kam die Pflicht. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge und begaben uns zum Arbeitsamt, wo wir wie Mitglieder der königlichen Familie behandelt wurden. Man nannte uns die Namen mehrerer wackerer Hausfrauen, die gerne für eine befristete Zeit arbeiten und ganz bestimmt nicht das Silber klauen würden. Nachdem wir das Räderwerk der Betriebsamkeit in Gang
gesetzt hatten, statteten wir der Bank einen Besuch ab und gingen, mit dem nötigen Kleingeld versorgt, die Straße entlang zum Lebensmittelladen. Nach getaner Pflicht waren meine Freundin und ich nun frei, uns ins Vergnügen zu stürzen. Der Markt zog uns in seinen Bann. Uns faszinierte das Geschrei der Händler, jeder war ein Künstler auf seinem Gebiet. »He, Sie da, schöne Frau! Sie mit den langen braunen Strähnen!« Ein knochiger Mann mit fettigen schwarzen Koteletten und Augen, so klein und blankpoliert wie Stiefelknöpfe, stand hinter endlosen Reihen Haarwaschmitteln in Flaschen, die nach Größe und Farbe sortiert waren. Er winkte mir mit einem drahtigen, tätowierten Arm. Wie hypnotisiert trat ich vor zwei kichernde Schulmädchen und hoffte nur, daß nicht aller Augen auf mich geheftet waren. »So ist’s richtig, Liebchen, nur keine Scheu. Hübsches Haar, sehr hübsch«, sagte der Mann zur Menge. »Aber, die junge Frau wird’s mir nicht übelnehmen, sehr trocken. Haben Sie’s mit Terpentin gewaschen?« Die Menge brüllte vor Lachen, ich stand wie angewurzelt, Dorcas stöhnte an meiner Seite. »Wirklich ein Jammer, aber kein Grund, alle Hoffnung aufzugeben.« Mein Flaschenteufel griff sich eine große Flasche in Gestalt einer Seejungfrau voll roter Flüssigkeit. »Die gehört Ihnen zu einem Preis, meine Damen und Herren, es wäre Sünde, da nicht zuzugreifen. Treten Sie zurück, bitte nicht schubsen und nicht drängeln. Nur noch sechs Flaschen sind da, und die ist für mein Liebchen hier. Und das Beste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt: dieses Shampoo garantiert Ihnen einen zusätzlichen Haarwuchs von einem Zentimeter jeden Monat.« »Wohl eher, daß einem innerhalb eines Tages alle Haare ausfallen«, schnauzte Dorcas empört und erntete
für ihren Einwurf von der Menge derben Spott. »Ich nehme die Flasche.« Hastig griff ich in mein Portemonnaie und überreichte ihm ein Pfund. Jedem, der es hören wollte, erklärte ich, daß ich in zwei Tagen Geburtstag hätte und mir sowieso ein Geschenk kaufen wollte. Dorcas war nicht besänftigt und schob mich durch das Gewimmel. So rempelte ich eine große Frau mit langem, fettigen Pferdeschwanz an; wenigstens hielt ich sie für eine Frau. Ich sah nur ihren — seinen — Rücken und das Aufblinken eines goldenen Ohrrings. »Hast du etwa einen Schluck aus der Flasche genommen?« Dorcas hakte mich unter. »Du siehst ganz blaß aus.« »Das kommt vom Hunger«, sagte ich. Die Turmuhr schlug die Mittagsstunde. ‘Der Hase und die Meute’ bot den Ortswechsel, den wir brauchten. Kessi rief uns über die Theke zu, daß der Falsche Hase angebrannt sei, aber die Fleischpastete zerginge auf der Zunge. »Mir recht«, sagte Dorcas. Ich übte löbliche Zurückhaltung und bestellte einen Salat. Wir setzten uns an einen Fenstertisch. Mit der Zeit spürte ich, daß Disziplin mir durchaus eine gewisse Befriedigung gab, auch wenn ich davon nicht satt wurde. Und ich lernte, jeden Mundvoll auszukosten, sogar den Espresso, der — wie der Falsche Hase — angebrannt schmeckte. Dorcas ließ drei Stückchen Zucker in ihre Tasse plumpsen und unser Essen kam. »Onkel Merlin hätte uns mehr Zeit geben müssen. Typisch Mann zu glauben, wenn die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde, dann reichen sechs, um sie in Ordnung zu bringen.« »Immerhin hat er uns Monate gegeben, nicht Tage. Das Problem ist nur, die Tage rennen uns davon.« Ich senkte die Stimme, weil ich immer in Restaurants andere belausche und aus irgendeinem Grund wurde ich heute das Gefühl nicht los, daß es in dem überfüllten Raum
Leute gab, die die gleiche Angewohnheit hatten. »Apropos wie die Zeit vergeht, hast du wirklich übermorgen Geburtstag?« Widerwillig gab ich es zu. Bevor dieses Geständnis zu irgend etwas führen konnte, schlenderte Kessi an unseren Tisch. Sie hatte ihrer Oma von uns erzählt und damit eine Lawine von Erinnerungen an die Zeiten im Dienste der Granthams ausgelöst. Wenn es nicht zu viel verlangt oder ein zu großer Umweg wäre, dann sei ein kurzer Besuch hochwillkommen, denn Oma verließ nur noch selten das Haus. *** Wir gingen bei einem Blumenladen vorbei und kauften einen Strauß Osterglocken. Oma wohnte in einem der Reihenhäuser in Hanglange an der Küstenstraße außerhalb der Ortschaft. Eine kleine alte Dame mit Pfirsichbäckchen und einem säuberlichen Dutt, der immer noch mehr Braun als Weiß enthielt, machte uns die Tür auf. Ich wußte, Dorcas dachte das gleiche wie ich: wenn wir mit über achtzig noch so aussehen würden, dann hatten wir uns nicht schlecht gehalten. Eine Erklärung, wer wir waren oder weshalb wir gekommen waren, schien überflüssig und die Osterglocken wurden dankbar entgegengenommen. Alsbald saßen wir vor einem munteren Feuerchen in der guten Stube mit ihren Erinnerungsfotos auf dem Büffet und den Schondeckchen auf dem gewienerten Holz. Ein Teller Plätzchen erschien (nur eine Schwachsinnige hätte nicht zugegriffen), und der Tee, so wurde uns gesagt, sei gleich so weit. Obwohl ich gerade erst eimerweise Kaffee getrunken hatte, fand ich es bezaubernd, wie der schwarze Kessel auf dem Kamineinsatz summte. Das
Hexenhäuschen hatte es mir angetan. Es war, als schlüpfte man zwischen die Seiten eines Kinderbuches mit einer hausfraulichen Haselmaus als Gastgeberin, die in gestärkter weißer Haube und Schürze und einem Kleidchen aus Barchent an ihrem Feuer sitzt. Als junges Küchenmädchen oben im Haus mochte Oma wohl so kostümiert gewesen sein. Wir redeten sie mit ihrem Familiennamen an, Mrs. Hodgekins, doch sie bestand darauf, daß wir Rose zu ihr sagten. Sie war zwölf, als sie in Dienst kam. »Das waren schwere Zeiten«, sagte Dorcas. Die alte Frau beugte sich vor, um Teeblätter aus einer kleinen Dose in die irdene Kanne zu löffeln und sprudelndes Wasser aus dem Kessel darüberzugießen. »Die Zeiten waren nicht leicht, aber ich hatte das Glück, eine gute Herrin zu haben. Meistens war Mrs. Grantham schon unten und in der Küche, wenn ich kam, und wer weiß wie oft sagte sie: »Setz dich erstmal an den Ofen, Rose, und trink eine Tasse Tee.« Manchmal mußte ich direkt weinen, so freundlich war sie. Einmal kam ich angehumpelt, konnte kaum die Füße heben vor lauter Frostbeulen, bei der Kälte damals und den nassen Schuhen. Da hat sie mir gesagt, ich soll die Strümpfe ausziehen, jawohl, und hat so eine Salbe draufgetan und einen Verband drumrum. Mit Heilkräutern war sie ganz groß. Die Köchin war wütend, das weiß ich noch, weil ich ins Morgenzimmer geschickt wurde, Bettwäsche ausbessern. Obwohl, was die Gnädige mit einer Köchin sollte, weiß ich wirklich nicht. Ich bin noch bei vielen Leuten in Stellung gewesen, aber da war keine, die sich so viel Neues hat einfallen lassen wie Mrs. Grantham. Im Ausprobieren war sie groß. Hat meiner Mutter ein Rezept für Sahnebonbons geschickt, wo man mit der Ofenhitze nichts falsch machen konnte, köstlich waren die.« »Und Mr. Grantham?« Ich streckte die Hand nach
meiner Tasse aus. »Schrecklicher Mensch.« Rose entschuldigte sich nicht, daß sie kein Blatt vor den Mund nahm. »Einer von der Sorte ‘Ich bin der Größte!’, aufgeplustert wie ein Papagei, wollte immerzu den Nachbarn imponieren. Damals empfingen die meisten Leute ein- oder zweimal die Woche Nachmittagsbesuch, aber Mr. Grantham bestand darauf, daß die Gnädige die ganze Woche über jeden Tag zu Hause war. Na, das hat sie vielleicht gefuchst, immer mußte sie fein angezogen sein und stundenlang im Salon sitzen und die Witwen und jungen Damen bewirten. Viel lieber hätte sie gebacken oder im Garten gearbeitet oder Drachen steigen lassen mit Master Merlin.« »Hatten sie Streit?« »Der Herr und die Gnädige? Nur einmal, und das war immer!« Rose zupfte das Deckchen auf der Armlehne ihres Sessels zurecht. »Bei Mr. G. war immer alles Schau. Einmal weiß ich noch, wie eine feine Dame ins Haus kam, war im Unwetter steckengeblieben. Zu der Zeit hatten Automobile mit schlechtem Wetter nichts im Sinn. Ach, und Sie hätten hören müssen, was für ein Theater der hohe Herr gemacht hat, weil die Gnädige die Dame in die Küche geführt hatte statt in den Salon. Sie redeten über Rezepte und Kräuterheilmittel und sowas. ‘Entsetzlich ordinär’ nannte er die Gnädige, aber die Dame kann es nicht übel genommen haben, denn sie hat ihr einen Dankesbrief geschickt mit einem kleinen Geschenk — ein Osterei, für den kleinen Merlin nehm ich an. Ich kann mich noch so gut dran erinnern, weil das zu der Zeit war, wo Mr. G. auf den Gedanken kam, die Gnädige in Öl malen zu lassen. Nicht, weil er so an ihr gehangen hätte, sondern weil das zum guten Ton gehörte. Das Dumme war nur, er war nicht bereit, genug für einen richtigen Künstler auszuspucken — holte sich
einen Jungen aus dem Dorf, Miles Biddle. Ich weiß noch, sein Vater war Bankbeamter. Netter Junge, aber seine Bilder waren einmalig scheußlich.« »Also der war’s. Wir haben uns schon gefragt, wer der Maler war — wir haben das Bild, aber es wurde nicht fertig.« Ich schaute zu Dorcas um Bestätigung, aber sie war damit beschäftigt, ihren Tee umzurühren. »Die Krache wegen dem Bild! Die Gnädige war nicht schön genug. War nicht ihre Schuld, außer daß Mr. G. sie haben wollte wie eine von den Damen mit den hohen weißen Perücken und den schwarzen Konfettistückchen im Gesicht kleben — wie Marie Antonetti, bevor sie ihr den Kopf abschlugen. Meinte, die Gnädige sah mehr aus wie ein Dienstmädchen als wie die Herrin von einem großen Haus. Das habe ich von Joan, dem Stubenmädchen (wischte im Schlüsselloch zum Salon Staub, wie sie sagte), dann hackte der Herr auf Miles Biddle rum, behauptete, der Junge nahm sich Freiheiten raus.« »Na sowas!« sagte ich. Vielleicht konnte Tante Sybil nichts für ihren Dünkel; es war eine Erbkrankheit. »Alles Unsinn. Miles war viel zu schüchtern, um aufdringlich zu werden — wurde immer rot, wenn die Gnädige ihn ansprach. Joan hat ihn gern aufgezogen, sie waren im gleichen Alter, so um die Zwanzig. Sie hat immer gekichert und ihm gesagt, was für ein toller Hecht er wäre, und schon war er weg. Mit der Gnädigen kam er aber gut zurecht. Zu gut, fand Mr. G., als er rauskriegte, daß der Junge nicht durch den Dienstboteneingang kam.« »Warum sollte er?« Dorcas wurde aufmüpfig; hoffentlich fühlte sie sich von all dem Gerede über Hintertüren nicht gedemütigt. »Er mag ein schlechter Maler gewesen sein, aber er ging nicht mit Kinkerlitzchen von Tür zu Tür hausieren.«
»Machen Sie sich man keine Sorgen. Die Gnädige hat sich für ihn stark gemacht. Sagte, der Junge täte ihnen einen Gefallen. So ein Heckmeck, sie haßte sowas, wegen dem kleinen Merlin. Das Kind war immer ihr erster Gedanke. In den großen Ferien hat sie oft seine Kusine Sylvia, oder war’s Sybil, eingeladen, als Spielkamerad für ihn. Na das war ein Schmutzfink! Ihr Zimmer, das sah aus! Und wenn die Gnädige ihr deswegen was gesagt hat, dann war’s der kleine Hund gewesen, der hätte sich reingeschlichen. Na, ich bitte Sie! Eine kleine Leisetreterin war das, aber Mr. G., der mochte Miss Sybil. Man soll ja sowas nicht sagen, aber ich habe oft festgestellt, die Art Männer — mit Schwielen an den Knien vom Beten — die haben was mit kleinen Mädchen.« Rose füllte die Teekanne wieder auf, und ich fragte sie, warum das Bild nie fertig geworden war. Sehr zu meiner Enttäuschung sagte sie, das wüßte sie nicht. Kurz nach Beginn der Malerei wurde festgestellt, daß Rose an Schwindsucht litt, das Ergebnis war ein Jahr in einem Sanatorium. Als sie wieder nach Hause geschickt wurde, sagte man ihr, Mrs. Grantham sei gestorben. Jahrelang machte sie sich Gedanken, ob sie die Gnädige angesteckt hatte, zumal ihre Mutter über den Todesfall eisern schwieg und Rose das Fragen verbot. Aber nach ihrer Heirat hörte sie Gerüchte, die nichts mit TB zu tun hatten. Abigails Tod war vertuscht worden. Nicht mal der Arzt wollte reden, und das konnte nur eins bedeuten — Selbstmord. »Und ich kann’s ihr nicht verdenken, dem armen Engel«, sagte Rose traurig. »Was hatte sie in der nächsten Welt groß zu befürchten? Nachdem ihr Mann ihr die Hölle auf Erden bereitet hatte.« Wir verließen unsere neue Freundin mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen. Draußen
erglomm der Himmel in allen Rosatönen, die sich stellenweise zu Karmesin und Violett vertieften. Ich liebe Sonnenuntergänge. Mir wurde klar, wie sehr ich inzwischen an Merlins Schloß und dem Stück Felsenküste hing, ganz zu schweigen von dem Städtchen. Ben war in der Küche, als wir wiederkamen und siehe da! Freddy hatte angerufen, um zu plaudern und zu guter Letzt auch noch zu hören, wie es uns bei unserer Schatzsuche ergangen war. »Ich habe ihm nichts erzählt«, sagte Ben. »Es gibt nichts zu erzählen. Ich habe zwar keine ernsthaften Befürchtungen, daß er einen Tunnel unter dem Haus buddelt, sobald er einen Tip bekommt, trotzdem hielt ich es einfach für klug, zu schweigen.« »Hat er gesagt, wo er ist? Hat er etwa hier aus der Gegend angerufen?« fragte ich gereizt. Der Armvoll Butter, Käse und Wurst, den ich in den neuen Kühlschrank zu stopfen versuchte, während Dorcas unsere Mäntel aufhing, drohte mir zu entgleiten. Jedenfalls war ich erleichtert, als Ben sagte, Freddy habe von zu Hause angerufen, meilenweit von hier entfernt. Dem Anruf würde also kein Besuch folgen. »Der andere Grund für seinen Anruf war Geld.« Ben nahm mir die Würstchen ab. »Offenbar meint er, wir seien moralisch verpflichtet, ihm den Lebensstil zu ermöglichen, an den er sich gerne gewöhnen würde. Ich habe ihm zwanzig Pfund versprochen, mehr nicht.« »Wie rasch Neureiche doch vergessen! Eben hat der arme Poet noch von Brot mit Stippe gelebt und sein Lächeln verkauft, um die Miete zahlen zu können. Freddy ist kein übler Typ. Nur weil in unseren Augen alle Müslifreaks gleich aussehen, heißt das nicht, daß er kein Individuum mit eigenen Sorgen ist.«
»Du bist ja heute abend ungewöhnlich großmütig.« Ben drängte sich mit einem siedenden Topf an mir vorbei zum Tisch und hinterließ beinahe ein Brandmal auf meinem Arm. »Aber ich möchte eins von Anfang an klarstellen. Ich habe nicht die Absicht, deine schmarotzenden Verwandten für den Rest ihres natürlichen (oder sollte ich lieber sagen unnatürlichen) Lebens durchzufüttern. Hat etwa meine Mutter angerufen und versucht, dich anzupumpen?« »Jetzt halt mal die Luft an!« Ich knallte die Kühlschranktür mit solchem Nachdruck zu, daß der Motor ansprang. »Was hat deine verehrte Frau Mutter damit zu tun? Hat sie uns ein Vermögen hinterlassen? Nein. Sie hat ihren Sohnemann rausgeschmissen — so daß er der Wohltätigkeit des erstbesten reichen alten Mannes zum Opfer fällt.« »Na und? Niemand ist vollkommen«, erwiderte Ben friedfertig, während er den Deckel der Kasserolle lüpfte und tief einatmete. »Kurierst du eine Erkältung?« »Nein.« Ben legte die Stirn in Falten und schnupperte noch einmal. Im Tonfall tiefer Besorgnis fragte er: »Meinst du, ich war mit dem Knoblauch etwas zu großzügig? Vielleicht hätte ich den letzten Spritzer Zwiebelsaft weglassen sollen.« Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich lächelte listig. »Jetzt, wo du es sagst, fällt mir eine gewisse Schärfe auf, die dem Niveau deiner gestrigen Sauce Bearnaise nicht ganz entspricht. Gib mir mal den Löffel und …« »Oh nein, kommt nicht in Frage.« Ben tat den Deckel wieder drauf. »Poulet en creme parmigiana ist bei einer Diät tödlich. Du bekommst Ruccula-Salat und frische Frühlingsgemüse, mit Zitronensaft und Estragon abgeschmeckt.«
In diesem aufgeklärten Zeitalter waren Entbehrungen gar nicht so schlimm, und für einen ausgewachsenen Chauvi wie Ben auch nicht. Was mich aufbrachte, war seine Gleichgültigkeit meinen Reizen gegenüber. Warum konnte das Leben nicht so sein wie in Werbespots: Ein Mädchen wechselt das Shampoo und schon umschwirren sie die Männer wie Fliegen ein Marmeladenglas. Wenn ich nun die Flasche ausprobierte, die ich auf dem Markt erstanden hatte? Vielleicht wachte ich am nächsten Morgen auf und war Rapunzel. Eine rundliche Rapunzel, aber wer sah das schon unter all dem bodenlangen Haar? Andererseits konnte sich mein Haar über Nacht zersetzen, dann war ich schlimmer dran als vorher. Das prophezeite mir jedenfalls Ben, nachdem ich ihm meinen Marktschreier vorgespielt hatte. »Sieh es mal von der Schokoladenseite«, sagte der Charmeur. »Wenn dir tatsächlich die Haare ausfallen, verlierst du völlig legal mehrere Pfund. Was der Scharlatan auch über dein Haar gesagt hat, wenigstens hast du reichlich davon.« Ich war zu neunundneunzig Prozent sicher, daß das ein Kompliment war, aber ich mußte nachhaken, um ganz sicher zu gehen. »Die Spitzen müssen nachgeschnitten werden und ich spiele mit der Idee, zu erblonden. Was meinst du?« Ben warf seinen hölzernen Kochlöffel in das Spülbecken. Einen Moment lang dachte ich, er würde nicht antworten, dann schaute er mich an und sagte langsam: »Du hast wunderschönes Haar — die Sorte, die man am besten sich selbst überläßt, voll und glänzend. Du solltest es manchmal offen tragen.« Was war solche Schmeichelei wert, wenn ich sie praktisch aus ihm herauswringen mußte? »In der Familie ist Vanessa die mit dem prachtvollen
Haar.« Die Stimmung traulichen Einvernehmens verschwand und auch das Brodeln der Kaffeemaschine brachte sie nicht zurück. Warum mußte ich Vanessa zwischen uns zerren? War es, weil Freddys Anruf mich daran erinnert hatte, daß sie und alle übrigen Verwandten zu ihren finsteren Göttern darum beteten, Ben und ich möchten in Merlins Schloß scheitern? Der Gedanke verfolgte mich sogar noch am nächsten Tag. Ich war draußen unterwegs auf der Suche nach Tobias, der sich in letzter Zeit auf seinen Streifzügen weiter entfernte, als mir lieb war. Häßliche Bilder von Jungen mit Katapulten drängten sich mir auf, so daß ich meine Lavendel-Möbelpolitur liegen ließ und mich auf den Weg machte. Der warme Nachmittagssonnenschein duftete nach Osterglocken. Sie waren schon fast vorbei, die letzten Blüten schimmerten sanft und gelb. Ich war sehr in Versuchung, einige fürs Haus zu pflücken, aber das hätte den Zorn von Jonas Phipps heraufbeschworen. Niemandem außer ihm war es gestattet, Blumen abzuschneiden. Hoffentlich hatte Tobias sich nicht ins Häuschen geschlichen. Ich war mir nicht sicher, ob Tante Sybil vor Katzen Angst hatte oder sie nur einfach nicht ausstehen konnte. Sie fand es ja unschicklich, sich irgendein starkes Gefühl — und sei es Furcht — anmerken zu lassen. In dem Moment trat meine bejahrte Tante aus dem Haus und ertappte mich dabei, daß ich wie ein Einbrecher in ihr Wohnzimmerfenster spähte. »Stimmt irgendwas nicht, Giselle?« Ich plapperte irgend etwas Unzusammenhängendes von einem Nachmittagsspaziergang und daß ich sie nicht stören wollte, falls sie schliefe, und endete überstürzt mit: »Hast du zufällig Tobias gesehen?« »Die Katze?« Tante Sybils Gesichtsausdruck verriet,
daß sie es unangemessen fand, Tiere mit Namen zu ehren. Ihre Hängebacken hüpften, als sie den Kopf schüttelte. »Findest du so viel Sorge und Hingabe nicht fehl am Platz, Giselle?« Ich starrte sie an. »Wir können nicht alle der gleichen Meinung sein.« Ihrem Ton nach fand sie das bedauerlich. »Aber ich hielt nie etwas davon, Zuneigung an stumme Geschöpfe zu verschwenden; Zuneigung kommt nur Menschen zu.« Fast hätte ich mich vergessen. Es lag mir schon auf der Zunge, ihr zu sagen, bisher hätte ich noch nichts davon gemerkt, daß alle Menschen mit einem vorgegebenen Maß an Zuneigung ausgestattet seien. Dann sah ich sie mir an. Eine kleine, plumpe Frau in einer abgewetzten grauen Strickjacke und dicken Stützstrümpfen, die ihre knotigen Krampfadern nicht verbergen konnten. »Tobias ist ein alter Freund«, sagte ich sanft. »Ich hatte lange Zeit nicht viele. Tante Sybil, ich weiß, du bist sehr allein, seit Onkel Merlin …« »Aber das heißt nicht, daß ich herumgesessen und Trübsal geblasen habe. Merlin wäre das nicht recht gewesen«, sagte sie eingeschnappt. »Die Schwimmflügel, die Mr. Hamlet mir freundlicherweise besorgt hat, sind zwar mit ihren rosa und gelben Streifen ein bißchen schrill, verbessern aber meine Technik im Wasser. Ich weiß nicht, warum die Leute jemals ohne sie schwimmen. Ich bin jetzt beim Schmetterlingsstil. Brustschwimmen ist für mich nicht das richtige. Da bin ich ja recht gut ausgestattet. Auf dem Gebiet kommt Vanessa nach mir. Reizende Figur, aber sie ißt ja auch vernünftig.« Warum glauben die Leute so häufig, daß man nur vernünftig essen muß, um eine vollkommene Figur zu erhalten? Bei meinem Glück war ich dann am Ende
birnenförmig. »Vanessa hat noch nie in ihrem Leben zu einem Rosinenbrötchen ‘nein’ gesagt«, maunzte ich. Tante Sybil schien mich nicht einmal zu hören. »So ein hübsches Mädchen.« Sie hielt inne und sah unentschlossen aus. »Es kann eigentlich nicht schaden, wenn ich erwähne, daß sie gestern mit mir essen gegangen ist. Sie, ihre Mutter und Lulu waren alle für den Tag zu Besuch, aber sie wollten nicht ins Haupthaus hinauf. Hatten wohl Angst, daß sie nicht willkommen sind. Vielleicht hätte ich nichts sagen sollen. Ich glaube, sie haben mich auch darum gebeten, aber vielleicht hast du uns ja gesehen. Wir haben dich und diese Dorcas im ‘Hasen und der Meute’ gesehen, aber es war so ein Gedränge, vielleicht hast du uns gar nicht bemerkt. Astrid bat um einen Tisch in der Ecke weg vom grellen Licht am Fenster.« Dieses Gefühl, beobachtet, belauscht zu werden … und dann vorher auf dem Markt, war das auch Einbildung? »Waren Maurice oder Freddy mit?« fragte ich. »Freddy hatte zugesagt«, sagte sie, »kam aber nicht und Maurice kann unter der Woche nicht von der Arbeit fort. Steckt bis zum Hals in Schulden.« Sie schnalzte und ihre vergilbten falschen Zähne verrutschten. Aus der Vergangenheit kam mir eine Erinnerung — der Tag der Beerdigung und ein Gesprächsfetzen, den ich damals für pure Bosheit von Tante Astrid gehalten hatte. Sie sagte, es werde gemunkelt, Onkel Maurice sei am Rande des Ruins. Ich mußte mit Ben reden. Seit der Verlesung des Testaments hatte ich ein ungutes Gefühl, wenn ich an Onkel Maurice dachte. Der spießige, ungehobelte Mann in fortgeschrittenen Jahren war als Schwerenöter und Verführer junger Mädchen angeprangert worden, und ich selber erinnerte mich errötend an sein versehentliches Gastspiel in meinem
Bett. Aber auch Lustmolche müssen essen, und ich mochte gar nicht daran denken, daß Tante Lulu auf ihre Friseurbesuche alle zwei Tage verzichten mußte. Ja, ich würde mit Ben reden und zusammen konnten wir mit Mr. Bragg klären, ob sich einige Mittel bereitstellen ließen. Tante Sybil bat mich pflichtschuldig auf eine Tasse Tee herein, aber ich glaube, sie war erleichtert, als ich ablehnte. Mir kamen nämlich Zweifel, daß sie noch saubere Tassen hatte. Ich verließ sie und setzte meine Suche nach Tobias im Gebüsch fort, ohne Erfolg. Meine Hoffnung war, daß er während meiner Abwesenheit zurück ins Haus gefunden hatte. Ich eilte den Kiesweg entlang und stand nach einer Biegung plötzlich vor einer mächtigen alten Eiche. Den Stamm umgab eine Holzbank und darauf schlief Jonas, den Kopf über ein Fellbündel gebeugt — der verirrte Tobias. Es wäre mir schwer gefallen, zu entscheiden, wer lauter schnarchte oder schnurrte. Ich ließ sie in Ruhe und ging lächelnd zum Haus. Die arme Tante Sybil! Vom Küchenfenster sah ich, wie sie mit einem Korb über den Arm durch den Garten wanderte und den Boden absuchte. Sie wollte doch nicht etwa …? Aber dann sah ich, wie sie sich bückte, etwas Kleines aufhob und in den Korb warf. Tante Sybil machte sich zum Abendbrot Schnecken. Igitt! Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Wissen, über Nacht gealtert zu sein. Schon wieder Geburtstag, das versetzte mich keineswegs in einen Glückstaumel, und selbst der Gedanke an das Frühstück (ich lebte für meine drei Mahlzeiten am Tag) heiterte mich nicht so auf wie sonst. Arbeit war die Medizin, die ich brauchte. Ich würde meine Cornflakes hinunterschlingen und mich dann daran machen, die Tapete von den Wänden eines der Badezimmer abzuweichen. Immer noch ein wenig niedergedrückt stieß ich die Küchentür auf, da erschütterte ein etwas wackelig vorgetragenes »Happy
Birthday« meine Ohren. Dorcas sang falsch, Jonas krächzte und Ben, der mit einem hölzernen Kochlöffel dirigierte, summte hie und da musikalische Verzierungen. Überwältigt lehnte ich mich an die Wand und wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. »Um Himmels willen, nun werd’ bloß nicht sentimental!« Ben warf den Kochlöffel ins Spülbecken und klatschte in die Hände. »Lakaien, tragt das Festmahl auf!« Ich wurde an den Ehrenplatz geleitet, das hieß, ich war die einzige, die ein Platzdeckchen hatte – die anderen hatten Papierservietten unter ihren Tellern zum Zeichen, daß dies ein besonderer Anlaß war. Und ein Festmahl war es: gegrillter Schinken, pochierte Eier und gebackene Tomaten, mit Kräutern gewürzt. »Du darfst sogar zur Feier deines Geburtstags« – Ben schob mir den angelaufenen silbernen Toastständer zu »eine halbe Scheibe Toast haben.« Glückseligkeit! Dorcas war die Plaudertasche. Sie hatte Ben von meinem Geburtstag erzählt, und gestern nachmittag, während ich auf dem Dachboden zu tun hatte (nach der Wiederentdeckung von Tobias), waren sie in die Ortschaft gefahren und hatten mir jeder ein Geschenk gekauft. Bens steckte in einem großen, quadratischen Karton und entpuppte sich als Personenwaage! Wenigstens konnte ich mich jetzt abwiegen und meine Fortschritte kontrollieren. Dorcas gab mir ein kleines Päckchen, das ein hübsches Emaillearmband enthielt. Wirklich ungebührlich der Wunsch, ach, wäre es doch andersrum gewesen, und ich zertrat den Gedanken. Jonas überreichte mir feierlich drei Geranientöpfe, über die ich mich wirklich freute. Sie waren genau das, was ich brauchte, um das tiefe, überdachte Fensterbrett im Eßzimmer aufzuhellen, besonders, wenn es demnächst renoviert würde. Die Schreiner und Stukkateure sollten nächste Woche kommen. Ohne eine Miene zu verziehen
nahm der Gärtner huldvoll meinen Dank entgegen. Dann langte er in die Tasche seiner verkrumpelten Flanelljacke und knallte ein flaches, schmales, in Packpapier verschnürtes Angebinde neben meinen Teller. »Jonas, das war doch nicht nötig!« rief ich gerührt. »Die Blumen waren völlig genug.« »Waren sie auch, haben nichts außer ein bißchen Zeit gekostet, und ich vergeude meine paar Pimperlinge nicht auf Unsinn wie Geburtstagsgeschenke.« Die Tafel schwieg, alle hingen gebannt am Gärtner, der die Pause ausdehnte und die Spannung seines Publikums sichtlich genoß. »Tante Sybil?« fragte ich. »Nö, die nicht.« Jonas fixierte jeden von uns. »Fremder erschien heute morgen beim ersten Hahnenschrei. Wollte ihn schon anschnauzen ‘Für Unbefugte Betreten verboten!’, da gab er mir das Päckchen. ‘Für die Dame des Hauses,’ sagt er, ‘stellen Sie keine Fragen, dann kriegen Sie auch keine dummen Antworten.’ Und weg war er, flink wie ein Wiesel.« »Verdammt noch mal«, sagte Ben. »Mach schon auf oder gib her.« Ich entfernte das Papier und blickte auf zwei schmale Bücher, das eine in grünes, das andere in braunes Leder gebunden. Ich schlug mit etwas zittrigen Händen das grüne auf und las die Worte auf dem Deckblatt: Das Haushaltsbuch von Abigail Grantham. Ben entriß es mir, blätterte es hastig durch, überflog einige Eintragungen und warf es enttäuscht hin. »Ich dachte, Frauen zu der Zeit führten Tagebücher randvoll mit jugendlichen Indiskretionen, die heimliche Schwärmerei für den Pfarrer, das Stelldichein im Gebüsch mit dem Kapitän der Cricketmannschaft. Das hier ist nichts weiter als die Buchführung über ihre Ausgaben — wieviel sie für sechs Dutzend Eier bezahlt
hat, Ermahnung, dem Milchmann die Extrakanne Milch vom Dienstag zu zahlen.« »Der braune Band wird dir besser gefallen«, sagte ich und reichte ihn über den Tisch. »Das ist Abigails Rezeptsammlung, alle möglichen Leckereien, Fasanensuppe und Aalpastete. Aber Ben, du hast recht. Wenn das Hinweis Nummer Zwei ist, dann sitzt der alte Merlin in seiner neuen Heimstatt am Feuer und lacht sich ins Fäustchen.« »Hähä«, lachte Jonas hämisch in sich hinein, »darauf können Sie Gift nehmen. Hatte mächtig Sinn für Humor, der Mr. Merlin. Kann keiner behaupten, daß er darüber nicht zuletzt lacht.«
Elf Ein Geburtstag verdiente besondere Zugeständnisse. Ich dachte nicht mehr daran, die Tapete abzukratzen und zog mich mit dem grünen Band in mein Schlafzimmer zurück. Ben wollte die Rezepte im anderen Buch studieren. Ich zog mir den dick gepolsterten Lehnstuhl ans Fenster und vertiefte mich in die Lektüre. Warmes Sonnenlicht floß über die steile, recht kindliche Schrift auf den liniierten Seiten. Ben, in typisch männlichem Mangel an Beobachtungsgabe, hatte nur die Buchführung über Beträge gesehen, die dem Fleischer, dem Bäcker und Nähfrauen ausbezahlt worden waren. Ich bekam einen Einblick in einer andere Zeit: sieben Schilling und sechseinhalb Pence für ein Paar Knöpfstiefel und vier Pfund zehn an den Schreiner für einen eichenen Kaminaufsatz im Eßzimmer. Langsam sah ich Abigail Grantham vor mir, eine Frau nicht viel älter als ich. Zur Zeit dieser Eintragungen mußte sie an die Dreißig gewesen sein, eine sparsame junge Frau, die in einer
alles andere als wohlhabenden Familie aufgewachsen und nach dem Grundsatz erzogen war, wenn man nie mehr als neunzehn Schilling pro Pfund ausgab, dann konnte man nie an den Bettelstab kommen. Jeder Penny, der durch ihre Hände ging, wurde sorgfältig in deutlicher schwarzer Tinte festgehalten, aber unter der Zeile ‘sechs Leinenhemden für Arthur’ stand eine andere — ‘ein gesmoktes Sonntagskleidchen aus Samt für das jüngste Kind vom Doktor und ein Paar Stiefel für den Jungen, der die Milch bringt’. Welche Einsparungen nahm Abigail vor, damit ihr Mann nichts von diesen Geschenken merkte? Er hätte sie bestimmt nicht gebilligt. Ein paar Seiten weiter waren zwei Pence notiert für Wachsblumen, die sie einer Zigeunerin abgekauft hatte. Fürchtete Abigail, ihr Haus könnte mit einem Fluch belegt werden, falls sie sich weigerte? Bei ihrem ausgeprägten Sinn fürs Praktische hielt ich das für unwahrscheinlich. Ich schlug eine andere Seite auf. Die erste Eintragung lautete ‘sechseinviertel Pence für einen roten und gelben Drachen’. Rose hatte gesagt, daß Mrs. Grantham an windigen Frühlingstagen gern mit ihrem Sohn draußen war. Ich sah sie vor mir, der Junge in einem Matrosenanzug und die Frau in langen Röcken, die ihr um die Knöchel schlugen, während sie dem vom Wind geblähten Dreieck hinterherrannten. Die ordentliche Frau mit der sorgfältigen Buchhaltung konnte auch ausgelassen sein. Die nächsten Seiten enthielten nichts von Belang, obwohl ich eine Vorstellung davon bekam, wie Abigail ihre Einsparungen vorgenommen hatte. Über mehrere Monate hinweg kaufte sie Molkereiprodukte in ungewöhnlichen Mengen — Milch, Käse und besonders Eier. Ich wollte schon nachschauen, ob ihre Fleischerrechnungen in diesem Zeitraum niedriger waren, da stieß ich auf eine bedeutsame Eintragung:
‘zwei Pfund an Mr. Miles Biddle auf Entgelt für Bildnis, verbleiben drei Pfund fällig bei Fertigstellung’. Beim Durchblättern der nächsten Seiten fand ich keine weiteren Hinweise auf den Künstler. Anscheinend war Onkel Arthur nicht zufrieden gewesen und hatte den jungen Mann aus dem Haus gejagt. Das Journal hatte Platz bis zum Jahresende. Am 25. September brachen die Eintragungen abrupt ab mit mehreren Zahlungen an Lieferanten und einer letzten Notiz: ‘Neun Pfund von Mr. Pullett erhalten für Mamas Granatring’. Die Pulletts waren die Juweliere im Ort. Wofür hatte Abigail so dringend Geld gebraucht, daß sie sich vom Ring ihrer Mutter trennte? Nach den Beträgen, die Onkel Arthur seiner Frau zur Verfügung gestellt hatte, war er nicht übermäßig großzügig gewesen, hatte sie jedoch mit hinreichendem Haushaltsgeld ausgestattet. War ich einem heimlichen Laster der Dame auf die Spur gekommen, einer Leidenschaft für Würfel oder Karten oder süßen Sherry? Das wollte mir nicht in den Kopf; Abigail wirkte viel zu gewissenhaft in finanziellen Dingen. Vielleicht hatte sie das Geld bedürftigen Verwandten oder Freunden gegeben. War es ein Zufall, daß dieser Tauschhandel stattfand, als das Journal abbrach, oder gab es da eine Verbindung? War Abigail krank und ahnte, daß sie sterben mußte? Verspürte sie in dieser Situation das Bedürfnis, jemandem, der ihr nahestand, zu helfen, so lange sie es noch konnte? Was mir zu schaffen machte, das war ihre Handschrift. Die letzte Eintragung war so fest und sicher wie die erste. Ihr Heimgang mußte plötzlich erfolgt sein. Mir fiel Rose ein und der Verdacht, den sie geäußert hatte. Keiner Frau, die mit einem so herzlosen und unausstehlichen Mann wie Onkel Arthur verheiratet war, konnte man einen Vorwurf machen, wenn sie den Kopf in den Gasherd steckte oder sich von einer günstig gelegenen Klippe
stürzte, aber die Lektüre des Journals machte es mir schwer, Abigail als Selbstmörderin zu sehen. Mir kam ein anderer, schlimmerer Verdacht. Es erschien wichtiger denn je, mit jemandem zu reden, der Zugang zu Unterlagen aus der Zeit hatte — alte Briefe, Tagebücher, Journale wie dieses. Mr. Pullett war eine Möglichkeit; ebenso dei Pfarrer. Dieses Haus und das Pfarrhaus hatten seit Generationen Seite an Seite gestanden. Das Kirchenregister! Das würde mir Abigails Todestag nennen, der — da war ich sicher — nicht auf ihrem Grab stand. Mich packte Erregung. Die Eintragungen nahmen nur die Hälfte des Buches ein. Der letzten vom 25. September folgten eine lange Reihe von leeren Seiten. Ich nahm das Buch wieder zur Hand und schlug es versehentlich verkehrt herum auf. Vier oder fünf Seiten waren mit Stoffproben und Tapetenstückchen beklebt. Unter jedem Muster stand die beabsichtigte Verwendung. Eine solche Eintragung lautete: Bezug für den Queen-Anne-Sessel und Sofakissen, suche passenden Damaststreifen in Creme und Rosenrot für Vorhänge und Fensterbankbezug. Ich hatte Abigails Pläne zur Neugestaltung des Salons vor mir. Waren sie je in die Tat umgesetzt worden? Manchmal wurde neue Tapete über die alte geklebt. Wenn ich in der Ecke des Salons einen schmalen Streifen Tapete entfernte, würde ich das Muster entdecken, das Abigail ausgesucht hatte? Ich nahm das Buch und eilte zu meinem Nachttischchen, wo ich eine Schere und eine Nagelfeile hatte. Kein sehr professionelles Handwerkszeug, aber … In der Nachttischschublade erwartete mich noch etwas anderes — eine große flache Pralinenschachtel, verpackt in glänzendes, durchsichtiges rotes Papier, das bei jeder Berührung knisterte, und eine grüne Seidenschleife, unter der ein weißes Kärtchen steckte. Darauf stand
nichts als Herzliche Glückwünsche. Dorcas, dachte ich, oder Ben. Wer von beiden hatte entschieden, daß ich ein wenig Erholung von den Strapazen ständiger Entbehrung brauchte? Der Grund für die Heimlichtuerei war einfach. Keine Partei wollte, daß die andere erfuhr, wer mich vom Pfad der Tugend abbrachte. In den letzten Wochen war ich nur einmal an die Grenze zum Schummeln geraten: ich hatte mir Lippengloss mit Daiquiri-Geschmack gekauft. Die Pralinen waren eine nette Geste, aber jemand in meiner Lage war so anfällig. In letzter Zeit überkam mich die Furcht, meine Ohren könnten wachsen und demnächst würde ich mit der Nase zucken wie ein Kaninchen, wenn ich weiterhin Mohrrüben und Selleriestengel mummelte — die Gaumenfreuden, die Ben für mich im Kühlschrank bereithielt. Ich betastete wieder die Pralinenschachtel. Eine winzige Kostprobe zu verweigern, das war wirklich zu puritanisch. Vielleicht eine mit Orangenfüllung? Heutzutage schärften einem ja alle Ärzte ein, man könne sich nichts Bessseres antun als Vitamin C. Ich zögerte. Das sähe Ben ähnlich, mir mit der einen Hand eine Waage zu schenken und mit der anderen diese kaloriengeladene Zeitbombe! Ein kleiner Test um zu sehen, wie weit ich es in Sachen Willenskraft und Ausdauer gebracht hatte? Abscheulicher Mensch! Aber was, wenn Dorcas die edle Spenderin war? Unter dieser burschikosen Schale verbarg sich eine sehr empfindsame Seele. Solch einen Freund zu verletzen wäre unverzeihlich. Schullehrer glaubten an das Prinzip von Belohnung, Fairneß und Ansporn, und ich hatte mich in letzter Zeit vorbildlich verhalten. Die erste Praline war köstlich. Die zweite war noch besser. Allerdings kamen beide aus der obersten Schicht. Was, wenn die unterste Schicht nicht mehr ganz frisch war? Wenn ich sie zum Tee in einer Schale
anbieten wollte, war es meine Pflicht, vorher auch die zu probieren. Feucht, saftig! Ich legte das Schutzblatt zwischen die Schichten und wollte gerade den Deckel schließen, da fiel mir ein, daß Veilchenfüllung nicht bei allen beliebt ist. Ich opferte mich und steckte den Missetäter in den Mund. »Ellie«, rief eine Stimme von unten. Dorcas! Ich schob die Pralinen wieder in die Schublade, griff mir das grüne Buch, Nagelfeile und Schere und eilte aus dem Zimmer, als sei mir eine Horde Schokoladenteufel auf den Fersen. »Wollte wissen, ob wir den Schornsteinfeger für diese oder nächste Woche bestellen sollen?« Dorcas hatte sich ein leuchtend gelbes Staubtuch um ihr flammendes Haar gebunden, und ihr bleistiftschlanker Körper steckte in einem grauen Monteuranzug. Sie stand in der Halle und wartete auf mich. »Nächste Woche, denke ich.« Wie albern, sich so schuldbeladen zu fühlen. Als ich an dem fleckigen Garderobenspiegel vorbeikam, spähte ich verstohlen nach verräterischen Schokoladenspuren im Gesicht. Dieses dramatische Versteckspiel war vollkommen überflüssig, wenn Dorcas die Schachtel in meine Schublade gelegt hatte. Ich beschloß, sie auf die Probe zu stellen. »Das war ein wundervoller Geburtstag.« Ich schaute sie bedeutsam an und dehnte die nächsten Worte. »Vielen Dank, Dorcas, daß du so süß zu mir warst.« »Dachte, das Armband wird dir gefallen. Hab selber nichts übrig für solchen Firlefanz, aber vielleicht gibt dir Modeschmuck ein bißchen Auftrieb; etwas in Richtung auf deine neue Erscheinung.« So viel zu dieser Kriegslist! Dorcas schien sich keiner Doppeldeutigkeit bewußt zu sein. Sie wollte, daß ich mir den Bücherschrank mit den Glastüren im Salon ansah, denn sie war in Sorge, daß auch in diesem Stück wie in
verschiedenen anderen der Holzwurm saß. Ich war dankbar für die Ablenkung. Wir hatten schon wochenlang darüber diskutiert, diesen Raum völlig umzugestalten. Jetzt gab Abigails Journal diesem Plan einen zusätzlichen Anreiz. Ich inspizierte den Bücherschrank und war mit Dorcas einig, daß er nicht mehr zu retten war. Dann gab ich ihr das Journal. Sie interessierte sich genau so lebhaft wie ich für die Muster auf den rückwärtigen Seiten. »Schweres Verbrechen, wie man dieses Zimmer hat verkommen lassen. Hübsche Holzschnitzereien, wunderschöne Stuckdecke. Sowas wie die Rosette in der Mitte findet man heutzutage nirgendwo mehr. Wirklich eine Schande!« Dorcas verlieh ihren Worten traurigen Zorn von fast Shakespeareschen Ausmaßen. Ich blickte mich um. »Tante Sybil hat mir erzählt, daß Onkel Merlin nie auch nur ein einziges Möbelstück gekauft hat. Wegen der Möblierung kann man ihm also ausnahmsweise keinen Vorwurf machen. Nach Abigails Tod muß dieser Esel Arthur alles rausgeworfen haben, was seine Frau ausgesucht hatte. Nach den Mustern im Buch hätte sie alles in diesem Zimmer und sonst im Haus scheußlich gefunden. Es ist ja nicht so, daß Onkel Arthur wieder geheiratet hätte und sich dem Geschmack seiner neuen Frau beugen mußte.« »Hat die Erinnerung an sie mit einem Eimer Farbe und etlichen Metern Tapete ausgelöscht«, seufzte Dorcas. »Und du, Ellie, mußt die Frage beantworten: warum?« Ich sah mir die Wände ringsum an. »Einen Moment. Ich will mal was ausprobieren.« Und tatsächlich, als ich mit meiner Nagelfeile einen Streifen Tapete abpolkte, kam darunter Abigails cremefarbene gerippte Tapete zum Vorschein, die noch so seidig glänzte wie damals, als sie verklebt worden war. Wenn wir die Breischicht darüber im ganzen entfernten, würde sie natürlich nicht
unverletzt bleiben, aber … »Dorcas«, sagte ich, »ich habe einen Entschluß gefaßt. Ich werde Abigails Zimmer restaurieren, es wieder zu ihrem machen. Als ich neulich auf dem Dachboden war, habe ich einige wunderschöne Stücke gesehen, darunter einen Walnuß-Sekretär und einen Queen-Anne-Sessel, vielleicht ist das der, den Abigail erwähnte.« Ich ging im Zimmer umher. »Die Farbe der Tapete ist neutral und sollte vom Damaststreifen wiederaufgenommen werden, den Abigail für die Vorhänge und die Fensterbank wollte. Darin war ebenso wie in dem Brokat für den Queen-Anne-Sessel Rosenrot die vorherrschende Farbe. Welche Farben mag sie noch genommen haben? Jade vielleicht.« Dorcas’ Nase zitterte vor Aufregung. »Pfauenblau«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Obwohl Dorcas in ihrer Kleidung die unglücklichsten Farbkombinationen bevorzugte, mußte ich ihr überraschenderweise recht geben. »Moment!« Ich ging von dem Teppich herunter, der ungefähr das halbe Zimmer bedeckte, bis ich auf dem dunklen Eichenboden stand. »Ein Knauser wie Großonkel Arthur, der Dachboden ist gestopft voll – was hätte er wohl mit Abigails Teppich gemacht?« »Ihn als Unterlage benutzt statt alter Zeitungen oder Filz«, antwortete Dorcas prompt, und wieder hatte sie recht. Zwar waren an ein paar Stellen verschüttete Getränke durchgesickert, aber als Abigails Teppich wieder ans Licht kam, sah er neu aus und die Farben des Paradiesvogelmusters standen warm und hell vor dem satten, cremefarbenen Hintergrund. »Dorcas!« sprach ich feierlich. »Sind Verwandte von dir auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden? Welche bestimmende Farbe siehst du vor dir?«
»Ist nicht weiter seltsam! Die Farbkombination war zu erwarten.« Dorcas wurde vom Hals aufwärts dunkelrot und hielt den Blick gesenkt. »Pfauenblau war immer meine Lieblingsfarbe.« Das Dröhnen des Gongs in der Halle riß uns in die Gegenwart zurück und erinnerte uns daran, daß der Alltag auch inmitten großer Entdeckungen weiterging. Ben rief uns zum Mittagessen. Ich hatte so viel Pralinen verdrückt, daß mein Kalorienkontingent für einen Monat im voraus erschöpft war. Also beschloß ich, Mittag- und Abendbrot wegzulassen. Aber als Ben mir ein duftiges Omelett auf den Teller tat, das mit Broccoliröschen verziert war und zu dessen Seiten Pilze, Tomaten und goldbraune Zwiebelchen hervorlugten, da brachte ich es nicht fertig, ihn zu enttäuschen — oder mich. Nachdem ich meine edleren Absichten Bens kulinarischem Stolz geopfert hatte, war ich etwas vor den Kopf gestoßen, daß er meine Begeisterung für Abigail und den Salon nicht teilte. Als er merkte, wie verärgert ich war, machte er alles noch viel schlimmer, indem er sagte, wenn das Anschaffen neuer Vorhänge und das Tapezieren von ein paar Wänden mich glücklich mache, so sei ihm das recht. »Ben, das ist kein Kinderkram. Ich spiele nicht mit Puppenstuben.« Als Antwort zog er provozierend die schwarzen Augenbrauen in die Höhe. Jonas goß sich Kaffee auf die Untertasse und betrat die Kampfstätte mit »Weiß nicht, wieviel Jahre es her ist, daß das Zimmer mal ordentlich gemacht wurde.« Ich wartete, bis der alte Mann seinen letzten Schlürfer getan, sich den Mund mit der Serviette abgewischt und sie in den Pulloverkragen zurückgesteckt hatte. »Ja, Jonas.« Ich sah ihm ins Gesicht. »Sind Sie auch der Meinung, daß ich den Staub in dem Zimmer in Ruhe lassen soll? Vielleicht sollte ich das wirklich. Eigentlich
gehört er in ein Museum, alt genug dafür ist er.« Jonas erwiderte grimmig meinen Blick, sein Schnurrbart war noch feucht vom Kaffee. »Machen Sie sich nicht immer so klein, Mädel. Und lassen Sie sich auch nicht von ihm ducken. Das Haus war eine vermoderte Bruchbude, bevor Sie mit neuem Besen kamen.« Mit gesträubten Augenbrauen und aggressiv vorgestrecktem Kinn warf Jonas seine Serviette auf den Tisch und stapfte zur Gartentür hinaus. Drei sehr überraschte Augenpaare starrten auf den Platz, an dem er eben noch gesessen hatte. »Wieder mal dein unwiderstehlicher Charme, Ellie.« Bens Lippen zuckten. »Noch ein Bewunderer sinkt dir zu Füßen.« »Spotte du nur.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. »Du denkst, wenn ein Mädchen nicht aussieht wie die schaumgeborene Venus, ist sie nicht die Prise Salz in einer Tüte Kartoffelchips wert, aber nicht jeder hat so aberwitzige Maßstäbe.« »Na, na, Ellie«, schaltete sich Dorcas ein, »harmloser Scherz. Nimms nicht so …« »Bitte.« Ich holte tief Luft. »Sag mir nicht, ich soll kein Spielverderber sein und all diesen Blech. Ben macht das andauernd mit mir, stukt mich runter, weil angeblich kein vernünftiger Mensch mich leiden kann, denn ich bin fett und häßlich.« Etwas Weiches und Warmes schlang sich um mein Bein. Tobias. Ich hob ihn auf und vergrub mein erhitztes Gesicht dankbar in seinem flaumigen Hals. »Ellie.« In Bens Stimme schwang freundliches Mitleid. »Du hast doch nicht etwa was getan, was du bereust? Hab keine Angst, uns kannst du es sagen. Dorcas und ich sind deine Freunde.« Was glaubte der Idiot, wer er war? Der besorgte Papa in einer Gilbert und Sullivan-Operette? Oder wußte er
etwas von den Pralinen? Ich hob das Gesicht aus Tobias’ Fell. »Jedenfalls hatte ich keine Affäre mit dem alten Jonas, falls du das glaubst.« »Nein, du Schwachkopf!« Bens Augen lachten mich aus. »Ich meinte, hast du etwas Verbotenes gegessen? Immer, wenn du in deiner alten streitlustigen Art auf mich losgehst, frage ich mich, ob du gerade eine Dose Kondensmilch geleert hast. Rückfällige Trinker sind aggressiv, mein lieber Watson, weil sie Schuldgefühle haben.« Der Mann war wirklich scheußlich scharfsichtig, aber falls er nicht geradezu unmenschlich verschlagen war, hatte er mir nicht die Pralinen geschickt. Ich begann, Jonas zu verdächtigen, aber es blieb mir erspart, mich selber zu verteidigen, denn Dorcas verbürgte sich dafür, daß ich den ganzen Vormittag über nicht in der Nähe der Küche gewesen war. Nachdem wir versucht hatten, uns mehrere langgezogene Minuten lang gegenseitig niederzustarren, brachen Ben und ich widerwillig in ein Lächeln aus und schlossen Waffenstillstand. »Ich bin froh, daß du beschlossen hast, wieder verträglich zu sein, denn ich habe zum Abendbrot einen Festschmaus geplant.« »Was denn?« fragte ich. Tobias war nicht so höflich; er gähnte mächtig und zeigte seinen rosig schimmernden Gaumen. »Eine Süßspeise — eine Café-au-lait Mousse mit Creme Chantilly und Bitterschokoladesplittern!« Ben lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. »Grandios!« Ich klatschte Beifall und schämte mich meiner Pralinenorgie. Dorcas, die selten Süßes aß, sagte »Ganz hübsch«, aber ohne die rechte Überzeugung.
»Ich habe das Rezept aus Abigails Sammlung.« Ben griff hinter sich nach dem braunen Büchlein, das auf der Küchenanrichte lag. »Ein paar von den Eintragungen sind ganz faszinierend. Natürlich findet sich auch das Übliche.« Er blätterte in den Seiten. »Kümmelkuchen, Marzipanfrüchtekuchen, geräucherter Schellfisch in Eiercreme zart gewürzt mit Muskatnuß. So ein Unfug.« Er hielt inne und fuhr mit dem Finger durch das Buch. »Hier fehlen ein paar Seiten, wir springen zu Suppen und Eintöpfen, nichts furchtbar Aufregendes. Mein Lieblingsrezept ist ein Gebräu, das einen torkelnden Bräutigam unter Garantie so nüchtern macht, daß er gerade durch die Kirche gehen kann. Hier ist noch ein Juwel, eine Aftershave Lotion aus zerstampftem Sauerampfer und Löwenzahnsaft! Und wer von uns hat sich nicht nach einer narrensicheren Methode gesehnt, wie man Brandflecken aus Kissenbezügen entfernt, wenn ein achtloser Gast seine Kerze in den Bettüchern gelöscht hat?« »Hört sich toll an! Darf ich mal sehen?« Dorcas nahm das Buch und durchstöberte es. »Hört euch das an — ein Hustenmittel aus zwei sehr reifen Gurken, Lakritzenwurzel und einer Kräutermischung, wie man sie in jedem englischen Bauerngarten findet — Salbei, Minze und …« Ich überließ die beiden den Anleitungen, wie man aus Rosenwasser und Glyzerin eine Handlotion bereitet. Nicht, daß mich dieser andere Einblick in das Leben von Abigail Grantham nicht interessierte, aber ich wollte auf den Dachboden und schauen, was ich an ausrangierten Möbeln finden konnte, die vielleicht aus dem Salon verbannt worden waren. Erst etwas später fiel mir ein, daß ich Ben gar nichts von Abigails Verkauf des Granatringes gesagt hatte, aber wahrscheinlich war es nicht so wichtig. Nach dem dafür gezahlten Preis war das
Schmuckstück nicht besonders wertvoll. Falls sich nicht ein Rubin als minderer Stein maskiert hatte, war das nicht unser Schatz. Und wenn er es war, warum waren uns dann beide Bücher geschickt worden, wo doch das Haushaltsjournal allein genügt hätte, uns auf die richtige Spur zu bringen? Ich mußte Ben die Rezepte wegnehmen und sie selber lesen, vielleicht entdeckte ich das fehlende Glied. Gedankengebäude mochten gut für die Seele sein, aber mir drehte sich langsam der Kopf. Höchste Zeit für ein Stück körperliche Arbeit. Mein Nachmittag unter den Spinnweben und Dachsparren verlief angenehm. Ich war ganz in meinem Element und durchstöberte Truhen voll abgelegter Kleider und Wäsche. In einer fand ich einen wunderbaren gehäkelten Bettüberwurf, den ich mit mehreren gestickten Kissen beiseitelegte, um ihn mit hinunterzunehmen. Antiquitäten sind nicht meine Stärke, doch ich besitze Grundkenntnisse. Als dann die Schatten des Abendrots über die Fenster strichen, hatte ich auf einer freigeräumten Fläche eine beträchtliche Menge zusammengestellt. Darunter waren zwei Ohrensessel, der Queen-Anne-Sessel (bestimmt der von Abigail), ein Damensekretär aus der gleichen Zeit, ein geschnitzter aufklappbarer Kartentisch, ein Nähtischchen mit geschweiften Beinen, ein Walnuß-Teewagen und mein stolzester Fund — ein Sofa, bezogen mit dem Seidenbrokat, der genau zu der Tapete paßte, die wir im Salon freigelegt hatten. Der Stoff war so mürbe, daß er bei der geringsten Berührung zerriß, aber ein neuer Bezug in ähnlichem Muster war kein Problem. Keiner meiner Funde war ein echter Schatz. Ich war trotzdem zufrieden. Ein blechernes Scheppern sickerte durch die Dielen. Der Abendbrotgong. Ich wischte mir die staubigen Hände an meinen Khakihosen ab und begab mich in die
Unterwelt. Im Schlafzimmer machte ich einen Zwischenstop, um das Hemd zu wechseln und beschloß, das Beweismaterial, das mich so belastete, zu vernichten. Die Pralinen mußten verschwinden. Wo konnte ich sie beseitigen, ohne dabei ertappt zu werden? Während ich noch grübelte, aß ich gedankenverloren drei weitere und sah plötzlich die Lösung vor mir. Die Schachtel war leer. Ich konnte sie zusammenknüllen und unter alten Illustrierten in meinem Papierkorb verstecken, bis sich eine Gelegenheit bot, sie endgültig loszuwerden. Sie im Schutze der Nacht im Garten zu verbuddeln kam nicht in Frage, weil ich da über Tante Sybil auf einem ihrer nächtlichen Ausflüge stolpern konnte, aber ich würde mir etwas Schlaues einfallen lassen. Ich wollte gerade den Papierkorb wieder an seinen Platz stellen, da erblickte ich auf meiner Frisierkommode ein flaches Päckchen in Geschenkpapier. Das war bestimmt noch nicht da, als ich zuletzt im Zimmer war! Wirklich ein Tag der Überraschungen. Das mußte von Tante Sybil sein. Auf ihre Art war sie eine sehr gewissenhafte treue alte Seele. Hoffentlich nicht noch ein Adreßbüchlein oder ein Kalender, dachte ich, als ich es auspackte. Es war keins von beidem. Unter dem dünnen Seidenpapier kam ein wunderschön gearbeiteter Silberrahmen für Fotographien zum Vorschein. Er war alt — einer der ersten seiner Art, und anders als bei den Pralinen hatte der Absender es nicht vorgezogen, anonym zu bleiben. Auf dem schlichten weißen Kärtchen stand nur: Ben. Weiter nichts. Keine humorigen Glückwünsche, kein blumiges Sonett aus dem Reimcomputer. Das Geschenk sprach für sich. Ich wußte, wozu der Rahmen war. Ben hatte sich erinnert, was ich für das Foto von Abigail empfand und mir die ideale Fassung dafür besorgt — eine sentimentale Geste für einen Mann, der behauptete, ein Zyniker zu sein. Mit
der Fingerspitze strich ich zärtlich über den Rahmen, als sei es ein Gesicht. (Vielleicht hatte mir Ben doch die Pralinen geschenkt und das Gerede über heimliches Naschen war nur Hänselei.) Ich mußte ihn heute noch allein erwischen und mich richtig dafür bedanken. Sogar die Waage erschien nun in freundlicherem Licht — er war überzeugt, daß ich die sechzig Pfund abnehmen würde, sogar trotz einem freien Tag. Ich kam mir vor wie eine Königin, die zwei Geburtstage feiert: einen offiziellen und einen privaten. Ein zweiter zorniger Ruf des Gongs zwang mich, meine Tagträume für den Augenblick zu verbannen. Als ich die letzte Stufe hinunterstolperte, klingelte das Telefon in seinem Versteck auf dem Garderobentisch. Ich grub es unter Dorcas’ grauem Filzhut aus; die Leitung knisterte und schien tot. Mein »Hallo« kam als Echo verzögert zurück, »ist da jemand?« fragte ich und wollte schon auflegen. Die Stimme klang gedämpft, als hätte der Sprecher sich einen dicken Wollschal gegen die Kälte vor den Mund gebunden. Aber es war Mai, sogar ein ungewöhnlich milder, zu warm für dicke Wollsachen — »Na, Schätzchen, wie haben die Pralinen geschmeckt?« Also waren sie nicht von Ben, schade, aber irgendwie auch eine Erleichterung. Nach der letzten Portion Cremefüllung war mir etwas schwummerig, und ich hätte mich sehr geärgert, wenn auch nur die kleinste Verstimmung das Gefühl einer neuen Nähe getrübt hätte. »Absolut köstlich«, schwärmte ich. »Ich habe gerade die letzte verspeist!« Eine elektrisch geladene Pause, während ich darauf wartete, daß sich mein guter Geist zu erkennen gab. Ein kehliges, grunzendes Lachen erklang und Worte, so leise, daß ich den Hörer fest ans Ohr drücken mußte, um sie zu verstehen: »Vielfraß, fettes, verfressenes
Mastschwein. Ich wußte ja, man braucht den Trog nur vor dich hinzustellen und schon fängst du an zu schmatzen.« Stoßweises, keuchendes, abscheuliches Gelächter. Der Hörer glitt mir aus der Hand, hing herunter, pendelte zwischen den Tischbeinen wie ein toter Pelikan, während ich mich krümmte und an der Wand festhielt. Mir war speiübel. Die Küchentür ging auf und Schritte dröhnten durch meinen Kopf. »Ellie, was ist denn mit dir los?« Ben stand hinter mir mit einem Malerspachtel. »Ich weiß, das Haus ist in schlimmem Zustand, aber deswegen brauchst du es doch nicht mit bloßen Händen abzustützen. He!« Er bückte sich, hob den Hörer auf und betrachtete ihn. »Schlechte Nachrichten? Mein Gott, Ellie, du siehst ja richtig grün aus — komm, halt dich fest.« Er warf den Spachtel hin. »Ein obszöner Anruf, ziemlich widerlich.« Mir drehte sich alles. Vor allem wollte ich nicht, daß Ben mich anfaßte. Ich hatte die absurde Vorstellung, daß etwas von meiner Schande auf mich abfärben würde. Ich preßte die Finger gegen die Schläfen und wich vor ihm zurück zur Treppe, aber ich war nicht schnell genug; er hielt mich fest. Ich wollte mich losmachen, aber meine Hände waren an seine Brust gefesselt. Ich konnte seine angespannten Muskeln unter dem dünnen Wollhemd spüren und das gleichmäßige Pochen seines Herzens. Ich konnte den würzigen, frischen Duft von seinem Aftershave riechen. Mein sonst so unwilliger Körper tat mir ausnahmsweise einen Gefallen. Ich kam mir vor wie ein Mädchen in einem dieser blöden Werbespots, wo jemand im Hintergrund singt: »Und er benutzt Wildes Verlangen.« Ich reagierte auf Bens Nähe mit einem so neuen, so überwältigenden Gefühl, daß alles andere ausgelöscht wurde. Sogar die STIMME. Ich wollte nur eins: ihm noch näher sein. »Ellie.« Ben sprach das Wort zärtlich in mein Haar.
»Erzähl mir alles.« Der Augenblick zersprang in tausend Scherben wie eine Teetasse, die man in den Ausguß fallen läßt. Nicht, weil Ben gefühllos war, seine Stimme, seine Berührung verrieten durchaus Gefühl. Mein Schuldbewußtsein machte mich stumm. Ich wollte mich nur noch irgendwo verkriechen wie ein Maulwurf. Die älteste Ausrede der Welt. Ich sagte ihm, ich hätte Kopfschmerzen und gerade gelegen, als das Telefon klingelte. Wahrscheinlich glaubte er kein Wort, aber er fragte mich nicht weiter aus. Das Abendbrot war ohnehin noch nicht fertig; er hatte den Gong geschlagen, damit ich zu einem Geburtstagsschluck herunterkam. Dorcas war draußen und fahndete nach Tobias, der schon wieder verschwunden war. Wenn ich mich nachher besser fühlte, konnte ich mein Abendbrot auf einem Tablett ins Zimmer bekommen. Bens Besorgnis rührte mich fast zu Tränen. Wie würde er mich verachten, wüßte er, daß ich dem Feind in die Hände gespielt hatte. Vielfraß! Mir schauderte beim Gedanken daran. Dieser wunderschöne Tag mit seinen Entdeckungen über Abigail und Bens einfühlsamem Geschenk war gründlich verdorben. Ich hatte mich nicht mal bei ihm bedankt. Morgen. Ich legte mich aufs Bett und zerbrach mir den Kopf darüber, wer wohl am ehesten in Betracht kam. Drei von ihnen waren hier gewesen, und das Essen mit Tante Sybil hatte ja nicht den ganzen Tag gedauert. Hatten sie sie über uns ausgehorcht? Konnte es sein, daß sie etwas wußte? Hatte sie gesehen, wie sich eine von ihnen ins Haus schlich, während Ben an der Schreibmaschine saß und Dorcas und ich unterwegs waren? Und wenn ja, würde sie es mir sagen? Sie hatten sich bei ihr lieb Kind gemacht. Womöglich hatte die STIMME sie sogar ins Vertrauen gezogen, sie in den kleinen Streich eingeweiht. Aber nein, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß
Tante Sybil etwas billigte, was Onkel Merlins Pläne durchkreuzte. Vanessa war immer meine erste Wahl, wenn Niedertracht im Spiele war, aber was war mit Freddy? Daß er nicht wie verabredet zu den anderen gestoßen war, befreite ihn nicht aus der Schlinge. Vielleicht war er wie geplant hergefahren und dann zu der Ansicht gelangt, daß es bessere Verwendung für seine Zeit gab … dieses Gefühl, im ‘Hasen und der Meute’ heimlich beobachtet zu werden … Ein Punkt zu Freddys Gunsten war, er hatte fürs Anpumpen den direkten Weg gewählt. Aber was waren ein paar Mäuse im Vergleich zu echt Kohle oder besser noch dem gesamten Schotter? Wollte er das Geld für sich selber oder für seinen Vater, der auf den ersten Blick als der Bedürftigste erschien? Vielleicht, wenn Ben und ich Maurice ein Darlehen oder eine Schenkung anboten? Ich dachte an seine sonstigen Gewohnheiten und fand den guten Onkel ziemlich gierig. Aber wer war ich, mit Steinen zu werfen? Seufzend sank ich tiefer in mein Kissen. Blieben noch Astrid und Lulu. Beide konnten auf ihre Art ungeheuer rücksichtslos sein. Eine Stunde später kam Dorcas hoch. Inzwischen hatte ich wirklich Kopfschmerzen. Sie überredete mich, ein paar Schlückchen Weinbrand aus einem Eierbecher zu trinken. Sie hatte Tobias gefunden. Um den Schlingel mußte man sich keine Sorgen machen; wohl aber um Ben. So niedergeschlagen hatte sie ihn noch nie erlebt. Er war in der Küche und reagierte seinen Frust ab, indem er noch eines von Abigails Rezepten nachzauberte. Mit diesen Worten der Ermutigung schlich sie auf Zehenspitzen hinaus. Ich sank schließlich in unruhigen Schlummer, der immer wieder von Alpträumen unterbrochen wurde. Ich steckte Freddy in ein Bett, das die Form eines Vogelnestes hatte, oder wenigstens dachte ich, es war
Freddy — sein Gesicht bekam ich nie richtig zu sehen, und Tante Lulu hackte nach mir mit einem langen Schnabel aus Spielkarten. Ich schreckte senkrecht hoch und zog die schützende Bettdecke um mich; das Haus lebte, alte Knochen knirschten in abgenutzten Gelenken. Schritte tapsten leise. Ich war kurz davor, aufzuschreien, da setzte mein Verstand wieder ein. Ben stand oft mitten in der Nacht auf, um mit einem schwierigen Kapitel zu ringen. Die letzten Nachrichten von seiner beherzten Heldin, Schwester Maria Gracia, waren: verschnürt in einen Sack war sie in den Bongofluß geworfen worden und wurde prompt von einem revierbewußten Krokodil verfolgt. Ich kuschelte mich wieder unter die Decke und zwang mich, weiterzuschlafen. Ich erwachte noch bevor die Sonne ganz aufgegangen war. Blasses graues Licht kroch durch die Vorhangritzen. Ich war überrascht, wieviel besser ich mich fühlte. Der Feind hatte die erste Runde gewonnen, aber ich verspürte richtig Lust, in den Ring zu steigen und kräftig auszuteilen. Ein heißes Bad weckte vollends meine Lebensgeister. Beim Anziehen überlegte ich, ob ich Ben erzählen sollte, was geschehen war. Ich ging zum Fenster, zog die Vorhänge zurück und sah, daß ich nicht als Erste auf war. An der Wäscheleine waren kleine weiße Lätzchen angeklammert und flatterten munter im Morgenwind. Lappen? Taschentücher? Ich mußte es herausbekommen. Als ich mein Zimmer verließ, kam gerade Ben über den Treppenflur. Er hatte es so eilig, daß er mich fast umrannte. »Mir aus dem Weg«, schrie er. Ich überhörte diesen fröhlichen Morgengruß und rannte ihm nach. »Was ist los? Feuer oder Flut? Läuft das Spülbecken über oder …?«
»Frag mich nicht, sprich mich nicht an, komm mir bloß nicht zu nah!« Er raste durch die Halle, prallte mit einer Ritterrüstung zusammen, stieß sie scheppernd beiseite, nahm den Weg durch die Seitentür über den gepflasterten Hof und blieb abrupt unter der zwischen zwei Bäumen gespannten Wäscheleine stehen. Er stieß einen grauenvollen Schmerzensschrei von so primitiver Urgewalt aus, daß ich unwillkürlich zurückwich. Ich folgte seinem Blick, schaute empor und sah, was er gesehen hatte. Die weißen Rechtecke auf der Leine waren keine Taschentücher, es waren Papierblätter — Schreibmaschinenpapier. »Mein Buch«, stöhnte Ben und wälzte sich am Boden wie ein verwundeter Hund. »Ein Zettel war unter meiner Schlafzimmertür durchgeschoben worden. Ich fand ihn heute morgen beim Aufwachen. Bei deinem Sinn für Humor, Ellie, wird dir gefallen, was jetzt kommt. Auf dem Zettel stand: ‘Ich bin überzeugt, du kannst kein sauberes Buch schreiben, selbst, wenn du wolltest, deshalb habe ich jede Seite in sehr heißem Wasser und Bleiche gewaschen und zum Trocknen aufgehängt.’« Der Feind hatte an beiden Fronten zugeschlagen. Aber bestimmt war nicht alles verloren. Die Durchschläge! Ich sprach leise, aber fest zu dem Geschöpf am Boden. »Ben, beruhige dich. Du erwürgst dich noch, wenn du deine Arme so um deinen Hals schlingst. Wo bewahrst du die Durchschläge auf? Vielleicht hat die Person, die diese Greueltat begangen hat, sie nicht gefunden.« »Durchschläge!« Ben schwang sich mit einem Gebrüll auf die Füße, das ich für wiedererstandene Hoffnung hielt. »Ich habe keine Durchschläge gemacht. Nenn’ es Faulheit, nenn’ es Nachlässigkeit, nenn’ es wie du willst! Und weißt du, was ich Idiot noch gemacht habe?« Ich brachte mich vor den wild gefletschten scharfen
weißen Zähnen in Sicherheit. »Beiß mich nicht! Ich bin nicht gegen Tollwut geimpft.« Diese kleine humorvolle Einlage hatte nicht den gewünschten Beruhigungseffekt. Ben ging weiter auf mich los. Er packte mich am Arm und schüttelte mich, bis mein Kopf abzubrechen drohte wie eine Mohnkapsel vom Stengel. »Zeig ein bißchen normale Neugier, frag mich, wie ich dem Feind geholfen und Vorschub geleistet habe.« Mein Kopf flog in rasender Zustimmung vor und zurück. Bens Augen waren so glasig, daß ich bezweifle, ob er mich überhaupt sah. »Korrekturfreundliche Briefpost« — wieder rüttelte er mich durch. »Mir gefiel, wie leicht ich ein überflüssiges Wort ausradieren konnte, eine lästige Zeile. Sehr praktisch, dieses Papier, kostet ein bißchen mehr, aber für jemand, der miserabel tippt, lohnt sich’s. Der schmierige, schleimige Unhold, der dieses Verbrechen begangen hat, muß sich ins Fäustchen gelacht haben. Wenn ich daran denke, wie ich mich mit jedem Wort gequält habe — rein in die Lauge und schwuppdiwupp — weg! Schau dir die Seiten an!« Er riß ein paar von der Leine, eine Wäscheklammer kam auf mich zugesaust und verfehlte meine Nase um Millimeter. »Leuchtend weiß und porentief rein! Ich glaube, ich gehe ins Haus und schreibe einen Lobgesang auf die Hersteller von Bleichmitteln.« Zum ersten Mal merkte ich, wie ähnlich wir uns waren. Wütend droschen wir auf andere ein, wo wir doch eigentlich uns selbst die meiste Schuld gaben. Verdammt noch mal, dachte ich böse, während ich hineinstapfte, wenn man seine Sexualerziehung nur aus Liebesromanen bezieht, merkt man gar nicht, daß Liebe Schwerstarbeit ist. Nicht, daß ich — theoretisch — in Ben verliebt war. Körperlich angezogen ja, und das war bei Lichte besehen das schwerere Los. Bens Körper war für mich genauso tabu wie meine Lieblingsspeisen, wobei
die Erfüllung des Verlangens noch um einiges aussichtsloser war. In letzter Zeit war mir manchmal gewesen, als blitzte in Bens Augen auch ein gewisser Hunger auf, aber jetzt leuchtete da nur noch die Gier nach Rache. Das Frühstück war eine Mahlzeit mit Trauerrand. Jonas hatte Glück, daß er es versäumte. Dorcas brach zusammen, als sie die Tragödie vernahm, aber nachdem sie sich geräuschvoll mit einem ihrer karierten Taschentücher die Nase geputzt hatte, warf sie sich in die Schultern und riß sich zusammen. »Dürfen nicht nur an uns selber denken, Ellie«, spornte sie mich an, während sie die Kaffeemaschine einschaltete und Brot in den Rattenfallentoaster steckte. »Ben braucht jetzt unseren Beistand, wenn wir ihn wieder hinter die Schreibmaschine kriegen wollen. Sonst schmeißt er alles hin.« Der Adressat dieses Mitgefühls war mit ausgestreckten Armen auf den Tisch gesunken. Ungefähr alle drei Minuten wurde er von einem Krampf geschüttelt. Dann zitterte sein ganzer Körper und seine Knie schlugen so heftig gegen den Tisch, daß die von Dorcas hingestellten Kaffeetassen in alle Richtungen schlidderten. »Gegenangriff! Wir werden den unsichtbaren Widersacher vernichten!« Dorcas fing geschickt eine fliegende Untertasse ein, bevor sie entkommen konnte. »Wir müssen uns organisieren. Eine Liste der Verdächtigen aufstellen, Zensuren verteilen je nach Motiv und Gelegenheit.« Der Kopf auf dem Tisch hob sich kurz und ein freudloses Kichern verzerrte seine Züge. Er erinnerte mich an den verstorbenen Merlin Grantham. »Der Gelegenheit nach« sagte er, »seid ihr beide die Hauptverdächtigen. Möchte jemand gestehen? Ich werde
euch nicht umbringen, jedenfalls nicht schnell.« Wieder blitzten die scharfen weißen Zähne. »Ben!« Mit peinlicher Akribie strich ich Butter in jede Pore seiner Scheibe Toast. »Kennst du das alte Sprichwort ‘Ein Unglück kommt selten allein’? Dann wird dich das unheimlich aufheitern. Du warst nicht das erste Opfer.« Ich erzählte ihm und Dorcas im Eilverfahren von den ekelhaften Pralinen. Keiner unterbrach. Ben saß da, die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in die Hände gestützt, die Augen geschlossen. Hörte er überhaupt zu? Oder war er taktvoll, weil er spürte, wie sehr ich mich schämte? Ich erzählte ihnen von dem Anruf. »Ungeheuerlich«, entrüstete sich Dorcas. »Aber wir müssen rauskriegen, wie das alles bewerkstelligt wurde und wann. Mit den Pralinen ins Haus zu schleichen ging schnell und das Risiko, erwischt zu werden, war gering. Das Haus ist groß. Für den Anschlag auf Ben braucht man mehr Zeit.« Die Rekonstruktion des Ablaufs schien die einzig sinnvolle Therapie für Ben. Er stand unter Schock. Der richtige Schmerz würde später einsetzen. Jetzt mußten wir dafür sorgen, daß er redete. »Meiner Meinung nach müssen die Seiten ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang aufgehängt worden sein«, sagte Dorcas. »In totaler Finsternis zu arbeiten ist außerordentlich schwierig. Sogar Licht von einer Taschenlampe hätte jemand alarmieren können.« »So ein Mist!« rief ich aus. »Zu schade, daß Tante Sybil nicht auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge war. Dann hätte sie Alarm schlagen können.« »Vielleicht ist es nur gut, daß sie nicht dazwischenkam«, Ben zog ein Gesicht, »sonst wäre sie auch noch auf der Wäscheleine gelandet; wir haben es mit jemand zu tun, der vollständig verrückt ist.« »Teuflisch, aber geduldig.« Dorcas setzte sich wieder
und rührte ihren Kaffee um. »Eins muß man ihm lassen — entschuldigt das Fürwort, ein bißchen Chauvinismus steckt in jedem von uns — das Timing war perfekt. Hat gewartet, bis du, Ben, mit deinem Buch mehr als halbfertig warst und Ellie erst fürs Schlachtfest gemästet, als sie sich mit ihrer Diät angefreundet hatte.« »Ich glaube, der Anschlag auf mich war vor allem psychologisch gemeint«, sagte ich. »Eine Schachtel Pralinen aufzufuttern bringt nicht all die Pfunde zurück, die ich hoffentlich verloren habe. Der scheußliche Anruf sollte bewirken, daß ich mich unfähig fühle, schlank zu sein. Und wißt ihr was? Es funktioniert! Hier sitze ich und tue was, was ich seit Wochen nicht getan habe, ich schippe mir Zucker in den Kaffee, ich esse eine Scheibe Brot nach der anderen. Aber jetzt ist Schluß!« Ich schob meinen Teller weg. »Der Feind hat einen entscheidenden Fehler gemacht. Und wenn ich totale Enthaltsamkeit üben muß, um quitt zu werden — ich bin bereit.« »Wie schön für dich«, sagte Ben trocken und warf den Kopf wieder auf die Arme. »Aber mach dir nicht vor, du tust es für die Erbschaft. Selbst wenn du mich Tag und Nacht an den Stuhl kettest, kann ich das Buch in der verbleibenden Zeit nicht mehr schreiben. Vielleicht brauchen wir keinen weiteren Anschlag des Feindes zu fürchten — sein Werk ist getan.« »Und die dritte Bedingung — der Schatz?« »Wozu sollen wir noch danach suchen?« Erst etwas später kam mir der Gedanke, ob das nicht genau das war, was der Feind wollte.
Zwölf Welche Gedanken den unsichtbaren Feind auch plagten, erst einmal schien er uns aufgegeben zu haben. Die
folgende Woche verging ohne einen neuen Anschlag. Vielleicht wiegten wir uns in falscher Sicherheit, doch ich hätte eigentlich zufrieden sein können. Ich ging völlig in meiner Arbeit im Haus auf und in der Suche nach der Persönlichkeit von Abigail Grantham. Wenn nur Ben sich nicht so zurückgezogen hätte. Er war nicht unfreundlich, nur höflich distanziert. Mit Dorcas war er wie immer, seine Haltung hatte also nichts mit seiner Depression wegen des Buches zu tun. Eines mußte ich ihm lassen, er hatte den Verlust erstaunlich gut verschmerzt, und das lag zum guten Teil an Dorcas. Sie ließ einfach nicht zu, daß er in seinem Zimmer hockte und Trübsal blies. »Schmoll du nur«, hatte sie geknurrt, »du weißt ja, wer dann schließlich kocht. Ellie hat noch damit zu tun, die Möbel auf dem Dachboden zu sichten. Weiß, ich sollte Quiche tomarchtichoque und sowas machen können, weiß aber nicht mal, wie man ein Ei aufbricht geschweige denn kocht.« Das Essen war an dem Abend zur gewöhnlichen Zeit auf dem Tisch, im üblichen Gourmet-Niveau. Ben wirkte sogar halbwegs zufrieden mit seiner Fasanenpastete aus Hefeteig. »Gut gemacht«, applaudierte Dorcas. »Morgen haben wir dich wieder an der Schreibmaschine. Weiß schon, schreiben ist anders als stricken, du kannst nicht einfach fallengelassene Maschen wieder aufnehmen, aber …« »Genau das habe ich mich vorhin gefragt«, sagte Ben. »Als ich den Vogel gerupft habe wie den Feind persönlich, dachte ich immer wieder, oh Gott, hätte ich doch bloß ein fotographisches Gedächtnis — und das hat mich auf eine Idee gebracht. Was, wenn ich mir durch Hypnose eines verschaffe? Dafür brauche ich einen Experten, jemand der Spitzenklasse, nicht die Feld Wald und Wiesen Nichtraucher-Sorte, aber wo finde ich den? Wir haben ja nicht mal ein Telefonbuch in diesem
verwünschten Haus.« »Ich glaube, wir hatten mal eins«, antwortete ich vage, denn ich dachte immer noch über seine Idee nach, »aber das wurde mit Tante Sybils Müll zusammen verpackt und ins Häuschen geschickt. Es war sowieso von Anno Dazumal. Außerdem weiß ich was besseres als den Buchstaben H durchzublättern. Jill.« »Jill?« Ben sah mich lustlos an. »Deine komische kleine Zwergenfreundin? Die ist doch kein Hypnotiseur.« »Das nicht, aber sie kennt bestimmt einen. Sie macht in Wiedergeburt, Rückentwicklung und so Zeug. Wenn sie jemand besorgen kann, der Leute in ihr früheres Leben zurückführt, dann ist dein Fall — bloß ein paar Monate — das reinste Kinderspiel. Morgen schreibe ich Jill.« Das tat ich. Und ich muß sagen, Ben war recht aufgeschlossen. Erst einige Zeit später wurde er kühler. Der Stimmungsumschwung kam so allmählich, daß schwer zu sagen ist, wann er begann. Gottseidank hatte ich in anderer Hinsicht einige glückliche Augenblicke. Als ich auf dem Dachboden einen Stapel alter Teppiche beiseite zerrte, fand ich den eichenen Kaminaufsatz. Abigails Kaminaufsatz, den sie in ihrem Haushaltsbuch erwähnte. Jonas mußte ihn für mich polieren. Murrend krempelte er die Hemdsärmel auf. »Eine Schande, wenn Männer machen, was Frauenarbeit ist.« Aber mir fiel auf, daß er leise vor sich hinsummte, und im Gegensatz zu Tante Sybil bevorzugte er keine Grabgesänge. Das Leben wurde insgesamt leichter, als am nächsten Tag die beiden reichlich herablassenden Putzfrauen kamen. Am darauffolgenden Mittwoch nahm ein Heer von Elektrikern, Klempnern, Schreinern und Malern die Arbeit im Erdgeschoß auf. Die Schlaf- und Badezimmer mußten warten. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden Ben und ich nicht mehr
auf Merlins Schloß sein, wenn ihre Renovierung dran war. Am lästigsten war, daß wir die Küche nicht benutzen konnten. Die Männer, die die neuen Küchenschränke und Arbeitsflächen einbauten, fanden sich offenbar empfindlich gestört, wenn einer von uns hereinkam, um sich ein Glas Limonade zu holen. Da das Eßzimmer ebenfalls außer Betrieb war, mußten die Mahlzeiten entweder im alten Waschhaus eingenommen werden oder picknickmäßig im Freien. Ben — sei es nun, um sich von seinem Buch abzulenken (Jill hatte meinen Brief immer noch nicht beantwortet), oder weil er nicht anders konnte — war in bezug auf die Küche ausgesprochen schwierig. Sowie irgendeine Entscheidung getroffen wurde, hörte er das prompt über das Gestotter seine Schreibmaschine hinweg, kam herbeigeeilt und änderte alles. Er stritt sich mit dem Klempner, beleidigte den Elektriker, der die Soffittenbeleuchtung verlegte, und war wie ein überängstlicher Vater ständig den Leuten im Weg, die den neuen Herd installierten. »Sagen Sie mal, meine Dame!« Einer der belauerten Handwerker wischte sich mit einem feuchten Taschentuch die Stirn. »Muß Ihr Männe nicht irgendwohin auf Arbeit gehen?« »Nein«, sagte ich und überhörte das kleine Mißverständnis über unsere Beziehung. »Er weiß noch nicht, was er mal werden will, wenn er groß ist.« Wenn wir keinen totalen Streik in Kauf nehmen wollten, schien es ratsam, daß so viele Bewohner wie möglich tagsüber das Haus verließen. Natürlich weigerte sich der Stein des Anstoßes, sich vom Fleck zu rühren, aber Dorcas war immer froh, wenn sie ihren Filzhut aufsetzen und eine Thermosflasche voll Tee in den von Mauern umgebenen Kräutergarten mitnehmen konnte. Den hatte sie zu ihrem ureigensten Reich gemacht. Eines Morgens fiel mir wieder meine Idee ein, im
Kirchenregister Abigails Todestag nachzuschlagen. Der Gang durch die lastende Stille des Friedhofs war unbehaglich, aber ich fand hinten in der Kirche das Register aufgeschlagen auf dem Pult neben dem Taufbecken. Die älteren Bände waren säuberlich auf einem Bord darunter gestapelt. Innerhalb weniger Minuten hatte ich die Eintragung von Onkel Arthurs Tod gefunden. Merlin mußte an die Zwanzig gewesen sein, als sein Papa die Reise dorthin antrat, wo ihn sein gerechter Lohn erwartete. Hoffentlich mochte er warmes Wetter. Ich fand jedoch keinen Hinweis auf seine Frau. Nachdenklich verließ ich die Kirche und fuhr ins Dorf. Der stattliche, gepflegte Herr hinter dem auf Hochglanz polierten Ladentisch von Juwelier Pullett war die Aufmerksamkeit in Person; doch zu seinem Bedauern waren die Firmenunterlagen, die fünfzig Jahre und mehr zurückreichten, vor einiger Zeit von einem Feuer vernichtet worden. So viel zu Abigails Granatring. Vielleicht hatte ich ihre Eintragung von seinem Verkauf überbewertet, doch ich war immer noch überzeugt, daß er, wenn auch nicht der Schatz, so doch Teil des Rätsels war. Ihr Alltag, der sich in ihren Haushaltsbüchern niedergeschlagen hatte, beschäftigte mich in den folgenden Wochen fast ebenso sehr wie die Restaurierung des Hauses. Ihres Hauses. Anschaffungen für anderer Leute Wohnsitze hatte ich immer gern gemacht, aber für Merlins Schloß einzukaufen war eine Wonne. Oft begleitete mich Dorcas, und dann aßen wir in irgendeinem malerischen Gasthaus, das uns gerade gefiel, zu Mittag. Gemäßigte Ernährung war mir inzwischen fast zur zweiten Natur geworden. Auch bekam ich reichlich Bewegung, wenn ich durch Arkaden und über Marktplätze schlenderte, um passenden Zierat für das Haus in seiner erneuerten Gestalt aufzutreiben. Der Kaminsims im Salon bereitete
mir Probleme. Ich wollte vermeiden, daß er zu kopflastig oder zu verspielt wirkte. Was mir fehlte, das waren ein, zwei schöne Stücke, die Stimmung und Farben des Raums betonten. Eines Nachmittags bummelten wir wieder in unserer üblichen, von vielen Stehpausen unterbrochenen Art durch die Gassen, da stießen wir, eingequetscht zwischen rote Ziegelsteinhäuschen mit Erkerschaufenstern, auf einen Laden, der sich ‘Das China-Kabinett’ nannte. Dorcas war diejenige, die darauf zeigte. »Das ist es! Die gelbe chinesische Vase mit dem pfauenblauen Blattmuster. Stell die zusammen mit zwei Messingleuchtern auf deinen Kaminsims und du bist aus allem raus.« Sowie ich die Vase sah, wußte ich, Dorcas hatte recht. Wieder einmal hatte sie einen ihrer seltenen Anflüge von künstlerischer Begabung gezeigt. All das machte viel Spaß, und das leergeräumte, kahle Haus erwachte langsam wieder zum Leben wie ein Baum nach einem langen, harten Winter. Die zwei wackeren Damen vom Arbeitsamt beendeten ihre Zeit bei uns mit Fensterputzen; alle Scheiben wurden mit Essig und Zeitungspapier geschrubbt, bis sie blinkten wie hundert blitzende Augen. Am Tage, als sie ihren letzten Lohn entgegennahmen und gingen, blieb mir so wenig zu tun, daß ich mich meiner Absicht entsann, mit dem Pfarrer zu reden. Ich hätte Mr. Foxworth schon viel früher aufsuchen und um Hilfe bitten sollen, aber bei mir hatte sich das Gefühl breitgemacht, weiteres Suchen nach Hinweisen war reine Verschwendung. Die Zeit war uns davongaloppiert wie ein durchgegangenes Pferd. Trotz seiner täglichen Sitzungen an der Schreibmaschine wußte ich, Ben bezweifelte ernsthaft, ob er sein Buch noch schaffen konnte. Immer noch kein Wort von Jill, aber von der Idee mit der Hypnose sei er sowieso abgekommen. Er habe einfach nicht das Zeug zum Schriftsteller, gestand Ben mir mißmutig. Der Geist war
willig, aber die Prosa schwach, erklärte Jonas ihm freundlich und fügte hinzu, daß Thomas Hardy, Dickens oder irgendeiner der Großen einen Neuaufguß des verflixten Buches in einer ihrer Teepausen hingelegt hätten. »Wir wollen den Feind bei guter Laune halten«, sagte Ben. »Vergessen wir Erbschaft, vergrabenen Schatz, fünftklassige Romane und Diät.« Aber ich wollte meine Diät nicht vergessen. Ich hatte diese Tyrannin direkt liebgewonnen; sie tat mir gut. Und ich wollte Abigail nicht vergessen, sei es auch nur aus einem Grund: ich hatte das Gefühl, sie wäre mir eine Freundin gewesen … Sie war mir eine Freundin. Egal, was ich sonst noch erreichte oder auch nicht, ich mußte herausfinden, wie und woran sie gestorben war. Um sicherzugehen, daß der Pfarrer mich nicht als eine von den Spinnerinnen abschrieb, die ihren Stammbaum bis zu Wilhelm dem Eroberer zurückverfolgen wollen, ließ ich mir Zeit mit meiner Toilette. Kühl zu wirken war gar nicht einfach; wir steckten mitten in der ersten sommerlichen Hitzewelle. Mein Haar klebte mir schon feucht am Nacken, also hob ich es zu einem dicken Knoten, den ich mitten auf dem Kopf feststeckte, bevor ich in etwas aus der letzten Sommerkollektion schlüpfte — einen kaffeebraunen Hänger. Irgend etwas war sehr falsch. Statt sich wie ein fröhlicher, ausgelassener Pilz zu bauschen hing das Kleid in schlaffen Falten herunter. Die Schultern baumelten und der Ausschnitt klaffte. Nervös legte ich meine Hand dahin, wo normalerweise mein Bauch war und schlich zum Spiegel. Ich schielte gerade mit verdrehtem Hals hinein, als Dorcas anklopfte und hereinkam, um mich zu fragen, ob ich Thymian oder Petersilie für die Einfassung haben wollte. »Beides«, antwortete ich abwesend, hob die Augenbrauen und sog die Wangen ein. »Unmöglich. Versaut das ganze System. Stimmt was
nicht? Du wirkst so verstört.« Dorcas ließ sich auf das Bett fallen. »Ellie, sag mal, suchst du was?« »Ja. Ich habe es eben erst gemerkt. Mir fehlen anderthalb Kinne, und meine Backen stimmen auch nicht. Sie haben nicht mehr ihre freundlichen Hamsterrundungen.« Dorcas nickte. »Seh’s schon einige Zeit, habe aber lieber nichts gesagt. Hatte Angst, Kommentare bringen dich aus dem Schlagrhythmus. Was sagt denn die Waage, oder hast du sie noch nicht gefragt? Aha!« Sie interpretierte mein Spiegelbild richtig. »Angst vor Enttäuschung. Immer besser, die Wahrheit zu wissen, auch wenn sie nicht schmeckt, und wenn’s was Gutes ist, stärkt’s das Selbstvertrauen und hält in Schwung.« Dorcas nahm mich beim Ellbogen, brachte mich schnurstracks ins Badezimmer und befahl mir, mich auf die Waage zu stellen. »Nicht der passende Moment für falsche Bescheidenheit«, versicherte sie mir, »und jetzt alle zusammen!« Der Zeiger schwang aus, zitterte und blieb stehen. Voll ehrfürchtiger Scheu schaute ich auf die Skala: mehr als vierzehn Kilo. Wo waren die alle hin? »Herzlichen Glückwunsch!« Dorcas schüttelte meine Hand wie einen Pumpenschwengel. »Jetzt muß Ben nur noch Einfälle haben und wir noch einen von Onkel Merlins Hinweisen auftreiben und wir sind fein raus.« Wir gingen zusammen auf den Hof und besprachen die Fingerzeige, die wir schon hatten. Ich erwähnte einen Gedanken, der mir seit einer ganzen Weile durch den Kopf spukte. Onkel Merlins Anweisung war, einen Schatz zu finden, der mit dem Haus zu tun hatte. Er hatte nicht gesagt: im Haus. Das konnte bedeuten, daß der Schatz gar nicht im Gebäude selbst verborgen war, sondern im umgebenden Gelände oder sogar noch weiter weg. Wir standen jetzt in dem kleinen, ummauerten Kräutergarten. Die Sonne brannte auf unsere bloßen
Arme nieder und die Luft war erfüllt mit dem Geruch der frisch umgegrabenen Erde und dem Duft der Minze, die zäh viele Jahre der Vernachlässigung überlebt hatte. Dorcas liebte diesen Ort; Abigail hatte es sicher auch getan. Viele ihrer Rezepte lebten von den frischen, sonnenverwöhnten Kräutern, die sie hier gezogen hatte. War dieser Garten auch eine Zufluchtstätte vor der langweiligen Gesellschaft eines kritischen Ehemannes gewesen, ein Ort, der so ganz ihr gehört hatte? Ich bückte mich, nahm eine Handvoll Erde und zerrieb sie zwischen den Fingern. Wenn Abigail etwas hätte verstecken wollen, dann wäre dies der ideale Platz gewesen. Aber vielleicht ging ich in meinen Mutmaßungen auch zu weit. Zu Abigails Zeit gehörte ein Kräutergarten ganz zum Reich der Dame des Hauses, und seitdem war er der Verwahrlosung anheimgefallen. Seit Jahren hatte hier niemand mehr ein Zweiglein Minze gepflückt bis Dorcas kam und die Grabegabel schwang. Wie so oft wußte sie, was ich dachte. »Du hast überlegt, ob das der Ort sein kann, stimmt’s? Logisch! Hätte früher draufkommen müssen. Nun geh du mal und besuche deinen Pfarrer. Sieh zu, was du über Abigail herausfinden kannst, und ich mache hier weiter; es sei denn, du findest es nicht angebracht, daß ich die Grabung ohne Aufsicht durchführe — dein Schatz und so. Weiß es zu schätzen, wie du mich an allem beteiligst, aber du solltest weniger vertrauensselig sein, Ellie — man kann ein Buch nicht immer nach dem Einband beurteilen. Habe mal für eine Frau gearbeitet, hat englische Literatur unterrichtet. Netteste Person, die man sich vorstellen kann, aber ein Langfinger — hat das Preisgeld vom Sportfest unterschlagen.« Ich versicherte ihr, daß ich keinerlei Zweifel an ihrer Redlichkeit hegte, überließ Dorcas ihrer Grabegabel, die sie mit fachmännischer Präzision in die Erde stieß, und
machte mich auf den Weg zum Pfarrer. Ich fand Rowland Foxworth in seinem Arbeitszimmer mit der Sonntagspredigt beschäftigt. Ich wurde von Mrs. Wood, seiner spatzenhaften Haushälterin, ins Allerheiligste geführt. Während sie mir die Tür zum Arbeitszimmer aufhielt, brummelte sie: »Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß die Leute unangemeldet kommen, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, das Telefon zu erfinden.« So heruntergeputzt entschuldigte ich mich schon, bevor der Pfarrer sich auch nur aus seinem Stuhl erhoben hatte. »Ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich wußte die Nummer nicht und …« »Bitte.« Er drückte mir warm beide Hände und strahlte wohlwollend. »Ich freue mich, Sie zu sehen.« Der Raum zeugte vom Glauben der mürrischen Mrs. Wood an die Kraft des Muskelschmalzes. Dagegen schlug sich Mr. Foxworths ungezwungene, lässige Art in dem aufgeschlagenen Buch auf dem Kaffeetischchen nieder und der vielbenutzten Pfeife, die ihre Asche auf den Schreibtisch streute. Mr. Foxworth strich sich mit einer liebenswerten Geste das silberdurchwobene Haar aus der Stirn, rückte einen Ledersessel für mich zurecht und setzte sich mir gegenüber. »Ellie, was kann ich für Sie tun? Ich war mehrmals bei Ihnen und habe Sie nicht angetroffen, dennoch müssen Sie mich für sehr pflichtvergessen halten, weil ich mich so wenig um ein neues Gemeindemitglied kümmere.« »Und Sie müssen mich für sehr pflichtvergessen halten, weil ich nicht zum Gottesdienst komme.« Ich blickte in freundliche graue Augen. »Ich schäme mich deswegen, aber ich habe so ein unangenehmes Gefühl, es ist nicht die Kirche selber …, sondern der Friedhof. Als ich ihn überquerte, war mir gar nicht geheuer, besonders, als ich an der Familiengruft vorbei mußte. Geben Sie mir etwas Zeit, ich werde das schon überwinden.«
»Ich weiß es zu würdigen, welche Mühe Sie sich machen, um mich zu besuchen.« Er lächelte und griff nach seiner Pfeife. »Es wäre schön, die alte GranthamFamilienbank wieder besetzt zu sehen. Miss Sybil Grantham besucht gelegentlich die Abendandacht, aber wie Sie wissen, betrachtete ihr Onkel jeden Geistlichen als salbadernden Scheinheiligen und weigerte sich, St. Anselm zu betreten.« »Wenigstens willigte er in ein christliches Begräbnis ein, doch wohl eher um sicherzustellen, daß er nicht ohne den gebührenden Pomp aus dieser Welt befördert wurde.« Damit war das Gespräch genau da, wo ich es haben wollte. Der Pfarrer lächelte. »Sein Heimgang war allerdings sehr stilvoll; wie ich höre, waren die Pferde und die Kutsche eine sentimentale Geste seiner Mutter zum Gedenken. Ein ungewöhnlicher Mann, zu schade, daß er solch eingefleischter Einsiedler war. Als ich dies Pfarramt vor drei Jahren übernahm, machte ich einen Antrittsbesuch, aber Miss Grantham hatte die Anweisung, mich nicht über die Schwelle zu lassen. Nun sagen Sie mir, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Oder darf ich hoffen, daß dies ein nachbarlicher Besuch ist?« Ein netter Mann! Als Novizin im Umgang mit Pfarrern war ich mir nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck, es glomm ganz ungeistlich in seinen Augen. Wenn Ben mich nicht wollte — er war nicht der einzige Ast am Baum. Ich war sündhaft in Versuchung, die Tugend von Mr. Foxworth durch eine Stegreifimitation von Vanessa auf dem Höhepunkt ihrer Verführungskunst auf die Probe zu stellen. Aber meine Diät hatte mich Zurückhaltung gelehrt und außerdem war ich immer noch in dem naiven Glauben befangen, Romantisches geschehe nur Mädchen, die sich geduldig bescheiden. In diesem Augenblick betrat Mrs. Wood das
Arbeitszimmer, stellte grimmig ein Teetablett auf den Tisch zwischen mich und den Pfarrer und verließ uns türenknallenderweise. Während ich Tee einschenkte, erzählte ich Rowland — wie er unbedingt von mir angeredet werden wollte — von Onkel Merlins Testament und dem Schatz. Er zeigte lebhaftes Interesse. »Wahrscheinlich haben Sie das schon in Betracht gezogen, aber ich würde denken, die Kutsche könnte unter dem Sitz oder dem Boden ein ausgezeichnetes Versteck für etwas Wertvolles bieten.« Ich erzählte ihm, daß ich das viktorianische Vehikel ergebnislos durchsucht hatte, bevor ich es mit Genehmigung von Mr. Bragg der historischen Gesellschaft am Ort lieh. Es hatte im Stall ziemlich viel Platz eingenommen. »Wir haben keine Pferde. Die bei der Beerdigung waren geliehen. Aber ich meine auch, daß Onkel Merlins Begräbnisanordnungen wichtig sind, denn sie waren unser erster Hinweis, daß der Schatz etwas mit Abigail Grantham zu tun hat, besonders mit ihrem Tod. Und da hoffe ich auf Ihre Hilfe. Ich weiß, das liegt weit zurück, aber hat der vorige Pfarrer irgend etwas über sie gesagt? Daß da etwas mysteriös war oder vertuscht worden ist? Was auf Selbstmord schließen läßt?« »Nein.« Er tat einen langen, gedankenvollen Zug aus seiner Pfeife. »Aber ich erinnere mich, ich habe mal mitangehört, wie einige der älteren Frauen im Mütterverein darüber redeten, etwas wie Merlin Granthams Mutter sei unter merkwürdigen Umständen gestorben. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich glaube, sie kamen schließlich darauf, daß niemand genau wußte, wie sie gestorben war. Nicht völlig dasselbe, wie?« »Nein.« Ich stellte meine Tasse ab und griff nach der Teekanne, um nachzugießen. »Und Merlins exzentrisches Verhalten war natürlich Wasser auf die
Mühlen der Gerüchte über Abigail. Ihr früheres Dienstmädchen, eine alte Frau namens Rose, hat mich darauf gebracht, daß im Ort der Verdacht besteht, Abigail habe sich umgebracht.« »Und was glauben Sie?« »Ich glaube, sie ist von ihrem Mann ermordet worden, von Arthur Grantham.« Endlich hatte ich es ausgesprochen; aber der Verdacht klang in der lässigen Gemütlichkeit und stillen Konzentration dieses klerikalen Arbeitszimmers so melodramatisch, ja nahezu frevelhaft. Welches Recht hatte ich, einen Mann zu verunglimpfen, der nicht nur lange tot war, sondern zu Lebzeiten in der Nachbarschaft hochgeachtet und obendrein eine Säule der Gemeinde war? Die Dörfler tuschelten über seine Frau — nicht über ihn. Konnte ein Mann, der sein Haar in der Mitte scheitelte, seinen Schnurrbart mit Wachs zwirbelte und sich nur im Ankleideraum auszog, etwas anderes sein als ein langweiliger Umstandskrämer? Wie sich herausstellte, hatte Rowland einen schweren Fehler. Er war Realist; er wollte wissen, aufgrund welcher Tatsachen ich Arthur im Verdacht hatte. »Weshalb glauben Sie, daß er sie umgebracht hat?« »Wenn Selbstmord ausscheidet, aus welchem Grund sollten die Leute mehr als sechzig Jahre danach noch über ihren Tod tuscheln? Der übrigens nicht im Kirchenbuch verzeichnet ist. Fügen Sie diesen Tatsachen eine weitere hinzu. Tante Sybil, die als Kind regelmäßig im Hause zu Besuch war, weiß nur, daß Abigail sehr plötzlich dahinging. Ich kann mir nichts Plötzlicheres denken als Mord.« »Damals gab es viele Vierundzwanzig-Stunden-Killer. Blutvergiftung, Bienenstiche, Blinddarm …« »Warum dann die Heimlichtuerei? Das sind alles keine Kavalierskrankheiten, die man unter den Teppich kehren muß. Nein, glauben Sie mir, die naheliegende Erklärung
ist, daß Männe sie abgemurkst hat. Oh, ich gebe zu, er scheint ein Muster an Ehrbarkeit gewesen zu sein, aber diese Sorte ist oft die Schlimmste. Der Mann war ein anspruchsvoller Pedant — schwierig und nörgelig. Vielleicht kam das Frühstück zwei Tage hintereinander zu spät auf den Tisch, oder Abigail hatte einen Kessel Marmelade gekocht, die nicht gelieren wollte. Wer weiß? Arthur hatte nur das Problem, den Doktor davon zu überzeugen, daß Abigail in Ohnmacht gefallen und einfach nicht wieder aufgewacht war.« Rowland wirkte interessiert, aber nicht überzeugt, also bestürmte ich ihn weiter. »Na schön, ungläubiger Thomas« — ein Bibelzitat schien einem Geistlichen gegenüber sehr angebracht —, »erklären Sie mir das: warum existiert keine Eintragung von Abigails Ableben im Kirchenbuch?« Rowland zündete sich die Pfeife an und zog gedankenverloren daran. »Ich fürchte, das bestärkt eher die Selbstmordtheorie. Nach meinen Informationen vertrat der Pfarrer, der damals hier amtierte, die Feuerund-Schwefel-Schule. Wenn Abigail durch eigene Hand starb, so war er bestimmt der Ansicht, ihr Andenken müsse getilgt werden und gehöre nicht unter die Namen der Gerechten im Gemeinderegister.« Eine Minute lang hatte er mich fast gewonnen. Dann fiel mir etwas ein: mein erstes Treffen mit Ben und der Grund, warum er vor der Hallelujah-Erweckungskirche demonstriert hatte. Die Kirchenältesten hatten sich geweigert, ein Kind in geweihtem Boden begraben zu lassen, weil es vor der Taufe gestorben war. Diese seltsame Vorstellung war ein Rückfall in die ‘guten’ alten Zeiten, als alle, denen die Absolution nicht erteilt worden war, Selbstmörder eingeschlossen, außerhalb des Friedhofs in ungeweihtem Boden verscharrt wurden. Wenn der alte Pfarrer wirklich ein so gestrenger Puritaner
gewesen war, wie Rowland sagte, hätte er diese unerfreuliche Sitte gewiß nicht ausgelassen. Rowland spitzte die Ohren, als ich darauf hinwies. Bei allen Sünden, Abigail war in der Familiengruft beigesetzt. Er trat noch nicht zu meinem Glauben über, war aber bereit, einen Mord zumindest theoretisch in Betracht zu ziehen. »Ich kann mir vorstellen«, sagte er, »daß der hinzugezogene Arzt den Verdacht gehegt hat, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Aber einer begüterten Familie gegenüber mochte ein bescheidener Landarzt schon Hemmungen haben, die Behörden zu alarmieren und Krach zu schlagen. Einen Mann von einwandfreiem Ruf des Mordes an seiner Frau zu bezichtigen war äußerst riskant — außer, es gab ein Motiv. Darauf kommen wir immer wieder zurück, Ellie, das Motiv. Die kleinen Alltagsärgernisse, die Sie vorgeschlagen haben, reichen einfach nicht aus.« Niedergeschlagen, aber unbesiegt gestand ich, daß ich Arthur Grantham hauptsächlich deshalb zum Schurken machte, weil ich immer mehr Zuneigung zu Abigail faßte und außerdem jedem Mann mit so eng zusammenstehenden Augen mißtraute. Falls er diese Argumentation absurd fand, so war Rowland viel zu wohlerzogen, es auszusprechen. Er stopfte sich Tabak in die Pfeife, griff nach den Streichhölzern und fragte, wie er dabei helfen könne, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. »Ich weiß es auch nicht«, sagte ich. »Aber Sie sind meine größte Hoffnung. Die Pfarrei ist noch älter als unser Haus und in nächster Nachbarschaft. Ist es möglich, daß einige der Aufzeichnungen von früheren Pfarrern noch irgendwo hier liegen? Wenn ja, würde ich Sie bitten, nachzuschauen, ob sich irgend etwas findet, das Einsicht in Abigails Leben mit Arthur gewährt. Es hört sich vielleicht weit hergeholt an, aber ich habe das
Gefühl, wenn wir herausbekommen, wie Abigail starb, finden wir auch den Schatz.« Rowland versicherte mir, daß er mit dem größten Vergnügen bei der Suche behilflich sein werde, nur leider breche er am nächsten Tag zu einer dreiwöchigen Reise nach Israel auf. Er versprach, sofort nach seiner Rückkehr die alten Unterlagen durchzusehen. Weitere Kisten, die in Kellern und Dachböden ausgegraben werden mußten! Das schien mein Schicksal zu sein. Der Aufschub war frustrierend, aber ich besaß den Anstand, Rowland eine angenehme Reise zu wünschen und lud ihn nach seiner Rückkehr zum Essen ein. Er war, so dachte ich auf dem Heimweg in einem plötzlichen Anflug von Depression, wahrscheinlich unser erster und letzter Gast auf Merlins Schloß. *** Wie es aussah, würden wir nur allzubald unsere Koffer packen und unseren Abschied nehmen. Zurück in das alte Einerlei. Mir war schleierhaft, wie ich das Leben in irgendeiner öden Zweizimmerwohnung mit Tobias als einzigem Zimmergenossen ertragen sollte, während Ben in die wartenden Arme seiner geduldig leidenden Verlobten heimkehrte. Bei ihrer ersten Erwähnung hatte ich nicht ernsthaft an die Existenz dieses Juwels geglaubt. Ich hatte sie für eine kindliche Erfindung gehalten, die Ben sich spontan hatte einfallen lassen, damit ich mir keine falschen Hoffnungen auf ihn machte. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. In letzter Zeit hatte er ziemlich häufig von ihr gesprochen. Susan (oder hieß sie Sally?) war ein athletisches Wunder, die sogar ihr Bankkonto im Gleichgewicht halten konnte. »Sie wird lernen müssen, damit auch noch zu jonglieren, wenn sie euch beide durchbringen muß«,
sagte ich ihm in einem verbitterten Moment nach einem dreitägigen Anfall von Schreibsperre, an der ich schuld war, weil ich immer singend durchs Haus ging. Zugegeben, ich habe eine gräßliche Stimme, aber er brauchte sie nicht mit frei vertontem Keuchhusten zu vergleichen. »Susan hält mich im Gegensatz zu dir für vollkommen«, informierte Ben mich kühl, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und davonstolzierte. Ich dachte schon, er hätte meine abschließende Spitze nicht mitbekommen: »Ja, denn sie hat nicht mit dir zusammengelebt.« In der Tür drehte er sich um. »Ach nein?« Er lächelte, zog aufreizend eine Augenbraue hoch und verschwand. *** Der Spaten lehnte verwaist an der Kräutergartenmauer. Ich fand Dorcas im Waschhaus, wo sie sich angetrocknete Erde von den Händen spülte und unter heiserer Mißachtung der Melodie — viel schlimmer als ich — ‘Vorwärts, Soldaten Christi’ summte. Ich warf ihr ein Handtuch zu. »Du klingst zufrieden.« »Holla! Froh, daß du zurück bist.« Dorcas dreht sich um und packte meinen Arm mit seifiger Hand. »Was Riesiges ist passiert. Hab im Garten gearbeitet. War schön. Hitze ziemlich schlimm, da kriegen selbst Kamelhöcker Brandblasen, hab mich mit Gesang bei der Stange gehalten, gibt nichts Besseres als eine schöne aufmunternde Hymne für …« »Du hast den Schatz gefunden«, sagte ich und vermochte kaum zu atmen. »Bedaure, den Preis habe ich leider nicht gewonnen, aber …« Sie öffnete die freie Hand und da lag ein kleines, ovales Medaillon an einer dünnen Goldkette,
immer noch schmutzverkrustet, obwohl Dorcas es offensichtlich gerade geschrubbt hatte. »Hübsch«, sagte ich ohne allzu große Begeisterung, denn meine Vision von einer hölzernen Truhe, aus der Juwelen im Werte eines königlichen Lösegeldes hervorquollen, zerstob. Das hier war ein blechernes, billiges Stück, etwas, was ich selbst hätte besitzen können, oder Tante Sybil … nein, die trug Broschen groß wie Türgriffe. Ich schaute zu Dorcas auf, plötzlich hüpfte mir das Herz in der Brust wie ein Schotte beim Springtanz. Sie las in meinen Augen. »Genau«, nickte sie, »du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Abigails — da, schau!« Mit einem schmutzigen Fingernagel hebelte sie das Medaillon an der Seite auf wie eine Muschel, die ein kleines Meerestier birgt. Ich erwartete, eine winzige Fotographie darin zu finden oder eine Locke kastanienbraunes Haar, aber das Medaillon war leer. Ich mochte nicht destruktiv erscheinen, aber … »Sieh mal!« Mit dem Finger zeigte sie mir eine feine Gravur: Für Abigail von M. Ein Geschenk von Merlin an seine Mutter? Diese Annahne lag ziemlich nahe, denn alle anderen Theorien und Vermutungen führten in ein Labyrinth. Hatte Abigail das Medaillon absichtlich im Kräutergarten vergraben und wenn ja, warum? Oder hatte sie es bei der Arbeit dort verloren? Ich zog es vor, dies nicht für einen weiteren Hinweis zu halten. Denn wenn es erst jetzt vergraben worden war, welche Hoffnung blieb uns dann, jemals auf den Schatz zu stoßen? Wäre Dorcas nicht gewesen, der Kräutergarten wäre unberührt geblieben. Ich meinerseits hatte alle Hände voll mit dem Haus zu tun und überdies große Zweifel, ob Ben eine Petunie von einem Löwenzahn unterscheiden konnte.
Bei der Erwähnung des verhinderten Autors erschien er auf der Suche nach uns und verkündete, das Mittagessen werde al fresco unter der großen Buche im Garten serviert. Er warf einen kurzen Blick auf das Medaillon, kniff die Augen zusammen und sagte, da er als Teenager in der Pfandleihe seines Onkels Abe gearbeitet habe, verstünde er etwas von Schmuck. Dies kleine Teil, obwohl vielleicht keine Dreingabe beim Kauf von drei Stück Seife, sei ganze zwei Pfund wert. Ich dachte schon, er würde sagen, steck’s dir an den Hut, aber er legte es in meine Hand zurück mit den Worten »Rümpfe nicht die Nase. Das wäre doch ein nettes kleines Souvenir an deine verlängerten Ferien am Meer, vorausgesetzt, die Familie verkauft es dir.« Ben hatte den Vormittag damit zugebracht, den neuen Herd in der endlich fertigen Küche auszuprobieren und ein köstliches Gericht zubereitet: in Wein gesottener Hummer, zu eisiger Vollkommenheit gekühlt, mit selbstgemachter Mayonnaise angerichtet und mit Kapern verziert. Wir waren nur zu dritt. Jonas hatte sich geweigert, zu uns zu stoßen und Ben informiert, daß er Mahlzeiten im Freien für barbarische Narreteien hielt. Wir breiteten ein Tischtuch auf dem Rasen unter dem gesprenkelten Schatten der Buche aus. »Muß dir gratulieren, Ben«, sagte Dorcas, während Ben Spinatsalat auf meinen Teller tat, »die kleinen braunen Brötchen sind zum Küssen — super! Entschuldige, aber ich muß mir noch eins gönnen.« Ben reichte ihr den Teller. Schmeichelei bekam ihm gut; er schaute fröhlicher drein als in den ganzen letzten Tagen. Mit einem Anflug von Nonchalance ließ er uns wissen, daß ein Löffel Sirup am Hefeteig das Geheimnis seiner Brötchen ausmache. »Und ich finde«, fügte er hinzu, »daß dieser ziemlich unterschätzte Salat mit seiner Sauce aus Zitrone und süßem Wermut den
perfekten Hintergrund für den Hummer abgibt — fein, aber nicht fad.« »Mach halblang!« Ich ließ mich ins warme Gras sinken und die Sonne bis in meine Knochen eindringen. »Die einzigen Leute, die so reden, sind Spinner, die gerade angefangen haben, im Keller eigenen Wein zu produzieren.« Ich hob mein Glas Apfelwein und orgelte, während ich meinen Nasenrücken entlang schaute: »Robust, ohne derb zu sein, duftig, aber nicht parfümiert. Feinfühlig, aber nicht ohne Charakter …« »Danke, das genügt.« Ben grinste widerwillig und legte sich ins Gras zurück; die Hände unter dem Kopf blinzelte er in die Sonne. »Ich gebe zu, auf dem Gebiet der Kochkunst kann ich ziemlich fanatisch werden.« Er drehte den Kopf und schaute in meine Richtung. »Genau wie du und deine Abigail-Manie.« »Bevor du über das Thema noch weitere Witze reißt«, antwortete ich nachdenklich, »zappelst du nicht selber im Netz dieser Dame? Ist der Hummer nicht eins von Abigails Rezepten?« Ben benutzte die Art Wörter, gegen die Onkel Merlin Einwände hatte, rollte auf die andere Seite und entschuldigte sich bei Dorcas. »Mach dir um mich keine Sorgen, habe in den Schulwaschräumen weit Schlimmeres gehört.« Dorcas klemmte sich Tobias, der gierig den Hummer beäugte, fest unter einen Arm und butterte sich noch ein Brötchen. »Schade, solche Rezepte werden nicht mehr veröffentlicht, mit viel selbstgezogenem Gemüse frisch aus dem Garten, Gewürzkräutern, nichts aus der Dose oder aus der Tüte. Ist natürlich viel zeitraubender, aber was für ein Ergebnis! Jede Menge mehr Nährwert und mehr Geschmack.« Ben setzte sich langsam auf. Das durch die Blätter gefilterte Sonnenlicht gab ihm ein grün gesprenkeltes
Aussehen und in dem gleißenden Licht wirkten seine Augen glasig. Aus irgendeinem Grunde mußte ich an Lazarus denken, der von den Toten aufersteht. »Das Kochbuch der Dame um die Jahrhundertwende«, murmelte er. Mit gedämpfter Stimme wiederholte er den Satz mehrere Male, dann sprang er plötzlich auf, wobei er den Hummer umstieß und Tobias dazu brachte, mit voll ausgefahrenen Krallen nach Dorcas zu schlagen und mit gesträubtem Schwanz davonzustürzen. Ben kümmerte sich weder um die Kratzspuren auf Dorcas’ Arm noch um Tobias’ panische Flucht; mit geschlossenen Augen und an die Schläfen gepreßten Händen stand er da wie ein Mann, der eine weitere Eingebung von oben erwartet. Anscheinend bekam er sie. Er brach in einen indianischen Kriegstanz aus und brüllte: »Zur Hölle mit Schwester Maria Gracia!« Bevor wir ihn fragen konnten, was um Himmels willen das zu bedeuten hatte, war er im Haus verschwunden. »Meine Herrn!« Dorcas sah mich an. »War ich schuld an diesem Anfall? Habe hoffentlich nichts gesagt, was den armen Kerl um den Verstand gebracht hat!« »Ganz im Gegenteil; wenn ich mich nicht irre, hast du Ben neues Leben eingehaucht. Der Roman ist tot. Unser literarisches Genie will ein Kochbuch schreiben, und warum auch nicht? Onkel Merlins Testament hat nicht festgelegt, daß es sich um ein Werk der Belletristik handeln muß. Ich habe mich schon gewundert, daß Ben nicht früher darauf gekommen ist, seine Spezialkenntnisse anzuwenden.« Wie sich herausstellte, hatte ich recht. Als Dorcas und ich das Geschirr ins Haus zurückbrachten, hörten wir wundervolle Musik, nicht das holprige Stottern der letzten Tage, sondern eifriges Geklapper von Schreibmaschinentasten. Der Startschuß war gefallen. Ich hoffte, jetzt, wo er wieder ein Mann mit einem
Lebenszweck war, würde Ben einen längeren Blick auf mich werfen und merken, daß ein neues Galagericht auf der Weltspeisekarte stand — ich. Aber er behandelte mich mit deutlicher Kühle. Er erzählte mir zwar, als ich mich eines Tages bewundernd über seine Schreibmaschine beugte, daß er Anekdoten zwischen die Rezepte einstreute und einem Freund nach London geschrieben hatte mit der Bitte um ein paar Bleistiftzeichnungen, die in die Zeit paßten. Aber ansonsten sagte seine Haltung überwiegend »Geh mir bloß nicht auf den Wecker!« Eines, was ich wirklich bewunderte, war sein Pflichtbewußtsein: durchhalten bis zum bitteren Ende. Er hatte sein Wort gegeben, daß er sechs Monate lang auf Merlins Schloß bleiben würde, und er hielt es. Und das, obwohl ich ihn offenbar mit etwas Schrecklichem gegen mich aufgebracht hatte. Eines Tages verriet mir eine geniale Eingebung, was das gewesen sein mochte. Ich hatte mich nie bei ihm für den silbernen Rahmen bedankt. Ich mißachtete die ‘Eintritt verboten’ Signale, die durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers drangen und ging hinein, um mich zu entschuldigen. »Bei all dem Ärger über die Pralinen und dein Buch«, sagte ich, »ist anderes völlig in Vergessenheit geraten, dabei habe ich mich sehr über das Geschenk gefreut. Abigails Foto sieht darin richtig zu Hause aus. Je mehr ich über diese Frau erfahre, desto mehr weiß ich, wie einzigartig sie war. Sie war nicht hübsch oder —« »Mein Gott«, schnauzte Ben und hackte mit dem Daumen auf die Rücktaste ein, »wie kann man bloß so auf Äußerlichkeiten herumreiten! Langsam kommen mir ernsthafte Zweifel an deiner verflixten Diät — sie verwandelt dich in eine Narzißtin mit Spatzenhirn, die in jeden Spiegel starrt, an dem sie vorbeikommt. Was ist aus deinen Wertmaßstäben geworden?«
»Und das aus deinem Munde?« Irgendwie brachte ich ein anerkennendes Gekicher zustande, als ich finster auf ihn hinunterstarrte. »Körperliche Eigenschaften beeindrucken dich nicht? Heuchler! Sowie du Vanessa gesehen hast, hast du nicht mehr aufgehört, mit den Lippen zu schmatzen. Als sie und ich in einem Zimmer waren, hattest du für mich überhaupt keine Augen mehr. Und erzähle mir bloß nicht, es waren ihre Geistesgaben, die dich in Bann hielten!« »Ich dachte, wir reden von Abigail.« Die Rücktaste klickte heftig, Ben schaute nicht auf. »Irgendwie hatte ich den Eindruck, wir waren uns einig, daß sie das vollkommene Beispiel dafür war, daß eine Frau nicht hübsch, wie du es nennst, sein muß, um schön zu sein. Als ich zum ersten mal ihr Bildnis sah, sagte ich, sie erinnert mich an irgendwen, weißt du noch? Damals war ich mir nicht sicher, an wen. Anfangs dachte ich, an Dorcas — wegen der Ähnlichkeit in den Farben. Aber eines Abends, als wir beide im Salon saßen und uns unterhielten, da wurde mir klar, an wen mich Abigail erinnert — an dich. Nur keine Panik — nicht im Aussehen, auf andere Art.« »An mich?« Ich mußte mich auf den nächsten Stuhl setzen, obwohl der schon mit einem Stapel Papier besetzt war. Gesagt zu bekommen, daß ich Abigail ähnelte, war, als bekäme ich eine Blume, besonders, da die Worte von Ben kamen. Stark und liebevoll, warm und lebendig zu sein so wie sie … ich konnte mir nichts vorstellen, was … »Wir sahen es bei Gaslicht, das ziemlich düster war, erinnerst du dich?« Ben hieb wieder in die Tasten. »Und wer weiß, vielleicht haben wir es mit viel zu sentimentalen Augen betrachtet.« In diesem Moment haßte ich ihn. Ich haßte sein zerwühltes schwarzes Haar und seinen verwaschenen
Pullover und seine gepflegten flinken Finger. Hoffentlich verklemmten sie sich zwischen den Tasten und mußten amputiert werden. Was hatte ich ihm getan, daß er plötzlich so feindselig war — mich böse anfauchte, wie es Tobias tat, wenn ich ihm aus Versehen das falsche Futter gab? »Warum trollst du dich nicht wie ein braves Mädchen«, sagte Ben. »Geh und besuch den Pfarrer. Ich bin sicher, der alte Rolly wird sich freuen, dich zu sehen. Ach, das habe ich vergessen. Er hat gestern angerufen, um noch einmal seine Abschiedsgrüße auszusprechen. Ich nehme an, er hatte sie dir vorher schon persönlich dargebracht. Tut mir leid, daß ich es dir nicht gesagt habe.« *** In der nächsten Woche wurde das Eßzimmer endlich seiner eigentlichen Bestimmung übergeben und Ben machte den Wintergarten zu seinem Arbeitszimmer. Obwohl er ziemlich vollgestopft war mit ausrangierten Möbelstücken, leeren Farbeimern und Tapetenresten, installierte Ben seine Schreibmaschine auf einem Tischchen am Fenster und bat mit eisiger Höflichkeit, nicht gestört zu werden. Die verschlossene Tür war genauso wirkungsvoll wie eine Inschrift an der Wand. Eines Abends beschlossen Dorcas und ich, zum Abendbrot in eines der Hotels zu fahren, teils, weil bei Bens Überlastung ich die Zubereitung des Abendessens übernommen hatte (ich schlug mich zwar besser als Dorcas, aber Ben hatte uns einfach verwöhnt), doch hauptsächlich, weil ich einen Vorwand dafür brauchte, ein tolles blaues Kleid anzuziehen, das ich mir gerade gekauft hatte. Die meisten meiner Kleider hingen seit einigen Wochen an mir herunter wie Schwangerschaftskittel, doch Aberglaube hatte mich bis
jetzt daran gehindert, mir neue zu kaufen. Ich war mir sicher, sowie ich meine alten Sachen in Kisten packte und der Heilsarmee schickte, würde ich über Nacht wieder fünfzehn Pfund draufhaben. Aber an dem Abend beschloß ich, alle Schiffe hinter mir zu verbrennen und die Brücken dazu. War es das gedämpfte Licht in meinem Schlafzimmer (eine der Birnen war durchgebrannt) oder das Saphirblau des Kleides, das meine Augen zwei Nummern größer erscheinen ließ und den Rest von mir zwei Nummern kleiner? Oder war es, weil ich meine Haare zu einem strengen Knoten auf meinem Kopf zusammengebunden hatte, was Backenknochen hervortreten ließ, von denen ich gar nicht wußte, daß ich sie besaß? Um ehrlich zu sein, als ich in den Spiegel sah, – war ich einigermaßen von mir eingenommen. »Weißt du was, Puppe«, ich zog eine Augenbraue hoch, »du bist gar nicht so übel.« Auf einer Flutwelle neugewonnenen Selbstvertrauens rauschte ich die Treppe hinunter, durch die Halle, klopfte an die Tür des Wintergartens, wartete Bens widerwillige Erlaubnis, einzutreten, kaum ab, drückte die Klinke und ging hinein. Er saß mit dem Rücken zu mir und murmelte undeutlich, ohne den Kopf zu drehen: »Ja?« Ich ging langsam unmittelbar hinter ihn und verwünschte meine Knie, die wieder ihr altes nervöses Zittern anfingen. Aus Angst, meine Stimme würde streiken, holte ich tief Luft. »Wenn du nicht aus einem Grund von nationaler Wichtigkeit kommst, wäre es mir lieber, du schaust später vorbei.« Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare, nahm den Bleistift aus dem Mund und kritzelte etwas auf ein Stück Schmierpapier. »Ich nehme es nicht persönlich. Da du hinten in deinem Kopf keine Augen hast, kannst du nicht wissen,
ob ich es bin oder Dorcas oder …« »Sei nicht albern, Ellie, dafür brauche ich lediglich Ohren an der Seite meines Kopfes. Diese Schritte würde ich überall raushören. Du klingst immer wie ein Feldwebel, der zur Truppeninspektion auf dem Exerzierplatz auf- und abmarschiert.« So viel zu meinem anmutigen Hereinschweben. Besser, ich brachte es hinter mich. Jetzt tat ein kleiner Scherz not, um die Situation zu überspielen. »Das liegt daran, daß ich meine Glasschühchen verloren habe und mir Stiefel von einer meiner häßlichen Schwestern borgen mußte. Hier ist deine Lieblingsmärchenfigur, Cinderella. Draußen mimt Dorcas die Gute Fee. Aber um auf den Ball gehen zu können, brauche ich noch deine charmante Begleitung, wie wär’s, Kumpel?« Ben drehte sich auf seinem Stuhl um. Seine Augen strichen langsam über mich hinweg, über jeden Zentimeter meines blauen Seidenkleides, die dünnen Nylonstrümpfe ohne jede Falte und die hochhackigen dunkelblauen Sandalen. Schließlich kehrte sein Blick wieder zu meinem Gesicht zurück, lange schaute er mich forschend an, als betrachte er eine Fremde, bevor er kalt und mit absoluter Endgültigkeit sagte: »Tut mir leid, Ellie, diese Art Job mache ich nicht mehr.«
Dreizehn All meine törichten Hoffnungen! Das Märchen, Ben würde hilflos den Reizen einer runderneuerten, stromlinienförmigen Ausgabe von Ellie Simons erliegen, war zu Ende. Hatte ich das selbst verschuldet? Hatte mich der Verlust meiner Pfunde arrogant, eingebildet, gedankenlos und selbstgefällig gemacht? Ein
schrecklicher Gedanke! Und ich erfuhr es natürlich als letzte. Das ist nicht die Art Neuigkeit, die einem die beste Freundin so rasch wie möglich zuträgt. Ich bat Dorcas um eine ehrliche Beurteilung, aber ihre Meinung war weniger als nutzlos. Sie versicherte mir, ich sei netter denn je und Bens Benehmen wahrscheinlich seiner intensiven Konzentration zuzuschreiben. Völlig von seinem Buch in Anspruch genommen. Ich hätte das vielleicht noch geschluckt, wenn er nicht zu Dorcas, Jonas und sogar Tante Sybil bei ihren seltenen Besuchen im Haus so reizend gewesen wäre. »Eine Verbannte im eigenen Haus«, vertraute ich Tobias traurig an. Es zeigt, daß es schlimm um die Welt steht, wenn das einzige annehmbare männliche Wesen im Bekanntenkreis ein Kater ist, und selbst der ließ mich in diesen Tagen im Stich und sprang bereitwilliger auf Jonas’ Schoß als auf meinen. Die meisten Arbeiten im Erdgeschoß waren abgeschlossen. Die Handwerker waren abgezogen und ich mußte nur noch auf die Lieferung der Möbel, Vorhänge und Teppiche warten, um die Räume vollständig einzurichten. Der Salon sah genau so aus, wie ich gehofft hatte. Wandarme gossen bernsteinfarbenes Licht über die cremige Seidentapete, über die warmen Töne des frisch gereinigten Teppichs und das dunkle Eichenparkett. Auf dem Kaminsims standen die schlanken Messingleuchter und Dorcas’ gelbe chinesische Vase. Das einzig Bedauerliche war, daß Abigails Bildnis nicht am Ehrenplatz darüber hängen konnte. Ich erwähnte das eines Tages beim Mittagessen und fügte hinzu, abgesehen von der dürftigen Ausführung habe das Bild eine besondere Bedeutung für das Haus und es sei eine Schande, daß es nie vollendet worden sei. Dorcas schlug vor, es in eine Galerie zu bringen oder zu einem kleinen Kunsthändler und da
vervollständigen zu lassen. Jonas, der sorgfältig die Soße auf seinem Teller mit einer Brotrinde aufgetunkt hatte, schaute hoch und verkündete, daß seine Schullehrer ihn für sehr geschickt im Umgang mit dem Malkasten gehalten hatten. Zwar habe er seit Jahren keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt, aber damit ginge es wohl wie mit dem Schwimmen oder dem Radfahren — man brauchte sich nur abzustoßen und alles kam wieder. Jonas hatte uns in eine Klemme gebracht. Abzulehnen war ein Schlag ins Gesicht, aber was, wenn er patzte? »Klar, Jonas«, sagte Ben. »Machen Sie nur. Sie können sich nicht dümmer anstellen als der ursprüngliche Künstler.« Jonas beobachtete mich mit einem Funkeln in seinen bösen alten Augen und lauerte nur darauf, daß ich nein sagte. Ben hatte mich nicht mal nach meiner Meinung gefragt. Männer! Wie ich sie haßte und mich auch, weil ich mich nicht gegen ihre Tyrannei auflehnte. Samsons Kräfte waren mit dem Verlust seiner Haare geschwunden, meine mit den verlorenen Zentimetern. Auf mehr als eine Weise war ich nicht mehr halb die Frau von früher. In einem Punkt jedoch blieb ich fest. Ich weigerte mich, in das alte Muster zu fallen und mich mit Essen zu trösten. Was ich brauchte, war ein neues Projekt im Haus, aber eines, das nicht zu viel Zeit erforderte. Die Wochen waren zu Monaten geworden und wir schrieben jetzt Anfang September. Am 5. Oktober waren die sechs Monate um. Der Pfarrer war immer noch fort, aber ich regte mich nicht darüber auf. Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, daß er etwas zu entdecken vermochte, was uns zu Abigails Todesursache führte und dadurch zum Schatz. Ich nahm die Arbeit am großen Schlafzimmer auf, das seit Merlins Tod unbewohnt war. Das Abkratzen der alten Tapete war ein langwieriges Geschäft, aber ich lehnte
das Hilfsangebot von Dorcas ab, denn ich wußte, wie gern sie möglichst viele Stunden im Kräutergarten zubrachte. Ich stellte Jonas in Dienst, und zu meinem Erstaunen fügte er sich anstandslos in diesen häuslichen Auftrag. Kaum hatte ich ihn nach unten geschickt, um einen Zollstock zu suchen oder flüssige Seife schon war er wieder da. Meine Nerven waren in diesen Tagen nicht in bester Verfassung, und so fiel ich einmal fast von der Leiter, als er plötzlich hinter mir auftauchte wie ein Flaschenteufelchen. »Die Arbeit bekommt dem Mann«, war Dorcas’ Erklärung. »Sein Gang ist viel elastischer als bei meiner Ankunft. Auch viel gesündere Hautfarbe, nicht mehr so wächsern. Madame Tussaud würde ihn jetzt nicht mehr nehmen, haha!« »Er ist besser beieinander«, stimmte ich zu. »Für einen Mann in seinem Alter bewegt er sich recht flink und im Garten vollbringt er Wunder. Onkel Merlin hat offenbar nicht seine besten Seiten zum Vorschein gebracht. Es ist kaum zu glauben, was für Fortschritte die Anlagen in diesem Jahr gemacht haben.« »Auf Merlins Schloß hat sich so manches geändert, Ellie. Ich bin glücklicher als seit zig Jahren und deine Tante Sybil kommt langsam aus dem Schmollwinkel. Sie ist immer ein bißchen herablassend zu mir, aber ich kümmere mich nicht drum. Hab sie gefragt, ob sie die alten Zeitungen aus ihrem früheren Zimmer für ihre Papiermaché-Köpfe haben will. Wenn nicht, kommen sie auf Jonas’ Krautfeuer. Hab beim Durchsehen das kalte Grausen gekriegt. Nicht eine vernünftige Zeitung, nur Skandalblätter! Eine Stunde auf dem Tennisplatz und sie hätte keine Puste mehr gehabt für solchen Unsinn. Aber nie zu spät. Bin froh, daß sie mit Schwimmen angefangen hat. Leider sieht sie jetzt keinen Grund mehr,
Wasser auf ihr wöchentliches Bad zu verschwenden. Na ja, Hauptsache, sie ist guter Dinge! Wollte wissen, wie du mit den Arbeiten des Herkules vorankommst.« »Du hast ihr doch nichts von dem Kochbuch gesagt?« »Kein Sterbenswörtchen. Das alte Mädchen könnte plaudern und wir brauchen keinen weiteren Sabotageversuch. Sehe zwar nicht, daß sie viel Chancen haben, wo Ben es nachts immer unter die Matratze stopft und tagsüber ständig bei sich trägt, aber besser vorgesehen als nachbereut. Bewundere dich, wie du dich für das Buch stark machst, selbst wenn die letzte Bedingung des Testaments nie erfüllt wird.« Sie ging zur Tür hinaus und murmelte dabei »Liebe ist herzensgut, Liebe ist selbstlos, Liebe ist …« Kapierte die Frau nicht, daß ich für Bentley Haskell — außer einem gewissen Respekt vor seiner Kunstfertigkeit am Kochherd — keinerlei Gefühle hegte? In einem Anfall ohnmächtiger Wut auf einer Leiter herumzuspringen kann der Gesundheit recht abträglich sein, besonders, wenn mitten in einem Hopser das Telefon klingelt. Gottseidank konnte ich mich kurz vor dem freien Fall an der Gardinenstange festhalten, aber mein Atem war immer noch recht flatterig, als ich in der Halle den Hörer abnahm. Seit meinem obszönem Anruf hatte ich das nie mehr ohne einen Anflug von Furcht getan, aber diesmal hatte ich nichts zu befürchten. Es war Rowland Foxworth. Er erzählte mir mit seiner angenehmen Stimme, die mir das Ohr wärmte, daß er seine Reise nach Israel genossen, aber seine Freunde vermißt habe. Und er hatte etwas von größerem Interesse für mich: mehrere Kisten mit alten Predigten und anderen Papieren, die von dem Pfarrer zu Abigails Zeit stammten. Er würde sie durchsehen und sich dann mit mir in Verbindung setzen. »Wie wär’s, wenn Sie nächsten Donnerstag zum Abendessen kommen?« schlug ich vor.
Er sagte mir, er sei entzückt und halb acht wäre ausgezeichnet. Manche Männer sind so leicht zufriedenzustellen. Der gesellschaftliche Erfolg stieg mir zu Kopf. Wenige Minuten später erschien Tante Sybil in der Tür und fragte, ob sie sich den Kaufmann von Venedig aus dem Arbeitszimmer leihen könnte. Ich erlag der Versuchung und prahlte mit meiner Verabredung. Das war ein Fehler. Bevor ich mir die Zunge abbeißen konnte, hatte ich sie auch dazu gebeten; aber was blieb mir anders übrig, als sie mir mit umflortem Blick gestand, wie gern sie Mr. Foxworth einmal einladen würde, aber als alleinstehende Frau einen Mann zu sich bitten, das mußte ja Klatsch geben? Ach Pippifax! Ich mußte eben warten, bis Tante Sybil sich zurückgezogen hatte, bevor ich mit Rowland über Abigail sprach. Außerdem gab es dem alten Schatz Gelegenheit, ihr Schwarzseidenes anzulegen. Bevor sie ging, fragte mich Tante Sybil, ob ich irgendwelche Probleme mit der Familie gehabt hätte. Hegte sie einen Verdacht oder machte sie nur höfliche Konversation? Wahrscheinlich Letzteres, denn als ich nachhakte, was sie damit meinte, drückte sie sich und sagte: »Na du weißt schon — eben Schwierigkeiten, vielen Dank für das Buch. Wie ich sehe, liest du keinen Shakespeare, nicht ein Fleck oder Knick. Du mit deinem Fernsehen!« Wir hatten gar keinen Fernseher. Als ich beim Mittagessen Ben und Dorcas von dem bevorstehenden Ereignis in Kenntnis setzte, zog er ein sarkastisches Vergnügen daraus, mir meine kleine Dinnerparty madig zu machen. »Wenn das eine FrackVeranstaltung ist«, spottete er, »dann muß ich deine freundliche Einladung zu meinem Bedauern ablehnen. Meine Garderobe erstreckt sich nicht auf förmliche Anlässe. Aber sage deinen Abend mit dem Pfarrer nur
nicht meinetwegen ab. Ich kann mir immer ein Tablett auf mein Zimmer hochnehmen, es sei denn, du legst Wert darauf, daß ich mich als Butler verkleide. Da ich auch mal als Kellner gejobbt habe, bin ich ganz geschickt darin, ein silbernes Tablett auf den Fingerspitzen zu balancieren.« »Quatsch!« Dorcas erhob die Hand, um zur Ordnung zu rufen. »Als Haushälterin werde ich servieren. Hab zwar keins von diesen frivolen Kostümchen für Kammerkätzchen, besitze aber ein schwarzes Kleid und kann immer eine weiße Schürze auf der alten Tretmaschine im Nähzimmer zusammenschustern .« Ablehnendes Gemurmel begegnete ihrem Angebot. Ben hatte zu Recht das Gefühl, in ein Wespennest gestochen und mit seinem Gerede von Butlern Dorcas daran erinnert zu haben, daß sie offiziell eine Haushaltsangestellte war. Er habe nur Witze gemacht. Er sei durchaus willens, sich mit uns zum Abendessen zu setzen, aber nur unter einer Bedingung: daß Dorcas dasselbe versprach und ihm so ersparte, einen unendlichen Abend lang den kirchlichen Würdenträger ohne die moralische Unterstützung eines Freundes zu bewirten. Herzlichen Dank! Bevor ich für Rowland eine Lanze brechen konnte, legte Jonas seine Gabel mit einem Geklapper hin, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Er starrte uns unter seinen struppigen Augenbrauen hervor an und verkündete, er sei derjenige, dem es zukäme, das Abendessen zu servieren. »Jonas«, wandte ich ein, »diese ganze Diskussion ist lächerlich. Niemand muß servieren. Wir sind hier nicht im Buckingham-Palast. Zugegebenermaßen ist das Eßzimmer recht ungünstig gelegen, aber ich sehe keinen Grund, warum ich nicht …« Der Gärtner brachte mich zum Schweigen. »Madam«,
brüllte er, »Ihr Platz ist bei den Gästen. Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten und lassen Sie mir meine. Ist keine Schande für einen Mann, ein Tablett mit Suppentellern zu tragen. Hatte immer schon mal Lust, mich daran zu versuchen. Mein alter Opa sagte immer: ‘Veränderung tut gut’ und in meinem Alter klopft die Abwechslung nicht mehr so häufig an.« Nachdem er sein Sprüchlein gesagt hatte, versenkte er die Gabel wieder ins Geschnetzelte auf seinem Teller als gelte es, ein Radieschenbeet umzugraben und hielt nur inne, um die Soße aus seinen Schnurrbartspitzen zu saugen. Ben grinste sardonisch. »Hört sich an, als wird das eine todschicke Gala. Vielleicht ziehst du es vor, das Essen vom Partyservice anliefern zu lassen, Ellie, oder ist dir mein Boeuf Wellington mit einer Spargelmousse als Entrée fein genug für seine Ehren, den Pfarrer?« Stoisch enthielt ich mich einer Antwort, aber Dorcas fiel ein mit der Information, daß sie eine Schwäche für Käsesoufflés habe und ob Ben meinte … Er meinte nicht und sagte, wenn der Pfarrer sich bei seinen Liebesgängen verspäte, sei das Soufflé inzwischen ein Käseomelette und ein ledernes dazu. »Soufflés« bemerkte ich spitz, »und die Flut warten auf niemanden. Sogar du, Ben, mit deinem Köpfchen kannst das nicht ändern.« Wie es schien, konnten Ben und ich keine fünf Minuten in einem Raum sein, ohne daß es Reibereien gab. Aber ich wollte mir weder von ihm noch sonst einem Dorn den Spaß an meiner kleinen Abendgesellschaft verderben lassen. Als der Tag heran war, hatte ich alles so gut im Griff, daß Dorcas und ich am frühen Nachmittag in die Stadt zum Friseur fuhren. Über die daraus resultierende toupierte Hochfrisur meiner Freundin war ich mir nicht ganz einig, bisher kannte ich sie nur mit stramm hinter die Ohren gekämmten roten
Locken. Auf jeden Fall wirkte sie größer. Bei mir zog die junge Frau alles Haar auf eine Seite und flocht es zu einem einzigen schimmernden Zopf. »Umwerfend«, sagte sie, »in seiner Schlichtheit.« Sie hielt mir einen Spiegel hin, damit ich ihr Werk bewundern konnte und fragte: »Na?« »Phantastisch.« Aber ich war unsicher. Wer war die Fremde hinter dem Glas? Was hatte sie gemein mit meinem eigentlichen Ich — dem dicken Mädchen der unförmigen Kleider und praktischen Treter? Ben sah mich erst, als er in der Halle an mir vorbei nach oben ging, um sich umzuziehen. Das einzige Anzeichen, daß er die Veränderung in meiner Erscheinung überhaupt wahrnahm, war eine barsche Ermahnung, mein Haar nicht in die Suppe hängen zu lassen, auf deren Zubereitung er Stunden verwandt hatte. Mein Wohlgefallen an meinem Äußeren verebbte. Mein Fingerhutkleid, das meine neue Figur wie ein Blütenblatt umschmeichelte, kam mir jetzt schrill vor. Aber ich war nach wie vor stolz auf das Haus. Als die Standuhr sieben schlug, ging ich hinunter in die Halle. Das elektrische Licht war heute abend mit einem Dimmer eingedunkelt. Kerzenlicht flackerte golden über den warmen, dunklen Glanz der Wandtäfelung und das elegant geschwungene Treppengeländer. Eine dicke rote türkische Brücke wärmte den Steinfußboden. Die beiden Ritterrüstungen blinkten silberhell und legten Zeugnis ab von Jonas’ Fertigkeit mit dem Poliertuch. Der geschnitzte Intarsientisch, der bis vor kurzem als Ablage für Mäntel und Gummistiefel gedient hatte, war leer bis auf das Telefon und eine blaue Steingutvase mit Astern und Herbstlaub. Ich öffnete die Tür zum Eßzimmer und bewunderte Abigails Kaminaufsatz, das tiefe Erkerfenster, von dessen Sims meine Geburtstagsgeranien leuchteten, und
den antiken schwarzen Eichentisch, dessen blank polierte Oberfläche das weiße Service, die Silberbestecke und Kristallgläser spiegelte. Mein Rundgang führte mich als nächstes in die Küche, wo Bens Kupfertöpfe vor sich hinschimmerten. Blumentöpfe mit Kräutern hingen von der Decke und bildeten einen Vorhang vor dem kleinen Fenster. In einem vor der Zugluft geschützten Alkoven stand ein Weidenkorb mit einem molligen Kissen, auf dem Tobias sich in kalten Nächten zusammenrollen konnte — das heißt, wenn er überhaupt zu Hause war. Er hatte sich angewöhnt, Jonas abends recht häufig zu besuchen. Der Raum war genau so, wie ich ihn mir in jener ersten Nach auf meinem Pirschgang nach etwas Eßbarem ausgemalt hatte; der dunkelblaue Herd, die unglasierten Fußbodenfliesen, die neutrale Cremefarbe der Tapete … ein Raum, der Wärme und Genußfreude ausstrahlte. Die Uhr in der Halle schlug wieder — Viertel nach sieben. Langsam begab ich mich zurück. Ich genoß den Gedanken, in Abigails Salon zu gehen, wo das Kaminfeuer brannte und mit seinem Schein die Seidentapeten an den Wänden in tanzendes rosiges Licht tauchte. Einen Augenblick glaubte ich, sie zu sehen, aber es war nur Dorcas mit ihrer toupierten Frisur, die Tobias auf dem Schoß hielt. Ein Klopfen an der Tür schreckte mich auf und unterbrach die Stille. Jonas trat ein. Sein Anblick war beeindruckend: sein struppiges graues Haar war glattgekämmt und er hatte sich in einen glänzenden schwarzen Anzug gezwängt. Zwar taten die vermoderten Gartenstiefel, die unter seinen Hosenaufschlägen hervorlugten, der Pracht einigen Abbruch, aber sein sichtliches Bemühen rührte mich enorm. Er trug etwas in beiden Händen, und bevor ich etwas sagen konnte, überreichte er mir Abigails Bildnis und knipste das Licht an.
Ich hatte fast Angst, hinzuschauen, denn ich war nie sehr dafür gewesen, den alten Mann an dem Bild herumpfuschen zu lassen. Es hatte sich unmerklich verändert; die Farben waren weicher geworden und es hatte die gleiche, überwirkliche Leuchtkraft wie das Zimmer im Schein des Kaminfeuers. Jonas hatte nicht nur die fehlenden Details ergänzt, sondern die ganze Leinwand mit einer leicht opaken Glasur überzogen. Das hatte eine faszinierende Wirkung: man sah Abigail wie durch Meeresnebel oder durch eine Milchglasscheibe — immer außer Reichweite. »Jonas«, sagte ich feierlich, »Sie sind ein Genie.« »Nicht der Rede wert«, grummelte der alte Mann. »Jedenfalls nichts, weswegen sich Mr. Botticelli im Grabe umdrehen muß.« *** Ich stand gerade auf einem Stuhl und schlug einen Bilderhaken über dem Kamin ein, als die Tür wiederum aufging und Rowland Foxworth von Ben hereingeleitet wurde. Dorcas und ich waren so sehr in einen Streit vertieft, ob ich nun genau die Mitte erwischt hatte, daß uns das Türklingeln entgangen war. »Bleiben Sie oben«, wies mich der Pfarrer an und lächelte zu mir herauf. Dabei klopfte er seine Taschen ab, wie um sicherzugehen, daß Tabak und Pfeife an ihrem Platz waren. »Sie sehen ganz entzückend aus.« »Erhalte ich die Erlaubnis, herabzusteigen?« fragte ich und schaute ihm lächelnd in die Augen. »Ich fürchte, ich bin nicht die Art Frau, die längere Zeit auf einem Podest stehen kann, ohne herunterzupurzeln.« »Ich würde mich glücklich schätzen, Sie auffangen zu dürfen«, erwiderte der Pfarrer galant, reichte mir die Hände und half mir herunter. Für den Bruchteil einer Sekunde hielten unsere Augen sich fest. Dann ließ er
mich los und wandte sich Dorcas zu, um ihr eine Artigkeit zu sagen. Die wurde feuerrot und machte einen vergeblichen Versuch, sich mit den Fingern durch ihre appretierte Frisur zu fahren. »Verrate mir, wie er das macht«, zischte mir Ben zu, während er vorgab, mir beim Weglegen des Hammers zu helfen. Er flatterte mit den Lidern und entblößte die Zähne zu der widerlichen Parodie eines einschmeichelnden Lächelns. »Wenn Dorcas für den Charme des geistlichen Herrn empfänglich ist, dann ist keine Frau vor ihm sicher.« Meine Geduld war am Ende, heftig trat ich meinem Peiniger vors Schienbein. »Ah, die Türklingel«, rief ich aus und übertönte damit seinen Schmerzensschrei. »Das muß Tante Sybil sein.« Das Essen war köstlich. Die Spargelmousse zerging auf der Zunge, die Suppe dampfte und duftete nach frischen Kräutern und Gartengemüsen. Das Boeuf Wellington war genau richtig — das Fleisch rosa und saftig, die goldbraune Kruste zerblätterte unter der Gabel. Jonas bewegte sich mit lobenswerter Würde um den Tisch und kam nur einmal ins Stolpern, woraufhin er die zwei oder drei Blumenkohlröschen, die auf Tante Sybils brettartigem Busen gelandet waren, ungerührt wieder einsammelte. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte er majestätisch seinen Weg fort. Aber alle anderen zeigten sich von ihrer schlechtesten Seite. Ben benahm sich, als habe er Arsen geschluckt. Dorcas, von der ich immer geglaubt hatte, sie lasse sich von Männern nicht aus der Fassung bringen, wurde jedesmal, wenn der Pfarrer das Wort an sie richtete, lachsrosa und verkrampft. Tante Sybil ließ sich auf andere Art von dem freundlichen Herrn mindestens ebenso einschüchtern. Während Dorcas keinen Ton herausbrachte, plapperte sie drauflos und sonderte eine peinliche Platitüde nach der anderen ab.
»Was immer Sie sagen, lieber Herr Pfarrer«, antwortete sie auf eine seiner Bemerkungen, die mir entgangen war. »Es liegt mir fern, einem Manne widersprechen zu wollen. Wir Frauen müssen uns mit der Wahrheit abfinden, daß wir es an Geisteskräften nicht aufnehmen können mit Ihrem …« — Tante Sybil senkte die Augen und hüstelte diskret, »Geschlecht.« Prompt fand Dorcas ihre Stimme wieder. »Bockmist, habe seit Jahren keinen so vorsintflutlichen Quark gehört. Sehr autoritäre Gesinnung — überhaupt nicht gesund.« »Warum gehen wir nicht wieder in den Salon«, schlug ich vor und stand hastig auf. Ben ignorierte meine verzweifelte Pantomime um Hilfe zur Wahrung des Friedens. In diesem Moment klingelte es. Die Atmosphäre lud sich noch weiter auf — mit besorgter Vorahnung. Wir erwarteten niemand mehr. »Wer zum Teufel?« wunderte sich Ben laut, als wir gingen, um das herauszufinden. Freddy! Wie eine Erscheinung stand er im Lichtkegel der Außenlaterne. Seine Haare und sein Bart plusterten sich im Wind und ließen ihn durchtriebener und vergammelter denn je aussehen. »Seid mir gegrüßt, Leute. Wie steht’s mit einer freien Unterkunft für die Nacht?« griente er. Ben und ich, zum ersten Mal seit Wochen im Geiste geeint, schauten uns an. Was hatte dieser Überfall zu bedeuten? Freddy ließ seinen Rucksack bei der Treppe fallen. Es war nicht seine Art, die Worte auf die Goldwaage zu legen, und so fragte er, ob ich die Hälfte meines Körpers der Forschung überlassen habe und ob er recht komme fürs Abendbrot. Die einzige Person, die diese Worte offensichtlich rührten, war Tante Sybil. Sie murmelte: »Armer Junge, ich mache mir manchmal Sorgen um dich, ob du dich genügend ausruhst. Soll ich dir ein Brot machen?«
Freddy konnte einen Schauder kaum unterdrücken. Mein erster Impuls war, ihn diesem schrecklichen Schicksal zu überlassen. Aber Kruzitürken! Die Barmherzigkeit überwog, und ich bat Jonas, der sich in diskreter Entfernung hielt, etwas Boeuf Wellington und sonstige Reste in den Salon zu bringen. »Wo hast du dieses hochherrschaftliche Faktotum aufgetrieben?« Freddy hakte mich verwandtschaftlich unter und wir setzten uns an die Spitze der kleinen Prozession zurück an den Kamin. »Er sieht aus wie ein Schloßgespenst, das sich zur Geburtstagsfeier in Schale geworfen hat.« Er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Und wer ist die gestrenge Domina mit der Gipsfrisur?« »Freddy«, erwiderte ich, nachdem ich mich wütend vergewissert hatte, daß das nicht bis zu Dorcas’ Ohren gedrungen war, »wenn du für die Nacht von uns verköstigt und beherbergt werden möchtest, dann mußt du dir die Mühe machen, freundlich von deinen Mitmenschen zu sprechen.« »Ach, sind das welche?« fragte er mit gespieltem Erstaunen. »Tut mir leid!« Er stellte sich hin und machte Bestandsaufnahme. »Wie ich sehe, hast du in die Familienbörse gelangt und den Laden aufgemöbelt.« Seine Augen wanderten weiter umher bis zu dem Bildnis über dem Kamin. »Und wer ist das, die Mutter vom Schloßgespenst?« »Das ist Abigail Grantham«, antwortete ich kühl. »Onkel Merlins Mutter.« »Die sah ja nicht gerade berauschend aus, was?« Freddy wandte sich um, damit wir alle an seiner Beobachtung teilhaben konnten. Die Tür öffnete sich und Jonas schlurfte mit einem vollen Tablett herein. Ich wollte es ihm abnehmen, doch da ergriff Tante Sybil das Wort und ich fand es unhöflich, direkt vor ihrer Nase
vorbeizuspazieren. »Eine sehr unansehnliche Frau«, pflichtete sie bei und fuhr sich an den Kopf, um ihre mißratene Dauerwelle zu bändigen. »Oh ich weiß, wir können nicht alle Schönheiten sein und gerade Sie, lieber Herr Pfarrer, werden zugeben, gut schaut aus, wer Gutes tut, aber ich war immer der Ansicht, wenn eine Frau Zeit darauf verwendet, sich einen Mann zu angeln, dann sollte sie noch mehr darauf verwenden, ihm Achtung zu erweisen. Der Mann hat nicht das Wörtchen gehorchen im Ehegelöbnis untergebracht, damit Frauen es herausnehmen. Und Abigail, obwohl ich zugeben muß, ihre Apfelcharlotte war ohnegleichen, hat dem armen Onkel Arthur viele Kopfschmerzen bereitet. Weitaus zu familiär mit dem Dienstmädchen, und schauen Sie sich an, welche Wirkung das auf den armen, so leicht zu beeinflussenden Merlin hatte. Ich habe nichts unversucht gelassen, um die unglückliche, standeswidrige Beziehung zu unterbinden, die er zu diesem ungehobelten, fragwürdigen Gärtner unterhielt …« Rowland räusperte sich, aber ob er in die explosive Stille hinein gesprochen hätte, sollten wir nie erfahren. Eine rauhe, kratzige Stimme, die vor Wut knirschte, zerschnitt die Luft wie eine rostige Guillotine. Ich erschrak bis ins Mark und wollte nicht glauben, daß es Jonas war, der da sprach. »Madam!« Er preßte die Wörter heraus, seine Augenbrauen zogen sich zusammen wie ein Paar wütender pelziger Raupen. »Was wissen Sie über eine große Frau, die auch noch Ehefrau und Mutter war — eine gehässige, urteilsschwache, männerhungrige alte Jungfer wie Sie?« Tante Sybils Gesicht wurde von gefährlichem Purpurrot überflutet, das rasch einer Totenblässe wich. »Wie kannst du es wagen!« Sie griff sich an ihren
wogenden Seidenbusen. »Merlin« — sie holte tief Luft und stammelte, »Merlin hätte nie geduldet, daß Sie so zu mir sprechen.« »Ach nein?« Das Tablett klapperte in Jonas’ blaugeäderten Händen. »Und genauso wenig hätte er einer alten Schlampe wie Ihnen gestattet, schlecht von seiner Mutter zu reden.« Mit diesen Worten knallte er das Tablett auf das Kaffeetischchen, verneigte sich vor der erstaunten Gesellschaft und donnerte aus dem Zimmer. »Ey, ist das geil!« Freddy rieb sich schadenfroh die Hände. »Einfach riesig, wieder zu Hause zu sein!« Tante Sybil fühlte sich gar nicht wohl. Ich war wirklich besorgt und setzte ihr zu, mich einen Arzt holen zu lassen. Wie ein kleines, verwirrtes Kind bat sie nur darum, nach Hause gebracht zu werden, damit sie schlafen konnte. Ben ging sofort ihren Mantel holen und erbot sich, sie in ihr Häuschen zu geleiten, aber als er zurückkam, bestand Rowland darauf, diese Aufgabe zu übernehmen. »Obwohl ich«, fuhr er fort, »eine kleine Belohnung für meine Dienste erwarte — vielleicht bieten Sie mir ein Gläschen Weinbrand an, Miss Grantham, und leisten mir dabei Gesellschaft.« Tante Sybil erwiderte sein Lächeln nicht. »Ellie«, Rowland klopfte seine Jackentaschen ab und spähte umher, »anscheinend habe ich meine Pfeife und meinen Tabaksbeutel verlegt.« »Wahrscheinlich haben Sie sie im Eßzimmer gelassen, wollen wir nachschauen gehen?« Wie erwartet fanden wir seine Utensilien neben dem Platz, an dem er gesessen hatte, aber ich war dankbar für die kurze Gelegenheit, mit dem Pfarrer allein sprechen zu können. Nachdem ich ihm für seine Sorge um Tante Sybil gedankt hatte, entschuldigte ich mich für Jonas’ unglaubliche Ungezogenheit. »Er ist selbst in
seinen besten Momenten ein schrecklicher alter Mann«, seufzte ich. »Was für Untugenden er auch hatte, Standesdünkel besaß Merlin nicht und Tante Sybil sollte sich da heraushalten.« Rowland klopfte seine Pfeife in den Aschbecher aus und steckte sie in die Tasche. »Was ich daran interessant finde, ist, daß die Auseinandersetzung Abigail Grantham betraf. Ich kann nur hoffen, daß ich ein halbes Jahrhundert nach meinem Tod auch so viel Einfluß ausübe. Geistliche sollten eigentlich nicht abergläubisch sein, aber ich frage mich fast, ob sie noch in diesem Haus weilt.« »Ich bin froh über Ihr Verständnis.« Ich spielte mit einem Wasserglas auf dem Tisch. »Ich glaube auch nicht, daß es in dem Haus spukt — aber was mit Abigail geschah, veränderte irgendwie seinen Charakter. Onkel Merlins jahrelange Vernachlässigung und Tante Sybils erbärmliche Haushaltung haben ihr Teil dazu beigetragen, aber ich habe immer noch das Gefühl, der Verfall begann, als Arthur Grantham jede Spur von der Anwesenheit seiner Frau herausgerissen oder übertapeziert hat.« Rowland nickte. »Bis jetzt exhumiere ich immer noch die tausendundeine Predigten von Ehrwürden Geoffrey Hempstead, alle außerordentlich langatmig und von der Höllenfeuer-und-Schwefel-Sorte. So wenig es mir liegt, einen Vorgänger zu verunglimpfen, aber Hempstead war ein Fanatiker.« Wir durchquerten die Halle zum Salon und blieben kurz vor der geschlossenen Tür stehen. »Wie mag wohl« sagte ich, »der ehrenwerte Mr. Hempstead mit wirklich hartgesottenen Sündern umgesprungen sein? Wahrscheinlich hat er sie fertiggemacht. Auf ewig in einem türkischen Bad?« Der Pfarrer legte die Hand auf den Türknopf. »Es sei
denn, sie konnten in zerknirschter Reue auf die Knie gezwungen werden. Um zu verhindern, daß andere Familienmitglieder gleichermaßen verdorben wurden, empfahl er dringend, das geistig abgestorbene Glied auszureißen wie verfaultes Fleisch und auszustoßen in die Welt. Ich fand mehrere Predigten zu diesem Thema, zahlreiche, die Trunkenheit beklagten und eine, die sich auf eine ehebrüchige Frau bezog. Offenbar hatte der Ehemann wahrhaft christlich gehandelt und sie vor die Tür gesetzt.« Rowland lächelte. »Es wird Sie erleichtern, daß die Kirche über die Jahre milder geworden ist. Ich jedenfalls erwarte keine Engelanwärter.« Minuten später, als Rowland das Haus mit Tante Sybil verließ, drückte er mir bedeutungsvoll die Hand und versicherte mir noch einmal, daß er sich melden werde. »Ist zwischen dir und dem Kirchenheini was am Kochen?« fragte Freddy, während er sich ein Glas Benedictine einschenkte und sich ans Feuer kauerte. »Muß sagen, ich kann’s dem Typ nicht verübeln, jetzt, wo du den Schlabber abgeworfen hast. Sehr sportlich von Ben, daß er’s hinnimmt, aber so geht’s einer Beziehung oft im Laufe des Zusammenlebens. Die Glut kühlt sich ab und beide Partner schauen sich nach einem anderen Laufställchen um — jemand, der morgens nicht das Badezimmer mit Beschlag belegt oder die letzten Cornflakes aus dem Karton verputzt … Und warum auch nicht? Wenn beide Partner reif und liberal sind …« Bevor ich auf diese Sicht der sexuellen Revolution reagieren konnte, sträubte Dorcas die Federn wie ein wütendes Huhn. »Junger Mann, ich weigere mich, hier zu stehen und mitanzuhören, wie Sie meine Freunde beleidigen. Hier geht alles vollkommen mit rechten Dingen zu. Wenn dem nicht so wäre, dann versichere ich Ihnen, junger Mann, wäre ich keine Nacht unter diesem Dach geblieben. Warum Sie mir glauben sollten, fragen
Sie? Weil ich, mein Freundchen, eine Sportlehrerin und Pfadfinderin bin. Muß ich noch mehr sagen?« »Kein Wort!« flüsterte Freddy. »Das Problem mit solchen wie Ihnen« — Dorcas betrachtete mißbilligend seinen Pferdeschwanz und den Ohrring — »ist, jetzt, wo die Hippies passé sind, haben Sie keinen blassen Schimmer, was Sie mit dem Rest Ihres Lebens anfangen sollen. Tun Sie sich selber einen Gefallen, mein Junge, gehen Sie joggen.« Dorcas’ Gardinenpredigt mußte Freddy gut getan haben. Von Stund an benahm er sich wie ein Mustergast. Er machte sogar am nächsten Morgen sein Bett selber. Trotzdem waren Ben und ich erleichtert, als er uns beim Frühstück wissen ließ, er werde nach dem Mittagessen abdüsen. Wenn er das Angenehme mit dem Nützlichen verband und unsere Aktivitäten auskundschaftete, um sie zunichte zu machen, so nahm er sich dafür nicht viel Zeit. Sicherheitshalber hatte Ben sein Manuskript in einer der Ritterrüstungen in der Halle versteckt. Während des Frühstücks bemerkte Freddy vorwurfsvoll, daß ich jetzt aß wie ein Spatz und fragte, ob ich schon das erforderliche Gewicht abgenommen hatte. Ich antwortete wahrheitsgemäß — nein — und wechselte hastig das Thema, bevor er mich danach aushorchen konnte, wie nah ich dem Erfolg war. Der Vormittag verstrich rasch und relativ unkompliziert. Ben erinnerte Freddy daran, daß Tante Sybil ihn darum gebeten hatte, vor seiner Abreise bei ihr vorbeizuschauen. »Vielleicht schießt sie dir was vor«, bemerkte Ben anzüglich und räumte die eiverschmierten Teller vom Frühstückstisch ab. »Also wirklich.« Freddy zog eine Augenbraue hoch. »Aber sie war echt total aus dem Häuschen; was meint ihr, soll ich gleich mal zu ihr rüberdackeln, statt bis zur letzten Minute zu warten? Doch, ich glaube, ich bin der
alten Krähe was schuldig dafür, daß sie mich über die Jahre gelehrt hat, was gutes Essen bedeutet.« Gar nicht typisch für Freddy, so galant zu sein, aber es war schwer, ihn einzuordnen. Tante Sybil war jetzt bestimmt bei ihren Schwimmversuchen in der Bucht. Freddy erbot sich, ihr in einer Privatstunde Überlebenstechniken beizubringen, wenn Ben ihm dafür eine Badehose lieh. »Hoffentlich besteht sie nicht darauf, mich zu bezahlen, aber wenn, dann kriegt sie einen reduzierten Sondertarif.« Wie sich herausstellte, brauchte sich Tante Sybil nicht von ihrem Geld zu trennen. Sie war weder im Wasser, noch zu Haus, so informierte uns Freddy eingeschnappt, als er mit sandigen Schuhen in die Halle gestapft kam. Ich war ziemlich beunruhigt. Hoffentlich hatte das nicht zu bedeuten, daß Tante Sybil erkrankt und zu Dr. Melrose gegangen war. Freddy bat um eine Führung durchs Haus, und als wir auf dem Treppenabsatz standen und zu dem großen bunten Glasfenster aufschauten, strich er langsam mit der Hand über die glatte Oberfläche des Geländers. »Weißt du, Ellie«, sagte er, »ich bin irgendwie beeindruckt. Du hat etwas hierhergebracht. Etwas Ehrliches. Einer der Gründe, warum ich lieber im Freien bin, ist, da lebt alles, die Bäume, die Schafe noch mit der Wolle auf dem Rücken — aber das hier«, er strich wieder über das Geländer, »ist nicht tot. Verdammt, ich glaub, ich bin nicht mehr ganz dicht … Ich frage mich, ob du schon den Schatz ausgebuddelt hast oder ob es nicht was ist, was gar nicht greifbar ist — einfach gute Schwingungen.« Ich war gerührt, aber Freddy war schlau. Vielleicht hoffte er, daß ich zur Antwort gab: »Doch, es ist etwas Dingliches — vorige Woche haben wir eine Briefmarke gefunden aus der Regierungszeit von Königin Cleopatra.« Ich führte ihn weiter durchs Haus. »Onkel
Merlins altes Zimmer.« Ich stieß die Tür auf. »Wie du siehst, haben wir das Holz so belassen und nur neu tapeziert. Die Vorhänge und die Tagesdecke müßten jeden Moment eintreffen. Die übrigen Schlafzimmer müssen alle renoviert und die Fußböden gesandet werden und aus dem Speiseaufzug möchte ich gern einen Wäscheschrank machen und …« Fröhlich schwatzte ich drauflos und mir war ganz recht, daß Freddy ungewöhnlich schweigsam war. Es brauchte schon einiges, um ihn zum Schweigen zu bringen. *** Dieser Besuch hat keinen Schaden angerichtet, dachte ich, als ich am frühen Nachmittag Freddy auf seinem Motorrad nachschaute. Wir hatten ihm sehr wenig zu berichten gegeben. Aber im Laufe des Tages fühlte ich mich merkwürdig beklommen. Ein Sturm braute sich zusammen. Ein mürrischer Wind bewegte die Bäume, die Äste klopften an die Fensterscheiben und machten mich kribbelig. So sehr, daß ich aufkreischte, als Jonas plötzlich aus der Küche kam (ich hätte schwören können, er sei oben in einem der Schlafzimmer an der Arbeit). Mit einer wütenden Tirade drosch ich auf ihn ein. »Was führen Sie im Schilde, daß sie Leute bespitzeln und ihnen hinterherschleichen wie ein Einbrecher, der für seine Lautlosigkeitsprüfung übt? Sind Sie noch nicht damit zufrieden, eine harmlose alte Frau zu beleidigen? Wenn meine Tante einen Herzanfall bekommt und stirbt, dann mache ich Sie dafür verantwortlich, Mr. Phipps.« »Wenn Sie’s tut, dann bestimmt nicht von einem Leben harter Arbeit. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen. Die ist nicht wie Sie. Ich bin keiner, der Rosen streut, aber Sie sind ein seltenes Mädel. Ich weiß, was Ihnen im Magen liegt — der Junge, der hier war, um
die Lage auszuspionieren, aber solange es mich gibt, haben Sie nichts zu befürchten. Die Aasgeier mögen da draußen kreisen, aber die zerdetsche ich wie Fliegen, bevor sie Ihnen auch nur ein Haar krümmen.« Wollte Jonas mich aufmuntern oder zu Tode erschrecken? Jedenfalls würde ich ihn erschrecken, falls sich Tante Sybils Gesundheit und Gemütsverfassung nicht erholt hatten. Aber Dorcas und ich stellten fest, daß Tante Sybil immer noch nicht zu Hause war. Unserem wiederholten Klopfen antwortete nur tiefes Schweigen, so holten wir schließlich den Schlüssel vom Fensterbrett und gingen durch die Vordertür hinein. Sechs PapiermachéKöpfe von Onkel Merlin grinsten uns schief vom Kaminsims an, aber das blieb unsere einzige Begrüßung, bis wir den Zettel auf dem Kopfkissen von Tante Sybils ungemachtem Bett fanden. Sehr viktorianisch. Aber sie war nicht mit Rowland Foxworth durchgebrannt oder in ein Kloster geflüchtet. Sie war, so informierte uns ihre ausgeprägte Spinnwebschrift, für eine Weile zu einer alten Freundin gefahren. Nach gestern abend hatte sie das Bedürfnis empfunden, von hier wegzukommen. »Klingt vernünftig«, sagte Ben, als wir ihm berichteten. »Noch vernünftiger wäre gewesen, wenn sie uns persönlich Bescheid gesagt hätte, aber sie will, daß wir uns um sie Sorgen machen. Traurig. Sie ist alt, und, wie Jonas andeutete, sie hatte wahrscheinlich nie jemanden, der mit ihr ins Kino ging, geschweige denn etwas Unanständiges tat, wenn das Licht ausging.« »So hart ist es ja nun auch nicht ohne Männer«, sagte ich. Aber Tante Sybil tat mir leid und ich war ihretwegen ein wenig beunruhigt. »Die kommt schon wieder auf den Damm«, machte Dorcas uns Mut. »Bin froh, daß sie eine Freundin hat, die sie besuchen kann, hätte irgendwie nicht gedacht, daß sie jemand hat.«
Eines Nachmittags, ungefähr eine Woche später, war ich in der Stadt einkaufen gewesen und wurde zu Hause von guten Neuigkeiten empfangen. »Tante Sybil hat gerade angerufen«, sagte Ben. »Deine Sorge war völlig unbegründet. Sie konnte nicht viel reden, weil die Verbindung so schlecht war, aber sie will sich mit uns und ihrer Freundin diesen Samstag im Windhaven Hotel in Shipley zum Mittagessen treffen. Wir sollen sogar Dorcas mitbringen. Klingt, als habe sie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Bemerkungen über Dienstmädchen in Gegenwart von Dorcas.« »Entweder das oder wir sollen sie als Anstandsdame mitbringen, falls du die Beherrschung verlierst und mich auf dem Autorücksitz nimmst — jetzt, wo wir beide raufpassen.« »Du bist unverbesserlich«, sagte Ben. »Aber ich bin erleichtert wegen Tante Sybil, sie hörte sich sogar ganz vergnügt an, also können wir sie wohl wieder zu den Lebenden rechnen.«
Vierzehn Das Winhaven Hotel lag oberhalb der Strandpromenade des kleinen Badeortes Shipley. Es besaß eine Atmosphäre verblichener Pracht wie eine bejahrte Aristokratin, die sich ein zartes Spitzentuch um die Schultern legt, um die gestopften Stellen in ihrem altmodischen Kleid zu verbergen. Dorcas hatte es vorgezogen, im Kräutergarten zu arbeiten und begleitete uns nicht. So wurden Ben und ich von einem livrierten Lakaien mit unterwürfigem Lächeln und Bücklingen empfangen wie die Fürsten und über den abgetretenen roten Teppich durch die Empfangshalle geleitet. Im hohen Regency-Eßsaal bot man uns ein
fulminantes Mittagsmahl. Nichts fehlte auf der Speisekarte aus schwerem Pergament. Gar nichts, nur Tante Sybil. Sie hatte sich mit uns um 12 Uhr 30 verabredet. Als sie um eins noch nicht da war, beunruhigte mich das nicht sonderlich. Die Verspätung gestattete Ben und mir, unser zweites Glas Dubonnet zu genießen. Nachdem ich bei meinem vierten angelangt war, verlor der Grund unseres Hierseins jegliche Wichtigkeit. Es war an der Zeit, feste Nahrung zu bestellen. Da ich nur selten dem Alkohol zusprach, waren mir die Grundregeln unbekannt — wann man zum Beispiel aufhört. So fühlte ich mich am Ende unseres Fünf-Gänge-Menüs — wovon einer eine Flasche Wein war — wohlig schwebend und verspürte kaum einen Hauch von Melancholie wegen Tante Sybils Abwesenheit. Sie wäre ohnehin nur im Wege gewesen in diesem gemütlichen kleinen Ruderboot für zwei, das in sanftem Auf und Ab auf dem roten Meer — hoppla — dem Teppich schaukelte. Das Boot tat einen Satz und ich mußte mich an Bens Hand festhalten, um nicht über Bord zu gehen. »Glaubst du, ihr ist was zugestoßen?« nuschelte ich. »Als da wäre?« Durch den goldenen Nebel sah Ben genauso zum Anbeißen aus wie jeder Leckerhappen unseres Festessens. Ich spielte mit meinem Kaffeelöffel und befeuchtete mir die Lippen. »Kann Ss-Ss, Sybil vom Bus gefallen sein oder so …?« »Ich vermute, sie hat sich im Tag geirrt. Oder vielleicht ging es ihr nach unserer Abfahrt plötzlich nicht gut und sie konnte uns nicht mehr absagen.« »Bestimmt hast du recht.« Ich hätte so gern meinen Kopf auf den Tisch gelegt und ein Fünf-MinutenSchläfchen gehalten, besonders, wenn sich Ben dazugelegt hätte.
»Wir warten noch ein Weilchen, falls sie sich in den verkehrten Bus oder Zug gesetzt hat und achtzig Kilometer von hier gelandet ist.« Er wandte der Kellnerin sein schönstes Profil zu und brachte sie damit wie schon bei unserem ersten Gaststättenbesuch eilends an seine Seite. Er bestellte für uns beide Irish Coffee, offenbar war ihm mein Zustand noch nicht aufgegangen. Er ging ihm auf, als er mich eine halbe Stunde später in die Empfangshalle hinausgeleitete. Der Teppich war so weich, in Schaumstoffwellen strömte er auf die Doppeltür am Eingang zu, während ich kleine Häppchen aus Bens Schulter knabberte. Die Möwen in meinem Kopf befahlen mir das. »Benimm dich«, zischte Ben, als ein Kellner hocherhobenen Hauptes und empörten Blickes an uns vorbeieilte. »Ich kann nicht anders.« Ich sackte gegen den Mann von der Kultivierten Herrenbegleitung, und kaum waren wir durch die Doppeltüren geschwommen, da schlug uns ein heftiger Salzwind mit einem Vorgeschmack von Regen ins Gesicht. »Ben«, flötete ich, »wenn du mich nicht hier und jetzt in die Arme nimmst und mit ekelerregendem tierischen Verlangen küßt, dann stürze ich mich diese Treppe hinunter und ein unschuldiger Passant muß mich mit einem Spachtel abkratzen.« »Sei kein Idiot.« Er klang seltsam und sehr weit weg. »Du willst doch keinen billigen Nervenkitzel für die Urlauber da unten abgeben.« »Nein.« Ich drückte mich an ihn und ließ seine Haare durch meine Finger gleiten, als hätte ich das mein ganzes Leben lang getan, statt nur in Taschenbüchern darüber zu lesen. »Ich möchte einen billigen Nervenkitzel für dich abgeben, mein scheuer Prinz. Was stört dich an mir? Ist dir das alles egal? Schwärme ich nicht von deiner Kochkunst? Bewundere ich dich nicht, wie du dich
abmühst, daß keine Fettflecke auf die Küchentapete kommen? Merkst du nicht, daß ich unter dieser spröden Oberfläche ernsthaft in Sorge bin um Tante Sybil? Wir wissen nichts über diese Freundin von ihr, wo sie wohnt …« Ich glaube, ich habe richtig schön rührselig geweint, aber ich konnte kaum etwas hören vor lauter Möwen — denen, die in meinem Kopf solch ein Gekreisch veranstalteten. »Ach, Ellie, was ich alles machen muß, um dich zum Schweigen zu bringen.« Sein Atem streifte leicht mein Gesicht und er küßte mich. War ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bis hierher gelangt? Hatte ich den Grad meiner Trunkenheit absichtlich übertrieben? So beschwipst konnte ich noch gar nicht gewesen sein, denn sowie seine Lippen die meinen berührten, war ich erst richtig betrunken. Ich schwebte, flog, segelte auf hauchdünnen Schwingen in die Glückseligkeit. »Abscheulich!« brüllte mir eine Stimme in die Ohren. Ganz langsam entzog ich Ben meinen Mund, öffnete die Augen und starrte in das rote Gesicht eines kleinen Mannes mit Jägerhütchen. »Sir«, sagte ich, »Sie haben meinen Tag gerettet, ja sogar mein Leben. Es war immer mein größter Ehrgeiz, Anstoß in der Öffentlichkeit zu erregen.« »Soll das heißen«, sagte Ben, »daß du deine Pläne hinsichtlich der Treppe geändert hast? Gut, dann laß uns nach Hause fahren und schauen, ob eine Nachricht von deiner Tante da ist. Die Heimfahrt dauert eine Stunde und die Wolken verkünden Regen.« Die Wolken waren nicht die einzigen verschwommenen Dinger, die überfließen wollten. Meine Augen drohten mit einer Flut, die der von Noah gleichkam. Warum hatte Ben mir das angetan, meine beschwipsten Avancen wie ein oberflächliches Aufwallen momentaner Lust behandelt? Warum hatte er mich nicht
noch einmal geküßt und es dem Mann mit dem Jägerhütchen gezeigt? Warum hatte er sich geweigert, den Moment auszunutzen? Ich war durchaus fähig, mich züchtig zu beherrschen und zu warten, bis wir im Auto waren, bevor wir uns Intensiverem zuwandten. Gott sei Dank machte sich der Mistkerl nicht die Mühe höflicher Konversation. Er lauschte anzüglichen Rock’n’Roll Songs, die aus dem Autoradio dröhnten, und paffte Pfeife, seine neueste Masche. Wenn der wüßte, wie lächerlich er aussah! Gar kein Vergleich zum lieben Pfarrer, der groß, freundlich, vernünftig, und in jeder Hinsicht ideales Ehematerial war. Der arme Rowland, ich mußte ihm wirklich Gelegenheit geben, sich zu erklären. Er verdiente ein nettes Mädchen wie mich. Wenn ich ihn auch nicht lieben konnte, weil mein Herz schon an die gefühllose, fröhlich vor sich hinsummende Kreatur an meiner Seite vergeben war, so konnte ich ihm wenigstens das Haus auf Vordermann bringen, die Socken waschen und seinen Kindern eine Mutter sein. Im Geiste sah ich eine ganze Reihe kleiner Rowlands an mir vorbeimarschieren, alle in Tweedjacketts, mit scharfen Bügelfalten in den knielangen Hosen und handgestrickten Socken von Tante Sybil. Eine Jalousie ging herunter, die Musterknaben verschwanden und wurden sofort abgelöst durch ein Gewimmel von Mädchen und Jungen alle mit dunklem Haar, brauner Haut und leuchtenden blaugrünen Augen — sie rutschten das Treppengeländer herunter, kobolzten durch die Halle und schufen ein Chaos aus lautem Gelächter, schmutzigen Fußböden und umgekippten Stühlen, und das alles unter den wohlmeinenden Augen ihrer Turnlehrerin, Tante Dorcas. Wie traurig für die süßen Rangen, daß ihr Vater, der böse Schwerenöter, sich weigerte, dem Anstand Genüge zu tun und ihre Mutter zu heiraten.
Die Gegenreaktion setzte ein. Zorn verwandelte sich in Niedergeschlagenheit, während ich überlegte: das, was ich jetzt durchmachte, war nichts im Vergleich zu der Leere, die mich erwartete, wenn Ben zu seinem letzten Spaziergang aufbrach — hinaus aus meinem Leben. Wenigstens konnte ich ihn jetzt sehen, mich über seine Gleichgültigkeit ärgern. Warum sollte ich meine Geduld nicht einem Härtetest unterziehen, indem ich das Messer noch tiefer hineinstieß? »Was wohl Vanessa von meinem neuen Ich halten wird?« fragte ich. »Seit Jahren sage ich mir, sie ist nicht halb die Frau, die ich bin, aber der Spruch paßt jetzt nicht mehr.« »Warum tust du das?« Bens Stimme durchschnitt das verzückte Geheule der Rockmusik. »Tue ich was bitte?« »Verhöhnen, wie du vor sechs Monaten warst. Du erinnerst mich an einen dieser wiedergeborenen religiösen Eiferer, die ihre frühere Existenz nur als schmutzige Wäsche betrachten. Sag mir. Ellie, siehst du dich selber als total reinkarniert?« »Du warst immer der Meinung, da sei viel Raum für Verbesserungen.« Ich lehnte den Kopf an den Sitz zurück und ließ mir den Salzwind ins Gesicht blasen. Jetzt hatte ich eine Entschuldigung, daß meine Augen so tränten. »Wirklich?« Ben drehte das Steuer in einer Kurve zu heftig und das Auto machte einen empörten Satz. »Ich war allerdings immer der Meinung, daß es vollkommen absurd ist, dich mit jemandem wie Vanessa zu vergleichen. Ich habe dir schon bei unserer ersten Begegnung gesagt, was ich von ihr halte.« »Ja, du konntest nicht widerstehen, dich an sie ranzumachen.« Wir hatten gerade das Pfarrhaus passiert. Ben stellte das Radio ab und sagte: »Zurück im trauten Heim. Hast
du vor, diesen friedlichen Tag schmollend auf deinem Zimmer zu beenden?« Mit einem wütenden Schlenker nahm er die Toreinfahrt und schaffte es nicht, einem riesigen Zementhaufen auszuweichen, der bei unserer Abfahrt noch nicht da war. »Was ist das denn, verdammt noch mal?« brüllte er durch die Wolke von feinem grauen Staub, die gegen die Windschutzscheibe wirbelte. »Wenn du den irdischen Kleinigkeiten unseres alltäglichen Lebens je Aufmerksamkeit schenken würdest, dann wüßtest du, daß ich den Auftrag gegeben habe, die Torpfosten zu richten und gleichzeitg Tante Sybils Fußweg zu erneuern. Was mich fuchst, ist, daß das alles letzte Woche passieren sollte. Und die Herren Grimsby und Strumpet, Maurermeister, stecken nicht etwa bis über die Ohren in der Massenproduktion von Grabsteinen. Sie sagten mir, der Sommer sei die SaureGurken-Zeit für Friedhofsarbeiten.« Ben hatte zurückgesetzt, die Pyramide umkurvt und am Ende der Auffahrt angehalten. »Während ich die Windschutzscheibe putze«, sagte er recht sanft, um zu zeigen, wie wenig ihm unsere Reiberei bedeutet hatte, »kannst du ja mal in Tante Sybils Häuschen nachschauen. Vielleicht ist sie heute nicht gekommen, weil sie sich entschieden hat, nach Hause zu fahren, womit die Verabredung mit uns überflüssig wurde.« »Scharf geschlossen«, sagte ich kühl und kletterte aus dem Wagen. Das Häuschen stand dunkel und verlassen, aber als ich durch die Gardinen spähte, hatte ich das seltsame Gefühl, Ben könnte mit der Rückkehr von Tante Sybil recht haben. Hatte sich etwas bewegt, ein Schatten vielleicht, was mir dieses Gefühl gab, jemand sei da? Was es auch war, niemand antwortete auf mein wiederholtes Klopfen. War ich langsam reif für die Gummizelle?
Ben parkte den Wagen unter dem Torbogen und ich ging in die Halle, wo ich Dorcas begegnete. Sie kam die Treppe herunter, eingemummelt in einen grün und senffarben karierten Morgenmantel, der jedem Gallenbeschwerden verursacht hätte. Sie sah aus wie der aufgewärmte Tod. Benommen berichtete sie mir, sie sei von fürchterlichen Kopfschmerzen niedergestreckt worden und habe sich den ganzen Nachmittag lang ins Bett packen müssen. Sie war immer noch ein bißchen dösig vom Schlaf, aber es ging ihr schon besser. Der Anfall war anfangs so schwer gewesen, daß sie fast die Orientierung verloren hatte und kaum noch wußte, wie sie die Treppen hinaufgekommen war. »Komisch«, sagte Dorcas und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, »hatte mich pudelwohl gefühlt, kam gut voran im Garten. Habe nur mal fünf Minuten Auszeit genommen bei einem Täßchen aus der Thermosflasche, dann bin ich aufgestanden und hatte plötzlich einen Kopf, als wären lauter Glassplitter drin, und meine Beine verabschiedeten sich auch. Muß das aufkommende Gewitter gewesen sein. Kriege nur Kopfschmerzen, wenn das Wetter umschlägt. Ach, Ellie, eine Frau hat für dich angerufen kurz, nachdem du weg warst, habe ihr gesagt, du wärst nicht da, hat aber aufgelegt, bevor ich ihren Namen mitkriegen konnte.« »Hört sich an wie Jill«, sagte ich. »Die hat’s immer so eilig. Hoffentlich ruft sie noch mal an.« Als ich Dorcas erzählte, daß Tante Sybil nicht zu unserer Verabredung erschienen war, meinte sie, sie wüßte gar nicht, ob sie nach ihrem Anfall das Telefon überhaupt gehört hätte. Zu weit weggetreten. Aber kein Grund zur Sorge, sie war wieder auf den Beinen und auf dem Weg in die Küche, um Tobias sein Abendbrot zu geben — wenn sie ihn finden konnte. Kurz, nachdem Ben und ich abgefahren waren, hatte sie ihn aus einem offenen Fenster
verschwinden sehen; nun, wo das Unwetter loszubrechen drohte, wollte sie nachsehen, ob er zurück war. »Tut mir leid, das Ganze.« Dorcas rieb mit einem Finger über ihre Stirn, als wolle sie die Erinnerung an den Schmerz wegwischen. »Aber die Kopfschmerzen hätten für sechs gereicht, da gab’s nichts als das Zimmer abdunkeln, ins Bett kriechen und sich gesund schlafen.« Sie zuckte zusammen und rieb sich wieder die Stirn. »Dachte, ich hörte Tobias heulen, als ich aufstand. Hoffentlich hat er sich nicht gerauft.« »Dorcas, du bist wirklich die Höhe.« Ich entkorkte eine Flasche Weinbrand, die auf der Glasvitrine stand, schenkte ein gehöriges Quantum ein and bestand darauf, daß die Patientin es runterkippte. »Du machst dir Sorgen wegen dieses Herumtreibers, dabei solltest du in deinem Bett liegen. Jetzt reg dich bitte ab, ich werde ihn aufstöbern.« »Ja, das tut gut.« Dorcas spitzte die Lippen, verzog das Gesicht und nahm vorsichtig ein Schlückchen. »Noch besser als der Weinbrand — vertrage keinen Schnaps — wäre für mich, wenn ich wüßte, Tobias ist im Haus.« Ich befahl Dorcas, sitzen zu bleiben, ging in die Küche, füllte Tobias’ Napf und klapperte verlockend damit. Als diese List nichts fruchtete, ging ich durchs Haus, öffnete die Türen und rief nach dem Schlingel. Ben war im Eßzimmer und deckte den Tisch. »Wie geht’s Dorcas?« fragte er. »Migräne«, erwiderte ich lakonisch. »Und sie schwebt in tausend Ängsten, weil Tobias sich womöglich draußen herumtreibt und es anfängt, zu donnern.« »Dann kann sie ganz beruhigt sein.« Ben legte noch eine Gabel hin. »Tobias bleibt nicht draußen, wenn sein Schnurrbart naß wird. Dann kratzt er die Kurve und wetzt nach Haus.«
Aber Tobias kam nicht. Als ein weiteres Donnergrollen den Himmel zerriß, zog ich mir einen der Regenmäntel über, die im Alkoven bei der Gartentür hingen, nahm eine Taschenlampe und huschte in den Hof hinaus. Der dünne Strahl der Taschenlampe war wirkungslos. Der Sturm stürzte sich auf mich und wirbelte mich umher. Ich konnte kaum sehen, wohin ich trat und wäre beinahe über den Rand des Hofes in den Schloßgraben gestolpert. Kurze Helligkeit bewahrte mich vor dem kühlen Bad, ein Blitz zischte hernieder und hinterließ eine rote Fieberkurve gegen die Schwärze. »Tobias!« rief ich, aber meine Stimme trug nicht. Sie hing in der Luft und vermochte nicht, den Sturm zu durchdringen. »Bist du denn wahnsinnig geworden!« Ich konnte Ben nicht sehen, aber seine Hand packte mich grob am Arm und riß mich zurück. »Der Blitz eben ist verdammt dicht beim Haus eingeschlagen. Vergiß deinen Scheißkater, der hat acht Leben mehr als du.« »Ich kann ihn nicht da draußen lassen«, schniefte ich. »Der verliert ja den Verstand vor Angst.« »Wenn er welchen hätte, wäre er nicht draußen.« »Laß mich, ich muß ihn finden.« Ich versuchte, mich loszureißen, aber Tarzan hatte mich fest im Griff. »Guter Gott«, betete Ben, »welche Sünden habe ich begangen, daß du mich mit solcher Heimsuchung schlägst?« Mit diesen frommen Worten warf er mich über seine Schulter wie der Weihnachtsmann den Gabensack und wankte zurück ins Haus, wo er mich unsanft auf das Salonsofa ablud und der armen Dorcas befahl, ein Auge auf mich zu haben. »Zieh dir den Mantel aus, du dumme Person. Ich gehe und mache dir und unserer Kranken etwas Heißes zu trinken.« Dorcas konnte schließlich überredet werden, ins Bett
zu gehen unter der Bedingung, daß ich sie weckte — gleichgültig zu welcher Stunde — , sobald Tobias auftauchte. Zum ersten Mal seit mehreren Monaten saßen Ben und ich einen Abend lang zusammen. Ben wollte nicht riskieren, daß ich den Salon verließ und brachte unser Abendbrot auf Tabletts herein zusammen mit einer Kanne starkem schwarzen Kaffee. »Wenn du die halbe Nacht aufbleiben und warten willst, brauchst du etwas Anregendes.« Er reichte mir die Tasse und goß einen Schuß Weinbrand dazu. Zu meiner Verwunderung versuchte er fürsorglich, mich aufzumuntern. »Dieser Kater ist undankbar.« »Er ist noch nie bei einem Unwetter draußen geblieben.« Ich konnte meine Tasse einfach nicht austrinken, stellte sie hin, ging die Vorhänge aufziehen und starrte in die unwirtliche Finsternis. »Du kannst da draußen nichts sehen.« Ben klang gründlich entnervt. »Ja, schon gut! Dem edlen Lancelot ist kein Opfer zu groß! Ich werde Gummistiefel und Kleppermantel anlegen und mich in die wütenden Elemente stürzen. Danke mir nicht!« Er hob gebieterisch die Hand. »Ich kenne nichts Schöneres als einen gemütlichen Spaziergang nach dem Abendessen. Daß ich klatschnaß werde, ist eine angenehme Dreingabe — dann brauche ich heute abend nicht zu baden.« Er hörte sich an wie Tante Sybil. Hoffnungvoll tigerte ich auf und ab und wartete auf Bens Rückkehr. Die vergoldeten Zeiger der Uhr auf dem Queen-Anne-Sekretär bewegten sich kaum. Es war albern, in solche Panik wegen eines Katers zu geraten, der sich sogar im Herzen Londons alleine durchschlug. Wahrscheinlich saß er in dieser Minute irgendwo warm und trocken. Die Stallungen — Jonas! Wie dumm von mir, nicht früher an ihn gedacht zu haben. Tobias besuchte den Gärtner oft in seinen Räumen. Ob Ben
daran dachte, es dort zu probieren? Wahrscheinlich, aber … Ich warf einen rachsüchtigen Blick auf die Uhr; ich erstickte vor Spannung. Diesmal nahm ich keinen Regenmantel. Mit gesenktem Kopf rannte ich die paar Schritte über den Hof. Trotzdem wurde ich vom Wind zurückgetrieben, meine Bewegungen waren mühsam, als schwömme ich in Flutwassern. Ich mußte kämpfen, um den Riegel der Stalltür aufzubekommen. »Tobias«, rief ich, falls er sich dort versteckt hielt. Was natürlich unsinnig war; wenn er es bis hierher geschafft hatte, war er zu Jonas rauf gegangen. Mir fiel der Lichtschalter am Fuße der Holztreppe ein. Ich tastete umher, bis meine Finger den Schalterknopf fanden. Der Stall wurde in schwankendes gelbes Licht getaucht. »Himmelkreuzdonnerwetter! Wer poltert da unten mitten in der Nacht herum, ist einem nicht mal eine Mütze voll Schlaf vergönnt?« Jonas kam mit gesträubtem Schnurrbart und wild abstehenden grauen Haaren die Stufen heruntergeklappert. Als er mich erblickte, blieb er stehen, sah aber keineswegs hocherfreut aus. »Wenn Sie vorbeigekommen sind, um sich zu überzeugen, daß ich noch am Leben bin, können Sie kehrtmachen. Blitz und Donner machen mir nichts aus. Ich mag das sogar. Immer schon, brauche nicht verhätschelt zu werden von einem jungen Ding, das sich für Florence Nightingale hält …« »Sie eingebildete alte Essiggurke!« Ich schäme mich zu sagen, daß ich völlig die Beherrschung verlor und einen wehrlosen alten Mann beleidigte. »Ich bin nicht hier, um nach Ihnen zu schauen, sondern um zu fragen, ob, Sie meinen Kater gesehen haben, der weiß Gott mehr wert ist als ein Dutzend Männer wie Sie oder Ben oder …« Jonas’ Augenbrauen schnellten hoch. »Tobias ist
weg? Bei dem Wetter?« Als ich betrübt nickte, eilte Jonas hurtig die Treppe hinauf und rief mir über die Schulter zu, er hole nur Jacke und Stiefel und sei gleich zurück. Er hatte gerade die oberste Stufe erreicht, da schlug die Stalltür auf. Zuerst dachte ich, es sei der Wind, aber dann sah ich Ben und wußte aus seinen Augen, daß wir die Suche nicht fortzusetzen brauchten. Ich wußte es, bevor ich auf das triefende Bündel in seinen Händen hinunterschaute. »Du hast ihn gefunden«, sagte ich beinahe sachlich. »Im Schloßgraben.« Bens Stimme war todunglücklich, und ich war ruhig genug, Mitleid für ihn zu empfinden. Ich konnte nicht an Tobias denken, meinen pelzigen Kamerad, der sich mit seinem warmen Körper an kalten Winterabenden in meinen Schoß kuschelte. Das Schluchzen begann und wollte nicht aufhören. Jonas war neben mir und klopfte mir auf die Schulter. »Halt dich fest, Mädel. Ich weiß, das ist hart, aber …« »Ellie, es tut mir leid«, stammelte Ben, er rührte sich nicht von der Tür weg. »Und das Allerschlimmste ist, es war kein Unfall. Jemand hat sich bewußt vorgenommen, ihn beiseite zu schaffen. Er war in einen Sack verschnürt. Bei all dem Müll, der im Schloßgraben schwimmt, habe ich ihn nicht gleich gesehen. Wenn ich dich nicht vorher ins Haus zurückgezerrt hätte … wenn ich dir beim Suchen geholfen hätte …« »Das reicht jetzt«, knurrte Jonas. »Wenn wir bis zum Jüngsten Tag hier rumstehen und uns selber geißeln, können wir den kleinen Kerl nicht wieder zu sich bringen. Sind Sie denn sicher, daß er tot ist, Mr. Bentley?« »Verdammt noch mal, Phipps«, brummte Ben, »ich bin kein Leichenbeschauer, aber wenn etwas sich nicht bewegt, eiskalt ist und …« Meine Schultern fingen wieder an zu zucken und Jonas schickte Ben mit mir zurück ins Haus. Er würde
sich um Tobias kümmern. Das Telefon klingelte, als wir in die Küche kamen. Ben weigerte sich, ranzugehen. »Ich lasse dich nicht allein, nicht mal, um in die Halle zu gehen«, sagte er. Nachdem er den Kessel aufs Feuer gestellt hatte, setzte er mich an den Tisch, und nach einer Weile verstummte das Telefon. Nicht, daß es wichtig war. Nichts war wichtig. Tobias, mein Freund, war tot. Ben war nur nett zu mir. In Zeiten schwerer Schicksalsschläge behandeln die Leute Wildfremde wie Blutsverwandte. Ben hatte Tobias nicht einmal leiden können. Aber er hatte ihn auch nicht gehaßt. Jemand anders schon. Das war eine wichtige Frage: Wer? Ben löffelte Zucker in eine Tasse mit starkem Tee und rührte um. »Ellie, ich möchte etwas tun, aber ich weiß nicht, was. Ich würde dir so gern deutlich machen, wie leid es mir tut.« Er ließ die Tasse, trat hinter mich und legte mir sanft die Hände auf die Schultern. »Wenn ich den erwische, der dir so weh getan hat — du hast so an Tobias gehangen.« Ben hörte auf zu sprechen, vielleicht spürte er, daß ich nicht richtig zuhörte. Der Druck seiner Hände verstärkte sich und er zog mich an sich. Er versuchte mich auf die gleiche Weise zu trösten wie nach dem obszönen Anruf, aber diesmal reagierte mein Körper nicht. Ich wollte nicht getröstet werden und machte mich los. In seiner Stimme war so etwas wie ein trockenes Lachen, als er fortfuhr: »Wie du dich seinetwegen gehabt hast, manchmal war ich direkt eifersüchtig auf Tobias.« »Mach jetzt keine Witze«, sagte ich und griff nach meiner Teetasse. »Verzeih, Ellie, das klang kaltschnäuzig und war gar nicht so gemeint — ich bin nicht sehr hilfreich, was? Aber ich will, daß du aufhörst zu grübeln.« »Aber ich muß. Siehst du denn nicht, daß wir es mit der gleichen bösartigen Person zu tun haben, die dein
Buch vernichtet und die Pralinen geschickt hat? Das heute ist unendlich sadistischer, aber es ist die gleiche krankhafte Bosheit. Was kann durch den Mord an meinem Kater gewonnen werden?« »Furcht«, sagte Ben. Die Tür zur Halle ging auf und Dorcas kam herein, ihre Haare standen nach allen Seiten ab und ihr Gesicht war hohlwangig. »Dachte, vielleicht finde ich dich hier unten, Ellie, hab an deine Tür geklopft, keine Antwort.« »Dorcas, du sollst doch im Bett bleiben.« Ich schaute auf meine Hände und hoffte, sie würde wieder hinaufgehen, damit ich es ihr nicht heute Nacht zu sagen brauchte. Auch wäre mir lieber gewesen, Ben hätte meine Schultern losgelassen. Ich wollte allein sein, fern von jeder Berührung mit dieser abscheulichen bösen Welt. »Konnte nicht schlafen«, erklärte Dorcas. »Hab gerade einen unangenehmen Anruf bekommen — ziemlich furchteinflößend. Hab mich nie für die ängstliche Sorte gehalten, aber hatte ein Gefühl, als kriecht mir ein Igel den Rücken runter. Kinderreime hat die Stimme aufgesagt, so durch die Nase. Weiß noch, wie ich dachte, da müssen die Wucherungen rausgenommen werden. War kurz davor zu verlangen, die Mutter von dem Gör soll an den Apparat kommen, damit ich ihr sagen kann, was ich von Kindern halte, die ins Telefon brabbeln, da kicherte sie und flüsterte mit heiserer, unverkennbar erwachsener Stimme: ‘Ri-ra-rutschebank, ich hab ein Kätzchen, das ist krank.’ Da bekam ich eine Gänsehaut. Habe Leute über das Böse reden hören — habe immer gesagt, ich hätt’s nie gesehen. Heute nacht habe ich es gehört.« »Ben, sag es Dorcas.« Ich stand auf und stellte ihr einen Stuhl hin. Ich packte ihn ganz fest, damit meine Hände nicht zitterten. Bevor Ben meiner Bitte
nachkommen konnte, wurde an die Hintertür gehämmert und er ging aufmachen. Im Schein der kleinen Außenlaterne stand Jonas. Mit seinem regennassen Schnurrbart und dem verfilzten Tweedmantel erinnerte er mich an ein altes Walroß. Was ihn menschlich machte, waren die gestreiften Schlafanzughosen, die er sich in die unvermeidlichen lehmigen Stiefel gestopft hatte. »Kann nicht die ganze Nacht hier stehen!« Der Schnurrbart zuckte empört und er blickte finster um sich. »Ist das eine Totenwache — faul rumsitzen und Tee trinken? Wo bleibt die warme Milch mit Rum?« »Warme Milch?« fragte Ben und schloß die Tür. »Haben Sie Ihre Trinkgewohnheiten geändert? Ich dachte, Sie sind wild auf Ovomaltine.« »Bin ich auch«, kam die verdrossene Antwort. »Aber der Bursche hier mag lieber Milch.« Der alte Mann schlug den Mantelkragen zurück und schaute hinunter mit einem Gesicht, so faltig wie eine Ziehharmonika. Jonas blickte lächelnd in die glasigen, aber wachen Bernsteinaugen von Tobias. Niemand von uns sah sein Bett vor Morgengrauen. Jonas war nicht bescheiden. Mit dem würdevollen Gebaren eines alttestamentarischen Propheten, der die Lobeshymnen des Mobs weder sucht noch meidet, berichtete er uns von seiner erfolgreichen Anwendung der künstlichen Beatmung. Wahrscheinlich hatte sie gewirkt, weil Tobias mehr unter der Einwirkung von Schock und Kälte stand, als daß er dem Ertrinken nahe war. »Mir scheint, der Bursche hat sich ganz gut über Wasser gehalten, ist wahrscheinlich auf irgendwelchem Gerümpel gelandet, was da rumschwimmt. Dieser Schlammtümpel von einem Schloßgraben wimmelt von abgebrochenen Ästen. Aber am ehesten war’s wohl der
alte Fahrradreifen, der Mrs. Abigail gehört haben muß.« »Der Möchtegern-Mörder wird nicht begeistert sein, daß ihm ein schwimmender Fahrradreifen in die Quere gekommen ist.« Ben goß noch eine Runde Tee ein. Der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hatte sich auf meinem Schoß zusammengerollt, warm und sicher — seelisch offenbar unversehrt. »Ben«, fragte ich, »Was hast du gemeint, als du vorhin gesagt hast, das Motiv könnte Furcht sein?« »Unsere, nicht die des Mörders. Ich glaube nicht, daß er unter Skrupeln leidet — ganz im Gegenteil. Der Feind will, daß wir uns ducken — und ängstlich über die Schulter ins Dunkel spähen. Was Tobias passiert ist, soll eine Warnung sein. Die nächsten Opfer sind wir.« »Du meinst …« Ich hatte Angst, die Frage auszusprechen. Ben kraulte Tobias weiter hinter dem Ohr. »Nur keine Panik. Ich will damit nicht ernsthaft behaupten, daß wir alle in Säcke gestopft und in den Schloßgraben geworfen werden.« Er blickte auf, seine Augen waren todernst. »Aber ich denke, wir müssen mit wachsender Bedrohung rechnen, die uns dazu verlocken soll, das Haus vorzeitig zu verlassen. Und weiter denke ich, wir werden nicht allzu lange auf den nächsten Schritt warten müssen. Ihr wißt ja, in knapp zwei Wochen sind die sechs Monate um.« Jonas brummte. »Sie haben zu viele Hitchcock-Filme gesehen, junger Mann.« »Und das aus Ihrem Munde!« Ich vergaß für den Moment, daß er der Held war, der meinem kleinen Schatz das Leben gerettet hatte. »Womit haben Sie mir neulich die Ohren vollposaunt, nachdem Freddy weg war? All Ihr Gerede von Aasgeiern, die sich auf uns stürzen wollen, um uns die Knochen abzunagen?« »Jawohl, Mädel, aber das war nur, damit Sie auf der
Hut sind, wenn Ihre Verwandtschaft Sie anpumpen kommt. Ein Schwarm Aasgeier, aber die haben nicht den Mumm, Ihnen oder Mr. Ben etwas anzutun, wie es so schön heißt.« »Ich wäre nur zu gern Ihrer Meinung.« Ben rieb sich die Augen, als wolle er klarer sehen. »Aus meiner Sicht haben wir es mit einem Sadisten zu tun, der die Grenzen simpler Raffgier überschritten hat. Einer deiner Verwandten, Ellie, fällt nicht mehr unter die Rubrik ‘liebenswerter Spinner’. Dir die Pralinen aufzudrängen, mein Manuskript zu waschen, deine Katze zu ersäufen und dann hämisch anzurufen und mißbrauchte Kinderreime aufzusagen, das alles sind Handlungen eines Menschen, der mehr als nur ein bißchen verrückt ist.« »Fürchte, du hast recht.« Dorcas klemmte sich das Haar hinter die Ohren und machte sich offenbar gefechtsbereit. »Schlage vor, wir sammeln die Mannschaft, ziehen die Socken hoch und machen unsern Schlachtplan. Kann Pessimisten nicht ausstehen, habe aber das Gefühl, wenn wir dieses Spiel verlieren, dann wachen wir alle eines Morgens mit durchgeschnittenen Kehlen auf.« Drei Augenpaare schauten sie unverwandt an. »Oh, Entschuldigung! Na ja, auch eine Art, in die Geschichte der Medizin einzugehen.« Sie stand auf und ging den Kessel aufsetzen, ihre Kopfschmerzen waren vergessen. »Will noch jemand Tee?«
Fünfzehn »Das Problem mit dieser Familie«, ich seufzte entnervt, goß mir Milch in den Tee und nahm nicht noch einmal von dem blassen, weinenden Omelette, das Dorcas
produziert hatte, um unsere Gemüter zu beruhigen, »ist, daß es keinen gibt, der die anderen um Kopf und Schultern überragt und offensichtlich in Frage kommt. Die meisten Menschen können einen absonderlichen Verwandten vorweisen, aber in der Grantham-Sippe ist kein einziger normal. Wo sollen wir da anfangen?« »Stecke meine Nase ungern in anderer Leute Angelegenheiten.« Als wolle es ihre Beteuerung Lügen strafen, begann dieses Anhängsel zu zittern wie ein Fühler. »Aber wenn sie tatsächlich ein Haufen Käuze sind, sozusagen alle aus demselben Garn gestrickt, wie wär’s dann mit einer Verschwörung?« Sie nahm den Einspruch eines ihrer Zuhörer vorweg und fügte rasch hinzu: »Würde nichts an Bens Theorie ändern, daß einer aus der Gruppe total bescheuert ist. Irrsinn ist meistens teuflisch bösartig, manchmal geradezu genial. Hab überlegt, komisch, daß Sybil nicht zum Essen erschienen ist und immer noch kein Anruf. Was, wenn unser unbekannter Widersacher das Gespräch mit Ben, wo es um die Einladung zum Essen ging, getürkt hat?« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Ben, »die Verbindung war schlecht.« »Ach nein?« Dorcas schnitt eine Grimasse. »Kann mich erinnern, daß Ellie über ihren kleinen Plausch wegen der Pralinen mit dem Feind sowas Ähnliches gesagt hat. Verdächtig. Ebenso verdächtig, daß Tante Sybil mich miteingeladen hat, hörte sich nicht ganz echt an. Wir waren reichlich naiv. Noch eins — meine Kopfschmerzen, hab euch ja gesagt, die fingen an wenige Minuten, nachdem ich eine Tasse Tee getrunken hatte.« »Ja und?« Jonas wischte sich Omelette vom Schnurrbart. »Wollen Sie uns erzählen, Sie haben sich einen Schuß in den Tee gekippt?«
»Keinen Schnaps«, schnaubte Dorcas. »Was wesentlich Stärkeres. Ich behaupte, unser geheimnisvoller Freund hat mir ein Schlafmittel in die Thermos getan. Ihr wollt wissen, wann? Hab ich mir auch schon überlegt. Weißt du noch den Anruf, von dem ich dir erzählt hab, Ellie? Eine unbekannte Person, die nach dir fragte?« »Danke, das genügt.« Ich seufzte. »Während du im Haus ans Telefon gegangen bis, hat jemand deinen Tee vergiftet. Dieses verdammte Telefon scheint mit dem Feind unter einer Decke zu stecken. Und apropos Mannschaft, wir reden hier über zwei Leute: einer hinter der Mauer zum Kräutergarten und einer, der dich ablenkte. Langsam kriege ich eine Gänsehaut. Wir haben es mit organisiertem Verbrechen zu tun.« »Wir sind alle genau beobachtet worden.« Dorcas nickte. »Unsere sämtlichen Gewohnheiten wurden registriert bis runter zu meiner Thermosflasche, die ich zur Gartenarbeit mitnehme.« »Das muß ich Ihnen lassen, Sie sind eine gescheite Person, Miss Dorcas«, gab Jonas zu. »Und das ist auch gut so. Mit Ihrer Kochkunst angeln Sie sich nie einen Mann. Übrigens: Tobias wurde nicht in den Graben geschmissen, während Sie betäubt im Bett lagen und Mr. Bentley und Miss Ellie an der Küste Schnecken schnabulierten, die ich ihnen wesentlich billiger aus dem Garten geholt hätte, wie ich’s immer für Miss Sybil gemacht habe, die aß sie gerne mit Essig und …« »Würden Sie freundlicherweise auf Tobias zurückkommen.« Ben klang dem Schlafen näher als dem Wachsein. »Sehr einfach, mein lieber Mr. H. — H wie Holmes, falls Sie die Bücher nicht kennen —, Tobias kann höchstens eine halbe Stunde lang im Wasser gewesen sein. Sonst würde ich jetzt draußen eine hölzerne Kiste
für ihn machen. Und was sagt uns das? Warum all die Mühe, euch aus dem Haus zu bekommen, wenn die Tat erst verübt wurde, nachdem ihr zurück wart?« »Bevor er in den Graben geworfen werden konnte, mußte er erstmal eingefangen werden«, sagte ich, »und an einem guten Tag konnte das unseren geheimen Widersacher einen ganzen Nachmittag kosten. Du hast sie/ihn hübsch auf Trab gehalten, ja, mein Schatz?« Ich streichelte den Helden der Stunde anerkennend. »Außerdem war bei Tageslicht die Gefahr vorzeitiger Entdeckung größer. Übrigens, warum hat der Feind keine Schritte unternommen, damit Jonas heute nachmittag aus dem Weg ist?« Ben gähnte und riß den Mund so weit auf, daß das halbe Zimmer hineingepaßt hätte. »Weil, wie bereits erwähnt, das in Rede stehende allgegenwärtige Individuum all unsere kleinen Sünden kennt. Er konnte sich völlig sicher fühlen, denn er wußte, kaum sind die neugierigen Arbeitgeber aus dem Weg, igelt sich Jonas mit einem Buch auf seinem Heuboden ein, und nicht mal der Appell zum Jüngsten Gericht bringt ihn vor die Tür.« Übermüdung machte mich gereizt. »Ben, bitte hör auf, im Kreis herumzustolzieren, mein Kopf fühlt sich an wie eine Boxbirne. Vanessa wird in meinem Herzen immer ihren Platz als Hauptverdächtige behalten. Ich weiß, du hältst es für ausgeschlossen, daß ein so hübsches Mädchen durch und durch böse ist, aber sie würde ihre eigene Mutter in Scheiben schneiden und zwischen Toastscheiben servieren, wenn ihr das Roastbeef für ein Sandwich ausgegangen ist.« »Persönliche Abneigung«, Ben ließ sich auf seinen Stuhl fallen und schloß die Augen, »ist weder konstruktiv noch beweiskräftig. Sie haben alle das gleiche Motiv. Ich zum Beispiel bin frei von Vorurteilen, ich mag Freddy, dennoch ist er meine erste Wahl. Wenn ich unrecht habe,
wird es mich freuen, aber er ist der einzige, der sich in den letzten Monaten mit uns in Verbindung gesetzt hat, und darüber hinaus«, er zögerte und schaute auf den Tisch, »haben wir nur sein Wort, daß er sich an dem Vormittag, bevor er abfuhr, nicht mit Tante Sybil getroffen hat. Die Person, die uns zum Essen einlud, wußte nicht nur, daß Tante Sybil verreist war, sondern auch, daß sie bei einer Freundin zu Besuch war.« »Keine besonders brillante Schlußfolgerung, wo sollte sie sonst sein? Wenn du je bei Perry Mason in die Lehre gegangen wärst, wüßtest du, daß die Person, die als letzte am Ort des Verbrechens war, immer unschuldig ist. Freddy mag ein Freak sein, aber er ist kein Idiot. Wäre er derjenige welcher, wäre er in Deckung geblieben.« »Ach hör doch auf.« Ben gähnte wieder. »Wir reden von jemand, der zu allem entschlossen ist. Ich kann nur hoffen, daß dieser Jemand ab und zu Fehler macht, sonst stecken wir in großen Schwierigkeiten.« »Na gut.« Ich nickte erschöpft. »Wir wollen uns nicht darum zanken, wer dein oder mein Wunschtäter ist. Sondern wir sollten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Es fällt mir etwas schwer, mir Tante Astrid oder Lulu vorzustellen, wie sie treppauf treppab und quer durch den Park hinter Tobias herhetzen, aber jede von den beiden ist auf ihre Art eine völlig skrupellose Frau.« »Ich würde sagen, sie ähneln sich stark«, sagte Ben, »in einer sehr wichtigen Beziehung — sie hängen mit fanatischer Liebe an ihren Kindern. Und dann haben wir zu guter Letzt noch Onkel Maurice.« »Der im Grunde seines Wesens ein äußerst habgieriger Mann ist.« Ich gähnte. *** Die Umrisse der Bäume zeichneten sich im ersten
Tageslicht ab. Irgendwie schaffte es Jonas, der Munterste von uns allen zu sein. Er nahm mir Tobias ab. »Dieses Bürschchen könnte uns eine phantastische Geschichte erzählen, wenn er die Worte dafür hätte. Haben Sie daran gedacht, Miss Ellie, daß der Angreifer wahrscheinlich noch auf dem Gelände war, als Sie und Mr. Ben den alten Tiger suchen gingen? Der arme Kerl kann höchstens zehn Minuten im Wasser gewesen sein, sonst wär’s in dem zugebundenen Sack aus mit ihm gewesen.« Dorcas versuchte, ihr Haar hinter den Ohren zu verstauen und unterdrückte ein Gähnen. »Scheußlicher Gedanke, daß er oder sie da draußen im Dunkeln gelauert hat. In dem Wolkenbruch hättest du nicht mal einen Elefanten gesehen, Ellie. Jedenfalls ist der Mistbolzen klatschnaß geworden, hoffentlich kriegt er ‘ne Lungenentzündung.« »Wir sollten«, Ben hob kurz den Kopf, »eine Familienversammlung einberufen. Jeden hierher einladen und aufpassen, wer plötzlich eine schwere Erkältung hat.« »Gar keine schlechte Idee«, sagte ich. »Die Verdächtigen zusammenscharen und ihnen Informationen entlocken; sie gegeneinander aufhetzen. Wie wäre das?« Aber Ben schnarchte. Wieder eine Illusion zerstört. Jonas erbot sich kameradschaftlich, den Herrn des Hauses zu Bett zu bringen. Dorcas und ich räumten das Geschirr ins Spülbecken. Erinnerungen an Tante Sybils Schmuddelregime verboten mir, es über Nacht stehen zu lassen. »Ich habe über den Anruf nachgedacht.« Ich spülte eine Tasse ab und reichte sie Dorcas. »Er oder sie muß die Telefonzelle an der Küstenstraße benutzt haben.« »Warum?«
»Sehr einfach. Wenn Jonas recht hat — was ich vermute —, und der Anschlag auf Tobias nur wenige Minuten bevor wir ihn gefunden haben verübt wurde, dann kann der Angreifer nicht weit gekommen sein. Selbst wenn ein Fluchtauto so nahe wie möglich versteckt war, in dem Regenguß hätte es mindestens fünf Minuten gedauert, das zu erreichen — und das Telefon klingelte, als wir ins Haus kamen.« Dorcas stellte die Tasse behutsam auf die Anrichte. »Hast du daran gedacht«, sagte sie, »daß der Unbekannte das Telefon in Tante Sybils Häuschen benutzt haben kann? Der Schlüssel auf dem Fensterbrett ist kein Geheimnis.« »Du könntest recht haben«, sagte ich. »Als ich heute abend das Häuschen inspizierte, hatte ich das leise Gefühl, da ist jemand, drückt sich an die Wand und späht durch einen Spalt in den Vorhängen. Oder jedenfalls denke ich jetzt, daß ich das dachte. Tante Sybil hat diese Altdamen-Angewohnheit, daher mein Gefühl, vielleicht ist sie zurück. Bis sie dann auf mein Klopfen nicht reagierte.« »Zum Glück für den Unbekannten war Tante Sybil nicht da. Fast könnte man meinen … Wie du schon sagst, Frauen ihres Alters neigen bekanntlich dazu, hinter ihren Spitzengardinen hervorzulugen … ihre mitternächtlichen Spaziergänge, ob der Feind die wohl bemerkt hat und lästig fand? Bei Jonas kann ich verstehen, daß kein Mitglied deiner Familie den für eine Gefahr hält. Will niemand zu nahe treten, aber genau wie Sybil finden sie wohl Gärtner eine Gattung, die keinerlei Beachtung verdient. Haushälterinnen ebenso, hätte ich gedacht, aber ich wohne ja auch mit im Haus.« »Um auf Tante Sybil zurückzukommen.« Ich wischte einen Fleck von der Anrichte. »Glaubst du, jemand hat ihr gedroht und deshalb ist sie weggefahren?«
»Würde mich nicht überraschen. Vielleicht keine handfeste Drohung, nur eine Andeutung, wie gut es ihrer Gesundheit täte, ein paar Wochen zu verreisen. Sie kann sich geweigert haben, bis der Krach mit Jonas den Gedanken verlockender machte.« »Wir lassen uns ganz schön von unserer Phantasie hinreißen, wie?« Ich legte meinen feuchten Lappen zusammen und zog die Schuhe aus. Allmählich hatte ich das Gefühl, seit Anbeginn aller Zeit auf den Beinen zu sein. Dorcas war immer noch putzmunter. »Wenn jemand Sybil überredet hat, wegzufahren, hat er sie bestimmt auch gebeten, darüber Stillschweigen zu bewahren.« »Und Tante Sybil genießt es, daß wir uns Sorgen um sie machen.« »Irgendwie schade, daß sie nicht mit auf der Bühne steht. Sonst hätte ich nämlich gesagt, sie ist die wahrscheinlichste Kandidatin für eine stille Teilhaberschaft an der Verschwörung. Sehe sie nicht in der Hauptrolle — Motiv nicht stark genug, dummerweise. Nach dem Testament roch sie zwar nicht direkt nach Rosen, hat’s aber ganz gut überstanden.« Ich hatte schon vorher über Tante Sybils eventuelle Beteiligung nachgedacht. Eigentlich war sie die Person, die am ehesten Berücksichtigung verdient hatte und ich fand, das Testament war mit ihr am schäbigsten umgesprungen. Onkel Merlins Witze über ihre Ergebenheit und ihre Kochkunst waren wirklich überflüssig. Sie hatte allen Grund, mich nicht zu mögen. Meine Meinung von ihrer Haushaltsführung hatte ich mit meiner prompten Attacke auf die Sedimente jahrelanger Schmuddelwirtschaft nur allzu deutlich kundgetan. Unter diesen Umständen mochte sie sich durchaus mit den Ausgemusterten verbündet fühlen. Und Tante Sybil konnte Katzen nicht ausstehen.
»Aber um Tante Sybil zu verstehen muß man verstehen, wie sie zu Onkel Merlin stand. Für die Außenwelt mag er ein unflätiger alter Brummbär gewesen sein, aber Tante Sybils ganzer Lebenszweck war, mit seinen Pantoffeln im Mund hinter ihm herzudackeln. Merlin mag eine schwierige Kindheit gehabt haben, die seine Einstellung zum Leben deformiert hat, aber auch das entschuldigt nicht, daß er Tante Sybil zu lebenslanger seelischer Sklaverei verurteilt hat.« »Die Frau konnte doch auf und davon.« Dorcas klang nicht allzu mitfühlend. »Manche Leute genießen es, Märtyrer zu sein — keinen Mumm.« »Onkel Merlin gegenüber hatte sie bestimmt keinen, aber auf anderen Gebieten ist sie ganz schön robust. Schau dir nur mal an, wie sie neue Interessen entwickelt hat und sich in ihr neues Leben stürzt. Die Menschen sind vielschichtig. Tante Sybils Schwäche Onkel Merlin gegenüber kann sehr wohl ihre Stärke gegenüber jedem sein, der seine letztwillige Verfügung zu durchkreuzen trachtet. Hätte der alte Mann es für angemessen gehalten, daß sie neben ihm lebendig begraben wird, sie hätte den Leichenbestatter angerufen, ihren Sarg bestellt, wäre reingeklettert und hätte den Deckel zugeklappt. Sie waren nicht nur Cousins, die Umstände hatten sie einander näher gebracht als normale Geschwister. Nein — Sybil würde diese Überfälle nie unterstützen.« »Dann muß es Jonas sein«, kicherte Dorcas. »Sieht passend aus, ist Choleriker und seinem verblichenen Herrn zutiefst ergeben, was willst du mehr?« Ich schubste sie lachend zur Tür. »Dir setzt der Schlafmangel zu. Jonas ist derjenige, der Tobias gerettet hat. Den verdächtige ich genauso wenig wie dich, du alte Füchsin.«
Dorcas sah nachdenklich aus. »Sei nicht zu vertrauensselig, Ellie. Ich rate dir, schau von jetzt an sorgfältig hinter dich. Tobias hat mehr Leben zu verlieren als du.« Schläfrig versprach ich, aufzupassen. Erst später wurde mir klar, daß man, wenn man ständig nach hinten starrt, oft direkt in die Falle tappt, die auf einen wartet. Es regnete immer noch, als wir spät am nächsten Morgen aufstanden, und die Versuchung, sich mit einem guten Buch und einer Tasse heißer Schokolade wieder ins Bett zu packen, war stark. Aber ein Spaziergang zum Pfarrhaus würde mir die Spinnweben aus dem Kopf pusten. Dorcas war während des Frühstücks ungewöhnlich still und gab schließlich zu, daß sie wieder Kopfschmerzen hatte. Deshalb fand ich es sinnlos, sie zu bitten, mitzukommen. Statt dessen erbot sie sich, Tobias in ihr Zimmer mitzunehmen und bis zu meiner Rückkehr zu bewachen. Nachdem ich mir Regenmantel und Schal geholt hatte, hielt ich es für ein Gebot der Höflichkeit, Ben mitzuteilen, wo ich mich für die nächste Stunde aufhalten würde. Ich fand ihn im Wintergarten, wo er mit einem Knäuel Schnur und braunem Packpapier kämpfte. Er nahm die Schere aus dem Mund und ließ mich wissen, daß ich gerade recht käme zum Abschied. Der Lump! Er türmte und überließ mich einer Bande von Halsabschneidern! »Sei nicht blöd«, sagte er. »Nicht ich nehme Abschied, sondern das Buch. Dieses Haushaltskunstwerk wandert heute in den Briefkasten. Ich will kein Risiko mehr eingehen.« »Herzlichen Glückwunsch! Du hast es fertig.« Fast hätte ich ihn umarmt, aber er wich zurück und das war wohl auch gut so, denn er hatte wieder die Schere zwischen den Zähnen. »Wirst du dich zusammennehmen«, murmelte er durch seine stählernen Hauer, »oder mach dich
wenigstens nützlich.« Er drückte meinen Finger zum Festhalten auf die Strippe und knupperte einen Knoten, der mich mit Amputation bedrohte. »Autsch! Ben, sei nicht solch ein Griesgram, das wird eintönig. Eigentlich mußt du doch in Hochstimmung sein.« Er spuckte die Schere aus und mühte sich weiter mit der Schnur. »Irgendwo ja, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich habe mich verkauft — genau wie du.« »Ich?« »Sicher. Du hast dich den Vorstellungen anderer Leute, wie du aussehen solltest, angepaßt, und alles mit starrem Blick auf Geld, das du wahrscheinlich nie bekommst.« Und das war der Mann, der mich so lange mit Salaten gefüttert hatte, bis ich nur noch grün sah? Ich knüllte ein Stück Packpapier zu einem Ball und warf ihn durchs Zimmer. »Ben«, sagte ich, »du bist dem Problem meiner neuen Erscheinung mehrmals ausgewichen, warum rückst du nicht endlich damit raus und sagst mir, was stört dich daran, wie ich jetzt aussehe?« »Gar nichts.« Ben zerrte noch einmal an der Schnur. »Du siehst großartig aus. Aber meinen Beifall brauchst du nicht. Du hast dich selber genauso bewunderungswürdig renoviert wie das Haus. In beiden Fällen war geeignetes Rohmaterial vorhanden. Merlins ganze Schlamperei und Tante Sybils miserable Haushaltung haben den Charme des Hauses nicht zerstören können. Daran erinnere ich mich, wenn ich an den ersten Abend zurückdenke, das Haus steckte in einem Mantel aus Dreck und Moder, du stecktest in diesem gräßlichen purpurroten Leichenhemd und ich war von euch beiden fasziniert.« Er war intensiv mit der Schnur beschäftigt. Ich mußte mich mit beiden Händen auf dem Tisch
abstützen. »Du warst — von mir fasziniert?« »Und wie«, sagte er. »Du warst die komischste, verfressenste Person, die mir je begegnet ist.« »Vielen Dank.« Gründlich ernüchtert zerknüllte ich ein weiteres Stück Packpapier. Warum hatte er nicht gesagt: bezaubernd, atemberaubend, sinnenbetörend? »Fette Menschen glänzen oft auf den Gebieten, die du erwähnt hast«, stimmte ich zu. »Das gehört zum Image wie Leichtfüßigkeit und schöne Haut.« »Ist dir klar, warum ich dich in deiner alten Gestalt lieber mochte, als du noch nicht so verbittert warst?« »Oder als meine Gefühle besser versteckt waren. Ja, du hast was dagegen, daß ich schlank bin, weil du mich jetzt nicht mehr als minderwertig abtun kannst.« Ben erwürgte ein unschuldiges Stück Strippe, dann starrte er mich wütend an. »Du bist diejenige, die sich selber nicht genügend wertschätzt. Wenn ich dir sage, daß du einen klugen Verstand hast, bist du beleidigt — du möchtest nur hören, daß du einen Körper wie ein Filmstar hast!« »Nur, weil das für mich alles so neu ist«, gab ich zurück. »Ich komme mir vor wie ein Kind, das gerade ein phantastisches Spielzeug bekommen hat. Ich möchte, daß jeder es bewundert.« »Vorsicht! Nachher will jeder damit spielen!« »Du bist widerlich. Es stimmt, ohne Onkel Merlins Testament hätte ich vielleicht nie abgenommen, aber ich finde, das heißt nicht, daß ich mich verkauft habe. Und wenn, dann ist es mir auch egal. Ich bin mit mir selber sehr viel glücklicher als vorher, also warum können wir beide nicht sagen ‘Ende gut, alles gut’?« »Oder Anfang.« Ben strich sich eine Locke glatt, die in die Luft stand. »Das ist ja in unserem Fall das Gleiche, nicht?« »Und das heißt?« fragte ich mit angehaltenem Atem.
»Und das heißt, sehr bald wird jeder von uns wieder sein eigenes Leben aufnehmen, und zwar da, wo wir aufgehört haben, als sich die Kultivierte Herrenbegleitung einschaltete.« »Kann schon sein.« Ich verbog eine verirrte Büroklammer bis zur Unkenntlichkeit. »Was hast du für Pläne, noch einen Roman?« »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mein eigenes Restaurant aufzumachen, vielleicht im Stil der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und mit …« »Ben, das ist eine tolle Idee! Und die beste Art, dein Kochbuch zu vermarkten! Vielleicht findest du ein altes Gasthaus, stell dir mal vor, wieviel Spaß das macht, sowas zu renovieren — wir könnten ein paar von den Möbeln auf dem Dachboden nehmen und es ‘Bei Abigail’ nennen.« »Wir?« Bens Stimme war ganz heiser, war er plötzlich erkältet? Seine Augen wirkten angestrengt. Der arme Mann, was hatte er bloß mit der Schnur gemacht — sie war völlig verknäult. Er wandte den Blick von mir ab und all mein Mitgefühl schwand, als er sagte: »Ich dachte, du bist ganz scharf darauf, nach London zurückzugehen und den Swinging Set im Sturm zu erobern.« »Das glaube ich kaum«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Dieser Ort hat für mich noch andere Anziehungspunkte, die nichts mit dem Haus zu tun haben.« Ben warf sein Päckchen auf den Tisch und starrte es haßerfüllt an. Eine Träne erschien in seinem Augenwinkel und er wischte sie ärgerlich weg. »Wenn das so ist, dann solltest du ab sofort an deiner Gesangstechnik arbeiten. Obwohl dein geliebter Herr Pfarrer bestimmt nichts dagegen hat, daß du neben dem Ton hängst und immer einen Takt hinterher bist. Manche Leute werden meinen, daß deine übrigen Begabungen
brachliegen, aber ich weiß, du wirst dem Damenkränzchen eine große Zierde sein.« »Bist du endlich fertig?« fauchte ich. »Habe an alles gedacht.« Der Schwachkopf meinte offenbar, daß ich von seinem Kochbuch redete. Er langte nach seinem Tweedjackett, das er über einen Stuhl geworfen hatte, und sagte: »Ich habe Mr. Braggs Büro angerufen und er wird dort in meiner Gegenwart das Manuskript prüfen und dann mit mir zusammen zum Postamt gehen und seine Beförderung bezeugen. Hoffentlich landet es nicht unter einem Haufen Schund und wird nie wieder gesehen.« Ich lächelte bösartig. »Um das Verlegen würde ich mir keine Sorgen machen, dein Manuskript ist ein Knüller. Aber meinst du nicht, du warst eine Spur zu tüchtig?« »Wieso?« »Hättest du nicht besser mit dem Einwickeln gewartet, bis Mr. Bragg es gesehen hat?« Sein Wutschrei war Musik in meinen Ohren. Ich entwischte durch die Tür, während er an der verknoteten Schnur herumzerrte und fluchte, daß seine Schere verschwunden war. Ganz leise legte ich sie auf den Intarsientisch in der Halle und verdrückte mich. Ich durchquerte den tropfenden Garten, der nasse Boden sog schmatzend an meinen Füßen, aber das störte mich alles nicht. Wenn ich Ben so bis aufs Blut reizen konnte, vielleicht hegte er ja doch irgendwelche Gefühle für mich. Und ewig sprießt die Hoffnung im törichten Weiberbusen. Mit schweren Füßen, aber leichten Herzens stapfte ich die Auffahrt hinunter, umrundete den jungfräulichen Zementhaufen bei Tante Sybil, den jetzt eine Plastikplane deckte, und bog in die Küstenstraße ein. Hier nahm der Sturm an Stärke zu und trug mich davon wie eine leere Papiertüte. Ich fand Jonas bei der Arbeit in einem kleinen
Wäldchen ein paar hundert Meter vom Eingangstor entfernt. Er häufte Sperrmüll auf einen riesigen Schrotthaufen aus kaputten Kisten, zerbrochenen Stühlen, zerrissenen Bettdecken und aufgeweichten Matratzen. Er stocherte nach einem rosa-gelben Fetzen, der aussah wie die Ecke einer Plastiktischdecke und aus der Mitte des Haufens hervorlugte. Für einen Mann über siebzig war er ein recht munterer alter Knabe — kaum der dahinsiechende Tapergreis, den mir Tante Sybil letzten Winter geschildert hatte. Dorcas hatte recht, in den letzten Monaten hatte er sich verändert. Vielleicht hatte ihn der Umgang mit jungen Leuten aufgeheitert, oder aber die spannungsgeladene Atmosphäre brachte ihn zum Aufblühen. Ein Windstoß packte Jonas’ verbeulten alten Filzhut, er hopste außer Reichweite und segelte wie eine Möwe über den Abgrund ins Meer hinaus. »Und das könnten Sie sein, Miss, wenn Sie zu nahe an den Klippen entlanggehen«, sagte er trocken. Ich achtete auf meine Schritte, als ich meinen Weg zum Pfarrhaus fortsetzte und das Tor zum Friedhof durchschritt. In Gedanken ging ich wieder die Liste der Verdächtigen durch. Die neueren Grabsteine waren aus glänzendem weißen Marmor. Sie trugen scharf konturierte schwarze Buchstaben und erhoben sich fest und aufrecht aus dem Boden, während ihre älteren Brüder krumm und schief ragten und jeden Moment umzustürzen drohten. Durch das tropfnasse, bewegte Laub der Bäume konnte ich die dunkle, geduckte Einfriedung der Grantham-Familiengruft sehen. Der Schauder, der mich überkommen hatte, als ich das Gebäude bei Onkel Merlins Beisetzung betrat, kehrte wieder, aber wie ein Kind, daß seinen Finger unbedingt in den Löwenkäfig stecken muß, mußte ich zwanghaft
hineingehen, obgleich ich mir befahl, so schnell wie möglich zum Pfarrhaus zu laufen. Vielleicht verdienten Onkel Merlin und sein Vater, dort zu liegen, aber nicht Abigail, nicht die junge Frau, die übers Gras einem rotgelben Drachen hinterhergerannt war, während ein kleiner Junge sich an ihre Rockzipfel klammerte. Nur ihr Name stand knapp und bündig auf der Messingplatte an ihrem Sarkophag, kein Bibelspruch, weder Geburts- noch Todestag und nicht ein Wort der Trauer oder der Zuneigung. So lag sie in ihrem steinernen Behältnis neben ihrem Gatten, der sie verachtet und ihrem Sohn, der sie offenbar geliebt hatte. In diesem Dunkel würde sie auf ewig liegen. Die düsteren Gedanken machten mich schreckhaft. Waren das Schritte vor der Tür? Ein Mausoleum stand nie an der Spitze meiner Lieblingsplätze für einen Überfall. Beunruhigt spähte ich hinaus auf den Friedhof. In nächster Nähe knickte ein Zweig — ein zerbrochener Trommelstock in den Händen kichernder Kinder. Dieser Ort verwandelte Gelächter sofort in etwas Unheimliches, Hinterhältiges, das nichts Kindliches oder Fröhliches mehr an sich hatte — wie die Stimme am Telefon. Ebenso schaurig war meine Beschwörung von Onkel Merlins Geist, der sich zum Meister über das letzte Gelächter aufgeworfen hatte. Meine fiebrige Phantasie gaukelte ihn mir gräßlich vor. Seine Totenfratze starrte mich aus feurigem Inferno an. »Du hast dich hübsch zum Narren gemacht, Ellie mein Mädchen. Den Schatz hast du nicht gefunden, deinen Mann bekommst du nicht, und jetzt ist dir die ganze Meute auf den Fersen. Hörst du sie nicht unter den Bäumen bellen? Packt sie, faßt!« Ich zwinkerte heftig, um den Nachtmar zu bannen, klammerte mich an die Tür und holte tief Luft. Bevor ich auch nur schlucken konnte, traf mich schon ein anderer Gedanke wie ein Hammer zwischen die Augen. Es war
keineswegs lustig, von Geistern umgeben zu sein, aber wenigstens standen sie in dem Ruf, zart und körperlos zu sein, ohne die für einen Übergriff nötige Muskelkraft. Der Feind der letzten Nacht war sehr lebendig gewesen. Trieb er oder sie sich jetzt draußen auf dem Friedhof herum, duckte sich hinter den Grabsteinen, dürstete nach frischem Blut — tierischem, pflanzlichem oder menschlichem? »Ist da jemand?« krächzte ich, was lächerlich war. Der Feind würde mir kaum die Wahrheit sagen. Schweigen antwortete und ich glaubte kein Wort. Höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen. Ich stolperte die Stufen hinunter, zog den Kopf ein und rannte los. Zum ersten Mal trauerte ich meinen verlorenen Pfunden nach. Vor ein paar Monaten hätte es genügt, mich auf den Feind fallen zu lassen, um ihn kampfunfähig zu machen. Hätte ich doch bloß bei Jill Judounterricht genommen! Ein Schatten, der auf mich zusegelte, löste bei mir einen hysterischen Anfall aus. Mit einem Angstschrei und wildem Flügelschlagen entfloh eine Möwe und ich stolperte weiter. Der Nebel wurde dichter. Selbst im hellsten Tageslicht kommt Ortssinn für mich der Fähigkeit gleich, Chaucer im Original zu lesen. Jetzt irrte ich in immer engeren Kreisen umher, stieß mit Grabsteinen zusammen und kämpfte mit herabhängenden Zweigen, die mir das Gesicht zerkratzten und sich in meinem Haar verfingen. Schließlich hing ich fest. Ich versuchte verzweifelt, den Knoten zu lösen, aber meine Haarsträhne ließ sich nicht befreien. Mit zitternden, kältesteifen Fingern riß ich an dem Zweig, um ihn abzubrechen. Mit hocherhobenen Armen war ich schutzund wehrlos … da packten die Hände nach mir. »Ich ergebe mich.« Meine Gefangennahme machte mich schlagartig eiskalt und berechnend. Der Feind sollte denken, daß ich
mich fügte. »Ellie, sind Sie’s?« fragte die Stimme von Rowland Foxworth. *** Nachdem er mich aus den Klauen des bösartigen Baumes befreit hatte, erzählte er mir, er sei auf dem Rückweg von einem seelsorgerischen Besuch gewesen, da habe er ein Rascheln gehört und sei dem nachgegangen. »Wie lange waren Sie gefangen?« fragte er mich, als er mir die Tür zum Pfarrhaus offenhielt. »Wie lang ist die Ewigkeit?« fragte ich. Rowland hatte eine wunderbar beruhigende Wirkung auf mich. Die Stunde, die ich in seinem Arbeitszimmer verbrachte, heißen Kakao aus den Händen der mürrischen Mrs. Wood schlürfte und meine Zehen an seinem Kamin toastete, trug viel dazu bei, mir mein Vertrauen in die Menschheit wiederzugeben. Trotzdem ermahnte mich Rowland, nachdem er von mir die letzten Begebenheiten erfahren hatte, niemandem unbesehen zu glauben. »Sie sind von Leuten umgeben, die Ihnen noch vor sechs Monaten wildfremd waren. Jonas ist genau so ein Sonderling und Einsiedler wie sein früherer Arbeitgeber und was wissen Sie wirklich über diese Dorcas?« Ich lachte. »Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis, aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Jonas ein Massenmörder ist, der sich vierzig Jahre lang in Merlins Schloß versteckt hat? Und was Dorcas anbelangt, der würde ich mein Leben anvertrauen.« »Ellie, wir wollen hoffen, daß Sie nie in die Situation kommen. Aber Sie haben ja Ihren Verlobten. Wie lange kennen Sie ihn eigentlich?«
»Seit Urzeiten«, sagte ich, und es kam mir wirklich so vor. Rowlands Gesichtsausdruck war schwer zu interpretieren. Er berichtete, er habe sich durch die Predigtsammlung und die privaten Unterlagen von Pfarrer Hempstead gearbeitet, aber nichts über die Granthams gefunden. »Könnten Sie mir die Kiste mit den Papieren überlassen?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf und erklärte, daß der Bischof sehr strenge Ansichten über Kircheneigentum hatte. Er versprach aber, sich zu melden, sobald es etwas zu berichten gab. Damit mußte ich mich zufrieden geben. Als ich in Merlins Schloß zurückkehrte, war Ben immer noch fort, was mich deprimierte. Obwohl Rowland mich nach Hause begleitete, hatte ich immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden. Auch Jonas’ Ankunft wenige Minuten später heiterte mich nicht auf. Er fing an zu meckern, weil das Essen nicht auf dem Tisch stand. »Die meisten Menschen in meinem Alter«, er zog sich die Stiefel aus, »bekommen ‘Fahrbaren Mittagstisch.’« »Ihr eigenes Fahrgestell ist auch noch nicht eingerostet. Der Koch hat sich einen freien Nachmittag genommen, aber Kopf hoch. Ich gebe Ihnen einen Intensivkurs im Handhaben von Büchsenöffnern. Betrachten Sie es als Beschäftigungstherapie für Senioren.« Jonas ärgerte sich. »Ich pfeife noch nicht auf dem letzten Loch und hab’s auch so bald nicht vor. Wenn jemand hinfällig ist, dann Miss Dorcas — fühlt sich immer noch elend. Sah sie vor einem Weilchen, als ich Gerümpel zum Verbrennen geholt habe. Sie sagte, sie bleibt heute nachmittag auf ihrem Zimmer.« Ich machte mir Sorgen um Dorcas, klopfte aber dann
doch nicht an ihre Tür, um sie zu fragen, wie es ihr ging. Schlaf war die beste Medizin und ich wollte sie nicht wecken, falls sie gerade eingenickt war. Langsam hüllte mich das Haus schützend ein. Merlins Schloß war mein Freund. Sogar wenn Ben fort war, würde es nicht zulassen, daß mir etwas geschah. Ich ging hinauf, zog meine nassen Sachen aus, nahm eine Stunde lang ein heißes, duftendes Bad, rubbelte mich mit einem warmen, flauschigen Handtuch ab — die neue Heizung im Badezimmer war himmlisch — und fühlte mich gegen alles gewappnet, was die Welt für mich bereithielt. Angetan mit Blue Jeans (in Würdigung der Tatsache, daß ich jetzt eine Taille hatte) und einem karierten Hemd räumte ich mein Schlafzimmer auf, wischte Staub, reinigte die Badewanne und polierte die blinkenden Armaturen. Das große Schlafzimmer wartete immer noch auf seine neuen Gardinen und die Tagesdecke, war aber ansonsten blitzsauber und ordentlich. Dorcas und Ben machten ihre Zimmer stets selber sauber. Was also nun? Ich wollte immer schon den Speiseaufzug ausmessen und sehen, ob sich ein fester Boden einbauen ließ, um daraus einen Wäscheschrank zu machen. Ich ging den Flur entlang, öffnete die Tür vom Speiseaufzug und griff nach der Lichtkordel. Irgendwie hatte sie sich in der Seilrolle verfangen. Ich streckte meinen Arm aus so weit ich konnte, kam aber nicht heran. Sollte ich einen Stuhl holen? Meine Eitelkeit verhinderte das und wurde mir zum Verhängnis. Ich war sicher, die hölzerne Plattform mit den starken Leisten würde mich bei meiner jetzigen Hagerkeit tragen. Zuversichtlich stieg ich rauf, hielt mich mit einer Hand am Handseil fest und griff mit der anderen nach der Lichtkordel. Ein unheilvolles Knarren drang in meine Ohren. Zu spät versuchte ich, den Rückzug anzutreten; die Plattform kippte heftig zur Seite und raubte mir das
Gleichgewicht. Meine Füße strampelten in der leeren Luft, verzweifelt klammerte ich mich an das Seil. Ich stürzte ab. *** »Ich glaube nicht, daß sie tot ist«, bemerkte aufmunternd eine Stimme. »Wenn nicht, macht sie’s täuschend echt nach.« Das war Ben, ich war erstaunt, wie wütend er sich anhörte. Die Speisekammer. Der Gedanke war schemenhaft — ein Rauchwölkchen —, ich mußte es bei seinem dünnen Schwänzchen packen, bevor es sich auflöste. Kein Wunder, daß Ben, der arme Ben, wütend auf mich war. Ich hatte in der Speisekammer eine Bruchlandung vollführt, dem Landeplatz für Speiseaufzug Nummer Neun. Ich Tollpatsch hatte die Rollbahn verfehlt und die Schüssel mit der aufgeschäumten Lachs-Mousse zerschmissen. Der arme Ben! Aber er war gar nicht wütend auf mich. Meinen armen, zertrümmerten Kopf, der sich mitten im freien Fall von meinem Körper getrennt hatte, hielt er in seinen wunderbar sanften Händen und preßte seine Lippen auf die meinen. Langsam, genüßlich versammelte sich mein Körper wieder. Arme, Beine, Füße, Hände, alle schwebten wieder zusammen und zu meiner großen Erleichterung funktionierte alles. Ich spürte jeden Zentimeter: das Prickeln begann in meinen Zehen und ergoß sich in einer brennenden Woge aufwärts. Für eine Ewigkeit lag ich da und kostete das Gefühl aus, daß ich am Leben war und Ben mich küßte. Nach einer Weile fand ich es nur fair, den armen Mann zu beruhigen und ihm zu sagen, daß diese sensationelle Galavorstellung nicht unser Schwanengesang zu sein brauchte. »Hallo«, sagte ich und öffnete mühsam die Augen.
Meine Lider waren gebrochen, aber ansonsten war ich in großartiger Verfassung. »Wirst du wohl still sein«, befahl Ben. »Mund-zuMund-Beatmung muß perfekt getimt sein.« Dr. Melrose wurde geholt und verkündete nach vielem Tasten und Kneten, daß keine Knochen gebrochen seien und ich mich sehr glücklich schätzen könne. Das Gesamtergebnis meiner Verletzungen lief auf eine leichte Gehirnerschütterung hinaus, für die er ein Beruhigungsmittel und Bettruhe verordnete. »Und in Zukunft, Miss Simons«, ermahnte er mich, während er den Hut aufsetzte und seine kleine schwarze Tasche nahm, »lassen Sie die Zirkusnummern sein — es sei denn, Sie wollen als die bucklige Glöcknerin von Notre Dame durchs Leben humpeln.« Feierlich gelobte ich, mich in Zukunft mit musterhafter Besonnenheit zu betragen. Aber wie ich später zu Dorcas sagte, als sie mir einen Teller heiße Suppe brachte, von jetzt an konnten weder Ben noch ich auch nur einen Finger rühren, ohne daß die ganze Welt über uns zusammenstürzte. Den ganzen Vormittag über hatte ich jemanden hinter mir gespürt und mich immer wieder umgeschaut. Darüber hatte ich ganz vergessen, nach vorn zu schauen, als ich den Speiseaufzug öffnete. Jemand hatte sich an dem Seil zu schaffen gemacht, bestätigte mir Dorcas. Jonas und Ben schauten nach, als der Arzt gegangen war und fanden einen sauberen Schnitt halb durch das Seil, die andere Hälfte war zerfasert abgerissen. Ich verbrachte den Rest des Tages und auch den nächsten im Bett, ein Kissenberg stützte meinen zerschlagenen, schmerzenden Kopf. Ben sah mehrere Male nach mir, einmal brachte er mir eine Postkarte von Tante Sybil. Sie war in einem fünfzig Kilometer entfernten Badeort abgestempelt, erwähnte aber mit keinem Wort
die verpaßte Verabredung. Wie es schien, hatte man uns hinter die Fichte geführt und in eine Falle gelockt, in die wir auch prompt getappt waren. Aber wir waren noch nicht tot. In beiden Nächten hatte ich Wachträume, die so schwer von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. Ich fühlte, wie Ben sich über mich beugte, mit seinen langen kühlen Fingern mein Haar zurückstrich und seine Lippen sanft und sehnsüchtig an meinen Mundwinkel drückte. Beim zweiten Mal sah ich gerade noch schlaftrunken, wie meine Tür vorsichtig zuging und hörte leise Schritte sich im Flur entfernen. Dorcas mußte nach mir geschaut haben; ich sank wieder in Schlummer. Tobias war mein ständiger Begleiter. Er kuschelte sich auf meinem Bauch zusammen — auch er ein BeinaheOpfer der mörderischen Machenschaften. Jemand war fest entschlossen, wenigstens einen der Bewohner von Merlins Schloß für immer zu beseitigen, wenn sie denn schon nicht freiwillig weichen wollten. Sollten Ben oder ich unser Quartier in der Familiengruft aufschlagen, fiel der Besitz an die Familie — ausgenommen Tante Sybil. »Komplett verkehrt in deinem Zustand«, fauchte Dorcas, als sie mir das Mittagessen brachte und ich die Situation mit ihr besprechen wollte. »Du sollst dich ausruhen und dir nicht den Kopf zerbrechen.« »Der Mörder ist bestimmt deiner Meinung.« Ich legte meinen Suppenlöffel hin. »Wenn ich hier liege wie ein bratfertiges Hühnchen, bin ich eine leichte Beute. Dorcas, wenn das ein Krimi wäre, auf wen fiele der stärkste Verdacht?« »Auf mich natürlich — tauche aus dem Nichts auf, Zeugnisse alle gefälscht, alter Groll gegen die Familie. Onkel Merlin hat meinen Vater lebenslänglich hinter die Gitter eines feuchten Zuchthauses in Cornwall gebracht … oder ich weiß über den Schatz Bescheid und …« »Sehr komisch«, sagte ich. »Der Nächste bitte.«
»Ganz klar — unser fescher, dunkelhäutiger Held mit ebenso dunkler Vergangenheit, Herr Bentley T. Haskell.« »Dorcas, Ben kommt aus sehr soliden Verhältnissen, seine Eltern sind redliche, anständige Leute.« »Mag sein«, seufzte meine Freundin. »Aber du mußt das mal vom Standpunkt der Polizei betrachten, sollte sie in Erscheinung treten. Da ist ein Mann, den du bei einer Vermittlungsagentur aufgelesen hast. Erst hat er dich dazu gebracht, einem senilen alten Mann vorzugaukeln, ihr wärt verlobt, und jetzt hat er sich in diesem Haus eingenistet …« »Moment mal!« Ich setzte mich so rasch im Bett auf, daß ich mir schmerzhaft den Hals verrenkte. »Ich habe Ben den Heiratsantrag gemacht!« »Spielt keine Rolle. Tote geben keine zuverlässigen Zeugen mehr ab. Ein Abenteurer, jedenfalls wird er dem Chefinspektor von Scotland Yard so vorkommen. All die treusorgenden Verwandten hat er um ihre Hoffnung getrogen! Siehst du nicht die Schlagzeile vor dir: ‘Heiratsschwindler und Ex-Callboy ermordet reiche Verlobte’?« »Nicht ohne Motiv«, sagte ich. »Und Ben hat keins — ohne mich bekommt er gar nichts. Das Testament macht zur Bedingung, daß die Leistungen gemeinsam erbracht werden.« Dorcas schien noch nicht überzeugt, da ging die Tür auf und Ben kam herein. »Haben die Damen einen netten Plausch?« »Spitzenmäßig! Watson und ich haben den Fall gerade gelöst. Dorcas, fessle ihn mit Handschellen an mein Bett. Dann geh zum Telefon und rufe unsere freundliche Ortspolizei. Laß dir Zeit.« Die ihm solchermaßen drohende Gefahr ließ Ben kalt. Er sagte: »Wenn ihr Frauen weniger Zeit mit
Phantasiegespinsten vergeuden und statt dessen das Beweismaterial betrachten würdet, kämen wir besser voran!« Ich war fest entschlossen, die Polizei erst hinzuzuziehen, nachdem wir beweisen konnten, wer der Übeltäter war. »Okay, Mr. Schnelldiagnose.« Ich schaute zu, wie er an das Fußende meines Bettes ging und sich darüberlehnte. »Dann schießen Sie los!« »Sei nicht so frech«, tadelte er mich. »Ich habe vielleicht keine Antworten, aber mit Sicherheit einen Haufen Fragen. Woher zum Beispiel wußte der Feind, daß du dumm genug bist, in den Speiseaufzug zu klettern?« Ich hatte genügend Zeit gehabt, darüber nachzugrübeln. Beichten soll ja der Seele gut tun, also holte ich tief Luft und verkündete: »Als ich mit Freddy Plappermaul die große Hausbesichtigung machte, habe ich erwähnt, daß ich diese prähistorische Vorrichtung zum Wäscheschrank umbauen wollte.« Ben nahm diese Neuigkeit auf, ohne mich groß zu tadeln. »Trotzdem, vielleicht hättest du ja nicht mehr die Zeit dafür gefunden. Als Mord-Methode finde ich das schlampig und wenig treffsicher.« »So würde ich meinen kürzlichen Zusammenstoß mit dem Tod nicht beschreiben!« Ich versuchte, mich aufzurichten und sank unter Schmerzen zurück, wobei Dorcas etwas nachhalf. »Außerdem, wenn wir deine Theorie akzeptieren, daß wir es mit einem rasenden Irren zu tun haben, können wir da computermäßige Berechnung erwarten?« »Wahnsinn«, sagte Ben, »hat die unangenehme Eigenschaft, mit aberwitziger Schläue Hand in Hand zu gehen. Wie kann er sonst der Welt ein relativ normales Gesicht entgegenhalten?«
Ich bekam eine Gänsehaut, erwiderte aber ziemlich ruhig: »Willst du andeuten, daß wir etwas übersehen?« »Ganz genau!« Bens Augen blitzten unter zusammengezogenen schwarzen Brauen und mir kam der Verdacht, daß er die Situation irgendwie genoß. »Obwohl«, fuhr er fort, »langsam passen einige Stücke von dem Puzzle zusammen. Zum Beispiel geschah der Besuch des Feindes am letzten Sonntag einzig und allein, um den Speiseaufzug zu manipulieren. Die Entführung von Tobias war eine Dreingabe, und ich bezweifle, daß sie zum ursprünglichen Plan gehörte. Dein Kater war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich hatte von Anfang an Probleme mit der Vorstellung, daß unser geheimnisvoller Gast seine ausgeklügelten Pläne mit dem einzigen Ziel gemacht hat, dieses räudige Fellbündel zur Strecke zu bringen. Wir haben ihn das bewegliche Ziel genannt, weißt du noch? Wir hätten das Ersäufen im Schloßgraben für das ansehen sollen, was es war — ein Nebenschauplatz.« »Ich werde Tobias begreiflich machen müssen«, sagte ich sarkastisch, »daß er nicht der Star des Dramas war, sondern nur ein Edelstatist.« »Ach, er war mehr.« Ben erwiderte gleichmütig meine wütenden Blicke. »Er fungierte als Visitenkarte des Feindes. Zusätzlich zu seinen sonstigen psychischen Problemen ist dieser Verrückte ein Egomane — daher die Anrufe, wo er sich an seiner eigenen Schläue weidete. Tobias in seinem Sack war ein greifbarer Beweis, wer diesen Krieg der Köpfe gewann.« »Wirst du wohl aufhören!« knurrte ich. »Dir macht es direkt Spaß, dem Feind die Bälle zuzuspielen.« »Nicht doch.« Dorcas, die sehr still und in Gedanken versunken dagesessen hatte, raffte sich auf. »Du darfst dich nicht aufregen, Anweisung des Arztes.« »Versuch es doch mal so ‘rum zu sehen«,
argumentierte Ben. »Monatelang warst du von Abigail fasziniert, hast versucht Ordnung in das zu bringen, was du von ihr wußtest und hast gehofft, das würde dich zu dem Schatz führen. Trotz der Erbschaft, die winkte, leuchtete diese Spur für mich nie so deutlich wie für dich. Irgendwie fand ich die ganze Idee ein bißchen weithergeholt. Aber du warst glücklich damit, die einzelnen Stückchen zusammenzusetzen, darum ließ ich dich. Aber jetzt haben wir es mit einer anderen Art von Jagd zu tun und ich möchte nicht auf einer Bahre hinausgetragen werden, ohne zu wissen wie und warum und wer.« Er kam an die Seite meines Bettes und berührte leicht meine Hand. »Ich meine, die Zeit ist reif für die Rückkehr aller Verdächtigen an den Ort des Verbrechens. Wie wäre es mit einem Familientreffen an diesem Wochenende?« »Hab doch Mitleid«, jammerte Dorcas, »die Frau liegt immer noch auf ihrem Krankenlager.« Ben schaute mir in die Augen. »Bring mir meine Krücken«, rief ich. »Was bin ich für eine miserable Gastgeberin, ich räkele mich im Bett, wo wir jeden Tag Gäste erwarten.«
Sechzehn Totale Überwachung. Das war der Schlüssel zu Erfolg und Sicherheit. Ben wiederholte diesen Spruch so oft er konnte. Während wir die Verdächtigen diskret überwachten, wollten wir einander genauso sorgfältig im Auge behalten. Tagsüber sollte Dorcas ununterbrochen Dienst tun und Ben und mich unauffällig beobachten, falls einer von uns mit einem der Verdächtigen allein war. »Nichts zu Auffälliges«, warnte Ben sie. »Bleib im Hintergrund. Du strickst nicht zufällig? In Romanen sitzen
feine Damen, die sich als Spione betätigen, in dunklen Ecken versteckt und klappern mit ihren Nadeln. Keiner nimmt sie je wahr.« »Alte Leute auch nicht.« Jonas nickte weise und strich sich den Schnurrbart. »Kein Mensch guckt uns zweimal an. Wollen nicht dran erinnert werden, daß sie eines Tages im selben Boot landen. Fett, dünn, groß, klein, traumhaft schön oder so häßlich, daß sie Schiffe versenken, schließlich verschrumpeln sie alle und sehen egal aus.« »Na gut, Jonas.« Ben grinste. »Soll niemand sagen, das Leben fängt nicht mit Siebzig an. Eine Spionagekarriere liegt vor Ihnen, aber seien Sie um Himmels willen geschickt, trampeln Sie nicht mit einem Gartenschlauch und einem Sack Düngemittel durchs Haus.« Jonas warf einen kundigen Blick aus dem Küchenfenster. Zum ersten Mal in dieser Woche zeigte sich der Himmel in klarem, durchsichtigem Blau. »Sieht nach Regen aus, ich komme besser rein und putze das Silber.« »Wenn Sie so weitermachen«, sagte Ben und klopfte dem alten Mann auf die Schulter, »geben wir Ihnen eine Gehaltserhöhung von einem Schilling pro Woche und befördern Sie zum Butler. Dorcas, ich möchte, daß du auf einer Matratze neben Ellies Bett kampierst. So könnt ihr im Schichtwechsel schlafen. Ich gebe Freddy mein Zimmer und ziehe in das neben deinem, Ellie, dann hast du nichts zu befürchten. Du bist doch auch der Meinung, daß die Türen unverschlossen bleiben sollten, um dem Feind Gelegenheit zum Angriff zu geben, sobald die Lichter aus sind?« Diese Strategiebesprechungen trugen nicht dazu bei, meine Vorahnungen zu zerstreuen. Was, wenn wir — wie Dorcas meinte — die Opfer einer Verschwörung waren?
Wenn ich schon großes Mißtrauen gegenüber einem oder mehreren meiner Gäste hegte, die womöglich eifrig das Gesellschaftsereignis des Jahres planten — ein Doppelbegräbnis für Ben und mich, so war Dorcas noch mehr verunsichert. Seit dem Abend von Tobias’ BeinaheTragödie war ihre energische, muntere Art verblaßt. Dann folgte Schlag auf Schlag mein Unfall und machte aus Dorcas ein Nervenbündel. Immer wieder ertappte ich sie im Laufe des Tages dabei, wie sie zusammengesunken dasaß und ins Leere starrte. Am Freitagabend, eine halbe Stunde vor Ankunft unserer Gäste, kam sie mir in den Salon hinterher und flehte mich an, Ben dazu zu bringen, alles abzusagen. »Ellie, das ist Wahnsinn!« Sie packte mich am Arm und stieß mich auf einen Stuhl, als wolle sie mich solange gefangensetzen, bis ich Vernunft annahm. »Schluß damit! Du spielst mit einem Vulkan. Jetzt rumort das Böse unter der Oberfläche, aber seine Gewalt wächst, bis es schließlich ausbricht — und jeden in diesem Haus vernichtet.« Die arme Dorcas, meine treue Freundin. Nicht einmal mehr ihre Stimme war die alte und ihre Augen glänzten fiebrig. Hoffentlich bekam sie nicht wieder einen Migräneanfall. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich konnte den erbarmungslosen Aufmarsch vor unserer Haustür nicht mehr aufhalten. Meine Sippe war schon unterwegs. Eine Vorsichtsmaßnahme hatte ich ergriffen. Am Vormittag war ich in den Ort gefahren, um Rose, Kessies Großmutter, zu besuchen und hatte Tobias in ihrer Obhut gelassen. Dorcas ging nicht hinauf, um sich auszuruhen. Kurze Zeit später sah ich sie durchs Fenster in einem offenbar sehr ernsten Gespräch mit Jonas. Ein oder zwei Minuten später gingen die beiden in Richtung der Stallungen. Sprechen noch mal den Schlachtplan ab, dachte ich.
Was waren beide doch für treue Seelen! Etwas getröstet ging ich hinauf, um mich umzuziehen. Rot für Mut. Ich schlüpfte in das flammenfarbene Kleid und tat mir ein wenig Gloss im gleichen Farbton auf die Lippen. Dorcas kam ins Haus zurück. Offenbar hatte sie Bens Strickvorschlag ernst genommen, denn sie kam mit einem meterlangen, purpurrot und zitronengelb gestreiften Wollschal aus ihrem Zimmer, aus dessen Ende die Nadeln ragten wie gebleckte Tigerreißzähne. Als wir zusammen die Treppe hinuntergingen, war sie offenbar besserer Laune. »Das einzige, was ich stricke, Schals«, gestand sie, als ich ihre Handarbeit bewunderte. »Hab mal einen Pullover versucht, aber bei den Ärmellöchern kam ich mit dem Muster nicht mehr zurande. Wurde nicht mehr schlau aus dem ganzen Abnehmen-Zunehmen-Quatsch, eins schlicht, eins kraus, eins fallenlassen, hab die Geduld verloren. Der Pullover wurde auch ein Schal. Ziemlich breit, aber warm.« Ich war froh, daß sie sich wieder wie ihr altes Selbst anhörte. Das Gespräch mit Jonas mußte ihr gut getan haben. »Keine Angst«, flüsterte sie, als wir den Salon betraten, »ich werde stets direkt hinter dir sein.« »Übertreib es nicht«, flüsterte ich zurück. »Du hast mir gerade in die Hacken getreten.« Meine Familie mochte viele Laster haben, Unpünktlichkeit zählte nicht dazu. Die Gäste trafen alle im Abstand von wenigen Minuten um sieben Uhr ein. Sie bekamen ihre Zimmer gezeigt und Gelegenheit, sich frisch zu machen und auszupacken, wenn sie wollten. Um acht Uhr waren alle im Salon versammelt. Sie unterhielten sich miteinander und nippten Sherry, während Jonas seine Rolle spielte und ein Tablett mit Käsestangen und Champignons á la greque balancierte. Freddy betrachtete sie entsetzt. »Sag bloß«, jammerte er, »daß Tante Sybil die nicht gemacht hat, wo ich doch
schon den ganzen Tag von ihren unwiderstehlichen Leckerbissen geträumt habe.« »Sie ist zur Zeit verreist und besucht Freunde«, sagte ich. Aber Freddy schluckte seine Enttäuschung rasch mitsamt einem Champignon herunter, während er mit vier weiteren in fettigen Fingern jonglierte. »Wirst du das lassen!« schimpfte Onkel Maurice. »Du siehst aus wie ein Seelöwe im Zirkus.« Tante Lulu murmelte: »Laß doch den Jungen, Schatz«, während sie eine Porzellanfigur umdrehte, um die Manufaktur festzustellen. Freddy kümmerte sich um beide nicht. Er bog den Kopf zurück, warf einen Champignon in die Luft und fing ihn mit dem Mund auf. Seine Haare hatte er zu einem Piraten-Pferdeschwanz gebunden, an seinem einen Ohr baumelte eine türkisgrüne nackte Frauenfigur. Konservative, spießige Geschworene hätten ihn zum Missetäter erkoren, aber ich durfte ihn nicht aufgrund seines Äußeren verurteilen. Tante Astrid, in hochgeschlossener Bluse mit Kameenbrosche, das weiße Haar zu einer majestätigen Krone frisiert, und Vanessa, prächtiger denn je in einem narzissengelben Seidenanzug, schienen das perfekte Mutter-TochterPaar. Onkel Maurice war der Inbegriff eines Mannes, der seine Leihbücher stets pünktlich zurückgibt, während Tante Lulu die gehobene Hausfrau verkörperte, die jeden Tag ihre Eisentabletten schluckt, jeden Donnerstag Leber auf den Tisch bringt und sich immer in den Winterschlußverkauf stürzt. Und doch hatten all diese Musterexemplare verborgene Schandflecken, bis Onkel Merlins Testament sie ans Tageslicht brachte. »Und welchem Umstand«, erkundigte sich Tante Astrid, »verdanken wir die Ehre dieser verspäteten Einladung?« »Schatz.« Vanessa wandte ihrer Mutter das
ebenmäßige Profil zu. »Sei nicht so begriffsstutzig. Ellie konnte es sich nicht verkneifen, uns ihre Nestbau-Talente vorzuführen nebst ihrer jugendlichen — präpubertären — Figur.« Ich sah, wie Dorcas’ Kopf hochschnellte gleich einem Jagdhund auf der Fährte, aber ihre Finger ließen weiter die Nadeln klappern und ihre Lippen murmelten eins rechts, zwei links. Ihr Blick begegnete meinem und streifte weiter über den Kreis unserer Gäste. Wie ein Wachhund saß sie in ihrer dunklen Ecke. Ich lächelte Vanessa zu. »Liebling, in jeder von uns — sogar dir — lauert eine Dicke darauf, zum Vorschein zu kommen.« »Nun mal langsam.« Ben nahm das Silbertablett, das Jonas beim Hinausgehen abgestellt hatte. »Ellie fand, es war Zeit für eine kleine Feier.« »Zählt ihr eure Groupies nicht ein bißchen früh?« fragte Freddy freundlich und griff sich wieder eine Handvoll Canapes. »Das Geld gehört Ihnen noch nicht, alter Junge.« »Wir reden nicht vom Geld.« Ben setzte das Tablett wieder ab und nahm sich eine Käsestange. »Wir feiern, daß wir die letzten sechs Monate überlebt haben. Das war nicht immer leicht.« Niemand erstickte an dem Bissen im Mund, ließ sein Glas fallen oder bekam Zuckungen. Ich war enttäuscht. Ein dröhnender Gongschlag aus der Halle verkündete, daß das Essen serviert war. Das Mahl bekam einen Mißklang, weil Jonas die gelierte Consommé madrilène, die auf Eis serviert werden sollte, heiß gemacht hatte. Ungerührt von den bösen Blicken seines Chefs bahnte sich der alte Mann einen Weg um den Tisch und goß den Wein ein. »Kalte Suppe«, schnaufte er und blies dabei Tante Astrid, der er gerade einschenkte, in den Nacken, »und das mit
Absicht! Brrrr!« Keinerlei Klagen konnten jedoch gegen den mit Räucherschinken und Austern gefüllten Rollbraten erhoben werden. Onkel Maurice legte nicht eine Sekunde die Gabel nieder, aber Tante Astrid flüsterte Vanessa hörbar zu: »Diese affektierte exotische Küche! Ich habe dir ja gesagt, dieser junge Mann hat etwas äußerst Seltsames. Kein Wunder, daß er sich mit dem Heiraten nicht beeilt hat.« Der Nachtisch kam und ging. Der Rest des Abends verlief ohne besondere Zwischenfälle. Onkel Maurice war ganz Würde, bis der Cognac gereicht wurde, dann schmolz er mit jedem Glas. So sehr, daß er, als wir alle für die Nacht auseinandergingen, Ben auf die Schulter klopfte und zu ihm sprach: »Scheußliche Enttäuschung, dieses Testament, aber es kommt eine Zeit, da muß man verletzte Gefühle hintansetzen. Wenn Sie Beratung in Anlagedingen brauchen, lieber Junge, dann bin ich Ihr Mann — gegen eine sehr zivile Provision.« Wie vereinbart blieb Dorcas in meinem Zimmer und wir wechselten uns mit dem Schlafen ab, der Morgen fand uns am Leben und wohlauf. Ich übernahm die letzte Wache; um mir die Stunde vor der Morgendämmerung zu vertreiben, schaute ich noch einmal in Abigails Journale. Das Haushaltsbuch verriet mir, daß sie eine sparsame, aber großzügige Frau gewesen war und oft Kleidungsstücke für die Dorfkinder erstanden hatte. Vielleicht hatte sie, um diese Ausgaben zu verbergen, wenig Fleisch gekauft, dafür mehrere Monate lang um so mehr Milchprodukte und Eier. Ihre Rezepte bewiesen, daß sie eine Köchin in der Kategorie von Ben gewesen war — eine Künstlerin. Wie Ben mir schon nach der ersten Durchsicht gesagt hatte, fehlten in der Rezeptsammlung ein paar Seiten. Ich hatte daraus geschlossen, daß Abigail mit ihnen nicht
zufrieden war und sie entfernt hatte, aber … plötzlich schoß ich aus den Kissen hoch. So war Abigail nicht. Sie hätte die Eintragungen in ihrer ordentlichen, runden Schrift nicht vorgenommen, bevor sie jedes Gericht gründlich ausprobiert hatte. Außerdem waren die Seiten nicht säuberlich mit einer Schere ausgeschnitten worden, sondern herausgerissen worden. Wiederum nicht Abigails Art. Diese fehlenden Eintragungen hatten bestimmt etwas zu bedeuten. Waren sie der letzte Hinweis? Ich hätte mich selbst mit bloßen Händen erwürgen mögen. All die vergeudeten Woche und Monate. Und Ben war nicht gerade eine große Hilfe gewesen. Wo, wo waren diese Seiten nur versteckt? Ganz ruhig, denk nach. Sie fehlten in der Rubrik S, konnten deshalb unter einem Stövchen, einem Sofa, einer Suppenterrine abgelegt sein — verflixt, ich brauchte ein Lexikon oder … ein Telefonbuch. In meinem Kopf klingelte es. Sowohl Ben als auch ich, wir waren immer auf den bequemen Ausweg verfallen, die Auskunft anzurufen. Es hatte mal ein Telefonbuch im Haus gegeben, es war veraltet und fiel auseinander, aber … die Geheimschublade. Sofort sah ich wieder den Vormittag vor mir, als ich auf der Suche nach Fotos von Onkel Arthur war und die ganzen alten Rechnungen, Reiseprospekte und das überholte Telefonbuch als Krempel von Tante Sybil ausgemustert hatte, der in ihr Häuschen geschafft werden sollte. Tante Sybil hatte das Telefonbuch! War es gerechtfertigt, bei ihr einzubrechen und eine Hausdurchsuchung vorzunehmen? Die gute alte Tante Sybil, gelobt sei jene viktorianische Tugend, die ihr nie erlaubte, irgend etwas wegzuwerfen. Wahrscheinlich war das Telefonbuch nur ein letzter, aussichtsloser Griff nach dem Strohhalm, aber sobald ich aus dem Haus konnte, würden Dorcas und ich es holen gehen. Ich ging hinunter, um die Küche in Angriff zu
nehmen, in der gestern abend Jonas gewaltet hatte. Bestenfalls ließ sich sagen: er hatte Tante Sybil nicht übertroffen. Ich nahm mir einen nassen Lappen, um die klebrige Anrichte abzuwischen, wollte eine Butterdose wegräumen — eine offene Einladung an Mäuse, die sich jetzt, wo Tobias auf Urlaub war, zurücktrauten —, drehte mich um und sah den Kühlschrank. Die Tür war über und über mit roten Schlieren beschmiert. Hatte Jonas sich Notizen gemacht? Den würde ich erwürgen! Ich wrang meinen Lappen aus, wollte die Schweinerei abwischen und erstarrte. Aus der Nähe betrachtet wurden einzelne Buchstaben deutlich. Ich merkte, wie ich den Lappen so hart ausdrückte, daß mir Wasser auf die bloßen Füße tropfte. Wer ist Dorcas? Was ist sie? Ich stand völlig starr, da kam sie herein. »Konnte nicht schlafen«, sagte Dorcas, »dachte, du bist vielleicht …« »Sieh dir das an.« Die Anschuldigung schrie uns in zornigen roten Klecksen an. Dorcas zerrte sich ein Stuhl heran und setzte sich. Sie fuhr sich heftig durch ihr eh schon strubbeliges Haar. »Was hat das zu bedeuten?« fragte ich und hatte Angst vor ihrer Antwort. Widerwillig entsann ich mich an die Worte von Rowland Foxworth. Vor sechs Monaten war Dorcas eine Fremde für mich. Und selbst jetzt gab es viele Lücken in dem, was ich von ihr wußte. Was tat ich denn da? Freunde vertrauten einander. »Sag es mir«, sagte ich. Dorcas straffte die Schultern und schaute mir in die Augen. »Offenbar weiß jemand, wer ich bin.« »Eine russische Spionin?« scherzte ich schwach. Vielleicht war das ganze ein Alptraum, und gleich würde ich aufwachen. »Bedaure, Ellie. Bin mit dir von Anfang an nicht ganz
ehrlich gewesen. Stimmte schon, daß ich für eine Weile eine Abwechslung vom Schulbetrieb brauchte, aber ich hatte noch andere Gründe, hierherzukommen. Man könnte sagen, ich habe eine Verbindung zu diesem Haus.« »Dorcas, das heißt doch wohl nicht …« Ich konnte nicht weitersprechen, meine Kehle schnürte sich zusammen. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie seltsam es war, daß Dorcas nie über ihre Vergangenheit geredet hatte. Am Tag ihrer Ankunft und bei ein oder zwei weiteren Gelegenheiten hatte sie dazu angesetzt, etwas über ihre Großeltern zu erzählen, hatte sich aber unterbrochen, weil sie mich nicht langweilen wollte. Kein Wort über Vater, Mutter, Bruder oder Schwester. »Mußt nicht glauben, daß ich an dem mörderischen, abscheulichen Komplott gegen dich beteiligt bin, Ellie. Du bist für mich wie eine Schwester. Gebe große Stücke auf dich und Ben.« Ben hatte gesagt, daß Verbrecher oft die sympathischsten Gesichter haben. »Dann tu mir den Gefallen«, flehte ich, »verrate mir das große dunkle Geheimnis.« »Kann ich nicht. Tut mir leid, Ellie, sehr kompliziert. Muß das Spiel nach den Regeln zu Ende spielen.« Wessen Ende? »Dorcas«, sagte ich leise, »wir sind jetzt nicht auf dem Hockeyfeld, Mord ist keine sportliche Leistung. Wenn dein Geheimnis — das der Feind entdeckt hat — irgendeinen Einfluß darauf hat, ob ich am Leben bleibe oder nicht, dann muß ich es wissen.« »Überhaupt keinen. Gebe dir mein Wort, Ellie, werde zu gegebener Zeit alles sagen. Habe das Gefühl, es wird dir Freude bereiten. Wir müssen uns davor hüten, dem Feind in die Falle zu gehen. Klar wie trübe Tinte, will uns mit der anonymen Schmiererei zerstreiten. Hat aber unsere Freundschaft unterschätzt. Wir sind doch immer
noch Freunde, Ellie?« Ich sagte ja, und ich meinte es ehrlich. Wenn ich Dorcas nicht trauen konnte, wer blieb dann übrig? Vanessa kam gähnend in die Küche und verlangte eine Tasse Kaffee. Dorcas ging ohne ein weiteres Wort. Sie kam auch nicht zum Frühstück herunter, was ich verstand. Keiner von uns würde sich in der Gesellschaft des anderen richtig wohlfühlen, solange die Fragen Wer ist Dorcas? Was ist sie? nicht beantwortet waren. »Wo ist Dorcas?« zischte Ben mir zu, als er mir die Marmelade reichte. Er dachte, sie vernachlässigte ihre Wachpflichten. »Fragst du nach der Haushälterin?« schnaubte Tante Astrid. »Ich sah die Frau vor einer Viertelstunde im Garten herumspazieren. Dienstboten heutzutage! Bewundert draußen die Blumen, während sie Staub wischen oder die Betten machen müßte.« Auch wenn Ben sich über Dorcas ärgerte, jemand anders durfte ihr deswegen noch lange nicht am Zeug flicken. »Dorcas ist mehr eine Freundin als eine Haushälterin«, sagte er. Wie sich die Dinge entwickelten, fand ich am Vormittag keine Gelegenheit, mit Ben unter vier Augen zu sprechen, und Dorcas bekam ich nicht zu Gesicht. Die Damen verlangten gebieterisch nach einer Hausbesichtigung und Bens Sicherheitssystem machte es erforderlich, daß die Männer mit von der Partie waren. Tante Astrid öffnete geräuschvoll Dorcas’ Tür, aber ihr Zimmer war leer. »Vielleicht ist sie in den Ort gefahren«, sagte ich und versuchte, mich auf Onkel Maurices Verbesserungsvorschläge fürs Haus zu konzentrieren. »Also Ellie, das Haus hast du ja leidlich hergerichtet«, näselte Tante Astrid, »aber du hättest wirklich mehr Malvenfarbtöne benutzen sollen.« Nach dem zweiten Frühstück ließen sich die Männer
und Tante Lulu am Kartentisch zu einer Partie Bridge nieder. Tante Astrid saß mit ihrem Stickrahmen in einer Fensternische und Vanessa verkündete, sie wolle etwas Sinnvolles tun — sich die Fingernägel lackieren. Ich gönnte Jonas die zweifelhafte Ehre, auf sie aufzupassen, während ich mich zum Häuschen schlich. So viel zu meinem Plan, Dorcas mitzunehmen. Wo zum Teufel war sie? Wer war sie? Tante Sybils Wohnzimmer sah schlimmer aus, als ich es in Erinnerung hatte — der Kaminvorleger lag völlig schief, der Kaffeetisch war immer noch mit schmutzigem Geschirr übersäht und neben einem Sessel kullerte eine umgekippte Teetasse. Der Chefinspektor von Scotland Yard schien die Räumlichkeiten schon durchwühlt zu haben. Ich nahm mir vor, hier einmal gründlich sauberzumachen, mochte Tante Sybil nun beleidigt sein oder nicht. Der Kaminsims war vom einen Ende bis zum anderen voller Müll, Zeitungsausschnitte, Schnurknäuel und Illustriertenstapel. Ich schaute sie durch, denn das Telefonbuch konnte ja irgendwo dazwischengerutscht sein. Weiter und weiter. Mit spitzen Fingern entfernte ich eine fettige Papiertüte aus meinem Weg. In allen vier Ecken des Wohnzimmers waren vollgestopfte Kartons gestapelt, sie enthielten aber nichts Nützliches. Die Küche war eine Zumutung, mein Magen ertrug nur einen flüchtigen Blick auf die Regale. Doch ich schaute in den Kühlschrank; vielleicht hatte Tante Sybil zum Abtropfen für den Salat das Telefonbuch genommen. Ich kam zur Kellertür und fand sie verschlossen, aber es war unwahrscheinlich, daß sie eine Kiste nach unten geschleppt hatte, wo doch alle anderen Bestandteil ihres Einrichtungskonzeptes waren. Ich zögerte vor ihrer Schlafzimmertür (diesen privatesten Raum zu durchschnüffeln war mir peinlich), doch mir fiel ein, daß ich schon an dem Morgen, als ich ihren Zettel gefunden
hatte, drin gewesen war. Es konnte sich also nichts geändert haben, und das hatte es auch nicht; auf Zehenspitzen überquerte ich den Fußboden, als sei er ein Minenfeld. Wundersamerweise stand auf der Frisierkommode ein Karton, der Karton. Gleich obenauf erspähte ich die Reiseprospekte und direkt darunter das Telefonbuch. Schlagartig bekam ich kalte Füße. Das war ein Schuß ins Blaue — wie groß war schon die Chance, daß meine Gedankenbahnen mit denen von Onkel Merlin parallel liefen? Mit zitternden Fingern schlug ich unter dem Buchstaben S nach; und da waren sie, die fehlenden Seiten aus Abigails Rezeptbuch, säuberlich mit Tesafilm eingeklebt. Rasch überflog ich sie. Das war’s! Ich konnte es gar nicht erwarten, Ben diesen Fund zu zeigen. Wie ich ihn kannte, würde er zu dem Schluß kommen, daß unsere Suche nun am Ziel war, daß diese Seiten nicht einfach ein weiteres Indiz enthielten, sondern den Stoff, aus dem die Schätze sind. Irgendwie konnte ich das nicht glauben, nicht, weil es sich nicht um etwas ganz Besonderes handelte, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß Onkel Merlin diese Seiten aus dem Buch seiner Mutter herausgerissen hatte — nicht einmal im Interesse seines Versteckspiels. Es fehlten noch so viele Teile des Puzzles. Die Uhr in der Halle schlug zwölf, als ich ins Haus zurückkam — unmittelbar, bevor ein Unwetter losbrach. Ich fand Onkel Maurice und Tante Lulu am Kartentisch. Keiner von ihnen hatte Vanessa gesehen. Tante Astrid war oben, um ihre Stickerei wegzulegen, Ben war mit dem Mittagessen beschäftigt. Unter dem Vorwand, die Speisen kontrollieren zu müssen, ging ich in die Küche, denn ich war ganz begierig, Ben die Neuigkeiten zu erzählen und ihm zu zeigen … aber er war nicht an seinem üblichen Arbeitsplatz. Auf dem Tisch lag eine Nachricht von Dorcas, daß sie uns für eine Weile verließ
und sich melden würde, sobald sie über alles nachgedacht hatte. Wie konnte sie das tun? Hatte Ben das gesehen? Ich fand ihn im Eßzimmer. Vanessa war bei ihm. Sie saßen sehr traulich beieinander. Circe fingerte an einem seiner Hemdknöpfe und ich hörte, wie sie kehlig auflachte. Und ich hatte gedacht, ich sei kein Witz mehr … Ich ließ die Tür offen und wankte in die Halle. Dieser Tag entpuppte sich als Intensivkurs im Verratenwerden. Wo sollte ich nun hin? Vor sechs Monaten hätte ich mich ohne Umwege auf den Kühlschrank gestürzt. Wenn je eine Frau ein halbes Dutzend Schokoladeneclairs und ein ordentliches Stück Gorgonzola brauchte, dann ich jetzt. Wozu sollte ich mir noch die Mühe machen, Ben meine Entdeckung, den letzten noch fehlenden Hinweis, zu zeigen? Wenn ich nicht den Verstand verlieren wollte, mußte ich aus diesem Haus raus. Unseligerweise verweigerten mir meine gelähmten Glieder den Dienst; ich stand immer noch wie angewurzelt in der Halle, als Vanessa aus dem Eßzimmer gestürzt kam und mich beinahe umrannte. »Grauenhaft!« kreischte sie. Was hatte Ben gemacht? »Ein Männergesicht an der Fensterscheibe, ganz platt und verzerrt, zermatschte Augen, keine Nase, uuhhh!« Schaudernd entfloh sie nach oben. Warum folgte ihr Galan nicht ihren Spuren? Ohne die Antwort abzuwarten stürzte ich mich hinaus in den Regen. Wie Vanessa schaute ich nicht, wohin ich rannte und prallte mit Jonas zusammen. Mit seinem in die Stirn gezogenen Schlapphut und den triefenden buschigen Augenbrauen bot er einen Anblick, der auch nervenstarke Leute das Gruseln lehren konnte. »Sie!« beschuldigte ich ihn. »Sie waren das Gesicht am Fenster.«
»Tu nur meine Arbeit.« Jonas versuchte, unschuldig dreinzuschauen, aber hinter seinen Augen tanzten die Teufelchen der Schadenfreude und verrieten ihn. »Dachte, die Fensterrahmen verziehen sich bei all der Nässe, da muß ich doch nachsehen.« Er wurde plötzlich ernst. »He, Mädel. Alles halb so schlimm. Hätte gedacht, Sie haben mehr Mumm in den Knochen als gleich die Flinte ins Korn zu werfen, wenn ein übergeschnapptes Frauenzimmer sich mit Schlafzimmeraugen an …« Ich drängte mich an ihm vorbei. »Bitte, Jonas. Ich glaube nicht mehr an den Weihnachtsmann. Ben ist ein kapitaler Lump. Und weiß der Himmel, wer Dorcas ist oder wo sie ist. So wie dieser Tag läuft, werde ich im Lokalblättchen noch eine Anzeige finden, in der Sie verkünden, Sie sind der Sohn von Jack the Ripper.« Jonas packte mich am Arm. »Dorcas ist weg? Ich finde, Sie kommen besser wieder rein, Mädchen.« »Und was soll ich da, eine Tasse Ovomaltine trinken?« schrie ich. »Ovomaltine kann mir gestohlen bleiben. Ihr könnt mir alle gestohlen bleiben. Und wenn Sie, Jonas«, ich riß meinen Arm los, »vorhaben, Ihr Arbeitsverhältnis bei mir zu beenden, dann besitzen Sie hoffentlich den Anstand, regelrecht zu kündigen und nicht einfach einen Zettel hinzulegen.« Mein Weg war schwierig. Wie ein kleines Kind, das von Zuhause ausbüxt, hatte ich kein klares Ziel vor Augen. Meine Füße glitten in Schlammpfützen aus, doch ich stapfte querfeldein übers Gras zur Auffahrt, ohne mich umzuschauen. Es goß in Strömen. Ich passierte den Zementberg beim Tor, der langsam aussah wie ein dauerhaftes Mahnmal. Wo konnte ich hin? Zum Pfarrer? Er hatte versprochen, sich zu melden — noch einer, der mich im Stich gelassen hatte. Ich war bei Jonas’ Müllberg angelangt, seine Karre lehnte immer noch an dem Haufen aus aufgeweichten Matratzen und wurmstichigen
Holzkisten. Den Gang über den Friedhof brachte ich nicht über mich, nicht einmal mit der Aussicht, in Rowlands warmem Arbeitszimmer zu sitzen. Traurig starrte ich auf den ausrangierten Schrott, ein Sinnbild meines Lebens, da fiel mir ein regennasser rosa und gelb gestreifter Fetzen ins Auge. In einer Rückblende sah ich Jonas vor mir, wie er ihn in dem Haufen verstocherte, gleichzeitig überkam mich ein vages, kitzelndes Gefühl, daß etwas nicht stimmte, etwas war, wo es nicht hingehörte. Ich beugte mich vor und zerrte das gestreifte Gummiding mit den Händen hervor. Mein Herz klopfte beklommen, als ich die falsche Fröhlichkeit der leuchtenden Farben betrachtete. »Schrill« war das Wort, das Tante Sybil gebraucht hatte, aber sie war stolz auf ihre Schwimmflügel gewesen, zu stolz, um sie einfach wegzuwerfen, es sei denn, sie hatten ein Loch. Versuchsweise pustete ich und sie plusterten sich zu voller Größe auf. Auch der Stöpsel hing noch an seiner Gummischnur und ich steckte ihn fest. Und? Was hatte ich damit bewiesen? Vielleicht war Tante Sybil ihrer überdrüssig geworden und fand, sie wirkten zu jugendlich. Aber sie hatte gesagt, sie wüßte nicht, wie irgendjemand ohne sie schwimmen könne. Beruhigt euch, befahl ich meinen zuckenden Nerven. Tante Sybil ist nichts passiert. Aus welchem Grund sollte ihr jemand etwas antun? Wir hatten die Postkarte von ihr bekommen. Ja, und wir hatten auch diesen Anruf bekommen. Nein, Nein! Ich nahm etwas völlig Normales — die Schwimmflügel einer älteren Frau — und machte daraus einen Mordhinweis. Ich hatte Hinweise satt, ich hatte meine eigene hysterische Angst satt. Ich blickte zur stürmischen Brandung hinab und beschloß, nach Hause zu gehen, sollte der Sturm mich nicht vorher in den Abgrund blasen. Was, wenn …? Aber nein, wenn jemand Tante Sybil hätte beseitigen wollen, brauchte er ihr nur
die Schwimmflügel abzunehmen und… ich mußte aufhören mit diesen gräßlichen Gedanken. Ganz in der Nähe hörte ich Schritte und wich instinktiv zurück. Mein Herz tat einen Satz, ich drehte mich um. Zuerst dachte ich, es sei Jonas. Aber unter dem Schlapphut und dem langen, abgewetzten Tweedmantel steckte Ben. »Ellie«, sagte er. Mit erhobenen Händen wehrte ich ihn ab. »Bleib mir vom Leib, du Wüstling!« »Paß auf, Dummkopf, oder willst du runterstürzen?« Er packte mich, seine Hände hielten meine Taille. Sein Gesicht glänzte vom Regen —und von etwas, das ich nicht benennen konnte. Was es auch war, Schuld jedenfalls nicht. Bentley T. Haskell wußte gar nicht, was das Wort bedeutet. Ich wollte mich von ihm losmachen, aber die schönen blaugrünen Augen hielten mich fester als seine Hände. Es gibt einige Griffe, von denen selbst Judoexpertinnen wie Jill nichts wissen. Ein Mann hat kein Recht auf so lange Wimpern. Aber inzwischen hatte ich gelernt, diesen widerlichen Kerl genauso zu hassen, wie er es verdiente. »Was ist denn bloß?« fragte der Mann voll frustrierter Verzweiflung. Ich konnte nur bewundern, wie er die ratlose Unschuld mimte. »Ich komme mir vor, als sei ich in eine Kurzfassung von Emily Brontes ‘Wuthering Heights’ geraten. Geschundene, liebeskranke Maid überläßt sich der Gewalt der rasenden Elemente in der Hoffnung, daß Heathcliff zu ihrer Rettung herbeieilt.« »Heathcliff!« Zum ersten Mal versagte unter Druck meine Stimme nicht. »So siehst du dich also? Du bist wohl größenwahnsinnig!« Am Aufflammen blaugrünen Feuers unter diesen Wimpern merkte ich, daß ich ihn getroffen hatte. Er ließ mich los, seine Hände fielen hilflos herunter. Ich war frei
und spürte nun, wie sehr ich fror. Ich würde an Lungenentzündung sterben und unserem angehenden Mörder viel Arbeit ersparen. »Ich?« sagte Ben, seine Stimme klang ehrlich überrascht. »Wir reden nicht von mir.« Er stieß einen Stein beiseite und sah zu, wie er in unregelmäßigen Herzschlägen über den Klippenrand sprang. Dann schaute er mich unter der Krempe dieses gräßlichen Hutes hervor an. »Wir reden von dir und deinem noblen Pfarrer — deinem Busenfreund.« »Rowland!« Ich war so baff, daß ich wiederum instinktiv einen Schritt zurückwich. Hatte er in meiner Abwesenheit seine Aufwartung gemacht, um in aller Form um meine Hand anzuhalten? Rasch riß Ben mich zurück und zog mich auf sicheren Boden. Waren es seine Hände, die so zitterten oder war ich es? Ich schaute auf und kam zu dem Schluß, es war Ben. Seine übliche Arroganz war wie weggeblasen. Hatte ihm Vanessa einen Korb gegeben? Vielleicht verbarg sich ja unter so viel überflüssiger Schönheit doch ein Funken Anstand. »Ja, Rowland, wer denn sonst?« antwortete Ben mit so ersterbend monotoner Stimme, als übe er für eine Fremdsprachenprüfung. »Wenn du nur wüßtest, Ellie, wie ich diesen Mann inzwischen hasse!« Seine Stimme belebte sich etwas. »Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mir von unserem Killer Privatstunden geben zu lassen, sobald wir ihn endlich entlarvt haben. Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten, als den lieben Rowland um die Ecke zu bringen.« »Warum?« fragte ich laut, damit er nicht hören konnte, wie mein Herz aufschrie. »Er ist größer als ich und …« »Keine Ausflüchte.« Der Regen fiel immer dichter, tropfte mir in den Nacken und lief mir übers Gesicht. Aber
ich hätte ihn nicht wegwischen können, selbst, wenn Ben meine Hände losgelassen hätte. »Na schön«, knurrte Ben, »ich soll vor dir auf dem Bauch kriechen — du liebst den verdammten Kerl. Fall erledigt. Der Bursche ist ein Schwindler und ein Dieb, aber ich bin schlimmer. Ich bin der Depp, der ihm die Tür offen gelassen hat. Aber mach dir keine Sorgen, Ellie mein Schatz, ich mag kein reinrassiger Gentleman sein wie dein Rowland, aber wo es um dein Glück geht, kann ich mich wie einer benehmen — und wenn es mich umbringt. Ich werde sogar die Hochzeitstorte backen.« »Sehr anständig von dir.« Vor wenigen Augenblicken hatte ich noch gefroren bis ins Mark, jetzt war mir wunderbar warm. Ein mir völlig neues Gefühl schickte Lavaströme geschmolzenen Blutes durch meine Adern. Macht. Keine tausend Schokoladeneclairs hätten mir dieses Gefühl geben können. Es tat mir leid, daß Ben so litt. Aber das hatte der Mann sich selber eingebrockt. »Vielleicht sollten wir Doppelhochzeit halten?« schlug ich vor und warf den Kopf in den Nacken, so daß meine Lippen sein Kinn streiften. »Du und Vanessa, ihr gebt bestimmt einen zauberhaften Hintergrund ab für Rowland und mich.« »Vanessa?« Ben schüttelte vollkommen verdutzt den Kopf und schickte beinahe den verwitterten Filzhut auf luftige Reise. Der arme Jonas hatte schon einen auf diese Art verloren, und so drückte ich Ben das Monstrum fest in die Stirn. »Wieso wird Vanessa da mit hineingezerrt?« grollte er. »Zuletzt war sie doch deine Hauptverdächtige. Ich mag zwar im Moment Selbstmordabsichten hegen, kann mir aber einen schöneren Tod vorstellen, als von Vanessa zu Tode gelangweilt zu werden — falls ihr nichts Schlimmeres einfällt.« »Gelangweilt?« Meine verächtliche Grimasse war
nicht sehr überzeugend, aber der Kiekser in meiner Stimme klang genügend nach Wut, um das zu vertuschen. »Ich habe dich und meine langweilige Kusine beim Knutschen ertappt!« »Was?« »Da bist du wohl baff? Ich habe euch beide vor noch nicht einmal einer halben Stunde im Eßzimmer gesehen. Willst du das abstreiten?« Der Wind wählte diesen Moment, ein wütendes Sturmgeheul auszustoßen. Wäre das ein Film gewesen, der Geräuscheffekt hätte nicht passender sein können. »Ich habe nicht die Absicht, irgend etwas abzustreiten. Ich habe nur wie verabredet meine Pflicht getan und den Feind ausgehorcht.« »Und jede Minute ausgekostet, welche Geheimnisse du dabei zutage förderst.« »Nichts dergleichen. Wenn Vanessa mich zufällig attraktiv findet …« Ich ließ ihn nicht ausreden. »Du verblüffst mich immer wieder. Ich weiß wohl, daß Eitelkeit eine männliche Erbkrankheit ist, aber du bist ein unheilbarer Fall.« »Da täuschst du dich.« Bens Gesicht wurde wieder scharf und ich sah ihn mit einer Deutlichkeit vor mir, als werde in einem dunklen Zimmer das Licht eingeschaltet. »Ich weiß, ich wirke etwas eingebildet, aber von allen Menschen solltest du, Ellie, wissen, daß das nur Tarnung ist. Und wenn ich mir anschaue, wo ich jetzt stehe«, er sah mit diesem grauenvollen Hut so jämmerlich und verletzlich aus, daß mir das Herz wehtat, »dann bestehen sie alle zu Recht, meine sämtlichen Neurosen. Wundert es dich, daß meine Eltern mich verstoßen haben? Sie hatten recht — ich habe nie auch nur das Geringste zustande gebracht.« Er verdiente es zwar nicht, aber irgendwie hatten meine Hände sich bewegt und preßten sich an seinen
durchnäßten, rauhen Mantel. Meine Finger spürten, wie sein Herz hämmerte, im nächsten Moment flogen seine Hände empor und fuhren durch mein triefendes Haar. Ich weiß noch, daß ich dachte, wie gut, daß ich sie nicht abgeschnitten hatte — romantische Liebe verlangt von ihren Heldinnen lange, fließende Locken. Und dann hörte alles auf. Alles wurde still. »Du bist ein hervorragender Koch«, sagte ich. »Genau wie die meisten englischen Hausfrauen, und alles, was sie dafür zu hören bekommen, ist: ‘Nicht übel, der Fraß’.« »Sie haben nicht alle Bücher darüber geschrieben.« »Hätte ich auch nicht, wenn da nicht Onkel Merlin und sein hochherrscherliches Testament gewesen wäre.« »Na und? Ich weiß, du hast mal gesagt, du und ich, wir hätten uns beide verkauft, aber das Motiv schmälert nicht die Leistung. Du bist derjenige, der aus einer Sammlung in Vergessenheit geratener Rezepte ein Buch gemacht hat, und ich bin diejenige, die all die überflüssigen Pfunde losgeworden ist. Und du irrst dich noch in anderer Beziehung, Ben. Du bist mir nie unsicher vorgekommen. Für mich hatten dünne Menschen nie irgendwelche Probleme von Bedeutung. Das tut mir sehr leid.« »Es tut dir leid. Ach, Ellie!« Der Druck seiner Finger auf mein Haar wurde stärker. »Ich bin derjenige, dem es leid tut, jetzt, wo es zu spät ist.« Zu spät? Woher hatte ich nur die unsinnige Vorstellung, daß jetzt etwas Großartiges für uns begann, daß Vanessa und Rowland und die Londoner Verlobte nur Kleindarsteller waren, die bald von der Bühne mußten? Gleich würde er mir sagen, daß er an einer unheilbaren Krankheit litt und nur noch drei Monate zu leben hatte. Vor Angst klammerte ich mich an seinen Mantelkragen. Wieso hatte ich noch nicht früher bemerkt,
was für ein wunderschönes Kinn er hatte, so fest und doch sanft? »Viel zu spät«, wiederholte er und der Schmerz aus seinen Worten strömte auf mich über und ließ sich als Eisklumpen in meiner Magengrube nieder. »Wenn ich dir jetzt sagte, daß ich dich liebe, Ellie, du würdest mir nie glauben.« Das Eis schmolz. »Oh doch, das würde ich«, beharrte ich, und um den aggressiven Unterton abzuschwächen streichelte ich sein nasses Kinn. »Aber nur, wenn du über Merlins Grab schwörst, daß du nicht dasselbe innerhalb der letzten Stunde zu Vanessa gesagt hast. Hast du, Liebling?« »Natürlich nicht«, entgegnete mein Held mit grandioser Empörung. »Aber Ellie, entzückende, wunderbar witzige Ellie, du mußt doch nicht bei Trost sein, mir zu glauben, wenn ich dir sage, daß ich wahnsinnig, irrsinnig verrückt nach dir bin.« »Gottseidank liegt Wahnsinn bei mir in der Familie, wie du ja weißt«, sagte ich. Meine Arme umschlangen seinen Hals und mit dem traditionellen halberstickten Aufstöhnen aller leidenschaftlichen Liebesszenen senkten sich seine Lippen auf die meinen, warm, gierig und nach Seeluft schmeckend. Die Sonne mußte herausgekommen sein, denn mein ganzer Körper loderte in einem strahlenden, goldenen Licht und schickte heiße Blitze bis in meine halberfrorenen Zehenspitzen. Unsere Mäntel schlugen uns um die Beine und Bens Hutkrempe zerkratzte mir die Stirn, aber das waren nebensächliche Ärgernisse. Leider endete die Freude allzufrüh. Ben hob den Kopf und schaute mich traurig an. »So hätte es sein können, wenn ich dir meine Liebe gestanden hätte, bevor du so mager geworden bist.« »Findest du nicht, weniger ist mehr?« Während ich noch sprach, stellte ich rasche Berechnungen an, wie
lange es wohl dauern würde, mir all die Pfunde wieder draufzuschaffen und ob ich bereit war, dieses Opfer zu bringen, selbst für Ben? »Ich weiß, du warst in letzter Zeit der Meinung, ich sei zu sehr in Äußerlichkeiten befangen, aber ich bin schon …« »Unsinn, du bist schon in Ordnung«, antwortete er mit nicht sehr schmeichelhaftem Mangel an Begeisterung. »Aber du mußt dich fragen, ob ich nicht nur hinter deinem neuen Körper her bin. Um ganz ehrlich zu sein, es ist eine schöne Dreingabe — ich liebe das, wie du in dem flammenfarbenen Kleid aussiehst …« »Aber?« »Ich wußte schon am ersten Tag, als wir hierher auf Merlins Schloß fuhren, daß du etwas ganz Besonderes bist, daß ich nie wieder jemandem wie dir begegnen werde. Die Erbschaft war nie der Anziehungspunkt — Geldgier, das kannst du mir glauben oder auch nicht, gehörte nie zu meinen Lastern. Ich redete mir ein, daß es die Herausforderung war, die mich lockte. Aber ich war nicht ganz ehrlich zu mir selbst über die Art der Herausforderung. Wie ein Haufen anderer Narren bin ich immer auf Frauen wie Vanessa geflogen, um meinem Ego zu schmeicheln. Bevor du noch viel Gewicht verloren hattest, merkte ich, daß es auf das Äußere überhaupt nicht mehr ankam, daß du für mich schön warst. Aber da ich nun mal ein so unsicherer Mensch bin und keine Ahnung hatte, was du für mich empfandest, beschloß ich, es sei besser, die sechs Monate abzuwarten, bevor ich dir sage, daß ich dich liebe. Auf die Art konnten wir dann beide — solltest du mich abblitzen lassen — ohne peinliche Verwicklungen in den Sonnenuntergang entschwinden.« »Original achtzehntes Jahrhundert«, sagte ich und zog ihm den schrecklichen Hut über die frierenden Ohren. »Na und? Aber dann mußtest du alles komplizieren,
dich in eine Nymphe verwandeln, die dieser Pfarrer ständig umschmachtete. Der Mann triefte je geradezu vor Anständigkeit. Ihm glaubtest du bestimmt, wenn er dir sagte, daß er nur deine Seele liebe. Also welche Hoffnung blieb mir? Zurückhaltung mußte ich als Gleichgültigkeit deklarieren, bis das Etikett sich ändern durfte.« »Ich verstehe.« Die Teile des Puzzlespiels fügten sich langsam zusammen. »Du hast absichtlich eine Wand zwischen uns errichtet, damit ich nicht ahnte, welche Leidenschaft sich hinter deinen finsteren, unergründlichen Blicken verbarg.« »Aber ich hatte Rückfälle. Ich habe sogar Rowlands Pfeife nachgeäfft, aber mir verlieh sie nie diese honorige Autorität wie ihm. Also kehrte ich dazu zurück, dich nicht zu beachten, auch in der Hoffnung, daß die emotionale Distanz mich von meinem Verlangen nach dir kurierte.« »In Sachen Verlangen bin ich Expertin«, sagte ich und schmiegte mein Gesicht an seine nasse Schulter. »Ein Teil von mir wird immer nach den falschen Leckerbissen hungern, aber ich muß dir sagen, daß ich nicht bereit bin, mir wieder meine alten Maße anzufuttern, nur damit du die Redlichkeit deiner Liebe beweisen kannst.« »Ich wußte, es ist hoffnungslos«, seufzte Ben und nahm mich für einen langen, schmerzlichen Kuß wieder in die Arme. »Nein, ist es nicht«, protestierte ich, als ich nach Luft schnappte. »Du und ich, wir beide müssen noch viel über die Liebe lernen und am besten fangen wir mit gegenseitigem Vertrauen an. Ich lasse dein Wort gelten, daß du mich liebst, egal, welche Kleidergröße ich habe, und du mußt mir glauben, daß Rowland Foxworth für mich ein sehr lieber, nicht unattraktiver, rein platonischer Freund ist. Einverstanden?« »Alles, was du sagst«, flüsterte Ben. »Ach Ellie, ich
liebe dich so sehr.« Wieder küßte er mich, und diesmal waren alle Schatten verflogen. Als ich die Augen öffnete, hatte der Regen endgültig aufgehört und die Sonne tat mit bleichem, wässerigen Licht ihr Bestes, auf unser Glück zu scheinen. Die Bedrohung, die im Haus auf uns lauerte, hatte ich völlig vergessen. Sogar Dorcas’ Abreise war zu einem geringfügigen Ärgernis geschrumpft, das bis später warten konnte. »Du hast doch meine Hoffnungen nicht umsonst geweckt. Du wirst mich heiraten, ja?« fragte Ben mit einer passenden Mischung aus Hoffnung und stiller Resignation. »Erst, wenn du in aller Form deiner geheimnisvollen Verlobten den Laufpaß gegeben hast, der armen Susan, falls sie nicht nur eine Erfindung war, um mich auf Distanz zu halten.« »Nicht ganz«, sagte Ben. »Ich habe sie erfunden, um mich auf Distanz zu halten.« »Dann werde ich dich als Belohnung für deine Ritterlichkeit heiraten. Aber ich muß gestehen, ich tue es um deines Körpers willen — nicht deiner Geistesgaben. Wilde, ungehemmte Leidenschaft wird meine neueste Sucht, kalorienarm und gut für die Figur. Obwohl« — ich machte eine Pause —, »du als Experte in Sachen Anziehungskraft müßtest wissen, daß du in diesen Klamotten nicht gerade toll aussiehst.« »Was stört dich daran?« Ben schaute an dem bodenlangen Mantel herab, dessen Schöße ihm flatternd um die Beine klatschten. »Jonas bestand darauf, mir den Mantel zu leihen, als er mir erzählte, daß du weggerannt warst. Er wollte wohl nicht, daß ich mir eine Lungenentzündung hole, bevor ich dich eingefangen habe.« »Er hatte recht, der Gute.« Ich legte meine Hände in die von Ben. Jonas hatte ihm offenbar nichts von Dorcas
gesagt und ich brachte es nicht fertig. Nichts durfte diesen Moment verderben — nicht der Feind, nicht Tante Sybil, nicht einmal Dorcas. So standen wir ganz still. Es wäre mir sehr lieb gewesen, wenn uns im Haus niemand erwartet hätte. Dann hätte ich ein Bad genommen, meinen grünen Samtmorgenmantel angezogen und wäre hinuntergegangen zum Feuer und zu Ben. Wir hätten ein Glas Cognac getrunken und dann … schließlich waren wir verlobt. »Ich weiß, was du denkst.« Ben lächelte. »Tante Astrid wäre entsetzt. Schade — dieses Schaffell als Kaminvorleger war wirklich eine deiner praktischeren Anschaffungen. Macht nichts, Liebling, wir haben alle Zeit der Welt, sobald wir die Verwandtschaft an die Luft gesetzt haben.« »Alle Zeit der Welt«, bestätigte ich und küßte ihn noch einmal, damit wir nicht aus der Übung gerieten. Meine Mutter hatte mich immer davor gewarnt, das Schicksal herauszufordern, und genau das taten Ben und ich jetzt vorsätzlich. Ich glaube, ich hatte in dem Moment eine Vorahnung, aber es war zu spät. Wir sahen nie, was da auf uns zukam — im wahrsten Sinne des Wortes. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Hüfte und riß mir die Knie weg. Die Welt kippte um und hing völlig verkehrt. In Zeitlupe glitt mein Leben an mir vorbei. Ich erlebte wieder den Schrecken des Speiseaufzugs. Aber das war keine Filmvorführung, die ich mir aus sicherem Sessel ansah. Das war das Leben, oder genauer der Tod. Ich fiel über den Rand der Klippen in den Abgrund und ich nahm meinen Liebsten mit. »Ben!« schrie ich. Das konnte nicht wahr sein. Wir waren so glücklich gewesen, ich durfte ihn nicht so bald verlieren. Nur der Wind und der Regen und die brandende See
antworteten. »Ben«, schrie ich wieder und hoch droben antwortete eine Möwe mit höhnischem Echo. »Ich bin direkt unter dir«, schnappte er. »Schau bloß nicht runter und halt die Luft an.« Ein kleiner Steinschlag, den unsere strampelnden Füße lostraten, verlieh seinem Ratschlag Nachdruck. Ich klebte am Steilhang, meine Finger griffen nach festerem Halt in dem knorrigen Gebüsch, das mich außer einem winzigen Vorsprung unter meinen Füßen als einziges vor dem Sturz in die brüllende See bewahrte. Ben klammerte sich an einen ähnlichen Vorsprung, sein Kopf war etwa einen Meter unter meinen Füßen. Verlor ich den Halt, riß ich ihn mit. Dieses Wissen hielt mich. Die Muskeln in meinen Armen verkrampften sich schmerzhaft, aber ich ließ nicht los. Natürlich war es um uns geschehen. Riefen wir um Hilfe, so hörte uns der Mörder und konnte uns mit einem Felsbrocken zum Schweigen bringen. Taten wir nichts, so glitt uns irgendwann das Leben aus den Fingern. Mein Fuß rutschte und ein weiterer bedrohlicher Steinschlag trommelte den Abgrund hinunter. »Wir müssen es riskieren«, sagte Ben. »Wir müssen um Hilfe rufen.« Ich versuchte es. Ich riß meinen Mund auf, aber es kam kein Laut. Inzwischen machte Ben genug Lärm für uns beide. Ich kniff die Augen zu und wappnete mich gegen die bevorstehende Lawine. »Ist da jemand?« kam eine Stimme von oben. »Meine Güte, Ellie, Ben. Was ist passiert? Was machen Sie denn da unten?« »Nur ein Pfarrer kann so dämlich fragen«, knurrte Ben. »Was zum Teufel glauben Sie, was wir hier tun? Versteck spielen? Holen Sie ein Seil, Foxworth, und beeilen Sie sich — es sei denn, Sie möchten auf Ihrem Friedhof Gruben für noch zwei buddeln.«
*** Er rettete uns. Bis zu meinem Sterbetag — durch seine guten Dienste bis auf weiteres verschoben — werde ich in Rowland Foxworths Schuld stehen. »Zerreiß dich nicht vor Dankbarkeit«, flüsterte mir Ben ins Ohr, als Rowland uns in seinem Arbeitszimmer allein ließ, um von der mürrischen Mrs. Wood heißen Kakao für uns zu erbitten. »Kein Grund, einen Märtyrerkomplex zu kriegen, sonst heiratest du den Burschen am Ende noch als Belohnung für erwiesene Wohltaten.« »Unsinn«, klapperte ich, mir war immer noch schnatterkalt. »Unser Gelöbnis wurde auf Granit gegründet, er bröselte zwar etwas, aber …« »All dieser Umgang mit Kirchenmännern ist sehr schädlich für mich«, seufzte Ben. Er zupfte die wollene Reisedecke zurecht, die um meine Knie gewickelt war. Für einen Mann, der gerade mit knapper Not dem Tode entronnen war, sah er in Rowlands rohseidenem Morgenmantel sehr fesch aus. Das konnte man von mir in Mrs. Woods Kittelschürze nicht sagen. »Ja, wenn du nicht aufpaßt«, fuhr Ben fort, »kriegt mich noch die Religion. Foxworth, der da in allerletzter Sekunde am Ort des Geschehens auftaucht, macht fast einen Gläubigen aus mir. Sein Timing grenzt ans Wunderbare.« »Gut«, erwiderte ich, »weil ich nämlich auf einer kirchlichen Trauung bestehe. Dabei fällt mir ein, ich werde mich hinsetzen und deinen Eltern einen Brief schreiben müssen, in dem ich ihnen mitteile, daß du dich gebessert hast, und wenn sie dabei sein wollen, wenn die Enkelkinder ankommen, müssen sie das Kriegsbeil endlich begraben.« Rowlands Erklärung für sein Erscheinen auf dem
Küstenweg war einfach. Er wollte uns besuchen. »Ich habe Neuigkeiten für Sie, die ich zu gut fand, um sie über das Telefon durchzugeben.« Er gab uns unseren Kakao. »Ein Geheimnis ist wenigstens aufgeklärt. Ich habe entdeckt, was aus Abigail Grantham wurde. Im Lichte der letzten Ereignisse erscheint das jetzt unbedeutend, aber ich versprach, Sie zu informieren, sobald ich etwas herausfinde.« Ben nahm besitzergreifend auf der Armlehne meines Sessels Platz. »Lassen Sie mich raten. Sie wurde über die Klippen gestoßen?« Rowland schüttelte den Kopf. Er suchte seine Pfeife. Ich entfernte einen kleinen, knubbeligen Gegenstand, auf dem ich gesessen hatte, und gab sie ihm. »Da wir von Klippen sprechen«, sagte er, »ich finde, Sie begehen einen gefährlichen Fehler, wenn Sie nicht die Polizei verständigen. Schließlich wurde ein Anschlag auf Ihr Leben verübt, und das nicht zum ersten Mal.« »Uns was sollen wir denen sagen?« fragte Ben. »Daß Ellie durch den Speiseaufzug fiel? Daß wir zu dicht an den Klippenrand gegangen sind?« »Die Waffe?« warf Rowland ein. »Die Holzkarre von Jonas. Ist zweifelsohne spurlos im Meer versunken. Aber selbst, wenn wir sie vorweisen können, was beweist das? Daß sie sich aus ihrer Halterung gelöst hat und uns dabei erwischte? Ein verliebtes Paar, daß zu sehr mit sich beschäftigt war, um an die überall aufgestellten Warnschilder zu denken: ‘Gefahr, steiler Abhang’? Der Inspektor würde seinem Wachtmeister zuzwinkern, sie würden ihre Notizbücher zuklappen und nach Hause gehen.« »Ja, wahrscheinlich«, gab Rowland widerwillig zu, während er sich mit einem Streichholz die Pfeife anzündete, »aber die Polizei könnte Ellie und Ihnen wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit geben.
Vielleicht zieht sich der Mörder zurück, wenn das Auge des Gesetzes auf ihm ruht.« »Da haben Sie recht«, sagte Ben, »und deshalb werde ich unsere Gäste informieren, daß ich von hier aus die Polizei angerufen habe und daß sie versprochen haben, während der ganzen Nacht überall im Gelände Wachtposten aufzustellen, die beim ersten Anzeichen von Gefahr die Türen einschlagen.« Rowland wirkte wenig überzeugt. »Wie soll das helfen, solange Sie und Ellie mit dem Wahnsinnigen unter einem Dach sind?« »Ich glaube doch.« Ich legte meine Hand in Bens und fühlte mich kühn genug, einer ganzen Armee von Mördern gegenüberzutreten. Zögernd erzählte ich ihnen von Dorcas, von der roten Schmiererei auf dem Kühlschrank, meinem Gespräch mit ihr und ihrem Abschiedszettel. Und dann — als hätten die beiden Dinge etwas miteinander zu tun — erwähnte ich Tante Sybils weggeworfene Schwimmflügel. Ein Rauchkringel entschwebte Rowlands Pfeife. »Das gefällt mir alles überhaupt nicht«, sagte er. »Das Problem ist«, Ben rieb sich die Stirn, »erwachsene Frauen können kommen und gehen, wie es ihnen paßt. Diese Flut von Abschiedsbriefen bereitet mir ziemliche Sorgen, aber wiederum, wird die Polizei überhaupt bereit sein, Nachforschungen anzustellen, ob Sybil und Dorcas nichts passiert ist? Wir können ihnen ja nicht mal sagen, wo sie suchen sollen.« »Sie müssen öffentliche Verkehrsmittel benutzt haben.« Der Pfarrer beugte sich vor und klopfte seine Pfeife im Aschbecher aus. »Ich kenne Leute beim Bahnhof und den Bushaltestellen, da werde ich sofort nachfragen. Mit dem roten Haar ist Miss Dorcas eigentlich schwer zu übersehen und das gleiche gilt für Miss Grantham, die selten verreist. Dieser Ort ist so klein
— ich bringe bestimmt etwas in Erfahrung.« »Ich danke Ihnen«, sagten Ben und ich gleichzeitig. Es war mir egal, welche Geheimnisse Dorcas vor mir hatte. Es war mir egal, wer oder was sie war. Sie war meine Freundin und ich wollte sie zurückhaben, damit ich ihr sagen konnte, was sie mir bedeutete. »Und bitte, Ben, was Sie auch vorhaben, lassen Sie Ellie heute nacht auf keinen Fall allein schlafen«, drängte Rowland. Ben zog eine seiner beredten Augenbrauen hoch. »Herr Pfarrer, Sie schockieren mich!« Er grinste. »Tut mir leid, aber ich konnte nicht widerstehen. Diese Nervenanspannung macht uns alle etwas meschugge. Wenn wir nicht angemessen reagieren, dann, weil wir gar nicht fassen können, was alles passiert. Beruhigt es Sie, wenn ich verspreche, daß wir die ganze Nacht aufbleiben und uns gegenseitig Gesellschaft leisten werden? Morgen fahren die Gäste ab und in ein paar Tagen sind die sechs Monate um.« »Und was dann geschieht«, gespannt sah ich Rowland an, »hängt vielleicht davon ab, was Sie über Abigail herausgefunden haben. Bitte sagen Sie es uns. Wie ist sie gestorben?« »Gar nicht.« Ben und ich starrten ihn an. »Jedenfalls nicht zu dem bisher angenommenen Zeitpunkt. So weit ich weiß, führte sie ein langes Leben, allerdings nicht zusammen mit Sohn und Ehemann.« »Aber die Beerdigung?« Ich konnte diese neue Vorstellung noch gar nicht verarbeiten. »Erinnert ihr euch an Onkel Merlins Forderung, seine Beerdigung solle eine genaue Wiederholung von der seiner Mutter sein? Wir fanden das damals gruselig: das altmodische Pferdefuhrwerk, das auf der Küstenstraße durch den Nebel schwankte.«
»Ja.« Ben kniff die Augen zusammen und ich spürte, wie ein Zittern der Erregung von seinen Fingern auf meine übersprang. Im Zimmer war es sehr still, nur der Regen trommelte gegen die Scheiben und die Vorhänge blähten sich im Luftzug. Rowland fand zusehends Gefallen an seiner Rolle als Geschichtenerzähler. »Es gab eine Beerdigung«, bestätigte er und genoß unsere offenkundige Spannung. »Aber keine Leiche. Ellie, in einer Beziehung hatten Sie recht über Arthur Grantham. Er war die schlimmste Art Christ: frömmlerisch, scheinheilig, rachsüchtig. Aber er war kein Mörder. Die Beerdigungszeremonie war eine symbolische Teufelsaustreibung. Abigail war nicht tot, nicht im wörtlichen Sinne, aber er wollte sie den Flammen der Hölle überantworten. Er hatte sie in einer, wie er fand, kompromittierenden Situation mit dem jungen Künstler überrascht, der ihr Portrait malte. Miles Biddle hieß er, glaube ich. Für Arthur war Abigail tot. Um das zu beweisen beerdigte er sie im Geiste, wenn schon nicht im Fleische. Ich nehme an, diese Geste trug viel dazu bei, seinen verletzten Stolz zu besänftigen.« »Wie gut hat sein Stolz überlebt, wo doch alle Nachbarn wußten, daß seine Frau einem anderen Mann den Vorzug gab?« »Sie wußten es nicht«, sagte Rowland. »Arthur hat den Skandal vertuscht. Die Beerdigung diente noch einem weiteren Zweck. Anstatt für den Rest seiner Tage ein Gegenstand des Mitleids und sogar des Hohngelächters zu sein, war er Witwer. Es gab natürlich Gerüchte, aber er bestach den Arzt und den Leichenbestatter, damit sie seine Version vom plötzlichen Ableben seiner Frau bestätigten.« »In gewissem Sinne log er nicht einmal«, fügte Ben hinzu. »Vermutlich war es nicht allzu schwer,
unterbezahlte Ärzte und Leichenbestatter zum Schweigen zu bringen, wenn nur der Preis stimmte. Wahrscheinlich haben sie über das Thema Abigail so hermetisch den Mund gehalten, daß allein schon ihr Schweigen Gerüchte auslöste.« »Der Pfarrer.« Ich zog die Reisedecke fester um mich. »War er in Arthurs kleinen Betrug eingeweiht?« »Oh ja.« Rowland zündete wieder ein Streichholz für seine Pfeife an. »Der Herr Pastor Geoffrey Hempstead wurde mit einem bunten Glasfenster in der Südwand der Kirche gekauft — Sie werden es gesehen haben, ganz außergewöhnlich. Ich kann mir vorstellen, zu der damaligen Zeit hielt er es für völlig gerechtfertigt, daß Arthur Grantham seine Frau verstieß. Ellie, ich habe ihnen doch von einigen seiner Predigten erzählt. In der einen verdammte er ein Kind, weil es Blumen ‘gestohlen’ hatte, in einer anderen geißelte er eine Frau, die Ehebruch begangen hatte. Ob er da auf Abigail anspielte, weiß ich nicht, aber die Strenge seiner Ansichten war bekannt. Er muß der Unbarmherzigkeit von Arthurs Vorgehensweise Beifall gezollt haben und von dem Glaubenseifer begeistert gewesen sein, mit dem eine Sünderin aus dem Leben ihres Gatten und Sohnes getilgt wurde. Der Unterschied zwischen den beiden Männern war — Hempstead war kein Heuchler. Sein Gewissen hat seine eigene Seele genauso gnadenlos ins Gebet genommen wie seine Gemeindemitglieder. Er konnte sich nicht dazu überwinden, das Gemeinderegister zu fälschen, indem er ihren Tod eintrug. Er schrieb einen Brief an seinen Bischof, in dem er seine weltliche Raffgier gestand. Außer seinem Brief fand ich auch die Antwort des Bischofs. Er tadelte ihn, weil er sich an einer falschen Beerdigung beteiligt hatte. Alle Einzelheiten sind erwähnt, der Bischof ließ sich ausführlich darüber aus.« »Seltsam.« Mich überkam ein leichter Schauder. »Wir
fingen mit einer Beerdigung an — Onkel Merlins —, und wir enden mit einer. Denn das ist das Ende der Spur, nicht wahr?« Ich schaute zu den beiden Männern hoch. »Wenn Abigail nicht in dem Sarg liegt, läßt sich unschwer erraten, was darin ruht. Da liegt ein Schatz begraben — der Ausdruck stimmt in diesem Fall wortwörtlich.«
Siebzehn Wir fanden Abigails Schatz. Rowland hatte zwar Bedenken, weil er nicht die Erlaubnis des Bischofs zur Graböffnung einholte, aber seine Neugier war genauso groß wie die unsere und auch er duldete keinen weiteren Aufschub. Er begleitete uns in die Gruft. Am Grunde des Sarges fanden wir, säuberlich geordnet, Abigails persönliche Besitztümer, ihre Kleider — weder aufwendig noch zahlreich, einen Drachen, ein Nähkästchen, Haarbürsten und Kämme und ein ungeheuerliches Zeugnis von Arthur Granthams Strafmethoden: die Reste eines winzigen Skeletts und ein braunes Lederhalsband. »Er hat ihren Hund umgebracht — den streitbaren kleinen Mops auf dem Portrait.« Ich umklammerte die Seitenwände des Sarges. »Kein Wunder, daß Merlin sich nie ein Haustier hielt.« »Jetzt wissen wir, warum er zum Menschenfeind wurde.« Ben zog einen Briefumschlag hervor, der unter den Kleidern gesteckt hatte. »Was mußte dieser Junge von neun Jahren mitansehen — die Verbannung seiner Mutter, ihre Scheinbeerdigung, und dann wurde auch noch ihr Hund erschlagen.« »Ich hoffe doch, daß sein Vater den kleinen Merlin vor der Wahrheit abgeschirmt hat«, sagte Rowland, der immer noch das zerbrechliche Knochenhäufchen betrachtete.
»Da hoffen Sie vergebens.« Bens Gesicht wurde grimmig. »Der gute alte Arthur hat es bestimmt genossen, seinem Sohn mitzuteilen, daß Abigail ihre gerechte Strafe erhalten hatte. Wir wollen dankbar sein, daß es Merlin irgendwie gelungen ist, das Portrait und die Tagebücher zu retten.« »Himmel«, sagte ich, »davon wollte ich dir doch erzählen, aber — na macht nichts, das Wichtigste zuerst. Was ist in dem Briefumschlag? Mach ihn auf, bitte.« »Ich komme mir vor wie bei der Oscar-Verleihung«, witzelte Ben, aber mir fiel auf, daß seine Hände nicht sehr ruhig waren, als er einen einzelnen Bogen herauszog und vorzulesen begann: Liebe Mrs. Grantham, Sie mußten sicher viele Eier zerschlagen, bis Ihr unfehlbares Rezept perfekt war. Mein Küchenchef ist begeistert. Er sagt mir, unser Haus hat einen neuen Schatz, deshalb hoffe ich, Sie werden von uns einen alten annehmen, ein Kinkerlitzchen, das Philipp von Spanien Elisabeth schenkte. I. M. gab es meiner Urahnin, ebenfalls Hofdame, denn sie hatte einen Rochus auf P., als sein Geschenk eintraf. Ich danke Ihnen für den Tee und den gemütlichen Plausch. Laura Wallingford-Chase »Ach«, seufzte ich, »wie einfach doch alles wird, wenn man die Erklärung weiß.« »Genau das dachte ich auch.« Ben nickte Rowland zu. »Sagen Sie bloß nicht, Teuerster, daß Sie die Situation nicht mit einem Blick erfassen. Sag es ihm, Ellie Liebling, erlöse den Mann von seinen Leiden.« »Werde ich euch auch nicht langweilen? Zuerst einmal: das fragliche Rezept ist für ein Soufflé, das nicht
zusammenfallen kann. Jetzt fall du nicht vor Begeisterung zusammen, Ben …« »Höchstens vor Panik. Existiert diese Entdeckung von universeller Bedeutung noch, ist sie in …?« »Sicherheit? Aber ja. Ich habe sie erst heute gefunden, aber sie ist vor allen neugierigen Blicken versteckt. Du sollst sie haben, mein Junge, keine Angst. Nächste Frage. Wer ist Laura Wallingford-Chase? Wieder hat mein Computerhirn die Antwort gespeichert. Und da ich weiß, wer sie ist, weiß ich auch, wo der Schatz ist.« »Aber liebste Ellie, wo ist der Schatz?« fragten Rowland und Ben wie Zwillingspapageien. »Im Nähkästchen, würde ich denken. Es hat ungefähr die richtige Größe. Warum machst du es nicht auf und schaust nach?« Er tat wie geheißen und stieß einen ungläubigen Pfiff aus. »Nun hör auf zu glotzen und gib schon her.« Ich grapschte nach dem Kästchen, schaute hinein und umfaßte es fester. Wenn ich jetzt niesen mußte und das Nähkästchen samt Inhalt fallen ließ? »Es ist so zart und fein, daß ich Angst habe, es anzufassen. Wenn ich zu stark atme, zerbricht es wie …« »Ein Ei«, ergänzte Ben, »wie all die Eier, die Abigail zerschlagen mußte, bis ihr Rezept perfekt war. Aber dieses Ei ist aus purem Gold, wenn man von den paar Smaragden absieht. Laura Sowieknall muß mit Midas verwandt gewesen sein, wenn sie das für ein Kinkerlitzchen hielt. Du sagst, du weißt, wer sie war, Computerhirn, also sprich.« »Rose, Abigails früheres Dienstmädchen, hat es mir erzählt. Damals war ich etwas schwer von Kapee, habe zwei und zwei nicht zusammengezählt, aber heute … Rose erzählte, daß einmal eine reiche, adlige Dame vor
Merlins Schloß im Sturm steckenblieb, daß Abigail sie in der Küche sehr einfach, aber gastfreundlich bewirtete und daß sie der Dame eines ihrer Rezepte gab. Für welche Freundlichkeit Abigail später einen warmen Dankesbrief und ein Osterei erhielt. Rose dachte, es war für den kleinen Jungen, aber sie hat es wohl nie gesehen.« »Als Mann von einfachem Geschmack« sagte Ben, »hätte ich ein Schokoladenei vorgezogen, aber diese ornithologische Gabe muß unschätzbar wertvoll sein, obwohl für mich nicht so wertvoll wie das Soufflé, sollte ich je mein Restaurant eröffnen.« Er schaute auf das Ei, das in seiner güldenen ovalen Herrlichkeit leuchtete wie eine kleine, mit winzigen Smaragdsternen gesprenkelte Sonne. »Nur schade, daß wir nicht die einzigen sind, die dieses Geheimnis kennen. Die Nachkommen der hohen Dame müssen seit sechzig Jahren Bescheid gewußt haben. Ich frage mich, ob es Leute sind, die sich abfinden lassen.« »Sei still«, sagte ich. »Schau, das Ei besteht aus zwei Hälften wie ein Medaillon. Vorsicht, schubs mich nicht, wenn ich es aufmache, wir wollen kein Rührei.« Im Innern war ein zierlich gearbeiteter Zweig aus Platin, auf dem ein schimmernder blauer Vogel saß, die Flügel wie im Flug ausgebreitet, den Bernsteinschnabel wie im Gesang geöffnet. »Dieser Vogel«, erklärte ich den Männern geduldig, denn sie gehören nun einmal einer Spezies an, die wenig von den feineren Dingen des Lebens versteht, »dieser Vogel ist aus Saphir und die Augen sind Smaragde.« »Danach wird dein Verlobungsring reichlich popelig aussehen«, seufzte Ben. »Ich möchte im Moment nicht über Ringe reden.« Ich schloß den Vogel wieder in sein Ei. »Wenn ich daran denke, daß Abigail dieses herrliche Kunstwerk besaß und
gezwungen war, den Granatring ihrer Mutter zu verkaufen, um ein neues Leben anzufangen!« Ich wandte mich an Rowland. »Sie mögen nicht viel davon halten, daß sie mit einem anderen Mann auf- und davonging, aber sie war eine bemerkenswerte Frau. Sogar in einer so verzweifelten Lage nahm sie sich die Zeit, den Verkauf des Ringes in ihr Haushaltsbuch einzutragen. Wenn in jenen Tagen etwas abhanden gekommen war, dann hatte gewöhnlich eines der Dienstmädchen das auszubaden. Das wollte Abigail verhindern.« Rowland lächelte und wieder mußte ich denken, was war er doch für ein unglaublich netter Mann. Er verdiente eine liebevolle, hilfreiche Frau, jemand mit viel Energie. Jill — er würde sie auf der Hochzeit kennenlernen und wer weiß, was mit ein bißchen Nachhilfe daraus werden mochte? »Wie wäre es mit einem kurzen Gebet für sie? Was immer aus Abigail Grantham wurde, möge sie in Frieden ruhen«, schlug er vor. Und der Atheist Bentley T. Haskell war einverstanden. *** »Ein Anschlag auf euer Leben, und darf ich fragen, wer die Schuldigen sind?« kreischte Tante Astrid, als Ben sie und die anderen informierte, warum wir uns so verspätet zum Tee einfanden. »Die Polizei umstellt das Haus! Ich bin noch nie in meinem Leben so gedemütigt worden! Hol meinen Mantel, Vanessa, ich gehe. Ich weigere mich, auch nur eine Minute in einem Haus zu bleiben, wo man mich des Mordes bezichtigt.« »Dich nicht allein«, tröstete sie Freddy. »Ich vermute, wir stecken alle«, er zwinkerte mir grotesk zu, »unter einer Decke? Na super. Ich wollte schon immer mal an einem Komplott beteiligt sein. Würde mich jemand aufklären, was ich bis jetzt verpaßt habe?«
Onkel Maurice schnaufte. »Halt den Mund«, befahl er seinem Sohn, »und du hör auf zu heulen, Lulu. Wenn es wahr ist, was Ellie und Ben behaupten …« »Willst du meine blauen Flecke sehen?« fragte ich erbost. Vanessa heuchelte Schock. »Liebling, eine Dame zieht nie im Salon ihre Höschen aus.« Onkel Maurice übertönte sie. »Ich habe nicht an eurer Wahrheitsliebe gezweifelt, nur die Tatsachen abgewogen. Komm, Ellie, setz dich. Du dürftest nicht auf den Beinen sein.« »Sie kriegt doch kein Kind«, mokierte sich Freddy. »Nein«, pflichtete ihm Tante Lulu bei und trocknete sich die Tränen, »Kinder brauchen neun Monate und wie es ausschaut, hat sie unter Umständen nicht mehr so lange zu leben.« »Das ist eine unnötig pessimistische Einschätzung.« Onkel Maurice klopfte mir auf die Schulter und half mir betulich in einen Sessel. »Ben, du hältst mich hoffentlich nicht für einen Korinthenkacker, wenn ich sage, das Wort Mord klingt sehr häßlich. Ich ziehe es vor, diese etwas unglücklichen Vorfälle für harmlose Streiche zu halten, die ein wenig zu weit gingen. Wenn der Übeltäter sich jetzt fairerweise meldet, dann bin ich überzeugt, wir können diese peinliche Geschichte innerhalb der Familie abmachen.« Er blickte hoffnungsvoll in die Runde. Niemand hob errötend die Hand oder senkte schuldige Augen. »Na schön«, fuhr Onkel Maurice fort, als spräche er zu Kindern in einem Klassenzimmer, wo der Tafelschwamm fehlt, »es bringt nichts, wenn jemand von uns heute abend aus dem Haus geht. Ganz im Gegenteil. Wenn wir zusammenbleiben, haben wir alle Alibis. Astrid, wenn du eine Szene machen willst, dann ist das deine Sache. Ich für mein Teil habe keine Lust, mit dem Auto durch das
Unwetter zu paddeln — bei fünf Stundenkilometern kann ich glücklich sein, wenn ich morgen nachmittag zu Hause bin.« »Darf ich daraus schließen«, Ben lächelte umgänglich, »daß ich mit euch allen zum Abendessen rechnen kann?« Er erhielt zustimmendes, wenn auch nicht sonderlich erfreutes Nicken, und ich ging mit ihm in die Küche. »Ich hoffe sehr«, sagte er und küßte mich, »der alte Spruch, daß man die Familie heiratet, stimmt nicht. Onkel Maurice war der einzige, der wenigstens indirekt so etwas wie Mitleid mit uns äußerte.« »Sie haben alle viel zu viel Angst um ihren eigenen Hals.« Ich drückte mein Gesicht an seines. Dann beugte ich mich zurück und betrachtete ihn prüfend. »Du bist erstaunlich zuversichtlich. Verheimlichst du mir etwas? Ich habe das Gefühl, du machst dir nicht mehr solche Sorgen um unsere schrumpfende Lebenserwartung.« »Kannst du jetzt schon meine Gedanken lesen? Ich dachte, das kommt erst nach vielen Ehejahren.« Er streichelte meine Wange. »Da ist jemand, mit dem ich reden muß. Wenn meine Theorie stimmt, kann ich dir danach sagen, warum wir nicht mehr in Gefahr sind — wenn wir es überhaupt je waren — außer durch einen verhängnisvollen Irrtum.« »Wie bitte?« »Ich glaube nicht, daß du und ich je die eigentlichen Zielscheiben waren. Wir gerieten nur immer in den Weg. Viele Einzelheiten ergaben keinen Sinn, weil wir das Ganze aus einem falschen Blickwinkel betrachtet haben. Heute nachmittag wurde mir klar, wo wir den ersten Fehler begangen haben, und das änderte alles.« »Hat das irgend etwas mit Dorcas zu tun?« »Nein«, sagte Ben. »ich mache mir auch Sorgen um sie. Wie sie da hineinpaßt, weiß ich nicht, also habe ich
auch keine Ahnung, ob sie sich irgendwie in Gefahr gebracht hat. Hoffentlich hat Rowland bald Neuigkeiten für uns.« »Wenn du mir nur sagen würdest, was du vermutest«, drängte ich. »Nicht, bis wir die Meute im Salon abgefüttert und ins Bett gebracht haben und nicht, bevor ich mit meiner Quelle gesprochen habe. Es ist immer noch möglich, daß ich mich irre. Bisher hatte ich nicht allzu oft recht.« Es klingelte an der Tür und wir rasten beide in die Halle. Hoffentlich war das Dorcas oder wenigstens Tante Sybil. Freddy war schneller als wir, riß die Tür gegen die stürmische nasse Nacht auf und bat jemanden herein — eine kleine, drahtige Person mit grüner Punkfrisur. »Jill«, schrie ich und rannte in ihre Arme. »Hey, du siehst super aus.« Sie tastete mich ab, als wollte sie nachsehen, ob ich die fehlenden Teile irgendwo versteckt hatte. »Hallo Ben, tut mir leid, daß ich mich bei euch wegen der Hypnosekiste nicht früher gemeldet habe. Ich war mit meinem Guru im schottischen Hochland meditieren — Tibet ist heutzutage finanziell nicht mehr drin —, aber er entpuppte sich als Typ von widerwärtig körperlicher Mentalität, außerdem hat er behauptet, er sei Vegetarier und ich habe ihn dabei ertappt, wie er Fliegen aß. Aber die Spinne hat mir was beigebracht — Hypnotisieren. Ich hatte schon einen Fernkurs darüber mitgemacht, aber wie auch immer, deswegen bin ich jetzt hier, um zu helfen. Ich komme doch nicht zu spät?« Wie konnte ich meiner lieben, arglosen Freundin sagen, daß sie in ein Mörderhaus geraten war? Wie sich herausstellte, brauchte ich ihr gar nicht viel zu sagen. Freddy schien ihren hypnotischen Kräften verfallen zu sein. Er konnte seine Augen nicht mehr von ihr losreißen, und sie war von ihm offenbar ebenso hingerissen. Beiden
entrang sich ein Seufzer spirituellen Wiedererkennens, danach fielen sie in Trance, was unter gesellschaftlichem Aspekt wenig hilfreich war. Sie redeten weder miteinander, noch zu sonst jemand. Der Abend schleppte sich dahin, fast hätte ich gesagt im Beerdigungstrott, aber in letzter Zeit war der Gang zum Grab für mein Gefühl ein Eilmarsch geworden. Zuletzt begannen alle einstimmig zu gähnen und verkündeten, sie wollten ihre Betten aufsuchen — außer Tante Astrid. Da kehrte Freddy in die Welt der Realität zurück und sagte ihr, wenn sie mit Nadel und Faden bewaffnet aufbliebe, nachdem jedermann sich zurückgezogen habe, dann gebe das Anlaß zu Spekulationen, welch finstere Gedanken sie vom Schlaf abhielten. »Ich werde dieses Haus«, mit diesen Worten rauschte Tante Astrid hocherhobenen Hauptes in die Halle, »nie wieder betreten.« Immerhin, das war doch ein Lichtblick. Ben und ich, endlich allein, gingen in die Küche. Was war das für ein Tag gewesen — angefangen bei der Frage nach Dorcas’ wahrer Identität. Vielleicht hatte sie sich aufgemacht, weil sie meinte, mein Vertrauen in sie sei unwiderbringlich dahin? Ben zog sich den Mantel an. »Bleib hier«, befahl er. »Ich bin im Nu zurück. Setz den Kessel auf, ich bringe Jonas auf eine Tasse mit.« Also unser vertrauenswürdiger Gärtner war die Quelle. Was konnte Jonas uns erzählen? Ich hatte kaum den Kessel auf den Herd gesetzt, da war Ben wieder da, allein, mit finster blitzenden Augen im regennassen Gesicht. »Schnell«, schrie er. »Greif dir deinen Mantel. Vielleicht kommen wir schon zu spät. Hier, nimm meinen.« Er riß ihn sich herunter und warf ihn mir über die Schultern. Seine Panik war ansteckend.
»Wo gehen wir hin? Wo ist Jonas?« Ben packte mich bei der Hand, zerrte mich durch die Gartentür in den peitschenden Regen und über den aufgeweichten Rasen. »Noch ein Abschiedsbrief — diesmal steht drin, Jonas ist seine Mutter besuchen.« »Aber das ist doch lächerlich. Jonas hat keine Mutter mehr. Sie ist tot.« »Genau, ihre Adresse lautet Villa Grabstein.« »Aber dann, oh mein Gott, Ben, die anderen Briefe!« Ich rannte nicht. Ich glitt nur auf meinen Füßen dahin, so zerrte Ben mich hinter sich her. »Keine Zeit«, rief er. »Vielleicht kommen wir schon zu spät. Was bin ich doch für ein Trottel gewesen. Heute nachmittag habe ich es geahnt, aber ich dachte, ich warte ruhig noch ein paar Stunden, bis ich mit Jonas ungestört reden kann.« Wir waren nach dem Eisentor direkt auf den Küstenweg eingebogen und betraten jetzt den Friedhof. Wir stolperten um die Grabsteine herum. »Hier«, sagte Ben, und meine Füße hielten an. Wir standen vor der Familiengruft. »Hier? Aber Jonas’ Mutter ist nicht hier …« Ich schwieg, weil ich wußte, Ben hatte recht. Wir hatten unser Ziel erreicht. Um uns herum lauerte Böses. »Ellie«, sagte Ben kurz, »ich will, daß du mich hier verläßt und zum Pfarrhaus läufst. Weck’ Foxworth auf und hol die Polizei.« »Nein.« Ich weigerte mich mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte, das Klappern zu unterdrücken. »Ich komme mit dir mit. Zu zweit haben wir eine doppelte Chance. Du weißt, wer der Mörder ist, nicht wahr?« »Ja, aber du kommst nicht mit.« »Versuch, mich daran zu hindern.« Ich küßte ihn rasch und Hand in Hand betraten wir die Gruft. Ich hatte totale Finsternis erwartet. Ben hatte eine Taschenlampe
mitgebracht, aber wir brauchten sie nicht. Das eisige Gewölbe tanzte in flackerndem Kerzenlicht. Als erstes sahen wir Jonas — aufgebahrt auf Abigails Sarg. Die Füße zusammen, die Hände auf der Brust gefaltet. Oh Gott, dachte ich, er ist schon tot. Ich liebte Jonas. Ein verzerrter Schatten bewegte sich in der Ecke. Eine Frau trat mit hoch erhobenem Spaten ins zitternde Licht. »Tante Sybil!« Ich mußte laut gesprochen haben, denn sie blickte auf, leicht irritiert wie so manchmal, wenn ich unangekündigt in ihrem Häuschen erschienen war. »Ich hatte gehofft«, sagte sie vorwurfsvoll, »ich könnte das hier beenden, bevor ihr zwei auftaucht. Ich hätte wissen müssen, daß ihr kommt und eure Nasen reinsteckt. Darum habe ich einen Zettel an Merlins Tür gemacht. Ich hatte gehofft, wenn ihr merkt, daß er weg ist, lauft ihr herum wie Hühner mit abgehacktem Kopf, aber ihr Schlaumeier hattet es schon herausgebracht. Ich habe gesehen, wie ihr heute nachmittag mit dem Pfarrer hier reingegangen seid, aber ich konnte nicht so lange warten, bis ihr wieder rauskamt. Ich mußte mich um Merlin kümmern.« »Merlin?« sagte ich, »aber Tantchen, das ist Jonas, nicht Merlin. Du bist ein wenig verwirrt.« »Nein, das ist sie nicht.« Ben sprach ganz ruhig, als wären wir auf einer Cocktailparty. »Es war Jonas, der vor sechs Monaten starb, nicht Merlin. Es muß eigentlich ziemlich einfach gewesen sein: zwei alte Männer, die nie jemand zu Gesicht bekam, beide mit einem makabren Sinn für Humor, nahmen sich vor, wenn der Gärtner mit seiner Herzschwäche stirbt, dann tritt sein Herr in seine lehmigen Fußstapfen. Auf die Art konnte Merlin die Ausführung seines Testamentes überwachen. Der Arzt unterschrieb völlig ahnungslos den Totenschein und Mr. Bragg hatte Merlin nur einmal gesehen, um das
Testament aufzusetzen, und da war er in dicke Schals eingemummelt.« »Sehen wirklich alle alten Leute für uns gleich aus?« fragte ich traurig und betrachtete Onkel Merlins reglose Gestalt. »Er ließ sich natürlich den Schnurrbart wachsen, und als wir ihn damals nachts in der Küche sahen, war er ohne Gebiß und mit dieser blöden Nachtmütze, aber ich hätte es merken müssen. Obwohl das Licht schummrig war und ich Jonas nur draußen im Schneegestöber sah.« »Ellie, jetzt hör schon auf«, sagte Ben im Tonfall eines Schwachsinnigen. »Wir müssen uns bei Tante Sybil für unser ungelegenes Eindringen entschuldigen. Wobei stören wir denn gerade?« »Angesichts seiner Affenliebe zu seiner Mutter, dieser verworfenen Ehebrecherin, beschloß ich, ihn auf ihr Grab zu legen und aus ihm ein Steinbild zu machen. Nicht, daß Abigail hier begraben liegt, wie ihr ja schon wißt.« Tante Sybil lächelte verschlagen. »Hat es mit diesem schüchternen Malerbürschchen getrieben, dabei war er fast noch halbwüchsig und sie schon über dreißig. Der arme Onkel Arthur, das war eine solche Demütigung für ihn! Aber ich habe mich bemüht, alles wiedergutzumachen. Als ich zur Beerdigung herkam, habe ich mir ihren Hund gegriffen und ihn für ihn umgebracht. Selbst die nettesten Männer neigen dazu, zimperlich zu sein, aber für mich war es nicht das erste Mal. Ich hatte mal eine Katze und sie wollte sich nicht Schal und Mütze von mir anziehen lassen, da habe ich sie ersäuft. Merlin war damals gerade bei uns am Meer und ach, diese kindischen Tränen! Er war sich nicht ganz sicher — ob es ein Unfall war, meine ich. Jungens sind so blöde. Ich hoffte, er würde sich erinnern, als ich euren scheußlichen alten Kater im Schloßgraben ersäufte, aber niemand ist so blind wie die, die nicht sehen wollen. Er hat nicht einmal gewußt, daß seine Mutter über all die
Jahre versucht hat, mit ihm in Verbindung zu treten. Dafür habe ich gesorgt. Ich habe alle Briefe zurückgehen lassen und draufgeschrieben ‘Annahme verweigert’, und nach einer Weile kamen dann keine mehr.« »Onkel Arthur hat deine …«, Ben suchte nach dem Wort, »… innere Stärke bewundert?« »Oh ja, er fand mich sehr lieb.« Tante Sybil glättete die Zementmischung mit der Rückseite des Spatens. »Hoffentlich bröckelt das nicht. Das Leben ist voller Glück im Unglück. Wenn die Handwerker wie versprochen gekommen wären, um das Tor zu reparieren, hätte ich das Zeug nicht zur Verfügung gehabt. Ich hätte mir etwas anderes ausdenken müssen, um den armen Merlin zu beseitigen. Und das wäre schade gewesen, denn so ist es doch sehr passend. Was wollte ich gerade von Onkel Arthur erzählen? Ach ja. Er hat mich abgöttisch geliebt und ich glaube, ich war auch in ihn verliebt. Ich hoffte immer, aus dem armen Merlin würde mal ein Mann wie sein Vater, aber er hat eben kein Rückgrat und Gottseidank keine Phantasie. Ein halbes Jahrhundert habe ich darauf verschwendet, ihn mir zu formen und den Mann so geliebt, wie ich ihn haben wollte. Denn ich hatte ja eine Vorstellung davon bekommen, was ich wollte. Der liebe Onkel Arthur, er mochte es sehr, wie ich das Haus führte.« »Hast du später nie daran gedacht, wegzuziehen, ein eigenes Leben anzufangen?« Ben schob sich zentimeterweise vorwärts. Ich wurde an das Kinderspiel ‘Lebende Denkmäler’ erinnert. Jedesmal, wenn Tante Sybil hochschaute, erstarrte er. »Wie, und Merlin verlassen?« Tante Sybil sah richtig schockiert aus. »Ich liebte ihn doch oder glaubte es zumindest. In letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob meine Gefühle nicht nur eine ewige Schwärmerei waren. Ihr habt nie verstanden, auf welche Art ich ihn geliebt habe,
stimmt’s? Ja, und da habt ihr einen schweren Fehler gemacht. Leidenschaftliches Begehren ist nicht vernünftig, es kann umschlagen. In diesem Fall in Haß. Ich spürte das erste Aufkeimen, als er sich mit Jonas diebisch auf das Versteckspiel freute. Die Aussicht, daß dieser ordinäre Mensch bald sterben mußte, hatte mich so glücklich gemacht. Merlin konsultierte sogar noch einen Spezialisten aus London, und dann mußten sie alles verderben. Jonas nahm die Nachricht, daß es mit ihm vorbei war, sehr gut auf … Er war immer der Meinung, mit ihm stimmte was nicht, also war er richtig froh. Er sagte im Scherz, es täte ihm nur leid, daß er nicht bei seiner eigenen Beerdigung dabei sein konnte. Dadurch kamen sie auf die Idee. Merlin ließ mich schreiben und die ganze Familie einladen, damit er sich seine Erben aussuchen konnte. Die Schatzsuche mit dem ganzen übrigen Hokuspokus war ein zusätzlicher Einfall. Und dann faßte er eine seiner absonderlichen Vorlieben zu euch beiden. Er fand, ihr hattet Courage.« »Was hatte denn Onkel Merlin nach Ablauf der sechs Monate vor, wollte er von den Toten auferstehen?« Meine Angst verflüchtigte sich, mir war etwas schwummerig. Warum stand ich in einem Grabgewölbe und unterhielt mich mit einer Wahnsinnigen, die gerade die große Liebe ihres Lebens einzementierte? »Ist er«, meine Stimme zitterte leicht, »lebt er noch?« »Oh ja.« Sie nickte fröhlich. »Nur betäubt. Das ist es ja gerade. Ich hoffe, er kommt noch mal zu sich, bevor ich sein Gesicht zumache. Du hast gefragt, was Merlin vorhatte. Er hat mir nichts von der Schatzsuche oder diesen albernen Hinweisen gesagt, aber ich glaube, ursprünglich hatte er vor, die Würfel entscheiden zu lassen. Wenn ihr eure Aufgaben löst, dann bekommt ihr das Haus und das Geld, genau wie es im Testament steht. Aber ich habe euch ja gesagt, er war kein Realist.
Er faßte Zuneigung zu euch. Er sagte, Ellie hätte das Haus wieder so hergerichtet, wie es zu Lebzeiten seiner Mutter war. Als ob ich mir nicht die Finger wund gearbeitet hätte. Er fing ein neues Leben ohne mich an, er brauchte mich nicht mehr. Wenn er tot gewesen wäre, hätte ich das verstehen können, aber so … Genug davon. Wie es auch ausging, er wollte, daß ihr hierbleibt. Wenn ihr nicht für die Erbschaft in Frage kamt, dann wollte er sich den rechtlichen Konsequenzen stellen, wie Lazarus auferstehen und euer Besitzrecht festlegen.« »Tante Sybil«, sagte Ben bewundernd, »du bist wirklich eine unglaubliche Frau, hast uns völlig hinters Licht geführt. Bist einfach verschwunden, so daß wir statt dich zu verdächtigen uns deinetwegen Sorgen machten. Und die ganze Zeit über hast du dich in deinem eigenen Häuschen versteckt, stimmt’s?« Tante Sybil nickte und kicherte. »Das war ein Spaß! Aber ich wollte nicht, daß ihr euch Sorgen um mich macht, sondern er. Ich habe die Schwimmflügel nahe bei seinem Müllfeuer hingelegt, damit er denkt, ich sei ertrunken, aber was machte ihm das schon? Und was konnte ich erwarten, nachdem er auf eurer Abendgesellschaft so zu mir gesprochen hatte? Davor hatte ich ein paar Dinge getan, um zu zeigen, daß mir die neue Aufteilung nicht paßte, aber an dem Abend beschloß ich endgültig, ihn umzubringen.« »Ich dachte, du hast immer so sehr an ihm gehangen«, sagte ich. »Das habe ich auch.« Sie häufte wieder eine Ladung Zement auf Onkel Merlin und klopfte sie zurecht. »Das war natürlich sehr dumm von mir. Diese einseitigen Geschichten sind nie von Dauer. Jahrelang habe ich davon geträumt, meine Hochzeitsreise nach Südfrankreich zu machen.« Das war also der Grund für die Reiseprospekte in der
Geheimschublade. »Ich hatte mein gerüttelt Maß an Verletzungen, jetzt ist er dran.« In ihrem ausdruckslosen Gesicht glommen böse Augen. »Sieht das gleichmäßig aus? Ich will, daß seine Knie richtig aussehen, knorrig und verbogen.« »Genau getroffen«, sagte ich. Tante Sybil sah erleichtert aus. »Wie ihr jungen Leute sagen würdet, ich stehe jetzt auf totale Ehrlichkeit. Jahrelang habe ich mir selber was vorgemacht. Dieser elende Kerl hat mein Leben ruiniert.« Sie summte beim Glätten einer rauhen Kante. »Meine Mutter starb, bevor sie mich vor der Selbstsucht der Männer warnen konnte. Es machte mir nichts aus, in das Häuschen zu ziehen, ich erträumte mir, es würde unser Liebesnest werden. Jedesmal, wenn es an die Tür klopfte, hoffte ich, er ist es.« »Ja, immer, wenn ich bei dir vorbeikam, hatte ich das Gefühl, du warst enttäuscht — du hattest jemand anders erwartet«, sagte ich. Sie fuhr fort, den Zement zu glätten. »Ich habe sogar auf eurer Party mit diesem Waschlappen, dem Pfarrer, geflirtet, um Merlin eifersüchtig zu machen, sowas albernes. Und törichterweise habe ich mir eingebildet, wenn ihr, du und Mr. Hamlet, aufgebt und verschwindet, dann kehrt das Leben in die alten Bahnen zurück. Merlin hatte nie den Verdacht, daß ich es war, die die Pralinen in dein Zimmer gelegt und diesen läppischen Roman gewaschen hat. Wenn ihr Nachhilfestunden in Pornographie brauchtet, hättet ihr zu mir kommen sollen, ich bin Expertin. War das nicht schlau von mir, Freddy herzuholen, daß er sich im Haus umschaut? Habe ihm eingeschärft, er sollte sich nichts anmerken lassen, aber ich würde mir Sorgen um euch machen. Ich wußte, er denkt sofort, sein Vater, dem das Wasser bis zum Hals steht, hat etwas angestellt. Und ich wollte, daß ihr ihn
verdächtigt. Denn ich hatte Angst, einer von euch macht sich so seine Gedanken über mich, aber ihr Trantüten«, sie hob den Spaten und stubste damit nach uns, »wart so leicht an der Nase herumzuführen, daß es gar keinen Spaß machte.« »Tut uns leid.« Wir standen ihr jetzt auf der anderen Seite des Sarkophags direkt gegenüber. Ich grub die Finger in den nassen Zement und drückte ein Stückchen von Onkel Merlins Hand. »Wenn ich doch bloß einen Spachtel hätte«, murmelte Tante Sybil. »Ja, meine Gefühle für Merlin änderten sich. Ihr leichtsinnigen jungen Dinger wißt noch nicht, eine verschmähte Frau bleibt eine verschmähte Frau, egal wie alt. Bis zu eurer Abendgesellschaft habe ich mich dazu gezwungen, zu übersehen, wie rücksichtslos er mich behandelte, aber als er mich dann in Gegenwart des Pfarrers beleidigte und mich eine vertrocknete alte Jungfer nannte, da wußte ich, daß er sterben mußte. In der Hitze des Augenblicks hätte ich ihn beinahe mit seinem richtigen Namen angeredet, aber später wurde ich ganz ruhig. Ich schmiedete meine Pläne, lockte euch aus dem Haus, damit ich den Speiseaufzug präparieren und wenn möglich die Katze fangen konnte. Dorcas, dieser alte Maulwurf, war ein Problem, aber ich habe ihr was in den Tee getan. Ich bat Lulu, zu bestimmter Zeit anzurufen und die Frau ein paar Minuten lang in ein Gespräch zu verwickeln. Sie war zu blöde, um zu fragen, warum.« »Vielleicht hat sie erraten, was du vorhattest und ihr gefiel dein genial ausgeklügelter Plan«, sagte Ben. »Ach, das würde ich nur zu gerne glauben«, seufzte Tante Sybil. »Anerkennung tut so gut. Ich war sehr stolz auf den Speiseaufzug. Ich wußte, daß Merlin ihn immer noch benutzt.« »Ach ja?« sagte ich. »Er hatte die unheimliche
Eigenschaft, irgendwo aufzutauchen, wo man ihn überhaupt nicht erwartete.« Tante Sybil hatte sich bis zu Merlins Kinn hochgearbeitet. »Das war auch etwas, was mir Rätsel aufgab.« Ben schien entschlossen, sie am Reden zu halten. »Die Chance, daß Ellie oder ich diesen Apparat betreten, war doch minimal.« »Ja, aber diese emsige Arbeitsbiene mußte ja auch in alles ihre Nase stecken.« Tante Sybil schaute finster drein, aber dann heiterte sich ihr Gesicht auf. »Die Katze war ein zusätzlicher Schabernack. Merlin sollte sie finden, wenn er morgens aus dem Stallgebäude kam. Aber das Schicksal war dagegen. Auch heute nachmittag, als ich mich von hinten anschlich und die Karre runterstieß, wie konnte ich wissen, daß Mr. Hamlyn sich Hut und Mantel von Merlin geliehen hatte? Ich war mir so sicher, daß ich ihm endlich den Garaus gemacht hatte! Wenn Ellie mit dabei draufging, dann war das die Sahne auf dem Kuchen. Nun ja, wenn’s nicht gleich beim ersten Mal gelingt, muß man es eben immer wieder versuchen! Findet ihr nicht, ich habe ihn wunderschön hergerichtet?« »Super!« war unsere einstimmige Antwort. Tante Sybil trat zurück und bewunderte ihr Werk. »Ist euch noch irgendwas unklar, ihr Schnüffelnasen? Noch irgendwelche Fragen? Gut. Was ich euch noch sagen möchte: ich nahm es zwar sehr übel, daß ihr in mein Heim einzogt, aber nachdem ich anfing, Merlin zu hassen, konnte ich mich nicht mehr mit euch abgeben. Kleine Eifersüchteleien waren nun belanglos. Ich hoffe, ihr versteht das.« »Aber ja.« Ben und ich nickten verständnisvoll. »Also« — und Tante Sybil lächelte lieb, »nehmt es bitte nicht persönlich, daß ich euch jetzt umbringen muß.« Sie kam auf uns zu und schwang den Spaten. Ben
wollte sich auf ihre Beine stürzen, aber sie war schneller. Krachend sauste der Spaten auf seinen Kopf nieder und Tante Sybil kreischte vor Vergnügen. »Das war der erste Streich und der zweite folgt sogleich«, kicherte sie, während er aufstöhnte und zu Boden ging. »Wie doch die Zeit vergeht, wenn man seinen Spaß hat!« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Onkel Merlins steinerne Gestalt mühsam von seinem Totenlager hochzukommen versuchte. »Lauf, Ellie«, knirschte er. Tante Sybil wandte sich dem mumifizierten Lazarus zu, um ihn plattzuklopfen. Sie beachtete mich nicht mehr und ich war frei, einen Fluchtversuch zu wagen und Hilfe zu holen. Aber ich mußte verhindern, daß sie Onkel Merlin den Schädel einschlug. Ich sprang ihr auf den Rücken und war überrascht, wie stark sie war. Verzweifelt rangen wir miteinander und umklammerten beide den Spatengriff. Hätte ich doch bei Jills Judostunden besser aufgepaßt! Tante Sybil gewann die Oberhand und zerrte mich hinter sich her. Fast wären wir über Bens leblosen Körper gefallen. Ich spürte Merlins entsetzte Blicke, hilflos mußte er zusehen. In widerwärtiger Umarmung waren wir an der Tür angelangt. Trotz ihres Alters und ihrer Rundlichkeit war sie wendig wie eine Katze. Ich konnte nicht länger festhalten. Meine Hände glitschten wie eingecremt auf dem Holzgriff. Er entglitt mir. Etwas donnerte mir auf den Hinterkopf. Zuerst dachte ich, es wär der Spaten, bis ich sah, daß das Eisenblatt immer noch auf den Boden zeigte. »Keine Bewegung«, befahl eine bekannte Stimme und mir wurde klar, den Schlag auf den Hinterkopf hatte ich der nach innen aufgehenden Tür zu verdanken. »Mordwerkzeuge fallenlassen! Ich bin schwer bewaffnet. Hab’s glaube ich nie erwähnt, aber unsere Schule vertrat England beim Bogenschießen. Habe keine Minute gebraucht, mir aus einer Vorhangstange und einem
Stück Schnur diesen Bogen zu machen. Und Stricknadeln geben hervorragende Pfeile.« »Würdest du mir bitte sagen«, fragte ich scharf, »wen von uns du zu erschießen gedenkst?« »Keinen, wenn ihr euch vernünftig benehmt. Ellie, geh von Sybil weg.« »Noch jemand, der sich einmischt!« schimpfte Tante Sybil und klang sehr verärgert. »Ich war überzeugt, Sie liegen stramm gefesselt in meinem Keller, und jetzt tauchen Sie hier auf und stecken Ihre lange Nase in meine Angelegenheiten. Und das, wo gerade alles so gut lief!« »Für eine Pfadfinderin«, sagte Dorcas streng, »sind Knoten ein Kinderspiel, sobald ihr Betäubungsmittel nachläßt. Aus dem winzigen Fenster zu klettern war noch mal was anderes, aber ich habe es rechtzeitig geschafft. Würden Sie jetzt bitte den Spaten hinwerfen? So ist es gut. Ellie, nimm ihn und sieh zu, ob du Onkel Merlin ausgraben kannst, er fängt an, fest zu werden.« »Woher weißt du, daß es Merlin ist und nicht Jonas? Und was ist mit Ben? Ben ist ein unschuldiges Opfer, nicht wie der verschlagene alte Mann, der sich vieles selber zuzuschreiben hat.« »Wenn du Ben wirklich liebst«, Dorcas ignorierte meine erste Frage, »dann läßt du ihn ausschlafen.« Breitbeinig stand sie da und zielte auf Tante Sybils Busen. »Er wird gewaltige Kopfschmerzen haben, wenn er aufwacht.« »Sie erinnern mich wirklich sehr an Ihre Großmutter«, bemerkte Tante Sybil gehässig. Sie wandte mir ihren Kopf zu. »Dir ist doch klar, daß sie ein Bankert aus dieser schändlichen Affaire zwischen Abigail und dem Künstler ist. Mir fiel die Ähnlichkeit sofort auf, die gleiche lange Nase, genauso knochig und das rote Haar. Wie fandest du meine Zeilen auf der Kühlschranktür? ‘Wer ist
Dorcas? Was ist sie?’ Meine Fassung des entzückenden Gedichts vom lieben Willie Shakespeare. Ein Grund, warum diese Schlaubergerin drauf kam. Sie erinnerte sich an meine Leidenschaft für unseren großen Dichter, und schon kam sie in meine gute Stube gehoppelt oder vielmehr schlich sich ein mit dem Zweitschlüssel. Und da fiel ihr auf, daß jemand dagewesen war. Merlins Köpfe standen nicht mehr auf dem Kamin, wo sie noch waren, als du kamst und meinen Zettel fandest. Natürlich waren sie weg, ich habe sie vor einer Woche runtergenommen und im Mixer zerkleinert. Ja, wer ist unser Fräulein Adlerauge? Sie ist die Enkeltochter von der schlampigen Hure und dem milchgesichtigen Ehebrecher.« Der Bogen zitterte in Dorcas’ Händen, aber sie hielt ihn fest. »Beschmutzen Sie nicht das Andenken meiner lieben Großeltern mit Ihren ekelhaften Anwürfen. Zwei feinere Menschen hat es nie gegeben.« Tante Sybil nutzte ihren Vorteil. »Ach wirklich?« fragte sie ausdruckslos. »Und wie gefiel es Ihrer Mutter, daß sie ein Bastard war?« Dorcas schnappte nach Luft und ließ einen Moment lang den Bogen sinken. Das genügte Tante Sybil, um Dorcas an die Wand zu schleudern und durch die Tür zu entkommen. »Ihr nach!« brüllte Dorcas und rappelte sich wieder auf. »Komme schon«, schrie ein zementverkrusteter Onkel Merlin. Wir müssen ein seltsames Trio gewesen sein, wie wir über den Friedhof trabten, eine rothaarige Frau, die mit einem zusammengewurstelten Bogen zielte, ein bröckelnder Steinmann und eine junge Frau, die einen Spaten schwang, und alle auf den Fersen einer beleibten älteren Dame, die von Grabstein zu Grabstein huschte. Wie das geendet hätte, wenn uns keine Rettung zuteil geworden wäre — in der Gestalt von Freddy und Jill, die
olympiaverdächtige Bocksprünge über die Grabsteine machten — ich werde es nie erfahren. »Tu ihr nicht weh«, rief Freddy seiner Teamkameradin zu. »Sie kann nichts dafür. Wahrscheinlich hat sie das schon, seit sie die Dreißig überschritten hat.« Jill sagte hinterher, sie hätte Tante Sybil mit der gewaltfreien Superwaffe überwältigt — mit Hypnose. Es ist wahr, sie rührte sie nicht an. Als Jill mit gespreizten Armen, blitzenden Augen und abstehenden Haaren auf sie lossprang, sah sie aus wie ein Racheengel aus tiefster Hölle, und als sie schrie: ‘Schau mir in die Augen!’, da fiel Tante Sybil in Ohnmacht.
Epilog Eine Woge von Wehmut überkam mich, als Tante Sybil, unzusammenhängendes Zeug brabbelnd, in ein kleines Privatsanatorium gebracht wurde, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Tage beschließen würde. Ein zerknirschter Onkel Merlin gelobte, sie als Buße für begangene Sünden jeden Sonntag zu besuchen und ihr Blumen aus dem Garten zu bringen. Er konnte dies gefahrlos tun, denn Tante Sybil war wieder ein kleines Mädchen, das mit seinem geliebten Onkel Arthur zusammenlebte. Für sie existierte Merlin Grantham nicht mehr. Und in gewissem Sinne hatte sie recht. Als er in der Morgendämmerung im Bett saß und seine geliebte Ovomaltine schlürfte, verkündete er mir, er habe beschlossen, auch weiterhin Jonas Phipps zu bleiben. »Er war ein guter Freund«, sagte er, »und als er mir seinen Namen vermachte, da gab er mir einen neuen Anfang, ein neues Leben. Gott segne dich, Jonas.« Er hob den Becher und blickte gen Himmel. »Ich werde versuchen, dir Ehre zu machen.«
»Wie es aussieht, wirst du dazu noch viel Gelegenheit haben.« Ich beugte mich vor und küßte ihn auf die immer noch bleiche Wange. »Dr. Melrose hat mit uns gesprochen, nachdem er dich untersucht hat und er sagt, du bist in erstaunlich guter Verfassung. Wenn du so weitermachst, wirst du hundert.« »Kann’s ja mal probieren, vorausgesetzt, du und Ben und Dorcas, ihr bleibt hier. Einverstanden?« Schüchtern schaute er mich über den Rand seines Bechers an. »Sybil hatte recht. Ich war ein blinder, rücksichtsloser alter Narr, der mit Leben und Tod gespielt hat. Ich hätte es wissen müssen. Sie war schon als Kind eigenartig. Dorcas versuchte mich gestern abend zu warnen. Ihr waren offenbar ein paar Sachen eingefallen, die meine Mutter über Sybil erzählt hatte.« »Jetzt kommt es auf die Zukunft an. Eine der ersten Veränderungen wird sein, daß das Haus amtlich in ‘Merlins Schloß’ umbenannt wird. Das würde deiner Mutter bestimmt gefallen.« Der alte Mann lächelte. »Du hast sie nach Hause zurückgeholt, Ellie. Wo ich auch hinschaue, werde ich an sie erinnert. Und Dorcas kann mir von ihr erzählen und die Lücken all der verlorenen Jahre ausfüllen. Als sie fortging, blieben mir von ihr nur das Portrait und die Tagebücher. Ich versteckte sie, damit mein Vater sie nicht auch noch vernichtete. Das Soufflé-Rezept hatte er schon herausgerissen, denn er wußte, meine Mutter hielt das für ihre Meisterleistung als Köchin. Aber ich rettete die Seiten aus dem Kaminfeuer und vor ein paar Monaten — na, den Rest kennst du ja.« »Gib es zu«, sagte ich, »du hast dich königlich amüsiert. Dorcas und ich dachten, Tante Sybil hätte die Hinweise ausgelegt, aber das warst du selber, stimmt’s? Spaß und Spiel haben jetzt ein Ende. Ich werde auf dich aufpassen, daß du auf dem Pfad der Tugend wandelst.
Wenn du brav bist, bekommst du ab und zu eine Stunde frei.« »Na, da stehen mir ja schwere Zeiten bevor«, grummelte er, fast schon wieder der alte, »aber ich habe auch auf dich aufgepaßt. An dem Tag, als du auf den Friedhof gegangen bist, war ich direkt hinter dir. Mir waren Zweifel gekommen an dem Testament. Ich habe versucht, auf dich acht zu geben, aber es stimmt: Alter schützt vor Torheit nicht. Ich ging zu Sybil und stellte sie zur Rede wegen Dorcas’ Verschwinden. Das hat uns alle beinahe das Leben gekostet. Ganz zu schweigen davon, was der Transport zur Gruft in einer Schubkarre bei meinem Ischias angerichtet hat.« Ich beugte mich vor und küßte seine Wange, die langsam ein wenig mehr Farbe bekam. »Trotz all deiner Niedertracht, ich liebe dich. Gute Nacht, Jonas.« Weder Freddy noch Jill waren in der Küche, als ich die Treppe hinunterkam. Sie waren zum frühmorgendlichen Jogging fort, aber ich hatte mich bei ihnen schon für unsere Rettung bedankt. Wie sie mir berichteten, hatten beide keine Ruhe finden können und beschlossen, sich draußen umzuschauen. Sie trafen sich im Garten und Freddy hatte Jill erzählt, daß er sich Sorgen wegen der ganzen Situation machte, besonders wegen Sybil. Als sie zum Friedhof kamen, hörten sie den Tumult und griffen ein. Was mich überraschte, war, daß der träge Freddy soviel Anteil genommen hatte — wieder eines dieser grundlosen Vorurteile wegen seines Äußeren. Ich war darin genauso schlimm wie alle anderen und ich hätte es nun wirklich besser wissen müssen. Freddy erzählte mir, daß er damals am Tag unmittelbar vor meinem Geburtstag zusammen mit den anderen hergekommen war, um mit Tante Sybil essen zu gehen. Aber dann, bevor es Zeit war, sich in den ‘Hasen und die Meute’ zu begeben, war er über den Marktplatz geschlendert, hatte
mich in vergnügtem Geplauder mit Dorcas gesehen und festgestellt, daß er keine Lust hatte, sich eine Stunde lang das Gemecker über meine finsteren Machenschaften anzuhören. Mir fiel wieder ein, daß ich eine große Person mit Pferdeschwanz gerempelt und dabei ein ganz merkwürdiges Gefühl gehabt hatte. Irgendwie hatte ich immer gehofft, daß Freddy nicht derjenige welcher war. Jetzt war es an der Zeit, ihn zu belohnen. Ben und ich wollten die Schulden seines Vaters begleichen, und sollte Freddy jemals heiraten, dann wollten wir ihm zu Startkapital verhelfen. Als ich die Küche betrat, fragte ich mich, ob Jill es wohl schaffen würde, daß er sich die Haare schneiden ließ. Dorcas verabreichte gerade meinem Lieblingspatienten ein starkes Gebräu aus heißem Whisky und Gewürzen. Ben sah mit dem Verband von Dr. Melrose recht verwegen aus und schwor mir, er sei auf dem Wege der Besserung. Wie wir so in traulicher Runde am Tisch saßen, war es kaum zu glauben, daß die schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht wirklich stattgefunden hatten. Jetzt schuldete uns Dorcas ihre Geschichte. Als sie meine Stellenanzeige für eine Haushälterin sah, wollte sie unbedingt in das alte Heim ihrer Großmutter zurückkehren, befürchtete aber, wegen des damaligen Skandals nicht willkommen zu sein. Daher verheimlichte sie ihre Identität. »War gar nicht so einfach. Fand es scheußlich, dich und Ben zu täuschen, konnte aber nicht mittendrin aussteigen, nachdem ich wußte, daß der Schatz mit Oma zu tun hatte. Ihr kennt meine Einstellung zum Fairplay. Hätte ich euch gesagt, wer ich bin, wäre das wie Schummeln gewesen. Sobald ihr wußtet, daß Oma nicht hier gestorben war, hättet ihr zwei und zwei zusammengezählt. Kann euch gar nicht sagen, wie mich das gequält hat, wollte euch die Wahrheit sagen, wußte
aber, ihr wolltet die Spielregeln einhalten. Dachte, ihr merkt es an der Ähnlichkeit, du hast ja auch gesagt, ich erinnere dich an jemand, weißt du noch, Ellie? Und ich saß direkt daneben. Das wandelnde Abbild von Abigail, hat Opa immer gesagt. Dann sagte Ben zu mir, ich gehörte hier mit zur Familie — kam mir vor wie eine Betrügerin.« »Aber du hast uns gerettet.« Ich drückte ihr die Hand. »Dorcas, verlaß uns nicht. Wir brauchen dich, nicht wahr, Ben?« »Und ob«, sagte er. »Ellie und ich, wir schweben auf den Wolken und brauchen jemanden, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht und auf uns aufpaßt.« »Ich denke«, sagte Dorcas mit verschwimmenden Augen, »die Dorfschule kann eine Sportlehrerin gebrauchen, und wenn das Häuschen leersteht und Onkel Merlin einverstanden ist …« »Er will, daß du hierbleibst. Er kann es gar nicht erwarten, mit dir über seine Mutter zu reden. Dorcas, was geschah mit Abigail?« »Sie und mein Großvater Miles hatten ein gutes Leben. Sie hatten natürlich nie eine Affaire unter der Nase ihres Mannes. Miles bewunderte sie, und eines Tages, als ihr Mann sie mißhandelt hatte, legte er den Arm um sie und wurde dabei ertappt. Zum Geburtstag hatte er ihr ein Medaillon geschenkt. Wahrscheinlich war das dumm von ihm, aber wie mir Opa sagte, für ihn war sie die feinste Dame auf der Welt. Oma gab es ihm nicht zurück, weil sie seine Gefühle nicht verletzen wollte, wußte aber, was Arthur denken würde, wenn er es fand, also vergrub sie es im Kräutergarten.« »Dann stand das ‘M’ für Miles, nicht für Merlin«, sagte ich. »Wieder ein Hinweis, an dem wir stramm vorbeimarschiert sind. Dorcas, waren deine Großeltern glücklich?«
»Opa sagte, den Verlust ihres Sohnes hätte sie nie verwunden, aber in jeder anderen Hinsicht war ihr Leben gut. Opa hat sie insgeheim wohl von Anfang an geliebt und sie hat ihn im Laufe der Zeit sehr lieb gewonnen. Wenn ich daran denke, wie sie und Opa an Sommerabenden Arm in Arm durch den Garten gingen …« Dorcas zog eines ihrer riesigen Taschentücher hervor und schnaubte vernehmlich. »Merlin überläßt dir bestimmt das Medaillon«, sagte ich. »Hätte ich gerne, darf aber nicht sentimental werden. Sie kriegten meine Mutter und gründeten ein Geschäft, sehr erfolgreich. Mrs. Biddles Beste Marmeladen, jeder kennt den Slogan: ‘Ich gehe meilenweit für ein Glas von Mrs. Biddles Bester Marmelade.’« »Haben wir welche?« fragte ich eifrig. »Am liebsten mag ich Erdbeere auf krossem Brot mit dick Butter drauf …« »Nichts da«, kam es von meiner strengen Herrenbegleitung. »Du hast Besseres zu tun als dich vollzustopfen — Dorcas beim Renovieren vom Häuschen helfen, meinen Eltern schreiben sowie deinem Vater, dein Hochzeitskleid nähen.« »Sei nicht albern, Liebling, bis zum Wochenende kriege ich nie im Leben ein Kleid zusammen, selbst wenn ich lerne, wie man eine Nadel einfädelt. Dorcas und ich gehen einkaufen, und was wirst du tun, mein Held?« »Ich habe dir doch mal gesagt, daß ich ein Restaurant aufmachen will. Das werde ich angehen. Wie ich höre, steht ‘Der Hase und die Meute’ zum Verkauf. Dann nehme ich vielleicht einen weiteren Roman in Angriff. Was hältst du von einer romantischen Gruselgeschichte mit einer übergewichtigen Heldin, einem fabelhaft aussehenden Helden und …?« »Du bleib bei deinem Kochlöffel«, sagte ich und gab
ihm einen Kuß, um diese chauvinistische Spitze zu mildern. »Ich schreibe die Geschichte von Merlins Schloß.«