Ilse Frapan Die Dorsch Eine unheimliche Geschichte Illustriert von Prof. Fr. Kallmorgen
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Ilse Frapan Die Dorsch Eine unheimliche Geschichte Illustriert von Prof. Fr. Kallmorgen
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Ilse Frapan Die Dorsch Eine unheimliche Geschichte Illustriert von Prof. Fr. Kallmorgen
© eBOOK-Bibliothek 2004 für diese Ausgabe
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littera scripta manet
Die Dorsch
Eine unheimliche Geschichte Illustriert von Prof. Fr. Kallmorgen
1
Die großen Leute sprachen soviel miteinander, daß sie gar nicht bemerkten, daß die kleine Lola mit dem Kopf auf dem Tisch lag und schlief. Es war aber nicht der große Tisch mit der Hängelampe darüber, wo Lola eingeschlafen war; dort saßen die großen Leute: Papa, Mama, Großvater und ein Herr, der zu Besuch gekommen war. Nein, die kleine Lola saß hinter dem kleinen Kindertisch in der Stubenecke, wo es ganz warm vor dem großen Ofen war, hatte beide Arme auf den Tisch gelegt und ihren kleinen Kopf mit den zwei kleinen Rattenschwänzchen auf die Arme und atmete tief und friedlich. Plötzlich wurde ein schrecklicher Spektakel um sie herum, eine laute Stimme jammerte etwas, und ein kalter Zugwind blies über Lolas Arme, Stühle scharrten auf dem Fußboden, drei laute Stimmen fragten zu gleicher Zeit: »Die Dorsch, Mari? Unsere Dorsch, Mari? Unsere Dorsch sind weg, Mari?« Und klein Lola fuhr erschrocken mit dem Kopf vom Tisch auf und rieb sich die Augen. »Mama! Mama!« stotterte sie und wollte g’rade zu weinen anfangen, als die laute jammernde Stimme wieder sagte: »Ja, die Dorsch, Frau Clemens, aus der Schüssel weg, Frau Clemens! Und ich kann und kann das nicht begreifen! O Gott, o Gott, o Gott!«
Da blieb Lola das Schluchzen im Halse stecken und sie riß ihre verschlafenen braunen Augen auf und den Mund auch, als ob sie so besser sehen und hören könnte. »Na, das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Mama mit verwunderter Stimme, »sie haben doch nicht Beine gekriegt, unsere Dorsch, und sind weggelaufen? Was meinen Sie, Mari?« »O Gott, Frau Clemens, sie werden doch nich?« schrie Mari entsetzt, »die Dorsch sind doch man Fische, Frau Clemens, und Fische und Fische haben doch keine Beine und können auch keine kriegen.« »Na, weggeflogen sind die Dorsch doch wohl auch nicht?« sagte der Großvater. »Ach Herr Clemens, die Dorsch, die waren ja all lang tot, und so ’n toter Fisch; der kann doch überhaupt nich fliegen«, jammerte Mari mit der Schürze vor den Augen. Lola aber stand ganz still hinter dem Kindertisch, hatte Mund und Augen offen und war bange, schrecklich bange. Sie konnte die Dorsch nicht leiden, die Mama heute morgen bei der Fischfrau gekauft hatte; sie konnte keine Dorsch essen, sie konnte den Geruch nicht ausstehen; sie hatte Mari, das Mädchen, heute in der Küche besucht und gleich die Nase gerümpft und ge-
schrieen: »Hey, wie riecht es hier nach den alten scheußlichen Dorsch!« Und nun waren die alten scheußlichen Dorsch noch dazu weg, mitten in der Nacht, und das ging doch gar nicht; denn morgen zu Mittag sollten sie gegessen werden und wie konnten sie denn überhaupt wegkommen, die scheußlichen Tiere, wenn sie doch schon lange tot waren? Oh, wie Lola sich vor ihnen ängstigte, als sie alle so aufgeregt über die Dorsch sprachen! Sogar der Herr, der zu Besuch gekommen war, sprach über die Dorsch, und niemand von allen guckte auch nur einen Augenblick in die Ecke hinter dem Kindertisch, wo Lola stand und die Augen und dem Mund aufriß. Und plötzlich gingen sie alle nach der Thür, Mari voran und hinterher Papa, und Mama dann und der Besuch und Großvater! Und die Thür blieb halb offen, so beschäftigt mit Sprechen waren sie, und ganz schrecklich groß war auf einmal die Stube, und die Hängelampe über dem großen leeren weißen Tischtuch sah so feierlich und einsam aus. »Mama!« schluchzte Lola auf, aber niemand hörte sie mehr, alle sprachen schon draußen. Da kam Lola hinter dem Kindertisch herausgekrochen und lief mit aufgerissenen Augen durch die offene Thür den großen Leuten nach, so flink sie konnte. Oh, der Vorplatz war auch schon leer, und keine Lam-
pe war da! Lola wollte laut aufweinen. Aber nun bemerkte sie, daß von der Kellertreppe herauf ein Lichtschein drang, und daß sie dort unten sprachen, ebenso laut und aufgeregt wie sie oben gesprochen hatten. »Mama!« schluchzte Lola und lief die Kellertreppe hinunter, den großen Leuten nach, die hinter den Dorsch herliefen, den scheußlichen toten Dorsch, die mitten in der Nacht weggelaufen waren. Oh, auch die Küche war leer, und nur eine kleine Lampe brannte, das war Großvaters Nachtlampe, die er immer mit zu Bett nahm. Aber Lola sah wohl, daß die Gartenthür offen war und daß sie alle durch diese Thür in den Garten hinausgegangen waren, in den kleinen Garten, wo der schöne weiße Schnee lag, in dem sie heute nachmittag mit Hans von oben gespielt hatte. So prachtvolle Schnellbälle hatten sie da gemacht, und jetzt – jetzt waren da vielleicht die scheußlichen toten Dorsch, und all die großen Leute waren hinter ihnen her, und die kleine Lola hatten sie ganz vergessen. Und leise weinend tappte Lola die vier Stufen hinauf in den weißen Garten mit den schwarzen Bäumen. Draußen aber war es ganz fürchterlich! Das konnte ja wohl gar nicht ihr Garten sein! Was
war denn das für ein schwarzes Ungetüm, so groß wie ein Haus, g’rade in der Mitte? Konnte das die Holzlaube sein? Und das rote Licht, das da immer so herumflackert, einmal etwas Weißes einmal etwas Schwarzes beleuchtete – was war denn das? Lola wollte auf das Licht zugehen, aber plötzlich sprang etwas vor ihr auf und schrie: »Mi – au! mi – au!« Lola zitterte am ganzen Körper, sie konnte nicht einmal mehr schreien, und im selben Augenblicke hörte sie Großvater rufen: »Hier sind sie!« Was war da? Die toten Dorsch? »Großpapa«, sagte Lola angstvoll und lief um einem schwarzen Busch herum, der seine stacheligen Zweige nach ihr ausstreckte und sie festhalten wollte. – Ha, da standen sie alle zusammen in einem Kreis, ganz schwarz auf dem weißen Schnee, Mama, Papa und der Besuch und Mari mit einem Besen auf der Schulter, und der Großvater hatte eine Laterne in der Hand, die er hin und her
bewegte, so daß es bald hier, bald dort rot war. »Hier sind sie! hier sind die Dorsch!« Lola getraute sich nicht, weiterzugehen, sie hatte so schreckliche Angst. Die Dorsch waren wirklich hier draußen! In dem schönen Schnee, mitten in der Nacht. Es war fürchterlich. Leise schlich sie näher, streckte ihren kleinen Hals so weit sie konnte – und oh – was sah sie da! Auf dem weißen Boden waren dunkle Flecke, Blutflecke und da – da – lagen braune, blanke, häßliche, feuchtglitzrige Klumpen, und ein dicker Kopf glotzte aus dem Boden mit großen weißen Augen und drei oder vier Schnurrbärten um den breit gespaltenen Mund. Und alles war blutig und zerrissen und halb aufgefressen, und ein schrecklicher schräger Schwanz stand auch noch in die Höhe und bewegte sich, Lola sah es ganz deutlich! »Mama! oh Mama!« wimmerte Lola, aber so sehr sie auch die Lippe hängen ließ – niemand sah nach ihr hin, alle hatten nur mit den abscheulichen Dorsch zu thun! »Und das ist ein Kater gewesen, Frau Clemens«, schrie Mari und erhob den Besen, »und auf den Kater hab’ ich schon lange ein Auge, und wenn ich ihn mal zu fassen kriegen thun tu’, dann – so wahr ich hier stehe, Frau Clemens, dann geb’ ich ihm ’n mit dem Besen,
wo er noch lange an denken soll!« Und mit einem schrecklichen Satz sprang Mari mit dem Besen in die Höhe und g’rade auf den alten Dorschschwanz los, der sich im Wind bewegte. Aber nun konnte sich Lola nicht mehr halten. »Papa! Papa!« schrie sie laut auf, »Mari hat den Dorsch auf den Schwanz getreten, und der alte scheußliche Dorsch ist so wie so schon tot!« Endlich, endlich hatten die große Leute die kleine Lola gehört! »Was schreit da?« sagte Papa und wendete den Kopf. Und alle wendeten den Kopf und wunderten sich und sprachen durcheinander. »Um’s Himmelswillen, das Kind! Lola ist da! Lola ist uns nachgelaufen. Ja bist du denn nicht längst zu Bett, Liebling? die Uhr ist ja schon acht!« Oh, wie sich Lola ihrem Papa in die Arme stürzte! Und wie er in die Höhe hob und auf den Arm nahm und in das Haus trug, in die schöne warme Stube, wo die helle Lampe brannte, weit, weit fort von den schrecklichen schwarzen Bäumen, von der unruhigen roten Laterne, und den abscheulichen weggelaufenen toten Dorsch, die der Kater aus der Schüssel geholt und halb aufgefressen hatte!
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