Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Über lange Jahre hat er Spiele entwickelt. Aus d...
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Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Über lange Jahre hat er Spiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den Achtzigerjahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens. Joel Rosenberg (geb. 1954) ist ein renommierter Fantasy-Autor, zu dessen bekanntesten Werken der »Die-Hüter-der-Flamme«-Zyklus gehört. Der Midkemia-Zyklus beginnt mit dem Traum der beiden Jungen Pug und Tomas von Ruhm und Ehre. Als Midkemia von Invasoren aus Kelewan angegriffen wird, werden sie in den gewaltigen »Spaltkrieg« hineingezogen. Zeitgleich zur »Midkemia-Saga« ist die »Kelewan-Saga« angeordnet: In ihr werden die Geschehnisse auf der Gegenseite während des Spaltkriegs geschildert. Chronologisch folgen dann die Romane der »Krondor-Saga«, bevor Midkemia in der »Schlangenkrieg-Saga« von einer weiteren Invasion heimgesucht wird: Die Flotte der Smaragdkönigin kommt übers Meer, und ihre Armee überzieht das Land mit Krieg. Die »Legenden von Midkemia« führen dann wieder in die Zeit des Spaltkriegs zurück. Als Blanvalet Taschenbuch von Raymond Feist lieferbar: DIE MIDKEMIA-SAGA: 1. Der Lehrling des Magiers (24616), 2. Der verwaiste Thron (24617), 3. Die Gilde des Todes (24618), 4. Dunkel über Sethanon (24611), 5. Gefährten des Blutes (24650), 6. Des Königs Freibeuter (24651) DIE KELEWAN-SAGA: 1. Die Auserwählte (24748), 2. Die Stunde der Wahrheit (24749), 3. Der Sklave von Midkemia (24750), 4. Zeit des Aufbruchs (24751), 5. Die Schwarzen Roben (24752), 6. Tag der Entscheidung (24753) DIE KRONDOR-SAGA: 1. Die Verschwörung der Magier (24914), 2. Im Labyrinth der Schatten (24915), 3. Die Tränen der Götter (24916) DIE SCHLANGENKRIEG-SAGA: 1. Die Blutroten Adler (24666), 2. Die Smaragdkönigin (24667), 3. Die Händler von Krondor (24668), 4. Die Fehde von Krondor (24784), 5. Die Rückkehr des Schwarzen Zauberers (24785), 6. Der Zorn des Dämonen (24786), 7. Die zersprungene Krone (24787), 8. Der Schatten der Schwarzen Königin (24788) DIE LEGENDEN VON MIDKEMIA: 1. Die Brücke (24190), 2. Die drei Krieger (24236), 3. Der Dieb von Krondor (24237) DIE ERBEN VON MIDKEMIA: 1. Der Silberfalke (24917), 2. Der König der Füchse (24309), 3. Konklave der Schatten (24376) 4. Der Flug der Nachtfalken (24406), 5. Ins Reich der Finsternis (24414) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Raymond Feist & Joel Rosenberg
Die drei Krieger
Die Legenden von Midkemia 2 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Murder in LaMut. Legends of the Rifrwar (vol 2)«
Danksagungen
Ich möchte Felicia, Judy und Rachel danken, aus den offensichtlichen Gründen, und außerdem danke ich Ray, weil er mir erlaubt hat, ein paar von meinen eigenen Spielsachen mit in seinen Hinterhof zu bringen. Joel Rosenberg Wie immer stehe ich tief in der Schuld jener, die Midkemia entworfen haben, und danke ihnen ein weiteres Mal. Ich möchte auch allen danken, die mir in den letzten beiden Jahren geholfen haben weiterzumachen - ihr wisst schon, wer gemeint ist. Und ich danke Joel dafür, dass er drei meiner Lieblingsfiguren aus seinem Universum geklont und sie in meins transplantiert hat. Sie sind nicht gerade die drei Musketiere, aber drei der unterhaltsamsten Schurken, über die man eine Geschichte erzählen kann. Raymond E. Feist
Für Fritz Leiber un Donald E. Westlak
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Nacht
Es war eine dunkle, stürmische Nacht. Doch das störte Durine nicht. Nicht, dass ihn die Göttin Killian, die für das Wetter zuständig war, nach seiner Meinung gefragt hätte. Das taten auch die anderen Götter nicht, ebenso wenig wie die Menschen. In seinen mehr als zwanzig Jahren Soldatenleben - sowohl lehensgebunden als auch als Söldner - und auch in den Tagen, bevor er zu Klinge und Bogen gegriffen hatte, war es so gut wie nie vorgekommen, dass maßgebliche Leute Durine nach seiner Meinung fragten, bevor sie ihre Entscheidungen trafen. Auch das störte ihn nicht. Das Gute am Soldatenleben war, dass man sich auf die kleinen, aber wichtigen Entscheidungen konzentrieren konnte, zum Beispiel, in wen man sein Schwert als Nächstes steckte - die großen Entscheidungen konnte man getrost anderen überlassen. Und es hätte schließlich auch keinen Zweck gehabt, sich zu beschweren - davon würde es nicht wärmer werden, der Schneeregen würde nicht aufhören, und kein Gejammer der Welt hätte das Eis davon abgehalten, an Durines immer schwerer werdendem Segeltuchumhang zu kleben, während er halb blind die schlammige Straße entlangstapfte. Schlamm. Schlamm schien zu LaMut zu gehören wie Salz zum Fisch. Aber auch das störte Durine nicht besonders. Durch diesen 9
halb gefrorenen Schlamm zu stapfen gehörte eben zum Handwerk, und hier war es wenigstens nur Schneematsch und nicht jene grausige Art von Schlamm, die entstand, wenn sich Erde mit dem Blut und der Scheiße sterbender Männer mischte. Der Anblick und besonders der Gestank von dieser Art Schlamm bewirkte
manchmal, dass sogar Durine schlecht wurde, und dabei hatte er schon mehr als genug davon gesehen. Was ihm überhaupt nicht passte, war die Kälte. Es war immer noch viel zu kalt. An den Zehen spürte er die Kälte und die Schmerzen schon nicht mehr, und das war kein gutes Zeichen. Die Ortsansässigen sprachen vom Tauwetter wie von etwas, das sie nun, da der Winter mehr als zur Hälfte vorüber war, beinahe jeden Tag erwarteten. Durine blickte auf in den Schneeregen, der ihm ins Gesicht fiel, und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine seltsame Art von Tauwetter handelte. Für seine Verhältnisse fiel da viel zu viel von diesem halb gefrorenen Zeug vom Himmel, als dass man von einem vernünftigen Tauwetter sprechen könnte. Gut, vor diesem letzten Schnee war der Himmel drei Tage lang klar gewesen, aber an der Luft hatte sich nichts geändert; es war immer noch viel zu feucht und viel zu kalt. Vielleicht auch zu kalt zum Kämpfen? Na ja, im Hinblick auf die Käfer und die Tsuranis war das vielleicht gar nicht so übel. Sie hatten im Norden gegen Tsuranis, Goblins und Käfer gekämpft, und nun sah es so aus, als wären ihnen zumindest hier die Tsuranis, Goblins und Käfer ausgegangen, und sobald es warm genug war, würde man Durine und die anderen bezahlen und wegschicken. Wenn er bis dahin noch ein paar Wochen Dienst in der Kaserne leisten musste, war das weiter kein Problem. Solange sie hier festsaßen, war Durine Kasernendienst lieber, als gleich ausbezahlt zu werden und sein eigenes Geld für Unterbringung und Verpflegung ausgeben zu müssen. Was konnte man mehr verlangen, als dass der Graf für alles außer Alkohol und Frauen bezahlte, bis es mit diesem angeblichen Tauwetter endlich so weit war - und die 10
Einschränkung machte Durine auch nur, weil wahrscheinlich nicht einmal Pirojil einen Weg finden könnte, sich auch noch Bier und Huren vom Zahlmeister bezahlen zu lassen. Sobald sich das Wetter gebessert hatte, würden sie sich ihren Sold abholen und nach Süden, nach Ylith, reiten und an Bord eines Schiffes gehen, das sie in wärmere Gefilde brachte. Und das wiederum bedeutete, dass die derzeitige Situation trotz des Schlamms und der Kälte beinahe perfekt war. Dieser Tage fanden die schweren Kämpfe angeblich bei Crydee statt, und das bedeutete, dass Crydee der Ort war, an den die drei sich auf keinen Fall begeben würden. Wenn es erst Frühling war, würde das Kaperschiff Melanie in Ylith einlaufen. Kapitän Thorn würde sie schnell von dort wegbringen, und man konnte sich wohl darauf verlassen, dass er nicht versuchen würde, sie im Schlaf abzustechen. Das wäre auch schlecht für seine Gesundheit, wie Thorns Vorgänger gerade noch bemerkt hatte, bevor Pirojil ihm ein Messer in die rechte Niere gestochen hatte, während sich der kurz darauf verstorbene Kapitän mit dem Schwert in der Hand über das Deckenbündel gebeugt hatte, das er für den schlafenden Durine hielt. In Anbetracht der Tatsache, dass Thorn sein Schiff dem misstrauischen Wesen von Durine und seinen Kameraden verdankte, würde er sie wohl umsonst mitnehmen. Aber wohin?
Darüber machte sich Durine eigentlich keine Gedanken. Sollten sich doch Kethol und Pirojil darüber den Kopf zerbrechen. Kethol würde schon jemanden finden, der drei Männer brauchte, die wussten, mit welcher Seite des Schwerts man zuschlug und welche man benutzte, um sich Butter aufs Brot zu schmieren, und Pirojil würde einen Preis aushandeln, der mindestens um die Hälfte über dem lag, was der Mann eigentlich hatte bezahlen wollen. Das Einzige, um was sich Durine kümmern musste, war, Leute umzubringen. Und das war schon ganz in Ordnung so. Aber bis das Eis brach, würde man Yabon nur zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Wagen verlassen und über Land nach Krondor zie11
hen können. Die einzige andere Möglichkeit bestand darin, wieder nach Norden zu gehen und noch mehr zu kämpfen, und derzeit hatten sie genug Geld - oder sie würden es haben, wenn sie erst einmal ihren Sold erhalten hatten. Dann würden ihre Umhänge schwer von Gold und ihre Beutel voller Silber sein, sodass sie fürs Erste kein Interesse mehr am Kämpfen hätten. Es reichte. Dieser Feldzug hatte ihm ein paar neue Narben für seine ohnehin umfangreiche Sammlung eingebracht, und an der linken Hand fehlte ihm ein Fingerglied, weil er nicht schnell genug zurückgewichen war, nachdem er einen Käfer mit der Pike aufgespießt hatte. Wahrscheinlich würde er jetzt nie mehr lernen können, Laute zu spielen. Nicht, dass er es je versucht hätte, aber er hatte immer gedacht, er würde es eines Tages gerne mal probieren. Diese Wunde und eine lange rote Narbe an der Innenseite des Oberschenkels erinnerten ihn bei jedem Schritt daran, dass er nicht mehr so jung und gelenkig war wie früher. Andererseits war Durine auch schon alt zur Welt gekommen. Und zumindest war er stark. Er würde einfach abwarten, die Tage an sich vorbeiziehen lassen, ein wenig arbeiten, und dann würde es schon bald anfangen zu tauen, das Schiff würde einlaufen, und er und die anderen würden von hier verschwinden. Irgendwohin, wo es warm war - vielleicht nach Salador, wo die Frauen und der Wind warm und weich waren und das kalte Bier gut und billig und in Strömen floss wie Eiter aus einer entzündeten Wunde. Wenn ihnen dann das Gold ausging, konnten sie immer noch in die Königreiche im Osten gehen. Nette, freundliche kleine Kriege dort. Die Ortsansässigen wussten Fachleute zu schätzen, die ihnen halfen, sich die Nachbarn vom Hals zu schaffen, und sie zahlten gut, wenn auch nicht so viel wie der Graf von LaMut. Und nach Durines Ansicht war das Beste an den Königreichen im Osten, dass es dort keine Käfer gab - das war sogar noch besser als die Wärme. Oder wenn sie es wirklich warm haben wollten, konnten sie wieder ins Tal der Träume ziehen und dort gutes Geld verdienen, 12
indem sie für Lord Sutherland Hundesoldaten aus Kesh und Rebellen bekämpften. Nein, entschied Durine einen Augenblick später, das Tal der Träume war nicht wirklich besser als das eisige, schlammige La-Mut, ganz gleich, wie verlockend es einem in dieser kalten, elenden Nacht auch vorkommen mochte; als sie das letzte Mal dort unten gewesen waren, hatte ihn die Hitze beinahe genauso gequält wie heute die Kälte.
Warum fing nicht mal jemand einen Krieg an einem schönen, angenehmen Strand an? Er ließ sich von dem Licht, das durch die Ritzen rund um die Tür der Schänke zum Abgebrochenen Zahn fiel, den Weg weisen, weil es zumindest so etwas wie Wärme, warmes Essen und sogar das versprach, was unter Söldnern als »Freunde« durchging. Das würde Durine genügen. Zumindest im Augenblick. Er stapfte die paar Stufen von der schlammigen Straße zur Holzveranda vor dem Eingang zur Gaststube hinauf. Unter dem Vordach direkt vor der Tür standen zwei Männer, die sich fest in ihre Umhänge gewickelt hatten. »Der Schwertmeister will dich sehen.« Einer zog den Umhang zurück, als könnte Durine auch im Dunkeln das Wolfskopfwappen auf seinem Waffenrock erkennen, von dem er wusste, dass es dort aufgenäht war. Sie hatten es herausgefunden. Auf Leichenfledderei stand, wie auf die meisten Verbrechen, die Todesstrafe (entweder, wenn der Graf schlechte Laune hatte, direkt durch den Strang oder durch Erschöpfung und schlechtes Essen, während man versuchte, zwanzig Jahre Schwerstarbeit in den Steinbrüchen zu überleben), obwohl Durine selbst daran nichts Verwerfliches finden konnte. Es war schließlich nicht so, als könnten die toten Soldaten die jämmerlichen paar Münzen in ihren Beuteln oder Umhängen noch brauchen. Durine und seine beiden Freunde hatten selbst erheblich mehr als nur ein paar Münzen an ihren Körpern versteckt - eingenäht in Geheimta13
schen im Futter ihrer Waffenröcke, in den Säumen ihrer Umhänge oder in Beuteln, die sie unter der Kleidung trugen, eingewickelt in Rohleder, das nachträglich schrumpfte und auf diese Weise verhinderte, dass die Münzen klimperten. Ein Adliger konnte seine Schätze in eine Schatzkammer oder eine gepanzerte Truhe stecken und Bewaffnete dafür bezahlen, sie zu bewachen; ein Kaufmann konnte seinen Wohlstand in Handelsgütern anlegen, die man nicht so schnell stehlen konnte; ein Zauberer konnte sein Gold einfach offen liegen lassen und sich darauf verlassen, dass, selbst wenn Vernunft und Selbsterhaltungstrieb es nicht vor Dieben schützten, die Zaubersprüche, mit denen er es belegt hatte, genügen würden Durine hatte einmal einen Mann gesehen, der versucht hatte, in das Haus eines schlafenden Magiers einzubrechen. Oder zumindest war der Kerl vor diesem Versuch ein Mann gewesen ... Aber ein Söldner konnte sein Geld entweder bei sich tragen oder ausgeben, und Durine hätte keine gute Erklärung für den relativen Wohlstand geben können, den eine ausführliche Durchsuchung seiner Person zu Tage gefördert hätte. Ein Adliger wäre einfach an den beiden Männern vorbeigegangen, denn sie hätten es nicht gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen, aber Durine war kein Adliger. Außerdem gab es nicht viele, die er in Stichweite hinter seinem breiten Rücken haben wollte, und diese beiden grauen Gestalten waren recht unwahrscheinliche Anwärter auf eine solche Ehre.
Einer gegen zwei? Er hatte nicht vorgehabt, so zu sterben, aber wenn es denn sein musste, musste es eben sein, obwohl er schon häufig gegen zwei Männer gleichzeitig gekämpft hatte und nicht getötet worden war. Noch nicht. Es war ohnehin zu kalt und feucht und widerwärtig, um am Leben zu bleiben. Er tat so, als wäre er auf dem Holz ausgerutscht, und steckte dabei die rechte Hand in den Umhang, um nach einem seiner 14
Messer zu greifen. Sie würden ihm wohl kaum Zeit lassen, das Schwert zu ziehen. Bei dieser Bewegung wichen die Männer einen Schritt zurück. »Warte -«, sagte einer. »Immer mit der Ruhe, Mann!« Der andere hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Der Schwertmeister sagt, er will nur mit dir reden«, erklärte er. »Es ist viel zu kalt und widerwärtig zum Sterben, und das gilt für uns ebenso wie für dich.« »Und so groß, wie der da ist, würde es wahrscheinlich zwei Männer brauchen, um ihn unschädlich zu machen«, murmelte der Erste. Durine knurrte, aber er behielt seine Gedanken wie üblich für sich. Es würde sehr wahrscheinlich mehr als zwei brauchen. Mindestens noch die beiden anderen, die hinter ihm aus dem Dunkeln gekommen waren - die beiden, die ihm nicht hatten auffallen sollen. Aber er überließ das Prahlen lieber anderen. »Also gehen wir«, sagte er. »Es wird hier draußen nicht wärmer.« Er richtete sich auf. Aber er ließ die Hand in der Nähe des Messers. Nur für den Fall. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, aber zum Glück nur draußen. Hier drinnen unter den Lampen an den Deckenbalken war es warm und rauchig, sodass es gleichzeitig zu kalt und zu heiß war. Das Leben eines Söldners, dachte Kethol oft, war immer entweder zu lebhaft oder zu langweilig. Entweder er verlor vor Langeweile beinahe den Verstand, während er verzweifelt versuchte wach zu bleiben und wartete, dass etwas passierte, oder er watete durch Ströme von Tsuranis, in der Hoffnung, die Mistkerle schnell genug zu erwischen, damit keiner an ihm vorbei zu Pirojil und Durine gelangen würde. Entweder er war am Verdursten, oder er ertrank beinahe im Regen. Er war immer entweder zu dicht von zu vielen ungewaschenen Männern umgeben und muss15
te ihren Gestank ertragen, oder er war ganz allein auf einem Wachposten mitten in der Nacht und hoffte, dass das leise Rascheln dort im Wald nur von einem Reh verursacht worden war und nicht von Tsuranis, die sich anschlichen, und wünschte sich ein Dutzend Kameraden, die sich um ihn drängten. Selbst hier, in der relativen Bequemlichkeit der Schänke zum Abgebrochenen Zahn, war immer irgend was nicht perfekt. Es gab in einer kalten Nacht in keiner Gaststube so etwas wie »genau richtig« - man war immer zu nah an der Hauptfeuerstelle oder zu weit entfernt. Wenn man ihm die Wahl ließ, zog Kethol zu nahe vor, und zwar mit dem Rücken zum Feuer, denn man konnte sich so etwas wie »zu warm« im Winter kaum vorstellen, selbst wenn es
einem später Leid tat, wenn man wieder in die kalte Nacht hinaus musste, um in die Kaserne am Südende der Stadt zurückzukehren und der Wind wie ein Messer durch die schweißnasse Kleidung schnitt. Und es gab bessere Möglichkeiten, ins Schwitzen zu geraten. Ein paar andere Söldner waren jetzt genau damit beschäftigt -sie gaben ihr schwer verdientes Geld in den Schlafzimmern über der Gaststube aus, und das stetige Knarren der Dielen bezeugte, wie sie das taten, aber obwohl Kethol nichts dagegen hatte, ein oder zwei Kupferstücke für eine Hure auszugeben, ließ die Kälte seine Leidenschaft ebenso schrumpfen wie die zuständigen Teile seiner Anatomie, und er sah nicht ein, wieso er gutes Geld für ein weiches, verwanztes Bett ausgeben sollte, wenn eine ebenso verwanzte Pritsche in der Kaserne umsonst auf ihn wartete. Kethol sah zu, wie die Karten ausgegeben wurden. Dieses Spiel, das sie Pakir nannten, war ihm unbekannt, aber Spiel war Spiel, und er würde nur genug davon lernen müssen, um die Fallen zu meiden, in die Betrunkene gingen, und dann konnte er mitmachen. Männer griffen aus vielen dummen Gründen zum Schwert. Ehre, Familie, Land, Haus und Herd. Kethol tat es für Geld, aber er bestand nicht darauf, all sein Geld mit dem Schwert zu verdienen. 16
Vorerst einmal gab er ein wenig davon für das besonders dünne, säuerliche Bier von LaMut aus. Da hier mehr als genug gutes Zwergenbier zu haben war - Kethol befürchtete manchmal, dass es dabei nicht ohne Magie abging, aber Zwergenbier war immer besser als alles, was Menschen brauten -, war klar, dass die hiesigen menschlichen Bierbrauer nur ein Ziel verfolgten: es so billig wie möglich herzustellen, wobei sie so etwas wie gute Gerste, nicht verfaulten Hopfen und das Auswaschen der Fässer für unnötigen Firlefanz hielten. Also bestellte Kethol Zwergenbier, wenn andere bezahlten, und wenn er selbst die Kupferstücke dafür hinlegen musste, nahm er das billige Zeug. Immerhin hatte er ohnehin nicht vor, viel zu trinken. Er wollte nur den Eindruck erwecken, als tränke er viel. Es war eine Investition, wie Pirojil sagen würde. Eine kleine Investition, die seine Gegner glauben ließ, dass er ein wenig betrunken und vielleicht nicht so aufmerksam war, wie das Spiel es erforderte. Er trank hier und da einen Schluck, wobei er jedoch den größten Teil des miesen Gesöffs auf den Boden schüttete, und wenn er sich zum Spielen hinsetzte, würden mehrere leere Bierkrüge Zeugnis dafür ablegen, dass er reif war, betrogen zu werden. Dann war die Zeit für sein Spiel gekommen. Ja, es war eine Investition. Ebenso wie ihre drei Schwerter: Klingen, die glatt durch Leder und Fleisch und bis in die Knochen drangen, statt sich zu verbiegen und abzubrechen, hatten mehr als nur einmal bewiesen, dass sie den hohen Preis wert waren. Sparen war eine gute Sache, aber man sollte ganz bestimmt nicht beim Handwerkszeug damit anfangen. Vor seinem geistigen Auge sah er immer noch die aufgerissenen Augen des Tsurani, dessen Klinge an seinem Schild zerbrochen war, Augenblicke bevor Kethol seine eigene Schwertspitze unter den Arm seines Feindes und in die weiche Verbindung der Rüstungsteile unter der Achselhöhle gestoßen hatte, die auf den Seiten von den Schulterplatten geschützt war. Er hatte nichts gegen den Tsurani gehabt, aber er hatte nur gegen sehr wenige der Män-
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ner, die er getötet hatte, etwas Persönliches gehabt. Im Grunde hatte er viel mit den Tsuranis gemein - es heißt, dass sie angeblich wegen Metall in Midkemia eingedrungen waren, und ein Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, mit Hilfe von Stahl zu töten, um Gold und Silber zu verdienen, konnte so etwas gut verstehen. Wenn Kethol die Wahl hätte, was Metalle anging, würde er sich zehn Mal in zehn Fällen für Stahl entscheiden - Stahl verhalf einem seiner Erfahrung nach erheblich besser zu Gold, als Gold einem zu Stahl verhalf. Außerdem waren seine Fähigkeiten hier nützlich. Sich in einer bestimmten Umgebung beinahe unsichtbar machen zu können war eine Fähigkeit, die ein Mann, der sein Leben als Sohn eines Försters begonnen hatte, auch auf anderem Boden nutzen konnte. Der Trick bestand darin, es nicht zu übertreiben und nicht zu angestrengt zu versuchen, wie ein Ortsansässiger zu wirken, denn das würde unweigerlich dazu führen, dass man auffiel und als Schwindler entlarvt wurde. Nur hier und da ein wenig Dialekt, manchmal ein Fingerschnippen, wie sie es hier benutzten, wenn sie ausdrücken wollten, dass ihnen etwas vollkommen egal war, und immer freundlich sein und lächeln, ohne zu vertraulich zu werden, dann würde den anderen erst gar nicht auffallen, dass er ihnen nicht auffiel. Es hatte funktioniert, als er in diesem kleinen Dorf vor Rodez Faustkämpfe ausgetragen hatte - bevor Pirojil diesen dämlichen kleinen Feldwebel getötet hatte und sie wieder einmal auf der Flucht gewesen waren -, und es hatte funktioniert, als er lernte, wie man in Nordwacht würfelt. Er musste nur die Grundlagen des Spiels lernen, sich schön unauffällig anpassen und nüchtern bleiben, so betrunken er auch wirkte, und sie würden erst merken, dass er sie besiegt hatte, wenn alles schon vorbei und er verschwunden war. Einer musste ja schließlich gewinnen. Warum also nicht Kethol? Drei große, kräftige Muts, einer mit frischen Unteroffiziersab18
zeichen am Ärmel, beugten sich über den grob gezimmerten Tisch und betrachteten forschend die Karten vor ihnen, während vier andere zusahen. Alle trugen die graue Uniform der regulären Soldaten von LaMut, und alle unterhielten sich in diesem ausgeprägten Dialekt, den Kethol inzwischen imitieren konnte, ohne auch nur nachzudenken. »Guter Wurf, Osic«, sagte einer, als ein anderer ihm einen Haufen Kupfer abnahm. »Ich war sicher, dass ich dich geschlagen hätte.« »Kann schon mal passieren«, erwiderte Osic. Dann wandte er sich Kethol zu. »Kehol«, sprach er den Namen auf eine Weise falsch aus, die einen stolzeren Mann beleidigt hätte, »willst du bei der nächsten Runde mithalten? Nur ein paar Kupferstücke, um die ersten Karten zu sehen. Aber ich will ganz ehrlich sein: Danach kann es teuer werden.« Kethol glaubte, dass er lange genug zugesehen hatte, um grob zu verstehen, welche Kombinationen wie viel zählten. Und was wichtiger war, die Muts hatten lange genug gesoffen, dass es einem nüchternen Mann nicht schwer fallen sollte herauszufinden, wer von ihnen glaubte, eine gute Kombination zu haben.
Im Land der Betrunkenen war ein Nüchterner mindestens ein Baron und an einem guten Tag sogar ein Graf. »Warum nicht?«, sagte Kethol und holte pflichtschuldig eine Hand voll patinierter Kupfermünzen aus dem Beutel, um sie auf den Tisch zu legen. Er hatte natürlich erheblich mehr dabei, aber es war besser, nicht den Eindruck zu erwecken, als wäre man reich. »Dein Geld ist genauso grün wie das von anderen«, sagte einer der Muts, und die anderen lachten leise über den Witz, der schon alt gewesen war, als das Königreich noch neu war. Es war vielleicht gefährlich, mit den hiesigen Berufssoldaten zu spielen, aber es gab eben Zeiten, in denen man ein Risiko eingehen musste. Drüben in der anderen Ecke, ganz in der Nähe der Stelle, wo der Geruch von Lammbraten aus der Küche drang, spielten zwei Söldner Zwei Daumen: Mackin, der verrückte Zwerg, und ein 19
dünner, kahler Bursche mit aufgeschwemmtem Gesicht, der sich Milo nannte, von dem Kethol aber sicher war, dass er unter einem anderen Namen gesucht wurde, und das für eine beträchtliche Summe und vielleicht sogar direkt hier - warum sonst sollte er sich zurückziehen, wann immer der Wachtmeister auftauchte? Dort hätte Kethol eigentlich sein sollen. Wenn sich ein anderer Söldner darüber aufregte, dass Kethol das Spiel gewann, würden sich seine Kameraden kaum einmischen. Man konnte an einem Abend, an dem man immer so aussah, als tränke man einen großen Schluck, wenn man in Wahrheit kaum nippte, eine Menge gewinnen. Mit Soldaten der regulären Armee war es riskanter, aber dafür war auch der Profit höher. Kethol betrachtete den Spieltisch einfach nur als ein weiteres Schlachtfeld, und er musste sich im Grunde bloß an die gleichen Regeln halten: sich und seine Freunde schützen, keine zu große Aufmerksamkeit auf sich lenken und dafür sorgen, dass er noch aufrecht stand, wenn alles vorbei war. Und ebenso, wie die beste Zeit für einen Angriff kurz vor dem Morgengrauen lag, wenn die Feinde alle schliefen, war die beste Zeit für ein Glücksspiel spät am Abend, wenn die Köpfe der anderen von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf benebelt waren. Und wenn das irgendwem hinterhältig und ungerecht vorkam, nun, dann interessierte das Kethol einen Dreck. Er war immerhin ein Söldner, der den Höhergestellten für Geld diente, und ebenso wie die Huren ein Stockwerk höher versuchte er, sich so gut für seine Dienste bezahlen zu lassen, wie es ging. Also nickte er, setzte sich hin und warf ein paar Kupferstücke in die Mitte des Tischs. Dann nahm er seine Karten in Empfang. Er wollte gerade sein erstes Spiel machen, als an dem Tisch hinter ihm Streit ausbrach. Man sollte denken, dass Männer, die ihren Lebensunterhalt mit Kämpfen verdienten, in ihrer Freizeit Besseres zu tun hätten, als sich auch noch zum Vergnügen zu prügeln. Wozu sollte das schon gut sein? Es diente nicht mal der Übung. 20
Weder die Tsuranis noch die Käfer noch sonst wer, gegen den Kethol j e ein Schwert oder eine Pike geschwungen hatte, hätte sich mit nackten Fäusten gewehrt, solange sie Zugang zu etwas Scharfem oder Stumpfem hatten, um einen damit anzugreifen. Und wenn etwas wirklich wert war, darum zu kämpfen, dann war es auch wert, einen anderen dafür zu töten, und wenn einen das zum Gesetzlosen machte... nun ja, Midkemia war groß genug, dass man an mehreren Orten für vogelfrei erklärt sein konnte und immer noch im Stande war, sein Geld zu verdienen - etwas, das Kethol aus persönlicher Erfahrung wusste. Für gewöhnlich ging es um eins von dreien: Geld, eine Frau oder »Mir ist einfach danach, mich wie ein Idiot zu benehmen«. Häufig ging es um alle drei Dinge gleichzeitig. Kethol hatte keine Ahnung, was hinter dieser Rauferei stand, aber das Ächzen und Schnauben wurde schnell zu Geschrei, und dem Geschrei folgte das dumpfe Krachen von Schlägen. Er sah etwas aus dem Augenwinkel und duckte sich schnell genug, um dem fliegenden Stuhl auszuweichen, aber die Bewegung ließ ihn gegen den kräftigen Soldaten rechts von ihm stoßen, und der reagierte instinktiv mit einem Rückhandschlag, der Kethol am rechten Wangenknochen traf. Das Licht in Kethols rechtem Auge ging aus, aber seine Reflexe funktionierten auch noch, wenn es die Sehkraft nicht mehr tat; er senkte den Kopf und griff an, packte den Mann um die Taille und riss sie beide auf den harten Holzboden. Kethol landete oben und hoffte, dem anderen bei dem Sturz schon mal die Luft aus der Lunge gedrückt zu haben. Nur um ganz sicher zu gehen, drosch er dem Mann die Faust in die Mitte, direkt unter den Brustkorb. Hoffnung war eine schöne Sache, aber Sicherheit war einfach besser. Er hatte nichts gegen den Kerl, den er da verprügelte, aber er war daran gewöhnt, Leute zu töten, gegen die er nichts hatte, also zählte es kaum, einem nur ein paar Schläge zu verpassen. Also stieß er ihm zum Abschluss noch das Knie zwischen die Beine und ließ dann von ihm ab. Das hier war eine Sache der Selbstverteidigung, nicht des Zorns. 21
Kethol hatte das bei anderen nie so recht verstanden. Andere -selbst Pirojil und Durine - wurden beim Kämpfen oft zornig und ließen sich von diesem Zorn treiben. Für Kethol ging es nur darum zu tun, was getan werden musste. Zornig wurde man über andere Dinge - Grausamkeit, Verrat, Unfähigkeit oder Verschwendung -, nicht wegen eines Kampfs. Ein paar unbedeutende Schläge trafen ihn an Rücken und Beinen, als er geduckt hochkam - die wild tretenden Füße der beiden anderen Kämpfer, die sich auf dem Boden wälzten -, aber das ließ ihn nicht langsamer werden, und zumindest hatte noch keiner ein Messer oder ein Schwert gezogen. Es war nur eine Kneipenschlägerei und daher bei aller Betrunkenheit unwahrscheinlich, dass die Soldaten sich zu mehr würden hinreißen lassen. Irgendwo in der Ferne läutete hektisch eine Alarmglocke, "wahrscheinlich rief der Wirt nach der Wache, denn auf die Glocke folgten rasch die Trillerpfeifen. Offensichtlich war die Wache ganz in der Nähe gewesen, unterstützt von einem Trupp regulärer Soldaten des Grafen, um in der Stadt Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Graf von LaMut mochte jung und neu im Amt sein, aber es
war ihm und seinen Hauptleuten wohl nichts Neues, dass Soldaten in einer Garnison dazu neigten, sich miteinander anzulegen, wenn sie sonst nichts zu tun hatten, und die Vernünftigeren unter den Adligen waren daran gewöhnt, das Unvermeidliche zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Kethol war ebenfalls alles andere als überrascht; er erwartete eigentlich immer halb, dass ein Streit ausbrach, und obwohl er nicht darauf gezählt hatte, hatte er es doch gehofft. Und nun nutzte er die Gelegenheit. Wenn bei einer Schlägerei jemand zu Boden ging, war das nicht überraschend, und daher interessierte sich niemand sonderlich dafür, als Kethol sich ächzend fallen ließ, obwohl ihn kein Schlag getroffen hatte. Die Tatsache, dass er dort hinfiel, wo mehrere Dutzend Münzen unter dem Tisch lagen, war eben ein wunderbarer Zufall. Rasch raffte er eine Hand voll Münzen zusammen - er brauch22
te sich bei all dem Geschrei und Gegrunze um das Klirren keine Sorgen zu machen; alle anderen wären viel zu beschäftigt, um so eine Kleinigkeit zu bemerken - und achtete dabei darauf, erst die Silberstücke aufzulesen, bevor er sich um das Kupfer kümmerte. Er steckte alles in eine Geheimtasche auf der Innenseite seines Waffenrocks und packte noch einen Lappen mit hinein, bevor er die Schnur der Tasche fest zuzog. Dann war er auf allen vieren und kroch so schnell er konnte auf die Tür zu: Er war bereits für diesen Kampf bezahlt worden, und es war Zeit zu gehen. Eine Kneipenschlägerei hatte ihre eigene Dynamik: Nach ein paar Augenblicken, in denen es wild durcheinander ging, lagen meist schon bald ein paar verletzt am Boden, und daneben schlugen sie sich in Paaren und reagierten alten Groll mit ihren Fäusten ab. Wieder andere würden bald tun, was Kethol gerade tat: Sie würden nicht abwarten, bis es wirklich blutig wurde, und erst recht nicht, bis die Wache auftauchte, sondern sich schnell davonmachen. Selbstverständlich war Milo der Erste gewesen, der verschwunden war, und andere waren ihm gefolgt. Kethol würde weder der Erste noch der Letzte sein, der die Schänke verließ, und das war gut so. Er huschte durch den Vorraum und dann zum Eingang und schob die dicken Segeltuchvorhänge beiseite, die die kalte Luft draußen halten sollten. Dann blieb er wie erstarrt stehen. Sie warteten schon auf ihn: eine Gruppe regulärer Soldaten, angeführt von einem berittenen Unteroffizier, dessen kräftiges dunkles Pferd nervös auf dem fest gestampften Schnee tänzelte und mit diesen seltsamen klauenbesetzten Hufeisen scharrte, die Kethol außer in LaMut noch nirgendwo gesehen hatte. Eine Lanze war auf ihn gerichtet. »Du bist Kethol, der Söldner«, erklang eine Stimme aus dem Dunkeln. Die Lanze hatte eine gut geschliffene Spitze, das war nicht ab23
zustreiten. Wenn es Ärger gab, würde er sich jetzt herausreden oder, was wahrscheinlicher war, kämpfen müssen.
»Ja«, sagte er und breitete die Arme in einer fragenden Geste aus. »Gibt es ein Problem?« »Nicht für mich. Der Schwertmeister will dich sehen.« »Mich?« »Euch. Alle drei.« Er brauchte nicht zu fragen, wen der Unteroffizier mit »alle drei« meinte. »Also gehen wir«, sagte der Unteroffizier. Kethol zuckte mit den Achseln. Mit den gestohlenen Münzen in der Geheimtasche hatte er derzeit ohnehin nichts Besseres zu tun, und das schloss auf der Straße sterben mit ein. Zumindest im Augenblick. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, und falls es irgendwo auf der Welt Stallungen gab, in denen es nicht zog, hatte Pirojil sie jedenfalls noch nie gesehen, also überraschte ihn die eisige Kälte, die durch das Gebäude fegte, nicht, als er einen weiteren Heuballen vom Heuboden rollte und ihn auf den fest gestampften Boden weiter unten fallen ließ. Die Pferde waren an das Geräusch herunterfallender Ballen gewöhnt, und nur der große braune Wallach, der für den Pferdemeister selbst reserviert war, wieherte und stampfte unruhig in seiner Box. Pirojil hatte nichts dagegen, sich an der Pflege der Pferde zu beteiligen - alle Stallknechte waren bei der vorletzten Schlacht als Boten eingesetzt worden, und sie waren alle entweder von Tsuranis oder Käfern getötet worden -, aber er war nicht besonders versessen darauf, das in einem Stall zu tun, der so kalt und zugig war, dass ihm der Schweiß auf der Nase gefror. Es war ein Kuhhandel, wie so vieles im Leben. Je weniger man sich darüber beschwerte, dass man ein paar Boxen ausmisten musste, desto unwahrscheinlicher war es, dass man seinen Namen 24
ganz oben auf der Liste im Kopf des Hauptmanns wiederfand, wenn es mal wieder darum ging, eine Patrouille auszuschicken, die nachsehen sollte, ob im Wald weiter vorn tatsächlich Tsuranis im Hinterhalt lagen. Und wenn man sich die Arbeit mit mehr als ein paar Schlucken aus einer Flasche billigen Weins aus Tyr-Sog erleichtern konnte, die der verstorbene Feldwebel - möge Tith-Onaka, der Soldatengott, ihn an seine haarige, frostige Brust drücken! - nicht mehr brauchte, dann war es schon auszuhalten. Es war lausige Arbeit, aber einfach. Man zog dem Pferd ein Stallhalfter über, führte es in eine leere Box, schloss es dort gut ein, und dann schaufelte man das alte, voll gepisste und geschissene Stroh mit der Mistgabel raus und frisches rein. Das alte Stroh landete in einer Schubkarre, und die Schubkarre fuhr man dann die Rampe rauf und durch zwei schwere Schwingtüren, um sie auf dem Mistwagen auszukippen, wonach der Rest nicht mehr Pirojils Problem war. Andere würden den Wagen in die Stadt bringen und das Zeug loswerden müssen. Angeblich war es der Pferdemist, der die Kartoffeln in LaMut so groß wie Pferdeäpfel werden ließ, aber Gemüseanbau gehörte nicht zu Pirojils Spezialgebieten. Er wusste, dass er ein überdurchschnittlich vielschichtiger Mensch war, und gerade aus diesem Grund fand er sehr einfache Dinge so ausgesprochen angenehm. Wie zum Beispiel, nicht über etwas nachzudenken, was ihn ohnehin nicht betraf. Es
hatte keinen Sinn, den Kopf ohne guten Grund zu strapazieren. Er nahm noch einen Schluck Wein, gurgelte mit dem Zeug, um sich den Schleim aus der Kehle zu spülen, und verschloss die Flasche vorsichtig wieder, bevor er sie neben der Leiter auf den Boden stellte. Die Leiter diente dazu, vom Heuboden herunterzugelangen, aber es gab auch noch ein Seil. Und nur einen kurzen Schritt entfernt stand ein einladend gut polierter Pfosten. Pirojil rutschte also den Pfosten hinunter, wobei seine dicken Lederhandschuhe von der Reibung nur geringfügig wärmer wurden, und landete leichtfüßig. Das war der Trick dabei, hatte er bemerkt. Man musste mit Hilfe der Reibung kurz vor dem Boden 25
langsamer werden, dann kam man auch nicht zu fest auf der gestampften Erde auf. Dumm, sich auf so etwas zu konzentrieren, aber es gab Schlimmeres. Zum Beispiel, wie die Frauen ihn anschauten. Sogar die Huren. Er zuckte mit den Achseln. Ein hässlicher Mann war ein hässlicher Mann, aber ein hässlicher reicher Mann war ein reicher Mann, und er würde eines Tages zumindest ein halbwegs reicher Mann sein, wenn er nicht vorher zum toten Mann wurde. Man musste einfach immer weiter sparen und auf den richtigen Augenblick warten, und in der Zwischenzeit In der Zwischenzeit konnte man sich mit Träumen über Wohlstand amüsieren, während man darauf wartete, dass sich einem dieser bewusste Speer, der einem vorherbestimmt war, in die Gedärme bohrte, das Schwert des Schicksals das Herz traf oder der unvermeidliche Pfeil das Auge. Willem, der letzte Stallknecht, war mit dem Schild seines Vaters in den Krieg gezogen und auf diesem Schild zurückgekehrt. Zu seinem Andenken hatte man den Schild mit den anderen an die Wand im Stall gehängt, und jemand, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, hatte sie alle auf Hochglanz poliert. Zum Glück jedoch konnte Pirojil selbst in diesen Schilden nicht sein Spiegelbild erkennen. Er war nicht sonderlich versessen darauf, die verbogene Stirn mit den schweren, buschigen Brauen zu erblicken, die müden, tief liegenden Augen und eine Nase, die oft genug gebrochen worden war, dass sie beinahe flach war und ihn in einen Mundatmer verwandelte. Pirojil betastete den schütteren Bart, der sein Kinn überzog. Dieser Bart wurde nie richtig dicht, und Pirojil wollte ihn auch nicht lang genug wachsen lassen, dass ein Feind ihn daran packen konnte. Man sah den Leuten nicht immer an, was sie waren. Es gab wirklich hässliche Menschen auf der Welt, aber viele von ihnen waren gut und freundlich. Pirojil war jedoch schon lange zu dem Schluss gekommen, dass sein eigenes Gesicht ein angemessener 26
Spiegel seiner Seele war. Es brauchte schon etwas anderes als eine sanftmütige Seele, um den größten Teil seines Lebensunterhalts damit zu verdienen, einem anderen das Schwert in die Eingeweide zu treiben. Ein kratzendes Geräusch ließ ihn herumfahren und die Hand zum Gürtel senken. Dann zwang er sich dazu, sich wieder zu entspannen. Nur eine Ratte, da drüben neben der Haferkiste.
Schädlinge waren ein ständiges Problem, und eins, von dem man eigentlich annehmen sollte, dass es selbst die stets überlasteten Magier irgendwann auf den Plan rufen würde. Konnten sie nicht... irgendwelche Gesten machen oder einen Bann sprechen oder was auch immer, damit die Ratten sich vom Hafer, den Möhren und dem Getreide für die Pferde fern hielten? Nicht, dass ihn das etwas anging. Zum Glück musste er nicht hier in dem zugigen Stall schlafen, und außerdem wurde er nicht dafür bezahlt, Ratten zu töten. Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und bohrte sich in das Holz der Haferkiste, begleitet von einem kurzen Quieken. »Erwischt.« Ein hoch gewachsener, sehniger Mann kam aus dem Schatten und steckte sich dabei das zweite Messer wieder in die Schärpe. Ein Rapier mit einem geflochtenen Handschutz hing an seinem Gürtel - die spitze, präzise Waffe eines Duellanten, nicht das breitere, längere Schwert, mit dem ein einfacher Soldat in den Kampf ziehen würde. Hauptmann Tom Garnett wählte seine Waffen mit Sorgfalt. In dieser Situation zählte es nicht mehr, dass Pirojils eigenes Schwert gut sechs Schritte entfernt war, wo er es an einen Haken gehängt hatte, damit es bei der Arbeit nicht im Weg war. Hauptmann Tom Garnett, der älteste der lehensgebundenen Offiziere seiner Exzellenz des Grafen von LaMut, war selbst mit Ende Vierzig noch ein besserer Schwertkämpfer, als Pirojil es je werden könnte. Ob das nun an einer angeborenen Begabung lag oder daran, dass Garnett mehr als dreißig Jahre lang die Hälfte seiner Tage mit dem Schwert in der Hand zugebracht hatte - er hätte Pirojil jedenfalls leicht in Stücke schneiden können. 27
Und anscheinend kannte er sich auch mit Wurfmessern aus, obwohl Pirojil das nicht von ihm gedacht hätte, denn er hatte noch nie davon gehört, dass ein geworfenes Messer wirklich jemanden getötet hätte, und es war daher vollkommen albern, das Geld auszugeben, das ein gut ausgewogenes Wurfmesser kostete. Sinnlos, wirklich. Also versuchte Pirojil erst gar nicht, dorthin zu greifen, wo sein eigenes Wurfmesser unter dem Hemd steckte. Denn obwohl er wirklich noch nie davon gehört hatte, dass ein geworfenes Messer jemanden getötet hätte, konnte es einen Mann doch lange genug ablenken, damit man ihn auf andere Weise erledigen konnte, und außerdem gab es immer ein erstes Mal; Pirojil weigerte sich einfach nur, das Gold für ein wirklich gutes Wurfmesser auszugeben, und selbst wenn, dann hätte er es nicht für Ungeziefer aufs Spiel gesetzt. Pirojil ließ seine Gedanken weiter einigermaßen ziellos dahinplätschern und blieb ruhig stehen, während Tom Garnett zur Haferkiste ging, das Messer zurückholte und dabei die Ratte zeigte, die er sauber und ordentlich aufgespießt hatte. Sie war bereits schlaff und reglos; Tom Garnett schnippte sie vom Messer in die Schubkarre mit dem Stroh und der Scheiße, dann bückte er sich und hob eine Hand voll frisches Stroh auf, um das Messer zu säubern, bevor er es wieder einsteckte. Er war einen Kopf größer als Pirojil, der selbst überdurchschnittlich groß war, aber während Pirojil beinahe so kräftig gebaut war wie Durine, war Tom Garnett sogar noch hagerer und sehniger als Kethol. Sein Haar war rabenschwarz und hatte ein paar silbrige Glanzlichter, und von seinem dünnen Schnurrbart und dem winzigen Spitzbart abgesehen war sein Gesicht ordentlich rasiert, was die Narben auf den
Wangen und an der Stirn noch deutlicher hervorhob. Man hätte vielleicht erwartet, dass sich ein so großer, schlaksiger Mann ungeschickt bewegen würde, aber er war wie ein Tänzer stets im Gleichgewicht. »Ich habe dich offenbar überrascht«, sagte der Hauptmann und schnalzte missbilligend. »Das hätte ich nicht von dir erwartet, Pirojil.« 28
Pirojil zog den Kopf ein. »Sehr freundlich von dem Herrn Hauptmann, sich an mich zu erinnern«, erwiderte er. »Und unfreundlich, dich zu kritisieren? Nun, das ist schon möglich.« Garnett zeigte auf die Ratte. »Du hast etwas dagegen, dass ich eine Ratte töte?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht, Hauptmann«, sagte er. »Ich hätte es vielleicht auch selbst getan.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du gewollt hättest.« Der Tonfall des Hauptmanns war ein ganz klein bisschen spöttisch. »Wenn ich gewollt hätte.« »Und warum hat es dich nicht interessiert, Pirojil?«, fragte Garnett vielleicht ein wenig zu freundlich. Erneut zuckte Pirojil mit den Achseln. »Ich halte es für sinnlos. Wenn man eine von ihnen umbringt, gibt es immer noch viel zu viele. Sie hat mich nicht gestört, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass man mir befohlen - oder mich dafür bezahlt - hätte, Ratten zu jagen.« Er stützte sich auf die Mistgabel. »Wollt Ihr mich bezahlen, Ratten zu jagen, Hauptmann?« Tom Garnett schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich nicht, Pirojil. Der Schwertmeister hat allerdings vielleicht ein paar Ratten, die du für ihn jagen oder auf die du zumindest ein Auge haben könntest. Ich habe nach deinen Kameraden geschickt; sie sollten inzwischen im Adlerhorst sein. Würde es dir etwas ausmachen, mit mir zu kommen?«, fragte er höflich, obwohl es sich eindeutig um einen Befehl handelte. Pirojil schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten«, log er. Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte. Tom Garnett lächelte. »Sich ins Unvermeidliche zu fügen ist immer weise, Pirojil.« »Das habt Ihr aber nicht gesagt, als wir beinahe von den Käfern überrannt worden wären, Hauptmann«, erwiderte Pirojil. »Ich erinnere mich, dass Ihr etwas darüber gebrüllt habt, dass wir jetzt wohl sterben würden, aber wie Soldaten sterben sollten. Oder trügt mich da meine Erinnerung?« 29
Tom Garnett grinste. Es war kein angenehmes Grinsen; es erinnerte an einen Wolf, der die Zähne fletscht. »Da wir nicht überrannt wurden, war es offenbar doch nicht unvermeidlich, oder?« Der Hauptmann drehte sich um, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging. Pirojil beschloss, den Erwartungen seines Vorgesetzten zu entsprechen, und folgte ihm aus dem Stall. Als er einen Blick durch das offene Tor auf der anderen Seite des vorderen Hofs warf, sah er kurz die Lichter der Gebäude an der Straße, die vom Hügel hinunter in die eigentliche Stadt führte, und musste daran denken, wie schlau es doch gewesen war, diese Burg auf dem Felsvorsprung oberhalb der ursprünglichen Stadt zu bauen. Es war eine hervorragende Verteidigungsposition, so lange man nicht bei diesem elenden Wetter den Hügel rauf und runter rennen musste. Andererseits,
dachte er, waren die, die solche Burgen entwarfen, auch nicht unbedingt diejenigen, die mitten in einem Unwetter die Straße rauf und runter rennen mussten. So etwas überließ man Leuten wie Pirojil, Durine und Kethol. Verflucht. Hätte er doch bloß nichts über diesen Käferangriff gesagt. Dann schob er den Gedanken beiseite und folgte weiter dem Hauptmann.
2
Sorgen
Graf Vandros fiel auf, dass im Adlerhorst immer noch ein Hauch von Lady Mondegreens Duft nach Patschuli und Myrrhe in der Luft hing, wenn er auch in dem Schwefelgestank des Atems von Fantus kaum mehr wahrzunehmen war. Der grüne Feuerdrache war gerade von seinem Abendessen in der Küche zurückgekommen und hatte zufrieden gerülpst. Der Graf von LaMut und sein Schwertmeister wechselten einen Blick, als das Geschöpf sich vor dem Feuer niederließ. Der Schwertmeister war schon zuvor nicht sonderlich erfreut über die Anwesenheit des Feuerdrachen gewesen, und das war nicht besser geworden, als Fantus sich ausgerechnet den Adlerhorst zum Wohnsitz auserkoren hatte, wahrscheinlich, weil er ihn durch die alte Falknerei so gut erreichen konnte. Vandros war sich allerdings nicht sicher, wie es dem Drachen gelang, in die abgeschlossenen Gemächer des Schwertmeisters im Adlerhorst zu kommen, wenn er doch eigentlich im Dachgeschoss darüber bleiben sollte, wo frühere Herrscher von LaMut jahrzehntelang ihre Beizvögel untergebracht hatten. Inzwischen hauste dort oben eine nach Steven Argents Ansicht vollkommen unzulängliche Ansammlung von Brieftauben unter der Obhut von Haskeil, dem Taubenzüchter, den Steven Argent sarkastisch als den »Vogelmeister« bezeichnete - allerdings nicht in Graf Vandros' Hörweite. Eigentlich sollte Haskeil dafür sorgen, dass der Feuerdrache 31
dort oben blieb, aber die einzigen Türen, die er sorgfältig verschloss, waren die zu den Käfigen seiner Schutzbefohlenen, die jeweils mit »Festung Mondegreen« oder »Yabon« oder »Crydee« und so weiter beschriftet waren, je nachdem, wo die Vögel aufgewachsen waren und wohin ihr Instinkt sie zurückführen würde, wenn man sie freiließe; Haskeil war erheblich weniger zuverlässig, wenn es um die Türen zwischen dem Speicher und Steven Argents Gemächern ging. Aber selbst wenn der Schwertmeister diese Türen persönlich verriegelte, gelang es dem Drachen irgendwie, die schmale Steintreppe herunterzukommen und sich Einlass in die Wohnung des Schwertmeisters zu verschaffen. In den letzten Tagen hatte Argem daher resigniert und wehrte sich nicht mehr gegen diesen seltsamen Untermieter und würde es wohl auch nicht mehr versuchen, bis der Herzog von Crydee im Frühjahr von der Generalstabssitzung in Yabon zurückkehren und das Tier abholen würde. Fantus gab einen zufrieden klingenden Seufzer von sich, reckte den langen, schlangenhaften Hals und legte das Kinn auf die warmen Steinfliesen vor der Feuerstelle. Er hatte die Flügel anmutig auf dem Rücken gefaltet, und die Flammen spiegelten sich scharlachrot und golden auf den grünen Schuppen.
Der Feuerdrache war eine Woche zuvor mit Lord Borrics Hofmagier Kulgan in LaMut eingetroffen, und als der Herzog von Crydee und sein Gefolge sich vor zwei Tagen zur Generalstabssitzung in Herzog Brucals Burg in Yabon aufgemacht hatten, war Fantus hier zurückgeblieben. Keiner in Graf Vandros' Burg war sich so recht sicher, was sie mit dem Tier anfangen sollten; die meisten Diener und anderen Angehörigen des Haushalts hatten genug Angst vor dem kleinen drachenartigen Geschöpf, dass sie ihm aus dem Weg gingen, wenn Fantus sich jeden Tag zu einem Beutezug in die Küche aufmachte, obwohl einige wenige Burgbewohner, darunter auch der Graf selbst, ihn recht amüsant fanden. Vandros ließ sich nicht anmerken, ob ihn der Gestank störte, 32
ebenso wenig wie der stets verdrießliche Oberste Diener, der ein Tablett auf den Tisch stellte und ihnen nun den Wein eingoss, bevor er die Flasche wieder auf das Tablett zurückstellte. »Wünscht Ihr noch etwas, Schwertmeister?«, wandte sich Ereven an Steven Argem und nicht an Graf Vandros - und das war auch ganz angemessen so, denn obwohl Vandros von höherem Rang war als der Schwertmeister und als Graf von LaMut über die gesamte Burg befehligte, war der Adlerhorst doch die Wohnung des Schwertmeisters, und der Oberste Diener war offiziell damit beschäftigt, Steven Argent dabei behilflich zu sein, für das Wohlergehen seines Gastes zu sorgen. Der Schwertmeister lächelte dem Diener anerkennend zu; Argent hielt es sehr mit den Feinheiten der Gastfreundschaft, ebenso wie er auch in allen anderen Dingen sehr penibel war. »Nein danke, Ereven«, sagte er nach einem schnellen Nicken des Grafen. »Betrachte dich als für den Abend beurlaubt, und bitte grüße Becka und deine Tochter von mir.« Erevens verdrießliche Miene wurde noch etwas säuerlicher, obwohl er sich zu einem Lächeln zwang. »Das werde ich tun, Schwertmeister, und ich wünsche Euch und Seiner Lordschaft eine gute Nacht.« Vandros zog bei dieser Bemerkung nicht einmal die Braue hoch und sagte kein Wort, bis Ereven die Tür hinter sich geschlossen hatte. Nicht, dass es zu erwarten gewesen wäre, dass er sich äußerte. Die Liebeleien des Schwertmeisters waren der Stoff zahlloser Gerüchte, ob es sich nun um die angebliche Affäre mit der sehr hübschen jungen Tochter des Obersten Dieners handelte (nicht zutreffend) oder die mit Lady Mondegreen (zutreffend). Steven Argent war sowohl Soldat als auch Frauenheld, und sein Erfolg auf beiden Feldern hatte ihm den Neid und die Feindschaft vieler wichtiger Männer eingebracht. Mehrmals in den letzten beiden Jahrzehnten hatte allein die Tatsache, dass sich Argent mit einer Dame aus dem niederen Adel oder der Frau eines reichen Kaufmanns unterhalten hatte, zu einer Auseinandersetzung und einmal sogar zu einem Duell geführt. Dieses Duell war der wich33
tigste Grund dafür gewesen, dass er seinen schnellen Aufstieg in der Armee des Königs von Rillanon abgebrochen hatte und nach Westen gegangen war, um dort erst als Hauptmann und dann als Schwertmeister in der Garnison von Vandros'
Vater zu dienen. Obwohl Vandros sich für gewöhnlich als offener, unkomplizierter Krieger gab, hatte er sich doch den größten Teil seiner achtundzwanzig Jahre darauf vorbereitet, einmal Graf von LaMut zu werden, und er konnte durchaus feinsinnig sein, wenn er es sein musste: Er wusste, wann man sich eine Bemerkung besser verkneifen sollte. Als die Tür sich hinter Ereven schloss, sagte er daher nur: »Es fällt mir immer noch schwer, mir vorzustellen, dass es unter uns einen Verräter geben soll. Aber ...« »Aber es waren einfach ein paar Unfälle zu viel in der letzten Zeit«, beendete Steven Argent den Satz für ihn. »Und nach all dem kann ich nicht mehr stillschweigend davon ausgehen, dass alles in Ordnung sein soll. Im Norden ist es zu ruhig geworden -und wenn ich etwas schon gelernt habe, als ich noch in den Windeln lag, dann ist es, sich nach einer Falle umzusehen, sobald alles zu glatt läuft.« »Aber wie könnten die Tsuranis denn überhaupt einen Verräter finden und rekrutieren? Es ist ja nicht so, als ob sich einer von ihnen verkleiden, nach Ylith spazieren und so tun könnte, als wäre er ein Kaufmann aus Sarth. Sind sie überhaupt zu solchen Intrigen imstande?« Steven Argent schüttelte den Kopf. Das war offenbar der Teil, den er ebenfalls nicht begriff. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich mache mir Sorgen. Selbstverständlich muss ein Verräter, wenn es denn einen gibt, nicht unbedingt im Dienst der Tsuranis stehen. Wenn sie sich wirklich mit Attentaten abgäben, dann wäre ihr Ziel wohl kaum ein Baron, wie wichtig er auch sein mag. Ich wette, sie würden sich auf Grafen und Herzöge konzentrieren. Und wenn es um andere mögliche Kandidaten geht, die einen Mord in Auftrag gegeben haben, dann gibt es leider viel zu viele wahrscheinliche Kandidaten. Ich habe nicht viel für Baron Morray übrig - ich finde, die Fehde zwischen seiner Familie und der 34
von Baron Verheyen hätte schon vor einer Generation mit einem Duell beigelegt werden sollen, und er hat sich auch noch genügend andere Feinde gemacht -, aber ich denke, wir sollten lieber dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt, solange er sich hier in der Stadt befindet. Schon deshalb, weil es den Herzog vermutlich verärgern würde.« Darüber musste Vandros lächeln. »Ich kann auch nicht behaupten - und was das angeht, habe ich einen hervorragenden Informanten -, dass es den Grafen sonderlich erfreuen würde.« »Wir könnten damit leben, wenn er im Kampf umkäme - das ist eine Gefahr, der wir alle ausgesetzt sind. Aber ...« Vandros seufzte. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass Lord Verheyen einen heimtückischen Mord gutheißen würde. Sicher, er ist heißblütig und hitzköpfig. Aber einen Mord anordnen? Das klingt gar nicht nach ihm.« Er schüttelte den Kopf. Vandros' Vater hatte Morray als Heereskämmerer von LaMut berufen, als der Krieg begonnen hatte, und Vandros hatte die Entscheidung des alten Grafen unangetastet gelassen, als er vor zwei Jahren den Titel erbte, denn der Mann leistete gute Arbeit. Und als Graf wusste Vandros besser als die meisten, dass sowohl eine Grafschaft besonders zu Kriegszeiten - als auch eine Armee ebenso sehr von Gold und Silber lebte wie von Fleisch und Getreide.
Hätte Steven Argent seinen Willen bekommen, dann hätte der Graf Baron Morray mit seinen Büchern, Konten und Geldsäcken im Turm eingeschlossen, bis der letzte Tsurani aus Midkemia vertrieben war, aber das war politisch unmöglich, und selbst, ihn in der Stadt wohnen zu lassen schien inzwischen eine schlechte Idee zu sein. Es war Zeit, ihn aus der Stadt zu schaffen, zumindest für eine Weile. »Es könnte Zufall sein. Aber es gibt ein altes Sprichwort, Mylord«, sagte der Schwertmeister. »>Beim ersten Mal ist es Zufall, beim zweiten Mal ein bemerkenswerter Zufall und beim dritten Mal eine Verschwörung.<« 35
Vandros grinste. »Ich denke, mein Vater hätte einen Mann aus LaMut zum Schwertmeister machen sollen, nicht einen verweichlichten Höfling aus dem Osten. Rillanon ist vielleicht ein guter Ort, um die Feinheiten des Schwertkampfes zu erlernen, aber etwas an diesem Hof bringt nicht nur ununterbrochen Verschwörungen hervor, sondern auch die Neigung, in allem und jedem gleich eine Verschwörung zu wittern.« »Es gibt immer Verschwörungen, Mylord, irgendwo zumindest.« Vandros' Miene verfinsterte sich einen Augenblick, und obwohl es unausgesprochen blieb, wusste Argent, was ihm gerade durch den Kopf ging. Der Bruch zwischen dem König und dem Prinzen von Krondor bedrohte das Reich langfristig vielleicht ebenso wie der Spalt, durch den die Tsuranis eingedrungen waren. Es wimmelte nur so von Gerüchten: Der König habe befohlen, seinen Onkel, den Prinzen, gefangen zu nehmen, und die Verleihung der Vizekönigswürde der Stadt an Guy du Bas-Tyra war nur ein Vorspiel dazu, Guy als nächsten Prinzen von Krondor einzusetzen. In der letzten Zeit hörte man sogar, dass Guy Prinz Erland bereits umgebracht habe. Jegliche offizielle Kommunikation zwischen den Armeen im Westen und Krondor ging durch die Hände der Herzöge Brucal und Borric. Vandros wusste nur, was man ihm sagte, und davon glaubte er nicht einmal die Hälfte. Zumindest hatte er das seinem Schwertmeister gesagt. Steven Argent wusste nicht, ob er sich der Skepsis des Grafen vollkommen anschließen sollte oder nicht, obwohl er seine Zweifel nicht laut aussprach. Immerhin waren Gerüchte häufig der erste Vorbote unangenehmer Wahrheiten. Aber das war nichts, was der junge Graf zugeben wollte, offen oder indirekt. Böses Blut gehörte nun einmal zum Adel, besonders in solch unruhigen Zeiten, wenn der Erbe einer Baronie oder eines Herzogtums leicht in jungen Jahren im Kampf sterben und die Nachfolge dadurch ungeregelt sein konnte. Steven Argent hatte das auf der Wolfsjagd beobachtet: Wenn man den Rudelführer tötete, verbrachten die an36
deren Männchen die nächsten Wochen damit, miteinander um die Herrschaft zu kämpfen, und das bewirkte, dass man sie ziemlich einfach jagen konnte. Aber das war kein Vergleich, der Graf Vandros sonderlich begeistern würde, trotz des Wolfskopfes in seinem Familienwappen. Und Angelegenheiten der Nachfolge selbst auf sehr allgemeine Weise ins Spiel zu bringen, würde den Grafen vermutlich verärgern, denn er war außergewöhnlich empfindlich, was die Angelegenheit seiner
eigenen Zukunft als Herzog von Yabon anging, sobald er erst einmal Herzog Brucals Tochter Felina geheiratet hatte. Also wechselte Steven Argent das Thema. »Ich denke, ihr hier im Westen -« »Ihr habt meinem Vater - und jetzt mir - mehr als ein Dutzend Jahre gedient, und wir sind für Euch immer noch >ihr hier im Westend«, unterbrach ihn Vandros lachend. »- ihr hier im Westen neigt dazu, uns Leute aus dem Osten zu unterschätzen. Wir haben fähige Soldaten und mehr als ein paar sehr gute Kämpfer hervorgebracht.« »Mag sein.« Um den Schwertmeister zu necken, tat Vandros, als überzeuge ihn diese Behauptung nicht so recht. Zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil des Reiches hatte immer eine gewisse Rivalität bestanden. Der Graf wusste, dass die ständigen Grenzkämpfe mit den Östlichen Königreichen einige der besten und fähigsten Befehlshaber des Ostens und auch ein paar hervorragende Kämpfer hervorgebracht hatten. Ehrgeizige Soldaten gingen oft in den Osten, weil sich dort Möglichkeiten zum raschen Aufstieg boten. Im Osten kämpfte man sozusagen in Sichtweite von Baronen, Herzögen und Königen gegen die Armeen benachbarter Staaten, während die meisten Festungssoldaten im Westen vor allem damit beschäftigt waren, unter dem Befehl fluchender Feldwebel Banden von Goblins zu jagen und Gesetzlose zu verfolgen. Sieben Jahre ununterbrochenen Kriegs mit den Tsuranis hatten den Armeen des Westens jedoch einen harten Kern kampferprobter Veteranen geliefert, und neue Rekruten lernten die Kriegskunst schnell oder wurden getötet. 37
Oder beides. Die Tsuranis waren strenge Lehrer der Kampfkunst und als Gegner unnachgiebig genug, dass Vandros gezwungen gewesen war, Söldner zu bezahlen, um seine Truppen zu unterstützen. Es gab einfach nicht mehr genug gesunde junge Männer, um seine Verpflichtung gegenüber dem Herzog von Yabon zu erfüllen; also mussten gemietete Schwerter die Toten und Verwundeten ersetzen. Ja, die Tsuranis waren strenge Lehrer der Kriegskunst, aber die Soldaten von LaMut hatten sich auch als fähige Schüler erwiesen; Graf Vandros wusste, dass sich seine beste Kompanie jederzeit mit der besten einer östlichen Festung messen konnte. Daher sagte er nun auch mit tückischem Grinsen: »Wir kennen beide unseren jeweiligen Wert auf dem Schlachtfeld.« Steven Argent zog die Brauen hoch. »Wenn Ihr von der nächsten Patrouille zurückkehrt, möchtet Ihr dann mit mir auf dem Übungshof darüber diskutieren?« Einem Adligen auf akzeptable Weise zu drohen war eine hohe Kunst - eine, zu der man entweder von Geburt an berufen war oder die man erlernen musste, und Steven Argent hatte einen großen Teil seines Erwachsenenlebens mit solchen Studien verbracht, also war er kein bisschen überrascht, als Vandros' Grinsen nun breiter wurde. »Lieber nicht!« Der Graf lachte. »Ihr habt mir schon genug blaue Flecken verpasst, Schwertmeister.« Dann wurde er wieder ernst. »Aber zurück zum Thema: Baron Morray. Ihr haltet es also nicht für einen Zufall, dass er ein paarmal beinahe umgekommen wäre?«
Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Ein Topf, der von einer Fensterbank fällt... nun ja - obwohl zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung niemand zu Hause war, wenn ich es recht verstanden habe ...« »Es könnte immer noch der Wind gewesen sein.« Steven Argent nickte. »Und das Eis auf Baron Morrays Treppe ist vielleicht einfach entstanden, weil jemand Wasser aus einem Krug verschüttet hat, und sein Sattelgurt war vielleicht nur we38
gen Vernachlässigung durchgescheuert, obwohl ich diese Theorie dem Pferdemeister lieber nicht unterbreiten möchte.« Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm das Ende des Sattelgurts in die Hand, den er aus dem Stall mitgenommen hatte, um ihn sich in Ruhe näher anzusehen. Ja, es sah aus, als wäre er einfach durchgescheuert und nicht zerschnitten worden, aber Argent war selbst imstande gewesen, einen ähnlichen Effekt zu erzeugen, indem er den Gurt gegen eine scharfe Steinkante gerieben hatte. »Es könnte wirklich alles nur Zufall gewesen sein. Aber das ist unwahrscheinlich«, sagte Argent. »Aber Verheyen? Ich weiß, dass es zwischen den beiden böses Blut gibt, aber Mord ... ?« »Ich bezweifle ebenfalls, dass Verheyen dahinter steckt, aber für vollkommen unmöglich halte ich es nicht.« Steven Argent schüttelte den Kopf. »Ich würde allerdings annehmen, dass Verrat erheblich wahrscheinlicher ist, obwohl ich keine Ahnung habe, was das Wer, das Wie und das Warum angeht.« »Ich möchte, dass die ganze Sache verschwiegen behandelt wird«, sagte Vandros. »Wir sind immer noch im Krieg, und das ist kein geeigneter Zeitpunkt, um wilde Bezichtigungen zu äußern; vor allem nicht, da sich die Barone demnächst hier zur ihrer alljährlichen Beratung treffen. Was übrigens eine gute Gelegenheit wäre, diese Angelegenheiten aus der Welt zu schaffen.« Steven Argent nickte. »Daran hatte ich ebenfalls gedacht. Ich finde, Baron Morray sollte zunächst einmal mit einer Truppe guter Männer zur täglichen Patrouille ausziehen, während ich ein paar diskrete Fragen stelle und sehe, was ich herausfinden kann.« Morray hatte sich im Krieg nicht sonderlich ausgezeichnet, aber auch nicht unbedingt blamiert, und es war eine gute Idee, wenn ein Angehöriger des Adels die einfachen Soldaten im Auge behielt, auch wenn er nicht wirklich die Befehlsgewalt über sie erhalten würde. Vandros runzelte die Stirn. »Wir könnten ihn vielleicht mit der Lady nach Mondegreen schicken, damit er Baron Mondegreen zum Rat begleiten kann. Wir stehen ohnehin kurz davor, sowohl 39
Männer aus Mondegreen als auch aus Morray nach LaMut zu verlegen - also wird es doch ganz vernünftig klingen, wenn wir ihn ausschicken, um diese Truppenverlegung zu überwachen.« »Ihr seid ein sehr weiser Mann. Am liebsten würde ich ja dafür sorgen, dass er sich während der Sitzungen des Baronsrats überhaupt nicht in LaMut aufhält, aber -«
»Nein, das würde so aussehen, als würde ich mich in seiner Fehde mit Verheyen auf dessen Seite stellen.« Steven Argent nickte. »Das ist wahr, Mylord.« Er kniete sich hin und kraulte Fantus. Die Haut von Drachen war fester als gutes Leder, also musste er mit dem massiven Ring, den er am Mittelfinger trug, ordentlich reiben, bevor der Feuerdrache den Rücken genüsslich durchbog und entzückt die Augen schloss. Vandros nickte vor sich hin. »Außerdem wird Baron Mondegreens Anwesenheit vielleicht dazu beitragen, dass es ein bisschen ruhiger zugeht.« »Ja, in der Tat - er ist ein kränklicher, aber sehr sanftmütiger alter Mann«, sagte Steven Argent. »Obwohl er unter dieser sanften Oberfläche durchaus auch hart wie Stahl sein kann.« Erneut streichelte er den Hals des Feuerdrachen. »Braver Fantus. Schöner Drache.« »Ihr habt gute Männer zur Verfügung?«, fragte Vandros. »Alle, die den Rock mit dem Wappen des Grafen von LaMut tragen, sind gute Männer.« Vandros schüttelte gereizt den Kopf. »Ich meine, besonders geeignete Männer. Für ein solches Unternehmen.« »Ich dachte an Tom Garnetts Kompanie«, sagte der Schwertmeister. »Zusammen mit drei Söldnern als persönliche Leibwache für Morray« Der Form halber sah er den Grafen fragend an. »Immer vorausgesetzt, Ihr findet meinen Vorschlag angemessen. Ich denke, es wäre besser, wenn die Befehle von Euch kämen.« Steven Argent war ein Soldat und daran gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen, aber er vermied es wenn möglich, Befehle zu erteilen, die auch den Adel betrafen. Vandros nickte. »Das werde ich tun, und danach muss ich die40
se Angelegenheit und ganz LaMut Euch überlassen; Herzog Bru-cal erwartet mich in der nächsten Woche zur Generalstabssitzung in Yabon, also sollte ich heute abreisen.« »Werdet Ihr auch Brieftauben mit zurückbringen?« Vandros lachte. Das war ein Spiel zwischen beiden. Jedes Mal, wenn der Graf irgendwo hinreiste, erinnerte ihn Argent daran, Brieftauben mitzubringen, als würde Vandros das ohne diese Bemerkungen vergessen. Der Graf glaubte, dass Steven Argent sich zu viel Gedanken darüber machte, schnell Nachricht geben zu müssen, falls in LaMut etwas Wichtiges passieren sollte. Vandros hatte seine bevorstehende Abreise nach Yabon mit Vögeln gemeldet, die nach Steven Argents Ansicht wohl die letzten zur Verfügung stehenden ihrer Art waren. »Ja, ich bringe Tauben mit. Und ein paar gute Flaschen Wein für Euren legendären Durst. Ihr könnt in meiner Abwesenheit den Gastgeber für die zänkischen Barone spielen. Lasst Mondegreen die Versammlung leiten; das wäre ein kluger Schachzug. Sowohl Morray als auch Verheyen respektieren den alten Mann - ebenso wie jeder andere Adlige, der mir einfällt, außer diesem Narren Viztria -, und das sollte sie zwingen, sich anständig zu benehmen. Und was den potenziellen Attentäter angeht, kann ich Euch wohl ebenfalls vertrauen.« Steven Argent nickte. »Selbstverständlich, Mylord.«
Als die Patrouille mitten auf der Straße verharrte, wurde Kethol klar, dass er sich auf jeden Fall dagegen ausgesprochen hätte, dass Lady Mondegreen sie begleitete, wenn er nur geglaubt hätte, dass ihm jemand zuhören würde. Aber die Lady und ihre beiden Zofen sollten nach Mondegreen reisen, um sich dort um den kranken Baron zu kümmern und ihn wieder zurück nach LaMut und zur Barons Versammlung zu begleiten - oder zumindest sollte sich Lady Mondegreen eine Weile aus den Betten der Adligen in LaMut fern halten -, und Baron Morray hatte darauf bestanden, die Patrouille könne ebenso gut einen kleinen Umweg nach Norden machen, um sie nach Hause 41
zu eskortieren. Was vielleicht auch ganz vernünftig war. In ein oder zwei Tagen würde ohnehin eine Kompanie Kavallerie aus Mondegreen nach LaMut verlegt werden, um die Leute des Grafen abzulösen, die rings um die Stadt Dienst taten. Das Problem mit dem, was Pirojil »eine schleichende Mission« genannt hatte, war genau das: Sie wuchs schleichend und unbemerkt und wurde dabei immer undurchführbarer. Was zunächst als einfache Patrouille gedacht gewesen war, die einfach nach Nordwesten und dann wieder nach LaMut reiten sollte, hatte sich in eine Eskorte für die Reisenden nach Mondegreen verwandelt, ebenso wie für jene, die aus Mondegreen und Morray in die Stadt ziehen würden. Daher befanden sich zwischen der Spitze und der Nachhut nun zwei Dutzend Zivilisten: Vater Finty und der Junge, den er als seinen Altardiener bezeichnete, von dem Pirojil aber annahm, es handle sich um seinen Lustknaben; drei von diesen seltenen zahmen Tsuranis ehemalige Sklaven, die sich nach dem Tod ihrer Herren demütig ergeben hatten -, die auf dem Hof eines Freisassen Mondegreens arbeiten sollten, und Lady Mondegreen und ihr Gefolge hässlicher Zofen. Und dazu selbstverständlich noch mehrere Diener, Träger und Lakaien. Nicht, dass Kethol unter anderen Umständen etwas gegen die Gesellschaft der Dame gehabt hätte: Sie war umgänglich, und sie war mehr als hübsch anzuschauen. Einige Frauen schienen ihre Blüte zu erreichen, wenn sie Anfang Zwanzig waren, aber sobald sie dieses Alter hinter sich gelassen hatten, fingen Kinn und Brüste an, schlaff zu werden, das Haar wurde strähnig, und das alles noch, bevor sie dreißig wurden. Bei Lady Mondegreen war das anders. Von einer einzigen weißen Strähne abgesehen, die ihrem langen schwarzen Haar nur noch mehr Charakter verlieh, hätte sie für Anfang zwanzig durchgehen können. Das lag vielleicht daran, dass sie keine Kinder hatte, oder weil sie aus der conDoin-Familie stammte - die sahen alle bis ins hohe Alter hinein gut aus. Zumindest, wenn sie nicht vorher im Kampf starben. Ihr Gesicht war herzförmig, mit einem kräftigen, wenn auch 42
spitzen Kinn, das ihrem Gesicht eine harte Note gegeben hätte, wären da nicht die vollen, reifen Lippen gewesen. Und selbst im Reitgewand mit Schichten von Kleidung unter der kurzen Jacke waren ihre Brüste deutlich genug zu erkennen, dass Kethols Handflächen juckten. Sie hielt die Zügel gekonnt und lässig in langen, aristokratischen Fingern, deren Nägel auf eine Weise abgenagt waren, die Kethol hinreißend mädchenhaft fand, und drückte die schlanken Schenkel, die in engen
ledernen Reithosen steckten, nun fest an den Sattel, als ihre riesige Fuchsstute wegen des Wartens nervös zu tänzeln begann. Auf solch langen Reisen bevorzugten Damen für gewöhnlich eine Kutsche, und das war bei ihr wohl nicht anders, aber der direkteste Weg von LaMut nach Mondegreen führte durch raues Land, also hatte sie sich ohne Murren aufs Pferd geschwungen und ritt nun wie ein Mann und nicht im Damensattel. Hinter ihr, auf einem offenbar zusammenpassenden Paar bemerkenswert spatiger scheckiger Wallache, duckten sich ihre beiden Zofen unsicher in ihre Umhänge, krallten sich fest an den Sattelknauf und zerrten an den Zügeln, ohne wirklich mit den Pferden zu kommunizieren. Die Tiere gaben sich meist damit zufrieden, den Pferden vor ihnen zu folgen, was nach Kethols Ansicht wahrscheinlich der Grund war, wieso der Pferdemeister diese beiden verfressenen Klepper für die Reise ausgewählt hatte. Hin und wieder mussten jene, die hinter ihnen ritten, den Wallachen einen Klaps aufs Hinterteil verpassen und sie vorantreiben, wenn sie stehen blieben, um am Straßenrand zu weiden. Vielleicht, dachte Kethol, würden die beiden Frauen sogar ein bisschen reiten lernen, bis sie Mondegreen erreichten. Es fiel ihm schwer, Elga von Olga zu unterschieden - war Elga die mit der wenig behaarten Oberlippe und dem dicken Bauch oder die mit dem ausgeprägten Schnurrbart und dem kleineren Bauch? Er hielt es für wichtig, die beiden voneinander unterscheiden zu können. Menschen, die so aussahen wie diese Zofen, brauchten alle Aufmerksamkeit, die man aufbringen konnte - das hatte Kethol im Umgang mit Pirojil gelernt. 43
»Immer mit der Ruhe, altes Mädchen«, murmelte Tom Garnett seiner großen schwarzen Stute zu. Kethol würde nie verstehen, wieso jemand ein so unruhiges Reittier wollte - »temperamentvoll« nannte man das wohl -, wenn auch vollkommen brauchbare, ruhige Tiere zu haben waren. Er hielt das für dumm. Und Garnetts Stute schien temperamentvoller zu sein als jedes andere Pferd, das Kethol je gesehen hatte; der Hauptmann hatte sie wahrscheinlich wegen ihrer Schönheit und ihres Tempos ausgesucht, was für einen berittenen Soldaten eine ausgesprochen dumme Entscheidung war. Ein ausgebildetes Streitross - ja, das hätte er verstanden. Er hatte oft gesehen, wie solche Tiere in einer Schlacht Infanteristen niedertrampelten, und obwohl sie dazu neigten, störrisch zu sein, waren sie ihren Preis wert, denn sie lieferten dem Reiter eine weitere Waffe - vier, wenn man jeden Huf einzeln zählte, und fünf, wenn das Pferd ein Beißer war. Aber ein Pferd, das einen einfach nur nervös machte? So etwas konnte Kethol nicht begreifen. Nun, zumindest war der Hauptmann noch vernünftig genug gewesen, sich keinen unbeschnittenen Hengst als Reitpferd auszusuchen, anders als dieser Idiot, unter dem er in Bas-Tyra gedient hatte. Das wäre wirklich das Letzte, was sie hier brauchen konnten - ein Hengst, der durchdrehte, weil eine der Zofen gerade blutete oder eine Stute rossig war. Tom Garnett gefiel die Reihe von Ulmen nicht, die sich auf der anderen Seite der Lichtung befand, und er hatte drei Reiter vorausgeschickt, um nach einem möglichen Hinterhalt Ausschau zu halten. Angeblich hatten sich die Tsuranis für den Winter hinter ihre Linien zurückgezogen und waren mindestens zwanzig Meilen westlich von hier, aber Kethol hatte schon einige Leichen mit überraschtem
Gesichtsausdruck gesehen, weil die Dinge sich nicht so entwickelt hatten, wie man hätte erwarten sollen. Die Späher waren eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Die Tsuranis konnten, was Angriffe im Wald anging, zwar Pfadfindern aus Natal oder auch Kethol selbst nicht das Wasser reichen, aber sie lernten schnell. Zu schnell. Das war das Problem, wenn man ein Volk, gegen das man Krieg 44
führte, nicht bis auf den letzten Mann niedermachte: Man tötete die Schwachen, die Dummen und jene, die einfach Pech hatten, und dann stand man später den Starken, Schlauen und Glücklichen gegenüber. Hätte Kethol das Sagen gehabt, dann würde der Krieg damit enden, dass man die Tsuranis bis in das Loch verfolgte, aus dem sie kamen, und sie bis auf das letzte Kind niedermetzelte - trotz der unglaublichen Geschichten darüber, wie viele von ihnen es in Kelewan gab -, aber im Augenblick stand dieses Thema nicht zur Debatte. Alles in allem hatten Kethol, Pirojil und Durine einen guten Grund, ihren Sold abzuholen und hier zu verschwinden, sobald dieser Rat der Barone vorüber und das Eis im Süden getaut war. Warmer Wind und weiche Hände ... Vielleicht schon bald. Obwohl ... Er schnupperte. Er hätte nicht sagen können, wieso er das wusste, aber ein Unwetter braute sich zusammen. Nicht gleich, nicht sofort. Der Himmel im Westen war klar und blaugrau, und nur ganz dünne und weit entfernte Wolken huschten darüber. Aber es stand ein Unwetter bevor, da war Kethol ganz sicher. Er warf einen Blick zu dem wartenden Baron Morray, der reglos auf seinem ebenfalls reglosen scheckigen braunen Wallach saß. Morray war ein großer, kräftiger Mann, den man wahrscheinlich eher hübsch als gut aussehend genannt hätte, wäre sein schlicht geschnittener Mantel nicht auf eine beinahe berechnende Art abgewetzt gewesen und hätte der praktische Drachenhautgriff des großen Schwerts, das an seinem Sattel hing, nicht in zu seltsamem Gegensatz zu dem kurzen Rapier an seiner Hüfte gestanden. Seine Züge waren einfach zu gleichmäßig, sein glatt rasiertes Gesicht zu jugendlich, seine Bewegungen zu fein und präzise - immer vorausgesetzt, dass er sich überhaupt bewegte. Der Blick, den er Kethol zuwarf, war voller Verachtung. »Wie du siehst, gab es keinen Grund, etwas zu befürchten«, sagte er leise genug, dass nur Lady Mondegreen und Hauptmann Tom Garnett ihn ebenfalls verstehen konnten. Kethol reagierte nicht darauf. Was der Baron von ihm hielt, weil 45
er in seiner Nähe blieb, während reguläre Soldaten aus LaMut zum Spähen vorausritten, interessierte ihn nicht. Er spürte mehr, als dass er es hörte, wie Durine sich hinter ihm rührte, während auf Pirojils Miene dieser angestrengt neutrale Ausdruck lag, der Bände darüber sprach, was der hässliche Mann von Leuten hielt, die Berufssoldaten bei ihrer Arbeit kritisierten. Am Ende war es Tom Garnett, der sie rettete. Sein nervöses Pferd machte ein paar tänzelnde Schritte. »Ich fürchte, Baron Morray, dass Ihr Kethols Zögern weiterzureiten falsch versteht.« »Ach ja?«
Kethol schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Tom Garnett also auch? Für gewöhnlich hielten Leute, die die drei nicht richtig verstanden, Kethol für den Anführer. Durine war zu groß und zu still, und Pirojil war einfach zu hässlich; aus irgendeinem Grund brachte das die Leute dazu anzunehmen, dass Kethol der Anführer des kleinen Trupps war. »Ich war beim Schwertmeister, als er den dreien befahl, Euch zu schützen, Baron Morray«, fuhr Tom Garnett fort. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er ihnen gesagt hätte, sie stünden unter Eurem Befehl.« Unausgesprochen blieb die Tatsache, dass der Schwertmeister auch Tom Garnetts Kompanie nicht unter Baron Morrays Kommando gestellt hatte; ein Punkt, den Baron Morray offenbar ebenfalls nicht ganz begriffen hatte. Und das war nicht überraschend. Die Adligen neigten dazu, anderen Adligen gegenüber spitzfindig zu sein, wurden aber erheblich nachlässiger, wenn Geringe ins Spiel kamen, ganz gleich, wie ihr militärischer Rang war. Das war etwas, was Kethol an der Arbeit im Westteil des Reiches gefiel: Einfache Soldaten begriffen zwar überall, dass Adel kein Ersatz für Urteilsvermögen und Erfahrung war, aber die Armeen hier draußen waren generell erfrischend frei von ehrgeizigen Ämterjägern. Wäre Tom Garnett im Osten gewesen, weil er den Rang eines Junkers oder eine Ehe mit der Tochter eines niederen Adligen anstrebte, dann hätte er jetzt 46
Morrays Arsch geküsst und höflich gefragt, welche Backe er denn zuerst bedienen sollte. Der Wald ragte grau vor ihnen auf, aber schon bald würde es Frühling werden und das grüne Leben in die Wälder zurückkehren. Das war das Angenehme an Wäldern: Man konnte darauf zählen, dass sie sich selbst regenerierten, sowohl von dem, was ihnen der Winter antat, als auch von Schäden durch Eindringlinge. Bei Menschen war das anders. Tom Garnett gab das Zeichen zum Weiterreiten, und Kethol trieb sein Pferd zu einem raschen Kanter an, der ihn vor Baron Morray brachte, während Durine und Pirojil wieder ihre Plätze neben dem Baron einnahmen. Nachdem sie jahrelang zusammengearbeitet hatten, konnte Kethol beinahe die Gedanken seiner Kameraden lesen, ohne dass sie ein Wort sprechen mussten. Dass er nun die Spitze übernahm, lag nicht daran, dass er entbehrlicher gewesen wäre als die beiden anderen - das war er ebenso wenig, wie er der Anführer der drei war -, sondern hatte damit zu tun, dass er in Waldland aufgewachsen war und schon in frühen Jahren gelernt hatte, Gerüche, Geräusche und Stille des Waldes auf eine Weise wahrzunehmen, die man nur von Geburt an lernen kann. In der Ferne hämmerte ein Specht beinahe laut genug, dass es in den Ohren wehtat. Offenbar war das Geräusch der Pferdehufe auf dem festen, gefrorenen Boden nicht bedrohlich genug, dass der Vogel aufgehört hätte. Kethol hob die Hand, stieß einen Försterruf aus, und das Hämmern hörte einen Augenblick auf, nur um gleich darauf wieder anzufangen. Gut. Der Vogel war wild genug, um innezuhalten, wenn sich Menschen näherten, aber auch genügend an sie gewöhnt, um bald weiterzumachen; das überzeugte Kethol, dass sie immer noch allein im Wald waren.
Lächelnd ritt er weiter. Man konnte eine geradezu legendäre Fähigkeit entwickeln, Dinge im Wald wahrzunehmen, wenn man sich von den Tieren dabei helfen ließ. Im Westen kam ein kalter Wind auf und brachte den Geruch 47
von Holzrauch mit, vielleicht von der Hütte eines Freisassen. Birke gemischt mit Kiefernholz, wenn Kethol sich nicht irrte, und mit Holzrauch kannte er sich recht gut aus. Morray sonderte einen stetigen Schwall von Beschwerden über seine Freisassen ab, dem Kethol nur mit halbem Ohr lauschte, und das auch nur, weil der Baron besser meckerte als die meisten in Ehren ergrauten Kavalleriefeldwebel. Entsprechend einem Dekret des Grafen und vielleicht sogar des Herzogs selbst waren die Grenzen des Hofs eines Freisassen für die Barone - die stets versuchten, ihr eigenes Land zu erweitern und auf jeder leeren Fläche Unfreie anzusiedeln unantastbar, aber das Haus selbst war, dem Gesetz und der Praxis nach, Eigentum des Barons, und während es den Freisassen verboten war, ihre Flechtwerk- und Lehm-Häuser zu erweitern, konnten sie von den Baronen verlangen, die notwendigen Reparaturen an »ihrem« Eigentum vorzunehmen. Wenn man Baron Morray glauben wollte, hatten Tsurani-Trup-pen in seiner Baronie im letzten Herbst jedes einzelne Strohdach angezündet und den Baron gezwungen, beträchtliche Summen für Zimmerleute und Dachdecker auszugeben. Ferner bröckelten Lehm und Stroh von LaMut generell, sobald man sie nur mit einem scharfen Blick bedachte. Man würde sich also bei Baron Mondegreen, dem Grafschaftskämmerer, um eine Anleihe von Geld der Krone bemühen müssen, und Baron Mondegreen war so berüchtigt dafür, mit Geld der Krone sparsam zu sein, wie er für seine persönliche Großzügigkeit gerühmt wurde. Ein weiterer Konflikt zwischen den beiden ergab sich vermutlich daraus, dass Morray der Heereskämmerer des Grafen war, wenn auch nur, weil er beweglicher und gesünder war als Mondegreen. Seine Position verlangte, dass er die Soldaten bezahlte, seien sie nun lehensgebunden oder Söldner, und für die Versorgung der Truppen mit Waffen, Lebensmitteln und dergleichen sorgte; sie würde ihm aber nicht erlauben, in den Beutel der Krone zu greifen, um auf seinem eigenen Land Reparaturen ausführen zu lassen. 48
Es mit der Frau von Baron Mondegreen zu treiben, während er versuchte, ihn zu einer Anleihe zu bewegen, war vermutlich nicht gerade klug von Morray, aber Kethol war schon lange klar, dass "weisheit und Adel nur zufällig zusammenfielen. Der Feldweg, auf dem sie sich durch den Wald bewegten, zog sich über eine Ebene und dann aufwärts und über einen flachen Sattel zwischen zwei Hügeln hindurch. Die Straße des Grafen führte über die Hügelkuppen, aber sie stellte nicht den schnellsten Weg nach Morray oder von dort nach Mondegreen dar. Lady Mondegreen ließ ihre Zofen hinter sich und lenkte ihr Pferd neben Kethol. Er nickte ihr zu und deutete einen militärischen Gruß an. »Ich möchte Euch dafür danken, dass Ihr mich eskortiert«, sagte sie. Ihre Stimme war überraschend tief und so angenehm melodisch wie eine Baritonflöte. »Es ist mir selbstverständlich ein Vergnügen, Mylady«, antwortete Kethol.
Wen interessierte es schon, dass es nicht seine Idee gewesen war und dass er kein Problem damit hätte, sie hier zu lassen, bis die nächste Kompanie Kavallerie ihres Gemahls eintraf, um sie zurückzubringen. Je größer die Gruppe, desto besser und sicherer, aber das traf nur zu, wenn man die Kämpfer zählte und nicht zusätzlichen Ballast wie adlige Frauen, ganz gleich, was für ein angenehmer Anblick sie waren. »So ein Wald spät im Winter hat etwas ... Beängstigendes an sich«, sagte sie. »Wenn man die Äste nur aus dem Augenwinkel betrachtet, sehen sie manchmal aus wie Skelettfinger, die sich nach einem ausstrecken. Fügt ein paar schwarze Gewänder hinzu, und man glaubt sofort, von der Dunklen Bruderschaft umgeben zu sein.« Sie ritten nun beinahe Knie an Knie und hatten die anderen hinter sich gelassen. »Das mag sein.« Kethol nickte. »Aber ich habe Wälder immer gemocht. Alle Wälder.« 49
»Selbst wenn sie so kahl und trostlos aussehen?«, fragte sie leichthin. »Das Aussehen kann täuschen.« Das Messer lag schon in seiner Hand, ohne dass er bewusst daran gedacht hätte, es zu ziehen; Kethol hob die Hand und schnitt einen Zweig von einem Ast, der über dem Weg hing. Mit dem Daumennagel drücke er in die graue Knospe an dem Zweig und zeigte das neue Grün, das sich darin bereits bildete. »Ganz gleich, wie tot es aussieht, hier ist immer Leben verborgen«, sagte er. Vor ihnen zeugten die Überreste verbrannter Bäume von einem Feuer, das den Wald verzehrt hatte. Kethol erinnerte sich an diesen Waldbrand, der von fliehenden Tsurani-Truppen gelegt worden war, und biss bei dem Gedanken daran die Zähne zusammen. »Die Winterbäume schlafen nur«, sagte er. »Aber Ihr werdet schon früher, als Ihr glauben würdet, wenn Ihr unten am Fuß dieser verbrannten Eiche mit einem Finger oder einem Stock nachgrabt, auf Sprösslinge stoßen, die sich zum Himmel recken.« »Ich verstehe.« »Ihr werdet es irgendwann wirklich verstehen.« Er lächelte. »In zehn Jahren könnt Ihr hier überhaupt nicht mehr feststellen, dass es einmal einen Tsurani-Mistkerl gab, der ein Feuer angezündet hat, so wie ein Hund über Futter kotzt, dass er nicht stehlen kann, damit es kein anderer bekommt.« Er zeigte mit dem Zweig zum Hügel, der sich neben ihnen erhob. »Und da drüben wird es vielleicht in zwanzig oder dreißig Jahren einen jungen Eichenhain geben sicher, nur kleine Bäume, aber echte Bäume und nicht nur Schösslinge -, die ihre Nahrung aus dem Boden darunter beziehen.« Sie lachte - es klang wie weit entfernte Silberglöckchen. Kethol mochte es normalerweise nicht, wenn man über ihn lachte, aber ihr Lachen war kein bisschen beleidigend. »Also wirklich, Kethol!«, sagte sie und gab sich eher entsetzt als überrascht. »Man könnte direkt glauben, dass Ihr ein poetischer Philosoph seid und kein Soldat. Eichen, sagt Ihr? Warum Eichen und keine Ulmen, Kiefern oder Buchen? Und woher 50
könnt Ihr wissen, dass sie dort drüben wachsen werden und nicht an einer anderen Stelle?«
»Ich könnte -« Nein. Er nahm sich zusammen und zwang sich dazu, mit den Schultern zu zucken. »Gut, es gibt keine Möglichkeit, das sicher zu wissen«, sagte er. »Aber ich glaube fest, dass es geschehen wird. Ich sage Euch eins, Mylady: Kommt doch einfach in zwanzig Jahren hierher zurück und denkt an mich, wenn Ihr hier einen Eichenhain findet.« »Das werde ich vielleicht tun, Kethol«, erklärte sie. »Tatsächlich verspreche ich es Euch, und für den Fall, dass Ihr dann immer noch dem Grafen dient, setze ich jetzt mein Silber gegen ein einziges Kupferstück von Euch, dass es eher Ulmen, Kiefern oder andere Bäume sein werden, alles, nur keine Eichen - falls Ihr Euch auf eine solche Wette einlassen wollt.« Er lächelte. »Ich bezweifle, dass ich auch nur im Frühling noch in LaMut sein werde, aber sollte ich in zwanzig Jahren zufällig hier in der Grafschaft sein, dann werde ich an Eure Burgtür klopfen und meinen Wettgewinn eintreiben.« »Oder zahlen.« Sie zog die Brauen hoch und lächelte. »Es sei denn, Ihr flieht aus der Grafschaft, um kein Kupfer zu verlieren.« »Nein, das würde ich nicht tun, Mylady« Es hatte keinen Sinn zu erwähnen, dass es eine sichere Wette war, denn dort oben auf dem Hügel hatten er, Pirojil und Durine den Tsurani-Offizier begraben, der das Feuer zu verantworten hatte, und sie hatten ihm Dutzende von Eicheln auf die nackte Brust gestreut, bevor sie das Loch zugeschaufelt hatten. Der Tsurani hatte die Augen weit aufgerissen, als sie angefangen hatten, die Erde hineinzuschaufeln. Aber er war mit einem breiten Lederband geknebelt gewesen, das seinen mit Eicheln gefüllten Mund halb offen hielt, und er hatte nichts weiter tun können als zu stöhnen, und da man ihm die Sehnen an Ellbogen, Fußknöcheln und Oberschenkeln durchgeschnitten hatte, hatte er auch nirgendwo mehr hingehen können. Sie hatten die Erde nicht sehr fest gestampft, nachdem sie ihn begraben hatten; er hatte wahrscheinlich noch ein paar letzte Minuten gehabt, um darüber nachzuden51
ken, dass es nicht sonderlich klug war, das niederzubrennen, was er nicht erobern konnte. Kethol erwähnte auch nicht, dass der Tsurani versucht hatte, ihn zu töten - das gehörte zum Geschäft, aber den Schaden am Wald nahm er persönlich, und weder Durine noch Pirojil hatten etwas dagegen gesagt; sie hatten ihm einfach nur beim Schaufeln geholfen. Er bedauerte nicht, was er getan hatte, aber einen Mann lebendig zu begraben gehörte nicht zu den Dingen, die man einer schönen Frau gegenüber erwähnte, erst recht nicht gegenüber einer schönen adligen Frau - nicht, wenn sie mit einem flirtete. Und das war eindeutig der Fall. Sie tat es vielleicht nur, um Baron Morray eifersüchtig zu machen, aber das störte Kethol nicht. Heute Nacht würde er sich mit Gedanken an sie das Bett wärmen, und wenn sie ihrerseits unter Baron Morray schlief, störte das Kethol auch nicht. Dennoch ... Sie legten zu Mittag eine Rast ein und nahmen eine karge Mahlzeit aus Fladenbrot und Wurst zu sich, die die Soldaten mit einem Schluck billigem Wein aus einem Schlauch herunterspülten, während die Adligen sich eine Glasflasche eines besseren
Getränks teilten. Pirojil hätte den ehemaligen Tsurani-Sklaven befohlen, die Pferde zu füttern und zu tränken - immerhin waren sie gut gezähmt und hatten noch nicht ganz begriffen, dass sie nun frei waren -, aber Tom Garnett hatte andere Vorstellungen: Wie üblich wurde ein Mann von jedem Trupp abgestellt, um sich um die Tiere seiner Kameraden zu kümmern, während die anderen aßen und sich ausruhten. Auf Patrouille gab es nie wirklich genug Zeit, um sich auszuruhen, und daher war es vernünftig zu rasten, wann immer man konnte. Pirojil widersprach nicht. Er überließ es einfach Kethol, sich um ihre drei Pferde zu kümmern, während er selbst Brot und Wurst schnell genug herunterschlang, um von dem Geschmack nicht zu viel bemerken zu müssen, und seinen Wein dann noch schneller kippte. Es wärmte ihn ein wenig, als er sich in der Kälte unter seinem Umhang verkroch. 52
Dennoch... »Ich sollte lieber mal den Wald ein bisschen bewässern«, sagte er zu Durine, schlang sich den Schwertgurt über die linke Schulter und stapfte dann über die Hügelkuppe, um sich zu erleichtern. Drunten holte ein einfacher Soldat, ein schlaksiger Mann mit einem kahlen Fleck am Schädel, wo ihn ein Käfer erwischt hatte, einen Dudelsack heraus, ein anderer eine kleine Trommel, und schon bald erklangen alte Kriegslieder, wenn auch nicht unbedingt in der richtigen Tonart. »Wir marschieren auf Bosonia, Bosonia, Bosonia, Wir marschieren auf Bosonia, Bosonia, hurra ...« Das schien die Tsuranis wie so vieles andere furchtbar zu verwirren. In Kelewan sangen Soldaten wahrscheinlich nicht, wenn es ihnen nicht befohlen wurde; wahrscheinlich furzten sie nicht einmal ohne ausdrückliche Anweisung. Diese ehemaligen Sklaven würden den Dienst bei den hiesigen Adligen und Freisassen erheblich lockerer finden als alles, was sie von zu Hause gewöhnt waren. Pirojil schnaubte. Die Tsuranis waren noch schlimmer als die regulären Soldaten des Königreichs, wenn es um Individualität ging. Was hatte es nur mit dem Leben eines solchen Soldaten auf sich, dass es ihm jegliche Initiative nahm? Er erleichterte sich rasch hinter dem breiten Stamm einer alten Eiche, während ein Eichhörnchen von oben auf ihn herabschimpfte. Nachdem er sich die Hose zugeknöpft hatte, war es eigentlich nur ein Reflex zu prüfen, ob der Schwertgriff noch nahe genug an seiner Hand war. Hinter ihm knackte ein Zweig, und nun war sein Schwert nicht nur nahe, sondern in seiner Hand, als er herumwirbelte zu Durine grinste und hatte beide Hände abwehrend erhoben. »Immer mit der Ruhe, Pirojil«, sagte er. »Ich hätte mich wahrscheinlich räuspern sollen, statt auf einen Zweig zu treten.« Pirojil musste lachen. Zweige, die unter den Füßen eines Feindes brachen und vor einem bevorstehenden Angriff warnten, gehörten zum wichtigsten Ausgangsmaterial von Geschichten, die spät abends am Lagerfeuer erzählt wurden, obwohl sich Zweige 53
in den meisten Fällen bogen und überhaupt kein Geräusch verursachten, außer in der trockensten Jahreszeit. Außerdem war im wirklichen Leben kaum ein Feind rücksichtsvoll genug, einen vor dem Angriff zu warnen; das hätte auch irgendwie dem Konzept eines Überraschungsangriffs widersprochen. Pirojil steckte das Schwert wieder ein. Sie mochten Freunde und schon lange Zeit miteinander unterwegs sein, aber Durines Hand war nicht weit vom Griff seines eigenen Schwerts entfernt gewesen, bis Pirojil das seine vollständig eingesteckt hatte. Ein paar alte Gewohnheiten waren so schwer aufzugeben, dass es wahrscheinlich nicht lohnte, sich darum zu bemühen. »Entschuldige«, sagte Durine und drehte ihm höflich den Rücken zu, als er die eigene Hose aufknöpfte. Ein Urinstrahl dampfte und rauchte für unglaublich lange Zeit in der kalten Luft. »Bei all dem Platz, den wir hier haben«, sagte Pirojil, »hast du mich da wirklich als Pinkelzeugen gebraucht?« Durine knöpfte die Hose wieder zu. »Nun, wenn ich ehrlich sein soll, es ist mir schon ganz lieb, wenn du oder Kethol mir den Rücken decken, wenn ich mit etwas so Großem und Empfindlichem beschäftigt bin ... aber nein, ich dachte, wir sollten uns unterhalten.« »Dann rede.« Durine schüttelte den Kopf. »Diese Angelegenheit gefällt mir nicht. Leibwächter für einen Offizier zu sein ist eine Sache - man braucht sich zumindest keine Sorgen zu machen, dass seine eigenen Soldaten versuchen, ihn zu erledigen -« Pirojil zog die Brauen hoch und starrte Durine an. »Na gut, für gewöhnlich braucht man sich keine Sorgen zu machen, dass die eigenen Männer ihn erledigen wollen, sondern muss sich nur um feindliche Soldaten kümmern, die ihn töten könnten, wenn er gerade in einer Schlacht ist. Eigentlich bin ich gerne Leibwächter.« Er tätschelte seine Taille. Pirojil nickte, aber er sah Durine dabei nicht an. Das lag nicht etwa daran, dass er etwas gegen ihn gehabt hätte; es war nur ein 54
Reflex, nach all dieser Zeit mit Kethol und Durine automatisch die Welt in Feuerfelder einzuteilen - es hatte ihnen mehr als nur einmal das Leben gerettet. »Ich weiß«, sagte Pirojil. Dienst als Leibwächter bedeutete normalerweise höheren Sold, die Mahlzeiten waren besser, und man befand sich zwar dicht genug an der Front, dass es nicht langweilig wurde, aber auch nicht so nah, dass man sich Gedanken machen musste, ob einen jemand ansprang, während man ein bisschen plünderte. »Ich hätte mich wahrscheinlich nicht freiwillig dafür gemeldet, aber ich erinnere mich auch nicht daran, dass man uns gebeten hätte.« »Warum also ausgerechnet wir?« »Ich weiß es nicht, obwohl ich mir so meine Gedanken mache.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht, dass es damit zusammenhängt, dass uns der Schwertmeister für besser hält als seine eigenen Leute.« »Das sind wir aber.« Pirojil musste grinsen. »Nun, das mag deine persönliche Meinung sein und die meine ebenfalls, und Kethol denkt vermutlich ebenso - aber ich möchte wetten, dass die Jungs hier das nicht glauben.«
»Das ist ihr Problem.« »Nein. Unser Problem. Wir haben hier einfach keine Verbindungen, und das ist gut.« »Gut?« »Gut für uns. Man geht davon aus, dass wir in keine der hiesigen Rivalitäten verstrickt sind, und das bedeutet, dass man uns vielleicht nicht die Kehle durchschneiden wird, weil wir zum falschen Zeitpunkt das Falsche tun.« »Es gefällt dir also?« »Das habe ich nicht gesagt. Das Schlechte daran ist, dass wir keine Verbindungen haben -« »Du hast doch gerade erst behauptet, das wäre der gute Teil.« Manchmal war Durine einfach zu träge. Nicht, dass Pirojil sich beschweren wollte - Kethol war noch schlimmer. 55
»Es ist gut und schlecht«, erklärte Pirojil langsam und geduldig. »So ist es doch mit den meisten Dingen. Der schlechte Teil zerfällt wieder in zwei Teile: Jemand könnte uns die Kehle durchschneiden wollen, weil wir im Weg sind.« »Das ist nichts Neues.« »Und wir sind entbehrlich.« »Auch nichts Neues.« »Mehr als sonst.« »Ah!« Endlich hatte Durine es verstanden. »Politik.« Er klang mehr als angewidert. »Politik.« Pirojil nickte. »Sieh es dir doch mal unter politischen Gesichtspunkten an. Sagen wir mal, Baron Morray fällt eine Treppe runter und bricht sich das Genick; dann kann der Graf es entweder als einen Unfall betrachten oder als unseren Fehler. Wenn es ein Unfall ist, na gut, dann gibt es kein politisches Problem, und man kann Luke Verheyen nicht die Schuld geben - man kann sie niemandem geben.« »Und das ist doch gut, oder?« »Sicher. Aber wenn es kein Unfall ist - wenn der Baron ermordet wurde -, wessen Schuld ist es dann?« »Die des Mörders?« Pirojil wusste nicht, ob er stöhnen oder lachen sollte. »Sicher. Die des Mörders. Und wer soll dieser Mörder sein? Verheyen, der Erbfeind, der ebenso versessen auf die Grafschaft ist wie Morray? Oder drei Söldner, bei denen man, wenn man sie durchsucht, viel zu viel Geld findet?« »Und was sollen wir jetzt machen?« »Das Offensichtliche: Wir versuchen zu verhindern, dass Baron Morray vom Pferd fällt und sich das Genick bricht, solange wir auf Patrouille sind, oder dass er die Treppe runterfällt und sich das Genick bricht, wenn wir in Morray oder in Mondegreen sind. Wir bringen ihn gesund und munter wieder nach LaMut zurück und hoffen, dass man uns dann aus diesem Dienst entlässt. Wenn jemand versucht, ihn umzubringen, halten wir die Attentäter auf, und wenn das nicht geht, müssen wir versuchen, min56
destens einen von ihnen lebendig zu erwischen und dafür zu sorgen, dass er erzählen kann, wer ihn bezahlt hat - und vor allem, dass wir es jedenfalls nicht waren.« »Und wenn wir das nicht können?«
Pirojil sah ihn missmutig an. Das war doch offensichtlich, oder? »Wir töten alle in Reichweite, schnappen uns ihre Pferde und sämtliche Wertgegenstände und versuchen, den Verfolgern zu entkommen, ganz gleich, wie hoch der Preis sein mag, den man auf uns aussetzt.« »Und wie siehst du unsere Chancen in einem solchen Fall?« »Sechzig-sechzig -.« »Optimist.« »- an einem guten Tag.« Pirojil zog die Brauen hoch. »Wenn dir was Besseres einfällt, behalte es nicht für dich - spuck es aus, und wir reden drüber.« Durine schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe keine bessere Idee.« »Dann werden wir also -« »Aufsitzen«, erklang es von unten. Tom Garnetts Stimme trug weit. »Wir verschwenden nur das Tageslicht.« »Wir sollen lieber runtergehen, bevor sie ohne uns aufbrechen«, sagte Pirojil. »Also gut.« Durine nickte und runzelte die breite Stirn. »Aber ich verstehe, was du meinst. Ziemlich schlau vom Schwertmeister, wie?« »Wovon redest du?« »Ich meine, der Schwertmeister kann sich ja wohl ausrechnen, dass man uns die Schuld geben wird und wir abhauen, wenn jemand Baron Morray hier draußen umbringt oder wenn er einen tödlichen Unfall hat.« »Sicher kann er das.« »Also gewinnt er, ganz gleich, was passiert.« Pirojil nickte. Der Schwertmeister würde gewinnen, ganz gleich, was passierte. Ein toter Baron war kein Problem, über das man nicht hinwegkommen konnte - der Krieg war für den Adel 57
beinahe ebenso tödlich gewesen wie für die einfachen Soldaten -, aber Barone, die sich einbildeten, dass Attentate akzeptabel waren, waren etwas anderes. Wirklich praktisch, es auf die drei Söldner schieben zu können, die mit keiner Fraktion in Verbindung standen. Jemand würde es so hinstellen, dass die drei beschlossen hätten, den Baron zu töten und zu berauben - und ob Pirojil, Kethol und Durine getötet oder gefangen genommen wurden oder fliehen konnten, war unwichtig; die offizielle Version der Geschichte stand im Grunde schon fest. Vielleicht war Durine ja doch nicht so dumm. Der Schwertmeister war es ganz bestimmt nicht. Mist. Sie befanden sich eine Stunde südlich von Mondegreen, als die Tsuranis angriffen. Es gab keine Vorwarnung, zumindest nichts, was Durine bemerkt hätte, und nicht einmal im Nachhinein konnte er sich an etwas erinnern. Auch Kethol und Pirojil hatten nichts bemerkt, ansonsten hätten sie Alarm gegeben. Einen Augenblick ritten sie noch in zwei lockeren Reihen zwischen gefrorenen, brachliegenden Feldern über eine schmale Straße, und im nächsten Augenblick schwärmten Dutzende von Männern in schwarz-orangefarbener Rüstung aus dem Graben, wo sie sich unter einer Schicht Heu verborgen hatten.
Durine trieb sein Pferd gegen den Tsurani, der mit dem Breitschwert in der Hand auf Morray zustürzte. Das Pferd krachte gegen den Mann und riss ihn um, während Durine auf der anderen Seite absprang. Das war das Problem mit dem Reiten: Man war zu abhängig von den Bewegungen des Pferdes, und wenn man nicht gerade ein hervorragend ausgebildetes Streitross unter sich hatte, hatte man ein Problem. Durine brauchte festen Boden unter den Füßen, wenn er standhalten und kämpfen wollte, und er würde standhalten und kämpfen. Er sprang einen Schritt zurück, um dem Schwert eines weite58
ren Tsurani auszuweichen, dann stürzte er vorwärts und trat gegen den zerbrechlich aussehenden Harnisch, während er gleichzeitig auf einen weiteren Gegner einschlug. Überall erklangen Rufe und Schmerzensschreie, aber Baron Morray saß immer noch im Sattel, also schlug Durine mit der flachen Seite des Schwerts auf die Flanke der Stute und schickte das Tier im Galopp die Straße entlang, dorthin, wo Kethol und Pirojil ebenfalls noch zu Pferd saßen, während der Baron sich verzweifelt festklammerte. Söldner neigten leicht dazu, reguläre Soldaten zu unterschätzen - ein professioneller Söldner hatte, wenn er noch am Leben war, viel mehr Kämpfe überlebt als die meisten Soldaten, wenn man einmal von den erfahrensten Veteranen aus dem Osten absah -, aber Tom Garnett war kein grüner Junge mehr, der den Tsuranis so einfach in die Falle ging: Er führte die Spitze seiner Truppe bereits auf das Feld hinaus und versuchte, den Angreifern seinerseits in die Flanke zu fallen und nicht einfach in den zweiten Hinterhalt zu rennen, der beinahe mit Sicherheit weiter unten an der Straße auf sie warten würde. Durine fand sich in einem Meer von orangeschwarz gestreiften Rüstungen wieder. Er griff mit den Füßen, dem Schwert und seiner freien Faust an und hoffte, sich damit genug Platz für eine Flucht verschaffen zu können, bevor er in Tsuranis ertrank. Er spürte Pirojil in seinem Rücken mehr, als dass er ihn sah, und Augenblicke später kam ein halbes Dutzend Lanzenreiter dazu, die sie offenbar umkreist hatten, um die Tsuranis von hinten anzugreifen. Ein Reiter spießte einen schreienden Tsurani mit seiner Lanze auf und hob ihn einen Augenblick vom Boden, bis das Holz mit einem lauten Knacken brach. Dann schlug der Mann wild mit dem abgebrochenen Lanzenschaft um sich und streckte noch mehrere Gegner nieder, bevor es einem von ihnen gelang, ihn von hinten anzuspringen und zu Boden zu reißen. Durine hätte versucht, ihm zu Hilfe zu kommen, aber er war selbst mit zwei Tsuranis beschäftigt. Er trat einen von ihnen in die 59
Richtung, wo Pirojil gerade vom Pferd gesprungen war - Pirojil war seinen letzten Gegner losgeworden und würde leicht mit einem aus dem Gleichgewicht geratenen Soldaten zurechtkommen -, dann duckte er sich unter dem wilden Schlag eines weiteren Tsurani mit einem doppelhändigen schwarzen Schwert und riss seine eigene Klinge nach oben, in und durch den Hals des kleineren Mannes.
Blut sprudelte, als hätte man den Korken aus einem Fass Rotwein gezogen. Der Blick in den Augen eines Mannes, den man tötete, war immer der Gleiche. Das kann einfach nicht sein, sagte er, in ganz gleich welcher Sprache. Mir passiert so etwas nicht. Durine hatte diesen Ausdruck schon häufig auf den Gesichtern von Männern gesehen, die dem Tod ins Auge blickten. Er trat den sterbenden Mann zur Seite. Drei Tsuranis hackten nach den Beinen eines grauen Pferdes, und Pferd und Reiter stürzten zu Boden, während das Tier diese seltsamen, schrillen Schreie ausstieß, an die Durine sich einfach nicht gewöhnen konnte. Aber einer hatte sich verrechnet: Als das Pferd stürzte, fiel es auf den Tsurani und zerquetschte ihn mit einer Reihe knackender Geräusche in seiner schwarzen Rüstung. Durine hätte beinahe gelacht. Die Tsuranis waren wie immer entschlossene und fähige Gegner, aber sie waren zahlenmäßig unterlegen, und in der bitteren Kälte im Hinterhalt zu liegen hatte sie langsam werden lassen: Es war nur eine Sache von wenigen Minuten, bis die meisten von ihnen tot oder sterbend am Boden lagen. Die Schreie waren entsetzlich. Durine ging in die Hocke und rang nach Atem. Ganz gleich, wie lange man diese Dinge schon machte, sie setzten einem immer wieder zu. Einer der Tsuranis, die verwundet am Boden lagen, schrie immer noch laut. Aus einer Wunde in seiner Leiste floss frisches, dampfendes Blut auf den Boden. Durine richtete sich auf und ging 60
zu ihm, dann ließ er sein Schwert auf den Nacken des Tsurani he-raubsausen. Der Mann zuckte noch einmal und war dann still, wenn man von dem Geräusch absah, dass er verursachte, als er sich beim Sterben beschmutzte. Tod in der Schlacht war selten würdevoll. »Warte.« Tom Garnett stieg vom Pferd und hielt Durine auf. »Wir werden Gefangene nehmen, wenn wir können. Dieser Mann da hätte ein Sklave und vollkommen ungefährlich sein können.« Durine antwortete nicht. »Was ist, Mann, hast du mich nicht gehört?« »Entschuldigung.« Pirojil schob sich zwischen sie. »Ich denke, Ihr möchtet Euch vielleicht etwas ansehen, Hauptmann«, sagte er, kniete sich über den Toten und drehte ihn auf den Rücken. Der Kopf des Tsurani kippte nach hinten, rollte aber nicht weg, weil er immer noch an seinem Körper hing. Pirojil richtete sich auf und schubste mit dem Fuß einen Dolch aus der Hand des Tsurani. Er zeigte auf den Toten und sagte: »Vielleicht wärt Ihr nicht gern mit dem Gedanken gestorben, dass Ihr Eure Gnade an den Falschen verschwendet habt.« Durine hatte keinen Dolch gesehen, und das war auch vollkommen unwichtig. Der Tsurani wäre ohnehin gestorben, und es zählte kaum, ob das jetzt gleich geschah oder ein paar Minuten später. Zumindest würden seine Schreie Durine auf diese Weise keine Kopfschmerzen verursachen. Es würde noch schlimm genug werden, wenn sie ihn in seinen Träumen einholten. Tom Garnetts Leute hatten zwei mürrische Tsuranis gefangen genommen, ihnen die Hände fest gefesselt, ihnen Seile um den Hals gelegt und sie in der Obhut von zwei Lanzenreitern zurückgelassen, obwohl das kaum notwendig war, da sie sich
nicht wehrten. Gefangene Tsuranis waren entweder total widerspenstig, und dann musste man sie früher oder später ohnehin töten, oder sie waren vollkommen zahm. Ein Mann aus LaMut hatte einmal versucht, Durine zu erklären, dass das mit dem Ehrbegriff der Tsuranis zusammenhing: Wenn sie gefangen genommen wurden, 61
gingen sie davon aus, dass ihre Götter sie verflucht hatten - was für ein Unsinn. Aber Durine wusste, sobald sie aufgaben, hatten sie sich offenbar mit dem Gedanken abgefunden, den Rest ihres Lebens als Sklaven zu verbringen. Er verstand das nicht, und eigentlich interessierte es ihn auch nicht - wohin er sein Schwert stecken musste, war im Grunde alles, was er wissen wollte. Er erinnerte sich allerdings, dass man die Tsuranis in Schwarz und Orange Minwanabi nannte und dass sie als ganz besonders zäher und bösartiger Haufen galten. Durine zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Er hatte ohnehin nicht vor, lange genug im Norden zu bleiben, um herauszufinden, wie die anderen Stämme hießen und wie bösartig sie waren. Er fand sie generell schlimm genug. Die beiden zahmen waren die einzigen überlebenden Tsuranis. Gut zwei Dutzend Feinde lagen tot am Boden, im Tod begleitet von vier Muts und zwei Pferden. Ein Soldat kniete weinend neben seinem Pferd und fühlte ihm den Puls, um sich zu überzeugen, ob das Herz des Tieres wirklich aufgehört hatte zu schlagen. Alberner Kerl. Etwas, das aus Fleisch bestand, so lieb zu gewinnen! Fleisch starb und verdarb. Lady Mondegreen und Baron Morray saßen auf ihren Pferden und betrachteten die Szene. Baron Morrays hübsches Gesicht war gleichgültig, wenn auch ein wenig bleich, aber die Gesichtsfarbe der Lady war beinahe grün, und sie war durcheinander genug, um sich eine Spur Erbrochenes mit dem Ärmel aus dem Mundwinkel zu wischen statt mit ihrem Taschentuch. »Ich ... ich habe nie zuvor eine Schlacht gesehen«, sagte sie leise. »Schlacht?« Baron Morray schüttelte den Kopf. »Das hier war nicht mal ein Scharmützel.« »Was geschieht mit den Leichen?«, fragte sie. »Das ist Sache des Eigentümers des Landes hier«, erklärte er. »Er ist dafür verantwortlich.« Durine nickte. Er war froh, dass er den gefrorenen Boden nicht selbst aufgraben und die Leichen verscharren musste; das wäre 62
eine langwierige, schwere Arbeit, aber jemand anders würde sich damit abgeben müssen - die Leichen loszuwerden war das Problem des hiesigen Landbesitzers oder der Freisassen, immer abhängig davon, wem das Feld gehörte. Die Soldaten aus LaMut würden in Decken gewickelt und mitgenommen werden, um sie in Mondegreen ordentlich zu verbrennen. Die Tsuranis würden vermutlich als Dünger für die Felder enden. Sicher, es war eine schmutzige Arbeit, aber wenn die Ortsansässigen schnell genug hier wären - und das würde bestimmt der Fall sein -, würden sie eine Menge frisches Pferdefleisch als Bezahlung für ihre Arbeit erhalten. Manche mochten es
als eine Schande betrachten, wenn ein treues Tier im Kochtopf eines Bauern endete, aber so war es nun mal. Tom Garnett stieg wieder in den Sattel. »Ich habe die halbe Kompanie hinter den Bogenschützen hergeschickt, die im Hinterhalt lagen, und ich muss mit dem Rest denen nachsetzen, die von hier geflohen sind. Wir müssen die Mistkerle erwischen, bevor es dunkel wird, oder sie werden in Bauernhäuser einbrechen und Leibeigene abschlachten. Sie sind jetzt keine militärische Bedrohung mehr, aber ...« Durine nickte. »Aber Ihr wollt immer noch nicht, dass sie Eure Leute umbringen.« Das war das Problem, wenn man es mit einem Feind zu tun hatte, der so weit hinter den eigenen Linien stand. Rückzug war praktisch unmöglich. Durine wusste nicht viel darüber, was eine militärische Bedrohung darstellte und was nicht, aber ein verängstigter Mann mit einem schwarzen Schwert, das beinahe so lang war wie er groß, war nichts, worauf er unvorbereitet stoßen wollte. Offenbar brauchte Kethol einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Hauptmann ihn angesprochen hatte. »Ja, Sir«, sagte er schließlich. Tom Garnett zeigte auf die beiden Adligen und ihr Gefolge, die sich weiter unten an der Straße zusammendrängten. »Ihr drei und ein Trupp unter Feldwebel Henders werdet die Zivilis63
ten nach Mondegreen bringen, und wir anderen stoßen wieder zu euch.« Kethol hob sein Schwert zu einem lässigen Salut.
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Mondegreen
Pirojil zügelte sein Pferd. Er ließ sich von den anderen einholen, bevor er es wieder antrieb und es im Schritt neben dem graubärtigen Feldwebel hertraben ließ. »Wir brauchen keine Späher, Feldwebel«, sagte Pirojil. »Mir wäre es lieber, wenn wir alle zusammenblieben.« »Das ist wirklich interessant, Söldner«, erwiderte Feldwebel Henders, während sein Stirnrunzeln und sein Tonfall einen sarkastischen Kontrapunkt zu diesen Worten bildeten. »Ich muss es immer wieder sagen, es freut mich über alle Maßen, wenn mir andere dabei helfen, meine Leute zu befehligen.« Er richtete sich im Sattel auf. »He, du!«, schrie er. »Ja, Sanderson, ich meine dich, du pickliger Sohn einer räudigen Hündin. Du und Scrupple, ihr übernehmt die Spitze!« Dann brüllte er zwei anderen Reitern zu: »Williams! Bellows! Ihr beiden späht die Flanken aus - und zwar schnell, oder wir werden mal sehen, ob ihr ohne eure Pferde nicht schneller seid. Ich habe gesagt, bewegt euch!« Dann wandte er sich wieder Pirojil zu. »Guter Rat ist eine prima Sache, und besonders von einem Mann, der vom Schicksal so begünstigt wurde wie du.« Der Hohn umspielte seine Mundwinkel. »Aber ich würde gern wissen, ob vor uns ein weiterer Hinterhalt liegt.« »Wir werden zwischen hier und Mondegreen auf keinen weiteren Hinterhalt stoßen«, sagte Pirojil. »Vielleicht auf den einen oder anderen Versprengten, aber die sind wahrscheinlich zu sehr mit Wegrennen beschäftigt.« 65
»Wenn du meinst«, erwiderte der Sergeant, unternahm aber keinen Versuch, die Späher zurückzurufen. Pirojil biss sich auf die Lippen, dann versuchte er es noch einmal. »Sieh mal, Feldwebel, wenn es hier innerhalb der nächsten Meilen noch mehr Tsuranis gäbe, hätte ihr Kommandant sie alle für den Hinterhalt eingesetzt. Die Tsurani-Offiziere sind nicht dumm; sie sind nur gierig. Dieser da hat den Fehler gemacht, seine Leute in zu kleine Gruppen aufzuteilen, in der Hoffnung, dass der Angriff uns auf ihre Bogenschützen zutreiben würde.« »Ich bin dir sehr dankbar für diese interessante Einsicht, Pirojil«, erwiderte der Feldwebel. »Und wenn du mich nun entschuldigen würdest, ich habe eine Truppe zu befehligen. Solltest du nicht damit beschäftigt sein, deinen Sold zu zählen oder Baron Morray den Hintern abzuwischen?« Pirojil schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Es war unmöglich, jemanden zu überzeugen, der nicht überzeugt werden wollte, und die drei Söldner waren zwar für die Adligen zuständig, aber man hatte ihnen nicht ausdrücklich den Befehl übertragen, weder über die gesamte Truppe noch über die Leute des Feldwebels. Nun wurde nicht nur ein einziger Reiter als Späher abkommandiert, sondern der Feldwebel schickte gleich vier aus, nur weil er sich über einen guten Rat geärgert hatte. Tom Garnett hätte sich einfacher und direkter ausdrücken und die gesamte Gruppe unter Kethols Befehl stellen sollen. Die drei Söldner hatten das so verstanden, aber der Feldwebel offenbar nicht, oder er tat so, als hätte er es nicht begriffen. Pirojil konnte entweder damit leben oder es auskämpfen, wobei er, Kethol und Durine gegen eine große Übermacht gestanden hätten, und dann hätten sie fliehen müssen, wenn sie Tom Garnett nicht erklären wollten, wieso sie all seine Leute getötet hatten - immer vorausgesetzt, dass sie das schaffen würden. Pirojil entspannte sich. Also gut. Dann eben nicht. Es würde wahrscheinlich notwendig sein, dass Durine den Feldwebel irgendwann mal zu einem persönlichen Gespräch beiseite nahm. Es gefiel Pirojil nicht besonders, Durine darum bit66
ten zu müssen, aber er war daran gewöhnt, Dinge zu tun, die ihm nicht gefielen. So etwas war schon ein oder zwei Mal zuvor passiert. Und wenn Durine jemanden verdrosch, hatte das die angenehme Nebenwirkung, dass der Mann nicht den Respekt seiner Kameraden verlor, weil Durine ihm ein bisschen die Fresse poliert hatte. Nur wenige konnten gegen Durine bestehen, und niemand ging ungezeichnet aus einem Kampf mit dem großen, kräftigen Mann hervor - jedenfalls war das bisher so gewesen. Pirojil versuchte, es philosophisch zu nehmen. Die Beziehungen zwischen regulären Soldaten und Söldnern waren immer angespannt, denn die lehengebundenen Soldaten eines Adligen hielten Söldner für wenig mehr als Piraten zu Lande und konnten das selten vollkommen vergessen. Die ganze Sache wurde noch dadurch verschärft, dass reguläre Soldaten in Friedenszeiten - oder wenn der Krieg nicht so heftig war - mehr Zeit damit verbrachten, Söldnerbanden zu jagen, als mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Selbst wenn die Krone die Söldner direkt anheuerte, waren die Konflikte vorhersehbar. Männer wie Pirojil und seine Kameraden neigten dazu, sich direkt an einen Offizier zu wenden, von dem man erwarten konnte, dass er eine langfristige Perspektive verfolgte und verstand, dass zu viele unnötige Todesfälle bei den Söldnern unvermeidlich zu Desertionen und Revolten der anderen Söldner führen würden. Schwierig wurde es, wenn Söldner einem Feldwebel unterstellt wurden, der sie für viel entbehrlicher hielt als seine eigenen Leute, und obwohl nur wenige von Pirojils Kameraden im Bett starben, wollten doch noch weniger ihr kurzes Leben an der Spitze einer Armee verbringen. Wenn man einer Söldnertruppe zum zweiten oder dritten Mal befahl, sie sollten die Ersten auf der Mauer sein, fingen sie an darüber nachzudenken, ob sie sich wirklich den bestmöglichen Arbeitgeber ausgesucht hatten. Die Beziehungen zwischen den Söldnern und den regulären Soldaten würden in Mondegreen wohl kaum besser werden. Man würde die Soldaten in der Mannschaftsunterkunft von Burg Mon67
degreen unterbringen. Aber Baron Morray würde selbstverständlich in der Residenz wohnen, und daher galt für Kethol, Durine und Pirojil das Gleiche, was bedeutete, dass die drei in weichen Federbetten schlafen und von hübschen Zofen betreut werden würden. Zumindest würden die Soldaten das glauben. Tatsächlich würde es natürlich nicht so sein, aber in den Mannschaftsunterkünften würde kein Wort darüber fallen, dass die Söldner wahrscheinlich auf feuchten Binsen in der Küche schlafen würden, bis auf denjenigen, der den kürzesten Halm zog und die Nacht auf der steinernen Schwelle des Schlafzimmers des Barons verbringen würde. Und die Mädchen würden beinahe mit Sicherheit alt, fett, hässlich oder alles zusammen sein. Aber wie dem auch sei, die regulären Soldaten würden sich auf jeden Fall beschweren, dass die Söldner den leichteren Dienst hatten. Pirojil zügelte sein Pferd, sodass Baron Morray und Kethol ihn einholen konnten, hinter denen dann Durine, Lady Mondegreen und die Zofen kamen. Kethol zog eine Braue hoch; Pirojil schüttelte den Kopf. Kethol zuckte mit den Achseln. Der Baron blickte neugierig von einem zum anderen. Als keiner die unausgesprochene Frage beantwortete, räusperte er sich schließlich, um auf sich aufmerksam zu machen. »Um was geht es hier?«, fragte er herrisch. »Nichts, worüber Ihr Euch Sorgen machen müsstet, Mylord«, antwortete Kethol, als Pirojil nicht sofort das Wort ergriff. »Nur eine geringfügige Missstimmung zwischen Pirojil und dem Feldwebel.« »All das erkennt man an einem Kopfschütteln?« Morray war eindeutig skeptisch. »Ja«, sagte Pirojil. Aber das würde nicht genügen, um den Baron zufrieden zu stellen. »Kethol und ich arbeiten seit Jahren zusammen; Durine ist kurze Zeit später zu uns gestoßen. Nach so langer Zeit zusammen wissen wir alle, was die anderen denken.« Der Baron zog die Brauen hoch, als wollte er diese Bemerkung in Frage stellen. 68
»Man verbirgt seine Gedanken nicht gegenüber dem Mann, der einem Rückendeckung gibt. Wenn man darauf besteht, immer alles für sich zu behalten, dann sollte man sich einen anderen suchen, der hinter einem steht.« Der Baron verzog das Gesicht. »Ich bin nicht sonderlich beeindruckt von euch dreien«, sagte er. »Ihr habt euch bei dem Hinterhalt tapfer geschlagen, zweifellos besser, als man es von ein paar Söldnern erwarten würde, aber eure Schwertarbeit war ungeschickt - zumindest das, was ich davon gesehen habe -, und wenn Lady Mondegreen ihr Pferd nicht so rasch angespornt hätte, hätten die Tsuranis sie leicht erwischen können.« Kethol setzte dazu an, etwas zu sagen, aber er schloss den Mund wieder, als er sah, dass Pirojil den Kopf schüttelte. »Wir werden uns nächstes Mal mehr anstrengen, Mylord«, sagte Pirojil. Er hatte bereits genug davon, sich mit jemandem zu streiten, der sich ohnehin nicht überzeugen lassen würde. Aber man konnte sich nicht darauf verlassen, dass Kethol in einer solchen Situation den Mund hielt. Kethol würde es erklären müssen - das war eine seiner wenigen Schwächen -, und das würde auch keinem helfen. Pirojil zeigte auf die Spitze der Truppe, hob dann den Finger zu seiner Brust, wies mit dem Daumen nach hinten und spornte sein Pferd an. Lady Mondegreen drehte sich sofort zu Kethol um, als er Durine ablöste und wieder neben sie ritt. »Wann werden wir unser Ziel erreichen, Kethol?«, fragte sie. Wenn er sich recht erinnerte - und das tat er -, lag die äußere Mauer der Stadt Mondegreen direkt hinter der nächsten Biegung, einem Bach und einem Hügel. »Ich denke, wir sollten innerhalb einer Stunde dort sein, Mylady« Wieso die Herrin von Mondegreen die Umgebung ihrer Burg nicht besser kannte als ein Soldat, der nur ein einziges Mal hier gewesen war, war ihm ein Rätsel. »Ihr werdet diese Nacht in Eurem eigenen Bett schlafen, und das ist doch sicher tröstlich für Euch.« 69
»Ich finde einigen Trost in meinem eigenen Bett, das stimmt«, sagte sie. »Obwohl mein Gatte zwar ein guter und sanftmütiger, aber auch ein sehr kranker Mann ist, und dies schon seit vielen Jahren.« Oh, dachte er. Und deshalb wärmst du so gern die Betten anderer Männer »Tut mir Leid, das zu hören«, sagte er. Das schien die angemessene Antwort zu sein. Sie schürzte einen Augenblick die Lippen. »Andere haben viel Schlimmeres auszuhalten als ich.« »Ist der Baron wesentlich älter als Ihr?« Sie runzelte die Stirn. »Ja, das ist er. Und stimmt etwas damit nicht?« »Nicht im Geringsten.« Kethol schüttelte den Kopf. »Aber es muss schwierig sein -« »Ja, es ist schwierig.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Es ist schwierig, wenn man einen älteren Mann heiratet und alle erwarten, dass er einen Erben zeugt und das nicht passiert.« Sie wollte noch mehr sagen, kam dann aber offenbar zu dem Schluss, dass sie lieber schweigen sollte. »Ihr braucht wegen mir nicht vorsichtig zu sein, Mylady«, erklärte Kethol. »Ich bin kein Schwätzer, und für mich steht hier überhaupt nichts auf dem Spiel.« Sie sah ihn nicht an. »Das muss angenehm sein«, erwiderte sie angespannt.
Sie ritten einige Zeit schweigend weiter. »Anscheinend ist mir mein Ruf weit vorausgeeilt«, sagte sie schließlich. »Mag sein.« Kethol zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nichts von diesen Dingen. Der einzige Klatsch, den ich zu hören bekomme, dreht sich für gewöhnlich darum, ob ein Feldwebel ruhmsüchtig ist oder ein anderer Offizier seine Männer niemals vorausschicken wird, wenn es nicht unbedingt sein muss - das Privatleben von Leuten wie Euch ist kein Thema für Kasernengespräche.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Es war vielleicht kein Thema für Kethols Kasernengespräche, aber einige der Soldaten 70
aus LaMut tratschten wie Fischweiber, und Lady Mondegreen war oft das Thema ihrer Unterhaltungen. Wenn man dem Klatsch glauben wollte - und Kethol glaubte bei solchen Geschichten niemals alles oder gar nichts -, zog sie begeistert von einem Bett zum anderen und suchte überall nach der Befriedigung, die ihr uralter Mann ihr wohl nicht verschaffen konnte. Sie warf ihm einen langen, forschenden Blick zu, als versuchte sie, eine Entscheidung zu treffen. Eine Krähe kam angeflogen, ließ sich auf einem über der Straße hängenden Ast nieder und krächzte sie an. Nun gut, solange der Vogel nicht auf ihn schiss, störte das Kethol nicht. Pirojil schüttelte den Kopf. Solange man nicht wusste, nach was man wo Ausschau halten sollte, hätte man nicht erkennen können, was für eine gefährliche Waffe diese Burg darstellte. Burg Mondegreen erhob sich riesig, massiv und dunkel auf ihrem Hügel über der Stadt. Oben auf den sechs Türmen standen Wachen, die sich vermutlich halb zu Tode langweilten, aber sehr wahrscheinlich auch froh über diese Langeweile waren. Man brauchte nicht viel Kampferfahrung, um zu begreifen, dass Krieg im wirklichen Leben erheblich weniger romantisch war als in all den Geschichten, Balladen und Legenden. Selbstverständlich würde es nicht lange dauern, bis die Bilder und Klänge und besonders die Gerüche des Krieges in der Erinnerung verblassten, und dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Soldaten sich wieder aufplusterten, prahlerisch umherstolzierten und damit protzten, was für große Taten sie alle das nächste Mal vollbringen würden, wenn es Alarm gab. Wenn es dann ernst wurde, würden einige von ihnen sich tatsächlich besonders hervortun, einige würden sterben, und sie alle würden sich verändern, auf eine Weise, die viele erst Jahre später wirklich begreifen würden. Das Leben eines Soldaten ließ einem viel Zeit zur Nabelschau, aber die meisten versoffen diese Zeit einfach. Pirojil hatte selbst viele Stunden verschwendet, die er auch da71
mit hätte zubringen können, über die Dinge nachzudenken. Andererseits hatte er dann doch noch einige Zeit zum Nachdenken gefunden und schon vor langer Zeit festgestellt, dass es gefährlich war, sich in der Nähe von Waffen aufzuhalten. Es mochte notwendig sein, ja, aber es war auch gefährlich. Waffen veränderten Menschen, und das galt nicht nur für verzauberte Waffen. Es galt zum Beispiel für diese Burg da.
Ursprünglich war Burg Mondegreen von einem Vetter der con-Doins erbaut worden, um damit dauerhaft in Yabon Fuß zu fassen. Yabon hatte das Königreich um Hilfe gegen die Bruderschaft des Dunklen Pfades und ihre Verbündeten gebeten, aber die Yabonesen hatten nicht damit gerechnet, dass das Königreich in Yabon bleiben würde, nachdem der Feind erst einmal vertrieben war. Wie das benachbarte Bosonia war Yabon eine weit entfernte Kolonie des Kaiserreichs von Groß-Kesh gewesen. Anders jedoch als Bosonia, wo viele Kolonisten aus Kesh lebten, war Yabon ein Verwaltungsbezirk mit wenigen keshianischen Adligen und vielen yabonesischen Häuptlingen und Lords. Das Königreich begründete seine weitere Anwesenheit damit, dass die Ortsansässigen angeblich nicht imstande waren, sich zu verteidigen, auch wenn die Dunkle Bruderschaft fürs Erste vertrieben war, und Yabon daher eine ständige starke Garnison brauche. Eine Rettung war zu einer Eroberung geworden. Einige Lords und Häuptlinge in Yabon hatten das Königreich willkommen geheißen und waren mit Titeln und Ländereien belohnt worden. Andere hatten, wie es Ortsansässige gerne tun, etwas gegen ihre Eroberer gehabt und in den frühen Jahren zu Revolten geneigt. In dieser Zeit hielten die Überreste des alten Regimes ein Auge auf die neuen Herrscher, warteten ab und suchten hier und da nach Schwächen, stets bereit, das Joch des frisch eingesetzten Grafen des Königreichs und der ihm ergebenen Barone abzuwerfen. Und dafür war diese Burg da. Sollte das alte Regime doch eine Armee auf dem Land ausheben, sollten sie Pferde und Männer, Bögen und Harnische und Schwerter sammeln und sollten sie 72
doch toben und fauchen, wenn sie unbedingt wollten - so lange die neuen Herren diese Burg hatten. Manchmal konnte eine Revolte niedergeschlagen werden, indem die Truppen des Barons einen Ausfall aus der Burg machten und die Rebellen auseinander trieben. Öfter jedoch konnte der Ärger schon an der viel kleineren Mauer rings um die Stadt aufgehalten werden, die nicht nur die Adligen schützte, sondern auch die Anhänger der neuen Herren, die in diesen frühen Jahren die Einzigen waren, denen man erlaubte, in der Stadt und unter direktem Schutz des Barons zu wohnen. Aber manchmal mussten sich die Besatzungstruppen auch in die Burg zurückziehen und warten, bis die Truppen des Grafen kamen. Vorräte und Wasser gehörten ebenso zu der Bewaffnung einer Festung wie Pfeile und Bolzen. Die Eroberung Yabons war relativ unblutig vonstatten gegangen, und schon drei Generationen nachdem das Königreich sich die ehemalige Kolonie Keshs angeeignet hatte - also zu dem Zeitpunkt, als Pirojil nun Burg Mondegreen betrachtete -, waren Yabon und das Königreich austauschbar geworden, wenn man einmal von dem seltsamen Akzent in Yabon absah. Und so stand die Burg also da: ein Denkmal der Zähigkeit, genau, wie die eingestürzte Stadtmauer ein Denkmal der Veränderlichkeit und der Tatsache war, dass die Dinge nie so blieben, wie sie waren. Pirojil konnte nicht erkennen, wie viel von der Stadtmauer während des Krieges zerstört worden war - die Tsuranis waren in die Stadt eingedrungen, um zur Burg
zu gelangen - und wie viel schon vor der Invasion durch die Tsuranis von Ortsansässigen beschädigt worden war, die Baumaterial brauchten. Nach etwa einer Generation des Friedens hielten die Menschen Stadtmauern gewöhnlich nicht mehr für nützlich, sondern nur noch für unbequem, und es brauchte schon einen weisen Herrscher, der sich daran erinnerte, dass Mauern wichtig waren. Die Mauer rings um die Festung jedoch war intakt, wenn auch wie der Rest des Landes ein wenig vom Krieg gezeichnet. Asche 73
war alles, was von den Belagerungstürmen geblieben war, die die Tsuranis vor der westlichen Mauer errichtet hatten, und die Südmauer stand zwar noch, aber es war eine Bresche hineingeschlagen und behelfsmäßig wieder geflickt worden, direkt oberhalb der Stelle, an der Tsurani-Pioniere versucht hatten, die Standfestigkeit der Mauer zu untergraben. Der eingesackte Boden am Fuß der Befestigung sagte Pirojil alles, was er über diesen vergeblichen Versuch wissen musste. Eine unangenehme Art zu sterben, dachte er, wenn Tonnen von Stein und Erde plötzlich auf einen fielen und einen im Dunkeln zerquetschten wie ein Insekt. Der Trick bestand darin, den Tunnel so groß zu machen, wie man nur konnte, ohne dass der Feind es bemerkte, und genug Holz zu haben, um alles abzustützen, bis man bereit war, die Stützen zu verbrennen, den Tunnel zum Einsturz zu bringen - was hoffentlich erst geschah, wenn man sich in sicherem Abstand davon befand - und damit auch die Mauer darüber einstürzen zu lassen und eine hübsche Bresche zu schaffen, durch die die anderen Soldaten angreifen konnten. Pirojil war einmal drunten im Tal bei einem Pioniertrupp gewesen, und der verdammte Tunnel hatte nicht gehalten. Er erinnerte sich noch gut an den erdigen Geschmack, als ihm Staub in die Nase getrieben wurde und die Decke des Tunnels eingestürzt war - auf die Köpfe von ein paar seiner Kameraden - und er und die anderen Pioniere keinen anderen Weg nach draußen gehabt hatten als nach oben, durch das Feuer und die Trümmer einer eingestürzten Mauer. Sie waren halb blind gewesen, hatten vom Staub andauernd niesen und husten müssen und hatten dabei genau gewusst, dass sie oben sämtliche Verteidiger töten müssten, die ihrerseits kämpfen - und sterben - würden wie in die Enge getriebene Ratten. Und so war es auch geschehen. Hin und wieder kam ein Hauptmann, Herzog oder Prinz auf die wunderbare Idee, dass man tiefer graben sollte, um durch den Tunnel auf die andere Seite der Mauer zu gelangen. Ein interessanter Plan, wenn man nicht zu den Ersten gehörte, die dort aus dem Tunnel kamen ... 74
»Ich sagte«, wiederholte Baron Morray, »dass du mein Pferd in den Stall bringen kannst, nachdem ich abgestiegen bin.« Pirojil nickte und verabschiedete sich von seinen Gedanken. »Selbstverständlich, Baron.« »Ich werde mit dem Verwalter über euer Quartier sprechen. Vielleicht können sie für euch einen Platz in den Mannschaftsunterkünften finden und nicht im Stall.« Nun, das konnten sie ebenso gut gleich klären. »Nein, Mylord«, sagte Pirojil. »Wir bleiben nicht im Stall. Wir werden alle in der Residenz übernachten, und einer von uns steht Wache vor Eurer Tür.«
Baron Morray war nicht daran gewöhnt, dass man ihm widersprach. Die Zügel zuckten in seinen Fingern. »Ich sehe nicht ein, wieso das notwendig sein sollte. Die Mannschaftsunterkünfte oder der Stall sind vollkommen angemessen für solche... für euch drei. Wenn ich mitten in der Nacht feststellen sollte, dass ich euch brauche, schicke ich eben einen Diener.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Selbstverständlich, Mylord. Wenn Ihr so freundlich wärt, uns das schriftlich zu geben, dann werde ich einen Boten damit zum Grafen schicken. Wenn ein schnelles Pferd erhältlich ist, könnte er Yabon noch erreichen, bevor -« »Was?« Zumindest war der Baron intelligent genug, nicht die Stimme zu heben. »Der Graf hat uns beauftragt, Euch Tag und Nacht zu bewachen. Sollte Euch ein Unfall oder Schlimmeres zustoßen, während wir unsere Pflicht vernachlässigen, dann sind es unsere Köpfe, die in der Schlinge landen. Wenn ich Graf Vandros' Befehle also nicht befolge, sollte er zumindest wissen warum.« Der Baron setzte zu einer Erwiderung an, aber Pirojil war schneller. »Bitte, Mylord. Man hat uns beauftragt, Euch zu schützen«, sagte er leise. »Nicht nur Eure Leiche. Und wir erzählen zwar am Lagerfeuer abends Geschichten wie jeder andere, aber wir klatschen nicht darüber, was höher Gestellte tun.« 75
Wenn du dumm genug bist, es direkt vor der Nase von Baron Mondegreen mit seiner Frau zu treiben, dann tu es eben, lautete die unausgesprochene Mitteilung hinter diesen Worten. Der Baron schwieg einen Augenblick. »Ich bin nicht ganz so dumm, wie du glaubst, Söldner«, sagte er. »Ich verstehe schon, was du meinst, aber ich würde nicht einmal einen Flegel unter seinem eigenen Dach betrügen, und erst recht keinen guten Mann wie Baron Mondegreen, ganz gleich, was du offenbar denkst.« »Fürs Denken werde ich nicht bezahlt«, erklärte Pirojil. »Außer daran zu denken, wie ich Euch am besten schützen kann.« »Also gut. Beschützt mich, wenn ihr müsst, aber geht mir dabei nicht auf die Nerven.« Der Baron schnalzte seinem Pferd zu, und das Tier reagierte, indem es sich in Trab setzte. Pirojil seufzte. Es würde eine lange Mission werden. Er trieb sein Pferd an und folgte dem Baron. Eine hoch gewachsene, schlanke Dienerin mit beinahe absurd großen Brüsten brachte ein Tablett mit einer gewaltigen Lammkeule und einem kaum kleineren Stapel Fladenbrot, das immer noch dampfte. Die junge Frau war recht hübsch und hatte angenehm regelmäßige Züge; ihre beeindruckenden Brüste spannten die Bänder ihrer Bluse, und ihr braunes Haar war zu einem einfachen Knoten aufgesteckt, was ihren langen, schlanken Hals zur Geltung brachte. Kethol beneidete die vereinzelten Haarsträhnen, die ihren Nacken umspielten. Sie sagte nichts, aber sie schaute von einem zum anderen, wobei sie es sich kaum verkneifen konnte, angewidert die Nase zu rümpfen; dann stellte sie das Tablett kommentarlos auf den Tisch, drehte den dreien den Rücken zu und ging den Flur entlang und wieder die Wendeltreppe hinunter, ohne sich auch nur im Geringsten um die Blicke zu kümmern, die ihr folgten.
Kethol schaute ihr noch lange hinterher. Man gewöhnte sich nach einiger Zeit daran, wie Dreck behandelt zu werden - jedenfalls sagte er sich das immer. Das Leben eines Soldaten war voller Lügen. 76
»Hm. Ich glaube, ich brauche ein Bad«, sagte Pirojil. »Oder vielleicht lieber ein neues Gesicht.« »Bad klingt gut.« Durine nickte. »Erst du, dann ich?« »Ich kann warten«, sagte Durine. »Ich lasse mir lieber Zeit. Sieht so aus, als gäbe es vor der Unterkunft ein gutes Badehaus. Du kannst dir ein bisschen den Straßenstaub abwaschen, bevor du ins Bett gehst, aber ich fände es ganz gut, mich einige Zeit in heißem Wasser einweichen zu lassen. Und denk dran, dir die Stiefel abzutreten, bevor du wieder reinkommst.« Pirojil warf einen Blick auf seine Stiefel, an denen kein Schlamm mehr klebte; die drei hatten bereits von einem Diener eine Standpauke hinnehmen müssen. Der westliche Flügel des zweiten Stocks der Festung war den Gästen vorbehalten. Von dem Dutzend Türen entlang des Flurs standen alle bis auf zwei offen und warteten wahrscheinlich auf die nächsten Bewohner. Die Familie residierte im Ostflügel und im unteren Stockwerk. Wenn man von den mürrischen Bemerkungen und den finsteren Blicken ausging, die die drei von den Wachsoldaten drunten hatten einstecken müssen, war der Wachhauptmann des Barons alles andere als erfreut, die Sorge um die Gäste seines Herrn in die Hände von Außenseitern legen zu müssen, und er hatte im unteren Stockwerk Leute postiert, um das noch einmal besonders zu betonen. Pirojils Blick kehrte zu der Stelle zurück, wo die Dienerin die Treppe hinunter verschwunden war, als könnte er nach unten schauen, wo die Soldaten von Mondegreen am Eingang zu den Gemächern der Familie postiert waren. »Es ist schon traurig, wenn die Leute drei Halsabschneidern wie uns nicht mehr trauen.« Durine lachte. Kethol zuckte mit den Achseln. Während Kethol draußen geblieben war und den Eingang zu den Räumlichkeiten des Barons bewachte, hatten sich Durine und Pirojil die Zimmer angesehen und festgestellt, dass es dort nichts Außergewöhnliches gab: kein Tsurani-Attentäter, der unter dem 77
Bett lauerte, kein Trupp von Meuchelmördern vom Dunklen Pfad in einem der Schränke - nicht, dass etwas Derartiges überhaupt zu erwarten gewesen wäre. Bei dieser Art von Tätigkeit verbrachte man den größten Teil der Zeit damit, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, die sich als vollkommen überflüssig erweisen würden; aber so sicher, wie es im Sommer Fliegen gab, brauchte man nur ein einziges Mal nicht unter dem Bett nachzusehen, und dann hatten sich die Attentäter tatsächlich dort verkrochen. Und was kümmerte es einen Soldaten schon, ob er bei der Erfüllung seiner Pflicht albern aussah oder nicht? Hinter der schweren Eichentür lag Baron Morray nun vielleicht schon in dem großen Bett und schlief, gewärmt von dem Feuer in der kleinen Feuerstelle und den Metallplatten unter der Matratze. Falls das Bett noch von etwas anderem gewärmt wurde - wenn sich Lady Mondegreen vielleicht durch einen der Geheimgänge eingeschlichen hatte, von denen es in Burgen stets nur so wimmelte -, dann konnte
Kethol daran auch nichts ändern, und wahrscheinlich sollte er es auch nicht tun, also beschloss er, sich deshalb keine Gedanken mehr zu machen. Er schnitt mit dem Messer ein Stück Lammfleisch ab und kaute es. Es war zäh und verkocht, aber immerhin warmes Essen und wahrscheinlich besser als das, was es in der Mannschaftsunterkunft gab. Anderseits fanden dort vielleicht auch Würfelspiele statt, und es wäre eine Schande, so etwas nach einem derart anstrengenden Tag zu versäumen. Auf einem Pferderücken auf und ab zu hüpfen konnte einen geistig beinahe ebenso ermüden wie starker Alkohol. »Hmm ... würde es euch beide stören, wenn ich heute Nacht die erste Wache übernehme?«, fragte er. Die anderen zuckten mit den Achseln. »Kein Problem«, sagte Durine. Er stand auf und rieb sich mit den fleischigen Händen den Rücken. »Kein Problem.« Auch Pirojil erhob sich. Einen Augenblick schaute Pirojil drein, als wollte er noch et78
was sagen, aber dann schnitt er sich ebenso wie Durine ein großes Stück Fleisch ab und trug es auf einem Fladenbrot davon. Sie gingen den Flur entlang zu dem Zimmer, wo die drei untergebracht waren, und kurz darauf tauchte Pirojil mit einer Satteltasche in der Hand wieder auf und ging die Wendeltreppe hinunter, wahrscheinlich zum Badehaus, während er sich das letzte Stück Fleisch und Brot in den Mund steckte. Kethol war allein, und das passte ihm gut, obwohl es sich ein bisschen seltsam anfühlte, die erste Wache zu übernehmen. Wenn man so lange zusammenarbeitete, entwickelten sich bestimmte Muster. Demnach hätte Pirojil die erste Wache übernommen, dann Durine, dann Kethol. Der unerschütterliche Durine konnte beinahe auf Befehl einschlafen, ganz gleich, was vorher geschehen war, und wenn Pirojil erst einmal schlief, brauchte es mindestens einen Großangriff, um ihn wieder aus dem Bett zu kriegen. Außerdem beobachtete Kethol gern die Morgendämmerung, und das Ostfenster am Ende des Flurs hätte ihm einen schönen Blick auf die Morgensonne geboten, wenn sie sich über die Burgmauer erhob. Aber ihm war einfach nicht danach, nicht heute Nacht. Er war viel zu beschäftigt damit, vor sich hin zu träumen. Er ging zu der schweren Eichentür, drehte ganz vorsichtig den Knauf und öffnete die Tür um weniger als einen Zoll, nur um sich zu überzeugen, dass sie nicht von innen verschlossen war. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass jemand die Stadt angreifen würde, und noch unwahrscheinlicher, dass solche Angreifer schnell zur Burg gelangten, aber man musste dennoch alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen treffen und dann zum Soldatengott beten, dass sie sich auch diesmal als überflüssig erweisen würden. Er setzte sich in den breiten Ledersessel neben dem Tisch im Flur und aß ein weiteres Stück Lammfleisch. Nicht genug Knoblauch und zu viel Salz, aber das war nicht überraschend. Vielleicht war es auch schon ein bisschen ranzig, aber der Pöbel konnte schließlich kaum hoffen, das Beste abzukriegen. 79
Er knabberte immer noch an dem Fleisch, das am Knochen geblieben war, als Pirojil wieder die Treppe heraufkam, das Haar feucht und nach hinten gekämmt. Er nickte Kethol kurz zu und verschwand in ihrem Zimmer. Es wäre Kethol lieber gewesen, wenn Pirojil einen Augenblick geblieben wäre, um ein wenig zu reden, aber er wollte ihn nicht darum bitten. Man kam bei einer Wache zu dritt ohnehin selten genug ins Bett. Wenn man allein Wache hielt, war es ausgesprochen wichtig, stets wach und aufmerksam zu bleiben. Zu viel zu essen war da eine schlechte Idee, und nur ein Idiot würde auf Wache Wein trinken. Kethol hatte in Rodez einmal einen alten, schnurrbärtigen Feldwebel getroffen, der behauptete, er wäre nach ein paar Bechern Wein auf Wache ein klein wenig lebhafter und ein klein wenig schneller, und wenn es so etwas wie Gerechtigkeit auf der Welt gab - darauf wollte Kethol aber lieber nicht wetten -, dann hatte ihm jemand einen Speer durch die Gedärme gerammt, kurz nachdem Kethol, Pirojil und Durine sich abgesetzt hatten, denn sie waren damals nicht verzweifelt genug gewesen, um unter einem Idioten zu dienen. Das war das Gute an der Unabhängigkeit: Man konnte es sich leisten, ein bisschen wählerisch zu sein, solange man es nicht übertrieb. Kethol interessierten die Angewohnheiten eines Feldwebels wenig - ob einer im Bett nun üppige, blonde Frauen oder schlanke, dunkelhaarige Knaben oder verdammte Ziegen bevorzugte, war ihm egal -, aber wenn man ohnehin dauernd in Gefahr war, getötet zu werden, brauchte man nicht noch jemanden, der es dem Feind leicht machte. Bald schon hörte er von weitem Durines Schnarchen, ein regelmäßiges SchnarchPfeif, Schnarch-Pfeif, das verkündete, dass der große Mann eingeschlafen war. Gut. Kethol wusste nicht, warum Durine niemals schnarchte, wenn sie im Freien übernachteten, wo solche unschuldigen Geräusche dem Feind verraten konnten, wo man war, aber er interessierte sich auch nicht sonderlich dafür. 80
Der Trick war, auf Wache nicht die Augen zu schließen. Niemals, nicht einmal für einen kurzen Moment. Einmal, als junger Mann, hatte er beschlossen, auf Wache nur einen einzigen Moment die Augen auszuruhen, und als er sie das nächste Mal öffnete, hatte ihn die Sonne mit gleißender Verachtung geblendet. Dass er damit durchgekommen war, dass niemand von dieser Schande erfahren hatte, damals nicht und nie, machte es noch schlimmer, als wenn der Feldwebel ihn ertappt und zusammengeschlagen hätte. Das Problem war Er setzte sich ruckartig auf. Er hatte etwas gehört. Verflucht! Aus dem Zimmer von Baron Morray erklang Stöhnen. »Pirojil! Durine!«, brüllte er, aber er wartete nicht auf sie; er trat die Tür ohne Rücksicht auf den möglichen Schaden an den Angeln auf und stürzte ins Zimmer, das Schwert in der Hand. Das Zimmer war dunkel, bis auf einen flackernden Lichtschein von der Feuerstelle an der Wand. Zwei Gestalten rangen in dem massiven Bett an der gegenüberliegenden Wand miteinander. Am einfachsten wäre es wohl gewesen, das Schwert in die sich windende, zuckende Masse zu stoßen, aber-
»Halt!« Baron Morray setzte sich mit schweißgebadetem Oberkörper im Bett auf. Er tastete nach dem Messer auf dem Nachttisch, und Kethol hielt inne. Durine und Pirojil waren direkt hinter ihm; Kethol spürte sie eher, als dass er sie sah, und er wusste, dass Durine ihm von rechts Deckung geben würde, während Pirojil links von ihm stand. Aber vor dem hier brauchte er keinen Schutz. Ein Augenpaar spähte unter den Decken hervor, begleitet von leisem Kichern. »Ich würde ja fragen, was das hier soll«, erklärte der Baron, »aber ich fürchte, es ist nur allzu klar.« Er ignorierte das Kichern und die Tatsache, dass die Versuche seiner Bettgenossin, sich das Laken über den Kopf zu ziehen, für einen Augenblick ein besonders wohlgeformtes Hinterteil entblößten. 81
Der Baron tätschelte sie und schnaubte. »Es hat wohl nicht viel Sinn, dich zu verstecken, Kate«, sagte er. Sie zuckte mit den Achseln und ließ die Decke bis zur Taille sinken, wobei sie dreist ihre hohen jungen Brüste entblößte, die genauso fest waren, wie Kethol sie sich vorgestellt hatte. Das war selbstverständlich die junge Dienerin, die den dreien das Essen gebracht hatte. Kein Wunder, dass es ihr so leicht gefallen war, die Nase über drei Söldner zu rümpfen, wenn sie bereits mit einem lohnenderen Bettgenossen verabredet gewesen war. Rechts hinter dem Bett stand ein Stück der Täfelung weit offen, und dahinter befand sich die Tür zu dem Geheimgang, durch den Kate offenbar ins Schlafzimmer des Barons gekommen war. »Es tut mir Leid«, sagte Kethol, »aber -« »Raus hier«, forderte der Baron. »Verschwindet einfach. Und zwar sofort.« Es war sicher nicht der richtige Zeitpunkt, ihm zu widersprechen, aber da der Baron die Stimme nicht erhoben hatte und wahrscheinlich auch keine Aufmerksamkeit erregen wollte, war es auch nicht der ungeeignetste Zeitpunkt. »Nein«, sagte Pirojil leise, aber energisch. »Nein, Mylord. Nicht bevor das Tor zu dem Geheimgang gesichert ist.« Er schüttelte den Kopf. »Es geht uns nichts an, wer mit Eurer Erlaubnis in Euer Zimmer kommt, aber es geht uns sehr viel an, dafür zu sorgen, dass niemand Euer Zimmer betritt, ohne an uns vorbei zu müssen.« Durine hatte eine Laterne von der Wand genommen und untersuchte die Täfelung an der anderen Wand. »Hier ist noch einer«, verkündete er finster. Und das habt ihr vorher nicht bemerkt? Kethol verkniff sich die Frage. Sie hätten an so etwas denken sollen, aber sie hatten alle drei nicht viel Erfahrung mit dieser Art von Leibwächterarbeit und würden daher wohl noch mehr Fehler machen, was ein Gedanke war, der Kethol überhaupt nicht behagte. Er wusste genug, um davon auszugehen, dass die Wände Ohren hatten, aber dass sie auch Türen haben konnten, die sich häufiger öffneten und schlossen als die einer Hure? 82
Verflucht! »Und, was schlagt ihr jetzt vor?« Es war nichts sonderlich Ungewöhnliches oder auch nur im geringsten Gefährliches daran, wenn ein Baron eine Dienerin in sein Bett bat, aber es war
zweifellos auch nicht die Art von Geschichte, von der Morray wollte, dass sie ans Ohr von Lady Mondegreen gelangte. Kethol griff in den Geheimgang hinein und zog die Tür zu. Im Schnitzwerk der Täfelung war ein kunstvolles Schloss versteckt, aber dem traute er nicht, also schob er einen Stuhl vor die Wand, stellte einen sauberen Nachttopf darauf und lehnte den ganzen Aufbau gegen die Täfelungstür. Ein Attentäter würde zwar immer noch hereinkommen können, aber er würde dabei eine Menge Lärm verursachen. Durine hatte eine ähnliche improvisierte Alarmanlage an der anderen Geheimtür installiert, während Pirojil sich gegen die Zimmertür gelehnt hatte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Ihr habt alles Notwendige getan. Jetzt verschwindet endlich«, sagte der Baron. »Ich kann euch jetzt schon versprechen, dass diese Sache morgen früh ein ernstes Nachspiel haben wird.« Kethol war sich da nicht so sicher. Er hoffte, dass der Baron die Angelegenheit einfach ignorieren würde, aber er folgte Pirojils Beispiel, verbeugte sich und ging. Durine schüttelte einfach nur den Kopf. Am Morgen begab sich Baron Morray in den Ostflügel der Burg, um mit dem kranken Baron Mondegreen zu sprechen, und Pirojil, Durine und Kethol wurden aus den Privatgemächern verbannt. Das war zu erwarten gewesen. Tom Garnett hatte vielleicht deutlich gemacht, dass Morray nicht einmal den Abort benutzen durfte, ohne dass einer der drei sich überzeugte, dass auch kein Attentäter darunter lauerte und ihm einen Speer in den hoch-wohlgeborenen Arsch rammte, aber der Hauptmann war in Mondegreen nicht zuständig, und ihr Auftrag durch den Grafen von 83
LaMut war nicht besonders genau umschrieben gewesen. Damit vor dem Wachhauptmann von Baron Mondegreen herumzufuchteln hätte nichts weiter als Wind erzeugt. Außerdem galt die Regel, dass die Befehle des ältesten anwesenden Adligen Gesetz waren, und als Gemeine waren sie daran gewöhnt. Also holten sich die drei in der Unterkunft ein karges Frühstück aus Brot, Zwiebeln und Wurst, dann zogen sie die Umhänge gegen die Kälte fest um sich und eilten über den äußeren Hof zum Stall, vor dem die Lakaien und Stallknechte versuchten, die Kutsche des Barons vorzubereiten, obwohl sie dabei dauernd von einem Haufenjungen gestört wurden, die Fangen oder Fußball spielten. Es war viel zu kalt, als dass ein vernünftiger Mensch sich freiwillig draußen aufgehalten hätte. Der Atem der Jungen war in der kalten Luft deutlich zu erkennen, und hin und wieder rutschte einer auf einer glatten Stelle im Hof aus, über die nicht genug Sand gestreut worden war. Aber vielleicht hielt sie die Bewegung ja warm, und außerdem war es zumindest eine Abwechslung zu ihrer Arbeit. »Sechstag«, erklärte ein Stallknecht und bat Pirojil mit einer Geste, die Zügel zu halten, während er einen großen weißen Wallach anspannte und dann einem Kollegen zuwinkte, das nächste Zugpferd nach draußen zu bringen.
Pirojil hatte nichts dagegen zu helfen, obwohl sein Blick unwillkürlich immer wieder über den Hof zu dem großen Fenster im Ostflügel wanderte, hinter dem Baron Morray, wie er vermutete, Baron Mondegreen bei einem späten Frühstück berichtete, wie drei unverschämte Söldner seinen Schlaf gestört hatten. »Sechstag?« »Früher einmal hatten sie nur den Nachmittag des Sechstags dafür, hier wie die Wilden umherzutoben, aber die Dinge sind im Krieg ein bisschen salopper geworden, und der gute Baron war... mit anderen Angelegenheiten beschäftigt«, sagte er. »Daher fängt derzeit der Nachmittag des Sechstags anscheinend schon früh am Morgen an.« 84
Mit anderen Angelegenheiten beschäftigt. Wie zum Beispiel an einer auszehrenden Krankheit zu sterben, gegen die offenbar weder Gelehrte noch Zauberer etwas ausrichten konnten - nicht, dass das Pirojil etwas anging. Der Lakai befestigte einen Riemen an einem Ring und schnallte ihn mit zufriedenem Grunzen fest. »Ein paar Schläge mit einer Keule würden diesen Stalljungen erheblich besser tun als noch mehr Zeit, in der sie wie ein paar verrückt gewordene Eichhörnchen hier herumfegen können, aber der Pferdemeister ließe sich lieber vom alten Cedric erzählen, welche Tiere reif für den Schinder sind, als dass er mich fragen würde, welche von diesen kleinen Kerlen besser lernen würden, wenn sie ein paar Kopfnüsse bekämen und weniger Zeit hätten zu tun, was sie wollen.« Pirojil interessierte sich nicht sonderlich für die Probleme des Knechts oder das Verprügeln von Jungen, aber es schadete nicht, wenn man höflich zuhörte, zumindest für eine Weile. Immerhin hatte er im Augenblick sowieso nichts Besseres zu tun. Sie hätten längst unterwegs sein sollen. Wenn Pirojil hier das Sagen gehabt hätte, dann hätten sie sich zu der Zeit, die man unten im Tal den »Wolfsschwanz« nannte, auf den Weg gemacht -im grauen Licht noch vor der Dämmerung, das alle Farben und fast alle Formen verbarg. Andererseits gab der Aufenthalt den hohen Herrschaften, wie man gesehen hatte, eine gute Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben, und verschaffte Pirojil und seinen Kameraden zumindest zwei Drittel des üblichen Nachtschlafs. Wenn man die Umstände bedachte, war das gar nicht schlecht, dachte er und gähnte gegen seinen Handrücken. Er fragte sich, ob es in dem verbeulten Eisenkessel auf dem Herd in der Unterkunft wohl noch einen Becher mit heißem Tee gab, denn obwohl das Zeug wahrscheinlich ätzend genug war, um ihm die Zunge zu gerben, war es sicher auch heiß genug, um seinen Bauch zu wärmen. Kethol und Durine hatten ihre Waffen in der Obhut einer Gruppe von Mädchen aus der Burg zurückgelassen, die sich eif85
rig miteinander unterhielten und so taten, als ignorierten sie alle männlichen Wesen auf dem Hof vollkommen. Die beiden Söldner hatten sich tatsächlich dem Spiel der Jungen angeschlossen. Es gab Zeiten, in denen Pirojil sich ernsthaft fragte, ob man seine beiden Kameraden als Kinder wohl hatte auf den Kopf fallen lassen.
Zwei junge Burschen, die nicht mal halb so groß waren wie Durine, versuchten gerade, den großen, kräftigen Mann umzurempeln, und er ließ sich fallen und verlor dabei den mit Stroh ausgestopften Ledersack so geschickt, dass es für die anderen halbwegs überzeugend danach aussah, als hätten sie ihn tatsächlich besiegt. Pirojil warf einen raschen Blick hinter die Kutsche und in den Stall. Er nahm an, dass es noch mindestens eine Stunde dauern würde, bis Wagen und Soldaten bereit wären aufzubrechen, und wer wusste schon, wie lange sie warten mussten, bis die Adligen »Bist du Kethol?« Ein Soldat in der Livree von Mondegreen war hinter ihn getreten, ohne dass er es bemerkt hätte. Pirojil konnte sich gerade noch zurückhalten und ließ sein Schwert stecken. Er hatte einen Fehler gemacht, und er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend er auf sich selbst war. Er wurde wirklich alt. »Nein, ich bin Pirojil. Kethol ist der da unter dem Haufen zappelnder Jungen.« »Der Baron möchte ihn sprechen. Willst du ihn unter den Jungen vorziehen, oder soll ich das machen?« »Baron Mondegreen?« »Ja. Baron Mondegreen.« Der Soldat verzog angewidert das Gesicht. »Wen sollte ich innerhalb dieser Mauern wohl meinen, wenn ich vom Baron spreche? Nun, wirst du ihn holen?« »Das sollte ich wohl lieber.« Es war nicht ungefährlich, Kethol zu unterbrechen, wenn er abgelenkt war. Der Mann hätte Kethol wahrscheinlich einfach am Kragen oder am Fuß gepackt, und die Berührung einer Hand, die nicht die eines Jungen war, könnte Kethol automatisch reagieren lassen. 86
»Dann beeil dich gefälligst.« Der Soldat drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte wieder auf den Bergfried zu. Pirojil schüttelte den Kopf und drängte sich dahin durch, wo Kethol am Boden lag. Lady Mondegreen saß am Krankenbett ihres Gemahls, einer massiven Messingangelegenheit mit vielen Kissen. Sie lächelte Kethol zur Begrüßung an und wies auf den Stuhl neben dem Bett. Kethol blieb stehen und wartete. Sie hatte ihm immerhin nicht ausdrücklich gesagt, dass er sich hinsetzen sollte, und man konnte nie wissen, wann ein Adliger der Ansicht war, man sei unverschämt. Das Zimmer roch nach altem Tod, oder vielleicht war es auch der Baron selbst. Mondegreen war angeblich in seiner Jugend ein hoch gewachsener und kräftiger Mann gewesen, aber die Krankheit hatte ihn in eine welke Hülse seiner selbst verwandelt. Vor Kethol lag etwas, das kaum noch lebte und sich anstrengen musste, nicht schon von der Mühe, sich in den Kissen ein wenig aufzurichten, ins Keuchen zu geraten. »Bitte - legt den Umhang ab«, sagte der Baron, »oder ich fürchte, Ihr werdet bald schrecklich schwitzen.« Seine Stimme war schwach, aber er zwang sich, nicht nach Luft zu schnappen, bevor er den Satz beendet hatte. Der Tod würde Baron Mondegreen schon bald zu sich holen, und das würde eher ein Segen als ein Fluch sein, aber er würde nicht ohne Kampf gehen. Kethol nahm den Umhang ab, sah sich kurz um und legte ihn dann über eine Stuhllehne.
Selbst ohne den dicken Umhang war es im Zimmer noch zu heiß. Burgen waren für ihre Zugigkeit berüchtigt, aber jemand schien sich hier viel Mühe gegeben zu haben, die Risse in den Wänden mit Mörtel zu verstopfen, und die riesigen Wandbehänge, die von der Decke bis zum Boden reichten, hielten jede Luft ab, die trotzdem noch von draußen hereindrang. In der Feuerstelle an der dem Bett gegenüberliegenden Wand brannte ein hübsches Feuer, und es wärmte das Zimmer genü87
gend, sodass Kethol nicht verstehen konnte, wie es der Baron unter seinem Deckenberg aushielt. »Bitte setzt Euch zu mir, Feldwebel Kethol«, sagte der Baron und zeigte auf den Stuhl neben dem Bett. »Habt Ihr schon gefrühstückt?« »Ja, Mylord«, erwiderte Kethol und setzte sich. Das entsprach ganz der Wahrheit, aber der Geruch im Zimmer hätte ihm ohnehin den Appetit verdorben. »Ich höre, dass Ihr und Eure beiden Kameraden für die sichere Ankunft meiner Frau verantwortlich seid«, sagte der Baron. »Und ich will Euch meinen Dank dafür persönlich aussprechen.« Kethol wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Lady Mondegreen war sicher recht nett, sie war hübsch, und sie ging viel freundlicher mit den Söldnern um, als sie es hätte tun müssen, aber wenn er hätte zusehen müssen, wie sie von einem Tsurani-Schwert aufgespießt wurde, während er Morray vor einem Kratzer schützte, dann hätte er genau das getan und erst später daran gedacht, es zu bedauern. »Das ist sehr freundlich von Euch, Mylord«, erwiderte er schließlich. »Aber ich glaube nicht, dass wir etwas Außergewöhnliches getan haben.« Das zumindest entsprach der Wahrheit. Der Baron lächelte wissend. Kethol gefiel nicht, wie diese alten Augen ihn beobachteten. Sie erinnerten ihn zu sehr an die Augen, die er in einem halb blinden Spiegel gesehen hatte. »Ja«, sagte der Baron, »und für tausend Tonnen Dank und ein verbogenes grünes Kupferstück bekommt Ihr einen Krug Bier, nicht wahr?« »Nun ja.« Kethol nickte. »Aber ich freue mich trotzdem über Eure freundlichen Worte.« »Ja, da bin ich sicher, Feldwebel Kethol.« Baron Mondegreen erlitt einen Hustenanfall, dann wandte er sich seiner Frau zu. »Liebes, wärst du wohl so nett, mir einen halben Becher von diesem wunderbaren Tee zu holen, den Menicia gekocht hat? Ich würde ja den Diener schicken, aber du weißt immer am besten, wie viel Zucker hineingehört.« 88
»Aber -« »Bitte tu deinem ergebenen Gatten diesen Gefallen«, sagte er liebevoll. »Und wenn es nicht gegen dein Ehrgefühl verstößt, so möchte Feldwebel Kethol vielleicht auch einen Tee, also könntest du gleich zwei Becher bringen.« Er hätte auch ganz direkt sagen können, dass er allein mit Kethol sprechen wollte, aber sie lächelte, nickte und tätschelte seine Hand, bevor sie ging und die Tür hinter sich schloss.
»Und es könnte sein, dass Ihr noch mehr als Dank braucht«, fuhr Baron Mondegreen fort, »wenn man die Wahrscheinlichkeit in Betracht zieht, dass Baron Morray sich beschweren wird - vielleicht nur bei Steven Argent, aber vielleicht auch beim Grafen selbst -, weil Ihr mit Euren angeblich schlechten Manieren letzte Nacht seine, äh, Bettruhe gestört habt...« Darauf wollte Kethol auf keinen Fall mit einer geistreichen Bemerkung antworten, selbst wenn ihm eine eingefallen wäre, also blieb er einfach nur sitzen und ließ den Baron fortfahren. »Kranke alte Männer sind für gewöhnlich schlechter Laune«, erklärte der Baron. »Ich bin die liebenswerte Ausnahme.« Ein Lächeln zuckte über seine schmalen Lippen. »Ich werde sowohl beim Schwertmeister als auch beim Grafen ein Wort für Euch einlegen«, sagte er. »Das könnte Euch vor einiger Verlegenheit bewahren.« Nicht, dass Verlegenheit den dreien viel ausgemacht hätte, aber... Nur, wie wollte der Baron »ein Wort für sie einlegen«? Er sah jetzt schon aus, als stünde er kurz vor seinem letzten Atemzug. »Davon einmal abgesehen«, fuhr der Baron fort und zog einen kleinen Lederbeutel unter der Decke hervor, »heißt es, dass Gold die deutlichste Sprache spricht.« Er reichte Kethol den Beutel. »Ich habe einen Brief an den Grafen geschrieben und einen weiteren an den Schwertmeister, in dem ich Euch für Eure Dienste gelobt und erklärt habe, dass dieses kleine ... Missgeschick in der Burg letzte Nacht ausschließlich mein Fehler war, da ich es versäumt hatte, Euch gegenüber Morrays, äh, Beziehungen zum Per89
sonal sofort anzusprechen.« Er sah Kethol in die Augen. »Es ist eine Sache, ein bisschen Spaß mit einem willigen jungen Ding zu haben. Aber es ist eine andere, so etwas außerhalb seiner eigenen Domäne zu tun und sich dann nicht einmal um den Bastard zu kümmern.« Er kniff die Lippen zusammen. »Wenn Ihr mich hier so liegen seht, könnt Ihr Euch das wahrscheinlich kaum vorstellen, aber ich habe in jüngeren Jahren einige Bastarde gezeugt, und ich kann mit einigem Stolz von mir sagen, dass ich sie alle gut versorgt habe und wahrscheinlich auch noch einige, die von anderen Männern stammten.« Er tätschelte den Beutel. »Die Briefe sind ebenfalls hier drin. Ich habe mein Siegel auf die Unterschrift gedrückt und es nicht benutzt, um sie zu verschließen.« Nun, das würde Pirojil die Mühe sparen, das Wachs vorsichtig zu erwärmen, sodass er die Briefe lesen könnte, ohne die Siegel zu brechen. Kethol war sicher, dass der Baron zu seinem Wort stand - er mochte diesen Mann und vertraute ihm -, aber Pirojil war von Natur aus misstrauischer. Aber Briefe? »Dann begleitet Ihr uns nicht nach LaMut?« Außer Morray aus der Stadt und der Reichweite möglicher Attentäter zu schaffen, hatte der Hauptzweck dieser Expedition darin bestanden, Baron Mondegreen nach LaMut zu bringen. Der Rest hätte warten können. Ja, die Mondegreen-Truppen zu verlegen war notwendig gewesen - die Barone hatten es nicht gern, wenn ihre eigenen Männer zu lange von ihrem Land entfernt waren, damit sie keine zu engen Freundschaften mit den falschen Leuten schlossen -, aber ganz bestimmt nicht so dringend ...
»Ich nehme an, Ihr habt inzwischen selbst festgestellt, dass dies ausgesprochen unwahrscheinlich ist.« Der Baron schüttelte den Kopf. »Der alte Vater Kelly sagt, dass ich eine Reise bis nach LaMut kaum überleben würde, und hier werde ich vermutlich auch nicht viel länger am Leben bleiben«, erklärte er, als ginge es um ein relativ geringfügiges Problem. »Die Pflicht mag ja rufen, aber sie kann mich nicht mehr stärker machen, als ich bin.« Warum hast du dann deine Frau hierher bringen lassen und schickst sie jetzt gleich wieder zurück ? Kethol verstand das nicht, 90
aber die Haltung des Barons schien, so zugänglich er sich auch geben mochte, solch vertrauliche Fragen nicht zuzulassen. Kethol hatte noch nicht nach dem Beutel gegriffen. Der Baron schob ihn ihm mit zitternden Fingern zu. »Ich erwarte, dass Ihr auf dem Rückweg ebenfalls auf meine Frau aufpasst.« Pirojil hätte jetzt am liebsten etwas in der Richtung gesagt, dass sie das ebenso tun würden wie auf dem Hinweg, aber es war etwas an diesem alten Mann, das Kethol das Lügen schwer machte, selbst indirektes Lügen. Verflucht. Es hatte keinen Sinn, also griff er nach dem Beutel, schaute hinein - er war schwerer, als er aussah; also handelte es sich tatsächlich um Gold und nicht nur um Silber - und steckte ihn sich dann ins Hemd. Der Baron lächelte. Um was ging es hier wirklich? Kethol versuchte angestrengt, eine Möglichkeit zu finden, diese Frage indirekt zu stellen - verflucht, warum hatte der Baron nicht nach Pirojil gerufen? Pirojil kannte sich mit diesen Dingen aus -, als die Tür aufging und Lady Mondegreen mit zwei dampfenden Bechern auf einem Tablett hereinkam. Sie stellte das Tablett auf den Nachttisch und setzte sich dann neben ihrem Mann aufs Bett und stützte seinen Kopf, damit er besser trinken konnte. »Ich sehe, dass die Kutsche vorbereitet wird«, sagte sie. »Aber ich weiß, dass Vater Kelly ganz eindeutig gesagt hat, dass du zu krank bist, um zu reisen.« Der Baron richtete sich ein Stück weit auf. »Verpflichtungen, meine Liebe. Es ist wichtig, dass Mondegreen beim Rat vertreten ist, und -« »Und -« Sie bremste sich mit einem Blick zu Kethol. »Wenn Ihr uns einen Augenblick entschuldigen würdet, dann werde ich -« »Tu das nicht, meine Liebe. Es wäre sehr undankbar, jemanden, der uns so geholfen hat, einfach wegzuschicken, als wäre er nur ein Diener.« Er zeigte auf den Teebecher. »Er hat nicht einmal seinen Tee ausgetrunken.« 91
Sie kniff störrisch die Lippen zusammen. »Also gut. Dann bringe mich eben vor diesem Mann in Verlegenheit.« »Dich in Verlegenheit bringen? Wie könnte ich so etwas tun?« »Also gut: Ich möchte, dass du dich von mir im Rat vertreten lässt. Es gab schon ähnliche Fälle, wenn auch selten ...« »So etwas könnte ich niemals von dir verlangen, meine Liebe«, sagte der Baron. »Du bist von der Reise hierher immer noch erschöpft.«
Kethol regte sich nicht. Wenn sie ihn nicht bemerkten, würde er vielleicht nicht in einen Streit zwischen einem Baron und seiner Frau verwickelt werden. Um was es hier wirklich ging, wusste er ohnehin nicht genau - der Baron hatte doch schon gesagt, dass seine Frau nach LaMut zurückkehren würde. »Also gut, wenn du mir nicht vertraust«, sagte sie, »wer sonst soll Mondegreen vor dem Rat vertreten? Lord Venten? Benteen?« Kethol kannte die Namen nicht - es war immer gut, sich aus der örtlichen Politik herauszuhalten -, aber der Baron verzog das Gesicht und versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nun, ich nehme an, mein Vetter Alfon könnte -« »Alfon ist ein Idiot und versessen auf deinen Titel.« Der Baron streckte die Hand aus und tätschelte ihren Bauch. »Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde«, sagte er. »Aber ...« Er seufzte. »Ich bitte dich noch einmal, mein Gemahl«, sagte sie. »Schick mich nach LaMut zum Rat, damit ich dort deine Interessen, unsere Interessen, vertreten kann.« Der Baron seufzte und nickte. »Also gut, meine Liebe. Wie du willst.« Er wandte sich an Kethol. »Ich habe großes Vertrauen zu meinen eigenen Soldaten, aber ich erwarte, dass auch Ihr Euch um meine Frau kümmert.« Kethol begriff langsam, wieso der Beutel so schwer war. »Jawohl, Mylord«, antwortete er. »Er will, dass wir was}« Durine schüttelte den Kopf. »Seine Frau beschützen.« 92
»Und Morray?« »Den hat er nicht erwähnt. Aber ich glaube nicht, dass ihn das sonderlich interessiert.« Durine schnaubte. »Ja, aber Tom Garnett und Steven Argent interessiert es. Wir brauchen nicht noch einen Adligen, für den wir Kindermädchen spielen müssen. Wenn uns noch mehr Tsuranis überfallen, wird es schwer genug sein, Morray am Leben zu halten, und der Hauptmann und der Schwertmeister werden sich gewaltig wundern, wenn wir das nicht tun.« »Ich sagte euch ja nicht, was wir tun sollten. Ich sage euch nur, um was man uns gebeten hat.« Kethol balancierte den Beutel auf der Handfläche. »Und wofür man uns gutes Gold zahlt.« »Gold ist eine prima Sache, aber es macht ein Schwert nicht schärfer und eine Hand nicht schneller«, erwiderte Durine. »Ich bin dafür, im Ernstfall den Baron zu schützen und Lady Mondegreen sich selbst zu überlassen.« Pirojil blieb einen Augenblick schweigend stehen und sah zu, wie die Kutsche beladen wurde. Die Käfige mit den Brieftauben und die Ersatztruppen für LaMut wären ohnehin notwendig gewesen, ebenso wie die Säcke mit dem Getreide für die Pferde und die Segeltuchsäcke und Eichenfässer mit dem Proviant für die Männer, die nun auf Wagen verladen wurden. Es war natürlich auch vollkommen möglich, dass die Reisekleidung der adligen Dame nicht einmal ausgepackt worden war und dass man ein frisches Paar hässlicher Zofen bereitgestellt hatte, aber die Truhen, die in die Kutsche geladen wurden, und die Anwesenheit des Vorratswagens ließen auf eine gewisse Vorbereitung schließen.
Warum? Die Dame war eine gute Reiterin und würde es vermutlich vorziehen, im Sattel zu sitzen ... Das alles gefiel Pirojil ganz und gar nicht. »Ich bin derselben Ansicht wie Durine«, erklärte Pirojil schließlich. »Du hast doch keinen Schwur geleistet oder so?« Kethol hatte seltsame Vorstellungen über das Halten von Versprechen. 93
»Nein, nicht wirklich. Aber ich habe ihm auch nicht den Beutel aufs Bett gekippt.« »Scheiße.« »Hm ...« Durine tastete nach dem Griff seines Schwerts und tippte mit dem Zeigefinger ungeduldig darauf. »Ich denke, wir sollten sehen, dass wir unseren Sold bekommen, sobald wir wieder in LaMut sind, und dann überlegen, ob wir uns bis zum Tauwetter nicht in Ylith niederlassen können.« Pirojil nickte. Politik. Die direkten Erben des Barons waren tot, und solange Lady Mondegreen nicht einen weiteren im Bauch hatte, würde es nach Mondegreens Tod sicher zu einigem Streit um die Baronie kommen. Der verdammte alte Narr hatte seinen letzten Sohn und Erben, wahrscheinlich ein Kind aus einer früheren Ehe, davonziehen lassen, damit er von einem Tsurani aufgespießt wurde, aber so waren die Adligen im Königreich nun mal. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig, denn ihre Männer würden sich kaum von jemandem Befehle erteilen lassen, den sie für zu feige hielten, sie im Krieg anzuführen. »Also«, sagte Durine, »wie wäre es, wenn wir die Karawane nach LaMut zurückschaffen - und dabei den Baron und nicht die Lady im Auge behalten -, dort den Sold abholen und in Ylith aus einer Kneipe am Meer zusehen, wie das Eis bricht?« Kethol setzte dazu an, etwas zu sagen, hielt dann aber inne. »Mach schon«, forderte Pirojil, der bereits wusste, was sein Freund sagen würde. »Ich mag diesen Baron«, sagte Kethol. »Er hätte sich wegen der Geschichte von letzter Nacht nicht auf unsere Seite zu stellen brauchen, und er brauchte uns auch nicht sein Gold zu geben. Er bittet einfach nur darum, dass wir unser Bestes tun ...« »Ja. Unser Bestes. Und das legt nahe«, sagte Durine, »dass er Grund hat, an der Loyalität von zumindest einigen seiner Männer zu zweifeln.« »Oder vielleicht ahnt er ja, wie gut wir sind.« Ihr Überleben war Beweis genug, dass sie nicht nur Glück ge94
habt hatten, sondern etwas konnten. Die Tsuranis waren zähe Gegner, und es gab nur wenige Soldaten, reguläre oder Söldner, die auch nur halb so viele Kämpfe überlebt hatten wie diese drei. Durine schüttelte den Kopf. »Nein. Seid ihr je einem Adligen begegnet, der einem nicht vollkommen begeistert erzählen würde, dass seine eigenen Leute die besten sind, die es je gab ? Ich glaube, was uns für diesen Baron so interessant macht, sind unsere politischen Verbindungen - wir haben keine.« Pirojil nickte. »Da könntest du Recht haben.« Genau das hatte er auch gedacht. Kethol runzelte die Stirn. »Wir schaffen es doch sicher, auch auf die Lady aufzupassen«, sagte er. »Ja, und wir können -«
»Still«, warf Pirojil ein. »Wenn ihr einen Augenblick ruhig sein und mich nachdenken lassen würdet...« Wenn der Baron dem Tod so nahe war, wie Kethol behauptete, dann würde es den Nächsten in der Erbfolge sicher nicht stören, wenn sich Lady Mondegreen etwa bei einem Sturz vom Pferd das Genick brach und die Nachfolge damit noch offener wurde. Aber das war nur sinnvoll, wenn ... ... wenn sie bereits schwanger war, und zwar von Mondegreen. Und nach allem, was Kethol erzählt hatte, war es unwahrscheinlich, dass ihr Mann dazu noch genügend Kraft aufbringen konnte ... Was durchaus eine Erklärung für den Ruf der Dame gewesen wäre. Sie war nicht einfach eine unersättliche Adlige, die darauf versessen war, jeden Hengst zu reiten. Sie hatte versucht - und das vielleicht sogar mit der Zustimmung ihres Mannes -, schwanger zu werden. Er versuchte sich an all die Männer zu erinnern, mit denen sie es angeblich trieb. Waren sie alle wie Morray und Steven Argent dunkelhaarig und hatten graue Augen, so wie ihr Mann? Vielleicht suchte sie sich ihre Geliebten ja nach deren äußerlicher Ähnlichkeit mit Baron Mondegreen aus, damit das Kind seinem angeblichen Vater ähnlich sehen würde. 95
Was für ein Gewirr von Intrigen! Vom Standpunkt des Barons und seiner Gemahlin aus hatte diese Reise nach Hause also vielleicht dazu gedient, später behaupten zu können, dass Lady Mondegreen noch einmal das Bett ihres Mannes geteilt hatte, bevor er gestorben war, was ihr Kind zum unanfechtbaren Erben machen und der Baronie die Erbfolgestreitigkeiten ersparen würde. Erbfolgeprobleme konnte niemand im Königreich brauchen, aber besonders nicht hier im Westen, wo es ohnehin schon Streitigkeiten darüber gab, wer Vandros ersetzen würde, wenn er der nächste Herzog würde, und wo all diese Tsuranis noch ihren Teil zur allgemeinen Fröhlichkeit beitrugen. Die ganze Sache klang recht vernünftig, wenn auch heimtückisch, aber an Heimtücke hatte es dem Adel ja noch nie gemangelt. Verflucht, innerhalb von Minuten hatte dieser Baron Mondegreen Kethol auf seine Seite gezogen, und das Letzte, was sie jetzt brauchten, war Uneinigkeit untereinander. Pirojil nickte. »Wir passen auf beide auf - aber der Baron hat Vorrang, verstanden? Ich würde wetten, dass er dieses Schwert nicht nur aus Eitelkeit trägt; also ist er vielleicht dumm genug, es zu ziehen und damit herumzufuchteln, wenn wir nicht in der Nähe sind. Wir müssen demnach darauf achten, dass im Ernstfall immer zwei von uns bei ihm sind und einer bei der Lady, wer immer ihr am nächsten ist. Und wenn wir nur einen retten können, hat der Baron Vorrang. Also, du hast gewonnen, Kethol, was den Schutz für Lady Mondegreen angeht, aber Durine hat Recht, wenn er sagt, wir sollten den Sold abholen und aus LaMut verschwinden, so bald wir können. Wir warten nicht mehr aufs Tauwetter - wir setzen sie in der Burg des Grafen in LaMut ab, und dann ziehen wir nach Süden. Einverstanden?« Kethol nickte, und nach einem Augenblick des Zögerns tat Durine es ihm gleich. Mit diesem Plan konnte er leben. Ja, die Arbeit in der Kaserne wurde bezahlt, aber sich in die örtliche Politik hineinziehen zu
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lassen lohnte sich nicht, und es sah so aus, als steckten sie jetzt schon bis zu ihren recht schnittempfindlichen Hälsen mittendrin. Außerdem würde das Gold von Mondegreen sie für die paar Kupferstücke mehr als entschädigen, die sie noch damit verdienen würden, sich beim nächsten Unwetter auf den Zinnen von LaMut den Arsch abzufrieren. Der schlimmste Teil des Winters war vermutlich vorüber, und sie konnten nach Süden ziehen und die Erneuerung genießen, die der Frühling brachte. Pirojil schauderte. Kethol schüttelte den Kopf. »Ich sage euch, es gibt ein Unwetter.« »Wann?« »Nicht heute und auch nicht morgen, aber bald. Zu bald.« Pirojil schüttelte den Kopf. Wenn sie Glück hatten, würden sie LaMut dann schon hinter sich und ihren warmen Sold in der Tasche haben, aber er hatte das Gefühl, dass es ihnen in letzter Zeit ein bisschen an Glück fehlte. Scheiße.
4 Kalt
Der Himmel war wieder klar. Die Luft schien ein bisschen wärmer geworden zu sein - Durine spürte nicht mehr, wie ihm der Rotz in der Nase gefror -, aber es war immer noch viel zu kalt, als sie aufbrachen, begleitet sowohl von den Truppen Morrays als auch den Leuten aus Mondegreen, die in LaMut ihren Dienst antreten sollten. Vielleicht war dieses »Tauwetter« j a wirklich auf dem Weg. Das wäre keine schlechte Sache. Es war eine viel größere Gruppe als die, mit der sie nach Mondegreen gekommen waren, und das wäre sogar ohne das Kontingent von Morray-Soldaten so gewesen: anderthalbmal so viele Männer aus Mondegreen, wie nach Hause geschickt worden waren, wurden nun nach LaMut entsandt, aber warum das so war, wusste Durine nicht. Es ging ihn auch nichts an. Ihn interessierte nur die Sicherheit von Baron Morray, und außerdem musste er noch dafür sorgen, dass Kethols und Pirojils Absicht, Lady Mondegreen zu bewachen, ihnen dabei nicht in die Quere kam. An einer Weggabelung begegneten sie Lord Verheyen und einer Kompanie seiner eigenen Leute, begleitet von drei Pfadfindern aus Natal, die schon mehrere Wegstunden von Baron Verheyens Festung entfernt waren. Die Pfadfinder trugen wie immer ihre traditionellen dunkel98
grauen Sachen, Hemd und Hose und Umhänge in der gleichen Farbe. Durine hatte nie richtig verstanden, wieso legendäre Pfadfinder sich mit ihrer Kleidung besonders den Umhängen - nicht mehr an ihre Umgebung anpassten. Er, Pirojil und Kethol konnten es sich zwar nicht leisten, viel Gepäck zu haben, aber er hatte sich schnell Kethols Ansicht angeschlossen, dass ein Umhang mehr war als nur Schutz vor der Kälte, mehr als etwas, worin man schlief, mehr als die Grundlage für eine Bahre, auf der man einen verwundeten Kameraden tragen konnte, wenn man denn den Willen und die Zeit dafür hatte, und daher kauften die drei sich immer
Umhänge, die der Jahreszeit angepasst waren. Selbst ein Mann von Durines Statur war im Waldland beinahe unsichtbar, wenn er sich nicht bewegte und den richtigen Umhang trug. Andererseits war es ohnehin beinahe unmöglich, einen Pfadfinder zu sehen, wenn er das nicht wollte. Durine nahm an, dass sie über Kenntnisse verfügten, die ihm verborgen geblieben waren. Er wandte sich wieder dem näher kommenden Adligen zu. Lord Verheyen zügelte sein Pferd. »Seid gegrüßt, Ernest, Baron Morray«, sagte er förmlich. Verheyen war ein kräftiger Mann, dessen weißblondes Haar und Bart in ausgeprägtem Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut standen. Er hatte den Mund zu einem Lächeln verzogen, und die Falten in seinen Mundwinkeln und rund um seine Augen legten nahe, dass er oft und viel lächelte. Er und seine Soldaten hatten ihre Umhänge zurückgeschlagen, sodass die braunen Wappen mit dem roten Kreuz und dem goldenen Falken im oberen linken Quadranten, über dem Herzen, zu sehen waren. Durine bemerkte, dass das Schwert an der Seite des Barons gut gepflegt und benutzt aussah und einen Griff hatte, der eher praktisch als dekorativ war. Das passte zum Ruf dieses Mannes, eine der tödlichsten Klingen im Westen zu führen. Morray erwiderte das Nicken. »Seid gegrüßt, Luke, Baron Verheyen«, entgegnete er. »Ein kalter Tag, um unterwegs zu sein.« »So ist es.« Man hätte denken können, die beiden Männer wären mindes99
tens gute Bekannte, wenn man hörte, wie freundlich sie sich unterhielten, aber auch nur, wenn man dabei nicht ihre Augen beobachtete. Durine tat allerdings genau das, bis der Anführer der Pfadfinder nach vorn ritt und seine Aufmerksamkeit erregte. Es war ein hoch gewachsener, schlanker Mann, der auf seinem kleinen Pony beinahe absurd wirkte, aber das Tier bewegte sich leichtfüßig genug, um vermuten zu lassen, dass es kräftiger war, als es aussah. Der Pfadfinder grüßte den Baron und ließ dann den Blick an den Soldaten in den Waffenröcken von Morray, Mondegreen und LaMut entlangwandern, bis er schließlich auf den drei Männern ruhte, die nicht in Uniform waren. »Sei gegrüßt, Fremder«, sagte er und sah dabei Kethol an. Wie üblich hatte etwas an der Art, wie Kethol aussah, den Mann vermuten lassen, dass er der Anführer war. »Ich bin Grodan aus Natal. Ich erkenne die Uniformen der anderen, aber nicht die deine.« Seine Augen deuteten an, dass er damit alle drei meinte. Trotz ihrer förmlichen Art zu reden hatten Pfadfinder aus Natal Durine bei den wenigen Begegnungen, die er mit ihnen gehabt hatte, immer an Wachtmeister erinnert - sie beobachteten alle skeptisch und hielten nach Einzelheiten Ausschau, die sie eigentlich nichts angingen. »Ich heiße Kethol«, sagte Kethol und zog seinen Umhang zurück, um seinen schlichten grünen Waffenrock zu zeigen. »Ich arbeite für den Grafen von LaMut, ebenso wie meine Begleiter Pirojil und Durine.« Grodan nickte. »In seltsamen Zeiten kommt es zu seltsamen Bündnissen.«
»Das habe ich auch schon gehört«, warf Morray ein. »Wir begleiten gerade Lady Mondegreen nach LaMut, zum gleichen Rat der Barone, an dem auch Baron Verheyen teilnehmen wird. Der Krieg ist wichtig, aber die Grafschaft hat immer noch ihre eigenen Bedürfnisse, und wir sollten -« »Tatsächlich?« Verheyens Lächeln wurde breiter. »Ich dachte, dass ich vielleicht bei der Generalstabssitzung in Yabon mehr von 100 Nutzen sein könnte, aber ...« Er verstummte mit einem Schulterzucken. »Nun, wenn Ihr der Ansicht seid, dass man Euch in Yabon willkommen heißen würde«, erwiderte Morray tonlos, »dann solltet Ihr Euch lieber nach Nordwesten wenden als nach Süden. Wenn diese Pfadfinder hier Euch führen und Ihr Euch wirklich Mühe gebt, werdet Ihr sicher nur ein paar Tage nach Beginn der Sitzung dort eintreffen.« »Lieber nicht.« Verheyen machte eine gleichgültige Geste. »Meine Erfahrung hat mich gelehrt, in Fällen, in denen meine Ansicht von der des Grafen abweicht, lieber das zu tun, was er will.« »Entschuldigt.« Grodan zog eine Braue hoch. »Habe ich richtig gehört? Es ist Lady Mondegreen, die in dieser Kutsche reist, nicht der Baron?« Kethol schüttelte den Kopf. »Der Baron -« »Der Baron«, unterbrach Morray Kethol mit einem raschen, zornigen Blick, »fühlt sich nicht wohl und ist im Augenblick nicht reisefähig. Aber ich bin nicht ganz sicher, was Euch das angeht, Pfadfinder.« Durine wusste nicht, wozu es gut sein sollte, Baron Mondegreens schlechten Zustand geheim zu halten. Der alte Mann würde wahrscheinlich nicht mehr viele Wochen erleben, vielleicht nicht einmal Tage. Aber natürlich wollte keiner hier wissen, was Durine dachte. »Nichts für ungut«, sagte Grodan. »Wie ich schon sagte, in seltsamen Zeiten kommt es zu seltsamen Bündnissen.« Die Pfadfinder betrachteten die Soldaten aus LaMut nicht gerade mit freundlichem Blick, obwohl sie offiziell Verbündete waren. Man durfte nicht vergessen, dass diese Allianz aus der Not und nicht aus brüderlicher Liebe entstanden war - immerhin war es der Großvater des derzeitigen Herzogs von Crydee gewesen, der Walinor geplündert und Natal belagert hatte, als er versuchte, die einstmals keshianische Provinz Bosonia zu erobern. Viele in den Freien Städten hielten das Herzogtum von Crydee für Land, das sie in diesem Krieg verloren hatten. Durine wusste, dass 101 solche Erinnerungen lange vorhielten und man sich normalerweise nicht darauf verlassen konnte, dass Menschen, die einen Groll verspürten, zwischen einem Herzog und dem anderen oder zwischen Generationen unterscheiden konnten. Das war wohl eine Art Fluch der Geschichte. Manchmal war es einfach besser, nichts zu wissen. Inzwischen war ziemlich klar, dass es zu keinem Kampf kommen würde, aber falls das geschehen wäre, hätte Durine es interessant gefunden zu sehen, wie viele Soldaten LaMuts die Pfadfinder erledigen konnten, bevor man sie überwältigen würde. Wie der Pfadfinder jedoch schon gesagt hatte, im Krieg kam es zu seltsamen Bündnissen. Dieses hier würde wohl mindestens noch zwei oder drei Tage halten,
nachdem der letzte Tsurani eliminiert worden war - falls das je geschehen sollte. Vielleicht sogar noch eine ganze Woche: Durine war von Natur aus Optimist. »Nun«, sagte Grodan, »dann sollten wir Euch lieber bis nach LaMut begleiten.« Morray nickte. »Ich bin selbstverständlich froh über Eure Begleitung, und wir wären dankbar, wenn Ihr drei die Spitze übernehmen würdet. Wir hatten auf dem Weg nach Mondegreen ein wenig Ärger mit versprengten Tsuranis, und wenn wir rechtzeitig gewarnt würden, falls sich noch mehr in der Gegend herumtreiben, wäre das gut.« Gut für ihn, dachte Durine. Kethol hatte LaMut noch nie so voller Soldaten gesehen - auch nicht so voller Adliger oder einfacher Leute. Wo immer er sich hinwandte, schien es eine Unmenge von Waffenröcken aus Baro-nien zu geben, jeder mit einem anderen Wappen, obwohl Kethol doch wusste, dass es nur etwa ein Dutzend Barone gab, die an den Grafen von LaMut lehengebunden waren. Und wohin man ging, stieß man auf einen Adligen oder seine Dame, alle jeweils mit eigener Leibwache. Außerdem gab es für jeden Land besitzenden Baron offenbar gleich mehrere Hofbarone, was bedeutete, dass Dutzende von Pagen, Knappen und anderen dienstbaren Geis102 tern von einem Ort zum anderen eilten, alle mit einem Wappen, von dem sie glaubten, dass es ihnen Bedeutung verlieh, das aber von allen anderen ignoriert wurde. Kethol wurde Zeuge eines Handgemenges zwischen zwei jungen Männern, die es wirklich besser hätten wissen sollen, und bei dem es darum ging, wer das Recht hatte, eine Schänke als Erster zu betreten. Die Wachtmeister waren eher amüsiert als verärgert und erfreuten sich boshaft daran, die beiden jungen »Herren« mit Tritten und Faustschlägen ein wenig zurechtzustutzen. Kethol machte sorgfältig einen großen Bogen um das Spektakel; er hatte bereits mehr mit dem Adel und seinen aufgeblasenen Dienern zu tun gehabt, als ihm lieb gewesen war, und das innerhalb einer einzigen Woche. Nur um alles noch komplizierter zu machen, war der Zweittag in LaMut ein Markttag, und der winterbedingte Waffenstillstand hatte die Märkte trotz der bitteren Kälte wieder gefüllt. Überall in der Unterstadt wimmelte es von Händlern, die alles verkauften, was Kethol sich vorstellen konnte - nur keine Söldnerdienste und kein frisches Gemüse. Das Letztere würde bis zum Frühling warten müssen, und falls es brave Bürger von LaMut gab, die die Dienste von Männern wie Kethol, Pirojil und Durine erwerben wollten, dann waren die Märkte der Stadt wohl kaum der richtige Ort dafür. Nahe der Stelle, an der ein reisender Hufschmied seinen Stand aufgeschlagen hatte, verkaufte ein Hühnerhändler seine Waren, die entweder leise glucksend in Käfigen gegen die Kälte protestierten, bereits gerupft und ausgenommen an Haken hingen, an denen sie rasch steinhart gefroren, oder in Einzelteilen am Spieß brieten. Besonders Letztere wurde der Mann schnell los, denn der Geruch nach mit Knoblauch gewürztem Fleisch öffnete die Beutel der Bürger so schnell wie ein guter Taschendieb, und nur eiserne Selbstdisziplin und das Wissen, dass in der Festung warmes Essen auf ihn wartete, hielten Kethol davon ab, sich ebenfalls von ein paar Kupferstücken zu trennen.
Andere waren nicht so zurückhaltend. Ein untersetzter Soldat, 103 der den Umhang zurückgeworfen hatte, um das Verheyen-Wappen auf seinem Waffenrock zu zeigen, schob sich in der Menge nach vorn, drängte ein paar Benton-Männer mit den Ellbogen beiseite, und wenn die Stadtwache nicht in voller Stärke auf dem Markt anwesend gewesen wäre, hätte so etwas trotz der Kälte leicht in einer Schlägerei enden können. Aber die Wache war schnell, sodass der Verheyen-Mann bald schon wieder die Straße entlangging und dabei an einem Hühnerschenkel knabberte, während die Benton-Männer sich in die entgegengesetzte Richtung bewegten und dabei zwei gebratene Hühnerbrüste und zwei Körbe mit Eiern mitnahmen, was nahe legte, dass sie den Markt im Auftrag anderer aufgesucht hatten. Man erkannte Kethol am Tor der Festung und ließ ihn nach einem schnellen Blick auf eine Liste ein - Söldner kamen und gingen in der Burg des Grafen von LaMut nicht, wie es ihnen passte, sondern wurden für gewöhnlich in Kasernen in der Unterstadt untergebracht. Durch das Tor erreichte er einen Hof, der den Bergfried umgab, dann überquerte er den Paradeplatz, der den größeren Teil dieses inneren Hofs einnahm, und gelangte durch einen Vorraum schließlich ins Foyer des Westflügels der Residenz. Der Feldwebel, der dort für die Wache zuständig war, trat ihm in den Weg. »Ich habe schon auf dich gewartet - du bist spät dran«, erklärte er. »Ja, ich weiß«, sagte Kethol. »Ich soll die anderen in den Gemächern des Heereskämmerers ablösen. Aber das geht nur Pirojil und Durine und mich etwas an - ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber es ist nicht deine Angelegenheit.« Wie die meisten Barone, die Lehensmänner des Grafen von LaMut waren, unterhielt Morray eine kleine Residenz in der Hauptstadt der Grafschaft. Selbst zu Friedenszeiten kamen und gingen die Barone in LaMut häufig und taten, was immer man in der Hauptstadt tun konnte - Kethol nahm allerdings an, dass der größte Teil ihrer Zeit und Energie davon eingenommen wurde, noch mehr Steuern aus ihren Bauern und Freisassen herauszuquetschen -, obwohl es wahrscheinlich ungerecht war, so etwas zu 104 denken, und Kethol versuchte stets, gerecht zu sein, zumindest innerhalb der Grenzen seines Geistes. Es gab auch andere Attraktionen in LaMut. Die zwei oder drei Theater in der Stadt waren zwar schon bald nach Ausbruch des Krieges geschlossen worden, aber LaMut war immer noch ebenso kulturelle Hauptstadt der Grafschaft wie politische, und es war verständlich, dass sich die Adligen aus allen möglichen Gründen in der Hauptstadt aufhalten wollten. Zusätzlich zu seinem Haus in der Straße der Schwarzen Schwäne hatte man Morray auch eine kleine Zimmerflucht in der Burg überlassen, wahrscheinlich sowohl wegen seiner Stellung als Heereskämmerer als auch, weil er dadurch einer der wenigen Menschen war, die das Geheimnis der Schatzkammertür kannten. Gold und Silber waren immer klebrig, und sollte es irgendwo einen Adligen geben, der dumm genug war, jedermann Zugang zur Schatzkammer oder zu den Kontobüchern zu gewähren, dann hätte Kethol das sicherlich gewusst. Er wäre der
Erste gewesen, der sich freiwillig gemeldet hätte, die ganze Nacht vor der Schatzkammertür Wache zu halten. Allerdings nur ein einziges Mal. Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Die beiden anderen können noch eine Weile dumm dasitzen und die Tür anstarren, während Baron Morray ruht.« Es schien, als wären sie bei den Soldaten dieser Burg jetzt schon ebenso beliebt, wie sie es in Mondegreen gewesen waren. »Aber der Schwertmeister will dich sehen«, fuhr der Feldwebel fort. »Hat man dir das am Tor nicht gesagt?« Es gab nach Kethols Ansicht viele wunderbare Zeiten im Leben, in denen es am besten war, den Mund zu halten. Also sagte er nicht: Wenn man es mir am Tor gesagt hätte, dann wäre ich ja jetzt wohl nicht hier, oder? Man machte sich in dieser Branche ohnehin schon genug Feinde, und Kethol wollte dem Kreis der seinen nicht noch einen hinzufügen. »Nein, hat man nicht«, erklärte er schließlich. Der Sergeant runzelte die Stirn. »Hart, führe diesen Söldner hinauf zum Adlerhorst«, sagte er zu einem schlaksigen Soldaten mit unstetem Blick. »Er hat anscheinend Schwierigkeiten, dorthin zu gelangen, wo er sein sollte.« 105 Kethol folgte dem Soldaten den Flur entlang und die Wendeltreppe zum Adlerhorst hinauf. Es sah nicht so aus, als würde ihm und seinen Kameraden ernsthafter Ärger drohen, denn sonst hätte schon am Haupttor ein ganzer Trupp Soldaten auf ihn gewartet. Der Mann klopfte kurz an die Tür, dann öffnete er sie, ohne auf ein Wort von drinnen zu warten. »Ah«, Steven Argent blickte von einem Papier auf seinem Schoß auf, »der säumige Kethol ist endlich aufgetaucht.« Er grinste. »Ich befürchtete schon, einen Suchtrupp nach dir ausschicken zu müssen.« Steven Argent warf einen kurzen Blick zu Fantus. Der Feuerdrache hatte sich vor der Feuerstelle ausgestreckt und dabei die Flügel ausgebreitet, um so viel Wärme wie möglich aufnehmen zu können. Die gesamte Burg war vermutlich viel zu zugig für den Geschmack dieses Geschöpfs, aber es hatte zumindest im Augenblick ein angenehmes Plätzchen gefunden, und ein angenehmes Plätzchen war etwas, worum Kethol jeden beneidete, als er nun in Habachtstellung dastand. »Fantus hier«, fuhr der Schwertmeister fort, »ist das genaue Gegenteil von dir: Er ist viel zu leicht zu finden, und zwar immer irgendwo vor meinen Füßen und in der Nähe der Feuerstelle. Er schafft es immer wieder, sich aus dem Taubenschlag hier herunterzuschleichen, und es gelingt mir offenbar nicht, ihn fern zu halten. Wenn er nicht das Haustier des herzoglichen Zauberers wäre, würde sich Fantus bald schon draußen im Wald wiederfinden -ganz gleich, wie kalt es ist.« Der Drache rührte sich ein wenig, als hätte er die Drohung verstanden, warf Argent einen bösartigen Blick zu und schloss dann - offensichtlich zufrieden mit seinem Los - wieder die Augen. Kethol war vollkommen überzeugt, dass Fantus in einem früheren Leben die Hauskatze einer reichen Lady gewesen sein musste. Argent gestattete sich ein klägliches Lächeln. »Oder wie sehr ich mich auch an ihn gewöhnt habe.« Der Schwertmeister blickte auf. »Du warst wirklich nicht leicht zu finden.« 106
Kethols Geste war nicht ganz ein Schulterzucken. »Es tut mir Leid, dass der Schwertmeister wegen mir Unannehmlichkeiten hatte.« Er hoffte, dass dies die richtige Antwort gewesen war, und entspannte sich ein wenig, als Steven Argent abwinkte. »Von Unannehmlichkeiten kann keine Rede sein. Aber warte noch einen Augenblick«, sagte er und bedeutete Kethol mit einer Geste, sich in den anderen Sessel neben der Feuerstelle zu setzen. »Ich sollte diesen Bericht lieber gleich unterschreiben, bevor ich überhaupt nicht mehr weiß, um was es darin geht.« Wieder beugte er sich über die Papiere auf seinem Schoß. »Es ist schon traurig, wenn sich ein ehrlicher Schwertmeister mit all den lästigen Einzelheiten abgeben muss, die die Regierung und Verwaltung einer Grafschaft so mit sich bringt. Ich werde sicher froh sein, wenn der Herzog und Kulgan zurückkehren, um Fantus wieder mitzunehmen, aber noch mehr werde ich mich über die Rückkehr des Grafen freuen, nach der ich mich endlich wieder meinen normalen Pflichten widmen kann.« Kethol ließ sich vorsichtig in dem angewiesenen Sessel nieder, denn der Feuerdrache machte ihn ein wenig nervös. »Er hat es gern, wenn man ihm die Augenwülste krault«, sagte Steven Argent, ohne den Blick von den Papieren abzuwenden. »Man sollte glauben, dass er dann beinahe schnurrt.« »Wenn es Euch nicht stört«, erwiderte Kethol, »behalte ich meine Hände lieber bei mir.« »Mich stört das nicht«, murmelte Argent. »Aber Fantus hat vielleicht andere Vorstellungen.« Als hätte er den Schwertmeister gehört und verstanden, rutschte Fantus zu Kethol und hob ihm den Kopf zum Kraulen entgegen. Kethol war einem Feuerdrachen noch nie so nahe gewesen. Vor Jahren hatte er einmal einen Schwärm frisch geschlüpfter Jungdrachen aus der Ferne gesehen. Es war in einem anderen Kriegswinter gewesen, nicht so kalt wie dieser hier, aber schlammiger, und er hatte die bunten Farben am Himmel genossen, und sei es 107 nur als Vorzeichen des Frühlings. Drachen, groß oder klein, hatten Kethol immer nervös gemacht, und er hatte nicht vorgehabt, jemals einem näher als bis auf Bogenschussweite zu kommen. Ihre Augen schienen zu viel zu sehen; es gab Leute, die behaupteten, dass Drachen sprechen konnten wie Menschen, aber Kethol hatte nicht vor herauszufinden, ob das stimmte. Selbst wenn sie nicht sprechen konnten, war Kethol überzeugt, dass sie klug waren; dieser hier war jedenfalls intelligent genug gewesen, um sich in einem kalten Winter die Zuneigung des Schwertmeisters und den Zutritt zur Küche des Grafen zu erschleichen. Fantus reckte den langen Hals, um Kethol einen kurzen Blick zuzuwerfen, dann beschäftigte er sich wieder damit, dem tosenden Feuer die Flügel im günstigsten Winkel zuzuwenden. Kethol betrachtete das Geschöpf aus zusammengekniffenen Augen. Dann streckte er zögernd die Hand aus und kraulte dort, wo der Schwertmeister ihm geraten hatte. Der Drache streckte den Hals noch ein wenig, dann entspannte er sich, bis er
zufrieden, ja beinahe entrückt schien, was gut zu Kethols Theorie passte, dass Fantus die Reinkarnation einer Katze war. Steven Argent legte endlich seine Papiere auf den kleinen Tisch rechts von ihm, wo sie sicher vor dem Drachen und dem Feuer sein würden, und lehnte sich zurück. »Man hat mir gesagt, du hättest einen Brief für mich und einen für den Grafen.« Gesagt ? Wer sollte denn - Oh. Selbstverständlich Lady Mondegreen. Er versuchte, in der Luft etwas von ihrem typischen Duft nach Patschuli und Myrrhe wahrzunehmen. »Ja«, erwiderte er. »Dann her damit, Mann.« Kethol hörte auf, den Feuerdrachen zu kraulen, damit er den Beutel öffnen und beide Briefe übergeben konnte. Dass einer an den Grafen und nicht an den Schwertmeister adressiert war, sollten die beiden ruhig unter sich ausmachen, nachdem Kethol, Pirojil und Durine abgezogen waren. Steven Argent nahm sich verdächtig wenig Zeit, beide Briefe zu lesen. Entweder war er wirklich ein schneller Leser, oder er kann108 te den Inhalt bereits, aber am wahrscheinlichsten war wohl beides. Er legte die Briefe in seinen Schoß, tätschelte sie und nickte dann. »Es scheint, dass Baron Mondegreen etwas für euch drei übrig hat - besonders für dich.« Er lächelte dünn. »Ich könnte allerdings nicht das Gleiche vom Heereskämmerer behaupten, obwohl dieser Brief die Beschwerden darüber, dass ihr drei Baron Morrays Schlaf gestört habt, in ein etwas anderes Licht rückt.« »Ich -« »Wir lassen die Angelegenheit einfach unter den Tisch fallen.« Steven Argent lächelte. »Ich werde Baron Morray das Gleiche sagen, wenn er das Thema noch einmal zur Sprache bringt. Wahrscheinlich wird er ohnehin nicht -« Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Er wartete, als erwartete er, dass jemand öffnete, dann sagte er: »Komm herein, Ereven.« Der Oberste Diener hatte in einer Hand ein Tablett mit kleinen Brotlaiben und einem großen Stück Blauschimmelkäse und in der anderen eine Flasche Wein und zwei Gläser. Wie immer schaute er ausgesprochen säuerlich drein. »Ich dachte, Ihr wünscht vielleicht eine Erfrischung, Mylord.« Der Schwertmeister nickte. »Es wäre mir lieber, wenn ich mich ein wenig auf dem Übungshof bewegen könnte, aber ich sollte tatsächlich etwas essen.« Er zeigte auf den niedrigen Tisch zwischen den beiden Sesseln. »Und wenn Kethol hier das Angebot von gutem Essen und Wein ablehnen würde, wäre er ein sehr einzigartiger Mensch.« Ereven stellte das Tablett ab und goss beiden Männern Wein ein. Steven Argent ließ den Teller stehen, packte sich die Papiere wieder auf seinen Schoß, griff nach einem Laib Brot und riss etwas davon ab, bevor er sich ein Stück Käse dazu abschnitt und eine einladende Geste in Richtung Kethol machte. Kethol brach die immer noch warme, dicke Brotkruste auf. Es war zu lange her, seit er zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Er hatte selbstverständlich schon gewusst, dass das frische Brot, das 109
die Adligen in der Burg aßen, von besserer Qualität war als die schlichten braunen Laibe, die die Soldaten erhielten, aber das hier war absolut wunderbar und viel besser als alles, was er sich hätte ausmalen können. Wie sein Vater immer gesagt hatte, war Hunger bei weitem die wohlschmeckendste und wirkungsvollste Soße. Der Diener blieb geduldig stehen und faltete die Hände vor dem Bauch. »Ereven«, sagte der Schwertmeister, »wir können allein essen -du brauchst nicht zu bleiben.« Der Diener hätte beinahe gelächelt. »Wie Ihr wünscht, Schwertmeister«, erwiderte er und verbeugte sich. »Werdet Ihr vor dem Abendessen noch etwas brauchen?« »Ich komme schon zurecht. Bitte grüße Becka und deine Tochter von mir«, sagte Steven Argent und entließ den Diener. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, wandte er sich Kethol zu und schüttelte den Kopf. »Man sieht es seiner Tochter schon deutlich an«, sagte Argent leise, als befürchtete er, dass Ereven sie belauschte. »Der Vater muss einer von der Wache sein, da die jungen Diener im Haus sich vor Ereven fürchten, und ein Adliger hätte sich bereits gemeldet, um Vorkehrungen für den Bastard zu treffen. Und damit wird die Sache zu meinem Problem, sobald der Name des Vaters bekannt wird.« Er seufzte. »Das Mädchen will nicht darüber reden, aber ich habe im Augenblick auch nicht vor, sie zu sehr zu bedrängen. Der Graf wird besser wissen als ich, was zu tun ist. Wenn er es mir befiehlt, dann werde ich herausfinden, wer dieser hirnlose Bursche war, und dafür sorgen, dass er dem Grafen gehorcht.« Er verzog das Gesicht, dann aß er noch einen Bissen Brot und Käse und trank das Weinglas in einem Zug leer. »Das hier ist an einem solchen Tag genau das Richtige, wie?« Abermals schaute er zur Tür, wie ein Mann, der es einfach nicht lassen kann, an einem Insektenstich zu kratzen. »Es gibt Gerüchte, dass ich der Vater sei.« Er lehnte sich zurück und seufzte leise, und Kethol fiel auf, dass er sich in der ungewöhnlichen Situation befand, dass man ihm Dinge erzählte, die er lieber nicht hören 110 wollte, und zwar allein aus dem Grund, dass er für den Schwertmeister vollkommen unbedeutend war - etwa so, wie sich Soldaten mit Schankwirten, Barbieren oder einem Fremden unterhalten, der neben ihnen sitzt, kurz bevor sie über die Mauer gehen. Je nach Zeitpunkt und Umständen hätte Kethol einem solchen Mann normalerweise gesagt, er solle sich einen anderen Zuhörer suchen, oder so getan, als höre er geduldig zu, während er den Dummkopf vollkommen ignorierte, aber bei seinem derzeitigen Gegenüber hielt er es für angeraten, hin und wieder zu nicken und dafür zu sorgen, dass er immer den Mund voller Brot und Käse hatte, damit er keine unangemessenen Bemerkungen machen konnte. Argent fuhr fort: »Und das ärgert mich ganz beträchtlich. Man sollte glauben, dass selbst diese Leute hier im Westen wüssten, dass ein Adliger aus dem Osten die Verantwortung für das Mädchen und seinen Bastard selbstverständlich übernehmen würde.« Er schüttelte den Kopf. Kethol schwieg. Adlige Verantwortung war das Problem der Adligen, nicht das seine, und außerdem hatte er den Mund voll mit Brot und diesem ausgesprochen würzigen und köstlichen Käse. Als er jedoch sah, dass der Schwertmeister nun offenbar einen Kommentar erwartete, kaute und schluckte er schnell. Nachdem er
auch das letzte Stück geschluckt hatte, sagte er: »Ihr spracht gerade von Baron Mondegreen, als der Oberste Diener hereinkam.« »Ja.« Der Schwertmeister hatte bemerkt, dass Kethol sich beinahe wehgetan hätte, als er sein Essen herunterschluckte, damit er antworten konnte, daher sagte er nun leise: »Trink noch einen Schluck Wein. Er ist nicht so gut wie die Weine, die man in Ravensburgh oder Rillanon findet, aber er passt recht gut zu diesem Käse.« Kethol zwang sich, seinen Wein in kleinen Schlucken zu trinken und ihn nicht hinunterzustürzen, was ihm lieber gewesen wäre. Er war es tatsächlich wert, ihn vorsichtig zu schmecken, aber nach Kethols Ansicht bestand der Sinn des Weintrinkens an 111 einem kalten Tag vor allem darin, sich von innen her zu wärmen, und je schneller man trank, desto schneller würde der Wein zu wirken beginnen. Steven Argent wartete immer noch darauf, dass Kethol etwas sagte. »Ich ... ich mochte Baron Mondegreen«, sagte Kethol. »Er scheint ein freundlicher Mann zu sein.« Steven Argent nickte. »Das stimmt. Obwohl jene, denen der Stahl hinter seinem Lächeln entgangen ist, diese Unachtsamkeit stets bereut haben. Wie ist sein Gesundheitszustand?« »Er stirbt, Mylord.« Steven Argent seufzte. »Ja, so ist es wohl.« Er tippte auf die Briefe in seinem Schoß. »Das hier sind nicht die einzigen Briefe, die ich aus Mondegreen erhalten habe, wie du zweifellos bereits erraten hast. Vater Kelly nimmt an, dass der Baron innerhalb von ein paar Wochen sterben wird, selbst wenn er im Bett bleibt, und wenn er dumm genug gewesen wäre, bei diesem Wetter zu reisen, hättest du nur eine Leiche nach LaMut gebracht.« Er wartete nicht auf einen Kommentar. »Es ist euch dreien gelungen, Morray am Leben zu halten, und das war euer Auftrag.« Kethol nickte. »Ist dir, von dem Tsurani-Angriff abgesehen, ein weiteres Anzeichen dafür aufgefallen, dass ihn jemand umzubringen versucht?« Kethol schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nichts. Er und Baron Verheyen sind, na ja, beinahe kumpelhaft miteinander umgegangen, und -« »Sie verachten einander. Aber nur weil sie beide auf die Grafschaft versessen sind, sind sie noch keine Idioten.« Argent hielt inne, dann fügte er leise hinzu: »Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.« »Die Grafschaft, Mylord?«, fragte Kethol. »Ist dem Grafen etwas zugestoßen?« Das hätte er doch sicherlich gehört! »Nein.« Steven Argent schüttelte den Kopf. »Graf Vandros geht es gut. Es ist allerdings ein offenes Geheimnis, dass er Feli112 na, die Tochter des Herzogs, heiraten wird - obwohl ich ihn an deiner Stelle lieber nicht darauf ansprechen würde; er ist in dieser Sache ungewöhnlich empfindlich. Da der Herzog von Yabon keinen Sohn und Erben hat, wird Vandros irgendwann Herzog von Yabon sein. Der König wird einen Nachfolger im Amt des Grafen von LaMut ernennen, aber Vandros wird bei der Auswahl viel mitzureden haben. Morray hat den Vorteil, Heereskämmerer zu sein, aber Verheyen hat sich im Krieg
ausgezeichnet - es gibt keine tödlichere Klinge im Westen -, also hat er als militärischer Anführer ebenfalls einen Vorteil. Und so wetteifern Morray und Verheyen um die Gunst des Grafen. Beide wissen, dass Vandros es ihnen übel nehmen wird, wenn sie Unruhe stiften.« Er runzelte die Stirn. »Ich bin überrascht, dass du das nicht wusstest.« Kethol zwang sich, nicht mit den Schultern zu zucken. »Ich hatte nie etwas für Kasernenklatsch übrig.« Was nicht ganz stimmte; man konnte aus dem Kasernenklatsch viel lernen, aber Kethol hatte sich immer viel mehr für die alltäglichen Dinge interessiert, zum Beispiel, wie sehr ein bestimmter Hauptmann dazu neigte, das Leben seiner Leute aufs Spiel zu setzen, oder welche Dienerin besonders entgegenkommend war, und sich selten um so abgehobene Angelegenheiten wie die adlige Erbfolge gekümmert. Ja, sicher, alle hatten Gerüchte über den Hof gehört, über Fehden zwischen Guy du Bas-Tyra und Herzog Borric, Flüstern darüber, dass der König vollkommen den Verstand verloren hatte, dass Prinz Erlands Tod kurz bevorstand oder dass Guy ihn schon ermordet hatte - aber das war relativ unwichtig für Leute, die vor allem interessierte, ob nun die Käfer über die nächste Anhöhe kommen würden oder nicht, um einen in kleine Stücke zu beißen. Da genügte es zu wissen, dass jene, die für die größeren Entscheidungen zuständig waren, sich in Yabon trafen. So schlimm es mit der Politik hier in LaMut auch sein mochte, dort war es wahrscheinlich noch schlimmer, und Kethol hatte immer geglaubt, dass der Unterschied zwischen schlimm und noch schlimmer viel 113 ausgeprägter war - und wahrscheinlich viel tödlicher - als der zwischen gut und besser. »Und ich nehme an«, sagte Steven Argent, »dass ihr jetzt gern wieder unter Tom Garnett Dienst tun würdet?« »Mylord?« »Tom Garnett - ich nehme an, ihr drei wollt wieder in seine Kompanie zurück.« Nach Kethols Ansicht hatten sie Garnetts Kompanie nie richtig verlassen; man hatte ihnen nur einen Sonderauftrag erteilt, ziemlich ähnlich wie damals, als Tom Garnett sie in einer Ruhepause der Kämpfe mit den götterverfluchten Käfern als Späher ausgeschickt hatte. Es war gut möglich, dass Tom Garnett damals zu dem Schluss gekommen war, dass Kethol der Anführer der drei war - und bei solchen Dingen war er das wohl tatsächlich, weil er als Sohn eines Försters aufgewachsen war. »Tatsächlich, Mylord«, sagte Kethol, »haben wir drei darüber gesprochen, und was wir beschlossen haben ... also, wir haben entschieden, dass wir lieber jetzt ausbezahlt und nach Süden ziehen würden, nach Ylith, um dort auf das Tauwetter zu warten.« Der Schwertmeister zog die Brauen hoch. »Bei diesem Wetter?« Er runzelte die Stirn. »Es ist bitterkalt, und es wird eher noch schlimmer werden. Ich habe mit Grodan gesprochen; er sagt, es wird noch einen Schneesturm geben - schlimmer als der letzte -, und diese Pfadfinder haben für solche Dinge ein noch besseres Gefühl als die Magier. Ich hoffe, dass es nicht ganz so schlimm werden wird, wie Grodan
vermutet, aber wetten möchte ich nicht darauf. Ich würde jedenfalls nicht da draußen sein wollen, wenn es losgeht.« »Aber -« »Wenn Grodan Recht hat, dann werdet ihr wahrscheinlich auf halbem Weg nach Ylith im Schneesturm stecken bleiben und bis zum Frühjahr nicht wieder auftauen. Und so angenehm Gold und Silber auch sein mögen«, fuhr der Schwertmeister fort, »man kann Münzen nicht verheizen, um sich zu wärmen. Es wäre doch besser, ein warmes Bett und warmes Essen innerhalb der Stadt114 mauern zu haben, bis es Frühling wird, oder?« Er verzog das Gesicht. »Außerdem mache ich mir immer noch Sorgen um Baron Morray, und selbst wenn ich keine besonderen Anweisungen von Graf Vandros hätte, mich um die Sicherheit des Barons zu kümmern, wäre es mir immer noch lieb zu wissen, dass ihr auf ihn aufpasst.« Ja, Pirojil und Durine hatten in allen Einzelheiten erläutert, wieso das dem Schwertmeister lieb wäre. Das konnte Kethol im Augenblick allerdings kaum ansprechen, und es war vermutlich besser und sicherer, so zu tun, als wären ihm Argents Absichten nicht aufgefallen. »Nun«, sagte er, »wenn wir uns zu dritt abwechseln, schaffen wir es gerade so, den Baron zu bewachen, aber -« »Ihr habt den Hauptmann der Burgwache nicht gebeten, andere Wachen vor seinem Schlafzimmer aufzustellen«, sagte der Schwertmeister und nickte anerkennend. »Wolltet ihr einfach gründlich sein, oder traut ihr keinem anderen?« Kethol zuckte mit den Achseln. »Ihr habt uns angewiesen, den Baron zu schützen, und das haben wir getan.« »Und ihr habt gute Arbeit geleistet; der Baron lebt immer noch und ist eifrig mit seinen Hauptbüchern beschäftigt, wie es sein sollte.« Der Schwertmeister nickte anerkennend. »Deshalb möchte ich, dass ihr euch weiter um ihn kümmert, zumindest, bis er meine Stadt verlassen hat oder dieses Unwetter vorüber ist.« Er spreizte die Finger. »Ich bin sicher, dass ihr nicht so dumm sein werdet, bei diesem Wetter zu reisen, wenn ihr es nicht unbedingt müsst, und das ist nicht der Fall. Außerdem muss der Graf vielleicht noch mehr Söldner einstellen, bevor dieser elende Krieg vorbei ist - und ich möchte nicht, dass sich herumspricht, wir hätten drei Männer ausbezahlt und sie in die Kälte rausgeschickt, wo sie dann gestorben sind. Das würde bei der Rekrutierung nicht gerade helfen.« Kethol schüttelte den Kopf. Er wusste, dass die letzte Bemerkung des Schwertmeisters nur ein Witz gewesen war; aus welchen Gründen Söldner starben hatte kaum Auswirkungen auf die Re115 krutierung, es sei denn, es lag an offensichtlicher Dummheit der Kommandanten; Söldnern ging es in erster Linie um Gold, dann kam lange nichts, und dann ging es immer noch um Gold. Dennoch antwortete er, als wäre der Scherz ernst gemeint gewesen. »Wir würden nichts darüber verraten, Mylord. Das ginge dann ja auch gar nicht mehr.« Argent lächelte weiter, aber sein Blick wurde kühl. »Schwierig wird es, wenn andere erfahren, dass ihr darauf bestanden habt, ausbezahlt zu werden, und LaMut trotz
des heraufziehenden Unwetters verlassen habt. Es würde Gerede geben, und alle möglichen Verdächtigungen würden in Umlauf geraten. So etwas kann leicht außer Kontrolle geraten.« Er schüttelte den Kopf. »Alles in allem denke ich, es wäre besser für alle Betroffenen, euch selbst eingeschlossen, wenn ihr hier bleibt, zumindest bis sowohl das Unwetter als auch der Rat vorüber sind.« Er warf Kethol einen Blick zu. »Bitte treibt mich nicht dazu, darauf zu bestehen.« »Ihr wollt damit doch nicht sagen, dass wir unseren Sold nicht erhalten werden und gehen dürfen, Mylord?« »Nein.« Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Und ich möchte lieber nicht hören, dass ich so etwas auch nur angedeutet hätte.« Er kniff die Augen zusammen und hob einen Finger. »Ich sage nur, dass ich nicht in der Stimmung bin, einen sinnlosen Aufstand unter den Söldnern niederzuschlagen, und genau das wird passieren, wenn ihr drei euch in irgendeiner Kneipe ans Feuer setzt und euch beschwert, dass euch der Schwertmeister nicht sofort ausbezahlen will.« »Mylord, ich -« Argents erhobene Hand schnitt Kethol das Wort ab. »Wenn du mit deinen beiden Freunden an Baron Morrays Tür klopfst und ihr euren Sold verlangt, dann wird er die Kontobücher aufschlagen, um nachzusehen, was euch zusteht, und dann die Schatzkammer im Kerker öffnen, um euch dreien jeden Real und jedes Kupferstück zu zahlen, die euch zustehen. Ich will nicht behaupten, dass ihr das nicht tun könntet. Ich sage nur, dass es im Augenblick eine sehr schlechte Idee wäre.« 116 Die Miene des Schwertmeisters war noch eisiger als der Wind, der durch die Ritzen des Adlerhorstes fegte, und das trotz seines Lächelns - oder vielleicht gerade deshalb. »Und was den Baron angeht«, fuhr er fort, »so werde ich Hauptmann Garnett Wachen vor seinen Gemächern in der Burg aufstellen lassen, sodass ihr drei wenigstens ein paar freie Stunden haben könnt, wenn er schläft. Er sollte in seinem Bett nicht in Gefahr sein - ich möchte einfach nur, dass ihr drei ihn den Rest der Zeit gegen jede Art von Unglück bewacht. Zumindest bis sowohl der Rat als auch der Schneesturm vorüber sind.« Argent goss ihnen noch einmal Wein nach und hob dann sein Glas. »Und wenn wir diese Zeit ohne Probleme überstehen, wird der Graf sicher nichts dagegen haben, wenn ich seiner Wertschätzung mit einem beträchtlichen Bonus zusätzlich zu eurem vereinbarten Sold Ausdruck verleihe. Ebenso wie ich sicher bin, dass ihr zweifellos eure Loyalität dadurch demonstrieren wollt, dass dieses gesamte Gespräch zwischen euch dreien und mir bleibt.« Sein Lächeln wurde boshaft. »Oder hast du damit ein Problem, Kethol?« »Du hast was gesagt?« Pirojil schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, wir bleiben, zumindest bis sowohl der Rat als auch das Unwetter vorbei sind«, erwiderte Kethol. Durine verdrehte die Augen. »Das bedeutet, dass wir hier festsitzen, um Kindermädchen für den hohen Herrn zu spielen und am Ende die Schuld angehängt zu bekommen, falls es ihm und Luke Verheyen doch gelingen sollte, sich gegenseitig abzustechen.«
Pirojil schüttelte den Kopf. »Es ist ja nur ein bisschen länger -« »Bist du etwa froh darüber?«, fragte Durine stirnrunzelnd. »Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht. Aber ich würde sagen, wir können damit leben, zumindest im Augenblick. Ich werde nicht einmal Kethol die Schuld geben, obwohl die Versuchung dazu groß ist.« Durine warf Pirojil einen fragenden Blick zu. »Für 117 mich sieht es so aus, als hätte ihm Argent keine große Wahl gelassen.« Kethol sagte: »So ist es.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Immerhin musste einer von uns zum Schwertmeister gehen und um den Sold bitten. Es hätte jeden treffen können. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Argent einfach nicht mitmacht.« Durine schien verwirrt zu sein. »Also ist es in Ordnung, obwohl man uns keine Wahl lässt, weil es nur noch eine Weile dauert?« Pirojil sagte: »Nein.« Jetzt war Durine vollkommen verwirrt. »Was ist denn dann das Problem?« »Das Problem ist, dass alles gut läuft. Das ist das Problem.« »Das Problem ist, dass es kein Problem gibt?« Pirojil nickte. »Ja. Solange alles gut läuft, wird der Schwertmeister nicht viel ändern wollen. Er sitzt immerhin nur kurzfristig auf dem Stuhl des Grafen. Es ist nicht so, als würde man Steven Argent je zum Grafen von LaMut machen. Er möchte einfach nur, dass Vandros in eine Stadt zurückkehrt, die sich nicht in Aufruhr befindet - und wenn die Zeit gekommen ist, die Söldner loszuwerden, wird Argent das dem Grafen überlassen und es nicht selbst tun.« Er zuckte mit den Achseln. »Nach allem, was er weiß - nach allem, was wir wissen -, könnte der Generalstab durchaus beschließen, den größten Teil der Streitkräfte von LaMut nach Norden zu schicken, nach Bergenstein, oder nach Westen, nach Caldara, oder nach TithOnaka-weiß-wohin. Es wäre ziemlich peinlich - sowohl für den Grafen als auch für den Schwertmeister -, wenn der Herzog beschließt, die Soldaten des Grafen einzusetzen, und Vandros dann zurückkehrt und feststellen muss, dass der Schwertmeister die Söldner, die der Graf von LaMut gerade dem Herzog versprochen hat, schon ausbezahlt und weggeschickt hat.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Fallt bloß nicht auf dieses Ich-bin-nur-ein-SoldatGerede des Schwertmeisters rein und unter118 schätzt ihn. Er ist nicht nur ein Soldat oder Duellant, sondern auch Politiker, und er muss wie einer denken. Deshalb hat Vandros ihm auch die Grafschaft überlassen.« ' »Das gefällt mir alles überhaupt nicht«, sagte Durine. »Ich bin nicht sicher, ob ich diese Attentatsgerüchte glaube, aber -« »Darum geht es doch gar nicht.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Nach allem, was der Schwertmeister gesagt hat, waren es nur ein paar Unfälle, die sich nicht mal wirklich ereignet haben, und ich glaube, er und der Graf sehen Verschwörungen, wo es keine gibt -genau wie Kethol Baron Morrays kleines Bettgeflüster mit dieser Dienerin für etwas anderes gehalten hat.« Die Ränder von Kethols Ohren fingen an zu glühen. Das war wirklich peinlich gewesen. »Was machen wir nun also ?«, fragte Kethol. »Wir können nicht gehen ...«
»Weil du gesagt hast, dass wir bleiben werden? Du hast dich wohl von diesem ganzen Adels- und Ehrengetue anstecken lassen, wie?« »Nein, aber ...« »Ruhig.« Pirojil dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. »Versprechen haben nichts damit zu tun. Wenn wir beschließen zu gehen, dann sollten wir lieber in aller Stille nehmen, was wir haben, und einfach losreiten - den Baron wegen unseres Solds anzusprechen wäre nicht klug, nicht nach der Warnung des Schwertmeisters. Wir könnten uns vielleicht von Hauptmann Garnett noch einen Vorschuss geben lassen - und das sollten wir wahrscheinlich auch, denn sonst fragt er sich nur, warum wir es nicht getan haben -, aber das ist auch schon alles. Wenn wir uns an den Baron wenden und danach irgendwas passiert, gibt man uns die Schuld. Gefällt einem von euch dieser Gedanke? Wollt ihr ohne unser Geld gehen?« »Nein.« Das hatte Durine ohne jedes Zögern gesagt. »Ich denke, wenn wir gehen, dann gehen wir mit unserem Geld.« »Oder wir schreiben es ab und verschwinden von hier«, sagte Pirojil. 119 »Meinst du das im Ernst, oder sagst du das nur, weil du sehen willst, ob ich mich aufrege?« Pirojil lächelte, was er nur selten tat. »Vielleicht steckt ein bisschen von beidem dahinter. Und? Gehen wir?« »Nein.« Durine schüttelte den Kopf. »Ich hab doch schon Nein gesagt - wie oft soll ich mich noch wiederholen? Kethol?« »Ich habe dem Schwertmeister bereits gesagt, dass wir bleiben.« »Ja«, sagte Pirojil, »aber da hat er gefragt. Jetzt frage ich dich. Bleiben wir, oder gehen wir?« Auch Kethol gefiel der Gedanke nicht, den Sold zurückzulassen. Sie hatten einiges angesammelt, indem sie Leichen plünderten und Kethol sich an Glücksspielen beteiligte und bei Schlägereien in Schänken Geld auflas, gar nicht zu reden von dem Beutel, den Baron Mondegreen ihm gegeben hatte - aber der Graf von LaMut zahlte gut, und so viel Gold und Silber zurückzulassen würde bedeuten, dass sie bald schon einen neuen Auftraggeber finden mussten. Außerdem fühlte es sich einfach nicht richtig an, jetzt zu verschwinden. Es ging auch nicht nur um Morray - Kethol war der Baron vollkommen gleichgültig. Da war auch noch die zusätzliche Komplikation um Lady Mondegreen. Er hatte ihrem Mann praktisch versprochen, auf sie aufzupassen, und jetzt davonzulaufen - das war einfach falsch. »Wir bleiben«, sagte Kethol schließlich. Er seufzte. »Immerhin ist da auch noch der Bonus.« Verdammt. Vielleicht war das mit dem Adel wirklich ansteckend.
5
Unwetter
Das Unwetter schlug gewaltig zu. Es hatte ganz plötzlich begonnen, kurz nach dem, was eigentlich die Morgendämmerung hätte sein sollen, und mit einem so ohrenbetäubenden und gar
nicht in diese Jahreszeit passenden Donnerschlag, dass es Durine aus dem ersten anständigen Nachtschlaf geschreckt hatte, den er seit langer Zeit gefunden hatte. Während Blitz und Donner in den nächsten Stunden nachgelassen hatten, hatte der Sturm an Intensität noch zugenommen, und Durine hatte sich tief in seinen dicksten Umhang vergraben und sich in einem Winkel von beinahe fünfundvierzig Grad gegen den Wind stemmen müssen, um es in dem trüben grauen Licht auch nur von der Unterkunft bis zum Bergfried zu schaffen. Danach fühlte es sich im Vorraum des Seiteneingangs beinahe warm an, was lächerlich war, denn obwohl dort ein kleines schmiedeeisernes Kohlenbecken stand, war das Wasser in einem Eimer so fest gefroren, dass er den Eimer samt Inhalt am Schöpflöffel hochheben konnte. Er überlegte, ob er seine Überschuhe mit hineinnehmen sollte -hier würden sie steinhart gefrieren -, aber dann kam er zu dem Schluss, dass es wohl besser wäre, sich nach der Mehrheit zu richten, und er hängte sie an einen Haken an der Wand, so nahe am Kohlenbecken wie möglich, in der Hoffnung, dass sie dort zumindest warm genug blieben, dass er sie hinterher wieder anziehen konnte, ohne dass das gefrorene Segeltuch riss. Er hängte den 121 dicken Umhang daneben, steckte die Handschuhe mit dem Kaninchenfellfutter in den Gürtel und ging an dem vor Kälte zitternden Wachposten vorbei ins Foyer. Es gefiel ihm nicht, den Umhang und das darin verborgene Gold zurücklassen zu müssen, aber es würde dort wahrscheinlich sicher sein - und es war schon besser, sich wegen eines so billig aussehenden Kleidungsstücks keine allzu auffälligen Sorgen zu machen, damit die anderen nicht auf irgendwelche Ideen kamen. Drinnen war es weniger schlimm, als es draußen gewesen war, aber nicht viel. Draußen heulte der Wind wie ein verwundetes Tier, das nicht über den Anstand verfügte, sich zurückzuziehen und irgendwo in Frieden zu sterben. Es krallte sich hektisch in die Mauern und Fenster der Burg und verlangte Einlass. Das einzig Erfreuliche an der ganzen Situation war der Gedanke, dass alle Tsuranis und Käfer im Wald inzwischen wahrscheinlich steif gefroren waren. Sämtliche Fensterläden des Bergfrieds waren schon lange fest geschlossen. Dennoch fegte Schnee durch jede Ritze, die nicht vollkommen versiegelt war. Wenn die Feuer in allen Feuerstellen im Bergfried - Pirojil hatte zwei Dutzend gezählt, obwohl Durine sicher war, dass er einige übersehen hatte - nicht von ganzen Legionen von Dienern durch ununterbrochenes Nachlegen von Holz am Brennen gehalten worden wären, hätte der durch die Kamine fegende Wind sie gewiss schon alle gelöscht. Dennoch, der bitterkalte Schneewind schaffte es immer noch, sich durch die Kamine an den brennenden Feuern vorbeizudrängen und Wasserpfützen auf dem Boden vor jeder Feuerstelle zu hinterlassen, also hatte man schnell die Teppiche weggerollt, sodass sie nicht nass und vor dem Frühling verfaulen würden. Wenn sich die Burgdiener nicht gerade bemühten, die Ritzen zwischen den Mauersteinen, die zuvor unsichtbar gewesen waren, mit Schlamm zu versiegeln besonders die rings um die Fensterrahmen - und die Feuer am Brennen zu halten, waren sie damit beschäftigt, vor den großen Feuerstellen das Wasser aufzuwischen und die Adligen, die sich vor den Feuern versammelt hat-
122 ten, mit einem stetigen Strom von Bechern mit heißem Kaffee, Tee und Brühe zu versorgen. Durine konnte das nicht so recht verstehen. Er wäre einfach dicht am Feuer geblieben und hätte alles vermieden, wofür er sich hätte bewegen müssen. Immerhin ging jede Wärme, die man durch die warme Flüssigkeit erhielt, bei einem Besuch in einem der eisigen Aborterker schnell wieder verloren. Aber die Adligen erleichterten sich wahrscheinlich in ihren relativ warmen Gemächern in Nachttöpfe, statt die hochwohlgeborenen Hosenschlitze zu öffnen oder - noch schlimmer - ihre nackten, zitternden, hochwohlgeborenen Arschbacken auf dem von Eis überzogenen Abortsitz niederzulassen, um dann feststellen zu müssen, dass sie dort festgefroren waren. Wenn Durine die Wahl gehabt hätte, hätte er sein Zimmer überhaupt nicht verlassen. Die Adligen waren ebenfalls früh aufgestanden - ob aus Gewohnheit oder wegen des gleichen Donners, der Durine aus dem Bett geworfen hatte, hätte er nicht sagen können. Als er in die Große Halle kam, sah er, dass Baron Verheyen mehrere Sessel zu dem größeren der beiden Kamine an der Nordwand hatte bringen lassen und sich nun über einem dampfenden Becher leise mit dem Schwertmeister und zwei weiteren Adligen unterhielt, an deren Namen sich Durine nicht erinnern konnte. Es war schwer, sich all diese Namen zu merken, und es war wohl auch nicht die Mühe wert. Durine wusste aus Erfahrung, dass man, wenn man einem von ihnen begegnete, am besten einfach nur den Blick senkte, die Hand an die Stirn führte, leise »Mylord« murmelte und aus dem Weg schlurfte, es sei denn, man hatte den Auftrag, ihn umzubringen - in diesem Fall war es allerdings ebenfalls unwichtig, ob man sich an seinen Namen erinnerte. Unter anderen Umständen wäre es sinnvoll gewesen, sich einmal zu überlegen, welcher der Barone vielleicht als künftiger Arbeitgeber brauchbar war, aber da sie LaMut ohnehin so schnell wie möglich verlassen würden, wäre auch das Zeitverschwendung. An Baron Erik Folson konnte er sich recht gut erinnern, dank 123 dessen strengen Blicks und des wie gemeißelten Kinns. Wenn Fol-son sich nicht bewegte - und er schien viel Zeit damit zu verbringen, eine Art Pose einzunehmen , sah er aus wie die Statue eines Adligen. Er verbrachte auch viel Zeit damit, in Lady Mondegreens Ausschnitt zu starren, der trotz der Kälte erstaunlich tief war. Seine Hände fanden immer wieder ihren Weg zu ihrem Arm, ihrer Schulter oder ihrer Hüfte; aber all das ging Durine nichts an, und da die Dame dem Baron zulächelte und nickte, wenn er etwas sagte, schloss er, dass sie sich nicht daran störte. Sie warf Durine einen kurzen Blick zu und lächelte und nickte, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen mit Baron Folson zuwandte. Baron Langahan, der Lady Mondegreen gegenüberstand, war aus Gründen bemerkenswert, die denen für Folsons Einprägsamkeit genau entgegengesetzt waren. Langahan war klein, dick und kahl, seine Haut braun gebrannt von vielen Jahren, die er offenbar überwiegend draußen verbracht hatte, und er sah eher wie
ein wohlhabender Bauer aus als wie ein Adliger. Unter seinem Fett lag eine Festigkeit, die deutlich machte, dass er seinen Umfang durch schwere körperliche Tätigkeit und schweres Essen gewonnen hatte und nicht durch Faulheit und Untätigkeit. Er hätte überhaupt nicht ausgesehen wie ein Adliger - und besonders nicht wie ein Baron bei Hofe -, wenn da nicht die Ringe mit den Edelsteinen gewesen wären, die er an den dicklichen Fingern trug, und die glatte, knielange, hermelingefütterte Jacke, die ihm die Möglichkeit gab, recht weit entfernt vom Feuer zu stehen. Wie und warum ein Höfling, ein Mann, der offenbar sein gesamtes Erwachsenenleben in Prinz Erlands Burg in Krondor verbracht hatte, wie einer aussah, der viel Zeit draußen verbrachte, erregte Durines Interesse. Aber die versammelten Adligen ignorierten den Söldner, als er vorbeiging, als wäre er ein weiteres Möbelstück, und statt stehen zu bleiben und darüber nachzudenken, wie er diese dreiste Frage stellen konnte, ohne jemanden gegen sich aufzubringen, ging Durine weiter durch die Große Halle und dann den Flur zum Westflügel entlang. 124 Immerhin war es Morgen und demnach Zeit, die Soldaten abzulösen, die Baron Morrays Tür bewachten, während er schlief. Als er dort eintraf, war kein Wachposten mehr an der Tür, und die Tür selbst stand offen. Verflucht. Durine stürzte hinein und erschreckte die junge Dienerin im Zimmer derart, dass sie den Arm voll Holz, den sie trug, auf den Boden fallen ließ. »Wo ist der Baron?«, fragte er leise. Es hatte keinen Sinn, das arme Mädchen noch mehr zu erschrecken, denn es war eindeutig, dass der Baron weg war - sein Bett war gemacht, und die Überreste des Frühstücks standen auf einem Tablett auf seinem Nachttisch. »Ist er schon in der Schatzkammer?« Durine war sich nicht ganz sicher, was die Einzelheiten anging, aber einige Hauptbücher verließen offenbar nie die Schatzkammer im Verlies der Burg, während der Baron es verständlicherweise vorzog, in der relativen Bequemlichkeit seiner Gemächer zu arbeiten und nicht in der feuchten, kalten Kammer im Keller. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso es dich etwas angeht, was seine Lordschaft tut«, sagte sie mit einem Schnauben. Das hatte er nun von seiner Nettigkeit. »Dann komm mit mir, und wir sehen mal, ob der Schwertmeister ebenfalls glaubt, dass es mich nichts angeht, wo der Baron steckt, und wie dankbar er dafür sein wird, dass du mir Informationen vorenthältst.« Er trat vor, um sie am Arm zu packen, aber er hielt inne, als sie die Augen aufriss. »Der Schwertmeister?« Durine nickte. »Falls es dir noch niemand gesagt hat: Der Schwertmeister hat Kethol, Pirojil und mich persönlich damit beauftragt, uns um die Sicherheit des Barons zu kümmern, und wir sind dabei direkt dem Befehl des Schwertmeisters unterstellt.« Steven Argent hatte das zwar nicht direkt ausgesprochen, aber dies war die klare Folge seiner Entscheidung, sie nicht nur hier zu behalten, sondern auch nicht zu
Tom Garnetts Kompanie zurückzuschicken. Durine hätte ein solches Argument nicht gerne 125 dem Hauptmann gegenüber verwendet, aber diese Dienerin war etwas anders. »Ich ... ich sehe nicht, wie es schaden könnte, es dir zu sagen«, murmelte sie und warf einen raschen Blick zur Tür. »Obwohl ich vielleicht lieber erst Va- ... vielleicht lieber erst den Obersten Diener fragen sollte.« Durine hatte bemerkt, dass ihr Bauch ziemlich dick war, aber er hatte es den regelmäßigen Mahlzeiten in der Burg zugeschrieben. Das hier war jedoch offenbar Erevens Tochter, die Schwangere, was zum Teil erklärte, wieso sie glaubte, auf einen Soldaten herabsehen zu können, der nicht einmal einen Waffenrock mit dem Wappen von LaMut trug, von Rangabzeichen gar nicht zu reden. »Wenn du willst - und wenn er in der Nähe ist. Steven Argent ist unten in der Großen Halle.« Sie griff nach dem Klingelseil am Bett und zog dreimal schnell daran, dann zweimal, dann sechsmal und noch einmal. Durine fragte nicht, wofür dieser Code stand, aber was immer es sein mochte, es wirkte, denn nach kaum einer Minute kam der verdrießliche Ereven durch die Tür. »Der Baron«, sagte Durine ohne weitere Erklärung. »Wo ist er?« »Baron Morray?« Ereven runzelte die Stirn. »Hat er Euch das nicht gesagt? Ich dachte, ihr drei solltet seine besonderen Leibwächter sein.« Das dachte ich auch, dachte Durine. »Sagt es mir bitte.« Ereven zuckte mit den Achseln. »Gleich in der Morgendämmerung kam ein Bote. Es gibt wohl ein Problem in der Residenz des Barons - an der Straße der Schwarzen Schwäne, glaube ich -, und er hat beschlossen, sich selbst darum zu kümmern.« »Bei diesem Wetter?« Wunderbar. Wenn sich der Baron zwischen hier und der Straße der Schwarzen Schwäne zu Tode fror, brauchte Durine erst gar nicht zu fragen, wem man die Schuld geben würde. Er kehrte auf dem Absatz um und verließ wortlos das Zimmer. Das sah nicht nach einem guten Tag aus. 126 Pirojil rutschte schon wieder aus und fiel hin, wobei er verzweifelt versuchte, den Umhang mit beiden Händen zusammenzuhalten und sich dabei zu drehen, damit er auf die rechte Seite fallen würde, auf seinen Dolch, was ihm einen weiteren blauen Fleck an der Hüfte einbringen würde, aber das war immer noch besser, als auf die linke Seite und damit auf sein Schwert zu fallen, was ihm noch einen viel größeren blauen Fleck auf dieser Seite eingetragen hätte. Starke Hände halfen ihm auf die Beine, aber nicht, bevor eine halbe Tonne Schnee - so fühlte es sich zumindest an - durch die offene Vorderseite des Umhangs unter seinen Waffenrock gerutscht war. Er hatte sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt, damit ihm weniger kalt war - von warm konnte ohnehin keine Rede sein -, aber er hatte nicht daran gedacht, den verfluchten Schal an seinen Waffenrock zu nähen, und dazu hätte er auch nicht die Zeit gehabt, wenn er daran gedacht hätte, und jedes Mal, wenn er gefallen war, hatte der Schnee eine Gelegenheit gesucht, sich dichter an sein Herz zu drängen.
Schnee war nun mal so. Der Westwind hatte so etwas wie einen Charakter, und zwar einen grausamen. Er hatte sich den Schnee genommen und jede Unebenheit auf der langen Straße in die Stadt in eine Verwehung verwandelt, die mindestens knietief war und oft sogar bis zur Taille ging, und er hatte den Schnee gerade fest genug zusammengeballt, dass man nicht einfach hindurchwaten konnte, aber nicht fest genug, um auch nur Kethols Gewicht tragen zu können. Direkt durch die Verwehungen zu stapfen hätte sie schon erschöpft, bevor sie auch nur die Straße der Schwarzen Schwäne erreicht hatten. Also versuchten sie ununterbrochen, Wechten und Verwehungen zu umgehen, wie drei Kriegsschiffe, die durch Eisschollen manövrierten und dabei auch noch Sandbänken aus dem Weg gehen mussten. Die Straßen waren beinahe leer, was wenig überraschend war. Nur hin und wieder sah man geduckte Gestalten, die Bündel tru127 gen, und niemand blieb stehen, um sich mit Pirojil, Kethol und Durine zu unterhalten. Nicht, dass er im Augenblick in der Laune für ein Gespräch gewesen wäre. Was gab es schon zu sagen? »Kalt genug für dich?« Sie stapften weiter, und dann war Durine mit dem Fallen dran, und Kethol und Pirojil halfen ihm hoch. Sich selbst mit den Armen vom Boden hochstemmen zu wollen war keine gute Idee -das sorgte nur dafür, dass einem der Schnee auch noch in die Ärmel drang. Es war gut, Freunde zu haben, selbst wenn sie dunkle, geduckte Gestalten waren, die sich in Umhänge und Schals wickelten und deren Barte und Brauen von Eis und Schnee überzogen waren. Kethol schlug mit der Faust gegen eine Holztafel am Tor des nächsten Hauses und schüttelte den Kopf, als der Schnee abfiel und ein Wappen sichtbar wurde, das sie nicht kannten. Sie hätten vielleicht jemanden mitnehmen sollen, der sich auskannte - aber wer wäre schon dumm genug gewesen, bei diesem Wetter hinauszugehen, wenn man ihm nicht ein Schwert an die Kehle hielt? Geht einfach die Straße entlang in die eigentliche Stadt, dann die Hauptstraße entlang bis zur Straße der Schwarzen Schwäne, hatte der dämliche Wachposten gesagt, und haltet Ausschau nach dem Holzschild am Tor, das Baron Morrays Wappen mit dem Fuchs und dem Kreis zeigt. Er hatte nicht erwähnt, dass alle Wappenschilder an den Häusern auf der Ostseite der Straße nach Westen wiesen und dass der Schnee sie vollkommen bedeckt hatte und darauf wie fest gebacken saß, und nur ein gewisses Gefühl für Gerechtigkeit ließ ihn bedenken, dass der Mann wahrscheinlich ebenso wenig an solche Komplikationen gedacht hatte wie er selbst, obwohl sich Pirojil ein bisschen mit dem lebhaften Gedanken daran aufwärmte, wie er das Gesicht dieses Soldaten über die mit Schnee verklebten Schilder reiben würde. Außerdem hatten sie gewusst, dass die Straße der Schwarzen Schwäne gegenüber der Schänke zum Abgebrochenen Zahn be128
gann, und man konnte sich darauf verlassen, dass Kethol den Weg zu jeder Stelle, an der er sich schon einmal befunden hatte - besonders, wenn es sich um eine Schänke handelte -, auch noch mit verbundenen Augen finden würde. Viel besser als mit verbundenen Augen konnten sie sich auch nicht orientieren. Die Sonne hätte eigentlich schon hoch am Himmel stehen sollen, aber sie tat ihre Arbeit nicht. Nur ein schwaches, richtungsloses graues Licht schaffte es, sich halbherzig durch den Sturm zu drängen, hin und wieder aufgehellt von einem Blitz im Osten, was stets von einem verspäteten, weit entfernten Donner begleitet wurde, der wie das Knurren eines großen Tieres klang. Das Wappen auf dem nächsten Schild war ihnen ebenfalls unbekannt. Es stellte drei Goldmünzen dar - zumindest nahm Pirojil an, dass es Goldmünzen waren -, aber auf dem danach war tatsächlich Morrays aufgerichteter Fuchs in seinem goldenen Kreis zu sehen. Sie mussten sich zu dritt gegen das Tor stemmen, um es gegen die Masse von Schnee, die dahinter aufgehäuft war, aufdrücken zu können, und sie schoben es nicht weiter auf als unbedingt notwendig. Das Tor war nicht verriegelt, was durchaus vernünftig war, da sich auch niemand im Wachhäuschen befand. Die Mauern der Stadtresidenz eines Adligen waren nicht dazu gedacht, feindliche Armeen fern zu halten, sondern sollten eher Diebe abschrecken und ein wenig Abgeschiedenheit von der Außenwelt bieten. Diese Mauer hatte nicht einmal einen Wehrgang an der Innenseite, und Pirojil fragte sich, ob der Schnee vielleicht Stacheln oder Glasscherben verbarg, die oben auf der Mauerkrone angebracht waren, oder ob die Diebe von LaMut einfach zu höflich waren, sich der Habe eines Adligen zu bemächtigen, während er schlief. Nicht, dass an diesem Tag viele Diebe unterwegs gewesen wären. Es war ein schlechter Tag zum Einbrechen, da zweifellos jeder Adlige oder Gemeine, der die Wahl und auch nur einen Hauch von Vernunft hatte, zu Hause bleiben würde, wo er es leidlich warm hatte. Der Wohnsitz des Barons war nach adligen Maßstäben eher 129 klein: ein zweistöckiges Gebäude, das zu beiden Seiten von ein paar kleineren Häusern aus Flechtwerk und Lehm flankiert wurde. Das Haus hinter dem Hauptgebäude stellte vermutlich das Dienstbotenquartier dar, denn das andere, das sie nur trübe durch den Schnee erkennen konnten, hatte die großen Tore eines Stalls, und wahrscheinlich hatte auch einmal Morrays persönliche Wache hier Unterkunft gefunden - man konnte kaum annehmen, das der Heereskämmerer der Grafschaft ohne sein eigenes Gefolge reiste -, bevor die meisten direkt in den Dienst des Grafen berufen worden waren. Die Fenster des Hauptgebäudes waren fest verschlossen, und mögliche Ritzen in den Läden steckten schon voller Schnee, aber hin und wieder zeigten Funken aus den Kaminen an, dass das Gebäude bewohnt war, obwohl der Wind und der Schnee diese Funken schnell wieder zum Verlöschen brachten und jeglichen Rauch verteilten, bevor er die Gelegenheit hatte, sichtbar zu werden. Ein Vordach über der Tür bot ein wenig Schutz vor dem Wind; also gingen die drei rasch die Stufen zum Haus hinauf und drängten sich darunter.
Durine hämmerte gegen die dicke Eichentür. Es gab keinen Türklopfer; wahrscheinlich empfing man Gäste im Allgemeinen direkt am Tor und kündigte sie irgendwie an, bevor sie die Haustür erreichten. Es gab kein »Wer da?« - die Tür ging einfach nach innen auf, und vor ihnen stand Baron Morray in Hemd und Hose, ein Schwert in der einen und einen Dolch in der anderen Hand. »Wer seid ihr?« Seine Miene war beinahe so kalt wie die Außentemperatur. Durine wich einen Schritt zurück und hob die Hände. »Immer mit der Ruhe, Mylord - wir sind es nur.« Morray senkte beide Waffen, während Pirojil sich still wegen seiner eigenen Achtlosigkeit verfluchte. Ja, es war nur Morray, aber wenn es ein anderer gewesen wäre, einer mit bösen Absichten, dann hätte er Durine aufspießen können, noch während Kethol und er die Waffen zogen. 130 Er wurde nachlässig, und das war schlecht. Nun, zumindest waren die anderen vernünftiger gewesen; Pirojil bemerkte, dass Kethol und Durine ihre Dolche gezogen und so hinter den Unterarmen verborgen hatten, dass der Baron oder jeder andere vor ihnen sie nicht sehen konnte. »Dann steht nicht da und lasst den Wind rein. Kommt ins Haus«, sagte Morray. Er drehte sich um und hob die Stimme. »Alles in Ordnung - es sind nur diese drei Söldner, die mir der Graf auf den Hals gehetzt hat.« Er hatte laut genug gebrüllt, um auch durch die geschlossene Tür des Vorraums in dem eigentlichen Haus gehört zu werden. Sie betraten den Vorraum, und Pirojil schloss die Tür hinter sich, während Kethol und Durine die Gelegenheit nutzten, ihre Messer diskret wieder einzustecken, und die andere Tür plötzlich aufging. Morray ging voran und winkte ihnen, ihm zu folgen. Der Vorraum öffnete sich direkt in so etwas wie die Große Halle des Hauses, obwohl sie nicht ein Zehntel so groß war wie der entsprechende Raum in der Burg. In der Halle befanden sich beinahe zwei Dutzend Männer und Frauen, die im Alter von einem Graubart in dem grob gesponnenen Hemd eines Arbeiters, der in dem großen Sessel direkt vor dem Feuer saß und in eine Decke gewickelt war, bis zu zwei schlafenden Babys reichten, die er in den Armbeugen hielt. Ein Braten drehte sich auf dem Spieß in der Hauptfeuerstelle neben einem großen schmiedeeisernen Topf, und zwei Frauen um die dreißig und ein etwa zehnjähriger Junge kümmerten sich darum. »Zieht diese dicken Umhänge aus, und kommt rein. Ihr könnt die Überschuhe ausziehen, wenn ihr euch ein bisschen aufgewärmt habt«, sagte Morray. Die drei saßen schon bald vor dem Feuer. Pirojil und Durine hatten ihre Schwertgurte an die Stuhllehnen gehängt, während Kethol nur die langen Beine auf einem Schemel ausstreckte. Ohne eine weitere Frage brachte man ihnen dampfende Becher mit Kaffee aus Kesh. 131 Pirojil zog im Allgemeinen Tee vor, aber ein heißes Getränk war ein heißes Getränk, der Becher wärmte seine tauben Hände, und der Kaffee verbrannte ihm
nicht vollkommen den Hals. Außerdem war Kaffee aus Kesh so weit im Norden selten, und das ließ ihn das Getränk noch mehr genießen. Morray stand mitten in der Halle und unterhielt sich leise mit zwei kräftigen Männern, und er wandte seine Aufmerksamkeit den drei Söldnern erst wieder zu, als Pirojil dazu ansetzte aufzustehen. »Setz dich, Mann, setz dich - es ist schrecklich da draußen, und du siehst aus, als würdest du immer noch mehr frieren als ich.« Morray sah ihn stirnrunzelnd an. »Was bringt euch überhaupt an einem Tag wie diesem aus der warmen Burg heraus?« »Genau das wollte ich Euch auch gerade fragen, Mylord.« Morray schnaubte. »Als ob es euch etwas anginge, wo ich hingehe und wo nicht.« »Nichts für ungut, Mylord«, sagte Pirojil, »es geht uns tatsächlich etwas an, weil Graf Vandros persönlich befohlen hat, dass es uns etwas angehen soll. Wir sollen Euch bewachen -« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass an einem Tag wie heute auf den Straßen von LaMut Tsurani-Attentäter lauern«, erklärte Morray »Falls es überhaupt welche gibt, was ich stark bezweifle. Ja, ich bin nicht der einzige Baron, der von Hilfstruppen nach LaMut eskortiert wurde. Ihr solltet einmal hören, wie Verheyen sich beschwert - und das erzählt er wirklich jedem, der es hören will -, dass inzwischen so viele seiner eigenen Leute im Dienst des Grafen stehen, dass ihm kaum noch eine Hand voll geblieben ist. Aber vor seinem Zimmer sehe ich keinen Leibwächter herumstehen oder ... seinen Schlaf stören.« Er warf Kethol einen raschen Blick zu. »Aber darüber sollten wir vielleicht ein andermal reden, denn ich ... also, ich bin deshalb hier, weil man mich hergerufen hat.« Er zeigte auf die gegenüberliegende Wand. »Als der Sturm begann, hat offenbar ein Blitz im Dach des Dienstbotenquartiers eingeschlagen. Wenn der Schneesturm das Feuer nicht bald wieder gelöscht hätte, wäre wahrscheinlich das ganze Haus abge132 brannt, aber auch so ist ein Dachbalken heruntergefallen und in den ersten Stock durchgebrochen, und im Augenblick ist in diesem Gebäude vermutlich alles steif gefroren.« Pirojil nickte. »Also hat man Euch um Erlaubnis gebeten, die Diener in Euer - ins Haupthaus zu bringen?« »Wohl kaum.« Morrays Miene war wieder kalt geworden. »Wenn mein Verwalter dumm genug wäre, gute Dienstboten zu Tode frieren zu lassen, während er auf meine Erlaubnis wartet, sie aus der Kälte zu holen, dann hätte ich Schwerwiegenderes unternommen, als ihn aus meinem Dienst zu entlassen, das kann ich Euch sagen. Nein«, fuhr er fort, und seine Miene wurde weicher, als sein Blick von Kethol zu den beiden Babys schweifte, die in den Armen des alten Mannes schliefen. »Man hat mir nur berichtet, dass alle hierher ins Haupthaus gezogen waren. Ich fand einfach, dass es meine Pflicht war nachzusehen, ob wirklich alles in Ordnung ist. Zumindest, soweit das unter diesen Umständen möglich sein kann.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass wir die Leute vor dem Frühjahr wieder in ihre Räume bringen können, und wahrscheinlich werden wir vorher das Haus vollkommen abreißen und neu bauen müssen. Da Enna und ihre Kinder nun in meinem eigenen Zimmer hier schlafen, werde ich sehr wahr-
scheinlich die nächsten Monate in der Burg verbringen müssen und bis zum Sommer keinen Augenblick der Abgeschiedenheit unter meinem eigenen Dach mehr haben.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Genügten euch diese Informationen? Oder sollte ich noch erwähnen, dass ich versucht war, meinen eigenen Vater für seinen Geiz zu verfluchen, weil er die Nebengebäude aus Flechtwerk und Lehm errichten ließ statt ebenfalls aus gutem Stein?« Darauf gab es nicht wirklich eine Antwort, und der Baron wartete auch nur einen Augenblick, bevor er verärgert brummte: »Wenn ihr drei nicht bei dem schlimmsten Unwetter, das ich je erlebt habe, rausgerannt wärt, hättet ihr mich in etwa einer Stunde wieder in der Burg gefunden, über meinen Büchern, wo ich hingehöre.« Er starrte Pirojil wütend an. »Und nun habt ihr es auch noch geschafft, meine Rückkehr dorthin zu verzögern. Ich habe 133 gerade Diener ausgeschickt, um ein paar trockene Sachen für euch drei zu holen, und ich werde warten müssen, bis ihr euch aufgewärmt und umgezogen habt, bevor ich wieder in die Burg zurückkehren kann, denn sonst würdet ihr mir gleich wieder hinterherrennen und dabei in euren nassen Kleidern erfrieren, oder etwa nicht?« »Ich kann es nicht abstreiten, Mylord, wenn Ihr geht, werden wir Euch begleiten«, sagte Pirojil und nickte. »Immerhin ist das unsere Pflicht, wenngleich es mir Leid tut, dass wir Euch solche Unannehmlichkeiten bereiten.« Morray schnaubte. »Trinkt lieber euren Kaffee.« Er drehte sich um und ging davon. Dann winkte er der Köchin, zeigte auf die drei und dann auf das Essen auf dem Herd. Die Frau nickte, und der Baron verließ das Zimmer mit so wichtigtuerischer Geste wie eh und je. Pirojil hielt einfach nur den Mund, trank seinen Kaffee und schaute erst Kethol an, dann Durine, dann wieder Kethol. Durine zuckte mit den Achseln, und Kethol lächelte. Es war ganz gut, dachte Pirojil, dass man sie bezahlte, um Baron Morrays Leben zu schützen, und nicht, um ihn umzubringen. Was er selbstverständlich getan hätte, aber er hätte sich dabei nicht sonderlich wohl gefühlt. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass er anfing, diesen Baron zu mögen. Der Rückweg zur Burg war sogar noch schlimmer als der zur Straße der Schwarzen Schwäne. Wenn überhaupt, war das Unwetter noch heftiger geworden. Man hätte nicht sagen können, wie viel Schnee wirklich noch vom Himmel fiel und was davon einfach nur vom Wind aufgewirbelt und auf sie zugetrieben wurde, obwohl Pirojil in den wenigen Augenblicken, in denen er stehen blieb, um Luft zu holen, beinahe sehen konnte, wie ganze Schneewehen abgetragen wurden und sich dann sofort im Wind wieder neu bildeten. Es war gefährlich stehen zu bleiben, selbst für einen kurzen Au134 genblick; seine Zehen hatten schon lange aufgehört wehzutun und fühlten sich nun beinahe warm an, und das bedeutete, dass Erfrierungen nur noch Minuten entfernt waren.
Kethol übernahm die Spitze und drehte sich häufig um, um sich zu überzeugen, dass er die anderen nicht verloren hatte. Selbst wenn der Wind einem nicht direkt in die Augen blies, konnte man nur ein paar Fuß weit sehen, und alle Spuren, die sie auf dem Weg zur Residenz des Barons hinterlassen hatten, waren längst wieder zugeweht. Als Nächster kam Durine, und Pirojil hatte darauf bestanden, dass Morray dem großen, kräftigen Mann auf dem Fuß folgte. Dieses eine Mal beschwerte sich der Baron nicht, jedenfalls nicht laut, denn Durines Gestalt schützte ihn vor dem schlimmsten Schnee und Wind. Pirojil war der Letzte in der Reihe und benutzte beide Hände in dem vergeblichen Kampf, seinen Umhang fest zusammenzuziehen und den Sturm draußen zu halten. Den Umhang am Feuer zu wärmen war ein Fehler gewesen; innerhalb von ein paar Schritten war er nass von geschmolzenem Schnee gewesen und wog nun dank Schnee und Eis beinahe dreimal so viel wie sonst. Zumindest hatten sie sich auf dem Weg zu Morrays Residenz zunächst überwiegend nach Osten, also mit dem Sturm, bewegt, ganz gleich, wie sehr er sie in den Rücken gebissen und fauchend auf sie eingedroschen hatte. Aber nun gingen sie dem Wind entgegen, und er schlug einem direkt ins Gesicht, als versuche er Pirojil zu betäuben und ihm dann den Umhang abzuschälen, um ihn schließlich an Ort und Stelle zu Eis erstarren zu lassen. Die Anhöhe zur Burg hinauf war am übelsten, aber es fühlte sich nicht so schrecklich an, denn obwohl die Burgstraße dem Wind ausgesetzt war und Schneeverwehungen sich darüber zogen wie riesige vergrabene Schlangen, konnte Pirojil immer für mehrere Schritte den Kopf aus dem Wind drehen und das Schlimmste von seinem Umhang abfangen lassen. Das Beste jedoch war der Gedanke daran, was sich in der Burg befand: Wärme was jedoch im Augenblick, solange der Wind Eis in jede Pore trieb, die er erreichen konnte, noch ein recht vages 135 Konzept zu sein schien. Manchmal hatte Pirojil das Gefühl, in einem bösen Zauber festzustecken, der ihn immer näher an die Zuflucht des Burgtors brachte, ohne dass er es je erreichen würde. Er stapfte weiter. Und nach einer Ewigkeit, in der er immer erst den rechten, dann den linken Fuß bewegte und dann einen Augenblick innehielt, um Atem zu holen, erschien tatsächlich ein offenes Tor vor ihnen. Er lief hinter den anderen dreien über den Innenhof, mit Beinen, die so taub waren, dass er vor einem Augenblick noch geschworen hätte, dass sie kaum gut genug zum Gehen waren, vom begeisterten Rennen überhaupt nicht zu reden. Dann waren sie drinnen. In dem eisigen Vorraum, in dem es dennoch wärmer als draußen war, sackten alle vier auf die Bänke und hechelten wie Hunde. »Würdet Ihr mir vielleicht einen Gefallen tun, Mylord?«, fragte Pirojil schließlich, als er imstande war, zwischen keuchenden Atemzügen ein paar Worte hervorzustoßen. »Das hängt vermutlich davon ab, worum du mich bittest«, erwiderte Morray, der beinahe ebenso außer Atem war wie Pirojil. Er beugte sich einen Augenblick vor, als wollte er seine Überschuhe aufschnüren, dann lehnte er sich wieder zurück und gegen die Wand und sah dabei mindestens aus wie ein Sechzigjähriger. Der Wind hatte ihm alle Farbe aus dem Gesicht
gesaugt, und sein Bart und selbst die Augenbrauen waren von Eis verkrustet. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und fing nun an, mit den Fingern an dem Eis zu zupfen, dann drückte er die Hände flach auf die Ohren, und Pirojil glaubte einen Moment, dass Morray damit andeuten wollte, er wolle nicht zuhören, bevor er erkannte, dass der Baron nur versuchte, sich die eiskalten Ohren zu wärmen. »Also, Mann, raus damit.« »Falls Ihr noch einmal eine Botschaft aus Eurer Residenz erhaltet - oder falls jemand vorschlägt, Ihr solltet in diesen Sturm hinausgehen -, würdet Ihr dann bitte so freundlich sein, einfach nur etwas in der Richtung von >Bitte kümmert Euch selbst darum, und ich werde zu euch kommen und nachsehen, wenn ihr fertig seid, sobald der Sturm abgeklungen ist< zu sagen?« 136 Morray nickte und hätte beinahe gelächelt. »Darin liegt eine gewisse Weisheit«, stellte er fest, dann beugte er sich noch einmal vor, und diesmal gelang es ihm, sich die Überschuhe aufzuschnüren, obwohl seine vor Kälte starren Finger Probleme mit den Knoten hatten. »Darin liegt tatsächlich eine gewisse Weisheit.« Lady Mondegreen winkte Kethol zu sich. Sie war gerade dabei gewesen, sich mit Langahan, Folson und einem weiteren Adligen zu unterhalten, den Kethol nicht kannte. Er hätte die Große Halle vielleicht auf anderem Weg durchqueren sollen. Die Halle wurde nun in der Mitte von einem langen Tisch geteilt, den man mit mehreren vom Speicher heruntergebrachten kleinen Tischen verlängert hatte. »Kethol, ich höre, dass Ihr heute früh beinahe so etwas wie ein Abenteuer erlebt habt«, sagte sie. »Nun, Mylady, ich habe schon bessere Zeiten erlebt, das könnt Ihr glauben.« Die Spitze seines rechten Ohrs war immer noch taub - es würde interessant sein zu sehen, ob es heilen oder abfallen würde -, aber immerhin funktionierten all seine Finger und Zehen wieder, wenn auch das Laufen immer noch sehr wehtat. Morray hatte verlangt, dass Vater Riley, der Priester Astalons, sich die drei ansah, und dieser hatte sie schließlich für gesund erklärt - aber erst, nachdem er darauf bestanden hatte, dass alle drei wenigstens für ein paar Minuten die nackten Füße in einen Eichenbottich mit aromatischem Wasser tauchten, das der Priester warm hielt, indem er wiederholt einen rot glühenden Schürhaken aus dem Kohlenbecken ins Wasser steckte. Außerdem streute er Kräuter aus einem Lederbeutel hinein und murmelte dabei vor sich hin. Vielleicht waren es diese geheimen Arzneien gewesen, vielleicht auch nur das warme Wasser selbst, es hatte jedenfalls die Farbe in Kethols Füße zurückgebracht, was gut war, und auch das Empfinden, was sich weniger angenehm auswirkte. Nun steckten diese Füße in vollkommen absurden Kaninchenfellpantoffeln, die der 137 Oberste Diener gebracht hatte und die Kethol wohl würde tragen müssen, bis seine Stiefel getrocknet waren. Der Priester war ununterbrochen mit allen möglichen kältebedingten Verletzungen beschäftigt, und Kethol hatte lachen müssen, als man Vater Riley zum Turm gerufen hatte, weil ein dämlicher Diener die Herausforderung eines anderen
angenommen hatte, das Eis von einem Stein zu lecken, und dabei mit der Zunge kleben geblieben war. Der Adlige, dessen Namen Kethol nicht kannte, schnaubte höhnisch. »Ihr habt noch Schlimmeres verdient als ein bisschen Kälte«, erklärte er. »Warum sollte jemand bei diesem Wetter nach draußen gehen, wenn er nicht dazu gezwungen ist?« Er war ein eher kleiner, schlanker Mann mit einem sorgfältig gestutzten, schwarzen Bart, der nahe legte, dass er nicht über viel Kinn verfügte und sich stattdessen eins aus Haaren geschnitzt hatte. Sein scheinbar festgewachsenes höhnisches Lächeln warnte jeden, der Augen hatte, um zu sehen, dass es höchst unklug wäre, eine unpassende Bemerkung zu machen. Nicht, dass Kethol so etwas vorgehabt hätte. Lady Mondegreen zog die Brauen hoch. »Feldwebel Kethol, habt Ihr Baron Edwin von Viztria schon kennen gelernt?« Wieder einmal korrigierte Kethol sie nicht, was die nicht existierende Beförderung anging; er schüttelte einfach nur den Kopf. »Nein, die Ehre hatte ich noch nicht«, sagte er. »Ich nehme an, dass du einer der Söldner bist, die Baron Morray in den Sturm hinausgefolgt sind«, sagte Edwin Viztria kopfschüttelnd. »Nun, jede Minute kommt ein neuer Dummkopf zur Welt. Das habe ich schon immer zu meinem Leibdiener gesagt -dem faulsten Sohn einer Rübe in ganz Triagia -, und nun kann ich wahrheitsgemäß hinzufügen, dass noch drei weitere Dummköpfe in der nächsten Minute zur Welt kommen, die diesem Dummkopf in ein Unwetter folgen werden, das selbst einem Bastard die Eier abfrieren kann!« Langahan schüttelte den Kopf und machte eine Geste zu Lady Mondegreen. »Bitte!« 138 »Ah, es tut mir Leid!« Viztria nickte rasch der Dame zu. »Mylady, bitte verzeiht mir meine ... blumige Ausdrucksweise.« Sie lachte. Sie hatte ein hübsches Lachen, das Kethol an weit entfernte Glocken erinnerte. »Oh, ich fand Eure ... äh ... blumige Ausdrucksweise immer bezaubernd, Edwin«, sagte sie. »Und ich hoffe, dass Ihr Euch wegen mir nicht zurückhalten werdet.« Baron Viztria wandte sich wieder an Kethol. »Ich nehme an, ihr drei habt eure eigene Einschätzung, was die Dummheit dieses Morray betrifft«, sagte er, und sein permanentes missbilligendes Stirnrunzeln vertiefte sich für einen Augenblick. »Wir sind nicht die Art von Männern, die ihre Vorgesetzten kritisieren, Mylord.« »Ha! Nicht, solange adlige Ohren es hören können, nehme ich an, aber ich bezweifle keinen Augenblick, dass ihr aufrichtiger seid, wenn ihr mit euresgleichen redet. Ihr müsstet allerdings noch dümmer sein, als ich bereits annehme, wenn ihr in dieser Gesellschaft zugeben würdet, dass ihr nur euer Draufgängertum beweisen wolltet, indem ihr Morray nach draußen gefolgt seid.« Er schob die Hände in die Taschen seiner knielangen Jacke und forderte Kethol mit einem Blick heraus, ihm zu widersprechen. Kethol schwieg jedoch. »Du siehst aus, als hättest du etwas zu sagen, Mann, also raus damit«, sagte Langahan.
Folson nickte. »Ich bin ebenfalls neugierig - du scheinst nicht in die allgemeine Verdammung von Ernest Morrays Dummheit einstimmen zu wollen, und ich möchte gerne wissen, wieso. Wenn man einmal davon absieht, dass du in der Öffentlichkeit keinen Adligen kritisieren willst.« Nun, es gab Zeiten, wo man seine Meinung sagen musste, selbst vor Adligen, und es kam Kethol so vor, als wäre dies ein solcher Zeitpunkt. »Also gut«, sagte er. »Man hat den Baron heute früh informiert, dass das Dach von einem der Nebengebäude seiner Residenz eingestürzt ist —« »Der Stall?« Folson nickte. »Ich habe ihm schon das letzte Mal, 139 als ich dort zu Gast war, gesagt, dass er ein neues Dach braucht. Aber auf mich hört ja keiner.« »Nein, Mylord, es war das Dienerhaus. Er fühlte sich verpflichtet, nach draußen zu gehen und sich selbst einen Überblick über die Lage zu verschaffen, trotz der Unannehmlichkeiten, die dieses -« »Unannehmlichkeiten?« Viztria zog die Brauen hoch. »Das scheint mir eine recht dürftige Beschreibung dafür zu sein, dass man sich durch einen Schneesturm kämpft.« Kethol zuckte mit den Achseln. »Es war unbequem, und wenn es mich auch nur ein kleines bisschen gewärmt hätte, mich darüber zu beschweren, dann hätte ich ganz bestimmt auf dem Weg zur Straße der Schwarzen Schwäne und auf dem Rückweg geschimpft und geflucht, was das Zeug hält. Aber ich wollte eigentlich nur sagen, dass Baron Morray nicht einfach sinnlos in die Kälte hinausgerannt ist. Er hatte wohl das Gefühl, sich um seine Leute kümmern zu müssen.« Es fühlte sich seltsam an, Morray zu verteidigen. »Und, war alles in Ordnung?«, fragte Lady Mondegreen. »Es ging allen gut, soweit ich das sehen konnte«, erklärte Kethol. »Ich nehme an, einige waren ein wenig verstört.« »Wenn mir das Dach auf den Kopf fiele, würde mich das wahrscheinlich mehr als nur ein wenig verstören«, warf Viztria ein, »und ich bin berüchtigt für meine Unerschütterlichkeit.« Langahan schnaubte verächtlich, und Viztria warf ihm einen finsteren Blick zu. Kethol fragte sich, ob es dabei nur darum ging, die Ortsansässigen davon zu überzeugen, dass die beiden Höflinge hier waren, um einander im Auge zu behalten, oder ob sie einander wirklich nicht leiden konnten. Wie auch immer, es sah nicht so aus, als hätte der Vizekönig sie geschickt, um die Barone in LaMut auszuspionieren. Oder doch? Kethol hatte schon häufig versucht, so zu denken wie Pirojil, aber für gewöhnlich bereitete ihm das nur Kopfschmerzen. Tatsächlich, es fing schon an wehzutun. »Bitte erzählt weiter, Kethol«, sagte Lady Mondegreen. »Nun, vielleicht gab es ein paar kleine Erfrierungen, aber als 140 wir die Residenz des Barons verließen, waren die Diener alle wohlbehalten in seiner Halle, wo sie vermutlich bis nach dem Tauwetter bleiben werden. Tatsächlich könnte es sogar sein, dass es in der Halle des Barons ein wenig wärmer ist als hier.« »Ja, dieses Tauwetter, von dem wir so oft hören, das sich aber nie ereignet«, sagte Viztria mit einem theatralischen Schaudern. »Ich wäre lieber wieder in Krondor, wo
ein Mann zum Abort gehen kann, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dass der Urineiszapfen einen armen Kerl pfählt, der unter dem Erker das Stroh wegschaufelt - ich bitte Euch abermals um Verzeihung, meine Dame.« »Carla, bitte«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe Euch heute schon mindestens ein Dutzend Mal gebeten, mich mit dem Vornamen anzusprechen, Edward.« »Edwin.« »Nun, wenn Ihr meinen Vornamen nicht benutzt, könnt Ihr kaum von mir erwarten, dass ich mich an Euren erinnern kann.« Ihr Lächeln war kokett. Folson betrachtete Kethol forschend. »Baron Morray stürzt sich also in den Sturm, nur um sich zu überzeugen, dass seinen Leuten nichts passiert ist? Interessant.« »Interessant, ja, aber was sagt Euch das?«, fragte Viztria, immer noch mit diesem höhnischen Lächeln. »Ich wette sechs Silberre-als gegen ein verbogenes Kupferstück, dass Luke Verheyen, wenn er davon hört, sofort behaupten wird, der einzige Grund, weshalb Baron Morray sich in den Sturm hinausgewagt hat, bestünde darin, dass er wusste, dass alle hier Versammelten sofort von dem mutigen Mann hören würden, der sich in einen Sturm wagt, weil er um das Wohlergehen seiner Leute besorgt ist.« Langahan neigte den kahlen Kopf leicht zur Seite. »Ihr glaubt also, es sei alles nur Getue?«, fragte er, und seine Stimme triefte beinahe vor Spott. Viztria schnaubte. »Ich glaube weder das eine noch das andere, und ich werde mich auch nicht in diese Fehde hineinziehen lassen. Pah - als hätte ich nicht schon genug Probleme! Aber ich neh141 me eine Geschichte, die ein Mietling erzählt, auch nicht unbedingt für bare Münze.« Er warf Kethol einen Blick zu. »Bist du immer noch hier?«, fragte er. »Solltest du nicht Wache stehen oder irgendein armes Schwein umbringen oder etwas ähnlich Heldenhaftes tun?« »Bitte entschuldigt mich, Mylords, Mylady« Kethol verbeugte sich und ging. Pirojil tastete sich vorsichtig die eisglatte Treppe hinunter, wobei er sich manchmal sogar hinhockte, um die Laterne auf die nächstuntere Stufe zu stellen, damit er Hände und Füße benutzen konnte, um über eine besonders rutschige Stelle hinwegzukommen. Er hoffte nur, dass es einfacher sein würde, wieder nach oben zu gelangen. Das flackernde Laternenlicht zeigte ihm, dass die vergitterten Zellen leer waren. Pirojil hatte keine Ahnung, ob das üblich war oder warum ein Adliger überhaupt jemanden in den Kerker werfen ließ, statt ihm einfach die Kehle durchschneiden zu lassen. Dennoch, es war irgendwie seltsam, dass dieses Gefängnis und die Schatzkammer sich im gleichen Teil der Burg befanden. Die Öllampen, die an den nackten Balken hingen, brannten alle, und ihr Rauch waberte in einer Wolke unter der Decke, als Pirojil an aufgestapelten Fässern vorbei bis zum Ende des Kerkers ging. Er zuckte zusammen, als er etwas huschen hörte, aber dann begriff er, dass es wohl eine Ratte gewesen sein musste, und wenn der Schwertmeister oder Tom Garnett wollte, dass jemand hier die Ratten umbrachte, dann sollten sie einen anderen damit beauftragen. Er nahm sich vor, wenn Kethol herunterkam, um ihn abzulösen, wie er nun Durine hier unten im Burgverlies ablösen würde, eine Flasche Wein mit nach oben zu
nehmen. Nicht eine von den guten Flaschen aus den Regalen, die sich von einer Wand zur anderen erstreckten - die waren vermutlich abgezählt, und er hatte nicht vor, sich mit einer Flasche des Roten erwischen zu lassen, den der Graf bei Tisch trinken wollte, wenn er aus Yabon zurück142 kehrte -, aber er nahm nicht an, dass irgendwer etwas dagegen hätte, wenn er eine Flasche gewöhnlichen Fusels aus einer der Kisten nahm und sich damit in den Schlaf trank. Bevor er mit dem Trinken anfing, würde er jedoch noch seine dicksten Socken anziehen - vielleicht sogar zwei Paar - und darüber die Stiefel. Die Stiefel würden mindestens einen Tag brauchen, um wieder richtig zu trocknen, und wenn er nicht dafür sorgte, dass sie dabei ordentlich gespannt wurden, würden sie schrumpfen, und schmerzende Füße waren erheblich leichter zu verkraften als der Preis für ein neues Paar Stiefel. Nun hatte er das Ende des dunklen Kellerflurs erreicht, wo sich die geschlossene Tür zum Vorraum der Schatzkammer befand, und als er dagegen hämmerte, dauerte es einen Augenblick, bis die verriegelte Klappe des Gucklochs zurückgezogen wurde, obwohl kein Gesicht dahinter erschien. »Hallo, Durine«, sagte er. »Ich bin es nur.« Durines breites Gesicht erschien hinter dem Fenster, und er warf Pirojil einen kurzen Blick zu, bevor er die Tür weit öffnete und ihn hereinließ. Morray schien sie nicht zu bemerken; er saß auf der anderen Seite des Zimmers an seinem Schreibtisch über einige Papiere gebeugt, direkt neben der Eisentür, die zur eigentlichen Schatzkammer führte. Eine kunstvoll gearbeitete Öllampe aus Messing flackerte links vom Schreibtisch, nach Pirojils Ansicht viel zu nahe an den dort aufgestapelten, in Leder gebundenen Büchern, und in einer schlichten Holzschachtel stand eine Hand voll Federkiele neben dem grün gefleckten Tintenfass bereit. Nahe Morrays rechter Hand befand sich ein dampfender Becher, der offenbar Tee enthielt und nicht den Kaffee, den es sonst überall gab. Im Kamin in der Wand hinter dem Baron brannte ein schönes Feuer. Durine beugte sich vor, um ein Scheit nachzulegen, dann schürte er das Feuer mit einem Haken. »Pirojil ist da, Mylord«, sagte er, als Morray nicht aufblickte. »Wer? Oh - gut.« Morray sah stirnrunzelnd auf. »Dann verschwinde jetzt.« Er senkte die Stimme zu einem kaum hörbaren 143 Murmeln. »Als würde sich irgendein Attentäter durch den Kamin schleichen und mich abstechen, während ich hier sitze.« Dann beugte er sich wieder über seine Arbeit. Pirojil reichte Durine seine Lampe. »Sei auf der Treppe vorsichtig.« Durine nickte und ging, und Pirojil verriegelte die Tür hinter ihm. Dann nahm er den dicken Lederhandschuh vom Kaminsims, zog ihn an und goss sich aus dem schmiedeeisernen Teekessel, der auf den Steinen vor dem Feuer stand, einen Becher heißen Tee ein. Der Baron ignorierte ihn und ließ den Blick von einem großen, in Leder gebundenen Buch, in dem er scheinbar gelesen hatte, zu dem sorgfältig mit Linien
versehenen Pergament wandern, auf dem er eine Reihe von Ziffern niederschrieb; dann schaute er wieder zurück. Hinsehen, nachdenken, schreiben, wieder und wieder - es schien schrecklich langweilig zu sein, aber das war schließlich nicht Pirojils Problem. Was es mit diesem »Arbeiten an den Büchern« auf sich hatte, wusste der Söldner nicht genau. Die andere Sache, die mit den Steuern, kam ihm jedoch einfach genug vor: Die Barone trieben die Steuern ein und schickten einen Teil davon zum Grafen, der einen Teil behielt und den Rest zum Herzog schickte, der wahrscheinlich das Gleiche tat und ein wenig zu König Rodric oder Prinz Erland weiterleitete. Der Baron blickte verärgert auf. »Gibt es irgendeinen Grund, wieso du so dastehst?« Er zeigte auf den großen Sessel neben der Feuerstelle. »Wenn du dich dort hinsetzt, werde ich dich nicht aus dem Augenwinkel sehen, und du wirst mich nicht ablenken. Ich würde gerne noch vor dem Essen hier fertig werden, sodass ich wenigstens ein bisschen Zeit damit verbringen kann, Verheyens Lügen über mich zu entkräften.« Sein Tonfall war weniger gereizt, als seine Worte hätten vermuten lassen. »Setz dich einfach nur hin, trink deinen Tee, und ich werde bald fertig sein.« Es gab ohnehin nichts anderes zu tun, also setzte sich Pirojil hin und trank seinen Tee; es war vielleicht ungewöhnlich, Tee trinkend dazusitzen, wenn man auf Wache war, aber unangenehm war 144 es nicht. Er sollte vielleicht versuchen, mehr über diese Buchhal-terei zu erfahren, selbst wenn seine Bedürfnisse diesbezüglich sicher nie so kompliziert sein würden wie die des Heereskämmerers einer Grafschaft. Pirojil konnte addieren, wenn es auch lange dauerte und er hin und wieder Fehler machte - wenn er es oft genug nachrechnete, stimmte es aber immer -, aber es musste noch mehr an dieser Sache sein, und er würde es schon richtig lernen müssen. Wenn sie drei je genug Geld zusammenhätten, um diese Schänke zu kaufen, würde es Pirojils Aufgabe sein, sich mit dem Geld zu befassen. Das war etwas, worüber sie hin und wieder sprachen. Pirojil würde sich um die geschäftliche Seite kümmern. Er hatte von Salador bis Crydee mit Zahlmeistern verhandelt und sollte wohl auch imstande sein, beim Feilschen mit Weinbauern und Brauern, Schäfern und Rinderzüchtern zurechtzukommen, von den Huren im ersten Stock gar nicht zu reden - und Huren sollte es auf jeden Fall geben; es war immer gut, etwas verkaufen zu können, wovon der Vorrat unerschöpflich war. Es gab sicher noch ein paar neue Kaufmannstricks, die er lernen musste, aber damit würde er schon zurechtkommen. Durine würde dafür zuständig sein, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, und falls er es einmal nicht allein schaffte, würden sie ihm immer noch dabei helfen können. Jeder, der besoffen genug war, sich mit Durine anzulegen, würde wahrscheinlich mehr als besoffen genug sein, um Kethol oder ihn nicht zu bemerken, wenn sie sich von hinten mit einem Knüppel anschlichen. Es wäre wahrscheinlich am besten, Durine die ersten Kämpfe allein ausfechten zu lassen, damit er sich einen Ruf erwarb, und dadurch bekannt zu machen, dass die Schänke zu den Drei Schwertern -das klang doch gar nicht schlecht, oder? - ein Ort war, wo ein Mann ein paar Bier, ein warmes Essen und ein bisschen Spaß haben konnte,
ohne dass man ihn belästigte, immer vorausgesetzt, dass er sich selbst ebenfalls benahm. Es war durchaus möglich. Sie würden vielleicht sogar ein paar Frauen finden - ganz nor145 male Frauen, nicht nur die eine oder andere Hure. Besonders nach dem Krieg. Kriege brachten Dinge gewaltig durcheinander, und es wäre durchaus möglich, dass er eine ansehnliche, freundliche Frau finden würde, die zu dem Schluss kam, dass regelmäßige Mahlzeiten und ein sicherer Schlafplatz es wert waren zu erdulden, dass er sie nachts oder vielleicht sogar tagsüber bestieg - sie konnte ja die Augen schließen - oder sogar, jeden Morgen sein hässliches Gesicht sehen zu müssen. Er würde ihr vielleicht sogar ein paar Zugeständnisse machen, wie regelmäßig ein Bad zu nehmen. Das wäre wirklich ein gutes Ende für solche wie sie drei, und es war ein angenehmer Traum und gab ihnen etwas, wofür sie sparen und planen konnten. Selbstverständlich würden sie sehr wahrscheinlich alle tot sein, bevor dieser Traum auch nur annähernd Wahrheit werden konnte. Er warf einen Blick auf die schwere Eisentür zur Schatzkammer. Dort befand sich zweifellos genug Gold, um hundert Schänken zu kaufen, wenn auch nicht genug, um die Männer loszuwerden, die man ihnen hinterherschicken würde, wenn es ihnen tatsächlich irgendwie gelingen sollte, die Stadt mit diesem Gold zu verlassen. Aber es war ein paar Überlegungen wert. Er bemerkte, dass Morray ihn anschaute und auf seltsame Art lächelte. »Du scheinst diese Tür mit einigem Interesse zu betrachten«, sagte der Baron. Pirojils Miene blieb ausdruckslos. »Ich starre nur ins Leere und denke nach, Mylord. Nichts für ungut.« Morray nickte. »Dann mach doch weiter - öffne einfach die Tür und nimm dir, was du willst, wenn du das kannst.« Sein Tonfall war nicht drohend, und er versuchte auch nicht, nach dem Schwertgurt zu greifen, der an seiner Stuhllehne hing. Pirojil schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, den Grafen zu berauben«, sagte er. »Schlecht fürs Geschäft, und noch viel schlechter für meine Gesundheit.« 146 Morray lachte leise. »Mach dir keine Gedanken um dein Geschäft oder um deine Gesundheit - da drin ist mehr als genug, dass eine ganze Legion von euch damit in den Ruhestand gehen könnte. Ich sag dir was: Wenn du die Tür hier und jetzt aufkriegst, dann darfst du gesund und munter mit allem Gold davonziehen, das du tragen kannst. Ich gebe dir mein Wort. Mach schon; versuch, die Tür zu öffnen.« Seine Miene wurde streng. »Es gefällt mir überhaupt nicht, den gleichen Befehl zweimal geben zu müssen, Mann, und ich mag es beim dritten Mal noch weniger.« Pirojil wusste nicht, was der Baron vorhatte, aber es wäre vermutlich das Beste mitzuspielen. Er stellte den Teebecher ab und ging über den weichen Teppich zu der verschlossenen Eisentür. Es war eine solide aussehende Metallplatte, am Rand mit einem etwa fingerdicken aufgenieteten Band aus gebläutem Eisen besetzt. Es gab kein sichtbares Schloss, nur einen schlichten Metallgriff. Pirojil legte die Hand darauf, aber er zögerte, bis
Morrays Nicken und eine Geste ihm klar machten, dass der Baron tatsächlich wollte, dass er versuchte, diese Tür zu öffnen. Er drückte den Türgriff nach unten, erst sanft, dann fester. Er bewegte sich nicht. Er setzte sein gesamtes Gewicht ein, aber der Griff hätte ebenso gut angeschweißt sein können. Er drückte fester und hatte das Gefühl, dass der Griff selbst ein winziges bisschen nachgab, aber er fing nicht einmal an, sich nach unten zu bewegen. Vielleicht gab es einen Trick mit den Nieten. Sie wirkten allerdings fest, und als Pirojil mit den Fingern darüber fuhr, fühlten sie sich auch alle fest an. Was war ihm entgangen? »Es war ein ernst gemeintes Angebot«, sagte Morray, »aber ich war ziemlich sicher, dass es dir nicht gelingen würde, die Tür zu öffnen.« Der Baron stand auf und klemmte sich das in Leder gebundene Buch unter den Arm, dann bedeutete er Pirojil mit der freien Hand, aus dem Weg zu gehen. »Hol bitte die Lampe«, sagte er. Pirojil hob die Lampe vom Schreibtisch, als Morray die Hand 147 auf den Türgriff legte, einen Moment die Augen schloss und die Klinke sanft nach unten drückte. Die Nieten oder etwas anderes berührte er nicht. Morray murmelte etwas, aber die Worte waren vollkommen undeutlich. Der Griff bewegte sich lautlos und leicht. Morray murmelte noch etwas, als er die schwere Tür an ihren verborgenen Angeln aufschwang. Er nahm Pirojil die Laterne ab und ging in den kleinen Raum hinter der Tür. Pirojil folgte ihm nicht, aber er konnte sehen, dass die kleine Kammer voller Regale war, die sich unter dem Gewicht von Hunderten von Baumwollsäcken bogen. Morray ignorierte sie, ging zu einem Bücherschrank, der mit Bänden in unterschiedlicher Größe gefüllt war, und legte das Buch, das er unter dem Arm trug, dort hinein. Er lächelte, als er sah, wie Pirojil die Säcke anstarrte. »Sag mir, welchen ich herausholen soll«, forderte er. »Sehen wir mal nach, was drin ist.« »Aber -« »Bitte.« »Wie Ihr wünscht, Mylord.« Pirojil zuckte mit den Schultern. »Ich nehme das Regal rechts, das zweitunterste Brett, den Sack hinter dem zweiten von rechts.« »Also gut.« Morray nickte. Er nahm den Sack, den Pirojil ihm genannt hatte, löste die Schnur, mit der er zugebunden war, und öffnete ihn. Buttrige Goldmünzen schimmerten im Laternenlicht; Morray steckte die Hand in den Sack, holte Münzen heraus und ließ sie durch die Finger in den Sack zurückrieseln; dann band er ihn wieder zu und legte ihn an seinen Platz. »Ich zeige nicht oft anderen das Innere der Schatzkammer, aber wenn ich es tue, dann lege ich immer Wert darauf, ihnen auch ein bisschen Gold vorzuführen.« Er grinste. »Ich will schließlich nicht, dass jemand auf die Idee kommt, diese Säcke seien nach und nach mit Steinen gefüllt worden, während sie sich in meiner 148 Obhut befanden.« Er schloss die Tür wieder und drehte den Knauf. »Willst du es noch einmal versuchen?«, fragte er.
»Nur, wenn Ihr unbedingt darauf besteht.« Es gab offensichtlich einen Trick beim Öffnen, und Pirojil wollte nicht wirklich wissen, worin er bestand - oder zumindest wollte er nicht, dass jemand wusste, dass er wusste, worin der Trick bestand. Falls irgendwann einmal Gold fehlen sollte, war Unkenntnis immer eine gute Verteidigung. »Oh, du kannst keinen Schaden nehmen«, sagte Morray. »Das Schloss ist verzaubert - es öffnet sich nur für die, die den Zauberspruch kennen, um den Bann aufzuheben, und du kannst dir sicher vorstellen, dass dieser Zauberspruch nicht vielen bekannt ist und dass er eine magische ... Strafe für jene vorsieht, die nahe daran sind, die Tür zu öffnen, aber nicht exakt die richtigen Worte finden.« Pirojil schauderte. Er konnte sich vorstellen, worin diese magische Strafe bestand, und die Wahrheit war vermutlich noch viel schlimmer als seine schlimmste Phantasie. Eines hatten ihn die Jahre gelehrt: Wenn etwas mit Magie zu tun hatte, hielt man sich besser fern. Außerdem, falls Pirojil versuchen sollte, in die Schatzkammer einzubrechen, würde er wahrscheinlich nicht die Tür benutzen. Er entwickelte die Grundzüge von einem halben Dutzend verrückter Pläne, die alle mit Tunneln zu tun hatten, mit Löchern in den Mauern, den alten Bergmannswerkzeugen, die er einmal vor Dorgin gesehen hatte, und mit der Möglichkeit, dass die Götter ihm vielleicht aus reiner Langeweile einmal einen Wunsch gewähren würden; dann verwarf er all diese Ideen wieder und beschloss, zu der trostlosen Wirklichkeit zurückzukehren, die er kannte -sie war nicht sonderlich bequem, aber vertraut. Morray betrachtete die Tinte an seinen Fingern stirnrunzelnd. »Nun, damit bin ich fertig. Ich sollte mir also diese Schreiberflecken abwaschen, etwas Eleganteres anziehen und in die Große Halle gehen. Die erste offizielle Sitzung des Baronsrats findet 149 heute Abend statt, aber ich nehme an, dass er im Grunde bereits begonnen hat.« Er zog die Brauen hoch. »Kommst du mit, oder ziehst du es vor, hier unten zu bleiben und es noch einmal mit der Tür zu versuchen?« Er lächelte. »Wenn du gut aufgepasst hast, dann hast du vielleicht die Zauberworte beinahe gehört.« Beinahe. Pirojil schauderte bei dem Gedanken, wie dieses »beinahe« sich auswirken könnte. »Ich stehe Euch selbstverständlich zu Diensten, Mylord.« Die Schlägerei hatte gerade erst angefangen, als Kethol vor Kälte zitternd in die Unterkunft kam und seinen Umhang ausschüttelte, weil er vorhatte, sich zu einem dringend benötigen Schläfchen hinzulegen. Sechs oder sieben Verheyen-Männer rauften sich mit Morrays Männern, und das Schubsen und Schieben hatte bereits Schlägen und Tritten Platz gemacht, obwohl, soweit Kethol sehen konnte, noch keine Waffen gezogen worden waren. Zumindest nahm er an, dass die Männer alle zu Verheyen oder zu Morray gehörten; in der Unterkunft gab es nur zwei kleine Feuerstellen, eine an jedem Ende des Raums, also hatten die meisten Männer ihre Umhänge um sich gewickelt, und es hätten sich theoretisch also auch ein paar Idioten aus dem Gefolge eines anderen
Barons eingemischt haben können. Wieder einmal dachte er darüber nach, wie unglaublich dumm es doch war zu kämpfen, wenn man nicht dafür bezahlt wurde. Im Augenblick sah es noch mehr nach einer Kneipenschlägerei als nach einem echten Kampf aus, und das war gut so. Wenn jemand ein Messer zog, konnte es schneller hässlich werden, als ein Gaukler einem Bauernjungen am Markttag seine Kupferstücke abnahm. Ein kräftig gebauter Soldat wurde zu Boden gerissen, und ein anderer warf sich auf ihn und drosch mit den Fäusten auf ihn ein, allerdings mehr auf die Brust als auf das Gesicht. Ein anderer fing an mitzumachen. Ein Feldwebel in einem VerheyenWaffenrock versuchte, einen seiner Kameraden zurückzuhalten, aber das gab 150 einem der Morrays nur die Gelegenheit, ihm eins auf den Hinterkopf zu verpassen. Der Feldwebel vergaß sofort, dass er eigentlich hatte Frieden stiften wollen, drehte sich um und versetzte dem Morray-Mann einen donnernden Schlag, der diesen rückwärts über den Steinboden rutschen ließ. Kethol war beeindruckt; der Feldwebel war nicht sonderlich groß, aber er hatte dem anderen einen Schlag verpasst, auf den Kethol stolz gewesen wäre. Soldaten aus anderen Baronien und auch einige aus Morray und Verheyen hielten sich aus der Sache heraus, und die Söldner lagen entweder auf ihren Pritschen oder saßen an den Tischen und sahen interessiert zu, aber sie hoben nicht einmal die Stimme, von einer Hand ganz zu schweigen. Es war ebenso wenig ihr Kampf, wie es der von Kethol war. Die einzige Ausnahme war der Zwerg Mackin. Mackin wurde aus drei Gründen für verrückt gehalten - der erste war sein Entschluss, für Geld zu kämpfen, was bei denen seiner Art sehr selten vorkam, zweitens wegen seiner Neigung, mit Menschenfrauen zu schlafen, womit er unter denen seiner Art der Einzige war, und drittens wegen seiner Tendenz, einfach ins Blaue zu reden, als stünde dort jemand und unterhielte sich mit ihm, was ihn nach Kethols Ansicht selbst für einen Söldner zu etwas sehr Ungewöhnlichem machte. Der verrückte Zwerg sprang von seiner Pritsche, landete mit seinen unmöglich großen, nackten Füßen auf dem harten Steinboden und jubelte dann bei jedem Schlag und jedem Tritt, als wäre er Zuschauer bei einer Sportveranstaltung. Kethol war selbstverständlich schon dabei, sich rückwärts wieder nach draußen zu bewegen. Es sah ohnehin nicht so aus, als wäre dies ein guter Zeitpunkt, sich den Würfelspielern in der Ecke anzuschließen, die in ihrem Spiel kaum innegehalten hatten. Inzwischen stand die Schlägerei - und er hatte genügend solcher Situationen erlebt, um sich als Experten betrachten zu können -kurz davor, wirklich unangenehm zu werden, inklusive eingeschlagener Köpfe, geschwollener Unterkiefer und fehlender Zähne. Er hätte es beinahe nach draußen geschafft, als er mit dem Schwertmeister zusammenstieß, der gerade von draußen herein151 gekommen war und seinen Umhang ausschüttelte, um den Schnee loszuwerden. Steven Argent schob Kethol einfach beiseite und ging in die Unterkunft hinein. »Aufhören!«, schrie er und unterstrich das, indem er nach einer Flasche griff und sie auf dem Boden zerschmetterte.
Es war wohl tatsächlich etwas an diesen befehlsgewohnten Stimmen, dachte Kethol, weil die Schlägerei zu seiner Überraschung sofort aufhörte. Die Männer, die noch einen Augenblick zuvor aufeinander eingeschlagen hatten, trennten sich langsam voneinander und kamen auf die Beine. Steven Argent stand mitten in der Unterkunft und sah einen Mann nach dem anderen an. Kein Laut erklang mehr, wenn man vom Heulen des Windes draußen einmal absah. »Du - und du, und du, du und du«, sagte er und zeigte auf Männer, die sich geprügelt hatten, und dann auf zwei von den Feldwebeln, die dabeigestanden und zugesehen hatten. »Ich habe Arbeit für euch. Wir brauchen ein weiteres Fass Bier aus dem Abgebrochenen Zahn - und zwar gutes Zwergenbier -, und ihr werdet raus in den Sturm gehen, um es zu holen.« Er blieb schweigend stehen, die Hände immer noch auf den Hüften, und bedachte alle nacheinander noch einmal mit einem unendlich verächtlichen Blick, dann rauschte er davon. Kethol zuckte mit den Achseln und breitete den Umhang auf dem Bett aus. Er schnallte sich den Schwertgurt ab und hängte ihn an den Haken, dann legte er sich hin und war wie immer bald eingeschlafen. Das Letzte, was er hörte, bevor die warme Dunkelheit sich um ihn schloss, war das gemütliche, vertraute Geräusch von Würfeln und Münzen auf Stein. Durine warf einen weiteren Arm voll Holz in den Korb neben der Feuerstelle und wischte sich den Dreck ab, bevor er noch ein Scheit ins Feuer legte. Die Diener ignorierten diese Feuerstelle 152 hier nicht unbedingt, aber sie schienen der am anderen Ende der Großen Halle den Vorzug zu geben, und es war einfacher, in die Kälte hinauszugehen und ein bisschen Holz zu holen, als sich mit einem Diener anzulegen. Das war so eine Sache mit der Kälte - solange es Wärme in der Nähe gab, waren ein paar Minuten davon gar nicht so schlimm. Das Scheit zischte ihn leise an, dann begannen erste Flammen am Rand zu züngeln. Beinahe zwanzig Adlige hatten sich an der größeren Feuerstelle am anderen Ende der Großen Halle versammelt, umgeben von ein paar Leuten aus ihrem Gefolge. Pirojil stand so nahe bei Morray, wie er konnte, ohne sich direkt in den kleinen Kreis von Baronen und edlen Damen zu drängen, die sich intensiv unterhielten. Die Soldaten - überwiegend Hauptleute, wenn man einmal von ein paar Ausnahmen wie ihm selbst absah - hielten sich verständlicherweise an die andere Seite der Halle, sodass der Tisch in der Mitte als gesellschaftliche Barriere fungierte. Durine wusste nicht, ob sich die Hauptleute von Besuchern immer in der Großen Halle versammelten oder ob dies nur wegen der derzeitigen Umstände geschah. Wie auch immer, die Männer wirkten entspannt, und kein Adliger gönnte ihnen auch nur einen Blick. Hauptleute wohnten üblicherweise ebenfalls in der Unterkunft auf der abgelegenen Seite des inneren Hofs, und Durine hätte sich an ihrer Stelle dort eine stille Ecke gesucht und darauf geachtet, den Adligen im Bergfried nicht zu nahe zu kommen. Aber das war vermutlich einer der vielen Gründe, wieso er kein Offizier war.
Außerdem gab es in der Unterkunft Würfelspiele und Alkohol, und zweifellos waren auch noch andere Dinge im Gange, die der Ordnung und Disziplin unzuträglich waren. Ein weiser Hauptmann tolerierte weder zu viele solcher Ablenkungen, noch strengte er sich allzu sehr an, sie zu verhindern. Zu viel Ordnung und Disziplin waren schlecht für die Ordnung und die Disziplin. Man brauchte ein gewisses Gleichgewicht, um die Moral aufrechtzu153 erhalten, und da durch das Unwetter alle Soldaten hier so gut wie eingeschlossen waren, würde die Lage jeden Tag angespannter werden, auch ohne zusätzliche Reizpunkte. Es war schon zuvor schlimm genug in LaMut gewesen, in dieser Zeit, an die er sich nur noch trübe erinnerte, obwohl es erst ein paar Tage her war, als der Winter einfach nur dafür gesorgt hatte, dass es kalt und schlammig war, ohne sich wie ein Menschen fressendes Ungeheuer auf alles zu stürzen. Tom Garnett brachte gerade seine Geschichte über die Nacht der Käfer zu Ende. Durine hatte nicht genug aufgepasst um zu wissen, ob der Hauptmann alle Einzelheiten exakt berichtet hatte, und das hätte er wohl auch nicht einmal sagen können, wenn er genauestens zugehört hätte, denn er und die beiden anderen waren viel zu sehr mit ihrem kleinen Teil des Kampfes beschäftigt gewesen, um sich sonderlich darum zu kümmern, was andere taten. Ein anderer Hauptmann, vielleicht einer von Verheyens Leuten, ließ sich in einen dick gepolsterten Sessel fallen, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Diese Sache hat nur ein Gutes«, sagte er, schloss die Augen und faltete die Hände vor dem flachen Bauch, »wir brauchen uns im Augenblick zumindest keine Gedanken um einen Angriff der Tsuranis zu machen.« »Und das«, warf Tom Garnett ein, »macht es natürlich zu einem perfekten Zeitpunkt für einen Angriff.« »Ein perfekter Zeitpunkt?« Der Hauptmann ließ die Hände an die Seiten sinken und setzte sich sichtlich verärgert wieder auf. »Zweifellos. Aber hätten sie auch die Möglichkeit dazu?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht. Wenn tatsächlich welche da draußen sind, die so dumm sind, sich bei einem solchen Unwetter vor die Tür zu wagen, würde der Schneesturm sie schon für uns erledigen. Falls wir noch nicht jeden einzelnen dieser Mistkerle aus LaMut vertrieben haben -« »Was nicht der Fall ist, oder meine Männer haben eine ganze Gruppe nicht existierender Tsuranis getötet, und das erst vor ein paar Tagen«, erklärte Tom Garnett. 154 Der Hauptmann nickte und war anständig genug zuzugeben, dass sein Gegenüber Recht hatte. »Ja, und nach allem, was ich gehört habe, habt ihr euch gut geschlagen. Aber es war weniger als eine Kompanie, nicht wahr?« Garnett nickte. »Das stimmt.« »Und falls noch mehr irgendwo in der Nähe von LaMut gesichtet wurden, dann hoffe ich, dass man mir davon berichten wird. Soweit ich allerdings weiß, befinden sich die nächsten Tsuranis irgendwo östlich der Grenze zu den Freien Städten, wenn auch nicht weit östlich. Und in Yabon gibt es erfreulicherweise nur noch ein paar.«
»Ja«, sagte Tom Garnett mit einem raschen Nicken. »Ich bin froh, dass es nicht mehr waren. Ich wünschte, es wären weniger gewesen. Aber echt waren sie schon, das kann ich Euch sagen.« »Nun ja.« Der Hauptmann trank einen Schluck Kaffee. »Aber von ein paar Versprengten abgesehen, die versuchen, zu ihren eigenen Linien zurückzukehren, glaube ich, dass es vorüber ist. Zumindest im Augenblick. Später? Das bezweifle ich - ich habe Gerüchte gehört, dass es oben in Crydee erheblich heißer geworden ist, und sogar Gerüchte darüber, dass die Tsuranis dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind.« Er verzog den Mund. »Aber selbst wenn das wahr sein sollte, möchte ich immer noch wissen, ob und wie sie eventuell zurückkommen könnten, und wo.« »Ja, es gibt viele Gerüchte«, sagte ein anderer Hauptmann. Er war um die fünfzig, hatte einen buschigen Schnurrbart unter der gebogenen Nase und verschluckte beim Reden stets das Ende eines jeden Worts. Er trank einen Schluck Wein, starrte ins Feuer und kroch noch tiefer in seine Jacke hinein. »Und die Gerüchte darüber, was in Krondor geschieht, gefallen mir überhaupt nicht.« Tom Garnett warf einen Blick zu den Adligen am anderen Ende der Halle, dann sah er den Hauptmann stirnrunzelnd an. »Und nur für den Fall, dass es uns dienen könnte, diese Gerüchte weiterzuverbreiten, sollten wir auf keinen Fall noch mehr von diesem wunderschönen Tag mit anderen Themen verschwenden und sofort damit anfangen, oder nicht, Hauptmann Karris?« 155 Karris fuhr zornig auf, aber dann beruhigte er sich wieder und hob die Hand zu einer entschuldigenden Geste. »Das ist ein gutes Argument, Tom, wahrhaftig - ich kann nur hoffen, dass ich selbst ebenfalls so reagieren würde, wenn ein anderer dumm genug gewesen wäre, das zu sagen, was ich gerade gesagt habe. Sicher, hin und wieder fragt man sich schon, aber es ist eine andere Sache, ob man diese Fragen auch laut aussprechen muss.« Garnett nickte. »Das dachte ich jedenfalls immer.« Seine Mundwinkel zuckten. »Man kann nicht den ganzen Krieg alleine ausfechten; ich war immer der Ansicht, wenn ich mich um meinen kleinen Teil davon kümmere, ist das mehr als genug für mich und meine Kompanie, und ich werde die größeren Stücke lieber den Männern mit den Titeln und der Verantwortung überlassen.« »Nun, dann seid Ihr ein besserer Mann als ich«, warf ein anderer Hauptmann ein. »Ich gebe gern zu, dass diese Dinge mich nervös machen. Es sind sorgenvolle Zeiten; ich weiß nicht, wie es euch geht, Jungs, aber ich habe schon so lange keine Nacht mehr durchgeschlafen, dass ich mich kaum mehr daran erinnern kann, wie sich das anfühlt.« »Eine Nacht durchschlafen!« Karris lachte verbittert. »Ruhiger Nachtschlaf ist ein Mythos. Ich habe mir so lange Sorgen gemacht, was hinter der nächsten Anhöhe liegen mag, dass sich meine Gedanken im Kreis drehen und überschlagen, wenn ich mich innerhalb von vier Wänden befinde. Ich fühle mich wie ein Pferd, das nicht aufhören kann zu galoppieren, obwohl es mit einer Longe an einen Pfosten gebunden ist; ich drehe mich nur im Kreis.« Brummend kam er auf die Beine. »Und da ich im Augenblick ohnehin nichts Besseres zu tun habe, will ich lieber dafür sorgen, dass meine kleinen Jungs und eure kleinen Jungs auch schön brav
miteinander spielen. Es ist wirklich nicht notwendig, dass der Schwertmeister sich noch einmal einmischt, nur weil sie ebenso unter Hüttenkoller leiden wie ich. Die meisten haben nicht mal das bisschen Verstand, das die Götter einer Rübe geben würden, also werden sie wohl kaum auf sanfte und weise Worte hören, wie Ihr sie gesprochen habt. Etwas Strengeres könnte jedoch helfen, 156 wie etwa: >Du hältst eine Sonderwache.<« Er lächelte. »Wenn ich mir das recht überlege, würde eine Sonderwache auf den Mauern im Augenblick eine ziemlich ernste Strafe darstellen.« Draußen heulte der Wind wie in Übereinstimmung mit Karris. Tom Garnett lachte leise. »Ganz bestimmt.« Er schaute Karris hinterher, als dieser auf den Vorraum zumarschierte, dann stand er auf und holte eine kleine Bruyerepfeife aus der Tasche. Er tätschelte einen Augenblick seine Hosentaschen und wollte gerade nach dem Lederbeutel greifen, der auf dem Boden neben ihm lag, als ein anderer Hauptmann ihm einen kleinen Beutel zuwarf. »Danke, Willem«, sagte Garnett. Er füllte die Pfeife mit Tabak, zündete sie mit einem langen Kienspan an und paffte, bis er mit dem Rauch zufrieden war. »Man sollte lieber genießen, was man kann, solange man kann, wie?« Mit dem Pfeifenstiel zeigte er in Richtung Vorraum. »Das ist es, was mir da draußen am meisten gefehlt hat. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Tsuranis den Rauch meilenweit riechen können, und ich hielt es meistens nicht für eine gute Idee, sie wissen zu lassen, wo wir waren.« Er paffte weiter. »Aber mein Pfeifchen hat mir gefehlt.« Ein anderer Hauptmann lachte leise. »Mir haben ... weichere Dinge gefehlt als eine gute Pfeife«, sagte er. »Und ich fürchte, so wird es im Frühling wieder sein. Ich bin im Augenblick einfach froh, dass ich nicht in dem Unwetter da draußen bin und auch nicht an der Front stehe.« Bei dieser Bemerkung fegte eine plötzliche Bö durch den Raum und ließ Funken und Asche aus der Feuerstelle fliegen. Der Hauptmann schlug danach, als ein Stück brennender Asche drohte, seine Hose in Brand zu setzen. »Der Frühling scheint allerdings noch in weiter Ferne zu liegen. Glaubt Ihr, dass wir nach Westen, nach Crydee, geschickt werden? Oder nach Norden? Oder wird man uns hier behalten, für den Fall, dass sich die Tsuranis auf Krondor zubewegen?« Tom Garnett paffte. »Wahrscheinlich alles davon und noch mehr. Deshalb treffen sich unsere Vorgesetzten ja jetzt gerade in 157 Yabon. Aber was hier und jetzt angeht-wie ich schonsagte, wenn es da draußen noch versprengte Tsuranis gibt, sind die wohl gerade damit beschäftigt zu erfrieren und haben gar keine Zeit, um uns anzugreifen. Ich erwarte, dass wir im Frühjahr einige Leichen finden werden.« Der andere Hauptmann nickte. »Väterchen Frost, wie man in den Steppen von Donnerhölle sagt, kann ein mächtiger Verbündeter sein - und wir brauchen alle Verbündeten, die wir kriegen können.« Er warf Durine einen angewiderten Blick zu. »Selbst wenn wir einige davon für das Privileg ihrer Zusammenarbeit bezahlen
müssen.« Der Mann hatte geschwiegen, bis Karris weg war, und hatte ihm mit kaum verhohlener Feindseligkeit hinterhergeschaut. Tom Garnett blickte ebenfalls zu Durine, der nur ausdruckslos zurückstarrte. »Durine«, sagte er. »Hattest du schon das Vergnügen, Hauptmann Ben Kelly aus der Baronie Folson kennen zu lernen?« »Nein.« Durine schüttelte den Kopf. »Das hatte ich nicht.« Kelly nickte kühl. »Nein, man hat uns nicht vorgestellt, und ich habe eine solche Bekanntschaft auch nicht angestrebt. Ich habe wenig für Söldner übrig, aber ich nehme an, in solchen Zeiten muss man eben Zugeständnisse machen.« Durine schwieg, und Kelly deutete das offenbar als ein Zeichen von Schwäche und nicht von Zurückhaltung. »Nichts zu sagen, wie? Du hast eine schöne Sammlung von Narben, aber deine Zunge scheint zu funktionieren, und -« »Bitte, Hauptmann«, sagte Tom Garnett. »Wenn Ihr ein Problem mit dem Mann habt, dann bringt es mir gegenüber zur Sprache - er gehört zu meiner Kompanie, und daher bin ich für ihn verantwortlich.« »Entschuldigung, Hauptmann.« Durine schüttelte den Kopf. »Nichts für ungut. Aber im Augenblick unterstehe ich nicht Eurem Befehl... Hauptmann.« Kethol hätte das vielleicht einfach auf sich beruhen lassen, nur um seinen Frieden zu haben, und Pirojil hätte eine Möglichkeit 158 gefunden, das Thema zu wechseln oder dem Hauptmann das Gleiche auf indirekte Weise zu sagen, aber das lag nicht in Durines Wesen. »Im Augenblick gehöre ich keiner Kompanie an«, erklärte er. »Man hat uns dreien auf Befehl des Grafen eine bestimmte Aufgabe anvertraut, und wir unterstehen keinem anderen Kommando als dem des Schwertmeisters«, sagte er langsam und präzise. Er richtete sich auf und starrte geradeaus, ohne Tom Garnett anzusehen. »Was nicht heißt, dass ich Eurem Rang und Eurer Person keinen Respekt erweise, Hauptmann.« Kelly gefiel das überhaupt nicht. »Und deshalb fühlst du dich berechtigt, an einer Versammlung von Offizieren teilzunehmen? Und was ist das für eine Sonderauf gäbe? Ich habe Gerüchte gehört -« »Ich dachte, wir wären zu dem Schluss gekommen, dass wir uns nicht in Gerüchten ergehen«, sagte Tom Garnett leise. »Nun, es ist eine Sache, nicht über Angelegenheiten des Hofs zu reden, von denen hier ohnehin keiner wirklich etwas weiß. Aber es ist eine andere Sache, wenn wir einen Mann vor unserer Nase haben - und auch noch einen Söldner -, der behauptet, dass man ihm einen besonderen Status verliehen hat. Um was geht es hier eigentlich?« Durine antwortete nicht, und einen Augenblick später beugte Tom Garnett sich vor. »Es bestand gewisse Sorge um die Sicherheit von Baron Morray, und der Graf hielt es für das Beste, wenn er eine Leibwache bekommt, zumindest im Augenblick. Es ist nicht so, als wäre er der einzige Baron, der mit weiteren Sicherheitskräften zum Rat gekommen ist, und ich denke nicht -« »Sorge?« Kelly runzelte die Stirn. »Ihr glaubt, dass der Tsurani-Angriff in Mondegreen speziell gegen Baron Morray gerichtet war?«
»Nein, eigentlich nicht.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Das wäre ziemlich merkwürdig. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie die Tsuranis auch nur gewusst haben sollten, dass sich Baron Morray bei dieser Patrouille befand.« Einen Augenblick 159 starrte er ins Leere. »Wir wissen nicht, wie sie denken oder ob sie überhaupt verstehen, was für eine katastrophale Wendung es für uns wäre, wenn wir den Heereskämmerer verlören. Oder woher sie es wissen, wenn sie es denn wissen.« Dann begriff er, dass er abschweifte, und sagte: »Aber selbst wenn sie es verstehen sollten - der Graf hat die Entscheidung, dass Morray die Patrouille begleiten soll, erst in letzter Minute vor seiner Abreise nach Yabon getroffen. Und außerdem sah es für mich bei dem Angriff nicht danach aus. Wenn Morray das Hauptziel der Tsuranis gewesen wäre, dann hätten sie ihn als Ersten umgebracht. Ich habe mich darauf verlassen, dass sich Durine und seine beiden Freunde um den Baron kümmern, während ich hinter den Tsuranis hergejagt bin. Und das haben sie getan, das haben sie zweifellos getan«, sagte er. Er warf Durine einen Blick zu. »Hattest du den Eindruck, dass sie es besonders auf den Baron abgesehen hatten?« Durine schüttele bedächtig den Kopf. »Nein, obwohl die Mistkerle sich als Erstes auf ihn gestürzt haben - aber ich nahm an, das lag nur daran, dass sie ihn für einen Offizier hielten, und nicht an etwas ... Persönlichem. Um ehrlich zu sein, Hauptmann, ich habe damals nicht viel darüber nachgedacht.« Und später eigentlich auch nicht - es war ihm wie ein ganz gewöhnlicher, beinahe schon ein wenig ungeschickter Hinterhalt vorgekommen. Aber Durine hatte immer den Eindruck gehabt, wenn man versuchte, den Zweck eines bestimmten Angriffs während eines Krieges herauszufinden, wäre das so, als versuchte man darüber nachzudenken, welcher Körperteil nass wurde, wenn man in einen Fluss fiel. Außerdem, wie hätten die Tsuranis an die Informationen kommen sollen? Wen sollten sie fragen? Der Hauptmann der Tsuranis oder wie auch immer die Mistkerle ihn nannten Durine zumindest bezeichnete ihn in Gedanken immer als den Tsurani-Hauptmann - war bei dem Kampf getötet worden. Durine war sicher, dass die gefangenen Tsuranis ausführlich verhört worden waren, und sogar noch sicherer, dass sie nichts gesagt hatten. Nach allem, was sie seit Beginn der Inva160 sion über die Tsuranis erfahren hatten, stellten die einfachen Soldaten keine Fragen, und ihre Offiziere gaben ihnen keine Informationen. Außerdem konnte man die meisten von ihnen mit den Füßen voran ganz langsam ins Feuer schieben, und sie starrten einen einfach weiter mit hasserfüllten Augen an, bis sie tot waren, und sagten kein Wort. Man konnte ja gegen diese Tsuranis sagen, was man wollte, aber sie waren zäh, das musste Durine widerstrebend zugeben. Und ihre Sklaven hatten sogar noch weniger zu sagen, ganz gleich wie zahm oder kooperativ sie waren. Nicht mehr zu wissen, als für die bevorstehende Aufgabe unbedingt notwendig war, war für Durine eine ganz vertraute Situation gewesen - jedenfalls bis vor kurzem. Nicht, dass es ihn gestört hatte; Durine war ganz zufrieden, wenn die Dinge einfach blieben. Er war kein Stratege, und Logistik und solche Dinge ver-
ursachten ihm Kopfschmerzen. Er zog es vor, so etwas anderen zu überlassen und das Einzige zu tun, was er wirklich gut konnte: Leute umbringen. »Aber nein«, sagte er schließlich kopfschüttelnd, »es kam mir nicht so vor.« Kelly war noch nicht zufrieden. »Woher kommen dann all diese Gerüchte? Und warum die Sonderwachen für Baron Morray?« Tom Garnett tat das mit einer abfälligen Geste ab. »Ich bin sicher, es gibt keinen Grund zur Besorgnis - nicht wirklich. Aber da der Graf in Yabon ist und der Kämmerer der Grafschaft krank, fallen mir gleich ein paar tausend kleine goldene Gründe ein, wieso es besser ist, besonders gut auf den Heereskämmerer aufzupassen ...« Er zeigte zum Vorraum hin. »LaMut ist schon voll genug mit Soldaten von Baronen, die im Augenblick keine Tsuranis haben, die sie daran erinnern, dass wir alle auf derselben Seite stehen und sie die Rivalitäten zwischen ihren Herren lieber vergessen sollten. Und wenn man noch die Söldner hinzufügt, wäre das Schlimmste, was geschehen kann, dass der Graf von LaMut seine Soldaten nicht bezahlen kann.« Er schüttelte den Kopf. »Es wäre ein verdammt beschissener Tag, wenn man sich einen Angriff der Tsuranis wünschen muss, um die Männer von Morray und Ver161 heyen von der Tatsache abzulenken, dass einige von ihnen wahrscheinlich in ein paar Jahren Soldaten des Grafen von LaMut sein und hier ein tolles Leben führen werden, während die anderen früher oder später wieder in ihren Baronien landen.« »Soldaten des Grafen?« Durine hatte diese Worte ausgesprochen, bevor er sich bremsen konnte. Tom Garnett nickte. »Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass Graf Vandros sehr wahrscheinlich Felina heiraten und Herzog werden wird. Oder, was meint ihr?« Grinsend schaute er von einem zum anderen, von Nicken zu Nicken. »Und ganz gleich, wie leidenschaftlich ihre Ehe sein wird, ich bezweifle, dass sie imstande sein werden, schnell genug einen Erben zu produzieren.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ihr mich fragt, befindet sich der nächste Graf von LaMut im Augenblick hier in der Burg - vermutlich auf der anderen Seite dieser Halle in ein Gespräch vertieft -, und ich möchte lieber nicht wetten, wer es sein wird, obwohl ich, wenn ich raten sollte, wohl Morray oder Verheyen nennen würde.« Kelly schüttelte den Kopf. »Ich hätte Mondegreen für die offensichtliche Wahl gehalten, besonders, da er keine Kinder hat -er könnte Graf sein, bis Vandros Söhne hat -, obwohl er nicht mein bevorzugter Kandidat wäre.« Die meisten anderen Hauptleute nahmen diese Feststellung mit missbilligenden Mienen auf, aber Tom Garnett lächelte nur. »Ihr würdet also wahrscheinlich Baron Folson als Grafen vorziehen, nehme ich an?« Kelly spreizte die Finger. »Das würde ich selbstverständlich schon auf Grund meiner eigenen Stellung tun, aber ich kann ganz ehrlich beschwören, dass es erheblich schlechtere Kandidaten gäbe.« Er starrte ins Feuer und trank einen Schluck Kaffee. »Ich halte eine solche Entscheidung allerdings für unwahrscheinlich, da der Baron zwei erwachsene Söhne hat und beide kampferfahren sind, wie ich mit Stolz erklären kann, da ich sie selbst ausgebildet habe. Beide würden einen guten Baron abgeben und auch einen guten Grafen.« 162
»Und Ihr glaubt, das könnte Baron Folson disqualifizieren?« Nun war es an Tom Garnett, fragend dreinzuschauen. »Ich halte es für möglich. Wenn er Herzog ist, hat Vandros vielleicht ein paar Jahre, um einen Erben für das Herzogtum zu zeugen, und dann noch einen jüngeren Bruder dieses Erben für die Grafschaft, und ich könnte mir vorstellen, dass er sich schon deshalb für Mondegreen als Nachfolger aussprechen wird, als eine Art Platzhalter. Mit meinem Baron wäre das leider nicht so einfach.« »Nun, das wird nicht geschehen. Mondegreen wird für so etwas nicht mehr lange genug am Leben sein.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Selbst wenn die Hochzeit schon heute in Yabon stattfinden würde, Brucal morgen zu Vandros' Gunsten abdankte und ein Zauber bewirken könnte, dass Felina am Tag danach Zwillinge bekommt, wäre Mondegreen draußen. Und das ist schade, denn er ist ein guter Mann mit scharfem Verstand und einer festen Hand und kein bisschen launisch. Er erinnert mich mehr an den alten Grafen als Graf Vandros selbst; und wenn man bedenkt, dass sie Vettern waren, ist das nicht überraschend.« Kelly zog an seiner Pfeife. »Findet es denn außer mir niemand seltsam, dass wir hier auch ein paar Barone vom Hof zu Gast haben? Könnte es sein, dass man vielleicht Viztria die Grafschaft übergeben will?« »Viztria?« Ein anderer Hauptmann lachte höhnisch. »Nicht, solange die bevorzugte Waffe des neuen Grafen von LaMut nicht seine Zunge sein soll.« Mehrere Männer lachten, unter ihnen auch Tom Garnett. »Barsches Gerede hat schon zu mehr als einem Krieg geführt.« Tom hörte auf zu lachen und fügte hinzu: »Vielleicht ist er ja tatsächlich nicht geeignet, aber es könnte dem neuen Herzog sinnvoll erscheinen, sozusagen ganz von vorn anzufangen und einen Grafen von außerhalb einzusetzen. So etwas ist schon öfter passiert.« Kelly schüttelte den Kopf. »Das mag ja sein, aber mir gefällt diese Idee überhaupt nicht, besonders, wenn ich mir den anderen 163 Baron vom Hof hier ansehe. Langahan, höre ich, ist ein Strohmann des Vizekönigs, und es gibt Grund genug anzunehmen, dass Guy du Bas-Tyra den Westteil des Reiches nur für eine widerstrebende Milchkuh hält, die man etwas auf die Rippen kriegen lässt, bis es wieder Zeit ist, sie trockenzumelken.« »Ja, so ist es.« Tom Garnett nickte. »Und Trockenmelken ist noch das Beste, was zu erwarten wäre - eher wird der Westen vollkommen ausgeblutet, um den Osten zu füttern. Aber es ist nicht Guy du Bas-Tyra, der in Yabon das Sagen hat -« »Den Göttern sei Dank.« »- und ich kenne Graf Vandros. Ich habe unter ihm gedient, als er dem Rang - nicht dem Alter - nach der oberste Hauptmann war; damals, als sein Vater noch Graf war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herzog Vandros einen Grafen aus dem Osten nach LaMut setzt, ganz gleich, welchen Druck der Vizekönig auf ihn ausübt. Solange Herzog Borric in Crydee noch lebt, wird Vandros einen mächtigen Verbündeten gegen Guys Intrigen haben.« Das war nur vernünftig. In gewisser Weise steckte Yabon inmitten der Feindseligkeiten zwischen Borric conDoin, Herzog von Crydee, und Guy du BasTyra, und obwohl das nicht ungefährlich war, würde es Bas-Tyra, selbst wenn er Prinz Erfand auf den Thron folgen sollte - ja, selbst wenn das durch die Verleihung
des Titels eines Vizekönigs bereits geschehen sein sollte, zumindest dem Gesetz nach - nicht gelingen, zu viel Druck auf den Herzog von Yabon auszuüben, ob dieser nun Brucal oder Vandros hieß. Denn Guy mochte zwar der bevorzugte Berater des Königs sein, aber Borric konnte auf die Unterstützung der meisten Adligen im Westen rechnen - und auch auf die von einigen im Osten, die Guy nicht besonders mochten oder eine Usurpation der herzoglichen Rechte als Bedrohung ihrer eigenen Herrschaft betrachten würden. Die Adelsversammlung war eine Kraft, die selbst der leichtsinnigste König nicht ignorieren konnte. Nein, Guy mochte zwar intrigieren, aber am Ende würde Vandros in LaMut seinen Nachfolger selbst ernennen. Tom Garnett saugte nachdenklich an seiner Pfeife. »Aber ein 164 Außenseiter in LaMut - ein verlässlicher Außenseiter aus dem Westen, keine Marionette aus dem Osten, die kein Wort sagen kann, ohne dass Guy du Bas-Tyra seine Fäden zieht - als neuer Graf? Das wäre nicht unvernünftig, und ich kann euch sagen, dass Vandros, sei es als Graf oder als Herzog, mehr daran gelegen sein wird, etwas Vernünftiges zu tun, als sich jemandes Gunst zu erwerben, und das schließt auch die des Vizekönigs ein. Vielleicht der zweite Sohn von Alf ren von Tyr-Sog ... Verzeiht mir, ich kann mich im Augenblick nicht an seinen Namen erinnern -« »Elfred«, warf Kelly ein. »Ich bin ihm einmal begegnet, und ich war nicht besonders beeindruckt.« »- und einen Außenseiter zu wählen hätte den Vorteil, dass der neue Graf keine alten Feindschaften und Rivalitäten mitbringt, zumindest keine, die hier zählen würden.« Durine glaubte nicht, dass Tom Garnett die Unfälle vergessen hatte, aber er konnte nur bewundern, wie geschickt der Hauptmann das Thema gewechselt hatte, obwohl er damit die anderen zu dem politischen Klatsch gebracht hatte, den er angeblich nicht haben wollte, der aber, wie Durine dachte, in der gegebenen Situation ohnehin nicht zu vermeiden war. Er fragte sich jedoch, ob sich die anderen wirklich von dem Gerede über Politik und Erbfolge ablenken ließen. Bei Durine hatte es jedenfalls nicht funktioniert. Ob es nun wirkliche Unfälle waren oder fehlgeschlagene Attentatsversuche gegen Morray, war eine andere Sache, aber der wichtigere Punkt bestand darin, dass diese Unfälle den Grafen veranlasst hatten, die drei Söldner abzustellen, damit sie Morray beschützten. Die Politik mochte für andere interessant sein, aber für Durine zählte ausschließlich seine Aufgabe. Wenn der Hauptmann das jedoch nicht erwähnte, würde Durine es auch nicht tun. Dennoch, es gab ihm etwas zu denken. Der Tsurani-Hinterhalt war tatsächlich das Einzige, was kein Beinahe-Unfall gewesen war. Es sei denn, dachte er grinsend, diese Dienerin in Mondegreen hatte eine besonders unwahrscheinliche Weise gewählt, dem 165 Mann die Lebenskraft zu nehmen. Durine hätte nichts dagegen gehabt, wenn eine so wohlgeformte Frau gleich mehrere solcher Attentatsversuche auf ihn verüben würde, solange er dazwischen genug Zeit hatte, sich ein bisschen auszuruhen.
»Ja, ich sehe schon, dass es notwendig ist, vorsichtig zu sein.« Kelly starrte Durine an. »Besonders, wenn Männer in der Nähe sind, die nur für Gold kämpfen ... und nicht einmal besonders gut, wie man mir sagt.« Durine wartete darauf, dass Tom Garnett dem anderen Hauptmann widersprach, aber Garnett lächelte Durine nur hinter seiner Pfeife an, als wollte er sagen: Nun, Mann, du hast gesagt, dass du nicht unter meinem Kommando stehst, also bin ich auch nicht für dich verantwortlich, oder? Und das war wohl nur gerecht. Durine hätte Großzügigkeit vorgezogen, aber er würde sich auch mit Gerechtigkeit zufrieden geben und sich immer noch freuen, gut davongekommen zu sein. »Ich habe gut genug gekämpft, Hauptmann«, sagte Durine. »Dass ich noch am Leben bin, könnte doch als Beweis gelten, oder?« »Ach, das zeigt höchstens, dass du Glück hattest, wie wir alle.« Kelly stand auf. »Gut, es könnte eine Art von Hinweis sein. Aber wie wäre es, wenn du ein bisschen mehr zeigen würdest, was man dann wirklich einen Beweis nennen könnte - mit Übungsklingen, sagen wir, im Hof?« Für gewöhnlich fanden Übungskämpfe auf dem Paradeplatz nahe der Unterkunft statt, aber Durine hielt es nicht für sonderlich vernünftig, in dieses Unwetter hinauszugehen, nur um ein bisschen mit dem Schwert herumzufuchteln. Tom Garnett lachte leise. »Ich glaube, es ist ein wenig zu frisch draußen, um den Paradeplatz zu benutzen, und ich bin nicht sicher, ob ein Duell mit Schnee bis zur Taille mehr bewirken wird, als dass ihr euch die Eier abfriert.« »Wir brauchen den Paradeplatz nicht«, erklärte Kelly Er machte eine rasche Geste zu den anderen Hauptleuten, die nickten, aufstanden und Platz machten. »Wir können doch auch einfach se166 hen, wie er sich hier und jetzt schlägt«, sagte er wieder an Tom Garnett gewandt. »Oder?« Garnett dachte einen Augenblick darüber nach, dann sah er Durine an und nickte, die Pfeife immer noch zwischen den Zähnen. »Ja, warum eigentlich nicht?« Tom Garnett hatte die Initiative ergriffen und die Erlaubnis der versammelten Adligen erbeten, und obwohl Baron Viztria ein paar verächtliche Bemerkungen über kleine Jungen gemacht hatte, die mit Schwertern spielten, hatten die meisten anderen entweder zustimmend genickt, oder sie waren, wie im Fall von Lady Mondegreen, sogar ganz begeistert von der Idee. Auch der Schwertmeister war mehr als einverstanden und hatte sofort einen Jungen ausgeschickt, der seine eigene Übungsausrüstung holen sollte. Niemand ließ sich darüber aus, wieso sie zugestimmt hatten, aber Durine fragte sich, ob die Begeisterung wirklich der Ablenkung von den Staatsangelegenheiten galt oder schlicht der Langeweile und Unbequemlichkeit des Eingesperrtseins in einer zugigen Burg zuzuschreiben war, die einem mit jedem Augenblick noch vollgestopfter vorkam. Durine war nicht sicher, wieso man Ablenkung von Ersterem suchte - als Soldat zog er Langeweile dem Schrecken jederzeit vor -, aber er fühlte sich selbst bereits so, als würde die Burg rings um ihn her von Minute zu Minute enger werden.
Er zog die weiße, übergroße Übungshose über seine eigene und ließ sie sich von Kethol an den Fußknöcheln zubinden. Dann zog er die weiße Übungsjacke aus Segeltuch an und gürtete sie fest um seine breite Taille. Hauptmann Kelly hatte rasch seine eigene Übungskleidung angelegt und wartete, den Drahtnetzhelm unter den Arm geklemmt, während ein anderer Hauptmann sein Übungsschwert über einer Kerzenflamme schwärzte. Durine betrachtete den seltsamen Drahthelm skeptisch. Er war eher an die Holzmasken gewöhnt, bei denen ein enger Schlitz verhinderte, dass einem der Gegner mit der breiten, stumpfen Spit167 ze des Übungschwerts ein Auge ausstach, und die Art, wie der Draht sich bog, machte ihn nervös. Er drückte mit dem Finger gegen die Maske. Sie gab ein wenig nach, aber nicht sehr; sie würde ihn wohl wirklich schützen. Stumpf oder nicht - ein Stoß mit einem Übungsschwert konnte einem das Auge beinahe so leicht ausstechen wie eine echte Waffe; ebenso wie ein Schlag auf den Kopf, der fest genug geführt wurde, zu einem Schädelbruch führen konnte. Am besten wäre es selbstverständlich, sich keine Gedanken um den Schutz des Kopfes machen zu müssen, weil man die Angriffe dagegen abwehren konnte, aber man sollte nicht zu lange darüber nachdenken, ob man einen bestimmten Teil des Körpers mehr als einen anderen schützen sollte. Durine hatte mehr als nur einen Mann mit unversehrtem Gesicht am Boden liegen sehen, der aber dennoch zu tot war, um sich um seine unberührten Augen noch mehr Gedanken machen zu können als um die gelblichen, blutigen Eingeweideschlangen, die sich auf den Boden entleerten. Außerdem konnte niemand erwarten, ohne blaue Flecken aus einem Übungskampf hervorzugehen, ebenso wie man selten ohne Wunden einen echten Kampf beendete. Am besten, man machte sich nicht zu viele Sorgen um diese Dinge, sondern brachte sie einfach hinter sich. Er schnallte sein eigenes Schwert ab und reichte Kethol den Schwertgurt. Dann nahm er das Übungsschwert entgegen. Er hob das nachgebildete Breitschwert. Es lag gut in der Hand, und der messingumwickelte Griff fühlte sich kühl an. Davon einmal abgesehen, dass man damit nicht schneiden oder zustechen konnte, fühlte es sich an wie ein echtes Schwert, und es war mindestens von einem Waffenschmiedegesellen hergestellt worden. Adlige hatten bessere Übungswaffen als gewöhnliche Soldaten. Diese Klinge war so breit wie Durines Daumen und schwer genug, dass sie durch Knochen gedrungen wäre, wenn die Klinge nicht sorgfältig abgerundet, sondern entsprechend geschliffen gewesen wäre. Dennoch, wenn man sie richtig einsetzte, würde sie üble Prellungen hervorrufen. 168 Er fuhr mit dem Daumen über die glatte Oberfläche, spürte die kleinen Kerben und flachen Dellen, dann zog er einmal rasch an dem glockenförmigen Handschutz, der gut hielt. Auf der stumpfen Spitze war eine Art Stahlknolle angebracht, die sogar Durine nicht abreißen konnte; sie war fest angeschweißt. Durine hoffte nur, dass Kelly dafür sorgte, dass auch seine eigene Waffe so sicher
war. Das Gleichgewicht des Schwerts war ein wenig zum Griff hin verschoben, aber nicht sonderlich. Durine hatte schon zuvor einem Rapier gegenübergestanden, aber nicht im Kampf. Er selbst zog das Breitschwert, das Langschwert oder hin und wieder einen Anderthalbhänder vor, den er für eine besonders vielfältig verwendbare Waffe hielt. Ein Rapier war eine Duellantenwaffe und nicht sonderlich wirkungsvoll gegen eine Rüstung, aber seine Spitze war tödlich, was es in den Händen eines Mannes, der wusste, was er tat, besonders unangenehm machte. Die Spitze eines Breitschwerts blieb oft an der Rüstung hängen, während ein Rapier eine kleine Lücke finden und einem einen unangenehmen Gegner leicht vom Hals schaffen konnte. Aber um einen Doppelhänder abzuwehren, war ein Rapier ungefähr so nützlich wie ein Küchenbesen. Pirojil war damit beschäftigt, den Übungsdolch, den Durine benutzen sollte, mit Ruß zu schwärzen. Dann tauschte er ihn gegen das Schwert und schwärzte auch dieses, reichte es ebenfalls Durine und stülpte ihm schließlich den Netzhelm über den Kopf. Durine ging in den offenen Bereich und trat seine geliehenen Hausschuhe weg. Seine Stiefel hätten ihn sicher langsamer gemacht, aber er hätte sie gerne angezogen, wenn sie nicht immer noch feucht gewesen wären. Mit den weichen Ledersohlen der Pantoffeln hätte er hier auf dem dunklen Marmor jedenfalls keinen sicheren Stand. Der Stein unter seinen Füßen war bitterkalt. »Auch einen Dolch, wie?«, sagte Kelly und nahm Position ein. Durine nickte. »Daran bin ich eben gewöhnt«, erklärte er. »Wenn es Euch nicht stört.« »Nicht im Geringsten. Nimm, was du willst, Mann. Ich kann 169 schließlich kaum herausfinden, was für ein Kämpfer du bist, wenn du dich nur halb bewaffnet fühlst.« Übungskämpfe waren eine Sache, aber Durine hatte noch nie in einem echten Kampf gestanden, bei dem er nicht in mehr als eine Richtung schlagen und sich gegen mehr als einen Feind verteidigen musste. Ein Schild war eine prima Sache, aber Durines persönliche Philosophie verlangte, dass er etwas in der linken Hand hielt, womit er schneiden konnte, und Schilde waren überwiegend nützlich, wenn man in einer Linie angriff und Männer zu beiden Seiten hatte, auf die man sich verlassen konnte, solange sie lebten. Genau aus diesem Grund bevorzugten die drei Scharmützlerarbeit, und dafür wurden Söldner üblicherweise auch eingesetzt. Er ging in Kampfstellung, die Brust nur geringfügig von Kelly abgewandt, dessen Position die eines konventionellen Duellanten war, beinahe seitlich zu Durine, was den größten Teil seines Körpers mit der Waffe schützte. Sie kamen einander nur langsam näher. Kelly vollführte eine zögernde Bewegung in einer hohen Linie, die Durine abwehrte, dann trat er einen Schritt zurück, statt noch einmal zuzustechen. Übungskämpfe waren, ganz gleich, wie man sie führte, anders als wirkliche. In einem wirklichen Kampf hatte man beinahe nie die Zeit, die Verteidigung des Feindes abzutasten; man musste den, den man vor sich hatte, möglichst loswerden,
bevor einen ein anderer von hinten angriff, und sobald man sich auch nur um einen Fuß zurückzog, war es sehr wahrscheinlich, dass man gegen jemanden stoßen oder über etwas stolpern würde. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wo sich wirklich nur zwei Gegner gegenüberstanden, hatte man kaum Zeit, sich zurechtzustellen und so zog Durine es auch vor, solange er selbst es war, der den anderen überraschte, und nicht andersherum. Wieder griffen sie an, und diesmal konnte Durine die Klinge seines Gegners mit seinem Dolch abwehren und sie lange genug beiseite drängen, dass es eigentlich hätte genügen sollen, Kelly mit der Schwertkante zu erwischen, aber der Hauptmann war 170 schneller, als er aussah. Ein rascher Schritt zurück brachte ihn lange genug außer Reichweite, um sein Schwert herumzuziehen und den Dolch abzuwehren, während Durine vorsichtig einen halben Schritt näher kam. Angriff und Abwehr, zuschlagen und blockieren; der Kampf ging auf seine zögernde, unnatürliche Weise weiter. Durine hatte das stärkere Handgelenk, aber Kelly ein besseres Gefühl für die Klinge, weshalb Durine sich weigerte, ihm »die Klinge zu überlassen«, damit Kelly aus den subtilen Bewegungen der beiden Schwerter gegeneinander direkt vor oder nach einem Schlag nicht spüren konnte, was Durine als Nächstes vorhatte. Stattdessen begegnete er jedem Angriff, indem er ihn abwehrte oder seinerseits angriff, oder er zog sich zurück. Durine hatte schon Übungskämpfe gegen Schwertkämpfer ausgefochten, die intensiv am Rapier ausgebildet worden waren, und ihre Fähigkeit, durch die Klinge zu spüren, was ihr Gegner tun würde, konnte einfach umgangen werden, indem man ihnen die Klinge nicht überließ. Mit ein paar anderen Problemen kam er nicht so leicht zurecht. Kelly war ein wenig schneller, und seine seitliche Stellung gab ihm vielleicht einen Zoll mehr Reichweite, aber Durine war flink genug, dass immer eine Möglichkeit bestand, an Kellys Schwert vorbei näher zu kommen, und mit dem Dolch wäre es, sobald er erst innerhalb des Bogens von Kellys Schwert wäre, eine Augenblickssache, ob das nun eine Übung oder ein echter Kampf war. Durine ließ seine Schwertspitze um ein winziges bisschen zu tief sinken, und als Kelly eine hohe Finte ausführte, zog er sich einen halben Schritt zurück und blockierte. Kelly stach zu, ein Angriff von unten nach oben, dem Durine entging, indem er Kellys Schwert beiseite schlug; dann ließ er seines fest genug auf den verwundbaren Arm seines Gegners herabsausen, dass Kelly das Schwert fallen ließ. Instinktiv durchschnitt Durine die Luft links von sich mit dem Dolch, dann zog er die Klinge noch einmal über Kellys Taille, bevor er zwei rasche Schritte rückwärts machte. 171 Das entsprach nicht ganz dem Übungskampf-Protokoll, aber Durine war zweimal von Männern verwundet worden, die nicht ganz begriffen hatten, dass sie tot waren, und er hatte nicht vor, das noch einmal zuzulassen, nicht einmal bei einem Übungskampf. Kelly hob sein Schwert wieder auf ... »Halt!«, rief eine feste Stimme.
Der Schwertmeister stand zwischen ihnen. Steven Argent hatte sich ein Übungshemd übergezogen, aber die Beinkleider noch nicht angelegt, und ein Übungsschwert unter den Arm geklemmt, ohne darauf zu achten, dass es dort Flecken auf dem Hemd hinterließ, als wäre er vollkommen überzeugt, dass er ungezeichnet aus jedem Kampf hervorgehen würde. »Gut gemacht«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Geht diese letzte Sequenz bitte noch einmal durch, aber langsam.« Durine und Kelly begannen von neuem. Sie vollführten ihr Duell noch einmal, und Argent kommentierte es, als würde er zwei Schüler kritisieren. Es war nun offensichtlich, dass er von Durines Stil fasziniert war, denn der Söldner ließ die Duelltradition vollkommen außer Acht und verhielt sich, als stünde er in einem echten Kampf. Als Durine den Punkt erreichte, an dem er das Hemd des Hauptmanns markierte, rief Argent: »Stop!« Dann wandte er sich Kelly zu. »Das ist die Stelle, an der Ihr Euren Fehler gemacht habt, Hauptmann. Er war bereits in der Vorwärtsbewegung, als Ihr zugestoßen habt, und als Ihr Euch in den Stoß hineingelegt habt, war er bereit, den Gegenangriff seitlich auszuführen und Euch von oben bis unten aufzuschlitzen.« Er runzelte die Stirn. »Weder Fisch noch Fleisch, wie man in Rillanon sagt - ihr seid beide halbwegs zwischen Duell und Zweikampf.« Baron Viztria schnaubte verächtlich. »So, wie dieser Tölpel mit zwei Klingen um sich geschlagen hat, ist es kein Wunder, dass der andere sich beinahe darauf aufgespießt hat, vor allem, da er eine viel zu hohe Meinung von sich selbst hat, der seine Fähigkeiten aber nicht entsprechen. Zu anderen Zwecken ist dieses Breitschwert allerdings nicht zu gebrauchen.« 172 Der Schwertmeister fuhr zu ihm herum. Seine Lippen waren schmal und blass geworden. »Übungskämpfe und Duelle sind eine Sache, ein echter Kampf auf dem Schlachtfeld aber ist etwas ganz anderes.« Viztria winkte mit seinem Spitzentaschentuch ab und murmelte leise: »Wenn Ihr meint, Schwertmeister.« »Wenn Ihr glaubt, dass es keinen Unterschied gibt, Baron, dann sucht Euch fünf andere, die mit Euch übereinstimmen. Ich kann Euch mit fünf meiner Leute mit diesen Breitschwertern entgegentreten, die Ihr so verspottet, und dann sehen wir, was Ihr mit Euren Rapieren ausrichten könnt. Wir werden bald herausfinden, wie ungelenk und nutzlos ein solches Schwert ist, wenn man weder die Zeit noch den Platz hat, elegante Manöver zu vollführen.« Er starrte Viztria so lange an, bis der Baron lächelte und sich entschuldigte. »Ich beuge mich selbstverständlich Eurer größeren Erfahrung mit solchen Dingen, Schwertmeister«, sagte er, und die Art, wie er mit dem Finger über eine Duellnarbe an seinem linken Wangenknochen fuhr, war nur vage unverschämt. »Ich entschuldige mich in aller Form, wenn ich die edlen Anwesenden in irgendeiner Weise beleidigt habe.« Steven Argent blinzelte ein paar Mal, dann nickte er und hörte auf, die Zähne zusammenzubeißen. »Dann sprechen wir nicht mehr darüber ... Mylord«, sagte er und wandte sich wieder Durine und Kelly zu. Er war in dieser öffentlichen Konfrontation mit dem Baron so weit gegangen, wie es sein Rang erlaubte, und das
wussten beide. Noch eine einzige Bemerkung, und Argent würde sich demnächst einem sehr verärgerten Vandros gegenüberfinden, da Viztria sich zweifellos darüber beschweren würde, dass der Schwertmeister von LaMut so gar keine guten Manieren hatte. Der Baron wusste jedoch offensichtlich, dass diese Situation nur schlimmer werden konnte, wenn er jetzt noch etwas hinzufügte, also wedelte er beschwichtigend mit dem Spitzentuch, deutete eine Verbeugung an und vollzog dann eine geüb173 te Drehung und schritt würdig davon, wobei er dem Schwertmeister demonstrativ den Rücken zuwandte, als er zu einem Sessel ging, in dem er sich dann langsam niederließ. Argent schaute ihm hinterher, sah ihm noch einen Moment in die Augen und wandte sich dann wieder Kelly und Durine zu. »Wie ich schon sagte, was ihr hier veranstaltet habt, war weder ein Duell noch ein richtiger Zweikampf. Versuchen wir es diesmal ein bisschen anders. Tretet zurück, beide - weiter, lasst euch ein bisschen Platz. Gut so.« Nun waren die Männer gut zwanzig Fuß voneinander entfernt. Nicht unbedingt das, was Durine als günstigen Abstand für einen Übungskampf betrachtet hätte. Argent wies sie an, aus dem Laufen heraus anzugreifen wie auf dem Feld. Damit kannte sich Durine besser aus, obwohl er diese Art des Kampfes nicht mochte; er begann langsam loszulaufen, das Schwert über die rechte Schulter gehoben, als wäre Kethol wie immer an seiner Linken und Pirojil rechts, wo er hingehörte. Der offensichtliche Trick bestand darin, sich am Ende ein bisschen Zeit zu stehlen, indem man den Rest der Reihe vorher auf den Feind stoßen ließ, und es war ein so offensichtlicher Trick, dass man sich bei dieser Form von Angriff unbedingt auf die Männer zu beiden Seiten verlassen können musste, weil dieser Zug wahrscheinlich das Leben des Mannes, der es versuchte, retten würde, aber die beiden neben ihm umbringen könnte, wie es tatsächlich die Männer links von Pirojil und rechts von Kethol das Leben gekostet hatte, als die Söldner diesen Trick alle drei gleichzeitig durchführten, alle drei Male, als Tom Garnett ihnen befohlen hatte, in Linie anzugreifen. Als sie aufeinander trafen, riss Durine das Schwert nach unten, dann wieder nach oben und wischte damit Kellys Klinge aus dem Weg - oder doch beinahe, denn Kelly zog sein Rapier auf ihn herunter und erwischte Durine an der rechten Seite, einen Augenblick, bevor Durine den Rücken des Hauptmanns traf und dort einen dunklen Streifen vom geschwärzten Rand seines Schwerts hinterließ. 174 Durine blieb auf den Beinen, aber Kelly fiel um, kam allerdings sofort und ausgesprochen wachsam wieder hoch. »Halt!«, befahl Argent. Er stellte sich zwischen die beiden Gegner und bedeutete ihnen, näher zu kommen. »Sehr schön«, sagte der Schwertmeister. »Ich würde sagen, das war unentschieden, und ich betrachte euch beide als verwundet. Was in der Schlacht selbstverständlich bedeuten würde, dass beide Seiten einen nützlichen Soldaten verlieren - die Siegerseite mindestens für mehrere Wochen, die Verliererseite für den Rest seines Lebens, das höchstens noch bis zum Ende der
Schlacht dauern würde.« Er zeigte auf ein paar Stühle in der Nähe. »Setzt euch einen Augenblick, ihr beiden - und Baron Viztria, würdet Ihr mir die Ehre erwiesen?« Viztria sah aus, als gäbe es mindestens hundert Orte, an denen er gerade lieber wäre, aber nach seinen spitzen Bemerkungen gab es keine Möglichkeit mehr, sich auf elegante Weise zu entziehen. Mit eindeutig nur gekünstelter Heiterkeit stimmte er zu und legte eine Übungsjacke an. Durine ließ sich dankbar auf einen Stuhl sacken, überrascht, dass er sich beherrschen musste, um nicht zu zittern. Pirojil war schnell an seiner Seite und reichte ihm einen Becher Glühwein, und Durine trank gierig, während er zusah, wie Steven Argent Viztria eine rasche Unterrichtsstunde in Schwertarbeit gab. Der Baron hatte nicht die geringste Chance, den Schwertmeister auch nur zu berühren. Dann gingen sie von Übungsschwertern zu Übungsrapieren über, und mit der leichteren, schneidenlosen Waffe wies Argent den Baron ebenso schnell in die Schranken. Viztria versuchte ein wenig kläglich zu witzeln, dass er wohl einen schlechten Tag hätte, als er sich alles andere als elegant zurückzog. Dann führte Steven Argent hintereinander noch Übungskämpfe mit drei anderen Baronen durch, darunter auch mit Morray Als Steven Argent Morray besiegt hatte, erklärte Baron Verheyen: »Ich möchte es auch versuchen, Schwertmeister.« Argent nickte höflich, aber Durine sah, dass ein Schatten über 175 seine Züge fiel. Verheyen war angeblich der beste Schwertkämpfer in der Grafschaft, vielleicht sogar überhaupt im Westen. Das ruhige Selbstvertrauen, das man Argent während der vorangegangenen vier Kämpfe deutlich angesehen hatte, wich höchster Konzentration, als Verheyen rasch die Übungskleidung anlegte. Sie nahmen ihre Plätze ein, und alle in der Halle wurden still, denn jeder Hauptmann und jeder Baron im Raum wusste, dass dieser Kampf viel ernster sein würde als die vorangegangenen. Gleich zu Beginn griff Verheyen stürmisch an und versuchte, den erschöpften Schwertmeister zu erledigen, bevor dieser sich auch nur verteidigen konnte. Argent mochte Verheyen dem Tempo nach nicht gewachsen sein, aber er war einer der geübtesten Kämpfer des Königreichs und reagierte mit geübter Effizienz. Durine schaute sehr interessiert zu. Er bekam solche Schwertarbeit selten zu sehen - seine Erfahrung bestand überwiegend darin, wie man jemanden so schnell wie möglich tötete, und dabei war jedes Mittel recht, seien es Stiche in die Augen, Tritte zwischen die Beine oder Dreck, den man dem Gegner in die Augen schleuderte. Duelle waren ihm fremd, aber die Kunstfertigkeit dieser Schwertarbeit war faszinierend. Beide Männer waren Meister mit dem Rapier, und beide kannten sämtliche Tricks, die die besten Lehrer unterrichteten, von der Kaiserlichen Schule in Groß-Kesh bis zum Hof der Meister in Roldem. Es war ein wunderschöner Anblick, dachte Durine. Verheyen war besser, was Tempo und Fußarbeit anging, aber Argent kannte mehr Kombinationen und Konter, also waren sie gleich stark. Die Minuten schienen sich endlos zu dehnen, so genau beobachteten die Zuschauer jede Bewegung, jede Abwehr, jede Finte. Es
blieb vollkommen still in der Halle, wenn man vom Knacken des Holzes in der Feuerstelle und von dem Geräusch schlurfender Füße und von Stahl auf Stahl einmal absah. Hin und her ging das Duell, und keiner der Gegner konnte einen klaren Vorteil erringen. Durine nahm jedoch an, dass Verheyen am Ende siegen würde; sein Schwert war schneller, und er war frischer als Argent. 176 Dennoch war er nicht auf das Ende vorbereitet, als es schließlich kam. Verheyen begann wieder mit einem wilden Angriff aus dem Laufen heraus, der ihn scheinbar Argents Gegenschlägen gegenüber ungeschützt ließ, aber als der Schwertmeister das ausnutzen wollte, veränderte Verheyen den Griff an seinem Schwert, schlug tief zu und traf Argent fest am Knie. Steven Argent verzog das Gesicht und nahm den Drahthelm ab. »Der Sieg gehört Euch, Mylord!« Verheyen drehte sich um und setzte die eigene Schutzmaske ab. »Gut gekämpft, Schwertmeister. Ich bin seit Jahren nicht mehr so auf die Probe gestellt worden. Ihr macht Eurem Amt alle Ehre.« Argent nickte. Dann setzte er sich neben Durine und nickte auch ihm zu. Das Gesicht des Schwertmeisters glühte im flackernden Feuerschein, und sein dunkles Haar war verschwitzt und klebte ihm am Kopf, aber er lächelte. Durine konnte es ihm nachfühlen. Wenn es schwierig wurde, war »Halte dich an das, was du gut kannst« keine schlechte Lebensregel, und der Schwertmeister war wirklich ein Meister mit der Klinge. Durine nahm an, dass Steven Argent in einem Kampf, in dem die Karten anders verteilt wären, also der Schwertmeister frisch und Verheyen erschöpft wäre, eine gute Chance hätte zu siegen. Rings um Durine begannen die Gespräche wieder, und draußen heulte der Wind immer noch. Nach einer Weile stand der Schwertmeister auf, zog seinen Übungsanzug aus und ging zu den Adligen. Durine lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ sich von der Wärme aus der Feuerstelle umfangen, während der Wein ihm den Bauch und die Seele wärmte. Alles in allem hatte er schon schlechtere Tage erlebt. 1
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Nach dem Sturm
Der Sturm hatte deutlich nachgelassen. Der Himmel über der Burg war von klarem Blau, und es gab nur noch eine weit entfernte Spur von grauen Wolken nahe dem östlichen Horizont und einen Streifen flauschiges Weiß im Westen, die den Ausblick ein wenig verdarben. In dieser Ruhe nach dem Sturm lag die kalte Luft wie erschöpft über LaMut und schien kaum mehr fähig, sich zu regen, als hätte sie sich vollkommen damit verausgabt, auf die Stadt einzudreschen. Dunkle Rauchsäulen stiegen aus Hunderten von Kaminen in der Stadt auf, schlängelten sich in die Luft, weitergeschoben von einer Brise, die sanfter war als der Atem eines Babys, wenn auch ganz bestimmt kälter als das Herz eines
Zahlmeisters. Sie trieb Kethol die Wärme aus, als er auf dem Wehrgang der Burgmauer stand und sich zusammennehmen musste, um nicht über die keuchenden Soldaten zu lachen, die den Schnee auf dem Laufgang mit spitzen Bauernspaten bearbeiteten, die bestenfalls sehr ungeeignet für diese Arbeit waren. Es gab selbstverständlich besseres Werkzeug zum Wegschaffen von tiefem Schnee, aber niemand in LaMut schien darüber zu verfügen. Er hatte mehrere Diener sagen hören, so etwas wie dieser Schneesturm geschähe nur einmal im Leben eines Menschen. Es war zweifellos mehr als genug für Kethols Leben gewesen. Das stetige Klirren und Scheppern aus der Schmiede drüben auf der anderen Seite des Hofes machte deutlich, dass noch wei178 tere Schneeschaufeln hergestellt wurden. Der Grobschmied der Burg würde wohl nicht lange brauchen, um ein paar Schaufeln mit breitem Blatt herzustellen, auch wenn er außerdem weitere Pferde mit diesen klauenbewehrten Hufeisen beschlagen musste, die hier in LaMut üblich waren und die Kethol noch nie woanders gesehen hatte und auch nie wieder sehen wollte. Unter ihm zitterten die Männer von Tom Garnetts Kompanie in ihren Umhängen, als sie die Pferde für die Patrouille sattelten. Dampfwolken drangen aus den Nüstern der Pferde, während sie wiehernd dagegen protestierten, dass man sie in den Schnee hinauszwang, der ihnen bis an die Knie reichte. Dieser Schnee wurde rasch von all den Füßen und Hufen zu etwas Festerem niedergestampft, und die einzige größere Räumaktion, die bisher im Innenhof stattgefunden hatte, hatte darin bestanden, genug Schnee rund um das Haupttor wegzuschaffen, damit es geöffnet werden konnte, um die Patrouille nach draußen zu lassen. Die Vorbereitungen dauerten erheblich länger als üblich, aber das war wenig überraschend. Die Reiter arbeiteten in Paaren, um die störrischen Geschöpfe zu satteln, wobei ein Mann die Zügel festhielt, während der andere den Sattelgurt festschnallte und dann den Rest der Ausrüstung noch sorgfältiger als sonst anschnallte. Es würde sicher eine schwierige Patrouille werden, obwohl Kethol davon ausging, dass keinerlei Gefahr eines Angriffs bestand - selbst wenn es Garnett und seinen Männern gelingen sollte, aus der Stadt herauszukommen, was mehr als fraglich war. Unter dem weich aussehenden Schnee lauerte Eis, und selbst ein mit diesen Spezialeisen beschlagenes Pferd konnte ausrutschen. Ein stürzendes Pferd brach sich zwar nicht immer das Bein, aber Tith-Onaka, der Soldatengott, hatte einen grausamen Humor. Kethol nahm an, dass deshalb dort unten ein Dutzend ungesattelter Pferde stand, die gerade aus dem Stall geführt worden waren. Man nahm keine Ersatzpferde mit auf Patrouille, wenn man nicht erwartete, sehr lange unterwegs zu sein oder dass ein Pferd zu lahmen anfing oder getötet werden musste. 179 Es erklärte auch das Schimpfen des untersetzten Pferdemeisters Benjamin Deven, das Kethol nicht genau verstehen konnte, das aber wahrscheinlich zusätzliche, wenn auch unnötige Warnungen an die Reiter beinhaltete, gefälligst vorsichtig mit den Pferden zu sein, als wären die Tiere die Kinder des Pferdemeisters und die Soldaten unzuverlässige Kinderfrauen.
Den Vorbereitungen für die Patrouille war, wie er wusste, eine Auseinandersetzung zwischen Steven Argent und dem Pferdemeister vorangegangen. Kethol war hinauf in den Adlerhorst gegangen, um mit dem Schwertmeister zu sprechen, und vielleicht auch, um Fantus einen kurzen Besuch abzustatten - der kleine Feuerdrache schien ihn aus irgendeinem Grund wirklich zu mögen -, und hatte sich rasch wieder zurückgezogen, als er die Stimmen von drinnen hörte, die sich zu einem überraschend lauten Streit darüber erhoben, ob es denn wirklich notwendig sei, jetzt eine Patrouille auszuschicken. Zum Glück war das nicht Kethols Problem, aber er konnte beide Seiten verstehen. Das einzig Gute an der derzeitigen Situation war, dass jegliche Feindbewegung in dem tiefen Schnee deutlich zu erkennen wäre. Selbst wenn die Tsuranis den alten Trick kannten, der verlangte, dass eine ganze Kompanie in einer Reihe marschierte, und sie Zweige hinter sich herzogen, um ihre Spuren zu verwischen - und es war anzunehmen, dass sie davon wussten -, waren sie nicht dumm, und das hier war ihr vierter Winter: Es war alles so makellos und jungfräulich weiß da draußen, dass es unmöglich wäre, sich in einem Umkreis von zehn Meilen rings um LaMut ungesehen zu bewegen. Jede halbwegs ernst zu nehmende Streitmacht würde eine Spur hinterlassen, die selbst ein Städter erkennen konnte. Und so sehr Kethol bezweifelte, dass die Tsuranis näher waren als an der Grenze zu den Freien Städten, hoffte er dennoch, dass tatsächlich ganze Legionen von Tsuranis und Käfern da draußen waren ... ... und man ihre verfaulenden Kadaver beim nächsten Tauwetter finden würde. 180 Nicht, dass er dann noch hier sein würde, um das zu sehen. Einen Augenblick dachte er an ein gemütliches kleines Gasthaus irgendwo ... wo es warm war. Leise Schritte knirschten auf dem fest gestampften Schnee hinter ihm, rissen ihn aus seinen Gedanken und bewirkten, dass er sich umdrehte. Grodan, der Anführer der Pfadfinder aus Natal, kam näher, den grauen Umhang fest um seine hoch gewachsene, schlanke Gestalt geschlungen. »Heil und guten Morgen, Kethol aus Wo-immer-du-im-Augenblick-gerade-bist«, sagte er. »Heil und guten Morgen, Grodan aus Natal.« Kethol nickte. »Ich habe dich und die beiden anderen Pfadfinder bei dem Unwetter nirgendwo gesehen. Ihr wart doch nicht etwa draußen?« »Wohl kaum.« Grodans Mundwinkel zuckten. »Ich habe allerdings gehört, dass ihr draußen wart, um Baron Morray zu retten.« Kethol zuckte mit den Achseln. »Viel zu retten gab es da eigentlich nicht.« Wieso er versuchte, Morray zu verteidigen, wusste er auch nicht so recht, aber es kam ihm irgendwie illoyal vor, die Andeutung des Pfadfinders einfach so stehen zu lassen, auch wenn Kethol Morray für einen Idioten hielt, weil er sich freiwillig in das Unwetter hinausbegeben hatte. Grodan schaute in die Stadt hinab, wo ein Mann, ebenfalls fest in seinen Umhang gewickelt, aus einem Fenster im ersten Stock seines halb im Schnee begrabenen Hauses an der Hauptstraße kletterte, direkt gegenüber dem Nordtor. Schließlich konnte er sich nicht mehr am Fensterbrett halten, fiel in die Schneewehe und versank darin.
Kethol konnte sich gut vorstellen, was der Mann sagte, als er wieder auf die Beine kam und sich aus der Schneewehe herauswühlte, aber er war zu weit entfernt, als dass man ihn tatsächlich hätte hören können, trotz der Windstille. Der Pfadfinder lachte. »Na ja, das ist zumindest schneller, als das Haus frei zu graben.« Er wurde wieder ernst, während er die Leute in den Straßen beobachtete, die durch den tiefen Schnee 181 stapften. »Ich hoffe, es gibt genug Fleischvorräte in der Stadt; es wird Wochen dauern, bis irgendwelche Tiere zum Markt gebracht werden können.« Darüber machte sich Kethol keine Sorgen. Jede Burg sollte genügend Lebensmittelvorräte haben, nicht nur, um über den Winter zu kommen, sondern auch, um eine Belagerung zu überstehen, und Väterchen Frosts Belagerung würde sicher nicht lange genug dauern, dass die Leute in der Burg irgendwelche Mahlzeiten auslassen mussten, obwohl Kethol wahrscheinlich bald genug von dem Salzfleisch haben würde, wenn es wirklich zu lange dauern sollte, bis genug Vieh von den benachbarten Bauernhöfen nach LaMut getrieben werden konnte. Und wenn man bedachte, wie heftig dieses Unwetter gewesen war, würde das vermutlich tatsächlich eine Weile dauern. »Wo wart ihr also? Während des Unwetters, meine ich. Wenn ich fragen darf«, sagte Kethol. Es war unwahrscheinlich, dass der Pfadfinder nur zu ihm gekommen war, um sich zu unterhalten, aber Kethol war bereit zu warten, bis Grodan zum Thema kam. Der Baron war aufgestanden, Pirojil war an seiner Seite, und Kethol würde ihn nicht vor Mittag ablösen müssen. »Selbstverständlich darfst du fragen.« Der Pfadfinder zuckte mit den Achseln. »Mein Vater hat immer gesagt, wenn es nichts zu tun gib, ist es das Beste, nichts zu tun. Beidan, der Kurze Sam und ich waren einfach in unserem Zimmer, mit etwas zu essen und ein bisschen Wein zur Gesellschaft, und haben uns endlich mal wieder ausgeschlafen.« Er lächelte dünn, dann gähnte er gewaltig. »Und wir drei haben tatsächlich so viel Schlaf bekommen, dass wir jetzt genug davon haben und gerne mal wieder nicht so ausgeruht wären, wenn du das verstehen kannst.« »Das kann ich.« Kethol nickte. »Ich fühle mich ganz ähnlich, obwohl ich nichts dagegen habe, nicht bei dieser Patrouille dabei sein zu müssen ...« Er ließ den Blick über die weiße Schneelandschaft schweifen, während die Soldaten gerade in den Sattel stiegen und die Pferde gereizt mit den Hufen stampften. »Nein, es 182 stört mich ganz und gar nicht, dass meine eigenen Pflichten mich hier festhalten.« Gordans Mundwinkel zuckten. »Das ließe sich sicher ändern.« »Ach ja?« »Gestern erst hat Hauptmann Garnett damit geprahlt, was für ein guter Spurenleser du bist. Ich wollte dich einladen, mich auf meiner eigenen Patrouille nach Norden zu begleiten. Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen.« Grodan warf einen Blick auf die Reiter unter ihnen. »Irgendjemand muss herausfinden, was da draußen los ist. Und die da werden Glück haben, wenn sie auch nur eine Meile weit kommen.« Grodans Miene blieb gleichgültig, aber Kethol glaubte, eine geringfügige Veränderung um den Mund zu bemerken, die er auf Verachtung zurückführte.
»Ich dachte das Gleiche. Ich glaube nicht, dass überhaupt jemand aus der Stadt herauskommen könnte.« »Da bin ich allerdings anderer Ansicht.« Grodan zog ein Stück Trockenfleisch hervor und biss nachdenklich hinein. »Ich wollte einfach nachsehen, ob sich zwischen hier und Mondegreen irgendetwas Interessantes rührt - vielleicht noch ein paar von den Tsuranis, denen ihr letzte Woche begegnet seid.« Er betrachtete den jungfräulichen Schnee. »Im Augenblick stellt selbstverständlich das Vorwärtskommen eine größere Herausforderung dar als das Spurenlesen.« »Glaubst du, dass dein Pony sich schneller bewegen kann als diese Pferde dort?« Grodan schüttelte den Kopf. »Ich hatte nicht vor zu reiten. Ich dachte, wir gehen zu Fuß.« »Zu Fuß?« Von der Burgmauer konnte Kethol Schneeverwehungen sehen, die zum Teil bis zum ersten Stock von einigen Häusern an der Hauptstraße reichten, und die kleinen, dunklen Stollen ganz unten in diesen Verwehungen, die die Bewohner wie Zwerge gegraben hatten, um aus ihrem Schneegefängnis zu kommen. Es war nicht anzunehmen, dass der Pfadfinder zu Fuß erheblich weiter kommen würde als Tom Garnetts Kompanie zu Pferd. 183 »Ja, zu Fuß.« Grodan nickte. »Pfadfinder haben ihre Methoden, Kethol.« Kethol hatte Legenden über die Pfadfinder aus Natal gehört, über ihre beinahe übernatürliche Fähigkeit, sich schnell und lautlos durch den Wald zu bewegen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Er hatte das Gleiche von den Königlichen Kundschaftern in Krondor weiter im Süden gehört und von den Kaiserlichen Fährtenlesern aus Kesh noch weiter im Süden, und es hieß, sie wären alle miteinander verwandt, entweder durch Blut oder durch Magie. Aber Kethol misstraute Legenden, weil Misstrauen einfach in seinem Wesen lag, und er wusste, dass auch seine Fähigkeiten manchmal Leuten magisch vorkamen, die nicht im Wald aufgewachsen waren. »Nun«, sagte er, »wenn du vorhast, bis nach Mondegreen zu gelangen, dann musst du wirklich besondere Methoden haben.« »Das klingt, als würdest du an mir zweifeln.« »Vielleicht ein wenig.« Kethol nickte. »Nichts für ungut, aber ich sehe nicht, wie du imstande sein solltest, so viel mehr zu erreichen als jeder andere - jedenfalls nicht, was diese Sache angeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du bisher auch nur versucht hast, dich auf solchem Boden zu bewegen.« »Da könntest du dich irren.« Grodan lächelte dünn. »Es wird rings um die Grauen Türme recht... interessant im Winter, besonders auf den Hochweiden.« Er zuckte mit den Achseln. »Und es ist für meine Leute eine Sache des Stolzes, überall als Späher arbeiten zu können, ganz gleich, wie die Bedingungen sind. Nicht, dass ich mir gewünscht hätte, letzte Nacht in diesem Unwetter unterwegs sein zu müssen. Aber ich wäre schon zurechtgekommen.« Es schien nicht angemessen zu sein, den Pfadfinder als Lügner oder Angeber zu bezeichnen, also fragte Kethol nur: »Und wie machst du das ? Dich durch den Schnee zu bewegen, meine ich. Ist es eine Art von Magie?«
»Nein, mit Magie hat es nichts zu tun.« Grodan schien ein wenig erheitert von dieser Idee. Er dachte einen Augenblick nach. 184 »Nun, ich denke, es kann nicht schaden, es dir zu verraten, da du es ohnehin sehen wirst, wenn du einfach nur zuschaust. Sich über tiefen Schnee bewegen zu können hängt davon ab, wie man das Gewicht weit genug über den Schnee verteilt, dass er einen tragen wird. Wir stellen breite Schuhe her, indem wir eine dünne Leiste aus Birkenholz zu einem ovalen Rahmen biegen, und dann überziehen wir diesen Reif mit einem Gitterwerk aus Lederschnüren, und das Ganze schnallen wir uns an die Stiefel. Wir nennen diese Schneeschuhe Brezeneden, nach der Bezeichnung für ungeschickte Füße< in der Alten Sprache. Es braucht einige Übung, und es kann ziemlich amüsant sein, jemanden zu beobachten, der es zum ersten Mal versucht.« Er warf erneut einen Blick über die Burgmauer. »Ein Paar Brezeneden lässt sich in einer Stunde herstellen, also hat der Kurze Sam inzwischen wahrscheinlich mehrere gebastelt - er ist geschickter mit den Fingern als Beidan und ich, also haben wir es ihm überlassen.« Kethol nickte. Es schien eine interessante Idee zu sein, und etwas, worüber er nachdenken konnte, falls er jemals wieder in einer Schneehölle wie dieser feststecken sollte. »Birke für den Rahmen?« »Es geht mit jedem biegsamen Holz.« Grodan zuckte mit den Achseln. »Man kommt mit diesen Dingern zwar nur langsam voran, aber ich sollte in der Lage sein, meine Runde durch den Norden in ein paar Tagen hinter mich zu bringen. Beidan und der Kurze Sam werden ihre eigenen Runden drehen.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Bist du sicher, dass du mich nicht begleiten willst?« Kethol schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, meine Pflichten lassen das nicht zu.« »Aber du würdest mich begleiten, wenn deine Pflichten das nicht unmöglich machen würden?« »Selbstverständlich.« Kethol nickte, dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Wenn du mir ein Schwert an die Kehle hieltest -und es müsste ein sehr scharfes Schwert sein.« Grodan lachte und tätschelte seinen Umhang dort, wo sein 185 Schwert verborgen und nur der Griff aus Drachenleder sichtbar war. »Ich habe zufällig ein sehr scharfes Schwert, aber ich werde es nicht benutzen, um dir meine Gesellschaft aufzuzwingen«, sagte er immer noch lächelnd. »Dann wünsche ich dir alles Gute«, erwiderte Kethol. »Und wenn ihr noch ein Paar von diesen Brezeneden übrig habt, würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du sie mir hier lassen könntest, damit ich sie mal ausprobieren kann.« Kethol hatte zwar nicht vor, weit durch den - nein, über den - Schnee zu stapfen, aber es wäre schon interessant zu wissen, wie diese Dinger funktionierten. Ein weiterer Trick für seine Sammlung, wenn auch einer, der wahrscheinlich zu nichts gut sein würde. Aber man wusste schließlich nie. Grodan nickte. »Sicher, warum nicht?« Er schlug Kethol kameradschaftlich auf die Schulter. »Also gut, Kethol aus Woimmer-du-im-Augenblick-gerade-bist, ich wünsche dir einen guten Tag und freue
mich auf eine andere Gelegenheit, wenn ich vielleicht sehen kann, wie du draußen zurechtkommst. Lebe wohl.« »Lebe wohl, Grodan aus Natal.« Kethol sah dem Pfadfinder nach. Es wäre nett gewesen zu wissen, was das alles sollte, obwohl es vielleicht wirklich nur um das gegangen war, was ausgesprochen wurde. Vielleicht. Durine bog nahe an der Burgmauer um die Ecke. Die überhängenden Verstrebungen hatten die Windschattenseite der Festung relativ frei von den riesigen Verwehungen gehalten, die überall sonst das Fortkommen beinahe unmöglich machten. Er ging an der Seite des Bergfrieds entlang und versuchte dabei, keinen Schnee in die Stiefel zu bekommen, entschlossen, die Unterkunft auf dem kürzesten Weg zu erreichen, ohne sich dabei durch schulterhohe Verwehungen graben zu müssen. Gerade wollte er um eine Ecke biegen, die ihn in Sichtweite des Haupthofs und der Unterkunft bringen würde, als ein kräftiger 186 Soldat in einem dicken Umhang in Sicht kam, gefolgt von drei anderen. Es war hier kaum genug Platz für einen Mann, also bedeutete das, dass jemand ausweichen musste. Der Soldat blieb stehen und sagte: »Mach Platz, Söldner.« Durine wusste, was als Nächstes geschehen würde, aber er dachte, dass er wenigstens versuchen sollte, die Sache zu bereinigen, ohne dabei den Schädel des Mannes oder seine eigenen Knöchel brechen zu müssen. »Ihr seid nur ein halbes Dutzend Schritte von dem Ausfallstor entfernt, durch das ihr gerade gekommen seid; es wäre erheblich weniger schwierig, wenn ihr zurückgehen würdet, um mich vorbeizulassen.« »"weniger schwierig?«, fragte der Soldat und rieb sich das rotbärtige Kinn, als zöge er den Vorschlag tatsächlich in Erwägung, aber dann sagte er: »Es interessiert mich nicht, was für dich schwierig ist oder nicht. Wir sind zu viert, und du bist allein. Es wäre besser für dich, umzukehren und uns Platz zu machen.« Durine sah die anderen drei Männer an, die ihren kräftigen Kameraden und Durine recht amüsiert beobachteten. »Mag sein«, sagte er, als dächte er darüber nach. Dann machte er mit einem Tempo, das man bei einem Mann seines Körperbaus kaum erwartete, einen Schritt vorwärts und versetzte dem Mann vor ihm einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Er traf den Soldaten so fest, dass dieser sich einmal um die eigene Achse drehte und dann vornübersackte, was Durine erlaubte, ihn unter den Achseln zu packen. Er hob ihn an und warf ihn sich über die Schultern, wie Kethol es vielleicht mit einem erlegten Rehbock gemacht hätte. Dann stapfte Durine vorwärts, bis er vor dem nächsten Soldaten in der Reihe stand, schaute auf ihn herab und sagte: »Ich denke, wir sollten euren Freund wieder nach drinnen bringen, oder?« Der eher kleinwüchsige Soldat wurde bleich und nickte. Dann drängte er sich an seinen beiden Kameraden vorbei, die ebenfalls begriffen, dass es besser wäre, sich vor dem riesigen Söldner zurückzuziehen. Rasch eilten sie zurück zum Ausfalltor, und einer von ihnen öffnete die Tür. Durine legte den großen Soldaten einfach auf der Schwelle ab, suchte in dem Beutel herum, den der
187 Mann am Gürtel trug, und holte schließlich ein paar Münzen heraus. Einer der Soldaten fragte: »Was soll das denn?« Durine warf dem Mann einen mürrischen Blick zu und sagte laut: »Ich kämpfe nicht umsonst!« Er steckte die Münzen ein und drehte den vieren den Rücken zu, dann konzentrierte er sich darauf, sich weiter durch den Schnee zu pflügen, quer über den Hof bis zu der Unterkunft. Pirojil hatte geschlafen, während der Sturm sich weiter ausgetobt hatte, und nun wäre er dran, Baron Morray zu bewachen. Kethol war gerade beim Baron und würde sich in der Küche etwas zu essen holen, wenn Pirojil ihn ablöste. Durine verfluchte leise sein Pech, dass er derjenige war, der sich durch den schweren, nassen Schnee arbeiten musste. Er war vielleicht auch derjenige, der für diese Tätigkeit am besten geeignet war, aber deshalb gefiel es ihm nicht besser. Auf halbem Weg zwischen dem Bergfried und der Unterkunft begegnete er zwei Soldaten mit Schaufeln, die den Weg freiräumten. Er war froh, dass man ihm zumindest ein bisschen Arbeit erspart hatte, und ging schnell nach drinnen. In der Unterkunft war Pirojil gerade dabei, sich anzuziehen, wobei er halb einer Geschichte zuhörte, die ihm Mackin, der verrückte Zwerg, erzählte. »Und dann sagt sie: >Da, wo es drauf ankommt, bist du groß genug!<« Er brach in wildes Gelächter aus. Durine sah, wie Pirojils Brauen leicht zuckten, und begriff, dass der hässliche Mann die Geschichte des Zwergs witzig gefunden hatte. »Du bist dran«, sagte er und ging zu seiner Pritsche. Pirojil nickte und stand auf. »Alles klar?« »Keine Probleme«, erwiderte Durine und zog sich die Stiefel aus. Pirojil nickte und verließ die Unterkunft ohne ein weiteres Wort. Mackin fragte: »Haben sie den Weg in die Stadt schon freigeschaufelt?« »Noch nicht.« 188 »So ein Mist. Ich hätte nichts gegen ein Bier und eine Frau.« Durine blickte sich um und sah viele Männer, die auf ihren Pritschen saßen und gedankenverloren an die Decke oder die Wände starrten. Er konnte die Spannung im Zimmer geradezu riechen. »Mackin«, sagte er, »da bist du nicht der Einzige.« Pirojil stand an die Wand gelehnt und beobachtete, wie die Adligen am Tisch in der Großen Halle Platz nahmen, an dessen Kopf der Schwertmeister saß. Zu seiner Überraschung saß Lady Mondegreen auf dem Ehrenplatz rechts neben Steven Argent. Und das kam offenbar nicht nur für Pirojil überraschend: Folson machte eine kurze Bemerkung zu Langahan und zeigte dabei verstohlen zum Kopf des Tisches. Die anderen Barone und Adligen waren zu beiden Seiten nach einem Plan verteilt, den Pirojil nicht so recht durchschaute, aber er war sicher, dass es nicht vollkommen zufällig war, und sei es nur, weil man Verheyen am Fuß des Tischs platziert hatte, während Morray, wahrscheinlich wegen seiner Stellung als Heereskämmerer, zur Linken des Schwertmeisters saß. Der lange Tisch war mit frischen Leinentüchern gedeckt, die sich an einigen Stellen überlappten, und die einzigen Gegenstände auf der makellosen weißen Oberfläche
waren die Schwerter und Dolche der versammelten Adligen, blank und offen, als erwarteten die Barone - so unwahrscheinlich das schien -, sie benutzen zu müssen. Pirojil hoffte, dass das tatsächlich so unmöglich war, wie er dachte. Er war viel zu weit entfernt, um in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Baron Viztria plötzlich das Schwert ergriff, das vor ihm lag, und Morray erstach, zu seinem Schutzbefohlenen zu gelangen. Sollte das Unwahrscheinliche tatsächlich geschehen, würde Pirojil bestenfalls dabei helfen können, die Leiche wegzutragen. Selbstverständlich nachdem er Viztria getötet hatte, immer vorausgesetzt, Steven Argent wäre nicht schneller als er. Pirojil schaute weiter unbeteiligt drein, aber er musste innerlich grinsen, als er sich daran erinnerte, wie der Schwertmeister den 189 aufgeblasenen kleinen Baron vor seinen Standesgenossen blamiert hatte. Eine kleine Armee von Dienern servierte den Gästen Essen, Kaffee und Wein von Tischen, die an den Seiten aufgestellt waren, was Pirojil zeigte, dass der Rat wahrscheinlich mehrere Stunden dauern würde, obwohl niemand das ausdrücklich gesagt hatte, zumindest nicht in seiner Hörweite. »Im Namen des Grafen von LaMut«, sagte der Schwertmeister und erhob sich, während die anderen sitzen blieben, »eröffne ich hiermit den Rat der Barone in der Grafschaft LaMut. Sollte einer, der hier am Tisch sitzt, nicht frei seine Treue zu Graf Vandros, Herzog Brucal, Prinz Erland und dem Königreich selbst schwören können, dann sollte er sich nun entweder ohne Angst vor Vergeltung oder Strafe entfernen oder zur Zufriedenheit dieser adligen Körperschaft erklären, wieso er diesen Schwur nicht ablegen kann.« Pirojil wunderte sich, wieso der König und der Vizekönig des östlichen Reichs, Guy du Bas-Tyra, bei dieser Ansprache ausgelassen wurden - jedenfalls, was ihre Namen anging, obwohl Steven Argent das Königreich ganz allgemein erwähnt hatte -, und er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, obwohl es zweifellos zwei Männern ganz und gar nicht behagte, wenn man danach ging, wie Baron Langahan und Baron Viztria, beide aus Krondor, das Gesicht verzogen. Nun, zumindest Langahans Miene mochte etwas zu bedeuten haben. Was Viztria anging, so gehörte missbilligende oder verächtliche Mimik offenbar zum Dauerrepertoire des fuchsgesichtigen kleinen Höflings, und beides hatte nicht mehr zu bedeuten, als dass sich sein Gesicht im gleichen Zimmer befand wie er selbst. Mehrere Augenpaare wandten sich Berrel Langahan zu, dem seltsam sonnengebräunten, seltsam gewöhnlich aussehenden kahlen Höfling, der nun die Stirn runzelte und rasch auf die Beine kam, aber wartete, bis Steven Argent sich gesetzt hatte, bevor er etwas sagte. »Wie Ihr alle wisst«, verkündete er nun, »komme ich vom Hof 190 in Krondor, und ich bin nicht an die Grafschaft LaMut und auch nicht an das Herzogtum Yabon lehengebunden; das Gleiche gilt für meinen Freund Baron Viztria. Und bei aller höchsten Wertschätzung, die ich für Herzog Brucal von Yabon und Graf Vandros von LaMut empfinde, kann ich weder Treue zur Grafschaft noch zum Herzogtum schwören.« Seine Miene wurde streng. »Ich kann allerdings jederzeit meinen Treueschwur an den König erneuern, und den Schwur
des Gehorsams gegenüber dem von ihm eingesetzten Vizekönig, mögen die Götter ihm in diesen schwierigen Zeiten Gesundheit und tiefste Weisheit schenken.« Das war vermutlich das politisch Geschickteste, was man sagen konnte, wenn man die Fehde zwischen Guy du Bas-Tyra und Borric von Crydee bedachte. Herzog Brucal von Yabon war vermutlich zu eng mit Borric verbündet, um noch die Billigung von Guy du Bas-Tyras Anhängern zu finden - was zweifellos jeden Höfling einschloss, den man ohne kurze Leine aus Krondor herausließ, und erst recht jene, die man zu einer Beratung in Yabon schickte. »Gesundheit und Weisheit für den Vizekönig - und den Prinzen«, sagte Steven Argent, als stimmte er seinem Vorredner zu. Sein Gesicht war eine freundliche Maske, aber in seinen Augen stand etwas Finsteres, das Pirojil nicht besonders gefallen hätte, wäre es gegen ihn gerichtet. »Gesundheit und Weisheit für den Prinzen!«, wiederholten die Übrigen, einige schneller als andere. »Gesundheit und Weisheit für den Prinzen«, sagte Verheyen als letzter der Barone, die diese Worte wiederholten, und mit einer Stimme, die ein kleines bisschen lauter war als notwendig. »Ja, selbstverständlich - Gesundheit und Weisheit für den Prinzen«, sagte Langahan beinahe sofort. Er warf Verheyen einen langen Blick zu, dann blinzelte er und fuhr fort: »Wie ich schon sagte, ich kann nicht guten Gewissens in Worten oder Schweigen dem Grafen oder der Grafschaft Treue schwören, außer als Teil des Königreichs.« Er schaute von einem Gesicht zum anderen. »Ich denke, das sollte ich gleich zu Beginn 191 hier offen erklären, und wenn einer ... wenn einer von Euch der Ansicht ist, dass ich deshalb nicht an diesen Beratungen teilnehmen sollte, dann bitte ich ihn - oder sie -« er verbeugte sich in Richtung Lady Mondegreen, »jetzt zu sprechen, und dann werde ich mich unter Bedauern von dieser Sitzung zurückziehen, und ich schwöre, deshalb gegen niemanden hier einen Groll zu hegen.« Und er würde sich wahrscheinlich darauf verlassen, dass Baron Viztria ihm oder zumindest Guy du Bas-Tyra über jedes Wort Bericht erstattete, das im Rat fiel. Schweigen senkte sich über die Halle, und nachdem Steven Argent einen nach dem anderen angesehen hatte, erklärte er: »Ihr seid hier willkommen, Baron Langahan.« Langahan verbeugte sich anmutiger, als Pirojil es von einem solch untersetzten Mann erwartet hätte, und setzte sich wieder. Nun stand Viztria auf. »Ich kann sicher nicht von mir behaupten, ein Mann weniger Worte zu sein«, erklärte er mit einem Schnauben, »wie mein Freund Baron Langahan hier, aber ich versuche, mich zusammenzunehmen. Ich muss gestehen, dass meine Treue dem Reich als solchem gilt, und nicht einer Schlammsuhle von« er hielt inne und zwang ein gequältes Lächeln auf seine Lippen - »einer einzelnen wichtigen Baronie, die Teil eines ebenso wichtigen Herzogtums ist. Falls jemand hier etwas gegen meine Anwesenheit einzuwenden hat, dann sollte er - oder sie, Mylady - jetzt sprechen, und ich werde mich in mein Zimmer zurückziehen und meine lange vernachlässigte Korrespondenz erledigen.«
Er hätte auch gleich sagen können, wenn man ihn ausschloss, würde ein Bote rasch zu Guy du Bas-Tyra entsandt werden, aber Steven Argent nickte einfach nur, als nähme er seine Worte vollkommen wörtlich. Auch von den anderen wurde diese Erklärung einer zögerlichen Allianz, wenn schon nicht der Loyalität, mit schweigender Zustimmung entgegengenommen. Pirojil hielt das für ein gutes Zeichen. Die Entfremdung, wenn 192 nicht Feindseligkeit, zwischen dem Osten und dem Westen, hier repräsentiert durch die Barone LaMuts auf der einen und diese beiden Höflinge aus Krondor auf der anderen Seite, würde an dieser Stelle nicht behoben werden, aber im Augenblick zumindest hatte man sich entschlossen, sie so gut wie möglich zu ignorieren. Steven Argent lehnte sich zurück. »Nun gut. Wir haben viel zu besprechen, von den Steuern, die eingetrieben und verteilt werden müssen, bis zum Wiederaufbau dessen, was im Krieg zerstört wurde, und die Anweisung des Grafen lautet, dass wir bezüglich aller Angelegenheiten, die die Grafschaft betreffen, Vorschläge machen bis auf die Kriegführung, die Angelegenheit des Generalstabs ist, der sich zur Zeit in Yabon trifft.« Er lächelte dünn. »Ich bin sicher, dass der Graf und die Herzöge auch im Hinblick auf diese Dinge unseren Rat hören möchten, aber es hat wenig Sinn, wenn sich diese würdige Versammlung damit beschäftigt, über Themen zu reden, die von anderen mit größerem Wissen und größerer Verantwortung entschieden werden.« »Ganz abgesehen davon«, fügte Baron Viztria mit seinem üblichen spöttischen Lächeln unter dem dünnen Schnurrbart hinzu, »dass selbst guter Rat, wenn er zu spät kommt, etwa so viel wert ist, als zahlte man Deckgebühren für die Dienste eines Wallachs.« Das Lächeln des Schwertmeisters war ausgeprägt, aber kalt. »Ganz genau«, sagte er und nickte knapp. »Normalerweise würde der Graf hier den Vorsitz führen. In seiner Abwesenheit verlangt es der Brauch, dass einer der älteren Barone seinen Platz einnimmt - wahrscheinlich wäre die Wahl auf Baron Mondegreen gefallen, da die Gespräche sich hier ohnehin um Angelegenheiten drehen werden, die in die Kompetenz des Kämmerers der Grafschaft fallen.« Pirojil konnte ihm so weit folgen. Mondegreen war schon seit langer Zeit zu krank gewesen, um während des Krieges häufiger nach LaMut zu reisen, und deshalb hatte der Vater des Grafen Morray als Heereskämmerer eingesetzt. Graf Vandros hatte daran nichts geändert, und nach allem, was Pirojil wusste, hatte das be193 deutet, dass Morray sich mehr und mehr auch um Mondegreens allgemeinere Pflichten in der Grafschaft gekümmert hatte. Aber wenn es an diesem Tag darum gehen sollte, gut miteinander auszukommen und dieses Ziel hatten sich offenbar alle gesetzt -, wäre es sicher keine gute Idee, Morray an Mondegreens Stelle zum Vorsitzenden des Rats zu machen. Den Ärger, der aus einer solchen Entscheidung entstehen würde, konnten sie alle nicht brauchen. Die Unterkünfte waren überfüllt mit Soldaten, die im Augenblick keine Tsuranis mehr zum Töten hatten und daher ständig kurz davor standen, einander gegenseitig umzubringen.
Pirojil lehnte sich zurück und wartete darauf, dass Steven Argent ankündigte, dass er daher die folgende Sitzung des Rats leiten würde. Aber zu seiner Überraschung erklärte der Schwertmeister: »Ich werde bei dieser Beratung nicht den Vorsitz führen.« »Es ist mir nicht entgangen, dass einige Leute von mir gewohnheitsmäßig als von dem >Schwertmeister aus dem Osten< oder >diesem Exhauptmann aus Rillanon< sprechen, obwohl ich dem Grafen von LaMut schon ein Dutzend Jahr diene. Außerdem bin ich ein Soldat und der hiesige Schwertmeister, und das ist alles, was ich sein will. Was immer hier besprochen wird, muss aus dem Rat selbst hervorgehen und darf nicht von einem wie mir beeinflusst werden.« Was Morray nun veranstaltete, kam einem pfauenhaften Herumstolzieren im Sitzen gleich. Er lächelte und fuhr sich eitel durchs Haar, und Verheyen war nicht der Einzige, der ihm einen wütenden Blick zuwarf. »Und aus diesem Grund«, fuhr der Schwertmeister fort und erhob sich bei diesen Worten wieder, »möchte ich Lady Mondegreen bitten, diesen Platz einzunehmen, und dann werde ich mich entschuldigen und Euch, meine Herren und meine Dame, Euren Beratungen überlassen - es sei denn, ich höre einen Einspruch.« Er hob vorsichtshalber gleich die Hand. »Zuvor möchte ich aller194 dings noch sagen, dass ich jeden Einspruch gegen meine Entscheidung nicht nur als eine Beleidigung des Hauses Mondegreen betrachten werde, sondern auch meiner Ehre, und als Edelmann aus Rillanon ebenso wie als Schwertmeister von LaMut weiß ich genau, wie ich damit umzugehen habe.« Das alles sagte er mit einer Stimme, die gerade deshalb so bedrohlich wirkte, weil sie ganz und gar lässig klang. Verheyen war der Erste, der reagierte. Er nickte und lächelte. »Ich halte Lady Mondegreen für eine gute Wahl; ich kann mir keine bessere vorstellen und in der Tat einige schlechtere, ich selbst eingeschlossen. Würdet Ihr da nicht auch zustimmen, Baron Morray?« Baron Morray saß in der Falle und hatte es auch nicht besser verdient. Ihm blieb nur noch zu nicken. »Selbstverständlich freue ich mich, dass unsere Beratungen von dieser Dame geleitet werden, die nicht nur schön ist, sondern auch weise.« »Hört, hört«, riefen mehrere andere, und Steven Argent verließ das Zimmer und winkte Pirojil, ihm zu folgen.
7
Beförderungen
Der Schwertmeister öffnete die Tür. Pirojil nahm an, dass Steven Argent in Gedanken versunken war, denn er kümmerte sich nicht um das Protokoll, das verlangt hätte, dass Pirojil ihm die Tür aufhielt. Der Schwertmeister war auf dem Weg von der Ratskammer zu seinen eigenen Gemächern offenbar vollkommen damit zufrieden gewesen, seine Gedanken für sich zu behalten; er hatte nur erwähnt, dass er schon vor Beginn des Rats nach Durine und Kethol geschickt hatte, die jetzt sicher schon auf sie warten würden.
Durine befand sich tatsächlich, wie der Bote des Schwertmeisters ihn angewiesen hatte, bereits zusammen mit Kethol im Adlerhorst, als Pirojil und der Schwertmeister wie zwei alte Freunde hereinmarschiert kamen. Kethol war sogar noch vor Durine hier oben gewesen, hatte sich in den Sessel neben der Feuerstelle gesetzt und war nun damit beschäftigt, mit dem Griff seines Messers die Augenwülste des Drachen zu kraulen. Das sah für Durine alles andere als sanft aus, aber Fantus bog den Rücken durch und schmiegte sich wie eine Katze in die Bewegung. Die Flügel hatte er entweder vor Entzücken ausgebreitet oder einfach nur, um so viel Wärme wie möglich aufzunehmen. Durine hatte sich auf eine Holzbank am Feuer gesetzt und Kethol angestarrt, der mit dem kleinen Drachen spielte. Er war nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. 196 »Ich glaube, er mag mich«, hatte Kethol gesagt. »Oh.« Als Pirojil und der Schwertmeister hereinkamen, bedeutete Steven Argent ihnen mit einer Geste, sitzen zu bleiben und bat Pirojil, sich ebenfalls niederzulassen, bevor er sich in den Sessel gegenüber von Kethol sinken ließ. Dann streckte er genüsslich die langen Beine aus und faltete die Hände hinter dem Kopf. Er schien unerträglich zufrieden mit sich selbst. »Nun, das ging besser, als zu erwarten war, oder?« Oder? Pirojil wandte sich Durine zu. »Der Schwertmeister hat Lady Mondegreen den Vorsitz über den Baronsrat überlassen.« Er nickte. »Und ich wette, das hat die anderen ziemlich überrascht.« Der Schwertmeister grinste. »Das hat es.« Er zuckte mit den Achseln und sah die drei vollkommen unschuldig an. »Und um ehrlich zu sein, ich denke, es war eine durchaus vernünftige Entscheidung, und ich hätte kein Problem damit, sie auch gegenüber Graf Vandros zu rechtfertigen - immerhin hat Baron Mondegreen seine Frau geschickt, um ihn zu vertreten, und er war der offensichtlichste Kandidat.« Dann wurde er ernst. »Wie gut der Rest laufen wird, kann ich nicht sagen - es gibt viel zu tun, und der Graf wird selbst darüber urteilen müssen, wie gut sie ihre Prioritäten und Budgets verteilt haben.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Leben besteht aus Waffen und Kampfkünsten, aber ich lebe schon lange genug, um zu wissen, dass wir bis zum Frühling die gesamte Schatzkammer des Grafen dafür leeren könnten, die Barone bei den Routinereparaturen auf ihrem eigenen Land zu unterstützen, und damit ist noch nicht ein einziger Kriegsschaden behoben.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Ich bezweifle nicht, dass schnelles Geld und die Tatsache, dass es hier mehr Arbeit als Fachleute gibt, eine Flut von Anstreichern, Zimmerleuten und Maurern aus der Provinz Krondor nach Norden bringen wird.« Pirojil hätte beinahe gelächelt. Nur ein Mann aus dem Osten hätte den Herrschaftsbereich »die Provinz Krondor« genannt. Der Schwertmeister war nach zwölf Jahren im Westen wirklich 197 immer noch »dieser Exhauptmann aus Rillanon«. Er hatte recht daran getan, sich aus dem Rat zu entfernen. Argent schüttelte müde den Kopf, als würden ihn Finanz- und Regierungsangelegenheiten mehr erschöpfen als jeder Zweikampf. »Das wird
zweifellos die Preise hoch treiben, vom Hühnchen auf dem Markt bis zu einer Elle Wollstoff.« Er zog den Korken aus einer Flasche, die auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel stand, und goss sich ein Glas Wein ein. »Aber das ist zum Glück nicht mein Problem, und ich kann mich wieder um Dinge kümmern, mit denen ich mich besser auskenne.« Er trank einen Schluck. »Und deshalb habe ich nach euch geschickt.« Er warf Kethol einen Blick zu. »Hast du deinen Freunden von diesem kleinen Zwischenfall in der Unterkunft erzählt - dieser Schlägerei zwischen Morrays und Verheyens Leuten, zu der wir zufällig hinzugekommen sind?« »Nein.« Kethol schüttelte den Kopf. »Es war mehr ein Handgemenge als ein Kampf, und es schien mir nicht erwähnenswert.« Argent schnaubte. Kethol zuckte mit den Achseln. »Niemand ist umgekommen, es gab nur ein paar gebrochene Knochen und nicht einmal eine Stichwunde -« »Wir haben Hunderte von Soldaten aus einem Dutzend rivalisierender Baronien, die hier in LaMut festsitzen, alle kriegsmüde, gereizt, gelangweilt und auf der Suche nach etwas, womit sie sich amüsieren können, und du glaubst, eine Schlägerei sei nicht erwähnenswert?« Das mit dem Dutzend rivalisierender Baronien war ein wenig übertrieben, aber das eigentliche Problem entsprach durchaus der Beschreibung des Schwertmeisters, dachte Kethol. Es war vielleicht sogar noch schlimmer. Dennoch, wenn man einmal von den persönlichen Wachen der Barone absah, war der größte Teil der Soldaten aus den Baronien getrennt voneinander in nahe gelegenen Dörfern untergebracht, und welche Probleme Baron Folsons Männer vielleicht mit Baron Benteens Leuten haben mochten, war vollkommen akademisch -das Unwetter hatte die Kompanien voneinander isoliert. 198 Es gab jedoch genügend Leute von Morray und Verheyen in der Stadt, um ernsthaften Arger zu machen - und sie waren kaum das einzige Beispiel. Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Die Hauptleute haben mir bereits von weiteren solcher Handgemengt erzählt.« Das war zu erwarten gewesen. Es war einer der Gründe, wieso Durine so froh war, dass ihre eigenen Aufgaben sie in den Bergfried führten und sie nicht den ganzen Tag mit den anderen in der Unterkunft hocken mussten. Bei solchen Handgemengen war es schwierig, neutral zu bleiben; die Leute hatten etwas gegen einen Mann, der sich weigerte, sich auf eine bestimmte Seite zu schlagen - oder genauer gesagt, sie hatten etwas gegen einen Mann, der sich nicht auf ihre Seite schlug. »Und Hauptmann Kelly und ein paar Feldwebel mussten einen Soldaten zu Vater Riley tragen - er hatte eine Messerwunde an der Seite. Eine seltsame Art Wunde, die ihm, wenn man den Soldaten in der Unterkunft glauben will, niemand verpasst hat, und keiner weiß etwas darüber.« »Davon hatte ich noch nicht gehört«, sagte Pirojil. Durine schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ihr werdet es schon noch erfahren, auf die eine oder andere Weise«, sagte Argent. »Und wenn das geschieht, dann solltet ihr auf jeden Fall erwähnen, dass die Wunde des Soldaten - er ist einer von Verheyens Leuten - sehr klein war. Er wird wieder
vollkommen gesund werden und nur eine Narbe und die Erinnerung an ein paar Tage im Bett zurückbehalten.« Die drei nickten. »In der Zwischenzeit habe ich die Hauptleute befehlen lassen, dass die Männer, die nicht im Dienst sind, aus der Unterkunft heraus und in die Stadt geschickt werden, damit sie sich dort die Beine vertreten. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich in jedem Raum der Unterkunft einen Hauptmann postieren müssen, in der Hoffnung, dass sie dort die Ordnung aufrechterhalten können, und ich -« Er hielt inne, dann zuckte er mit den Achseln und fuhr fort: »Und ich kann mich zwar auf meine eigenen Hauptleu199 te verlassen, aber ich bin nicht sicher, ob ein paar dieser Offiziere der Barone nicht ein ebenso großes Problem darstellen wie ihre Männer. Diese Fehden unter Baronen dauern oft über Generationen und beinhalten alle Arten von Groll, bis hinunter zu dem einfachen Soldaten, dessen Großvater von dem Großvater eines anderen einfachen Soldaten beleidigt wurde.« Steven Argent schaute von einem Gesicht zum anderen, als wollte er sie herausfordern, ihm entweder zuzustimmen oder zu widersprechen, und Durine brauchte seine Kameraden nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihre Mienen vollkommen ausdruckslos und gleichgültig waren, genau wie seine eigene. Steven Argent schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Aber es wird Ärger geben, da bin ich sicher, und ich will, dass sich außer der Stadtwache noch andere in meinem Auftrag umsehen. Dem Wachtmeister kommt es immer viel zu sehr darauf an, mir sagen zu können, dass alles in Ordnung ist - gar nicht davon zu reden, dass er nicht die Leute hat, um es mit ausgebildeten Kämpfern aufzunehmen -, und ich habe zwar schon eine Kompanie meiner eigenen Leute zur Unterstützung der Wache ausgeschickt und kann mich auf Hauptmann Stirling ebenso verlassen wie auf Tom Garnett, aber falls ein größerer Konflikt ausbrechen sollte, könnten meine Männer von beiden Seiten einfach überrannt werden; die meisten meiner Leute sind ohnehin mit dem Grafen in Yabon oder immer noch an der Front, wo sie sich eingegraben haben.« Einen Augenblick sah er aus, als wünschte er sich, diese Männer wären wieder in der Stadt, aus mehr Gründen als nur, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er schaute von Durine zu Kethol und dann zu Pirojil und sagte: »Ich hätte gern drei weitere Augen- und Ohrenpaare draußen in der Stadt. Und nicht nur Augen und Ohren, sondern auch noch Münder.« Durine nickte langsam. »Und das sollen wir sein, Mylord?« »Schluss mit dem >Lord<-Quatsch, bitte - und ja, das sollt ihr sein.« Er schüttelte den Kopf. »Tom Garnett und ein paar seiner besten Feldwebel wären mir lieber, aber sie sind auch diejenigen, die mit der Umgebung hier am besten vertraut sind, und ich brau200 che sie für Patrouillen. Ich hätte eine Kompanie von Verheyens Männern schicken können, was sie zumindest von Morrays Leuten fern gehalten hätte, aber sie würden wahrscheinlich versuchen, sich zu weit vorzuwagen, nur um zu beweisen, dass sie ebenso gut wie alle anderen sind oder sogar besser, und dann würden sie sich verirren.« Er seufzte. »Es wäre angenehm, die Pfadfinder als Führer zu haben,
aber sie waren der Ansicht - und das ist vielleicht ganz angemessen -, dass sie für Erkundungen in größerer Entfernung gebraucht würden.« Er verzog das Gesicht. »Außerdem stehen sie ohnehin nicht unter meinem Befehl - also muss ich die Soldaten, die ich noch in der Stadt habe, für Patrouillen einsetzen, und das bedeutet, dass ich euch drei brauche.« Er stand auf und suchte etwas auf seinem Schreibtisch. »Holt euch ein paar Waffenröcke von LaMut vom Quartiermeister, und tragt sie unter euren Umhängen, und wenn es Ärger gibt, dann zeigt ihr die Wappen und kümmert euch um das Problem - und macht deutlich, dass auch schon die kleinste Rempelei als Rebellion gegen die Herrschaft des Grafen betrachtet wird. Aber vor allem will ich, dass ihr heute Abend wieder bei mir am Tisch sitzt und mir eine Vorstellung davon liefert, was da draußen los ist.« »Verstanden«, sagte Pirojil mit einem Nicken. »Und geht einzeln.« Der Schwertmeister runzelte die Stirn. »Ihr drei neigt dazu zusammenzuhängen, und das mag im Kampf in Ordnung sein, aber es ist nicht, was ich hier im Sinn habe. Verteilt euch.« »Was das Umsehen angeht, sehe ich da kein Problem. Aber etwas unternehmen, wenn es Ärger gibt - ich bin nicht sicher, ob das funktionieren wird, My... äh, Schwertmeister.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz gleich, welche Waffenröcke wir zufällig tragen, ich glaube nicht, dass eine Gruppe aufgebrachter Soldaten sich das so einfach bieten lässt, es sei denn ...« »Es sei denn, es ist kein einfacher Soldat, der sich da einmischt, sondern mindestens ein Feldwebel. Und selbst das ist eine wacklige Angelegenheit, wenn es nicht ihre eigenen Feldwebel sind«, schloss der Schwertmeister und nickte, als wollte er seinen eige201 ^1
nen Worten zustimmen; dann griff er in die Schreibtischschublade und holte ein kleines Päckchen Schulterklappen heraus. »Und deshalb werdet ihr in Zukunft den Titularrang eines Hauptmanns haben. Ich habe bereits die anderen Hauptleute und die Stadtwache informiert. Lasst euch vom Quartiermeister auch ein paar Trillerpfeifen geben, und habt keine Bedenken, nach der Wache zu pfeifen. Aber ihr solltet auch nicht übereifrig sein; euer Rang wird euch wieder abgenommen, sobald der Rat zu Ende ist, die Straßen wieder frei sind und wir ein paar von diesen Soldaten aus der Stadt schaffen können.« Er sah sie ruhig an. »Wenn nicht schon vorher.« Pirojil zog die Brauen hoch. »Nichts für ungut, aber ist das eine Drohung oder ein Versprechen?« Steven Argents Lachen klang völlig ungezwungen. »Ich glaube, ein bisschen von beidem.« Pirojil warf einen Blick zu Durine, dann sah er Kethol an. »Wenn die Straßen frei sind, machen wir uns sowieso auf den Weg nach Süden, mit unserem Sold in den Beuteln.« »Ja, ja, ja - worauf wartet ihr dann noch?« Pirojil räusperte sich. »Ich bin sicher, dass Titularhauptleute einen vollen Hauptmannssold erhalten und -«
»Ja, ihr könnt den Hauptmannssold bekommen, und ich werde selbst mit dem Zahlmeister sprechen. Ist das jetzt alles, oder müsst ihr mich noch mit mehr belästigen?« Die drei standen auf, aber Pirojil blieb an der Tür noch einmal stehen und drehte sich um. »Nun?« Der Schwertmeister blickte gereizt auf. »Was noch?« »Nun, da wäre noch Baron Morray.« »Ihr drei habt lange genug gefaulenzt.« Der Schwertmeister schnaubte. »Ich glaube nicht, dass ihm am Beratungstisch etwas zustoßen wird, nicht, solange alle hier im Bergfried festsitzen -aber ich werde darüber nachdenken. Ihr könnt mir den Baron für heute überlassen; geht einfach in die Stadt und sorgt für Ruhe und Ordnung.« Durine sagte: »Wir tun, was wir können.« 202 Der Schwertmeister nickte. »Wie wir alle, wie?« »Ja, Schwertmeister«, erwiderte Durine. Das war wohl die angemessene Antwort. Durine ging auf dem schmalen freigeschaufelten Pfad in der Mitte der Straße auf die Schmiede zu. Die Straße hieß offiziell Straße zu Ehren König Rodrics, wurde aber von allen hier Hundestraße genannt. Ob das daher kam, dass sie vor König Rodrics Zeiten schon so geheißen hatte, oder ob es ein Ergebnis der Feindseligkeit zwischen Westen und Osten war, wusste er nicht. LaMut kam langsam wieder aus dem Winterschlaf - teilweise grub es sich heraus. Es gab zwar nur wenige Spuren von Pferden - von ihren gesamten Beinen, nicht nur den Hufen - im Schnee, aber Stiefelspuren gab es in der schmalen Straße in Mengen, als wären sie der Abdruck eines riesigen Netzes, das über Nacht von einer riesigen Spinne gewebt worden und dann wieder verschwunden war. Er schnupperte. Es war vielleicht ein bisschen wärmer geworden, wenn auch noch nicht annähernd warm genug, um den Schnee zu vertreiben. Wahrscheinlich bewirkte die Windstille, dass es sich wärmer anfühlte. Nur das wunderbare Auftauchen von heißem Sommerwind, wie er in der Wüste von Jal-Pur blies, hätte den Schnee noch rechtzeitig schmelzen und die Stadt LaMut öffnen können, damit nicht alles durcheinander geriet. Ein Wunder wäre eine gute Idee. Wo war die Göttin Killian, wenn man sie brauchte? Wahrscheinlich räkelte sie sich auf einer Decke an einem warmen Strand bei Durbin, nippte an einem kühlen Getränk und lachte leise darüber, was sie LaMut angetan hatte. Auf der Decke daneben lag vermutlich Tith-Onaka, und ob er mit ihr lachte oder sie verärgert anschaute, darüber hätte Durine sich lieber nicht auslassen wollen - der Soldatengott hatte einen sehr seltsamen Sinn für Humor. Unruhe in der Schmiede weiter unten an der Straße bewirkte, dass Durine seine Schritte beschleunigte. 203 Unter den Umhängen der Soldaten, die sich dort an der offenen Tür versammelt hatten, blitzten gut ein halbes Dutzend unterschiedlicher Waffenröcke - darunter, wie Durine mit einiger Erleichterung feststellte, auch das graue Tuch von LaMut. Wahrscheinlich ein kleines Handgemenge, aber nichts Schlimmeres, jedenfalls noch nicht.
Durine konnte durchaus verstehen, dass die Soldaten gerne nach drinnen wollten. Wenn man unbedingt an einem solchen Tag in der Stadt sein musste, aber versuchte, die Kneipen zu meiden, weil man nicht mit zu vielen Soldaten zu tun haben wollte, die zu dicht zusammensaßen und zu viel Bier tranken, dann war einer der wärmsten Plätze, an denen man sich aufhalten konnte, eine Schmiede. Und ein Soldat fand immer einen Grund, einen Schmied aufzusuchen: Ein Gürtel musste geflickt werden, ein Dolch geschliffen, ein Schwertgriff neu umwickelt. Alles wäre als Ausrede geeignet, damit ein Mann sich eine halbe Stunde an einem Schmiedefeuer wärmen konnte. Ein Kampf in einer Schmiede jedoch wäre wahrscheinlich schlimmer als zum Beispiel in der Schänke zum Gehängten Keshianer nebenan. Wirte waren an Schlägereien gewöhnt, zumindest genügend, dass sie dafür sorgten, dass nicht Unmengen von Metallgegenständen herumlagen, die als Schlagwaffen dienen konnten. Schmiede hatten da ganz andere Erwartungen und Prioritäten. Durine zog den Umhang zurück, damit die Rangabzeichen sichtbar wurden, und drängte sich durch die Menge der Soldaten und die Tür. Verflucht. Karris, der Hauptmann mit dem borstigen Schnurrbart, der zu Baron Benteens Leuten gehörte, stand Hauptmann Kelly von Folsons Streitkräften gegenüber. Hinter der Werkbank, die auch als Ladentheke für die Schmiede diente, stand der Schmied und beobachtete sie wachsam. Er spannte die muskulösen Arme leicht an, während er wartete. Sein Haar und das weite Hemd waren von Schweiß durchtränkt, der Hammer ruhte auf einem massiven Amboss. Beide Lehrlinge arbeiteten weiter an 204 den Blasebälgen, und aus dem Schmiedeofen wirbelten im Rhythmus ihrer Bewegungen Funken. Nur hin und wieder hielten sie inne, um ein Stück Brucheisen in den Schmelzkübel zu werfen, der halb in den Kohlen vergraben war. Die Arbeit würde weitergehen - was auch immer der Schmied in der klotzigen Form, die neben dem Ofen wartete, gießen wollte -, ob die Hauptleute sich nun stritten oder nicht. Für Durines geübtes Auge sah es so aus, als würde der Schmied den Hammer wieder aufnehmen und sich erneut an die Arbeit machen, sobald das Metall bereit war. Er würde diesen Hammer vielleicht auch gegen einen der Hauptleute benutzen, falls einer von ihnen der Werkbank zu nahe kam, aber ansonsten würde er sich nicht einmischen. Anders als in einem Gasthaus oder einer Töpferwerkstatt gab es in einer Schmiede nicht viel, was zerbrechen konnte. Und außerdem waren die beiden Männer im Augenblick noch dabei, sich zu unterhalten. Es war Durine am Abend zuvor nicht entgangen, dass die beiden Hauptleute einander nicht sonderlich leiden konnten, aber er wusste nicht, ob es ein persönliches Problem war oder die Auswirkung der Rivalität zwischen ihren Baronen. Es hätte selbstverständlich auch beides sein können. »Bitte«, sagte Kelly, und das künstliche Lächeln, das er aufgesetzt hatte, drohte die wenig benutzten Gesichtsmuskeln zu überfordern, »ich wäre mehr als erfreut, wenn sich der Meister Schmied hier erst um Euch und dann um mich kümmert, mein guter Freund Hauptmann Karris.« Seine Stimme war zu laut, aber er schrie noch nicht wirklich.
»Nur wenn Ihr wirklich darauf besteht, Hauptmann Kelly«, trompetete Karris ebenso lautstark wie sein Gegenüber, »obwohl ich hoffe, dass Ihr das nicht tut.« Er betastete seinen Schnurrbart. »Ich will eigentlich nur einen zerbrochenen Steigbügel gelötet haben, und den brauche ich zwar für die nächste Patrouille - und der Sattler wird vielleicht eine Stunde benötigen, um ihn wieder zu befestigen -, aber die Patrouille wird ohnehin warten müssen, bis die Straßen wieder frei sind, und ich finde einfach, ein guter 205 Schürhaken für die Feuerstelle in Unterkunft Eins ist im Augenblick notwendiger als ein Steigbügel für mich.« Der fragliche Schürhaken lag - beinahe zu einem U gebogen -auf der Theke, zusammen mit dem gebrochenen Messingsteigbügel, aber Durine interessierte sich mehr dafür, wie die diversen Soldaten in der Schmiede die beiden Hauptleute beim Streiten beobachteten, obwohl an diesem Streit etwas wirklich sehr Merkwürdiges war. Zum einen waren sie hier in einer Schmiede unten in der Stadt und nicht in der Schmiede der Burg, wo man sich für gewöhnlich um die Bedürfnisse von Offizieren und einfachen Soldaten kümmerte. Vielleicht hatte die Burgschmiede ja zu viele andere Dinge zu tun, obwohl Durine sich nicht vorstellen konnte, was das sein sollte. Zum anderen fand dieses seltsame Gespräch, das stark nach dem Vorspiel zu einer Schlägerei klang, vor mehreren Soldaten statt. Durine konnte die Situationen, in denen er erlebt hatte, dass Offiziere willentlich selbst kleinere Streitigkeiten in aller Öffentlichkeit vor ihren Leuten austrugen, an den Daumen einer Hand abzählen. Ein Offizier focht vielleicht bei Sonnenaufgang ein Duell aus, und andere Offiziere waren Sekundanten und Zeugen, aber die meisten würden sich lieber von inkontinentem Vieh niedertrampeln lassen, als vor der Nase ihrer Männer die Disziplin zu brechen. Kelly bemerkte Durine und nickte ihm schnell und kühl zu, bevor er sich wieder mit diesem quälend gezwungenen Lächeln an Karris wandte. »Mein Freund, wenn ich Euch nicht vorlasse, würde ich mir das niemals verzeihen können.« Karris zuckte dramatisch mit den Schultern. »Nein, bitte, nach Euch, mein lieber Ben.« Kelly hob den Finger. »Ihr wisst doch, wenn ich als Erster drankäme, würden bestimmte Leute behaupten, dass Ihr Euch entschlossen habt zu warten, nur weil Ihr ein wenig länger die Wärme und Bequemlichkeit der Schmiede genießen wolltet.« Karris nickte. »Ja, es gibt Leute, die dumm genug wären, so et206 was zu denken.« Dann schien ihm etwas einzufallen. »Vielleicht«, sagte er, »sollten wir uns beide in den Gehängten Keshianer begeben und uns über einem oder zwei Krügen mit gutem Zwergenbier unterhalten, bis unsere beiden Aufträge ausgeführt wurden.« Er wandte sich einem der Soldaten in der Nähe zu. »Silback, bitte bleib hier, zusammen mit, mit...« »Haas«, sagte Kelly und zeigte auf einen der Folson-Soldaten. »Haas wird hier mit ihm zusammen warten.«
»... bleib hier mit Soldat Haas, bis der Steigbügel und der Schürhaken geflickt sind, und dann könnt ihr uns aus dem Keshianer holen.« »Zu Befehl.« Silback nahm mit vollkommen ausdrucksloser Miene Habachtstellung an. Kelly wandte sich Durine zu. »Ah, Hauptmann Durine. Glückwunsch zu dieser Beförderung, die Ihr wirklich verdient habt.« Karris schloss sich ihm an. Sie waren jetzt alle Kumpel. »Ja, ja, ja, ich gratuliere ebenfalls. Möchtet Ihr Euch uns anschließen?« Durine nickte, und die Soldaten traten beiseite, als die drei hinaus in die Kälte gingen. »Nun«, murmelte Kelly zu Karris, das Lächeln immer noch wie gefroren auf seinen Lippen, »ich denke, sie haben es begriffen, du verräterischer Sohn eines unbekannten Vaters.« Karris nickte und schlug Kelly auf die Schulter - nur ein klein wenig zu fest, um noch freundschaftlich zu sein. »Ich kann es nur hoffen«, erwiderte er leise, »du erbärmliches Weichei. Machen wir dieser Farce ein Ende. Ich weiß, dass du es kaum erwarten kannst, die Hosen runterzulassen und dich für jeden zu bücken, der das Wort >Lord< vor seinen Namen schreiben kann.« Immer noch lächelnd, legte er nun die andere Hand auf Durines Schulter. »Und wofür hältst du dich eigentlich, du zu groß geratener Scheißhaufen in einem zu kleinen Beutel?« Durine zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Ich denke, sie haben die Lektion gelernt«, erwiderte er. »Wie lange es halten wird, ist eine andere Frage.« 207 Beide Hauptleute nickten, dann seufzte Ben Kelly. »Wir tun, was wir können.« Sie gingen weiter die Straße entlang, weg von den Soldaten, damit man sie nicht belauschen konnte. Kelly fuhr fort: »Wenn der Baron von dem Kerl da jemals Graf werden sollte, dann werde ich mir eine andere Grafschaft suchen, um dort zu dienen, oder ich werde Söldner - alles lieber, als auch nur einen einzigen Tag unter diesem Dreckskerl dienen zu müssen, wenn er erst Schwertmeister ist -« »Genau so denke ich auch«, erklärte Karris. »Und nicht nur wegen der Art, wie die linke Flanke der Front in der Schlacht im Wald eingebrochen ist, weil du darauf bestanden hast, deine Kompanie in Reserve zu halten.« Sein Tonfall war immer noch gleichmäßig, aber es war eine gewisse Hitzigkeit darunter zu spüren. »Aber im Augenblick ist ein Befehl ein Befehl, und wir haben hier zu viele Männer mit zu vielen Gründen, einander zu hassen, also werden wir tun, was wir können, um die Ruhe aufrechtzuerhalten. Selbst wenn das bedeutet, Kelly in der Kneipe den Rücken zuzudrehen und dabei genau zu wissen, dass er in mein Bier spucken wird.« Kelly nickte. »Aber nur, weil ich nicht genug Zeit hätte, meine Hose aufzuknöpfen«, sagte er mit humorlosem Lächeln. Er ging vor den beiden anderen die verschneiten Stufen zur Tür der Kneipe hinauf und vermied es dabei gerade noch, sich an dem Schild, das einen Keshianer am Galgen zeigte, den Kopf zu stoßen. »Nach Euch, lieber Hauptmann Karris.« »Nein, nach Euch, mein Freund Hauptmann Kelly«
Durine drängte sich einfach zwischen den beiden hindurch, ging nach drinnen und überließ es ihnen, miteinander auszuhandeln, in welcher Reihenfolge sie folgen würden. Hier und jetzt war alles friedlich, und so würde es wohl auch noch lange genug bleiben, bis die Hauptleute ihr Bier getrunken hatten und ihre Schmiedearbeit erledigt sein würde, und selbst wenn ein paar Soldaten es vielleicht ein wenig seltsam fanden, dass ein Schürhaken so verbogen werden konnte oder ein Messingsteigbügel zu einem Zeitpunkt brach, da sein Besitzer nicht ein208 mal in die Nähe seines Pferds kam, war doch zu hoffen, dass sie den Sinn hinter dieser kleinen Scharade verstanden und sich ihre Hauptleute zum Vorbild nahmen. Und darüber hinaus? Durine schüttelte den Kopf. Die Hauptleute konnten nicht überall gleichzeitig sein. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit.
8
Konfrontation
Es roch schlecht in der Kneipe. Wieso das so war, hätte Pirojil nicht sagen können. Zweifellos roch es nicht in einem objektiven Sinn schlecht - ganz im Gegenteil. Der Duft der Lammkeule, die auf dem Spieß gleichzeitig aufgetaut und gebraten wurde, erfüllte den Schankraum mit einem Aroma, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und das sogar immer besser wurde, weil die dicke Frau, die sich darum kümmerte, die Oberseite des Fleisches mit ein paar Löffeln der knoblauchträchtigen Wein-undGewürzmischung aus der Holzschale auf dem Hocker neben sich beträufelte. Die Frau warf zwar hin und wieder einen nervösen Blick über die Schulter zu den Soldaten, aber es schien alles ruhig und friedlich zu sein, wenn man die Szenerie betrachtete. Nur, dass es falsch roch. Die Gruppe von Morray-Soldaten, die sich um die Tische an einem Ende des Abgebrochenen Zahns versammelt hatte, ignorierte demonstrativ die Verheyens am anderen Ende; es gab nicht eine einzige leise Bemerkung oder einen zornigen Blick, weil die Verheyens sich erheblich näher an der warmen Feuerstelle befanden. Ein halbes Dutzend Söldner hatte ebenfalls den Befehl, in die Stadt zu gehen, als »geht in die nächste Kneipe und esst und trinkt« verstanden, und sowohl Milo mit seinem verquollenen Gesicht als auch der verrückte Zwerg Mackin waren nun schon ein paar Stunden hier, wenn man von dem Haufen abgenagter 210 Hühnerknochen vor ihnen auf dem Tisch und der Art ausging, wie Mackins Augen Mühe hatten, geradeaus zu schauen. Pirojil suchte sich in der seltsam ungenutzten Mitte des Raums einen Tisch. Als Milo ihn mit einem knappen Nicken grüßte, winkte Pirojil ihn und Mackin zu sich. Das ungleiche Paar kam herübergestolpert, wobei Mackin Bier aus einem riesigen Steingutkrug auf den Boden vergoss. »Ich grüße dich, Pirojil«, sagte Milo. »Mischst du dich für ein schnelles Bier unter den Pöbel?«
»Ja.« Mackin lachte und fiel eher auf den Hocker, als dass er sich hinsetzte. »Ich dachte nicht, dass wir noch viel von euch dreien sehen würden, nachdem ihr jetzt so einen angenehmen Posten habt.« Er verzog den unmöglich großen Mund zu einem lüsternen Grinsen. »Ihr verbringt genauso viel Zeit mit dieser Lady Mondegreen wie der Baron.« Das stimmte nun wirklich nicht, und wieso es Mackin überhaupt interessierte, war etwas, worüber Pirojil nicht mehr wissen wollte als unbedingt notwendig, obwohl Mackins häufige Kontakte zu den menschlichen Huren im ersten Stock für die anderen Söldner Anlass zu ein paar hässlichen Bemerkungen gewesen warenselbstverständlich nur in Abwesenheit des Zwergs. Die meiste Zeit konnte man sich darauf verlassen, dass ein Söldner sich nicht in einen Kampf verwickeln ließ, wenn er dafür nicht bezahlt wurde, aber es gab immer Ausnahmen, und Mackin war ganz bestimmt eine: Es war bekannt, dass er sich erheblich daran störte, wenn seine ungewöhnliche Vorliebe Zielscheibe von Witzen wurde. Er war vermutlich der einzige Zwerg zwischen Dorgin und Bergenstein, der lieber als Söldner diente als unter seinesgleichen, und er war vermutlich der einzige Zwerg in ganz Midkemia, der Menschenfrauen attraktiv anzusehen fand, gar nicht zu reden davon, mit ihnen ins Bett zu gehen. Andererseits, dachte Pirojil, nannte man ihn auch nicht ohne Grund den »verrückten« Mackin. »Ich habe ein wenig Zeit in ihrer Nähe verbracht, ja, aber nur auf Befehl und in Erfüllung meiner Pflicht.« »Aber sie ist hübsch anzusehen.« 211 Pirojil zuckte mit den Achseln, obwohl er sich einen Augenblick vorzustellen versuchte, wie es sein musste, wie Mackin zu sein. Einen noch kürzeren Augenblick überlegte er, wie es wohl sein musste, mit einer Zwergenfrau zu schlafen, aber als sein Magen reagierte, schob er den Gedanken schnell wieder beiseite. Wie die meisten Männer zog er Frauen der eigenen Spezies vor. Er fürchtete schon, sich nun mit einem Gedankenbild verflucht zu haben, das er ewig nicht mehr loswerden würde, als der Wirt den kahlen Kopf aus dem Hinterzimmer streckte. Pirojil winkte nach einem Bier und fragte sich, ob es wohl das widerliche in der Stadt gebraute Bier sein würde oder das viel bessere Zwergenbier. Mackin sagte: »Deine neuen Pflichten sind wohl ziemlich anstrengend. Seit eurem neuen Auftrag habe ich nicht viel von dir gesehen.« »Ja, ich war in der Tat sehr beschäftigt.« Pirojil dachte einen Augenblick darüber nach und beschloss, keine Einzelheiten über Dinge zu erzählen, die diese beiden ohnehin nichts angingen und die sich außerdem wie Prahlerei anhören würden, trotz der Tatsache, dass sich im Augenblick sein einziger Wunsch darauf richtete, dass der Schnee draußen schmelzen würde und sie drei einfach aus der Stadt reiten könnten. »Hier scheint es ruhig zu sein«, sagte er. Milo lächelte über seinem Bier. »Zu ruhig.« Er nickte zu der Treppe hinüber. »Ich höre von oben keine knarrenden Dielen und habe nicht gesehen, dass einer rauf gegangen wäre, um ein bisschen Dampf abzulassen. Sie trinken alle nur«, sagte er, beugte sich vor und senkte die Stimme. »Und ich bin nicht zu betrunken, um zu bemerken, dass ein paar von diesen Verheyen-Männern dauernd zur Tür schauen.«
»Doch nicht etwa so, als würden sie jemanden erwarten?«, fragte der Zwerg. Daran hatte Pirojil noch gar nicht gedacht, obwohl er es hätte tun sollen. Die Tatsache, dass er an solche Dinge nicht gewöhnt war, war nur eine Erklärung, keine Ausrede, und Steven Argent war jemand, der sich viel mehr für Ergebnisse als für alles andere 212 interessierte, seien es nun Ausreden oder Erklärungen. Pirojil sah den Zwerg mit hochgezogenen Brauen an. »Ja, genau.« Mackin grinste und zeigte dabei eine Zahnlücke. Pirojil war froh, dass der Zwerg verstand, was die hochgezogenen Brauen bedeuteten, denn nun würde Mackin seine lautlos gestellte Frage vielleicht beantworten. Mackin nickte und sagte: »Sie warten wahrscheinlich darauf, dass noch ein paar Kameraden von ihnen hereinkommen, damit sie diese Geschichte mit einem gewissen Vorteil - sagen wir mal zwei zu eins oder drei zu eins - regeln können.« Er trank seinen Krug leer, schlug damit auf den Tisch und brüllte nach einem weiteren Bier. Mit boshafter Freude flüsterte er: »Dürfte unterhaltsam werden.« Dann verschwand sein Lächeln, und er zeigte auf ein paar Söldner, die an einem Tisch am anderen Ende des Schankraums saßen. »Zumindest sollte es von da drüben aus, wo Filt und die anderen sitzen, unterhaltsam sein - nahe genug an der Hintertür, damit man verschwinden kann, falls es zu unterhaltsam werden sollte, und nicht hier, in der Mitte, wo man wahrscheinlich niedergetrampelt wird.« Milo nickte zustimmend. »Am besten suchen wir uns einen Tisch, unter den wir kriechen können.« Unter normalen Umständen hätte Pirojil ihm zugestimmt, aber da er nun ein Offizier am Hof des Grafen war, waren die Umstände alles andere als normal. Er musste überlegen, wie er diese Schlägerei verhindern konnte. Am besten wäre es, eine Seite zu überreden, sich eine andere Kneipe zu suchen. Es gab immerhin neun weitere Schänken in der Unterstadt... Pirojil bekam Kopfschmerzen. Dass er nun an mehr als an sich selbst und seine beiden Kameraden denken musste, wurde langsam anstrengend. Ja, es gab neun weitere Schänken, und jede einzelne davon war zweifellos ebenfalls bis unter die Dachbalken voll gleichermaßen unruhiger Soldaten aus sämtlichen Baronien. Pirojil war nicht so dumm anzunehmen, dass die Fehde zwischen Verheyen und Morray die einzige war, die es hier gab. Er wusste zwar nicht, um was es zwischen Folson und Benteen oder Morray 213 und Mondegreen oder irgendeinem anderen Paar ging, aber Fehden waren Fehden, und bei Feindseligkeiten ging es immer um das, was man gerade glaubte, wenn man eine Klinge zog und sich auf einen anderen stürzte, und Pirojil wusste über solche Anlässe nur, dass er überhaupt nichts dagegen tun konnte. Irgendwie sollte er die Leute aber trotzdem davon abhalten, einander umzubringen. Bevor sich die Kriegslage beruhigt hatte, war die Dringlichkeit all dieser Feindseligkeiten von der unmittelbaren Notwendigkeit, gegen die Tsuranis und die Käfer zu kämpfen, an den Rand gedrängt worden; außerdem verbrachten die meisten Soldaten den größten Teil ihrer Zeit im Feld, wo sie genügend Platz hatten,
und nicht zusammengepfercht in der gleichen Stadt, ganz zu schweigen von den gleichen Unterkünften. Eine grundsätzliche Lösung zu finden war die Aufgabe der Offiziere, und wenn die Offiziere eine bessere Idee gehabt hätten, um die Spannungen zu mildern, als Soldaten, die nicht im Dienst waren, in die Stadt zu schicken, dann hätten sie das sicher getan, statt Oh. Er war nun auch ein Offizier, zumindest theoretisch, obwohl sein Umhang die neuen Rangabzeichen im Augenblick noch verbarg. Verflucht. Er dachte einen Moment darüber nach. »Bleibt hier.« »Erteilst du jetzt etwa Befehle?«, fragte Milo. »Tu einfach, was ich sage, Milo, und wir können uns später streiten.« Der kahle Mann mit den wässrigen Augen blinzelte ein paar Mal, dann nickte er und griff nach seinem Krug. »Das werden wir zweifellos tun, Pirojil. Ganz bestimmt.« Pirojil stand auf und ging zu dem Tisch der Morray-Männer. Zwei von ihnen nickten zum Gruß, einer verzog mürrisch das Gesicht. »Bist du nicht einer von diesen Söldnern, die unseren Baron bewachen sollen, damit dieses Arschloch Verheyen ihn nicht umbringen lässt?«, fragte der Mann. Er hatte eine breite Brust und außer seinem schwarzen Bart nur wenig Haar am Kopf, obwohl 214 sein Hals und die Unterarme mit einer dichten Matte von dem Zeug bedeckt waren. Die Feldwebelstreifen auf seinem Waffenrock waren verwittert und ausgeblichen. »Ich bin Söldner, ja.« Pirojil machte eine Geste zu einem Stuhl, die eine unausgesprochene Frage darstellte, und setzte sich auf das Nicken des Feldwebels hin. »Ich heiße Pirojil.« »Gardell«, stellte sich der Sergeant vor. »Glennen, Darneil, Roland, Garden und Spotteswold«, sagte er und zeigte dabei jeweils auf den Mann, dessen Namen er nannte. »Aber du hast nicht ganz meine Frage beantwortet, Pirojil - solltest du nicht damit beschäftigt sein, unseren Lord zu beschützen?« Pirojil zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was ihr gehört habt, aber falls es wirklich einen Grund gibt, wieso Baron Verheyen euren Baron umbringen will, dann ist das noch nicht bis zu mir durchgedrungen.« Gardell schnaubte. »Dann hast du wohl nicht oft zugehört, wie?« Man konnte nicht viel tun, um Männer zu überreden, die sich nicht überreden lassen wollten, und Pirojil hätte beinahe resigniert. Dennoch... »Ich war heute früh mit im Ratszimmer, und beide Barone -und der Rest - haben klar gemacht, dass sie glauben, dass es im Augenblick Dringenderes gibt als irgendwelche Meinungsverschiedenheiten -« »Meinungsverschiedenheiten - pah!« Roland spuckte neben sich auf den Boden. Er war ein großer, kräftiger Mann, vielleicht sogar um einen Fingerbreit größer und breiter als Durine, aber seine Stimme war überraschend hell, sodass sich Pirojil fragte, ob ihn eine Kampfeswunde entmannt hatte - nicht, dass es die Möglichkeit gegeben hätte, eine solche Frage offen zu stellen.
»Ja, Meinungsverschiedenheiten.« Pirojil hob den Finger. »Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht bessern, wenn zum Beispiel ihr euch mit den Verheyens da drüben anlegt. Mal ganz davon abgesehen, dass ich glaube, dass sie auf Verstärkung warten.« 215 Gardell nickte knapp und schien sich ein wenig zu entspannen. »Nun«, sagte er, »dann sollten wir vielleicht rübergehen und ... es mit ihnen ausdiskutieren, solange es noch sechs zu fünf steht, oder?« Er setzte dazu an aufzustehen, und er hielt in der Bewegung nicht einmal inne, als Pirojil die Hand hob. Dann standen auch die anderen auf, was den Verheyens auf der anderen Seite des Zimmers nicht entging, wenn Pirojil das Geräusch weggeschobener Stühle hinter sich richtig deutete. »Hinsetzen.« Pirojil zog den Umhang zurück und zeigte die Rangabzeichen auf seiner rechten Schulter. »Sofort.« Gardell dachte einen Augenblick darüber nach - einen zu langen Augenblick, fand Pirojil -, dann setzte er sich plötzlich wieder hin und zuckte bei dem Gelächter, das auf der anderen Seite des Raumes erklang, sichtlich zusammen. »Hauptmann, wie? Das sind nicht zufällig gefälschte Rangabzeichen?« Pirojil gestattete sich ein Lächeln. »Du kannst dich gerne beim Schwertmeister danach erkundigen, wenn du willst.« Gardell brummte: »Erinnere mich daran, dass ich nie mit dir Pa-Kir spiele ... Hauptmann. Man sieht dir nicht an, ob du bluffst oder nicht.« Er dachte einen Augenblick darüber nach, dann fügte er hinzu: »Ich bin sicher, du weißt, dass man hier im Königreich dafür gehängt werden kann, sich unrechtmäßig als Offizier ausgegeben zu haben. Wenn ich diese Strafe gegen die Standpauke abwäge, die mir der Schwertmeister eventuell halten wird, dann glaube ich Euch, Hauptmann.« Pirojil sagte: »Ich habe einen Vorschlag: Wenn ihr in die Burg zurückkehrt, solltet ihr vielleicht euren eigenen Hauptmann fragen, was er davon hält, dass ihr Euch mit Verheyen-Leuten prügelt -« »Ich könnte schwören, dass Hauptmann Martin für Verheyen und seine Bande nicht mehr übrig hat als wir anderen«, sagte Gardell. »Er hat gestern Abend die Rauferei in Unterkunft Drei nur deshalb beendet, weil er will, dass wir alles für eine bessere Gelegenheit aufsparen - eine Gelegenheit wie jetzt.« Gardell klang, als ob er die Wahrheit sagte, und Pirojil fragte sich, ob dieser Haupt216 mann Martin ein vollkommener Idiot war, weil er nicht jeden Gedanken an einen Kampf sofort im Keim erstickt hatte, oder ob er ein echtes Genie war, weil seine Worte eine Schlägerei umgehend beendet hatten, zumindest für diesen Abend, ganz gleich, was in naher Zukunft geschehen würde. Pirojil wandte sich wieder an Roland. »Also gut. Dann mache ich aus diesem Vorschlag einen Befehl: Fragt ihn, was Schlägereien in der Stadt angeht. Und richtet ihm außerdem aus, dass der Schwertmeister ihn vielleicht heute Nachmittag fragen wird, ob er verstanden hat oder nicht, dass es überhaupt keine Streitigkeiten geben soll, und worin die Verantwortung eines Hauptmanns besteht, der dem Grafen von LaMut unterstellt ist.«
Keiner sagte etwas darauf, und das konnte Pirojil nicht einfach auf sich beruhen lassen. Er war nicht sonderlich daran gewöhnt, Befehle zu geben - ob es nun beliebte oder unbeliebte waren -, aber er hatte mehr Befehle entgegengenommen, als er auch nur vage schätzen wollte, und er erinnerte sich daran, wie Baron Morray es erst einen Tag zuvor ausgedrückt hatte. »Es gefällt mir überhaupt nicht, den gleichen Befehl zweimal geben zu müssen, Soldat Roland«, sagte er, »und ich mag es beim dritten Mal noch weniger.« Er starrte Roland ruhig und ohne mit der Wimper zu zucken an, bis der große, kräftige Mann nickte. Pirojil vermied es, zur Kenntnis zu nehmen, dass Rolands Nicken eines von Gardell vorangegangen war - es hatte keinen Sinn, sich wegen Kleinigkeiten aufzuregen. Dann stand er auf und zog seinen Umhang wieder um sich. »Zu Befehl, Sir«, sagte Roland und nahm Habachtstellung an, was allerdings nichts an seinem höhnischen Grinsen änderte. Dann ging er auf die Kneipentür zu. Und nun schoben drei Verheyens ihre Stühle noch einmal zurück. »He, warum habt ihr's denn so eilig?«, wollte einer wissen. 217 »Draußen ist es ziemlich kalt«, fügte ein anderer hinzu. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht noch ein bisschen bleiben wollt?«, fragte der dritte, während zwei seiner Kameraden auf die Tür zugingen, um den Morrays den Weg zu versperren. »Rührt euch nicht vom Fleck - und das ist ebenfalls ein Befehl«, sagte Pirojil leise zu den Morrays. Er war bereits aufgestanden. Nun nahm er den Umhang vollkommen ab und ließ ihn zu Boden fallen, was seine Rangabzeichen deutlich sichtbar machte; dann ging er auf die Verheyens zu und hoffte, dass Gardell seine Leute an Ort und Stelle halten würde. »Gibt es hier ein Problem?«, fragte er laut, ohne zu schreien. Die Verheyens hatten ihn ignoriert, aber nun bekamen sie große Augen, als sie die Rangabzeichen sahen. »Sir«, sagte einer von ihnen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Widerstrebend nahmen die Verheyen-Männer Habachtstellung an, und Pirojil sah sie lange und forschend an, ebenso wie es zwei Männer taten, die Roland in den Weg getreten waren und ignorierten, wie er unsanft versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen. »Ich brauche sechs Freiwillige, um Bier in die Festung hinaufzubringen«, erklärte Pirojil. »Ich habe sie gerade gefunden.« »Hauptmann, wir -« »Ist die Disziplin in Baron Luke Verheyens Truppe so lasch, dass ihr nicht einmal einen schlichten Befehl versteht?«, brüllte er. Er wusste nicht genau, wie es ausgehen würde - er war sicher, was geschehen wäre, wenn er statt der Hauptmannsabzeichen auf den Schultern nur Feldwebelstreifen an den Ärmeln gehabt hätte -, aber wenn es falsch ausging, würde er den Tisch auf drei von ihnen zutreten, einen vierten niederschlagen und hoffen, dass er entkommen konnte.
Wie er das dann hinterher dem Schwertmeister erklären sollte, war im Augenblick nicht das dringendste Problem. »Nein, Sir. Wir wissen, wie man gehorcht, Sir«, sagte einer der 218 Männer. Er hatte den Blick auf Pirojil gerichtet, aber die mürrischen Mienen der anderen waren hervorragend geeignet, um das höhnische Grinsen von Gardell und den übrigen Morrays zu spiegeln. Es gab Leute, die einfach nicht wussten, wann sie ihren Gesichtsausdruck lieber unter Kontrolle bringen sollten. »Also gut«, sagte Pirojil und nickte. »Wirt - Wirt Her mit Euch!« Der Wirt kam so schnell aus der Küche in die Schankstube gestürzt, dass Pirojil sicher war, dass er die ganze Szene durch den Perlenvorhang beobachtet hatte. »Jawohl - Hauptmann Pirojil«, sagte er mit einer leichten Überbetonung von Pirojils neuem Rang. »Kann ich etwas für Euch tun?« »Der Graf braucht drei Fässer Bier. Diese Männer werden sie in die Burg tragen, und der hier - wie heißt du, Soldat?« »Garrick, Sir!« »Und Soldat Garrick wird Eure Rechnung zu seinem Vorgesetzten, Hauptmann ...« »Hauptmann Ben Everet, Sir.« »... Hauptmann Ben Everet bringen, der sie dann dem Zahlmeister vorlegen wird. Hauptmann Ben Everet wird sich, wie ich hoffe, in einer Stunde in Unterkunft Eins mit mir treffen; bitte richte ihm das aus, Soldat Garrick.« »Ja, Sir.« Der Wirt nickte, und es gelang ihm, sich das Grinsen zu verkneifen. Die Fässer würden vermutlich das ortsübliche, von Menschen gebraute Spülwasser enthalten, während die Rechnung auf teures Zwergenbier ausgestellt würde. Ein normaler Offizier, der für Proviant sorgte, hätte genauere Anweisungen gegeben, aber Pirojil hatte nicht nur keine Ahnung, was ein Fass von der einen oder anderen Biersorte den Grafen normalerweise kosten würde, er hatte im Augenblick auch erheblich dringendere Sorgen, als dass der Küche des Grafen ein paar Kupferstücke zu viel abgenommen würden. 219 Mürrisch und angestrengt bemüht, die Morrays nicht wahrzunehmen, schlurften die Verheyens auf die Küche zu, wo es eine Treppe zum Bierkeller gab. Pirojil hob seinen Umhang auf und legte ihn ordentlich gefaltet auf den Hocker, bevor er sich wieder zu Mackin und Milo setzte. »Hauptmann Pirojil, wie?« Milo wich seinem Blick aus; stattdessen betrachtete er scheinbar interessiert seine Zeigefingerspitze, mit der er durch eine kleine Bierpfütze auf dem Tisch fuhr. Pirojil zuckte mit den Achseln. »Wie du schon sagtest, mein Auftrag hat tatsächlich ein paar Vorteile.« Nicht zu reden von dem Nachteil, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, auf die er so gut wie keinen Einfluss hatte. »Befehle zu geben scheint dir gut zu tun«, sagte Milo. Mackin lachte boshaft. »Ja, zumindest dieses Mal.« Er runzelte die Stirn. »Und es hat mich ein paar Kupferstücke gekostet: Ich hatte mit Milo gewettet, dass die Verheyens dich zusammenschlagen und nicht einfach die Treppe runter - und dann in die Kälte hinausgehen würden, nur weil du es ihnen gesagt, äh, befohlen hast.«
Sorgfältig zählte er die sechs Kupfermünzen ab und schob sie über den Tisch zu Milo, der einen Augenblick so aussah, als wollte er etwas sagen, aber dann zuckte er nur die Achseln und steckte sie ein. »Ich nehme an, ihr hättet euch dann eben eine andere Kneipe gesucht, genau wie die anderen Söldner da in der Ecke«, sagte Pirojil. »Ich schon.« Milo nickte. »Und zwar so schnell, wie mich meine zierlichen Füßlein tragen können.« »Ich wäre geblieben und hätte zugesehen«, sagte Mackin und trank nachdenklich einen Schluck Bier. »Aber es wäre nicht mein Kampf gewesen, Hauptmann.« Das konnte Pirojil ihm nicht übel nehmen, aber zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er wieder einmal daran, ob es nicht außer den offensichtlichen Nachteilen auch Vorteile haben könnte, Verbindungen zu anderen als Kethol und Durine zu knüpfen. Das 220 Problem dabei war allerdings: Wenn er erwartete, dass Leute sich in seine eigenen Probleme verstrickten, musste er sich auch in ihre verstricken. Pirojil hätte es vielleicht geschafft, Mackin und Milo bei einem Kampf auf seine Seite zu ziehen und damit die Chance zu verringern, dass er selbst totgeschlagen wurde, aber das hätte immer noch nicht viel genutzt. Sobald eine Schlägerei losgegangen wäre, wäre jeder Soldat in der Kneipe darin verwickelt gewesen. Selbst wenn die Wache schnell genug aufgetaucht wäre, um dieses Feuer zu löschen, hätte die ganze Geschichte genügt, dass in Zukunft die Soldaten der beiden Baronien schon anfangen würden sich zu prügeln, wenn sie einander nur irgendwo sahen. Und da alle fröhlich zusammen in dieser kleinen Stadt eingeschneit waren, würden sie einander oft zu sehen bekommen. Pirojil holte die Trillerpfeife aus dem Beutel und hielt sie den beiden anderen auf der Handfläche hin. »Habt ihr ein Problem damit, Befehle zu befolgen?« Milos Miene blieb weiterhin ausdruckslos. »Normalerweise nicht. Wie du, glaube ich, hin und wieder selbst beobachten konntest. Ich nehme an, es hängt von der Art der Befehle ab.« Pirojil schob Milo die Pfeife über den Tisch hinweg zu. »Betrachte diese Kneipe als deinen Posten. Sorge dafür, dass es hier ruhig bleibt - pfeif nach der Wache, wenn es Probleme geben sollte.« Milo und Mackin wechselten einen raschen Blick, und Pirojil erinnerte sich daran, dass Milo sich immer verzog, wenn der Wachtmeister in der Nähe war. Pirojil wusste nicht, um was es dabei ging - es ging ihn auch nichts an -, und im Augenblick war nicht der geeignete Zeitpunkt, um nach Einzelheiten zu fragen. Schwere Schritte erklangen, und drei Paare von Verheyen-Männern kamen hintereinander durch den Perlenvorhang aus der Küche, jeweils mit einem Fass beladen. Das leise, höhnische Lachen der Morrays verstummte, als sich Pirojil Gardell zuwandte, obwohl die Männer immer noch grinsten, einige von ihnen hinter ihren Bierkrügen, die sie in sarkastischem Gruß erhoben hatten. 221 Scheiße. So ging es wirklich nicht.
Pirojil hatte vielleicht sogar alles noch schlimmer gemacht, obwohl er immerhin erfolgreich verhindert hatte, dass hier sofort ein Kampf ausbrach. Die MorrayMänner hielten ihren Spott im Augenblick vielleicht noch einigermaßen zurück, aber später? Würden sie es sich etwa verkneifen, hier oder in der Unterkunft zu lachen, würden sie etwa nicht zu anderen Kneipen weiterziehen und damit prahlen, dass sich dieser hässliche frisch ernannte Hauptmann in der Verheyen-MorrayFehde auf ihre Seite gestellt und die feigen Verheyens in die Kälte hinausgeschickt hatte? Sehr unwahrscheinlich. Pirojil hatte also nur mehr Holz auf einen bereits schwelenden Stapel geworfen. Es könnte einige Zeit dauern, bis das Feuer wirklich offen aufflackerte, aber dafür würde es später umso heller und heißer brennen. »Halt«, rief er den Verheyens zu, gerade als das erste Paar Männer den Schankraum verließ. »Bleibt einen Augenblick stehen ... Und jetzt hört mir alle mal zu«, sprach er die im Schankraum Versammelten an, wenig überrascht, dass ihn ohnehin schon alle anstarrten. »Es scheint, als hätte ich einen Fehler gemacht - der Graf braucht noch drei weitere Fässer Bier, und ich weiß, ihr alle habt gerade gehört, wie sich die Männer aus der Baronie Morray freiwillig gemeldet haben, sie zur Burg zu tragen, sobald diese netten Jungs aus Verheyen von ihrer Arbeit zurückgekehrt sind.« Er ging zu den Verheyens und redete leiser mit ihnen. »Ich bin sicher, dass ihr euch Zeit lassen wollt, eure Last alle paar Fuß absetzen und auf keinen Fall zu schnell zur Burg hinauf rennen werdet, sodass eure Freunde aus Morray genug Zeit haben, sich auszuruhen und sich mit Speis und Trank zu stärken, bis sie damit dran sind, in die Kälte hinauszugehen. Ihr könnt -« Er hielt inne. »Nein, wartet einen Augenblick. Ich habe noch eins zu sagen, und zwar euch allen.« Er ging zurück in die Mitte des Schankraums und baute sich zwischen den beiden Gruppen auf. »Ich weiß, dass der Schwertmeister den Hauptleuten vollkommen klar gemacht hat, wie er denkt, und die Hauptleute haben es 222 bereits an jeden weitergegeben, der halbwegs hören kann, aber ich wiederhole die Botschaft trotzdem noch einmal, falls jemand sie aus irgendeinem Grund noch nicht begriffen hat. Es wird keine Probleme geben. Es wird keine Schlägereien geben. Es ist vollkommen gleich, wer damit anfängt und warum. Jede Schlägerei wird mindestens damit enden, dass die Teilnehmer im Stadtgefängnis landen. Sobald Blut fließt, werden einige von euch als Zwangsarbeiter in die Minen geschickt werden. Und wenn jemand umkommt, werden auch welche hängen. Also wird einfach nichts passieren. Verstanden?« Schweigen. »Verstanden}« Zustimmendes Gemurmel erklang, und Pirojil bedeutete den Verheyen-Männern, dass sie gehen konnten. Die Verheyens durchquerten den Vorraum der Schänke zum Abgebrochenen Zahn beinahe so schnell, wie sie ohne Lasten gegangen wären, und Pirojil setzte sich wieder neben Milo und den Zwerg und ignorierte die wütenden Blicke Gardells und seiner Kameraden.
Ja, es war ungerecht - vom Gesichtspunkt der Morrays aus. Immerhin hatten die Verheyens sie hier in eine Falle gelockt, und die Schlägerei wäre der Fehler der Verheyens gewesen - obwohl die Morrays schließlich auch einfach hätten gehen können, als die anderen hereingekommen waren. Hätte Pirojil es auf sich beruhen lassen, wie er es zunächst geplant hatte, dann hätte ihm das nur die Feindseligkeit einer Seite eingebracht. Jetzt hassten ihn beide Seiten. Auf der Habenseite des Hauptbuchs war jedoch zu verzeichnen, dass sie das vielleicht ein wenig von der Tatsache ablenken würde, dass sie einander sogar noch mehr hassten, zumindest für ein paar Stunden oder gar für einen Tag, und all das hatte keine schlimmeren Folgen, als dass es nun ein weiteres Dutzend Männer gab, die Pirojil in einer dunklen Nacht lieber nicht in seinem Rücken hätte. Im Ausgleich dazu kam ihm der Sold eines Hauptmanns inzwischen reichlich jämmerlich vor. 223 »Nun, es war wahrscheinlich eine gute Idee, so mit der Sache umzugehen«, murmelte Mackin. »Ich hatte auch schon daran gedacht, noch bevor du etwas gesagt hast.« »Warum hast du es dann nicht erwähnt?« Pirojil bereute diese Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. »Nicht meine Sache.« Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte, Hauptmann Pirojil, es geht mich nichts an, wie höher Gestellte sich benehmen. Du erinnerst dich vielleicht an dieses Gefühl, aus der Zeit, als du noch ein einfacher Soldat warst... wann war das noch? Gestern?« »Sei still, Mackin«, sagte Milo stirnrunzelnd. »Der Mann tut sein Bestes.« »Aber es geht uns immer noch nichts an.« »Mag sein. Oder auch nicht.« Er wandte sich Pirojil zu. »Also gut, Pirojil - ich werde tun, was ich kann«, erklärte er. »Aber ich kann nicht versprechen, dass es funktionieren wird.« »Bring es einfach zum Funktionieren«, erwiderte Pirojil, als würde ein Befehl die Sache einfacher machen - das hatte er an Offizieren immer gehasst, wenn sie es mit ihm getan hatten. Ganz egal, was die Geschichten behaupteten, wenn ein Offizier einem sagte, man sollte springen, war »Wie hoch?« eine vollkommen sinnlose Frage. Miro verzog das Gesicht. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche. »Bitte«, fügte Pirojil hinzu. Das schien nur angemessen zu sein, Offizier oder nicht. Milo nickte. »Ich werde tun, was ich kann. Bis wann?« Pirojil hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. »Bis du abgelöst wirst«, sagte er und überlegte, wen er schicken könnte, um Milo abzulösen. Er schaute zu den anderen Söldnern in der Ecke hinüber, die ihn für seinen Geschmack viel zu intensiv beobachteten. »Such dir Hilfe oder finde deine eigene Ablösung, wenn es nötig werden sollte. Finde jemanden, der verlässlich ist, und ich werde mich darum kümmern, dass er bezahlt wird, ebenso wie du.« Wie eine Gruppe von Söldnern Ruhe und Ordnung zwischen 224
den Fraktionen aufrechterhalten sollte, selbst hier in der Schänke zum Abgebrochenen Za hn, war eine andere Frage. Sie würden eben improvisieren müssen, genau wie Pirojil es getan hatte. »Das ist leichter gesagt als getan«, erwiderte Milo. »Vielleicht, wenn ich Feldwebel wäre?« Pirojil musste lachen. »Willst du, dass ich darüber mit Steven Argent spreche?« »Lieber nicht.« Milo schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, wenn ich genauer darüber nachdenke, will ich das auf gar keinen Fall. Es braucht nur eine Beförderung, und ehe ich michs versehe, bin ich dann Hauptmann und muss überall in LaMut für Ruhe und Ordnung sorgen und einen Haufen anderer anheuern, damit sie mir helfen, das Meer mit einer Gabel aufzuhalten.« Er schob die Trillerpfeife zu Mackin hinüber, und der nickte und steckte sie in die Jacke. Der Zwerg grinste Pirojil an. »Solltest du nicht dafür sorgen, dass diese Verheyens sich auf dem Weg nicht verlaufen?« Pirojil nahm nicht an, dass sie sich sehr viel Zeit lassen würden, und es war ihm eigentlich vollkommen gleich, ob sie direkt zur Burg gingen oder noch in der Stadt herumwanderten, aber er musste wirklich mit diesem Verheyen-Hauptmann sprechen. Nicht, dass Pirojils Worte noch viel nützen würden, wenn die des Schwertmeisters bereits auf taube Ohren gestoßen waren. Pirojil wusste, dass Steven Argent bereits mit den Hauptleuten gesprochen hatte, und soweit er den Schwertmeister kannte, hatte er keinen Zweifel daran, dass der Mann seinen Standpunkt vollkommen klar gemacht hatte. Was erklärte, wieso der Schwertmeister so weit gegangen war, drei Söldner zu Hauptleuten zu befördern - er war nicht einfach nur unsicher, was die Verlässlichkeit einiger Hauptleute anging, er war überzeugt, dass er sich nicht auf diese Männer verlassen konnte, zumindest nicht unter den derzeitigen Bedingungen, wo alle so dicht aufeinander saßen, und er konnte sich auch nicht darauf verlassen, dass diejenigen, denen er vertraute, es schafften, den Deckel fest genug auf den Topf zu drücken. 225 Steven Argent hatte Recht, sich Gedanken zu machen, dachte Pirojil. Selbst wenn alle Hauptleute vollkommen zuverlässig und unglaublich kompetent wären und die Situation vollkommen erfassen würden, wäre LaMut gleichzeitig zu groß und viel zu klein. Es war wirklich ein beschissener Tag. Ein besonders beschissener Tag, wenn man neue Rangabzeichen trug, die so schwer wie Bleigewichte waren, die einem jemand auf die Schultern genagelt hatte. Ein beschissener Tag, wenn man an die aktiveren Zeiten des Krieges dachte, in denen die Unterkünfte in der Burg beinahe leer waren und selbst die Soldaten, die direkt dem Grafen unterstellt waren, sich mehr dafür interessierten, wo die nächsten Blauen und Käfer lauerten, als ihren Hass gegen ihre ortsansässigen Erbfeinde zu pflegen. Pirojil zog den Umhang um sich und stand auf. Dann ging er hinaus in das abweisende, gefrorene Weiß dieses beschissenen Tages.
Es musste ja wohl ein beschissener Tag sein, wenn ein Mann sich freute, wieder nach draußen in die Kälte zu kommen.
Intrigen
Kethol blieb stehen. Das einzige Geräusch, das er hören konnte, als er stehen blieb und sich in der weißen Landschaft umsah, war sein eigenes Atmen. Alte Gewohnheiten waren nicht so leicht abzuschütteln, und er zwang sich, zwischen seinen Atemzügen nach den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Er dachte daran, wie absurd dieser Augenblick war, und erinnerte sich an die Vergangenheit, während er hörte, wie in der Ferne Eis brach und sich eine leichte Brise in den kahlen Zweigen von Birken und Kiefern, Eichen und Ulmen fing. Kethol hatte sich einmal, vor sehr langer Zeit, mit einem Jongleur angefreundet. Dieser war ein umherziehender Gaukler gewesen, der während eines der Kriege gegen Kesh und der Rebellionen der Ortsansässigen, wie sie im Tal der Träume beinahe an der Tagesordnung waren, in den Dienst für Lord Sutherland gepresst worden war. Die besagten Kriege und Rebellionen im Tal der Träume waren einer der Gründe, wieso Kethol, Durine und Pirojil das Tal stets als letzte Möglichkeit zur Verfügung stand; hier gab es immer Arbeit, obwohl es Kethol nichts ausgemacht hätte, nie wieder einer Truppe kriegswütiger Hundesoldaten aus Kesh gegenüberzustehen. Der Jongleur war von einem von Lord Sutherlands umherziehenden Aushebertrupps »rekrutiert« worden, als es zwischen Rebellenangriffen einmal eine kleine Pause gegeben hatte - das Königreich hatte Sklaverei schon Jahrzehnte zuvor für ungesetzlich 227 erklärt, aber Zwangsarbeit an der Front war immer noch üblich; Befestigungen mussten verstärkt werden, und Männer, die keine überzeugende Geschichte hatten, wieso sie die Grenze überqueren wollten, wurden als Rebellen betrachtet. Einige hatten einfach Pech, und ein paar von denen wurden vielleicht auch wieder freigelassen, wenn ein Feldwebel oder Hauptmann zu dem Schluss kam, dass der Mann harmlos war. Kethol hatte das immer für ein seltsames System gehalten; wenn er ein Spion aus Kesh wäre, würde er sich selbstverständlich als der freudigste Arbeiter und jedermanns bester Freund geben. Schließlich würde man ihn dann freilassen, und dann könnte er seine eigentliche Aufgabe erledigen. Die Männer, die zu fliehen versuchten und dabei getötet wurden, waren Idioten, und das war eigentlich der beste Beweis, dass sie keine Agenten sein konnten. Dazu waren sie einfach zu dumm. Der Jongleur war offensichtlich kein Spion, aber er hatte keinen überzeugenden Grund dafür angeben können, wieso er allein auf einem staubigen Pfad in den Bergausläufern unterwegs war und nicht mit einer Karawane oder zumindest mit einer ganzen Truppe seinesgleichen. Also war er bei den Zwangsarbeitern gelandet. Nach einem Monat hatte der zuständige Feldwebel ihn freigelassen, und entgegen jeglicher Logik hatte er beschlossen, in der Nähe zu bleiben. Vielleicht hatte ihm das Lageressen geschmeckt.
Kethols Kompanie war zu diesem Zeitpunkt für die Verteidigung zuständig, was bedeutete, ebenso die Zwangsarbeiter zu bewachen wie nach Hundesoldaten Ausschau zu halten. Er hatte den Jongleur kennen gelernt, und als Kami nach seiner Freilassung geblieben war, hatte Kethol den jungen Mann aus Gründen, die er sich selbst nie hatte erklären können, unter seine Fittiche genommen. Der Jongleur war mit Hilfe eines fragwürdigen Feldwebels, der Kethol einen Gefallen schuldig war, in die Söldnerkompanie eingetreten, in der Kethol diente. Wenn Kethol nicht gerade versuchte, für den armen, schon eindeutig vom Schicksal gezeichneten Kerl Schwertmeister zu spielen - man sollte nicht glauben, dass jemand, der so geschickt jonglieren konnte, so ungelenk mit einem Schwert war -, hatte 228 Kami ihm seine Philosophie erklärt, die sich zusammenfassen ließ zu: »Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu das, womit du dich am besten auskennst.« Was oberflächlich gesehen ganz vernünftig klang. Praktisch sah das so aus: Wenn seine Unfähigkeit, ein Schwert und einen Schild zu benutzen, Kami zu sehr frustrierte, ging er einfach ein paar Minuten in die Nacht hinaus, begann, mit allem zu jonglieren, was zu kriegen war - wenn sein Jonglierset nicht in der Nähe war, nahm er auch Steine und Kiesel -, und dachte dabei über die Dinge nach. Er war dann immer entspannt zurückgekehrt und bereit, weiterhin beim Unterricht sein Bestes zu geben, und obwohl es ihm nie gelungen war, auch nur die einfachsten Grundlagen der Schwertarbeit zu meistern, hatte er zumindest gut gelaunt daran gearbeitet, und Kethol hatte schließlich diese »Tu das, womit du dich am besten auskennst«-Philosophie zu bewundern gelernt, auch wenn er sich fragte, ob sie wirklich so praktisch war. Immerhin hatte der arme Kami ein schlimmes Ende genommen, als der erste Hundesoldat, mit dem er es zu tun bekam, zugeschlagen hatte. Sein Schwert war Kami aus den Fingern gefallen, während sein abgeschnittener Kopf durch die Luft geflogen und absurd aufrecht wieder gelandet war, mit einem überraschten Ausdruck auf dem toten Gesicht... Zumindest jedoch hatte diese Art zu denken ihm zuvor ein wenig Trost und Freude bereitet. Wenn man tat, womit man sich gut auskannte, oder das, womit man sich auskannte, nur ein wenig erweiterte ... dann konnte man wenigstens für den Augenblick ignorieren, dass man bis über beide Ohren in der Scheiße steckte. Und vielleicht war Kethol ja aus diesem Grund nun auf Brezeneden unterwegs und bewegte sich - dank Grodan, möge seine Familie blühen und gedeihen! - über den Schnee hinweg zum Norden der Stadt, einen Segeltuchbeutel über der Schulter. Auf diesen Brezeneden über den Schnee zu laufen war Kethol vollkommen neu, aber Spuren durch die Landschaft zu folgen war etwas Vertrautes, selbst wenn sie so tief waren wie die Pferdespu229 ren von Tom Garnetts Patrouille und sie demnach auch ein Blinder wortwörtlich hätte ertasten können. Er hatte den Geldumhang in seinem Spind in der Unterkunft gelassen und einen kleinen Lederbeutel mit Reals in der Ecke des Spinds halb versteckt, in der
Hoffnung, dass ein Dieb, der in der Unterkunft möglicherweise sein Unwesen trieb, einfach den Beutel nehmen und sich nicht weiter umsehen würde, und dann hatte er seinen weißen Winterumhang angelegt. Wenn er die Kapuze aufsetzte und sich hinhockte, selbst wenn er den Umhang nicht über sich und die dunkle Segeltuchtasche zog - die er in ein Betttuch gewickelt hatte, das beinahe so weiß war wie der frisch gefallene Schnee -, dann würde er nur wie eine kleine Schneeverwehung aussehen, die sich an einem Stein, einem Baumstumpf oder einem Zaunpfahl gebildet hatte. Vielleicht lag es an seinem Gespräch mit Grodan, oder er hatte zu lange das Glitzern der Sonne auf dem Schnee betrachtet, aber er kam langsam zu dem Schluss, dass die grauen Umhänge, die die Pfadfinder bevorzugten, in dieser Art Landschaft durchaus brauchbar waren. Die meisten Wintertage waren nicht so gleißend weiß wie heute, sondern grau und bewölkt, und es schneite; die Landschaft bildete selten ein solch strenges Relief von vollkommenem Weiß und schwarzen Schatten unter den Bäumen. Das neutrale Grau war eine gute Tarnung, ganz gleich, in welchem Wetter und in welcher Art von Landschaft man sich bewegte. Einen Augenblick fragte er sich, wo er wohl einen solchen Umhang finden könnte, dann kam er zu dem Schluss, dass ein dritter Umhang einfach zu viel wäre; außerdem würde er vermutlich mehr Geduld brauchen, als er hatte, um Durine und Pirojil zu erklären, wieso er sich diese neue Mode angewöhnt hatte. Nachdem er die erste Reihe windbrechender Bäume hinter sich hatte, an denen sich eine riesige Schneewehe aufgehäuft hatte, aus der nur noch auf der dem Wind abgewandten Seite ein paar grüne Zweige mit Kiefernnadeln herausragten, hatte er seinen Umhang auf dem Schnee ausgebreitet und sich ein paar Minuten hingelegt sich durch schenkelhohen Schnee zu bewegen, war schwe230 re, schweißtreibende Arbeit -, und als er endlich wieder zu Atem gekommen war, hatte er sich die Brezeneden an die Überschuhe geschnallt und sich auf den Weg gemacht. Jetzt verstand er den Ursprung des Namens der Brezeneden: »Ungeschickte Füße«. Das traf es ziemlich gut. Natürlich war er nach dem ersten Dutzend Schritte - bei denen er seine Füße sorgfältig beobachtet hatte - übermütig geworden und schneller gegangen. Sofort danach war er mit dem linken Brezeneden auf den rechten getreten, und als er den rechten Fuß gehoben hatte, hatte sich sein Stiefel aus den Lederschnüren losgerissen, und Kethol war kopfüber in den Schnee gefallen. Selbst nachdem er wieder auf die Beine gekommen war - was allein schon ein Kampf gewesen war -, hatte er mehrere lange, kalte Minuten gebraucht, die dicken Handschuhe auszuziehen und seinen rechten Stiefel wieder an den Brezeneden zu binden, bis er die Hand schließlich wieder in die gesegnete Wärme der Handschuhe stecken und weiterziehen konnte. Danach ging es besser - bis er das nächste Mal auf seine eigenen, plötzlich so breit gewordenen Füße getreten war, und obwohl die Schnüre diesmal gehalten hatten, war er dennoch in den Schnee gefallen. Nach einer Weile glaubte er schließlich, den Trick herauszuhaben, obwohl er annahm, dass es noch ein paar Einzelheiten bei
der Benutzung dieser Dinger gab, mit denen sich Grodan sehr viel besser auskannte, und er wünschte sich, der Pfadfinder hätte sie ihm verraten. Er fragte sich einen Augenblick, ob dieses Versäumnis Grodans auf Böswilligkeit oder auf Dummheit zurückzuführen war, aber er wusste, dass Pfadfinder nicht dumm waren. Grodan war ihm allerdings auch nicht besonders böswillig vorgekommen. Es war wohl schlicht unmöglich, alles in einem einzigen kurzen Gespräch zu erläutern. Oder vielleicht lag es an dem seltsamen Humor dieses Mannes. Kethol hatte schon Leute kennen gelernt, die noch erheblich seltsamere Dinge amüsant gefunden hatten. Dennoch, nach einer Weile lernten seine Füße langsam, einan231 der zu meiden, und er konnte sich mit einer unter diesen Umständen beinahe absurd hohen Geschwindigkeit bewegen. Die Spuren, die seine Brezeneden hinterließen, würden wahrscheinlich schon vom erstbesten anständigen Wind verwischt werden, und selbst wenn es keinen Wind gab, würde der Zweig, den Kethol hinter sich herzog, sie für alle, die nicht über die Fähigkeiten eines Pfadfinders verfügten, unsichtbar machen. Hinter einer Biegung fand er den Kadaver eines Pferdes. Blut aus der lang gezogenen Schwertwunde an der Kehle hatte den Schnee dunkelrot gefärbt. Die Spuren im Schnee machten deutlich, was geschehen war: Das Pferd war auf unter dem Schnee verborgenem Eis ausgerutscht, das freigelegt worden war, weil alle dem Vorreiter in der Spur gefolgt waren. Der Reiter war in eine nahe Schneeverwehung geschleudert worden, die ihn halb begraben hatte. Kethol erschauderte. Im Kopf konnte er beinahe hören, wie das Bein des Tieres brach, und er nickte zustimmend, als er an den Spuren erkannte, dass der Reiter trotz der wild zuckenden Hufe rasch zu seinem Tier zurückgekehrt war und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte, um die Schmerzen des gequälten Geschöpfs zu beenden. Um den Sattel abzunehmen, hatte es mindestens ein Dutzend Helfer gebraucht, wenn man den Spuren nach ging - die Steigbügel hatten sich wahrscheinlich unter dem Pferd verfangen, und mehrere Männer hatten das tote Tier hochheben müssen, um sie herauszuziehen. Bei all dem waren sie nicht gestört worden. Der Rauch, der in der Ferne in die träge Luft aufstieg, ließ vermuten, dass das nächste Bauernhaus mindestens eine Meile entfernt war, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand dort den relativ geringen Lärm gehört hatte. Kethol zog das Messer, legte seine Ausrüstung beiseite und kniete sich in den fest gestampften Schnee neben dem toten Tier. Es war klein für ein Pferd, was bedeutete, dass es immer noch mindestens sechsmal so viel wog wie das größte Stück Wild, das Kethol je erlegt hatte, und wahrscheinlich anderthalbmal so groß 232 war wie dieser Hirsch, von dem die ganze Kompanie in Donnerhölle eine Woche gelebt hatte. Das Tier ordnungsgemäß zu zerlegen hätte mehr gebraucht als die Kraft eines einzelnen Mannes: Kethol würde vielleicht, wenn er sich genügend anstrengte, das Brustbein brechen können, aber es würde zwei oder mehr Männer brauchen, die zusammenarbeiteten, um den Brustkorb auseinander zu ziehen.
Dennoch, das Pferd war noch nicht vollständig gefroren. Kethol keuchte und schwitzte zwar vor Anstrengung, nachdem er fertig war, aber es war ihm tatsächlich gelungen, Fell und Fleisch schnell zu durchtrennen und bis zum linken hinteren Hüftknochen zu gelangen. Er wünschte sich, er hätte eine kleine Lageraxt mitgenommen, um den Knochen aus der Pfanne zu brechen, aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er wieder durch den taillenhohen Schnee taumelte und dabei das Bein hinter sich her durch den Schnee auf einen Birkenhain zuzerrte, den das Unwetter nicht vollkommen unter Schnee begraben hatte. Der meiste Schnee war um die Bäume herumgefegt, und im Hain selbst war eine kleine, nach Osten gehende Senke geblieben, in der der Schnee kaum einen Fuß hoch lag. Dort räumte Kethol nun schnell ein Stück des eisigen Bodens frei. Ein schon vor langer Zeit umgestürzter Baum lieferte Zweige, die Kethol leicht abbrechen konnte, und als er sein inzwischen ziemlich stumpfes Messer einsetzte, bekam er ganze Brocken von Holz, aus denen er schnell ein Lagerfeuer baute. Das Feuer zu entzünden dauerte nur ein paar Minuten - er brauchte nicht einmal das Stück Birkenrinde, das er im Rucksack trug, da ihm die Birken ringsumher genug von diesem Material lieferten; also zog er einen großen Streifen von einem breiten Stamm ab und hatte nach ein paar Versuchen mit dem Feuerstein schon bald ein niedrig brennendes Lagerfeuer vor sich. Dann lief er zurück zu dem Pferdekadaver, um den Rest seiner Sachen zu holen und um noch mehr Fußspuren zu hinterlassen. Er hackte ein Stück Fleisch von dem Pferdebein ab, briet es auf der Messerspitze über dem Feuer und knabberte hin und wieder 233 daran, statt zu warten, bis alles durchgebraten war, mehr aus Ungeduld, als weil er es so eilig gehabt hätte. Selbst wenn es der Patrouille nicht gelang, die Stadt vollkommen zu umrunden, würde der Wind den Rauch wegpusten, und selbst wenn sie auf dem gleichen Weg zurückkehren mussten - wie er annahm -, würde er sie schon lange hören, bevor sie den ungeschickt zerfledderten Kadaver sahen, und er hätte Zeit genug, um zu fliehen und den größten Teil des Hains zwischen sich und jeden potenziellen Beobachter zu bringen. Das Fleisch war gar nicht übel, obwohl Kethol Pferdefleisch nicht sonderlich mochte. Ein Mann, den es besonders interessierte, was er aß, sollte sich lieber einen anderen Beruf aussuchen als Söldner, aber er war überrascht festzustellen, dass er ernsthaft hungrig war. Er aß ein ziemlich großes Stück und warf den Rest ins Feuer. Er legte mehr Holz auf, dann kehrte er zu dem Kadaver zurück, hackte so viel Fleisch ab, wie er konnte, und vergrub die Stücke an mehreren unterschiedlichen Stellen im Schnee. Er öffnete die Segeltuchtasche, holte die Stücke der Tsurani-Rüstung heraus, die er aus dem Lagerraum im Keller der Burg gestohlen hatte - zu Beginn des Krieges hatte man sich in LaMut offenbar wie überall im Königreich dafür interessiert, diese seltsamen Rüstungen zu sammeln und zu untersuchen - und verteilte sie auf der Lichtung. Das Tsurani-Schwert brach zufriedenstellend, nachdem er es aus der schwarzen Scheide geholt, die Spitze auf den Boden gestellt und mit dem Fuß auf die flache
Klinge getreten hatte, und er warf den größeren Teil der Waffe ebenfalls in den Schnee und steckte die Spitze wieder in die Tasche. Er spähte aus der Senke hervor und lauschte. Nichts. Nichts bis auf leichten Wind und das weit entfernte Zwitschern eines Vogels, der offenbar die ganze Welt wissen lassen wollte, dass er das Unwetter ebenfalls überlebt hatte. Er machte sich auf den Brezeneden auf den Weg und zog wieder den Zweig hinter sich her. Dabei hielt er nur einen Augenblick 234 inne, um die Schwertspitze in der Nähe des Pferdekadavers fallen zu lassen, und eilte rasch über die Anhöhe zurück zur Stadt. Es wäre wahrscheinlich das Beste, bis nach Einbruch der Dunkelheit vor der Stadt zu warten. Im Schutz der Nacht würde er sich dann wieder hinein-schleichen können. Er würde die Brezeneden im Schnee vor der Stadt vergraben müssen. Eine Schande. Aber da er nun wusste, wie es ging, würde er schnell neue herstellen können, wenn er so etwas jemals wieder brauchen würde - was, wie er innigst hoffte, nicht der Fall sein würde. Man tut, womit man sich am besten auskennt, hatte der verstorbene Kami gesagt. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu, womit du dich am besten auskennst. Keine schlechte Philosophie. Kethol wusste nicht, wie er verhindern sollte, dass eine Schlägerei ausbrach, und schon gar nicht, wie er eine beenden sollte, ohne dass alle auf der anderen Seite tot waren oder im Sterben lagen - zumindest alle, die nicht fliehen würden. Und dass der Schwertmeister es ihm trotzdem befohlen hatte, hatte ihm nicht auf magische Art die Fähigkeit dazu verliehen. Er hätte es einfach Pirojil und Durine gleichtun und in die Stadt gehen können, um sich dort umzusehen, aber es brauchte nicht mehr als zwei Augen, um zu erkennen, dass es Probleme gab und dass alles nur noch schlimmer würde, da ein Dutzend zerstrittener Fraktionen in der Stadt eingesperrt war. Kethol hatte keine Ahnung, was man dagegen tun konnte. Es war für Adlige des Königreichs nicht ganz ungewöhnlich, geringeren Adligen ihre Ländereien wegen Unfähigkeit zu entziehen. Es geschah sogar, wenn jemand nicht einmal erwiesenermaßen inkompetent war und ungeachtet einer hohen Stellung, wie das Beispiel von Guy du Bas-Tyra und Prinz Erland in Krondor zeigte, wo sich Bas-Tyra auf Prinz Erlands angeblich schlechte Gesundheit berufen hatte. Wenn Graf Vandros hier gewesen wäre, hätte die offensichtli235 che Lösung darin bestanden, den zerstrittenen Baronen zu erklären, dass er die gegenwärtige Situation als Prüfung ihrer eigenen Führungseigenschaften betrachtete und jeden entfernen würde, der diese Prüfung nicht bestand. Und über die Frage, wer der nächste Graf von LaMut werden sollte, hätte man in diesem Zusammenhang ja auch sprechen können. Aber wenn der Schwertmeister das Gleiche versuchte, wäre es gut möglich, dass er genau die Situation herbeiführte, die er zu verhindern versuchte. Steven Argent hatte Recht, immer wieder zu erklären, dass er nicht der Graf war, und Adlige
lauschten häufig und stimmten zu, wenn ein höher Gestellter ein Argument vorbrachte, aber sie sträubten sich, wenn ein Mann von geringerem Rang das Gleiche sagte. Die Geschichtsschreibung würde wie üblich von den Siegern beeinflusst werden und behaupten, dass die Verlierer mit dem Kampf begonnen hatten und von den Truppen loyaler Barone und den Soldaten des Grafen gemeinsam besiegt worden waren, und jeder, der das Gegenteil hätte beschwören können, wäre ohnehin längst dabei, irgendwo in der Erde zu verfaulen, und würde nicht imstande sein, seine tote Stimme erklingen zu lassen. Wie gewöhnlich würde man dem Krieg an allem die Schuld geben; wenn der Krieg nicht wäre, wäre nicht der größte Teil der regulären Soldaten aus LaMut unterwegs gewesen, um gegen Tsuranis zu kämpfen: Sie wären hier in LaMut, und Barone, die zum Rat in der Stadt kämen, würden nur ihre eigene Leibwache mitbringen, sodass Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Elementen ein kleineres Problem gewesen wäre und keine ernsthafte Gefahr. Schlimmstenfalls würde es ein Duell geben, aber sehr wahrscheinlich würde nichts wirklich Dramatisches passieren. Nun konnte es zu einem ausgewachsenen Aufstand kommen oder, noch schlimmer, zu einem Kampf innerhalb der Stadt zwischen Soldaten mit jahrelanger Kampferfahrung und weniger Hirn, als die Götter den Salamandern gegeben hatten. Im Augenblick sah es so aus, als könnte schon eine Rauferei zwischen Lakaien einen Kampf zwischen den Baronen auslösen. 236 Kethol wusste einfach nicht, was er dagegen tun sollte. Aber er kannte sich mit ein paar anderen Dingen recht gut aus. Er wusste, wie man sich bewegte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er wusste, wie man ein Tier zerlegte - oder schnell ein Bein abhackte, wenn man nicht viel Zeit hatte -, und er wusste, wie man es erreichte, dass die anderen Spieler bei einem Glücksspiel abgelenkt waren, während man selbst den Blick weiterhin auf den Hauptgewinn richtete. Es würde so aussehen, als hätte sich ein Tsurani-Späher in diesem Birkenhain verborgen und beobachtet, wie die Patrouille aus LaMut vorbeigekommen war und das tote Pferd zurückließ. Der Tsurani hatte der Gelegenheit einfach nicht widerstehen können, seine mageren Rationen mit ein wenig frischem Pferdefleisch aufzustocken, und dann war er geflohen und hatte keine Fußspuren hinterlassen, weil er sich an die Spuren der Patrouillenpferde gehalten hatte. Wer wusste schon, ob der Mann nicht vielleicht sogar ein Späher für eine größere Truppe gewesen war? Die Tsuranis waren schlau, wenn es um Kriegsangelegenheiten ging, und vielleicht sogar schlau genug, um anzugreifen, wenn das Königreich es mitten im Winter am wenigsten erwartete. Kethol war nicht ganz sicher, ob es funktionieren würde, aber wenn sie Glück hatten, würde der Gedanke daran, dass Tsuranis hier draußen lauerten, die Soldaten der Barone vielleicht davon ablenken, sich gegenseitig umbringen zu wollen. Zumindest hoffte er das.
Gerüchte
Die ganze Sache gefiel Steven Argent überhaupt nicht.
Er zwang sich, sich wieder in seinen Sessel im Adlerhorst zu setzen, ließ das Glas Wein auf dem Beistelltisch stehen und konzentrierte sich stattdessen auf das blaue Keramikfragment in seiner Hand, und sei es nur, um Tom Garnett nicht ansehen zu müssen, der ihm gegenübersaß, Fantus streichelte und auf die Antwort des Schwertmeisters auf seinen Bericht wartete. Warum jeder andere - selbst dieser Söldner Kethol - den Feuerdrachen mochte, war ein immer wiederkehrendes, wenn auch geringfügiges Ärgernis für Steven Argent. Er war immer noch frustriert darüber, dass es ihm absolut nicht gelang, Fantus aus dem Adlerhorst fern zu halten, und er benutzte hin und wieder diese geringere Frustration als willkommene Ablenkung von wichtigeren und viel frustrierenderen Angelegenheiten. Wie zum Beispiel dieser scharfen blauen Keramikscherbe, die er da in der Hand hielt, den anderen Rüstungsteilen, die neben seinem Stuhl lagen, und Tom Garnetts Bericht darüber, wie und wo er sie gefunden hatte. Steven Argent war nicht überrascht gewesen, dass die Schneeverwehungen es Garnetts Patrouille unmöglich gemacht hatten, die Stadt vollkommen zu umrunden, selbst auf den Straßen, die ganz in der Nähe von LaMut verliefen. Das war zu erwarten gewesen, aber sie hatten es zumindest versucht, und sei es nur, um zu bestätigen, dass die Stadt tatsächlich vollkommen eingeschneit 238 war. Die einzige Überraschung bestand für den Schwertmeister darin, dass die Patrouille nur zwei Pferde verloren hatte - eins war auf dem Eis ausgerutscht und das andere war auf dem Rückweg lahm geworden -, wo er doch den Verlust von mindestens vieren erwartet hatte. Und Überraschungen ärgerten ihn. Es gab eine Regel im Soldatenleben, die er tief verinnerlicht hatte: Überraschungen sind immer unangenehm. Eine weitere Regel lautete jedoch, dass jede Regel irgendwann einmal gebrochen wurde. Er konnte allerdings die Anzahl der Fälle, bei denen es im Lauf dieses Krieges mit den Tsuranis zu einer angenehmen Überraschung gekommen war, an den Fingern einer Hand abzählen, und das galt sogar noch, wenn man die mehr als ein Dutzend Jahre seines Soldatenlebens vor dem Krieg mit einbezog. »Überraschung« bedeutete immer, dass die Kompanie, die einen ablöste, einen Tag zu spät kam und nur halb so stark war, wie man angenommen hatte - sie kamen nie einen Tag zu früh und waren doppelt so viele. Oder die feindlichen Truppen auf der anderen Seite der nächsten Anhöhe waren eine ganze Armee statt nur einer Kompanie, niemals jedoch nur eine Patrouille statt einer Kompanie. Es war allgemein bekannt, dass sich die Tsuranis mit Beginn des Winters hinter ihre Linien zurückzogen, um auf den Frühling und die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen zu warten, und nach allem, was Steven Argent geglaubt hatte, über ihre Anzahl und die Qualität der Soldaten, die sie ins Feld führen konnten, zu wissen, war ihre Angst davor, im Winter zu kämpfen -oder vielleicht vermieden sie es ja auch aus religiösen Gründen -, einer der wenigen Gründe, wieso sie Midkemia noch nicht von den Großen Nordbergen bis nach Süden zum Bitteren Meer überrannt hatten. Alle Berichte wiesen darauf hin, dass sich in der Heimatwelt der Tsuranis Armeen befanden, die um ein Vielfaches größer waren als jene, die sie
gegen das Königreich ausschickten. Ein Bericht von Prinz Arutha in Crydee an den Grafen über Dinge, die ein Tsurani-Gefangener verraten 239 hatte, wies darauf hin, dass dieser Krieg für die Tsuranis nur einen Teil einer massiven politischen Auseinandersetzung auf ihrer Heimatwelt darstellte. Politik fand Steven Argent sogar noch ärgerlicher als Überraschungen. Er hatte noch nie davon gehört, dass Tsuranis während ihres Rückzugs im Winter bewusst Späher hinter den königlichen Linien zurückgelassen hätten, und auch nicht von versprengten Tsuranis, die zu Spähern wurden statt zu versuchen, sich so schnell wie möglich wieder zu ihren eigenen Linien zurückzuziehen. Wenn das jetzt geschehen war, dann war das in der Tat eine Überraschung, und keine angenehme. Und wenn es aufgrund bewusster Politik geschehen war, war das doppelt ärgerlich. »Nun?«, fragte er. »Was denkt Ihr? Nur ein weiterer Versprengter?« »Nein.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Nicht, dass es unmöglich wäre - aber ich hätte eigentlich nicht von einem Tsurani erwartet, dass er gut genug vom Land leben könnte, um den Winter zu überstehen, und die wenigen Verzweifelten, die uns letzte Woche entkommen sind, waren in keinem guten Zustand. Dieser hier jedoch muss selbst nach dem Unwetter bei guter Gesundheit gewesen sein - er hat sich einen sehr guten Platz gesucht, um sich zu verstecken, und wenn man davon ausgeht, wie schnell und schwer der Schneesturm zugeschlagen hat, sagt mir schon die Tatsache, dass er überlebt hat, dass er sowohl gut ist als auch Glück hat. Er hat sich wahrscheinlich in diesem kleinen Gehölz versteckt und das Kommen und Gehen in der Stadt beobachtet. Er hat gewartet, beobachtet und dann Nutzen aus der Situation gezogen, und zwar nicht nur, um sich eine schnelle Mahlzeit zu verschaffen, sondern er hat so viel Fleisch mitgenommen, wie er tragen konnte - das sieht eigentlich mehr nach guter Ausbildung und Disziplin aus als nach Verzweiflung. Und er war schlau genug, nicht zu dieser Stelle zurückzukehren.« Der Schwertmeister war halbwegs ernsthaft der Ansicht, dass 240 sich die Intelligenz eines Mannes daran messen ließ, wie sehr dieser Mann mit den Einstellungen eines gewissen Steven Argent übereinstimmte, und er hatte Tom Garnett immer für besonders intelligent gehalten, obwohl der Hauptmann zweifellos in einigen Dingen nicht seiner Meinung war, das aber für sich behielt. Loyalität und Speichelleckerei waren nach Argents Einschätzung jedoch zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. »Ja«, sagte er schließlich. »Es ist schlimm genug, glauben zu müssen, dass es Tsurani-Späher gibt, die ihnen helfen, sich auf die Frühjahrsoffensive vorzubereiten, aber wenn das bedeutet, dass die Tsuranis es nun vielleicht überhaupt nicht mehr vermeiden werden, im Winter zu kämpfen, ist das ein sehr schlechtes Zeichen.« Tom Garnett nickte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen neuen Trick gelernt haben.« »Es gibt allerdings ein paar, die sie anscheinend nur sehr ungern lernen«, erwiderte Argent.
»Kavallerie.« Tom Garnett nickte zustimmend. »Allen Berichten zufolge scheint es mit ihrer seltsamen Auffassung von Ehre zusammenzuhängen, dass sie nicht reiten. Dafür bin ich wirklich dankbar. Sie haben auf jeden Fall genug von unseren Pferden erbeutet, um es probieren zu können, wenn sie wollten. Und ich kann mir nicht viele Dinge vorstellen, die auszuprobieren ein Tsurani nicht mutig genug ist.« Argent nickte zustimmend. Keiner, der gegen die Tsuranis gekämpft hatte, würde ihren Mut in Zweifel ziehen. »Ein paar Dinge haben sie tatsächlich von uns gelernt. Dennoch, selbst wenn wir aus diesem Fund schließen, dass sie nun anfangen, uns im Winter auszukundschaften, um im Frühling besser vorbereitet zu sein... es handelt sich um einen einzelnen Vorfall, und es würde nicht unbedingt bedeuten -« »Woher zum Teufel wisst Ihr denn, dass es nur ein einzelner Vorfall ist?«, fauchte Argent und hob dann zur sofortigen Entschuldigung die Hand. »Tut mir Leid, Tom; es scheint mir wirklich nicht gut zu tun, unter diesen absurden Bedingungen auf dem 241 Stuhl des Grafen zu sitzen. Ich bin angespannt wie eine Bogensehne.« Steven Argent hatte nie an das alte Wort geglaubt, man solle sich niemals entschuldigen und niemals etwas erklären. Wenn man einen Fehler machte, entschuldigte man sich, sonst hielten einen die Männer, die unter einem dienten, für einen Idioten, der nicht einmal bemerkte, dass man einen Fehler gemacht hatte. Tom Garnett akzeptierte mit einem Nicken sowohl die Kritik an seiner eigenen Äußerung als auch die Entschuldigung. »Das stimmt - wir können nicht wissen, ob es nur ein einzelner Vorfall war. Wie lange wird es dauern, eine Botschaft nach Yabon zu schicken?« Ihrem Vorgesetzten von diesen Dingen zu berichten schien das Offensichtliche zu sein, aber Steven Argent schüttelte den Kopf. »Ich werde den Vogelmann fragen, aber ich bezweifle, dass wir noch Tauben haben, die nach Yabon fliegen - der Graf wollte ein paar mit zurückbringen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe vor ein paar Tagen eine erhalten, die sein sicheres Eintreffen dort meldete, aber ich kann ihr ja wohl kaum sagen, dass sie zurückfliegen soll.« Graf Vandros hatte sich immer ein wenig über Steven Argents Sorge um die geringe Anzahl von Brieftauben in LaMut lustig gemacht, aber der Schwertmeister war über diesen Beweis, dass er nun doch Recht haben sollte, alles andere als erfreut. Nachdem vor der Generalstabssitzung in Yabon und dem Rat der Barone in LaMut Dutzende von Nachrichten buchstäblich hin und her geflogen waren, war der Vorrat an Tauben für seinen Geschmack viel zu gering. »Was machen wir also?« Tom Garnett runzelte die Stirn und fügte dann hinzu: »Verzeihung, Sir - ich wollte sagen: Wie lauten Eure Befehle?« Steven Argent zwang sich zu einem Lächeln. »Nun, mein erster Befehl lautet, mir einen Abend Zeit zu lassen, damit ich nachdenken kann, was zu tun ist, und für den Augenblick die Angelegenheit für Euch -« 242 »Äh.« Tom Garnett blinzelte. »Ich fürchte, zur Geheimhaltung ist es zu spät. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass meine Männer reden, hätte darin
bestanden, sie alle in der Unterkunft einzuschließen und Wachen aufzustellen, und selbst dann wäre ich nicht sicher, ob das Geheimnis geheim bleiben würde.« Und, brauchte er nicht hinzuzufügen, ich hatte keinerlei Befehle, genau die Männer, die ihr eigentlich draußen in der Stadt braucht, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, auch noch einzuschließen. Dagegen konnte Steven Argent nichts sagen. »Dann ist es also raus, und ich nehme an, auch die Barone werden bald davon erfahren, falls sie es nicht jetzt schon wissen. Ich sollte lieber nach unten gehen und ihre Fragen beantworten, bevor sie die Große Halle in Trümmer legen.« Er zwang sich, leise zu lachen. »Das Letzte war nur im übertragenen Sinn gemeint und unter den Umständen ein schlechtes Bild.« Er stand auf, und der Hauptmann stellte rasch sein Glas ab und erhob sich ebenfalls, aber Argent bedeutete ihm mit einer Geste, sich wieder hinzusetzen. »Bleibt ruhig sitzen und trinkt Euren Wein aus, Mann; den habt Ihr Euch verdient, und es ist eine Schande, ein halbes Glas von diesem guten Roten aus Rillanon zu verschwenden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir so schnell neue Vorräte davon bekommen werden.« Der Hauptmann setzte sich wieder und grüßte den Schwertmeister mit erhobenem Weinglas. »Danke, Sir. Ich kenne mich mit Wein kaum aus, aber ich habe selten einen besseren getrunken. Was allerdings die Barone angeht, so bin ich sicher, dass sie es schon wissen. Nach meiner Ansicht bewegt sich Klatsch immer schneller als selbst der schnellste Armbrustbolzen.« »Dann sollte ich mich lieber auf den Weg machen«, sagte der Schwertmeister. »Ihr habt nicht zufällig noch ein paar gute Nachrichten für mich?« »Tut mir Leid, nein.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Gute Nachrichten sind derzeit anscheinend so knapp wie frisches Gemüse. Allerdings ...« 243 »Ja?« »Nun, als wir in die Stadt zurückkehrten, war die Luft eindeutig ein wenig wärmer geworden, und ich glaube nicht, dass mir das nur wegen all der Anstrengung so vorkam und weil wegen dieser Rüstung mein Herz so laut klopfte. Ich nehme an, jede Veränderung des Wetters ist eine gute Nachricht.« Er streckte die Hand aus, kraulte die Augenwülste des Feuerdrachen und lächelte, als das eidechsenartige Geschöpf den Kopf gegen seine Hand drückte. »Und ich glaube, Fantus mag mich.« Steven Argent lachte. Es war kein sonderlich heiteres Lachen -die Zeiten waren wirklich alles andere als erfreulich -, aber echt genug. Pirojil, dicht gefolgt von Durine, kam dem Schwertmeister auf der Treppe entgegen, weil sie auf dem Weg zum Adlerhorst waren, um ihm Bericht zu erstatten. Nachdem sie miteinander gesprochen hatten, war klar geworden, dass ihre Berichte ganz ähnlich sein und Argent unvermeidlich zu dem gleichen Schluss führen würden, den sie unabhängig voneinander bereits gezogen hatten: Die Situation in der Stadt stand kurz vor der Explosion, und trotz aller Bemühungen der Soldaten des Grafen, der Wache und der Hauptleute der Barone, den Deckel auf dem Topf zu halten, würde die ganze Chose wahrscheinlich demnächst überkochen.
Es war kein großer Zufall gewesen, dass sie einander auf dem Rückweg zur Burg begegnet waren. Sie wussten beide, dass der Schwertmeister sein Abendessen früh und allein zu sich nahm, und beide hatten verstanden, dass er mit seiner Äußerung, er wolle ihren Bericht »bei Tisch«, gemeint hatte, sie sollten in seine Gemächer kommen und ihm vertraulich Bericht erstatten und nicht später, wenn er sich zu den anderen Adligen in der Großen Halle gesellte. Pirojil hoffte, dass sie Steven Argent nun nicht noch beweisen müssten, dass sie seine ausdrücklichen Anordnungen tatsächlich befolgt und sich getrennt hatten, als sie in die Stadt gegangen wa244 ren. Vorsichtshalber begann er schon einmal damit, im Kopf eine Liste von Zeugen zusammenzustellen. Zumindest gab ihm das etwas Unwichtiges, worüber er sich Gedanken machen konnte - und was sollte Steven Argent schon tun, wenn er ihnen nicht glaubte? Ihnen ihre Hauptmannsabzeichen nehmen und sie damit gleichzeitig von der Verantwortung für diese explosive Situation befreien? Nach der Anspannung, die es Pirojil bereitete, sich wie ein Offizier benehmen zu müssen, wäre selbst ein ausgewachsenes Blutbad eine Erleichterung gewesen. Vorgesetzter zu sein war nervenaufreibend, und das war noch gelinde ausgedrückt. Nein, dass man ihnen diese Pflicht entzog, war noch ihre geringste Sorge. Aber wo, zum Beispiel, steckte Kethol? Kethol hatte Steven Argents Anweisungen anscheinend anders verstanden - Kethol war nach Pirojils Ansicht nicht immer sonderlich klug, vor allem, wenn er sich nicht in seinem Element befand, und eine eingeschneite Stadt war ganz bestimmt nicht Kethols Element. Andererseits konnte es durchaus auch sein, dass er einfach nur ein paar Minuten später dran war. Oder vielleicht lag er tot in einer Gasse, nachdem er sich zu sehr angestrengt hatte, eine Schlägerei zu beenden, und dabei schließlich entweder einem zu guten Schwertkämpfer oder zu vielen begegnet war. Steven Argent blieb ein paar Stufen über den beiden Söldnern stehen, schaute auf sie herunter und nickte. »Da seid ihr ja. Es war immer meine Politik, mich mit frisch ernannten Hauptleuten zum Abendessen zusammenzusetzen, aber man hat Spuren eines eventuellen Tsurani-Spähers gefunden, und -« Er hielt inne. »Nein, was in der Stadt passiert, ist wichtiger, zumindest im Augenblick.« Pirojil unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Ja, es war allerdings wichtiger. Diese Sache mit dem Späher konnte ja wohl kaum wichtiger sein, als dass offener Bürgerkrieg zwischen den Fraktionen in der Stadt nur eine Rempelei entfernt war. »Ich höre mir besser jetzt gleich euren Bericht an, und essen 245 können wir dann später«, sagte Steven Argent. »Aber bitte macht schnell.« Den Gesprächsfetzen nach zu schließen, die Durine über die Barriere des Tisches in der Mitte der Großen Halle hinweg hören konnte, sorgten sich die versammelten Adligen mehr wegen des Tsurani-Spähers als um die Probleme von Steuern und Erbfolge, und das stimmte sie untereinander entschieden freundlicher. Selbst Morray und Verheyen waren zu sehr damit beschäftigt, dem Schwertmeister zuzuhören, als dass ihnen noch viel Zeit für wütende Seitenblicke geblieben wäre,
wenn auch Edwin von Viztria immer noch abwechselnd höhnisch grinste oder mürrisch vor sich hin starrte und hin und wieder einen Kommentar fallen ließ, den Durine gar nicht hören wollte. Baron Viztria war einer der wenigen Männer, denen Durine je begegnet war, die es schon wegen ihrer schieren Unerträglichkeit verdienten, erwürgt zu werden. Wer immer dieser Tsurani-Späher war, er hatte eine nützliche Ablenkung geliefert. Durine hätte gern einen Trinkspruch auf ihn ausgebracht, solange seine Anwesenheit so weit im Süden nicht eine gewaltige Truppenbewegung der Tsuranis ankündigte. Und wenn er sich so die anderen Hauptleute anschaute, die sich um die Feuerstelle versammelt hatten, sah es ganz danach aus, dass er nicht der Einzige hier war, der dem armen Kerl, der sich da draußen den Arsch abfror, gerne ein Bier ausgegeben hätte. Alle, die sich in den plötzlich friedlichen Unterkünften umgesehen hatten, berichteten, dass die Männer nun erwarteten, demnächst gegen die Tsuranis zu kämpfen und nicht gegeneinander. Ja, er hätte diesem TsuraniSpäher gern ein Bier ausgegeben. Selbstverständlich hätte er ihm hinterher doch noch die Kehle durchgeschnitten. So weit ging die Dankbarkeit nun auch wieder nicht. Durine trank gerade sein zweites Glas Wein und überlegte, ob er danach nicht lieber zu Kaffee oder Tee übergehen sollte, als Haskell, der Vogelmeister, aus dem Dachstuhl oberhalb des Ad246 lerhorsts herunterkam und dem Schwertmeister etwas - wahrscheinlich eine Nachricht - überreichte. Argent entließ den Mann mit einem raschen Nicken und beendete, was er gerade zu Edwin von Viztria sagte, bevor er näher zu einer Laterne ging, um die Nachricht zu lesen. Steven Argent war nicht anzumerken, ob diese Nachricht eine Wirkung auf ihn gehabt hatte, und man konnte auch aus dem, was er als Nächstes tat, nichts schließen, denn er steckte das kleine Stück Pergament einfach in einen Beutel an seinem Gürtel und nahm das Gespräch mit Viztria wieder auf. Wahrscheinlich nichts Wichtiges, dachte Durine, aber als er einen Augenblick später wieder zu den Adligen hinsah, bemerkte er, dass Steven Argent, Lady Mondegreen und Baron Morray verschwunden waren und sich die Barone Folson und Langahan zu den übrigen Adligen auf der anderen Seite des Zimmers gesellt hatten. Auch weiterhin drehten sich die Gespräche überwiegend um den Späher und was das für den Frühling bedeuten mochte, und wenn Durine nicht nach ein paar Gläsern Wein tatsächlich zu Kaffee übergegangen wäre, wäre er wohl schon vollkommen betrunken gewesen, als Kethol lange nach Einbruch der Dunkelheit hereinkam und sich zu den anderen Hauptleuten gesellte, die sich um die kleine Feuerstelle in der Großen Halle versammelt hatten. Er sprach kaum ein Wort, was für Kethol recht ungewöhnlich war, der in Menschenmengen meist gerade genug redete, um nicht aufzufallen, weil er die Aufmerksamkeit ebenso ungern durch Schweigen wie durch Geschwätzigkeit auf sich lenken wollte. Durine zuckte mit den Achseln. Er konnte ihn ja später danach fragen und würde das wahrscheinlich auch tun.
Hauptmann Karris kam von draußen herein und stampfte auf den Marmorboden, um den Schnee von den Stiefeln zu schütteln, weil es ihm offenbar zuwider war, das draußen im kalten Vorraum zu tun. »Seid gegrüßt, Karl Karris«, sagte Tom Garnett. »Gibt's was Neues?« 247 »Neu?« Karris schnaubte und griff nach einem Becher. Er hockte sich vor die Kaffeekanne neben der Feuerstelle und wickelte die Hand in eine Umhangfalte, um den Griff anfassen zu können, statt den Lederhandschuh zu benutzen, der zu diesem Zweck auf dem Sims lag. »Die größte Neuigkeit im Augenblick ist tatsächlich die Ruhe, zumindest in den Unterkünften. Viele Männer schlafen sich aus, obwohl ein paar sich zu diesem Zweck erst noch besaufen mussten, und der Rest verbringt ungewöhnlich viel Zeit damit, die Ausrüstung zu flicken.« Er lachte leise, als er sich in den leeren Sessel zwischen Durine und Garnett fallen ließ. »Da draußen gibt es jetzt ein paar Schwerter, mit denen man sich rasieren könnte.« Kelly nickte. »Und alle, die nicht schlafen, verbringen mehr Zeit damit, aus den Fenstern zu schauen statt auf die Kehlen ihrer Kameraden, als könnten sie sogar durch die verdammten geschlossenen Läden noch sehen, ob Tsuranis über die Burgmauern stürmen.« Er grinste. »Was für ein Tag, wenn das Beste, was passieren konnte, das Gerücht über Tsuranis ist, die nun auch im Winter unterwegs sind.« »Ihr glaubt also nicht, dass es mehr als nur ein Gerücht ist?« »Ich? Ich hoffe es sogar - ich hoffe, dass eine ganze Legion von ihnen da draußen erfroren ist, zehn Meilen westlich von hier, aber ich glaube es nicht. Es würde ohnehin nicht viel ändern - es scheint unendlich viele von ihnen zu geben; sie strömen hier herein, wie Abwasser aus einem Abflussrohr läuft, und dieses Rohr endet in den Grauen Türmen. Sie könnten es sich durchaus leisten, eine ganze Legion zu verlieren, nur weil einer ihrer Kommandanten blöd genug ist, eine Armee in einem Schneesturm Aufstellung nehmen zu lassen. Aber sie sind nicht dumm genug, so etwas zu versuchen. Nein, ich schätze, die Tsuranis haben einfach nur eine neue Sehne zu ihrem Bogen hinzugefügt.« »Späher im Winter?« Karris verzog das Gesicht. »Der Gedanke behagt mir nicht sonderlich, aber ...« »Ja, falls es nur das sein sollte, ist es schon schlimm genug, aber nicht das Ende der Welt. Dennoch, wenn ich beim Generalstab in 248 Yabon wäre, würde ich genau darüber nachdenken, wie früh es nach diesem Winter wieder heiß werden könnte.« »Und das in mehr als nur einer Hinsicht.« Tom Garnett lächelte gequält. »Ja.« Karris dachte einen Augenblick darüber nach. »LaMut -auch Yabon selbst war in letzter Zeit eher ein Nebenschauplatz, und die wirklich wichtigen Kämpfe fanden in Crydee und Bergenstein statt. Ich bin verdammt froh darüber, aber falls sich das ändern sollte, hoffe ich nur, dass unsere Vorgesetzten endlich damit aufhören, noch mehr Verteidiger aus Yabon abzuziehen, um den Westen zu stärken.« »Was natürlich genau das sein könnte, was die Tsuranis uns mit diesem Späher nahe legen wollen«, sagte Kethol, und das war das erste Mal, dass er an diesem Abend
mehr als ein einsilbiges Wort gesprochen hatte. »Und dann verdoppeln sie einfach ihre Anstrengungen gegen ein weniger gut verteidigtes Crydee und gehen durch die Zwerge in Bergenstein wie ein Zeh durch eine abgetragene Socke, und -« »>Uns nahe legen<, sagst du?« Kelly zog die Braue hoch. »Uns! Seit wann gibt es da ein Wir? Nach allem, was ich höre, willst du mit deinen Freunden immer noch nach Süden ziehen, sobald es anfängt zu tauen, genau wie die meisten anderen Söldner.« Durine hatte keine Ahnung, was die meisten anderen Söldner wollten - er nahm an, dass einige bleiben würden, solange es hier Arbeit gab, und andere würden gehen, wie er, Kethol und Pirojil es vorhatten. Diese Beförderung zum Hauptmann war nur vorübergehend, und wenn die neue Nachricht tatsächlich bedeutete, dass mehr Tsuranis nach Yabon vorstoßen würden, machte das die Idee, sich aus LaMut zu verziehen, sogar noch reizvoller. Kethol blinzelte. »Ich will einfach nur sagen, dass es keine gute Idee wäre, zu viel aus einem einzigen Vorfall abzuleiten, so überraschend er sein mag.« Er zuckte mit den Achseln. »Grodan aus Natal sagte, dass er und die beiden anderen Pfadfinder in ein paar Tagen wieder da sein würden, und ich bezweifle, dass selbst der begabteste Tsurani-Späher sich in LaMut herumtreiben könnte, 249 ohne dabei Spuren zu hinterlassen, die ein Pfadfinder aus Natal nicht entdecken würde.« Er erntete für diese Bemerkung allgemeine Zustimmung. Die Fähigkeiten dieser Pfadfinder waren legendär - obwohl sich Durine fragte, wie sie im Augenblick überhaupt vorwärts kommen sollten. Kethol schien sicher, dass sie es schaffen würden, aber das hatte wahrscheinlich nur damit zu tun, dass Kethol diese Legenden zu ernst nahm; Durine war von Natur aus skeptischer. »Pfadfinder?« Durine zuckte zusammen, als plötzlich Baron Morrays Stimme erklang; er hatte nicht gehört, wie der Mann näher gekommen war. »Was war das mit den Pfadfindern?« Tom Garnett zeigte mit dem Pfeifenstiel auf Kethol. »Hauptmann Kethol hat gerade erklärt, dass die Pfadfinder sich in der Umgebung umsehen. Er empfiehlt, die Ruhe zu bewahren und abzuwarten, was die Männer aus Natal berichten, bevor wir voreilige Schlüsse über Winterfeldzüge der Tsuranis ziehen.« »Da kann ich Hauptmann Kethol nur zustimmen.« Morray nickte. »Ein sehr vernünftiger Rat.« Er schaute von einem zum anderen, und die leisen Gespräche brachen abrupt ab. »Ich bin ja nur ein schlichter Baron«, sagte er mit einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme und fügte dann hinzu: »Aber es kommt mir so vor, als wäre später noch genug Zeit, in Panik zu geraten, falls es überhaupt einen Grund zur Panik gibt.« Seine Stimme und selbst seine Haltung waren ruhig - zu ruhig und entspannt, um ganz aufrichtig zu sein, aber das war der einzige Hinweis darauf, wie angestrengt der Baron sich zusammennahm. Morray winkte Kethol zu sich.» Könnte ich mit Euch unter vier Augen sprechen, Hauptmann Kethol?« Das war eher eine Bitte als ein Befehl. »Es gibt ein oder zwei Dinge, über die wir reden sollten.« Kethol warf Durine einen raschen Blick zu, dann stand er auf und folgte dem Baron nach draußen.
Durine fragte sich, was das sollte, und wenn er nach den Blicken der anderen Soldaten ging, war er nicht der Einzige. Er wahrte je250 doch eine gleichgültige Miene, und Kelly fuhr nach ein paar Augenblicken unbehaglichen Schweigens fort: »Ja«, sagte er, »Panik würde uns nicht helfen, aber es gibt mehr als genug Gründe zur Sorge. Die Tsuranis fühlen sich mit jedem Jahr in den Grauen Türmen und der Umgebung sicherer. Jedes Frühjahr haben sie die Wahl, ob und wo sie zuschlagen wollen - sie können nach Westen ziehen, nach Crydee, oder nach Süden bis zum Bitteren Meer oder südwestlich durch die Ausläufer des Grünen Herzens nach Carse und Jobril. Oder aber in östlicher Richtung nach LaMut. Sie haben die Stelle, an der sie einfallen, klug gewählt - wenn sie diese Welt in Crydee betreten würden, könnten wir sie gegen die Ferne Küste drängen, oder wenn sie die Hohe Burg gewählt hätten, könnten wir sie zwischen den Streitkräften des östlichen und westlichen Teils des Königreichs zerquetschen.« Er unterstrich seine Worte, indem er in die Hände klatschte, als zerquetsche er eine Fliege. Das war selbstverständlich leichter gesagt als getan; die Tsuranis hätten eine verdammt große Fliege abgegeben, und Durine war nicht sicher, ob selbst alle Teile des Reichs zusammen genug Männer hätten, um sie wirklich zu zerschmettern. Außerdem sprach die Tatsache, dass die Invasion durch einen Spalt nahe der Grauen Türme stattgefunden hatte, von guter Planung oder großem Glück von Seiten der Eindringlinge. Es wäre nett gewesen, wenn dieser Spalt nach Midkemia sich ein paar Fuß unter dem Bitteren Meer geöffnet hätte und einfach alle Tsuranis und ihre Verwandten in Kelewan ersäuft hätte. Ein wahrhaft frommer Wunsch, aber Durine war immer schon der Ansicht gewesen, wenn man einen Haufen Wünsche in die linke Hand nahm und den Schwertgriff in die rechte, dann würde das, was in der rechten Hand war, sich erheblich mehr auf alles auswirken, was um einen herum geschah. »Wir sollten den Kampf zu ihnen tragen«, sagte Karris. Er trank einen großen Schluck aus seinem Kelch - er war nach dem ersten Kaffee rasch zu Wein übergegangen - und fuhr sich mit dem Handrücken über den feuchten Schnurrbart. 251 Tom Garnett nickte. »Das klingt nicht schlecht, aber wie sollte das vonstatten gehen?« »Wenn ich wirklich eine Idee dazu hätte«, erwiderte Karris erbost, »dann hätte ich Besseres zu tun, als mit Euch hier am Feuer zu sitzen und Pfeife zu rauchen.« Er zog seine eigene Pfeife aus der Tasche und begann, daran zu saugen, ungeachtet der Tatsache, dass sie vollkommen kalt war. »Mir gefällt der Gedanke.« Karris seufzte. »Aber was die Frage angeht, wie wir den Krieg zu den Tsuranis tragen können, statt dass sie ihn uns bis vor die Tür bringen, habe ich keine brauchbare Idee, aber zumindest die Hoffnung, dass denen in Yabon vielleicht etwas einfallen wird. Wir könnten wahrscheinlich versuchen, den ganzen Krieg hier bei Kaffee und einem Pfeifchen zu planen, aber wir wissen nicht, was Herzog Brucal und seine Berater wissen.« Der Rest nahm das mit Nicken und zustimmendem Gemurmel auf, obwohl Durine seine Zweifel daran hatte, ob zum Beispiel ein Hauptmann, der Herzog Borric von
Crydee diente, die Generalstabssitzung in Yabon einfach als Herzog Brucal und seine Berater bezeichnet hätte, gar nicht zu reden von einem Zwerg, der an Dolgan von den Grauen Türmen oder Harthorn von Bergenstein lehengebunden war, oder dem Gesandten von Königin Aglaran-na von Elvandar. Es war wohl alles eine Frage der Perspektive. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es war ein langer Tag gewesen, aber morgen würde es wohl ein bisschen einfacher und, wie er hoffte, besser werden. Wenn er nur wüsste, was da zwischen Kethol und Morray im Gange war.
11
Verdacht
Kethol folgte dem Baron schweigend. Morray führte ihn die Treppe hinauf und den Flur entlang zu seinen Gemächern. Dort angekommen, bat er Kethol, sich zu setzen. Sie befanden sich in dem Raum, der aus irgendeinem Grund »Wohnzimmer« genannt wurde, obwohl alle Räume in der Suite des Barons einen Wohnbereich hatten. Morray setzte sich am Tisch gegenüber von Kethol hin, dann zog er an dem Klingelseil rechts von sich. »Ich könnte ein Glas Wein gebrauchen«, sagte er. »Oder vielleicht auch mehrere.« Emma, die Tochter von Ereven, dem Obersten Diener, stand schon in der Tür, beinahe bevor Morray das Klingelseil losgelassen hatte. »Ja, Mylord?«, sagte sie lächelnd. »Eine Flasche guten Rotwein bitte und zwei Gläser - es sei denn, Ihr habt auch Hunger, Hauptmann Kethol?« Kethol schüttelte den Kopf. »Ich habe schon gegessen«, antwortete er. Das Pferdefleisch lag ihm immer noch schwer im Magen, ebenso wie die Aussicht, Pirojil und Durine gestehen zu müssen, was er getan hatte, um die kämpfenden Fraktionen abzulenken, schwer auf seinem Geist lastete und die Frage, ob er einfach den Mund halten sollte, sein Gewissen beunruhigte. »Dann einfach nur den Wein«, sagte Morray und lächelte das Mädchen freundlich an. 253 »Sofort, Mylord.« Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Wie immer wurden die Adligen viel besser bedient als das gemeine Volk. Morray warf Kethol einen forschenden Blick zu, als suche er im Gesicht des Söldners nach etwas, aber Kethol wusste nicht, was das sein sollte. Er hoffte nur, dass der Baron nicht nach einem Hinweis darauf Ausschau hielt, ob Kethol dieses Gerücht um den Tsurani-Späher aus ein paar erbeuteten Rüstungsstücken, einem toten Pferd, einem Paar Brezeneden und dem Bedürfnis, die streitsüchtigen Fraktionen abzulenken, selbst geschaffen hatte. Er begann sich schon zu fragen, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war, wenn jetzt alle offen darüber spekulierten, ob die Tsuranis ihre Gewohnheiten dramatisch geändert hatten und das Königreich vielleicht seine Strategie dementsprechend anpassen sollte. Ein nicht existierender Tsurani im Winter in LaMut würde doch sicher die Adligen in Yabon nicht ernsthaft dazu bringen, ihre Strategie zu überdenken, oder?
Aber das war nicht wirklich sein Problem. Wenn es endlich taute, würden er, Pirojil und Durine in ruhigere Gefilde aufbrechen, irgendwohin, wo es weder Tsuranis noch Käfer gab, und was im Königreich im Allgemeinen oder in LaMut im Besonderen geschah, ging sie dann nichts mehr an. Und selbst wenn er sich ein wenig schuldig fühlte - obwohl er nicht wirklich vertraut mit solchen Empfindungen war -, war er Spieler genug, sich das nicht anmerken zu lassen. »Es gibt da etwas, was ich mit Euch besprechen muss«, erklärte der Baron. Seine Miene war ernst, als er ein kleines Stück Papier aus seinem Beutel holte. »Das hier ist heute Abend eingetroffen, per Brieftaube aus Mondegreen. Baron Mondegreen ist letzte Nacht gestorben«, sagte er ruhig und beinahe ausdruckslos, als machte er einen Kommentar über das Wetter. »Was wohl zu erwarten war, wenn auch ...« Er schüttelte den Kopf, als fiele es ihm schwer, Worte zu finden. Dann wiederholte er: »Was zu erwarten war.« 254 Kethol nickte. »Ich weiß, dass er selbst es erwartet hat, und er schien sich seinem Schicksal mutig und bereitwillig zu stellen.« Das waren wohl die angemessenen Worte in einem solchen Fall; dass sie der Wahrheit entsprachen, war beinahe irrelevant. »Ich bin ihm nur einmal begegnet, aber er schien ein freundlicher Mensch zu sein.« Morray nickte. »Das war er. Er und ich, wir hatten unsere Differenzen, aber er war stets edelmütig, und ich glaube nicht, dass es anders gewesen wäre, wenn Carla sich entschieden hätte, mich statt seiner zu heiraten.« Kethol konnte nur mit Mühe verbergen, wie schockiert er war. Soweit er gewusst hatte, war Lady Mondegreen immer Lady Mondegreen gewesen. Der Gedanke an sie als junges Mädchen, das auch noch an einen anderen Mann dachte als an ihren Gemahl, schien ... ebenso offensichtlich vernünftig wie vollkommen absurd, obwohl er, wenn er es sich recht überlegte, schon Anzeichen dafür gesehen hatte. Morray war keine kürzliche Eroberung von ihr, kein Mann, der eine Lady tröstete, deren Mann durch eine Krankheit seiner Kraft beraubt worden war; er war eher ein alter Freund und Verehrer, dem ihr Herz schon gehört hatte, als ihr Vater sich entschloss, ihre Hand Mondegreen zu geben. »Seine Gemahlin weiß Bescheid«, sagte der Baron. »Sie hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen, und Vater Riley hat ihr einen Trunk mitgegeben, der ihr vielleicht helfen wird zu schlafen, obwohl sie sich bisher geweigert hat, ihn einzunehmen.« Er biss einen Augenblick die Zähne zusammen, dann fügte er hinzu: »Vater Kellys Brief war kurz.« Kethol wusste, dass Brieftauben nicht viel tragen konnten. »Aber er kündigt an, dass ein langer Brief, den der Baron noch selbst diktiert hat, auf dem Weg hierher ist, und ich habe gewisse Erwartungen, was in diesem Brief stehen wird, wenn man die letzten Botschaften bedenkt, die er nach LaMut geschickt hat.« Emma kehrte mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf einem Tablett zurück, das sie ungeschickt vor ihrem Bauch hielt. Sie stellte das Tablett auf den Tisch. »Soll ich eingießen, Mylord?« 255
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich kümmere mich schon darum.« Er blickte zu ihr auf, und nach einem Moment zwang sie sich zu einem Lächeln und nickte. »Klingelt einfach, wenn Ihr mich braucht, Mylord.« »Das werde ich tun«, sagte er und entließ sie damit. Er öffnete die Flasche und goss erst sich ein Glas ein, dann Kethol. »Auf George, Baron Mondegreen«, sagte Morray und hob sein Glas. »Möge man sich lange um seiner Freundlichkeit, Weisheit und Ehrenhaftigkeit willen an ihn erinnern, mit Dankbarkeit und mit Anerkennung.« Er wartete. Die Trinksprüche, die Kethol, Pirojil und Durine auf ihre eigenen toten Genossen ausbrachten, waren kürzer und in solcher Gesellschaft überhaupt nicht angemessen. Kethol rang nach den richtigen Worten. »Das arme Schwein« schien irgendwie nicht das Richtige, ebensowenig wie »Zumindest haben wir seinen Beutel!« oder »Und wenn ihn sonst keiner begräbt, soll er verfaulen, wo er umgefallen ist.« »Baron Mondegreen«, sagte er schließlich. Sie tranken. »Nun... zu anderen Dingen, die Euch vielleicht etwas angehen oder auch nicht.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Ich muss Euch etwas fragen: Was habt Ihr zu Baron Mondegreen gesagt, als Ihr ihm begegnet seid?« Kethol zuckte mit den Achseln. »Nicht sonderlich viel, Mylord. Es war überwiegend >Ja, Mylord< und Selbstverständlich, Mylord<, und was man halt so zu einem Adligen sagt.« »Seltsam.« Der Baron schien vor einem Rätsel zu stehen, selbst wenn ihm die Lösung dieses Rätsels nicht sonderlich dringend vorkam. »Ihr habt ihn ganz sicher beeindruckt, und er ist ... er war nicht leicht zu beeindrucken. Gab es da nicht ein Gespräch über einen Eichenhain? Dass Ihr hofftet, ihn oder seinen Sohn dort in zwanzig Jahren zu treffen?« Eichen? Das einzige Gespräch, das Kethol über Eichen geführt hatte, war mit 256 Oh. »Nicht dass ich wüsste, Mylord.« Er hatte dieses Gespräch über die jungen Eichen mit Lady Mondegreen geführt, nicht mit ihrem Mann oder ihrem Kind. Wie und warum sich diese Geschichte so verändert haben sollte, konnte er sich nicht vorstellen, obwohl er sich denken konnte, wer für die Veränderung verantwortlich war. Morray runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich von Eurem Ehrgefühl beeindruckt sein oder mich ärgern soll, dass Ihr etwas geheim haltet, wenn das offensichtlich nicht notwendig ist.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber wie auch immer, ich möchte, dass Ihr, Ihr und Eure Kameraden - oder zumindest einer von Euch - in meine Dienste tretet und dafür sorgt, dass Baron Mondegreens Sohn wenn es ein Sohn wird - lange genug lebt, um diese Eichen in zwanzig Jahren sehen zu können.« Kethol verstand überhaupt nichts mehr und sagte das auch. »Ich werde es einfacher erklären: Lady Mondegreen ist schwanger. Es ist das Kind ihres verstorbenen Gemahls - ist das klar?« »Ja, Mylord.« N
»Wenn es ein Junge ist, wie ich sehr hoffe, wird er einen Vormund brauchen, bis er mündig ist und auch in der Praxis Baron Mondegreen werden kann, was er dem Gesetz nach natürlich schon als Kind sein wird.« Er zeigte mit dem Daumen auf seine Brust, dann trank er den Rest Wein und goss sich nach. »Dieser Vormund werde ich sein.« Er hielt inne, dann zuckte er mit den Achseln und fuhr fort. »Und es hätte wohl keinen Sinn, geheim zu halten, was früher oder später ohnehin offensichtlich werden wird: Ich werde öffentlich verlauten lassen, dass ich nicht mehr daran interessiert bin, Graf von LaMut zu werden, sobald Vandros Herzog von Yabon wird, und dass ich Luke Verheyens Bemühungen um Titel und Amt des Grafen unterstütze. Es wird zwar immer noch Herzog Vandros' Entscheidung sein, wen er als seinen Nachfolger benennt, aber wenn Verheyen meine Unterstützung und die seiner eigenen Fraktion hat, müsste Vandros wirklich dumm sein, wenn er sich für einen anderen entschiede, und er ist alles andere als dumm.« Wieder biss er für einen Augenblick 257 die Zähne zusammen. »Im Gegenzug hat Verheyen zugestimmt, mich als Vormund des Erben von Mondegreen zu unterstützen -sowohl dem Grafen gegenüber als auch, wenn er selbst erst einmal Graf sein sollte -, ebenso wie in anderer Hinsicht...« »Eure Heirat mit der Lady?« »Ja.« Morray nickte. »Wir werden selbstverständlich einige Zeit abwarten, aber... ja, Baron Mondegreens Junge, wenn es denn ein Junge wird, wird sein Erbe in schwierigen Zeiten antreten, und ich möchte, dass sein Sohn-sein Sohn, habt Ihr das verstanden? -, ich möchte, dass sein Sohn imstande ist, mit allem fertig zu werden, was passieren könnte. Baron Mondegreen war beeindruckt von euch dreien, und ihr werdet die Lehrer des Jungen in Angelegenheiten der Kampfkunst sein, ebenso wie seine Leibwächter. Er wird kämpfen müssen wie ein zorniger Bär und muss, wenn nötig, einem Feind die Kehle ohne einen Augenblick des Zögerns oder Bedauerns durchschneiden können und ihm dann zornig ins Gesicht spucken, weil das Blut ihm die Stiefel schmutzig macht.« Seine Miene wurde weicher. »Und um ehrlich zu sein, wenn es ein Mädchen wird, wird es ihr in diesen Zeiten auch nicht schaden, wenn sie weiß, wie man sich wehrt.« Morray schaute in Kethols ausdrucksloses Gesicht. »Ein traditioneller Schwertmeister wie Steven Argent kann einem adligen Sohn beibringen, wie man ein Offizier wird, wie man Duelle ausficht und Männer befehligt. Auch das wird der Junge lernen. Aber ich möchte auch jemanden, der ihm beibringt, wie man mit einem Attentäter in einer dunklen Gasse zurechtkommt ... oder mit einem Freund, der einen verrät. Ihr habt hier keinerlei Verbindungen.« Er hielt inne, um über diese Worte nachzudenken. »Die Männer von Mondegreen werden dem Kind treu ergeben sein, weil es der nächste Baron Mondegreen sein wird. Aber ich will mehr. Wenn Ihr schwört, das Leben des Kindes zu schützen nicht nur mit Euren Fähigkeiten und Euren Körpern, sondern mit Eurer Voraussicht -, und jeden zu töten, der diesem Kind Schaden zufügen will, wäre das etwas anderes. Versteht ihr?« Kethol verstand absolut nicht, was hier los war, aber er wusste, 258 dass ihm keine der Möglichkeiten gefiel: sich entweder für ein ganzes Leben zu verpflichten oder das Angebot des Barons vollkommen abzulehnen, gar nicht zu
reden davon, dass er ohnehin nicht für Pirojil oder Durine sprechen konnte, ganz gleich, was Morray denken mochte. Es blieb also nur eins: Er musste Zeit schinden, bis er mit Pirojil gesprochen hatte, der dann eine Lösung finden würde. »Ich fühle mich geschmeichelt und geehrt, Mylord.« »Ihr nehmt also an?« »Ich muss mit den anderen sprechen, bevor ich mich in ihrem Namen verpflichten kann - oder auch nur mich selbst. Wir haben schon vor langer Zeit vereinbart, dass wir die Entscheidungen darüber, was wir tun und wohin wir gehen, gemeinsam fällen, und ich kann Pirojil und Durine nicht durch mein Versprechen binden und auch selbst keines abgeben, bevor ich nicht mit ihnen gesprochen habe.« Mein einziger wahrer Wunsch, Mylord, dachte er, besteht darin, dass ich mit absoluter Sicherheit nie wieder eine einzige Minute mit dem verdrehten, sich ständig ändernden LaMut zu tun haben muss und erst recht nicht bis zu den Ohren drinstecken werde, wenn die Flut kommt. Aber es gab auch eine andere Seite. Ja, dieses ganze Angebot ließ eine Verschwörung vermuten -zwischen den Baronen Morray und Verheyen, die Morrays Möglichkeit, Graf zu werden, gegen Verheyens Unterstützung bei Morrays Heirat mit Mondegreens Witwe ausgetauscht hatten -, und es legte auch nahe, dass etwas Seltsames zwischen Baron Mondegreen und seiner Gemahlin vorgegangen war, und Kethol würde es Pirojil überlassen, mehr darüber herauszufinden, weil ihm schon allein der Versuch Kopfschmerzen bereitete. Er war alles in allem ein einfacherer Mann. Außerdem erinnerte er sich an einen Sterbenden mit freundlichem Blick, der in seinem stinkenden Zimmer auf seinem Totenbett keuchte. Kethol würde nie vergessen können, wie der sterbende Mann die Sicherheit seiner Frau in die Hände von drei Söld259 nern gelegt hatte. Er war nicht sicher, ob er diese Bitte akzeptieren könnte, die nicht nur von Baron Morray kam, sondern auch von diesem sterbenden Mann mit den freundlichen Augen, der ihm - und das war eine solche Kleinigkeit, dass Kethol selbst nicht ganz verstand, wieso es ihm so viel bedeutete - einen Becher Tee angeboten und ihn vertrauensvoll angesehen hatte. Das Vertrauen eines anderen Menschen war, wenn man von Durine und Pirojil einmal absah, nichts, woran Kethol gewöhnt gewesen wäre - das Gleiche galt übrigens auch für Schuldgefühle. Er wusste nun also nicht so recht, was er mit diesen seltsamen Empfindungen anfangen sollte. Sie waren dort, saßen fest in seiner Brust oder seiner Kehle oder vielleicht auch in der Magengrube. Sie verharrten dort und erinnerten ihn jede Minute an den alten Mann. Ganz gleich, wie sehr er sich wünschte, dieses Gefühl würde verschwinden, er konnte nicht so tun, als hätte es dieses Vertrauen zwischen ihnen nicht gegeben, ebenso wenig, wie er dieses Gefühl als Verdauungsstörung abtun konnte. Morray nickte. »Also morgen früh.« Er goss ihnen noch einmal nach, und sie tranken wie zwei Kaufleute, die gerade einen Handel abgeschlossen hatten. »Er wollte was}«
Die Betonung war das einzige Anzeichen von Durines Zorn. Sie waren nach draußen gegangen, auf den fest gestampften Schnee auf dem Paradeplatz, wo sie sich vertraulich unterhalten konnten, ohne befürchten zu müssen, dass man sie belauschen würde. Ihr Atem wurde in der kalten Nachtluft zu Dampf - aber es sah eher so aus, als wäre Durine derart zornig, dass er plötzlich Rauch ausstieß, und das betonte nur noch seine offensichtliche Missbilligung dessen, was Kethol gerade berichtet hatte. »Und du hast was gesagt?« Pirojil schüttelte angewidert den Kopf und stocherte mit der Stiefelspitze im Schnee. »Bitte, bitte sag mir, dass du dir nur einen Spaß mit mir machst, dass du in Wirklichkeit gesagt hast: >Es tut mir Leid, Mylord, aber wir haben irgendwo - ganz gleich wo - etwas Dringendes zu erledigend« 260 Kethol wiederholte noch einmal, was der Baron ihm gesagt hatte und dass er zugestimmt habe, mit Pirojil und Durine darüber zu sprechen und dem Baron am Morgen eine Antwort zu geben. Pirojil fluchte leise vor sich hin, wobei die Flüche ebenso Kethol wie ihm selbst galten, dann versuchte er sich zu beruhigen. Es war wichtig, das Ziel im Auge zu behalten, und da Kethol das offenbar nicht konnte, wurde es dadurch nur noch wichtiger, dass jemand anderer fähig blieb, klar zu denken - oder überhaupt zu denken, da Kethol das bestimmt nicht tun würde -, und zwar für sie alle. Sie mussten sich von LaMut distanzieren; sie mussten verschwinden. Also setzte Pirojil an diesem Punkt an. Wenn man nicht wusste, was man tun wollte oder wohin man gehen sollte, hatte man keine Chance, dorthin zu gelangen. Er begann noch einmal ganz vorn: Sie wollten von hier weg. Daher gab es nur eins zu tun, und zwar sofort: ihren Sold abzuholen, der immer noch im Gewölbe im Burgkeller lag und darauf wartete, dass der Rat der Barone zu Ende ging. Sie würden alles in ihre Umhänge oder die Münzwesten packen, die sie unter ihren Hemden trugen, und dann die Stadt so bald verlassen, wie es nur möglich war. Nun gut - das mit dem Sold war im Augenblick noch nicht zu machen, also sollten sie das vergessen. Sie sollten auch vergessen, sofort aus LaMut herauszukommen, obwohl Pirojil sich auf der Stelle abgesetzt hätte, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, auch ohne das Geld. Und das sagte er nun. Durine nickte. »Ja, mir geht es genauso. Wenn es eine Möglichkeit dazu gäbe. Wenn das Schiff sinkt, ist es Zeit, über Bord zu springen und sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, was man im Laderaum aufbewahrt hat. Aber im Augenblick stecken wir selbst in diesem Laderaum und können nur hoffen, dass die Mannschaft das Schiff über Wasser hält, bis wir die Tür aufbrechen können, um dann über die Reling zu springen.« 261 »Und zwar schnell.« Kethol tat allerdings nicht, was er hätte tun sollen: nämlich begeistert zustimmend zu nicken. Stattdessen schwieg er einen Augenblick, dann zuckte er mit den Achseln.
»Nun«, sagte er, »es zählt nicht sonderlich, was wir tun wollen, jedenfalls nicht im Augenblick, es sei denn, wir wollen unseren Sold zurücklassen und ihr glaubt, dass wir über tiefen Schnee laufen können wie drei Pfadfinder aus Natal.« »Was wir nicht können«, stellte Pirojil fest. »Nun, selbst wenn wir es könnten, wäre da noch die Sache mit dem Geld, und es gefällt mir nicht, unseren Sold aufzugeben.« Kethol machte eine hilflose Geste. »Also sitzen wir im Augenblick hier fest -« »Kethol, du hast wirklich ein gutes Auge für das Offensichtliche«, warf Pirojil ein. »- und das bedeutet, dass wir zumindest über Morrays Angebot nachdenken könnten, oder?« »Was gibt es da nachzudenken? Wie weit hast du uns schon mit reingerissen, ohne dass wir es wussten?« Pirojil versuchte, sich zu beruhigen. Sie sollten sich einfach von diesem Krieg absetzen. Statt- dessen schien es, als gerieten sie mit jeder Minute, die verging, tiefer in Angelegenheiten, die einen Söldner nichts angingen und um die er sich auch keine Gedanken machen sollte. Erst sollten sie Morray vor den offenbar frei erfundenen Attentätern schützen, dann wurden sie vom Schwertmeister eingesetzt, um für Frieden zwischen den zerstrittenen Fraktionen zu sorgen, und nun ... »Nein.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Genauer gesagt: auf keinen Fall. Ich sage es dir jetzt gleich: Meine Antwort lautet nein, auf keinen Fall.« Durine nickte. »Meine ebenfalls. Ich bin alles andere als sicher, ob dieser TsuraniSpäher bedeutet, das die Tsuranis sich nach Osten wenden, gar nicht zu reden davon, ob sie das im Winter tun, aber falls es wirklich passieren sollte, könnten sie bei ihrer Anzahl 262 und der Anzahl von Muts, die sich ihnen in den Weg stellen können, so gut wie ungehindert durch LaMut rennen und brauchten nicht langsamer zu werden, bis sie Loriel erreichen.« »Oder den Düsterwald«, sagte Pirojil. Was ein bisschen übertrieben war, aber nicht sonderlich. Zwischen Loriel und dem Düsterwald gab es nicht viel. »Und was noch wichtiger ist, es ist egal, was für einen lukrativen Posten du glaubst, für uns gesichert zu haben, wenn dieser Posten unter den Sandalen der Tsuranis zertreten wird - zusammen mit uns«, sagte Durine. Er verzog missbilligend das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Würdet ihr bitte einfach einen Augenblick darüber nachdenken?«, bat Kethol. »Bitte?« »Diese dumme Idee von dir -« »Hey.« Kethol hob die Hand. »Es war nicht meine Idee. Von mir aus hätte ich dieses Thema überhaupt nicht angesprochen, nicht ohne vorher mit euch beiden geredet zu haben -« »Gewisse Leute sollten lieber lernen, wie man den Mund hält, und angestrengter daran arbeiten, auch dann unsichtbar zu bleiben, wenn wir uns nicht in einem Wald verstecken müssen.« Pirojil schauderte. Es mochte ja vielleicht ein kleines bisschen wärmer geworden sein - nein, da gab es kein vielleicht, es wurde tatsächlich wärmer -, aber deshalb war es noch nicht angenehm.
»Ich weiß nicht, was ihr glaubt, dass ich denke«, sagte Kethol. »Außer, dass wir nicht sofort ablehnen sollten. Ich habe doch nur -« »Du hättest aber sagen sollen >Danke, Mylord, für diesen äußerst großzügigen Vorschlag, aber nein, nein, nein<, und ihn keinen Augenblick denken lassen, dass wir sein Angebot annehmen könnten, selbst wenn der Preis stimmt oder er Druck ausübt. Sonst könnte er vielleicht den Preis erhöhen und Druck ausüben.« Pirojil hatte nichts für Ausreden übrig. »Und was den Rest angeht, hast du ganz offensichtlich mit der Baronin geflirtet.« Das war ungerecht, aber Pirojil neigte im Augenblick nicht sonderlich dazu, gerecht zu sein. 263 Durine zuckte mit den breiten Schultern. »Sicher, das hätte nicht so dramatische Folgen haben sollen. Andererseits, ein kleiner Schnitt in die Arterie in deinem Hals sollte auch nicht bewirken, dass das Blut herausspritzt, bis du tot am Boden liegst, aber genauso ist es! Kleine Dinge haben manchmal große Auswirkungen.« »Denkt doch einfach nur mal darüber nach«, sagte Kethol beharrlich. »Ich habe versprochen, dass wir darüber nachdenken.« »Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken«, erwiderte Pirojil, dessen Gedanken sich überschlugen. »Na dann.« Kethol nickte zufrieden. »Er sagte, dass er darüber nachdenkt, nicht, dass er es ernsthaft in Erwägung zieht«, erklärte Durine. Wenn man einmal annahm, dass Kethol einen wahrheitsgemäßen Bericht über sein kurzes Gespräch mit Baron Mondegreen abgegeben hatte - und Pirojil hatte keinen Anlass, das zu bezweifeln, denn selbst Kethol war nicht dumm genug, ihn anzulügen, nicht bei einer solchen Sache -, glaubte er nicht einen einzigen Augenblick, dass der Ursprung dieser Idee bei einem der beiden Barone lag, bei Morray oder Mondegreen. Es war offensichtlich Lady Mondegreen, die dahinter steckte, und alles wies darauf hin, dass diese Frau ungemein gefährlich war. Alle Wege führten zu ihr - von ihrem Mann, der so übertriebene Ansichten von den Fähigkeiten der drei als Krieger erhalten hatte, bis hin zu Morray, der seine Kampagne um die Grafschaft aufgab. Pirojil wäre nicht überrascht gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, dass auch die Idee, sie zu Hauptleuten zu befördern, damit sie in der Stadt Ruhe und Ordnung aufrechterhielten, von ihr stammte und Steven Argent nicht einmal wusste, dass sie ihm die Saat dieses Gedankens eingepflanzt hatte - vielleicht während er damit beschäftigt war, die Saat von etwas zu pflanzen, was offiziell einmal Mondegreens Sohn sein würde, obwohl die Lady, wenn sie den Schwertmeister manipulieren wollte, viel264 leicht ein wenig mehr tun musste, als ihm etwas ins Ohr zu flüstern, wenn sie zusammen im Bett lagen. Nein, das stimmte nicht. Sie war schon einige Zeit schwanger - das war deshalb klar, weil sie unbedingt noch nach Mondegreen hatte reisen wollen, um eine letzte Nacht bei ihrem Mann zu verbringen und damit die Vaterschaft des Kindes eindeutig festzuschreiben. Aber
der Rest von Pirojils Idee klang weiterhin ganz vernünftig, und es gab keinen Grund zu glauben, dass Lady Mondegreens offensichtlich wirkungsvolle Affären aufgehört hatten, als sie nach LaMut zurückgekehrt war, und erhebliche Gründe, das Gegenteil anzunehmen. Offenbar wollte sie, dass ein paar zuverlässige Außenseiter über das Aufwachsen des Kindes wachten, das sie jetzt im Bauch hatte, dieses Kindes, das offenbar von einem der Adligen in ihren Bauch gebracht worden war, mit dem sie ihren sterbenden Mann betrogen hatten - wenn man denn von »betrügen« sprechen konnte, da das Kind sehr wahrscheinlich mit dem Wissen und der Zustimmung ihres Mannes gezeugt worden war. Und das bedeutete entweder, dass sie niemandem in ihrer Umgebung traute, nicht einmal Morray, obwohl er offenbar ihr Jugendschwarm gewesen war, oder dass sie grundsätzlich viel davon hielt, für alle Fälle vorzusorgen. Oder auch beides. Dass sie zielstrebig war, überraschte Pirojil nicht, nachdem er erst einmal darüber nachgedacht hatte. Sie hatte immerhin Mondegreen geheiratet und nicht Morray, obwohl sie offenbar die Wahl zwischen beiden gehabt hatte. Hatte sie vorgehabt, die Frau des Grafen von LaMut zu werden, und dabei auf Mondegreen gesetzt? Sie musste gewusst haben, dass Vandros nicht zu haben war, weil er schon lange mit Felina verbunden war, und dass er wahrscheinlich einmal Herzog sein würde. Die Logik sprach dagegen, sich auf den jüngeren Grafen zu konzentrieren. Wenn sie in LaMut herrschen wollte, dann würde sie das als Frau des Mannes tun müssen, der dem jungen Vandros nachfolgte. 265 Hatte sie das wirklich alles ausgearbeitet und berechnet, dass Baron Mondegreen der wahrscheinlichste Kandidat war, Graf zu werden - noch bevor andere daran dachten? Oder hatte sie einfach nur erwartet, Mondegreen zu überleben, und das Auge auf beide Baronien geworfen? Es konnte sogar sein, dass sie einfach nur den Mann, für den sie sich schließlich entschieden hatte, dem anderen vorzog. Man konnte es Zuneigung oder Liebe nennen oder wie auch immer. Es hatte sie nicht davon abgehalten, andere Barone und Soldaten mit einer Leichtigkeit und Geschicklichkeit zu manipulieren, die Pirojil erschreckte, und er hielt sich nicht für einen Mann, der leicht zu erschrecken war. Pirojil zog es stets vor, eine hohe Meinung vom Gegner zu haben, selbst wenn es für gewöhnlich vernünftig war, das für sich zu behalten. In diesem Fall musste er seine Feindin sogar bewundern, denn sie hatte sich als fähig erwiesen, Pläne auszuarbeiten, die Jahre bis zur Vollendung brauchten, und sofort ihre Taktik zu ändern, wenn sich die Dinge änderten - zum Beispiel, wenn sich herausstellte, dass ihr Mann sie nicht schwängern konnte und diese Krankheit ihn schließlich umbringen würde. Pirojil hatte den politischen Fähigkeiten der Adligen des Königreichs immer schon große Hochachtung entgegengebracht, aber diese Frau... es war eine Schande, dass sie nicht als Mann zur Welt gekommen war, sonst hätte er gewusst, wer im
Augenblick die Generalstabssitzung in Yabon leiten oder sogar am Tisch des Vizekönigs in Krondor sitzen würde. Sie kannte sich wahrscheinlich auch mit anderen Dingen gut aus. Immerhin war es ihr gelungen, Morray zu einem Kuhhandel mit seinem Feind Verheyen zu überreden, wobei Morray im Austausch für seinen Anspruch auf die Grafschaft nichts weiter als sie selbst und die Regentschaft für die Baronie Mondegreen erhalten würde. War das schon die ganze Zeit ihr Plan gewesen? Es schien wahrscheinlich, obwohl man es nicht sicher wissen konnte. Morray gehörte bestimmt nicht zu den Männern, die einen si266 cheren kleinen einem großen spekulativen Profit vorzogen, und es hieß, dass er eine überdurchschnittliche Chance gehabt hätte, der nächste Graf von LaMut zu werden. Dennoch, innerhalb von ein paar Stunden hatte er das alles aufgegeben. Pirojil nickte. Sehr gut gemacht, Lady Mondegreen, dachte er. Laut Kethol hatte Morray zwar vor, Lady Mondegreens Kind aufzuziehen, als wäre es das ihres gerade verstorbenen Mannes, aber es war auch eindeutig, dass Morray das Kind für sein eigenes hielt. Was es ja auch durchaus sein konnte. Pirojil hätte auch dem Schwertmeister die Schuld geben können. Steven Argent hatte offenbar, wenn auch vermutlich unbeabsichtigt, Lady Mondegreens tückischem Geist den Gedanken an den Wert außenstehender Leibwächter eingepflanzt, die alles zu verlieren hatten, wenn der Person, die sie schützen sollten, etwas zustieß. Es war also nicht überraschend, dass sie solche Leibwächter - oder diese besonderen Leibwächter - für ihr eigenes Kind haben wollte. Und auch er selbst, Durine und Kethol hatten Schuld an dieser Situation, weil sie Baron Morray bei dem Hinterhalt der Tsuranis geschützt hatten - Ereignisse, die erst wenige Tage zurücklagen, die sich aber bereits anfühlten, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Lady Mondegreen, für die Kampf etwas Unklares gewesen war, bis die Tsuranis ihn ihr in den Schoß gezerrt hatten, war offenbar von den drei Söldnern sehr beeindruckt gewesen. Pirojil lachte leise in sich hinein. Wenn er schon damit beschäftigt war, die Schuld zu verteilen, konnte er auch den Tsuranis, dem König, dem Prinzen, dem Vizekönig und den Göttern selbst einen Teil zuweisen, und wahrscheinlich hätte er damit sogar Recht. Es würde ihnen bloß überhaupt nicht weiterhelfen. »Also«, verkündete er schließlich, »meine sorgfältig überlegte Antwort ist die Gleiche wie die, die ich unvorbereitet und instinktiv gegeben habe: nein.« Er schüttelte den Kopf. »Mir ist es lieber, wenn es ein kleines bisschen offener und ehrlicher zugeht als hier, und diese Lady Mondegreen jagt mir eine Höllenangst ein.« 267 »Lady Mondegreen?« Kethol wusste immer noch nicht, um was es hier ging. Pirojil würde es ihm später einmal in aller Ruhe erklären müssen. Mit sehr schlichten, knappen Worten. Eines. Nach. Dem. Anderen. »Ja. Sie.« Durine nickte. »Ja. Es wäre mir lieber, wenn sie auf meiner Seite stünde als auf der anderen, aber ...«
»Scheiße, ja. Ich würde lieber mit Steven Argent ein Duell bis zum Tod ausfechten als so etwas. Beim Schwertmeister hat man zumindest eine Chance zu sehen, wenn das Schwert auf einen zukommt.« Wieder nickte Durine. »Oder man kann davor wegrennen und wird nicht gleich in ein anderes Schwert laufen, das jemand vorsichtshalber anderswo aufgestellt hat.« »Diese Chance besteht allerdings sogar, wenn man ein Freund von ihr ist.« »Genau.« Sie hatte nichts getan, um ihnen Schaden zuzufügen - wenn man einmal davon absah, dass sie sie tiefer und tiefer in die hiesige Politik hineingezogen hatte, und Politik war ein gefährlicher Sport und gar nicht nach Pirojils Geschmack. Sich zu schützen war eine Sache; zwanzig oder mehr Jahre damit zuzubringen, nicht nur einen Baron während einer Patrouille zu schützen, sondern auf einen kleinen Baron aufzupassen, bis er mündig wurde - das war etwas ganz anderes. Und zu wissen, dass sie einen nur ausgesucht hatten, weil man keine Beziehungen vor Ort hatte, und dass es, wenn jemals dem Kind, dem Jungen, dem Mann etwas zustoßen würde, selbstverständlich der Fehler der Leibwächter sein würde ... Das würde zweifellos die Idioten, die zustimmen würden, für die Sicherheit dieses Kindes, Jungen, Mannes zu sorgen, dazu treiben, mit äußerster Sorgfalt über ihn zu wachen. Aber Pirojil war kein solcher Idiot, und er wollte wirklich in den nächsten zwanzig Jahren hin und wieder schlafen können, und mehr und besser als eine von drei Schichten. 268 »Also«, sagte Pirojil, »wir müssen uns entscheiden. Ja oder nein? Kommen wir zu dem Schluss, dass uns der Geschmack der Verschwörungen in LaMut gefällt und bitten um einen Nachschlag mit einer Extraportion Intrigen? Oder tun wir, was jeder vernünftige Mann tun würde, und hauen ab, sobald wir können? Und wenn das bedeutet, den Sold hier zu lassen, dann geht es eben nicht anders.« Durine lachte. »Ich denke, deine Position ist eindeutig. Ebenso wie meine.« »Aber « »Still, Kethol. Jetzt bin ich dran.« Durine schüttelte den Kopf. »Ich will es noch mal ganz klar machen: Ich gehe. Wenn einer von euch mitkommt, dann ist das prima. Wenn du hier bleiben und in Morrays Dienste treten willst, Kethol, dann wünsche ich dir alles Gute, verabschiede mich und sorge dafür, dass das Gold gerecht geteilt wird, bevor ich gehe. Ich mag solch komplizierte Verhältnisse nicht, und je mehr wir mit diesen Adligen aus dem Norden zu tun bekommen, desto komplizierter wird es. Aber nicht für mich.« Pirojil nickte. »Ich bin ganz deiner Meinung. Zwei von uns sagen Nein zu dem freundlichen Angebot des Barons. Wenn du Ja sagen willst, Kethol, dann bist du damit allein.« Kethol blieb einen Augenblick schweigend stehen und ließ den Kopf hängen. »Ihr habt wohl Recht. Ich wollte einfach nur darüber nachdenken.« »Wir haben nachgedacht. Und wir haben geredet. Entscheide dich.« Kethol hob beide Hände zu einer abwehrenden Geste. »Schon gut. Ich bin der gleichen Ansicht wie ihr.« Er seufzte. »Und wenn ihr mich für einen Idioten haltet, weil ich daran gedacht habe zu bleiben, kann ich das nicht ändern.«
Pirojil legte Kethol eine Hand auf die Schulter. »Ich denke einfach, dass es keine anderen Männer gibt, von denen ich mir lieber Rückendeckung geben ließe. Tatsache. Wir sind uns also einig?« »Das habe ich doch schon gesagt.« 269 »Gut.« Durine nickte. Pirojil fiel etwas ein, aber er tat den Gedanken wieder ab, oder zumindest versuchte er es. Manipulation war eine Sache; Mord eine andere. Es war unwahrscheinlich, dass Lady Mondegreen ihren Mann umgebracht hatte, damit sie ihren Geliebten heiraten konnte. Oder nicht? Der Priester Astalons, der den Baron behandelt hatte, hätte es doch sicher gemerkt, falls Gift im Spiel war, selbst wenn er kein Gegengift hätte finden können. Nein, entschied er, sie hatte ihren Mann nicht umgebracht. Wenn sie bereit war, auf dem Weg nach oben über Leichen zu gehen, dann gab es keinen Grund, wieso sie so lange gewartet haben sollte, um einen lästigen Ehemann loszuwerden, und sie hätte bereits eine lange Spur aus Leichen hinter sich hergezogen. Außerdem hatte Durine einige kaltblütige Mörder gekannt, und er verließ sich auf zwanzig Jahre Erfahrung, dass Lady Mondegreen keine Mörderin war. Außerdem war es ohnehin fast vorbei. Es wurde wärmer, die beiden am feindseligsten streitenden Barone hatten sich geeinigt, und jetzt mussten sie nur noch das großzügige Angebot von Baron Morray und Lady Mondegreen höflich ablehnen, den Sold kassieren, sich so schnell wie möglich nach Süden aufmachen und LaMut hinter sich lassen. Immer vorausgesetzt, dass sie den Sold bekommen konnten, bevor sie gingen. Er schauderte. Es mochte ja wärmer geworden sein, aber ihm war kalt.
Morgen
Alles sah friedlich aus. Die goldene Morgensonne war gerade erst über der Ostmauer aufgetaucht und schien golden durch die nun nicht mehr mit Läden verschlossenen Fenster in Lady Mondegreens Schlafzimmer im ersten Stock der Burg. Wandbehänge an der Mauer gegenüber dem Fenster leuchteten unerwartet lebendig, bunter gemacht von dem goldenen Licht, das auf sie fiel. Eine Reihe von Tiegeln und Flakons auf dem Frisiertisch glitzerte wie Edelsteine in den Sonnenstrahlen, die sich auf ihren Glasund Porzellanoberflächen spiegelten, und schickten glitzernde Lichtflecken in die dunkelsten Ecken des Zimmers. Als die Sonne weiter stieg, schien sich dieses reflektierte Licht zu bewegen. Es wirkte lebendig, wechselte die Farbe von Golden zu Silber und schließlich zu Weiß. Eine Flasche mit gutem Roten aus Ravensburgh lag auf dem Nachttisch umgekippt neben zwei Gläsern, eins leer, eins noch mit einer Spur Wein. Auf einem Tablett neben der Flasche lagen ein paar Naschereien - Nüsse, Gebäck und ein wenig Käse -, die während der Nacht vertrocknet waren. Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen die Morgenmäntel eines Mannes und einer Frau ordentlich zusammengefaltet.
Die Nachttischlampe war schon lange ausgebrannt, oder man hatte sie leise und friedlich gelöscht. Das Bettzeug war nicht zerwühlter, als Bettzeug normalerwei271 se im Schlaf von den beiden Personen, die dort unter der Decke lagen, zerwühlt worden wäre. Es war alles friedlich. Die Liebenden lagen sich gegenüber, als hätten sie einander in die Augen gesehen, als sie sich dem Schlaf ergaben. Selbst die ausgedehnte Blutlache von ihren durchschnittenen Kehlen war in die Laken gesickert und geronnen und bildete einen scheinbar friedlichen Hintergrund für Baron Morray und Lady Mondegreen, die hier reglos und tot beieinander lagen.
13
Ermittlungen
Der Wachposten war eingeschlafen. Bleich und zitternd gab er das zu. Der Schwertmeister bedeutete dem Mann, sich hinzusetzen. Es hatte wirklich keinen Sinn, einen Toten in Habachtstellung stehen zu lassen, und ihn in den Kerker zu werfen konnte noch ein paar Minuten warten, bis Steven Argent herausgefunden hatte, welche Fragen, falls überhaupt, er ihm jetzt stellen musste. Er selbst fühlte sich auf absurde Art vollkommen ruhig. Er fragte den Mann nicht einmal, wann er eingeschlafen war oder für wie lange. Woher sollte er das auch wissen? Wie hatte der Idiot nur so nachlässig sein können? Wie hatte Tom Garnett einen Feldwebel aussuchen können, der seinerseits einen Soldaten als Wachposten für Morrays Suite wählte, der so nachlässig war? Wie hatte Steven Argent einen Hauptmann Verflucht! »Bist du sicher, dass du nicht gesehen hast, wie Baron Morray in Lady Mondegreens Zimmer ging?«, fragte er leise. »Nein, Sir. Ich meine, ja, Sir. Ja, Sir, ich habe es gesehen.« Der Soldat starrte geradeaus und am Schwertmeister vorbei. »Ich dachte, es ginge mich nichts an, und der Baron musste mir das nicht extra sagen. Ich bin einfach auf meinem Posten geblieben -ich konnte die Tür der Lady drunten im Flur sehen, und ich dachte, es wäre dem Baron sicher nicht recht, wenn ich hinginge und mich vor ihre Tür stellte, solange er da drin war.« 273 Das machte Sinn. Nicht, dass es etwas geändert hätte, wenn er eingeschlafen wäre, während er vor Lady Mondegreens Tür stand. Eigentlich hätte er ebenso gut in die Unterkunft gehen und sich dort auf die Pritsche legen können. Das Wichtigste zuerst, dachte er. Das Wichtigste zuerst. Der offensichtlichste Verdächtige war Verheyen - zumindest würde er das für Morrays Leute sein. Tom Garnett nickte, als könnte er die Gedanken des Schwertmeisters lesen. »Ich habe die Morrays mit Karris' Kompanie auf einen schnellen Marsch nach Norden
geschickt und die Verheyens und Kellys Leute nach Süden.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich weiß, das ist nicht meine Zuständigkeit, aber -« »Aber es schien wichtiger, sie voneinander zu trennen, zumindest für ein paar Stunden, als zuerst um meine Zustimmung zu bitten.« Garnett nickte. So war es Karris und Kelly wohl ebenfalls vorgekommen. Steven Argent glaubte nicht wirklich, dass es Verheyen gewesen war, nicht nach den Übereinkünften, die Verheyen und Morray am Abend zuvor getroffen und die dazu geführt hatten, dass Morray den Anspruch auf die Grafschaft aufgegeben hatte. Gut, Verheyen hatte Morray vielleicht gehasst, aber ein Teil davon war schlicht auf die Rivalität um die Grafschaft zurückzuführen, und am Abend zuvor hatte diese Rivalität ein Ende gefunden. Die verbliebene Feindseligkeit hätten sie beiseite geschoben, bis der größere Preis eingeheimst war. Aber wenn es Verheyen nicht gewesen war, wer dann? Und warum? Steven Argent schüttelte den Kopf. Wie sollte ein Idiot von einem Schwertmeister diese Frage beantworten, wenn er sich offensichtlich nicht einmal auf die schlichte Aufgabe konzentrieren konnte, die sein Graf ihm zugewiesen hatte - nämlich dafür zu sorgen, dass dieser Baron am Leben blieb -, und die Disziplin in seiner Truppe so miserabel war, dass die Wache einschlief? 274 Er schüttelte erneut den Kopf. Keine Ausreden! Er hatte solche Grundlagen immer schon betont, und jeder seiner Feldwebel hätte einen Mann zusammengetreten, wenn er ihn auf Wache schlafend vorgefunden hätte, selbst wenn die Wache angeblich nur noch der Form halber notwendig war, wie die vor der Suite des Barons in der Burg. Und ja, es war wichtig gewesen, die Männer dieser zerstrittenen Barone voneinander zu trennen. Er würde dem Grafen seinen Rücktritt anbieten, sobald dieser zurückgekehrt war, und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Vandros einen solch nutzlosen Idioten als einfachen Soldaten haben wollte, würde Steven Argent für seine Schuld mit Schwert und Speer an der Front büßen. Er zeigte auf den Soldaten, der auf dem Stuhl saß, und dann auf die Tür. »Bringt ihn runter in den Kerker, Tom, und stellt drei Männer vor die Tür, die ihn bewachen sollen.« Er blickte in das aschgraue Gesicht des Mannes. »Und du wirst dich nicht in deiner Zelle aufhängen; du wirst auf das Urteil des Grafen warten und leiden wie ein Mann.« Der Soldat nickte. »Ebenso wie ich, nehme ich an«, fügte der Schwertmeister hinzu. Wenn er nur nicht versucht hätte, überschlau zu sein, wenn er sich nur nicht von Lady Mondegreen hätte überzeugen lassen, dass Kethol und seine Männer erheblich nützlicher dabei sein würden, in der Stadt Ruhe und Ordnung zu bewahren, während sie über einen Frieden zwischen Morray und Verheyen verhandelte, als sich um einen höchst unwahrscheinlichen Attentäter Gedanken zu machen, der seine Agenten nicht nur in LaMut, sondern auch unter den Tsuranis hatte. Aber sie war eben sehr überzeugend gewesen, ebenso wie die Tatsachen: Dieser hypothetische Attentäter war genau das gewesen - hypothetisch -, jedenfalls bis zu diesem Morgen, und er war mit jedem Tag, der vergangen war, unwahrscheinlicher
geworden. Weder die Lady noch der Schwertmeister waren leicht zu beeindrucken, aber die drei Söldner hatten beide beeindruckt. Ja, dachte er angewidert. Gib den Toten die Schuld. 275 Aber er hatte Lady Mondegreens Vorschlag wirklich für eine gute Idee gehalten, und wenn dieser dumme Soldat, der nun in den Kerker geführt wurde, nicht eingeschlafen wäre, dann wäre es immer noch eine gute Idee gewesen. Die unmittelbare Gefahr hatte darin bestanden, dass zwischen den einzelnen Gruppen Krieg ausbrach, und wenn das geschehen wäre ... Und es war immer noch möglich und würde vielleicht auch geschehen. Er warf einen Blick zu Tom Garnett. »Das hier kann nicht warten, bis der Graf zurückkehrt, oder? Ich glaube nicht, dass wir eine große Wahl haben. Was meint Ihr?« Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Jemand muss herausfinden, wer Baron Morray und Lady Mondegreen umgebracht hat - jemand, der glaubwürdig ist und dessen Glaubwürdigkeit von der Autorität des Grafen von LaMut gestützt wird. Und zwar schnell. Bevor alles rings um uns her in Stücke zerfällt. Das heißt, Ihr oder ich kommen nicht in Frage«, sagte er, hob einen Finger und dann noch einen, »da wir die inkompetenten Idioten sind, die zugelassen haben, dass der Baron während ihrer Wache getötet wurde.« Steven Argent zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen, sondern stattdessen zu nicken. »Viztria oder Langahan wären mögliche Kandidaten«, Tom Garnett fügte zwei weitere Finger hinzu, »aber sie damit zu betrauen wäre gleichbedeutend damit, LaMut Guy du Bas-Tyra zu überlassen. Und außerdem«, sagte er achselzuckend, »wisst Ihr besser als ich, wie es am Hof in Rillanon zugeht, und die Höflinge von Krondor sind wohl kaum weniger heimtückisch. Ich würde es Guy du Bas-Tyra durchaus zutrauen, seine Barone hierher zu schicken, nur um Ärger zu machen -« »Selbstverständlich, aber Mord?« »Was könnte größeren Ärger machen?« »Ihr glaubt, dass einer von ihnen die Morde begangen hat?« »Das glaube ich nicht, aber ich weiß es nicht genau«, erwiderte Tom Garnett. »Und Ihr ebenso wenig. Ich weiß, dass ich es 276 nicht war, und Ihr wart es auch nicht. Aber Ihr wisst nicht, dass ich es nicht war.« »Ihr?« Tom Garnett hob die Hände. »Es war ein Mann aus meiner Kompanie, der auf Wache eingeschlafen ist - vielleicht solltet Ihr mich von Kelly oder Karris im Auge behalten lassen, unten im Keller. Ich würde das ganz bestimmt tun, wenn die Lage umgekehrt wäre. Ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht Erlic war, der -« »Erlic?« »Der Soldat.« Tom Garnett runzelte die Stirn. »Er könnte es getan haben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum er den Baron und Lady Mondegreen töten sollte, aber ich kann beschwören, dass Einschlafen auf Wache bisher nicht zu seinen Angewohnheiten zählte. Oder auch zu der meiner anderen Männer -weshalb ich gleich drei von ihnen vor seiner Zelle aufgestellt habe und vorhabe, persönlich
in den Kerker zu gehen und sie zu überwachen, damit sich nicht hinterher herausstellt, dass er sich in seiner Zelle erhängt hat... allein oder mit fremder Hilfe.« »Ihr glaubt tatsächlich, er könnte ein Handlanger der Mörder sein?« Garnett zuckte mit den Achseln. »Zu diesem Zeitpunkt ist alles möglich. Es ist wahrscheinlicher, dass er etwas gesehen hat, wovon er nicht einmal weiß, dass es wichtig war; mit ihm zu reden, könnte einen Hinweis bringen, wer hinter dieser Sache steckt. Ihr solltet vielleicht jemanden mitschicken, der auf mich aufpasst.« »Ich vertraue Euch, Tom.« »Nun, dann brauche ich vielleicht jemanden, der mich beschützt, ebenso wie Erlic.« »Ihr traut Euren Männern nicht?« »Bis heute früh hätte ich jedem von ihnen getraut, in jeder Kombination; ich hätte ihnen mein Leben anvertraut und Dinge, die mir wichtiger sind als mein Leben.« Tom Garnetts Hände zitterten; zornig verschränkte er die Finger, um das Zittern zu stop277 pen. »Aber ich habe gerade einen Grund erhalten, darüber noch einmal nachzudenken, nicht wahr?« Er spreizte die Finger und starrte sie an, bis sie aufhörten zu zittern. »Und Ihr könnt auch keinen der hiesigen Barone mit der Ermittlung betrauen. Sie haben alle etwas zu gewinnen, sei es durch Morrays Tod, sei es dadurch, dass der Hauptverdacht auf Verheyen fällt.« Steven Argent nickte. »Es sind nur drei Männer in dieser Burg, von denen wir wissen, dass sie durch diese Morde alles zu verlieren und nichts zu gewinnen hatten.« »Ja. Drei Männer, die nichts von LaMut wollen außer hier herauszukommen, wenn möglich mit dem Geld, das der Graf ihnen schuldet - Geld, das nun im Keller bleiben wird, bis Graf Vandros wieder da ist, es sei denn, ein anderer weiß, wie man die Schatzkammer öffnet. Ihr vielleicht?« Steven Argent schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin Soldat, kein Schreiber. Zumindest war ich Soldat, bis heute früh. Aber ich verstehe, was Ihr meint. Dennoch, sie hätten das Angebot annehmen können, Baron Mondegreens Kind zu bewachen, und in diesem Fall sind sie alles andere als unbeteiligt.« Das war eine unwahrscheinliche Möglichkeit gewesen, aber die Lady hatte sehr überzeugend sein können, und Nein. Nein, er konnte offenbar nicht mehr klar denken. Wieso sollten die Söldner zustimmen, das Kind zu bewachen, und es dann im Mutterleib töten - zusammen mit der Mutter und dem Vater? Wenn es genügt hätte, einfach Nein zu sagen? Vollkommen dämlich. Seine einzige Ausrede war, dass er an solche Dinge einfach nicht gewöhnt war. Wie auch immer ... Tom Garnett sprach aus, was Steven Argent hätte vollkommen klar sein sollen: »Mit allem Respekt, wenn das die drei in die Sache verwickelt, dann nur auf unschuldige Weise.« Garnett zuckte mit den Achseln. »Sie würden das Angebot wohl kaum annehmen und dann den Baron und seine Lady töten, wenn es einfach genügt hätte, Nein zu sagen.« 278
Argent nickte. »Das dachte ich auch gerade.« Er schwieg einen Augenblick und dachte über seine Möglichkeiten nach. Dann sagte er: »Es gibt ein altes Sprichwort: >Wenn du ein williges Pferd hast, dann peitsche eine weitere Meile aus ihm heraus.< Schickt nach ihnen.« Tom Garnett lächelte, als er aufstand. »Das habe ich bereits getan, Sir. Sie warten wahrscheinlich schon vor der Tür. Und wenn ich Pirojil richtig einschätze, lauscht er auch.« Er nahm Habachtstellung an. »Wenn Ihr keine anderen Befehle habt, Sir, dann gehe ich jetzt in den Kerker und bewache den Gefangenen.« »Ja, Ihr könnt gehen, Hauptmann. Schickt sie herein. Und möge Tith-Onaka uns alle beschützen.« Kethol schüttelte den Kopf. Der Adlerhorst war erfüllt von zornigen Blicken. Selbst das gleißend helle Licht der Abendsonne hatte etwas Unbarmherziges, und Durine und Pirojil starrten Kethol wütend an, wenn auch nur, weil er Fantus kraulte und auf nichts weiter achtete. Aber was sollte Kethol schon tun? Steven Argent hatte ihnen gerade diese Angelegenheit übertragen und war nach unten gegangen, um die verbliebenen Barone zu einer Beratung zusammenzutrommeln und zu verkünden, dass er sich entschlossen hatte, die Ermittlungen wegen des Mordes an Baron Morray und Lady Mondegreen den Hauptleuten Kethol, Pirojil und Durine anzuvertrauen. Alles in allem waren die letzten Befehle des Schwertmeisters gar nicht unvernünftig, aber ... Pirojil fasste es für ihn in Worte. »Es gibt nur ein Problem mit diesen Befehlen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir herausfinden sollen, wer das getan hat.« Durine nickte. »Wenn ich nach einer Schlacht wissen will, wer jemanden getötet hat, frage ich einfach - obwohl ich schwören würde, dass Mackin lügt, wenn er behauptet, dass er diesen Käfer ganz allein erledigt hat.« 279 »Den im Wald nahe den Grauen Türmen?« Durine zog die Braue hoch. »Behauptet er jetzt etwa, er hätte zwei erwischt? Ich dachte, er redet über diesen kleinen Zwischenfall im Wald von Yabon letzten Herbst.« »Könntet ihr beide euch bitte auf das Thema konzentrieren?«, flehte Kethol. »Ich weiß auch nicht, wie wir es machen sollen, und wie ihr bereits wisst, ist Denken nicht gerade meine Spezialität.« »Das ist offensichtlich«, stellte Pirojil mit einem finsteren Blick in seine Richtung fest. Kethol verkniff sich eine Erwiderung. Sein letzter Versuch, sich etwas auszudenken, war sehr erfolgreich gewesen - immerhin hatte er die Truppen der Barone abgelenkt und Lady Mondegreen vielleicht sogar die Gründe geliefert, die sie offensichtlich gebraucht hatte, um Verheyen und Morray miteinander zu versöhnen. Er hätte gerne noch die Gelegenheit gehabt, sie das zu fragen. Andererseits, wenn es denn so war - und Durine und Pirojil wären sicher dieser Ansicht -, dann hatte genau diese Ablenkung auch zu dem Angebot von Baron Morray geführt, und Pirojil und Durine waren immer noch wütend auf Kethol, weil er das Angebot nicht umgehend abgelehnt hatte.
Es war also das Beste, den Mund darüber zu halten, ob er nun dumm gewesen war oder nicht. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wie die beiden anderen das sehen würden. Inzwischen ... »Wie lange werden wir wohl Zeit haben?« »Ein paar Stunden«, erwiderte Pirojil. »Es sei denn, wir haben schrecklich viel Glück. Baron Morrays Leute sind ihm sehr ergeben, und es sind auch zu viele Mondegreens hier. Ihre Herrin liegt tot in ihrem Zimmer, und der Schuldige an beiden Verbrechen muss da unten in der Großen Halle sitzen.« »Tom Garnett hat die Morrays und Mondegreens ausgeschickt, um sich zum nächsten Dorf durchzuschlagen - das war eine gute Idee.« »Ja. Deshalb haben wir es noch nicht mit einer Schlacht zu tun, die überall in den Straßen tobt.« 280 Es wäre nicht das erste Mal, dass Fehden zwischen Baronen zu einem offenen Bürgerkrieg geführt hätten - man könnte ja mal die Bewohner der Verräterbucht darüber befragen. »Ich hoffe«, sagte Pirojil, »dass eine Gruppe nach Kernat im Norden oder Vendros im Süden durchkommt, aber diese Dörfer liegen meilenweit von der Stadt entfernt, und ich bezweifle, dass die Männer es schaffen, besonders, da sie unter dem taillenhohen Schnee wohl nicht mal die Straßen finden können.« Er starrte einen Augenblick ins Leere. »Wahrscheinlich wäre es das Beste, Tom Garnetts und Kellys Kompanien auszuschicken und die eine oder die andere Seite einfach niederzumetzeln - aber ich fürchte, der Schwertmeister wird sich weigern, einen solchen Befehl zu geben.« »Wäre auch ein schlechtes Vorbild«, sagte Durine. »Das könnte dazu führen, dass sie anfangen, Söldner zu töten statt sie zu bezahlen.« »Da hast du Recht. Aber diese Geschichte, dass Morray und Verheyen Frieden schließen wollten, wird den Männern ziemlich unglaubwürdig vorkommen -« »Glaubst du es etwa auch nicht?« »Ich schon, aber ich nehme nicht an, dass es auf die Männer von Morray und Mondegreen besonders überzeugend wirken wird, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie anfangen, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, oder die Männer des Grafen ihnen ein bisschen zu sehr zusetzen.« Einen Kampf anzufangen war leicht; ihn aufzuhalten, noch bevor er begonnen hatte, war schwierig; einen bereits begonnenen Kampf noch abzubrechen, war beinahe unmöglich. Kethol nickte. »Also sollten wir lieber machen, was man uns aufgetragen hat rausfinden, wer es war, und zwar schnell.« Durine nickte. »Womit wir wieder vor der Frage nach dem Wie stünden.« Kethol sah Pirojil an.» Wie ist für gewöhnlich deine Spezialität.« Pirojil hob abwehrend die Hände. »Bei so was? Das ist nicht meine Spezialität. Damit kennt sich überhaupt niemand aus.« Er 281 schloss einen Moment die Augen. Nach einer Weile sagte er: »Man könnte damit anfangen, sich mehr Informationen zu beschaffen.«
»Zum Beispiel«, sagte Durine, »könnten wir in der Burg herum- laufen und jeden fragen: entschuldigt bitte, Mylord, aber habt Ihr zufällig letzte Nacht ein paar Kehlen durchgeschnitten?<« Kethol hielt das für alles andere als komisch, aber Pirojil nickte. »Genau. Sehen wir mal, ob wir herausfinden können, wie die Barone - und die Hauptleute und Wachen, die sich ebenfalls frei in der Burg bewegen können - die letzte Nacht und den Abend verbracht haben.« »Und du glaubst, das werden sie uns sagen?« Kethol begriff überhaupt nichts mehr. »Nein, du Idiot - aber wenn zum Beispiel Baron Viztria sagt, er wäre bis zum Morgen wach gewesen und hätte sich mit Baron Langahan unterhalten, und Langahan sagt, er wäre früh ins Bett gegangen, wissen wir, dass einer von ihnen lügt.« Kethol nickte. »Jemand hat den Flur beobachtet und es ausgenutzt, dass der Wachposten eingeschlafen ist.« »Oder vielleicht ist der Soldat auch gar nicht eingeschlafen. Vielleicht ist er ja in die Sache verwickelt. Jemand sollte ihn fragen.« Pirojil wandte sich Durine zu. »Mach du das. Ausführlich. Und dann kommst du wieder zu mir.« »Und wo wirst du sein?« »Unten in der Großen Halle. Ich werde den Adligen und den Hauptleuten Fragen stellen - ein bisschen freundlicher, als du mit diesem Idioten Erlic redest.« Durine nickte. »Und ich?«, fragte Kethol. »So blöd wie ich bin, werde ich dabei nutzlos sein.« »Wenn du deine Empfindlichkeit darüber, dass du ein Idiot bist, einen Augenblick zügeln kannst, hast du vielleicht doch einen gewissen Wert.« Pirojil grinste. »Du kannst das Gelände ausspähen.« »Gelände?« »Ja, Gelände. Du bist doch als Förster aufgewachsen, Sohn eines Försters, oder?« 282 Kethol sprach nicht gerne über seine Jugend oder über die Zerstörung seines Heims, die dazu geführt hatte, dass er seinen Lebensunterhalt mit Bogen und Schwert verdienen musste, aber was Pirojil gesagt hatte, entsprach immerhin der Wahrheit, also nickte er. »Und, was tut ein Förster, wenn er die Überreste eines gewilderten Hirschs im Wald findet?« Kethol zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht schwer. Man versucht, die Spuren des Wilderers zu verfolgen und eine Vorstellung davon zu bekommen, aus welcher Richtung er gekommen ist. Wenn man wirklich Glück hat, findet man den Pfeil, der das Tier getötet hat.« »So was passiert?« »Sicher. Wenn ein Pfeil den Hals durchschlagen hat, kann er einfach im Unterholz verschwinden, und Wilderer sind manchmal schlampig. Wenn man einen Pfeil findet, selbst wenn er keine Kennzeichen hat - Wilderer sind normalerweise nicht so freundlich, Pfeile für die Förster zu markieren -, gibt einem die Fiederung oder die Pfeilspitze oft einen Anhaltspunkt, wo er herkommt, und das gibt einem wiederum einen Anhaltspunkt -«
»Anhaltspunkte, ja. Das ist es. Wir suchen nach Spuren und Anhaltspunkten. Sieh dir das Zimmer der Lady an und stell fest, ob du etwas finden kannst.« Kethol runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass dort Pfeilspitzen herumliegen, und ich bezweifle noch mehr, dass ich den Spuren folgen kann, die jemand auf einem Teppich hinterlassen hat.« Pirojil spreizte die Finger. »Ich weiß auch nicht, nach welchen Anhaltspunkten du suchen sollst. Vielleicht nach der Waffe, mit der man ihnen die Kehle durchgeschnitten hat? Sie befindet sich vielleicht immer noch dort«, erklärte er, wenn auch in skeptischem Ton. »Wenn sie irgendwie auffällig ist...« Das klang alles nicht besonders wahrscheinlich. Tatsächlich klang es, als wäre es beinahe vollkommen unwahrscheinlich. »Und du kannst auch die Gemächer von Baron Morray durchsuchen«, sagte Durine. 283 »Ich frage noch einmal: nach was?« »Und ich sage noch einmal, dass ich es nicht weiß«, erwiderte Durine. »Ich schon«, sagte Pirojil. »Such nach ... nach einem Stück Papier oder einer Notiz in einem Buch. Weder zu leicht noch zu schwer zu finden, aber es muss ein kurzer Zauberspruch darauf stehen: der Spruch, der einem erlaubt, die Schatzkammer im Kerker zu öffnen.« Dass Pirojil zu einem solchen Zeitpunkt an den Sold dachte, hätte Kethol eigentlich nicht anwidern sollen, aber so war es, und er konnte es nicht verbergen. Pirojil schüttelte den Kopf. »Du hast dich wirklich von den Leuten hier anstecken lassen, wie?« »Scheiße, Pirojil -« »Immer mit der Ruhe«, sagte Pirojil, und die Spur eines Lächelns zuckte über sein hässliches Gesicht. »Mir geht es offenbar ebenso, weil ich im Augenblick nicht mal an unseren Sold gedacht habe. Aber im Moment müssen wir uns nicht nur wegen einer Gruppe Soldaten Gedanken machen, die ihren ermordeten Baron rächen wollen, sondern auch um eine Bande von Söldnern, von denen einige bald begreifen werden, dass sie nicht bezahlt werden können, ehe nicht jemand die Schatzkammer öffnen kann, und ich glaube nicht, dass der Schwertmeister einen der Barone auch nur zum Übergangskämmerer ernennen wird, bis wir den Mörder gefunden haben, und selbst wenn er das tut, wird es auch nichts ändern, wenn dieser Kämmerer die Tür zur Schatzkammer nicht aufmachen kann.« Durine nickte. »Das Beste, was der Schwertmeister tun kann -immer vorausgesetzt, es kommt nicht gleich zu einem offenen Krieg - wäre, zumindest die Söldner und die Soldaten des Grafen zu bezahlen. Geld beruhigt die Leute.« »Das dachte ich auch.« Pirojil schaute von Kethol zu Durine. »Meldet sich einer freiwillig, etwas zu murmeln, was wie ein Zauberspruch klingt, während er versucht, die Tür zur Schatzkammer aufzukriegen?« Er schüttelte den Kopf, bevor er seine eigene Fra284 ge mit »Nein« beantwortete. Dann verzog er den Mund. »Wobei mir einfällt ...« Er ging zur Tür und lehnte sich nach draußen. »Holt Milo und Mackin her, zwei
Söldner, die drunten im Abgebrochenen Zahn sitzen. Sagt ihnen, sie sollen zu mir in die Große Halle kommen, und zwar sofort.« »Aber -«, setzte der Wachposten draußen zu einem Protest an. Pirojil brachte ihn zum Schweigen, indem er mit dem Finger auf ihn zeigte. »Wenn du etwas gegen meine Befehle hast, dann geh und frag den Schwertmeister. Er hat uns drei mit dieser... dieser Ermittlung beauftragt, und ich könnte mir vorstellen, dass er das ernst meinte.« Man hörte Schritte, die sich im Flur entfernten, und Pirojil drehte sich grinsend wieder um. »Ich gewöhne mich langsam daran, etwas zu sagen zu haben.« Durine schüttelte den Kopf. »Es wäre mir erheblich lieber, wenn ich wüsste, was wir hier überhaupt tun.« »Mir auch«, sagte Kethol. Darüber konnten sich alle drei einig werden. Dennoch, die Regel des »Wenn man nicht weiß, was man tun soll, soll man das tun, womit man sich am besten auskennt« schien immer noch sinnvoll, und Kethol hatte schon viele Leichen gesehen. Mit Leuten zu reden war eine andere Sache. Erwartete Pirojil denn, dass der Mörder aufsprang und sagte: Ich habe es getan!, wenn man ihn nur einmal schief ansah? »Nun, wir werden alle unser Bestes tun, damit wir wenigstens den Eindruck erwecken, als wüssten wir, was wir tun.« Durine grinste. »Genau das tun Offiziere doch die ganze Zeit.« »Wahrscheinlich. Also los.« Pirojil klatschte in die Hände. »Durine in den Kerker, Kethol in Lady Mondegreens Zimmer und ich zu den versammelten Baronen und Hauptleuten. Wir treffen uns zu Mittag wieder hier.« Er grinste. »Ich werde uns von Ereven das Mittagessen bringen lassen.« Durine ging nach unten in den Kerker, wobei er auf den vereisten Steinstufen sehr vorsichtig war. 285 Tom Garnett und drei seiner Soldaten standen vor der nächst gelegenen Zelle. Ein riesiger Messingschlüssel, der wohl der Zellenschlüssel war, hing neben einer Öllampe an einem Deckenbalken - auf der den Zellen gegenüberliegenden Flurseite. Ein Mann, der in einer Zelle saß, würde den Schlüssel vielleicht mit einem langen Stock mit einem Haken erreichen können, aber vermutlich gehörten lange Stöcke mit Haken nicht zur Standardausrüstung der gräflichen Zellen. Alle vier Männer - nein, fünf, wenn man Erlic mitzählte - richteten sich auf, auch wenn sie nicht ganz Habachtstellung einnahmen, als Durine näher kam, weil sie Respekt für seinen Rang zeigen wollten, wenn auch nicht für den Mann selbst. Sie kamen ihm alle bekannt vor, ebenso wie dieser Erlic. Durine schüttelte den Kopf. Vor einer Woche oder weniger, vor einem ganzen Zeitalter, waren zwei dieser vier Männer unter jenen gewesen, die Tom Garnett geschickt hatte, um Durine zum Schwertmeister zu bringen, weil man ihn, Pirojil und Kethol damit beauftragen wollte, für Baron Morrays Sicherheit zu sorgen. »Angeekelt von mir, wie?«, sagte Tom Garnett, der Durines Miene offenbar falsch gedeutet hatte.
»Nein, Hauptmann. Zweifellos angewidert, aber ich weiß nicht von wem, wenn man von Erlic einmal absieht.« Durine zuckte mit den Achseln. »Aber genug davon. Ich muss mit Erlic unter vier Augen reden.« »Das geht nicht, Hauptmann«, sagte einer der Soldaten kopfschüttelnd. »Man hat uns befohlen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Es gibt Leute, die glauben, er würde sich seiner Verurteilung vielleicht entziehen wollen, und zu diesen Leuten gehöre auch ich. Außerdem ist Befehl ohnehin Befehl.« Wie Erlic das tun sollte, ist eine interessante Frage, dachte Durine. Man hatte ihm Waffenrock, Hose und Stiefel ausgezogen. Die dünne Decke, die er um sich gewickelt hatte, hatte er fallen lassen, als er aufgestanden war, und nun stand er schaudernd in einem Hemd da, das ihm bis zu den Knien reichte. Nun, vielleicht konnte er die Decke in Streifen reißen, die Strei286 fen zu einem Seil flechten, ein Ende des Seils an die Gitter binden und das andere um den Hals und dann einen gewaltigen Sprung machen und sich den Hals brechen, aber Durine nahm an, das würde er vermutlich bemerken, und dann könnte er ihn aufhalten. Aber er sagte nichts, sondern sah nur Tom Garnett an, der rasch nickte. »Wir könnten dich mit ihm einschließen und in Rufweite bleiben.« Seine Lippen waren bleich, als er sich dem Soldaten zuwandte. »Hauptmann Durine ist nicht sicher, ob wir nicht ebenfalls in dieser Sache mit drinstecken«, sagte er leise und so lässig, als ginge es um das Wetter. »Scheiße«, sagte einer der Männer, als er zu dem Balken ging und den Schlüssel holte. »Würdet Ihr uns bitte den Schwertgurt geben, Hauptmann, und vielleicht das zusätzliche Messer, dass Ihr unter dem Waffenrock an den Rücken geschnallt habt?« Das ärgerte Durine mehr, als er zugeben wollte. Er hatte geglaubt, dass niemand das Messer bemerkt hätte, und er wusste nicht, wann der Mann es hatte entdecken können. Es war einfach nicht gut, sich so lange am gleichen Ort aufzuhalten. Er schnallte den Schwertgurt ab und reichte ihn einem anderen Soldaten, dann zog er das Messer, übergab es mit dem Griff nach vorn, wie es sich gehörte, dem Mann, der danach gefragt hatte, und bedeutete Erlic dann zurückzutreten. Er betrat schnell die Zelle, wobei er halb erwartete, dass Erlic sich auf ihn stürzen würde und sich schon darauf freute, ihn zu verprügeln, einfach nur, um das Gespräch gleich in der richtigen Stimmung anzufangen ... Aber Erlic wich einfach zur Rückwand der Zelle zurück und sackte dort auf dem übergroßen Sims zusammen, das den Gefangenen als Bett diente. Dann wurden die beiden zusammen eingeschlossen, und Tom Garnett und die Soldaten begaben sich außer Sichtweite, und entweder waren sie auch außer Hörweite, oder sie schwiegen. Durine wollte das gar nicht so genau wissen. Es zählte wahrscheinlich auch nicht, falls nicht alle vier in den 287 Mord verwickelt waren, und wenn Durine auch keine Möglichkeit vollkommen von der Hand weisen wollte, hielt er das doch für reichlich unwahrscheinlich. Das hoffte er zumindest.
Es gab selbstverständlich auch einen ganz einfachen Weg, das herauszufinden. Wenn er demonstrativ zufrieden dreinschaute, nachdem er mit Erlic gesprochen hatte, und die Männer dort draußen mit dem Mord an Baron Morray und Lady Mondegreen zu tun hatten, würden sie Durine noch hier im Kerker töten und ihn nicht herauslassen. Sollte das der Fall sein, war vermutlich gerade einer unterwegs, um eine Armbrust zu holen, denn das wäre wohl das Einfachste. Der Gedanke erwärmte ihn, als er sich wieder Erlic zuwandte. »Also gut«, sagte er. »Ich habe nicht viel zu bieten und du noch weniger, aber sehen wir mal, ob wir einen Handel abschließen können.« Feilschen war eigentlich Pirojils Sache, aber Durine hatte ihn oft genug dabei beobachtet. »Ich könnte zum Beispiel damit anfangen, dir ein paar Finger zu brechen, und dir versprechen aufzuhören, wenn du mir alles sagst, was du weißt.« Erlic blickte zu ihm auf und schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß doch nichts, außer dass ich auf meinem Posten eingeschlafen bin.« »Niemand hat dich gebeten, die Augen ein wenig zu schließen, während er in Lady Mondegreens Zimmer geht, um sich einmal kurz mit ihr zu unterhalten?« Durine glaubte nicht, dass es so einfach sein würde, aber fragen schadete ja nichts. Es ließ jedoch immer noch die Frage offen, wieso Erlic nicht bemerkt hatte, dass jemand blutüberströmt das Zimmer wieder verließ, oder keine Kampfgeräusche gehört hatte, aber Durine wollte eins nach dem anderen durchgehen. Erlic schüttelte den Kopf. »Niemand hat mich um irgendwas gebeten. Baron Morray ist in ihr Zimmer gegangen, aber -« »Aber das hat er auch vorher schon getan.« Erlic nickte. »Ich hatte auch in der Nacht davor Wache im Flur und in der Nacht zuvor ebenfalls.« Er zuckte mit den Achseln. »Er 288 hat mich einfach ignoriert, und ich habe so getan, als hätte ich ihn nicht gesehen.« »Wer schläft im Zimmer nebenan?« »Neben dem von Lady Mondegreen?« »Nein«, sagte Durine. »Neben dem von Prinz Erland.« Erlic starrte ihn verwirrt an; Sarkasmus funktionierte bei ihm anscheinend nicht. »Ja, neben Lady Mondegreen!« »Verheyen auf der Seite, die meinem Posten am nächsten liegt, zwischen ihrer Suite und der von Baron Morray Viztria und Langahan teilen sich die Suite hinter ihrem Zimmer.« Und wenn es in dieser Burg ebenso von Geheimgängen wimmelte wie in Burg Mondegreen, dann gab es drei Personen mehr, die es getan haben konnten, und wenn es Verheyen gewesen war und mit einem der anderen zusammenarbeitete, war es wirklich nicht die Schuld dieses armen Schweins hier. Das würde Erlic vielleicht den Hals retten. Durine hielt einen Augenblick inne, um nachzudenken: Es könnten ... nein, es mussten zwei Personen vonnöten gewesen sein, um Baron Morray und Lady Mondegreen umzubringen, ohne dabei so viel Aufruhr zu verursachen, dass es diesen Idioten hier oder jemand anderen geweckt hätte. Vielleicht auch ein einzelner Mann, der sehr schnell mit dem Messer war Verflucht. Diener. Er hatte nicht an die Diener gedacht, obwohl ...
Warum sollte einer von denen ... Darüber konnte er später nachdenken. »Sind irgendwelche Diener unterwegs gewesen?« Erlic schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Nicht dort. Emma, die Tochter des Obersten Dieners, hat Baron Morray eine Flasche Wein gebracht, aber in sein eigenes Zimmer, und sie hat auch ein Tablett in Baron Folsons Zimmer getragen, kurz bevor sie mir mein Essen brachte, und eins zu Viztria, bevor es zwei schlug, daran erinnere ich mich, aber -« »In das Zimmer, das Viztria mit Langahan teilt.« 289 »Ja, aber —« »Aber niemand ist in Lady Mondegreens Zimmer gegangen -niemand, den du gesehen hättest.« »Bis auf Baron Morray, und das habe ich ja schon gesagt.« »Ja, aber ich glaube nicht, dass er erst ihr die Kehle durchgeschnitten hat und danach seine eigene.« Durine schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht zufällig, ob Baron Verheyen immer in diesem Zimmer wohnt, wenn er den Grafen besucht?« Erlic schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht, aber ...« »Aber was, Mann? Raus damit.« »Aber für gewöhnlich sind nur ein oder zwei Barone in der Burg zu Besuch, wenn sie nicht überhaupt in ihrer eigenen Residenz in der Stadt wohnen - obwohl ich nicht glaube, dass Baron Verheyen eine hat -, und dann bringen sie sie für gewöhnlich in der großen Suite am Ende des Flurs unter. Es gab einiges Gemecker, weil ausgerechnet die Barone aus Krondor diese Suite bekommen haben.« Als hätten sie bei all ihren Streitereien nichts Wichtigeres im Kopf. »Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen könntest?«, fragte Durine. »Irgendwas?« Erlic schüttelte den Kopf. »Nur dass ich schwöre, dass ich noch nie zuvor auf Wache eingeschlafen bin.« Es sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Na, du hast dir wirklich einen tollen Zeitpunkt ausgesucht, um deine Jungfräulichkeit zu verlieren.« Durine stand auf. »Hör zu: Es könnte - könnte - sogar sein, dass dein Einschlafen gar nichts geändert hat. Gib mir dein Wort, dass du auf den Urteilsspruch des Grafen wartest.« Erlic nickte langsam. »Ich habe es nicht besser verdient.« »Es geht mir nicht darum, was du verdient hast. Ich will dein Wort.« »Ihr würdet mein Wort akzeptieren?« »Ja«, log Durine. Es schien die beste Möglichkeit zu sein, von Erlic zu bekommen, was er wollte. 290 »Ihr habt mein Wort, Sir. Ich werde mich nicht umbringen.« Durine nickte. »Gut.« Er stand auf, zog das andere versteckte Messer unter der linken Achselhöhle hervor und schlug damit gegen das Gitter, bis er draußen Schritte auf dem Steinboden hörte. Er setzte eine zufriedene Miene auf. »Hast du etwas herausgefunden?«
Durine nickte wissend. »Ja«, antwortete er. »Es ist durchaus möglich, dass ich etwas sehr Wichtiges herausgefunden habe. Lasst mich jetzt bitte wieder raus«, sagte er und steckte das andere Messer wieder ein. »Und behaltet Erlic weiter im Auge.« Tom Garnett schien sich ein wenig zu entspannen, und einer der anderen Männer holte den Schlüssel. Niemand versuchte Durine zu erstechen, als er aus der Zelle trat und ihnen ganz bewusst den Rücken zudrehte, um noch einmal mit Erlic zu sprechen. Durine wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Es wäre zumindest eine Spur gewesen, und trotz seiner gegenteiligen Versicherungen hatte er bisher nicht den geringsten Anhaltspunkt - oder um genauer zu sein, er hatte entweder keinen oder viel zu viele. »Wir werden ihn beobachten«, sagte Tom Garnett. Durine nickte. »Ja, das werdet ihr.« Wenn Erlic doch noch starb, dann wäre das wahrscheinlich ein weiterer Fingerzeig, der ihnen helfen konnte. Kethol hatte keine Ahnung, wonach er Ausschau halten sollte. Die beiden Leichen, die da im Bett lagen, waren tot, und der Mörder hatte sie nicht mit einem markierten Pfeil erschossen; er hatte überhaupt keinen Pfeil benutzt. Es überraschte ihn auch nicht, dass es keine blutigen Fußabdrücke auf dem weichen Teppich gab, und alle vorhandenen Abdrücke von Füßen und Schuhen waren vage und nutzlos. Kethol hatte sich die Leichen angesehen, nur weil das etwas war, womit er sich auskannte. Es lag offenbar Staub in der Luft, obwohl er nicht wusste, wo291 her der gekommen sein sollte, aber er musste sich ein paarmal die Augen wischen, besonders, als er Lady Mondegreen ansah. Er hatte das Fenster geöffnet, um den Gestank zu vertreiben, aber das schien nicht sonderlich zu helfen, zumindest nicht gegen den Staub. Er wandte sich noch einmal den Leichen auf dem Bett zu. Es war wichtig, sich daran zu erinnern, dass das hier nur Leichen waren, totes Fleisch, und keine Leute mehr, die ihn insgesamt besser behandelt hatten, als ein Söldner erwarten konnte. Der Tod war stets vollkommen würdelos, obwohl diese beiden hier dem Schlimmsten entgangen waren. Wenn man das Blut und den Gestank nach Tod ignorierte, hätte man sich einbilden können, dass sie schliefen. Nachdem er Lady Mondegreen eine Weile angestarrt hatte, wusste er jedoch, dass er die schlichte Tatsache des Todes nicht ignorieren konnte. Ihre Wangen, die so rosig gewesen waren, wenn sie lachte oder durch die Kälte geritten war, waren nun so blass, dass es an Pergament erinnerte; eine Färbung, die man mit nichts anderem auf der Welt verwechseln konnte. Er schob alles Bedauern beiseite; er hatte zu oft gesehen, wie der Tod jemanden, den er als lebendigen Menschen gekannt hatte, in ein lebloses Ding verwandelte. Er hatte Lady Mondegreen bezaubernd gefunden, und sie war freundlich zu ihm gewesen, aber nun war sie ein lebloses Ding, und je schneller er nach diesen Spuren suchte, desto eher konnte er das hier hinter sich bringen. Er sah sich um, als suchte er nach einem Zeichen, etwas, das er wiedererkennen würde: als gäbe es hier einen abgebrochenen Zweig, wo keiner hingehörte, oder
zerdrücktes Gras oder Schlamm von einem Stiefel an der Seite eines Steins. Tiegel mit Gesichtspuder und duftenden Salben waren ihm fremd. Die Dinge, die ins Zimmer einer Lady gehörten, lieferten ihm keine Antworten. Denk nach, befahl er sich. Wenn du ein Stück Wild findest, das von einem Wilderer erlegt wurde, ist das Tier selbst das Erste, was du untersuchst. Er versuchte, das Blut und den Gestank zu igno292 rieren. Bei dem kalten Wind, der nun durchs Fenster hereinkam, war es gar nicht so schlimm. Er beugte sich über sie. Man hatte ihnen mit einer scharfen Klinge tief und sauber die Kehlen durchgeschnitten, obwohl Kethol nicht hätte sagen können, ob es ein Dolch oder ein Schwert gewesen war - wenn man einmal davon absah, dass es sehr schwierig gewesen wäre, es mit dem Schwert zu tun. Andererseits war es auch nicht vollkommen unmöglich. Wenn er an diesen Wachposten vor Dungaran dachte ... Er schüttelte den Kopf. Nein. Es war eine Sache, sich von hinten an jemanden anzuschleichen, ihn bei den Haaren zu packen und das Schwert des Mannes herauszureißen, um ihm damit die Kehle durchzuschneiden - sein eigenes Schwert war nicht zur Hand gewesen, weil er es zu fest in den Rücken des anderen Wachpostens gestoßen hatte. Aber es war etwas ganz anderes, das bei jemandem zu tun, der im Bett lag und schlief. Aber hatten sie denn geschlafen? Hatten sie vielleicht noch bemerkt, was ihnen bevorstand? Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätten sie ja wohl geschrien und versucht, sich zu wehren. Aber er musste es wissen, und die beiden konnte er nun nicht mehr fragen. Oder doch, wenn er genauer darüber nachdachte. Er zwang sich, die Laken wegzuziehen und die Leichen zu untersuchen. Sie waren voller Blut, und erneut stieg Gestank auf, weil sie sich im Tod beschmutzt hatten, aber sie hatten keine Wunden an Händen oder Armen, nur an den Kehlen. Kethol rieb über eine alte Narbe an seiner linken Hand. Wenn man sonst nichts hatte, um sich gegen eine Klinge zu wehren, nahm man die Hand, schon instinktiv, besonders, wenn die Klinge in Richtung Gesicht geschwungen wurde. Genau das hatte er auch getan, zwei Mal, und seitdem hatte er immer darauf geachtet, noch ein oder zwei Messer zur Hand zu haben. Aber nein: Wie es aussah, hatte sich jemand - oder mehrere Je293 mands - einfach ins Zimmer geschlichen, während die beiden schliefen, und ihnen plötzlich die Kehlen durchgeschnitten, entweder beiden gleichzeitig oder so schnell, dass keiner mehr Zeit gehabt hatte, aufzuwachen und zu versuchen, den Angreifer abzuwehren. Kethol war verdutzt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein einzelner Mörder sein erstes Opfer schnell genug töten könnte, um es zum Schweigen zu bringen - und er nahm an, dass man Lady Mondegreen zuerst umgebracht hatte, damit sie nicht aufwachte und schrie -, und dann das zweite ebenfalls umbrachte, bevor es sich auch nur rührte. Ein solcher Mörder würde sehr schnell sein müssen, und das waren nur wenige.
Kethol dachte nach, versuchte sich daran zu erinnern, was Durine ihm über das Duell des Barons Verheyen mit dem Schwertmeister erzählt hatte. Er rückte das Betthaupt von der Wand. Ja, ein Schnippen mit der Schwertspitze am Halsansatz der Lady, dann die Klinge nach oben reißen und mit der Spitze in die Kehle des Barons stechen und nach außen ziehen. Ja, es war möglich, dass ein Mann allein so etwas tat, wenn er schnell genug war. Sehr professionell. Kethol konnte mit einem Teil seines Verstandes die fachmännische Arbeit bewundern, noch während ein anderer Teil von ihm einen Lappen holen wollte, um das geronnene Blut von Lady Mondegreens Wange zu wischen. Er zog die Laken wieder über beide, denn es kam ihm unangemessen vor, eine nackte Adlige anzustarren, selbst wenn sie tot war. Es hatte wahrscheinlich nicht sonderlich wehgetan und nicht lange gedauert. Kethol verstand das nicht so recht, aber es gab Wunden, selbst ziemlich tiefe, die einfach nur bluteten und die man, wenn man sich schnell genug darum kümmerte, überleben konnte, obwohl eine tiefe Bauchwunde sich entzünden und einen nach ein paar Tagen schließlich doch umbringen würde. Aus anderen Wunden sprudelte das Blut ganz schnell heraus, und dann war ein Mann innerhalb von ein paar Herzschlägen tot -oder auch ein Pferd; er hatte erst gestern bewundert, wie Tom Garnetts Soldat das Tier mit dem gebrochenen Bein mit einer ganz ähnlichen, sauberen Wunde schnell getötet hatte. 294 Es wäre interessant, den Namen des Mannes zu erfahren, obwohl das vermutlich auch nicht weiterhelfen würde. Er sah sich am Boden um, aber es überraschte ihn nicht, dass das Messer nicht zu finden war. Es befand sich beinahe mit Sicherheit nicht in diesem Zimmer, obwohl er vorsichtshalber sorgfältig danach suchen würde. Oder war es etwa doch hier? Und ganz deutlich zu sehen? Könnte der Mörder Baron Morrays Messer benutzt haben? Nein. Die ordentlich zusammengefalteten Kleidungsstücke auf dem Stuhl waren wirklich nur Kleidungsstücke. Der Mörder konnte Baron Morrays Gürtelmesser nicht benutzt haben, weil es sich zweifellos an Morrays Schwertgurt in seinen eigenen Gemächern befand, ebenso wie sein Schwert. Der Baron hatte natürlich nicht daran gedacht, eine Waffe mitzunehmen, als er auf ein spätabendliches Glas Wein zu seiner Lady gegangen war. Es war schwierig zu sagen, wie viel Wein auf den Boden gespritzt war, als die Flasche umgefallen war, aber als Kethol sie vorsichtig hochhob, war noch einiges drinnen. Kethol hätte jetzt sehr gern einen Schluck getrunken, aber er verkorkte die Flasche und stellte sie beiseite. Baron Morray war offenbar kein sonderlich sentimentaler Mann gewesen, und Kethol war es ganz bestimmt nicht, aber er hoffte, dass es den Baron nicht störte, wenn er später ein Glas auf ihn trank. Später. Nahe dem Bett hing ein Glockenseil, und Kethol zog daran. Er war nicht sicher, wie das System funktionierte, obwohl er einmal in der Küche gewesen war und die Reihen von Glöckchen an der Wand gesehen hatte, jedes mit einem anderen Klang.
Es war auch gleichgültig - wer immer auftauchte, Kethol würde einfach nach dem Obersten Diener schicken. Ereven kam jedoch beinahe sofort persönlich herein, blieb direkt hinter der Tür stehen und fixierte Kethol, als könnte er dadurch die Leichen auf dem Bett ignorieren. »Ja, Hauptmann?« 295 Es gab Dinge, die sich niemals änderten. Der Diener schaute genauso säuerlich drein wie immer. Aber seine Zeiteinteilung war durcheinander geraten. Sein Gesicht war feucht, und ein kleiner blutender Schnitt unten an seinem Kinn zeigte, dass er das Rasieren heute hatte verschieben müssen. Kethol hatte nie sonderlich auf den Mann geachtet, aber er hatte ihn stets nur gut rasiert gesehen, und er nahm an, dass Ereven das sowohl morgens als auch abends tun musste. »Wie lange bist du hier schon Oberster Diener?« Fragen stellen, hatte Pirojil gesagt. Die offensichtliche Frage -wer hat diese beiden Menschen umgebracht? - würde zu nichts führen. Wenn Ereven das wüsste, hätte er es sicherlich schon erwähnt. »Ich habe Graf Vandros und seinem Vater mein ganzes Leben lang gedient, Hauptmann, ebenso wie mein Vater vor mir. Ich habe als Küchenjunge angefangen und Teller gespült, und ich hatte beinahe jede Stellung im Haushalt des Grafen einmal inne, bis auf die des Bäckers und des Kindermädchens.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Irgendwie ist es mir nie gelungen, das Eiweiß so aufzuschlagen, dass es fest genug für Meringuen war, und -« »Das genügt.« Wenn er den Mann nicht aufhielt, würde das wahrscheinlich den ganzen Tag so weitergehen. So war es oft mit schweigsamen Menschen - wenn sie erst mal angefangen hatten zu reden, konnte man sie kaum noch bremsen. »Aber wie lange bist du schon Oberster Diener?« »Sechs Jahre, Hauptmann. Seit der alte Thomas gestorben ist.« »Dann kennst du wahrscheinlich alle Geheimgänge hier im Bergfried.« Ereven blinzelte. »Es gibt keine -« »Wir haben im Augenblick wirklich keine Zeit für Diskretion«, sagte Kethol. »Normalerweise hätte ich kein Problem damit, dass die Burg ihre Geheimnisse bewahrt, aber wenn der Mörder durch einen dieser Geheimgänge hereinkam, wäre es irgendwie nett zu wissen, wo sie sich befinden.« Ereven nickte. »Davon bin ich überzeugt, Hauptmann, und es 296 gab tatsächlich Geheimgänge, aber der alte Graf hat sie alle versiegeln lassen zumindest alle, die ich kenne.« Er schwieg einen Augenblick, dann zuckte er mit den Achseln und fuhr fort. »Ich glaube, es könnte noch einen geheimen Ausgang aus den Gemächern des Grafen geben, und wenn man bedenkt, wie sich Fantus immer vom Dachstuhl in die Gemächer des Schwertmeisters schleicht, bin ich ziemlich sicher, dass es auch dort noch einen Gang geben muss.« Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht im Gästeflügel.« Er ging am Bett vorbei zum Aborterker. Kethol folgte ihm.
Der Abort selbst hatte einen hölzernen Sitz, und Kethol fragte sich, ob es wohl zumindest theoretisch möglich war, dass jemand die Mauer hinaufgeklettert und durch das offene Ende des Erkers ins Zimmer eingedrungen war. Er hob den Sitz und spähte zu dem gefrorenen Misthaufen im Schnee hinunter. Nein, das Loch, das dem Benutzer gestattete, seine Abfälle nach unten fallen zu lassen, war kaum groß genug, dass ein Kind hindurchgepasst hätte, und ganz bestimmt kein ausgewachsener Mann, selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Mauer hinaufzuklettern. Und das hätte auch niemand tun können, ohne Spuren auf der vereisten Mauer zu hinterlassen. Der Staub, der sich auf dem Sitz abgelagert hatte, zeigte außerdem, dass er längere Zeit nicht benutzt worden war. Die Adligen hatten verständlicherweise lieber die Nachttöpfe, die auf dem Steinboden vor dem Abort standen, benutzt, statt ihre nackten Hinterteile der kalten Luft auszusetzen. Es war jedoch die Wand gegenüber dem Sitz, auf die Ereven Kethols Aufmerksamkeit lenkte. Er zog einen alten Wandbehang zurück - ausgebleichtes Wild tollte auf einer ausgebleichten Wiese herum - und führte eine Wand aus Ziegeln vor, mit denen eine Öffnung in der ursprünglichen Burgwand verschlossen worden war. Die Ziegel waren fest mit Mörtel vermauert. »Das hier war, als ich noch ein Junge war, ein kleiner Schrank mit einer Holzwand hinten«, sagte Ereven, »und wenn man auf 297 das Regal gedrückt hat, das sich hier befand, und dann auf den Vorsprung dort«, er berührte mit den Fingern die beiden Stellen auf den Ziegeln, »öffnete sich eine Verbindung zu einem Schrank in der Grünen Suite.« Kethol drückte gegen die Ziegel und untersuchte die Verbindung von Wand und Decke sorgfältig, dann die zwischen Wand und Boden. Schließlich war es durchaus möglich, dass sich die gesamte Ziegelmauer an verborgenen Scharnieren bewegen ließ -oder vielleicht ein Teil davon -, aber eine genaue Untersuchung des Mörtels zeigte nicht die winzigen Spalten, die dann vorhanden gewesen wären. »Ich kann Baron Viztria und Baron Langahan um Erlaubnis bitten, den Gang von der anderen Seite zu untersuchen«, sagte Ereven. »Der Schrank ist immer noch vorhanden, aber -« »Wir werden erst gar nicht fragen, sondern sehen es uns gleich an.« Nichts von dem erwarteten Widerspruch zeichnete sich auf Erevens faltigem Gesicht ab. Er nickte einfach und akzeptierte, dass es notwendig war. Kethol nahm sich vor, sich auch noch die anderen Wände genauer anzusehen. Und den Kleiderschrank in Lady Mondegreens Zimmer und die Wände hinter jedem Wandbehang im Flur. Es würde vermutlich nichts nützen, aber zumindest gab es etwas zu tun. »Du kannst jetzt wieder an deine Arbeit zurückkehren«, sagte Kethol. »Ja, Hauptmann.« Erevens Gesicht war so ausdruckslos wie immer. »Vater Kelly hat mich gebeten zu fragen, wann er die Leichen für die Beisetzung vorbereiten kann.« »Hast du auch solche Arbeiten schon gemacht?« »Ja, Hauptmann«, antwortete der Mann. »Ich habe zumindest dabei geholfen. Wenn Ihr es unbedingt wissen müsst: Ich habe dem alten Grafen persönlich das Totenhemd angelegt.«
Blitzte da hinter der tonlosen Stimme und dem ausdruckslosen Gesicht so etwas wie Zorn auf? 298 »Sollte ich deshalb den Schwertmeister fragen, oder ist das Euer... Zuständigkeitsbereich?« Kethol wusste es selbst nicht, aber das wollte er nicht zugeben. Unwissenheit zuzugeben war im Augenblick ein Luxus. Pirojil hatte gesagt, sie müssten aussehen und sich verhalten, als wüssten sie, was sie taten, und nun ehrlich zu erklären, dass er wirklich keine Ahnung hatte, wofür er zuständig war und wofür nicht, schien nicht angemessen zu sein, ebenso wenig wie ehrlich zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, wonach er hier suchte. »Ja«, sagte er also. »Aber nicht vor Sonnenuntergang; nur für den Fall, dass meine Kameraden sich hier noch ansehen wollen, was ich gefunden habe.« »Ja, Hauptmann.« Ereven fragte nicht, was es denn war, das Kethol gefunden hatte, oder ob die beiden Leichen, die dort auf dem Bett lagen, ihn nicht störten. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ließ Kethol mit den Toten allein. Der Söldner warf einen letzten Blick auf Lady Mondegreen, deren bleiches Gesicht im Tod vollkommen gelassen aussah. Wie hatte sie den Schmerz der Klinge spüren können, ohne davon aufzuwachen? Sie sollte hier mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen liegen, die Züge vor Angst verzerrt, und nicht aussehen, als schliefe sie nur. Kethol wischte sich die feuchten Augen und sagte der Lady lautlos Lebewohl. Verflucht, dieser Staub war wirklich widerwärtig.
14
Pläne
Milo und der Zwerg betraten die Große Halle widerstrebend und mit nervösen Seitenblicken zu den Adligen auf der anderen Seite - die sich ihrerseits umdrehten und zurückstarrten - und blieben dann unter dem Bogen stehen. Sie sahen sehr danach aus, als wären sie lieber an jedem anderen Ort - nur nicht hier. Pirojil teilte diese Empfindung vollkommen. Er stand auf und bedeutete Baron Viztria, sitzen zu bleiben, wo er war - auf dem einzigen anderen Sessel an der kleinen Feuerstelle, auf dem jemand saß -, und ging auf Milo und den Zwerg zu, die nervös von einem Fuß auf den anderen tretend dastanden und warteten. Dieses eine Mal beschwerte sich Viztria nicht, obwohl er während Pirojils Verhör beinahe ununterbrochen vor sich hin gemeckert, darüber hinaus aber, soweit Pirojil sagen konnte, nicht die geringsten nützlichen Informationen geliefert hatte. Viztria behauptete, er habe den gesamten Abend - darunter das Abendessen, »das den Umständen entsprechend angemessen war, obwohl das Fleisch entschieden zu lange gekocht war und es nicht genug Knoblauch auf der Welt gibt, um den Geschmack eines Lamms zu dämpfen, das eigentlich schon fast zum Hammel herangewachsen ist« - in angenehmem Gespräch mit den anderen in der Großen Halle verbracht. Später hatten sie dann die Entscheidung von Morray und
Verheyen, ihre Streitigkeiten zu begraben, gefeiert, und es war zu vielen erleichterten Trinksprüchen 300 gekommen. »Trotz der schlechten Ausbildung der Diener, die dazu führte, dass die Dummköpfe den Wein nicht einmal ordentlich dekantiert hatten - und man sollte lieber auch nicht erwähnen, dass der Weinkeller des Grafen insgesamt nicht der beste ist, aber das darf man hier mitten im Nirgendwo wohl nicht übel nehmen.« Später, so erklärte Viztria Pirojil, war er zusammen mit Langahan zu den Gästezimmern hinaufgegangen - vorbei an dem vollkommen wachen Wachposten, und es würde eine gewisse Person in Krondor zweifellos sehr interessieren, dass die Wachen in LaMut dazu neigten, auf ihrem Posten einzuschlafen -, über diese nackten Steinstufen, die man natürlich nur in der Provinz nicht mit einem Teppich bedeckte, dann den Flur entlang in die Suite, die er mit Baron Langahan teilte. Viztria hatte dann sein eigenes Schlafzimmer betreten, nachdem er den Aborterker für einen der Zwecke benutzt hatte, für die er vorgesehen war, und da ein gewisser unverschämter Titular-Hauptmann offenbar alle Einzelheiten über Dinge wissen wollte, die ihn nichts angingen: Ja, Baron Viztria hatte in der Tat gepisst wie ein Rennpferd. Und ohne dass Pirojil noch einmal nachfragte, fügte der Baron hinzu: »Und falls der Hauptmann noch weitere Informationen benötigt, der Name >Viztria< ist eine Zusammenziehung eines alten delkianischen Ausdrucks, der >dunkle Schlange< oder >schwarze Schlange< bedeutet, ein Spitzname des Gründers der Familie, der sich sowohl auf die relativ dunkle Hautfarbe dieses Mannes bezieht, die ich, der gegenwärtige Baron Viztria, nicht vollkommen geerbt habe, als auch auf andere beeindruckendere anatomische Charakteristika, die ich ganz sicher geerbt habe - danke der Nachfrage -, weshalb ich bei der Königlichen Heraldik-Gilde einen Antrag eingereicht habe, eine schwarze Python zu meinem Wappen hinzufügen zu dürfen!« Pirojil nickte schweigend. Nachdem er sich erleichtert hatte, war Viztria in sein Schlafzimmer gegangen und hatte sich schneller seiner Kleidung entledigt, als es selbst die fünfzehnjährige Tochter eines Adligen aus Rillanon mit ihrem ersten Ballkleid in einer geschlossenen Kutsche schaffen würde, und war eingeschla301 fen, sobald sein Kopf das Kissen berührte, und falls es nun keine weiteren beleidigenden Fragen gab, wäre es ihm sehr recht, wenn der Hauptmann nun einen anderen beleidigen würde ... Pirojil war ziemlich erleichtert, Viztria hinter sich lassen zu können, und winkte Milo und dem Zwerg zu, ihm in eine Nische der Großen Halle zu folgen. In der Nische stand ein Tisch, den die Diener benutzten, wenn der Graf einen Empfang veranstaltete, aber im Augenblick war sie ansonsten leer. »Du hast nach uns geschickt, Hauptmann?«, fragte Milo, als ob da noch eine Unklarheit bestünde. »Wenn er es nicht war, dann gibt es da einen Soldaten, dem demnächst ein paar Zähne fehlen werden«, sagte Mackin. »Ja, ich habe nach euch geschickt.« Pirojil lehnte sich gegen den Tisch. »Ich habe Zeit bis zum Mittag, um diesen Adligen Fragen zu stellen -« »Über die Morde?«, fragte der Zwerg.
»Nein, über ihre Lieblingsblumen.« Milo brachte seinen Kameraden mit einem kurzen Schlag auf den Hinterkopf zum Schweigen. Mackin wollte gerade gegen diese Behandlung Einspruch erheben, als Pirojil sagte: »Ja, über die Morde. Ihr habt also davon gehört?« »Scheiße, Hauptmann«, sagte Mackin, »das hat doch jeder gehört, sogar diese armen Schweine, die da draußen im Schnee rummarschieren, nachdem Kelly und seine Männer einen Trupp von ihnen heute früh aus dem Tor hinausgescheucht haben.« Milo nickte. »Ja. Wir haben gehört, dass sie dich und die beiden anderen damit beauftragt haben herauszufinden, wer die zwei ins Jenseits befördert hat.« Sein Lächeln schien beinahe echt. »Besser ihr als ich, wie?« »Ja, das habt ihr richtig gehört.« »Nun, es kommt mir so vor, als solltet ihr lieber schnell arbeiten, denn die Morrays kennen ihren Kandidaten bereits, und die Verheyens können sich noch nicht so recht entscheiden, ob sie sich in die Hose scheißen oder wütend werden sollen.« Er rieb Dau302 men und Zeigefinger gegeneinander. »Und ein paar andere haben ebenfalls eine tote Lady und einen toten Kämmerer zusammenzählen können und angefangen, sich Gedanken zu machen, ob unsere edlen Auftraggeber wohl zu dem Schluss kommen werden, dass es leichter ist, unsereinen umzubringen als auszubezahlen.« Pirojil hob die Hand. »Darüber braucht ihr euch keine Gedanken zu machen«, sagte er. »Darum kümmert sich jemand.« Ein Offizier musste in der Lage sein, seine Männer anzulügen und ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung war. Wie man mit dem Problem der Schatzkammertür umging und wer sich darum kümmerte, war im Augenblick für Pirojil zweitrangig, obwohl es schon praktisch wäre, wenn Kethol zufällig in Baron Morrays Gemächern den magischen Satz fände, der einem Zugang zur Schatzkammer verschaffte. Der Graf von LaMut und sein Vorgänger waren keine Idioten gewesen und hatten sicher Vorsichtsmaßnahmen für den Fall getroffen, dass die wenigen Mitwisser des Zauberspruchs getötet würden, und hatten sicher einen Plan, um mit solchen Situationen fertig zu werden. Pirojil gefiel seine eigene Theorie, dass der Zauberspruch irgendwo in Baron Morrays Gemächern aufbewahrt wurde, obwohl er ihn vermutlich nicht mal erkannt hätte, wenn er ihn direkt vor der Nase hatte, und er hätte ihn auch nicht ausprobieren wollen, selbst wenn er ziemlich sicher war, dass er den Richtigen erwischt hatte. , Wahrscheinlich würde der Schwertmeister wissen, wo sich dieser Spruch befand, aber es war noch wahrscheinlicher, dass Steven Argent es nicht sonderlich zu schätzen wüsste, wenn man ihn darauf ansprach, denn im Augenblick war das Bezahlen der Männer sicher nicht sein größtes Problem. Pirojil wandte sich an den Zwerg. »Mackin, ich möchte, dass du die Hauptleute zusammenbringst - alle - und dir von jedem in allen Einzelheiten beschreiben lässt, was sie gestern Abend und gestern Nacht gemacht haben.« »Geht nicht.« Mackin schüttelte den Kopf. »Vier von ihnen sind draußen vor der Stadt.« 303
»Dann hol den Rest zusammen, auf meinen Befehl - und jeder, der damit Probleme hat, kann direkt zum Schwertmeister gehen. Ich denke, das wird sie dazu bringen, sich anständig zu benehmen. Sie können runter zu dir in den Kerker kommen. Tom Garnett bewacht dort unten Erlic, und ich hätte sie gerne alle dort.« »Hauptleuten Befehle geben, wie?« Der Zwerg grinste übermäßig breit. »Daran könnte ich mich gewöhnen.« »Lieber nicht.« Milo neigte den Kopf leicht zur Seite. »Und ich?« »Warte einen Moment. Mackin, wieso steht du noch hier?« Der Zwerg warf Pirojil einen langen Blick zu, der förmlich heraus- schrie, dass sie darüber noch sprechen würden, später und unter vier Augen, und dass Pirojil die Ergebnisse dieser Diskussion nicht gefallen würden. Pirojil hatte genug leere Drohungen gehört, um nicht darauf zu reagieren. Mackin zuckte mit den Achseln und ging davon. In Pirojils Hinterkopf begann sich eine Idee herauszubilden. Aber zunächst musste er -. »Also?«, fragte Milo, nachdem der Zwerg weg war. »Wird Mackin alleine mit den Hauptleuten fertig?« »Woher soll ich das wissen?« Milo schüttelte den Kopf. »Es ist schließlich nicht so, als würde er sich mit diesen Dingen auskennen, Pirojil. Das Gleiche gilt auch für mich, und -« »Und ebenso für mich, Durine und Kethol. Du hast wirklich einen guten Blick für das Offensichtliche. Also: Zum einen kannst du zu Mackin gehen, ihm bei den Hauptleuten helfen und dafür sorgen, dass er keinen Streit anfängt. Bringt sie dazu, über das zu reden, was letzte Nacht passiert ist. Wenn du denkst, dass er den Bogen raus hat, kommst du wieder rauf und hilfst mir mit den Adligen - sieh zu, ob du aus Viztria noch etwas Nützliches herausholen kannst; mir ist das nicht gelungen.« Um die Mundwinkel des Söldners begann es zu zucken. »Also gut. Nicht, dass ich wüsste, was ich fragen soll.« »Glaubst du denn, ich weiß es?« Milo lächelte. »Man kann schließlich immer hoffen.« Das Lä304 cheln wurde dünner. »Du sagtest >zum einen<. Das lässt vermuten, dass es noch etwas anderes gibt.« Pirojil nickte. »Ich ... ich muss dich etwas fragen.« »Ich weiß nicht, ob mir dieses Zögern gefällt. Du warst die letzte Zeit nicht so schüchtern.« »Dann werde ich eben direkt sein: Wieso sind sie hinter dir her?« Milos Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Ich glaube schon, dass du das weißt. Ich glaube, dass ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt ist, und zwar hier, und ich möchte wissen weshalb.« Er schnaubte. »Ganz bestimmt nicht wegen Mord, das kann ich dir sagen. Immer vorausgesetzt, dass tatsächlich irgendwo Geld auf meinen Kopf ausgesetzt wäre, hier oder anderswo. Was selbstverständlich nicht der Fall ist.« »Schön, du wirst hier also nicht gesucht, und ich verspreche, dich zu warnen, wenn ich den Wachtmeister das nächste Mal sehe -der übrigens wahrscheinlich immer
noch in Kernat eingeschneit ist. Aber wenn es ein Kopfgeld gäbe, wofür könnte es sein?« »Keine Ahnung.« Milo zuckte mit den Achseln. »Aber wenn ich raten sollte, wie jemand anders in eine solch missliche Lage gekommen sein könnte ...« Pirojil nickte. »Selbstverständlich. Jemand anders.« »Nun, es könnte sein, dass dieser Mann einen anderen, äh, Beruf hatte, als er noch jünger und dümmer war. Einen, der sich erheblich mehr lohnte als die Söldnerarbeit - nehmen wir mal an, er war ein Dieb. Vielleicht ist er ja vor vielen Jahren gerade noch rechtzeitig aus der Stadt herausgekommen und musste zu schnell verschwinden, um die Beweise mitnehmen zu können. Und vielleicht hat er festgestellt, dass sein Beruf sich anderswo ebenfalls lohnte, und hat noch ein paar neue Kunstgriffe seines Handwerks gelernt. So etwas könnte doch passieren.« »Ja, schon möglich.« Pirojil nickte. »Aber wieso würde ein solcher Mann hierher zurückkehren?« 305 »Weiß ich nicht.« Milos Schulterzucken war zu lässig. »Wahrscheinlich würde er das ja nicht tun. Ich wäre jedenfalls nicht so dumm.« »Aber wir reden ja auch nicht über dich, sondern über diesen anderen Burschen.« »Na ja ... vielleicht hat er sich bei Ausbruch des Krieges daran erinnert, dass er einmal ein Zuhause und eine Heimat hatte.« Milo schluckte angestrengt, obwohl sich seine ruhige Miene nicht veränderte. »Vielleicht hat er sich an diese Dinge erinnert, obwohl das alles lange her war, und vielleicht - nur vielleicht - wollte er ja einen oder zwei oder vielleicht ein paar Dutzend von den Mistkerlen umbringen, die in seine Heimat eingedrungen waren. Und vielleicht konnte er nicht einfach auftauchen und regulärer Soldat werden und in die Kaserne der gleichen Stadt einziehen, die er einmal so ... eilig verlassen hatte.« »Nein, ich verstehe, dass das nicht möglich wäre.« Milos Blick ging ins Leere. »Aber er könnte immer noch etwas gegen die TsuraniInvasion unternehmen wollen, selbst wenn er nicht viel ausrichten kann - immerhin war er nur ein einzelner Mann, und das Einzige, was er wirklich gut konnte, half überhaupt nicht gegen die Feinde.« Wieder zuckte er mit den Achseln. »Aber ich würde natürlich nichts weiter darüber wissen.« »Selbstverständlich nicht«, sagte Pirojil. »Und selbst wenn, dann hätte das auch nicht viel zu bedeuten, wenn man bedenkt, dass der Wachtmeister nicht in der Stadt ist und es vermutlich ohnehin in LaMut niemanden mit einer solchen Vorgeschichte gibt.« »Ich hatte gehofft, dass du das so sehen würdest, Hauptmann«, sagte Milo, und in seiner Stimme lag eher eine Drohung als Hoffnung. »Diese nicht existierende Person - ich frage mich, an welchen Baron er wohl lehengebunden war ... doch nicht an Baron Morray oder einen anderen?« Milo schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht annehmen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dieser Bursche ist ein Städter, der in LaMut oder einem Städtchen in der Nähe auf306 gewachsen ist und nicht auf dem Landsitz eines Barons.« Er blickte zu Pirojil auf. »Nicht mehr als du oder ich.«
Pirojil nickte. »Das denke ich auch. Du solltest jetzt lieber zu Mackin gehen und ihm helfen, die Hauptleute zusammenzubringen und mit der Befragung anzufangen, und dann kommst du wieder rauf und siehst, was du noch aus Viztria rausholen kannst, während ich mich um Langahan kümmere.« »Das wird mehr Spaß machen, als über dieses andere Thema zu reden.« Milos Laune war wieder besser geworden. »Also in den Kerker«, sagte er. »Ich hatte nie viel für Gefängnisse übrig, aus welchem Grund auch immer, aber ich nehme an, solange ich auf der richtigen Seite der Gitter bleiben kann, ist das in Ordnung. Denkst du, die Hauptleute könnten irgendwas Brauchbares wissen?« »Nein.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle das stark, und selbst wenn sie etwas wüssten, würden sie es dir ebenso wenig erzählen wie mir. Aber man weiß ja nie - und ich habe später vielleicht noch etwas anderes für dich.« »Weißt du ...« Milo seufzte. »Ich hatte schon befürchtet, dass du so etwas sagen würdest.« Durine traf Kethol noch in den Räumen an, die einmal Baron Morrays Suite gewesen waren. Der Schreibtisch des Barons im Wohnzimmer hätte der Zwilling des Schreibtischs unten im Keller sein können. Die Bücher, die dort aufgestapelt waren, hätten die gleichen sein können, die er auf dem Schreibtisch des Barons unten gesehen hatte sie waren es vielleicht auch; es war unwahrscheinlich, dass der Baron zwei unterschiedliche Reihen von Hauptbüchern führte -, und sie lagen an der gleichen Stelle, auf der vorderen rechten Schreibtischecke. Durine glaubte allerdings nicht, dass Morray die Feder und das grün gefleckte Tintenfass von unten mitgenommen hatte, und auch diese Utensilien standen genau an der gleichen Stelle wie ihre Gegenstücke im Keller, und entweder war die kunstvolle Öllam307 pe aus Messing und Glas identisch mit der, die auf dem Schreibtisch in dem kleineren Büro vor der Schatzkammer stand, oder sie war hierher gebracht worden, und das Erstere schien wahrscheinlicher. Selbst der Holzstuhl mit der geraden Lehne sah genauso aus wie der im Keller. Durine nickte. Baron Morray hatte die Dinge eben so haben wollen, und es war nur vernünftig, dass seine Arbeitsumgebung im Keller und in seiner Suite gleich eingerichtet war. Es überraschte Durine auch nicht, dass der Baron seinen Willen bekommen hatte. Aber hatte er den auch am Ende bekommen? War es wirklich sein Wunsch gewesen, die Gelegenheit, Graf zu werden, gegen die Sicherheit einer Heirat mit Lady Mondegreen einzutauschen? Schon möglich. Und wenn das der Fall war, dann hatte er keinen sonderlich guten Handel abgeschlossen, jedenfalls nicht nach Durines Ansicht. Andererseits, wenn ihn sowieso jemand umbringen wollte, hatte er wenigstens noch eine letzte Nacht mit seiner Lady gehabt und nicht eine letzte Nacht, in der er hoffte, irgendwann einmal Graf von LaMut zu sein. »Hast du was Interessantes gefunden?«, fragte Durine Kethol. »Interessant? Meinst du einen Brief, in dem steht: >Ich habe Baron Morray und Lady Mondegreen umgebracht, ha ha ha<, mit Unterschrift und Siegel darunter?«
»Das wäre wirklich interessant, aber ich hatte eher an etwas Subtileres gedacht.« Kethol musste wirklich erschüttert sein; normalerweise neigte er nicht zu Sarkasmus. Durine verstand das nicht so recht. Morray und Lady Mondegreen waren einfach noch zwei Tote mehr; er war daran gewöhnt, dass Leute starben, und das sollten Pirojil und Kethol eigentlich auch sein. Aber das war das Problem, wenn man anfing, Leute lieb zu gewinnen. Sie waren genau wie Pferde, Kühe und Schweine nur Säcke aus Fleisch, und Fleisch verdarb früher oder später. Wenn man 308 sich schon auf etwas verlassen musste, dann war Metall stets die bessere Wahl als Fleisch, sei es nun Gold oder Stahl. Kethol ließ sich auf den Stuhl des Barons fallen und fing an, die Schubladen zu durchsuchen. »Nein, ich habe nichts Interessantes gefunden.« Er holte einen kleinen, prall gefüllten Lederbeutel aus der Schublade und kippte ihn aus. Silberreals und ein paar kleine Goldmünzen fielen auf die Schreibtischplatte. Kethol steckte sie wieder in den Beutel und legte ihn zurück in die Schublade. Durine ging zum Bücherschrank und holte einen Band heraus. Er blätterte ihn durch, aber er kannte die Sprache nicht, obwohl die Buchstaben vage elfisch aussahen. Vorsichtig legte er das Buch auf den Teppich, dann holte er das nächste heraus. »Was machst du denn da?« Durine zuckte mit den Achseln. »Na ja, es könnte doch sein, dass der Zauberspruch auf einem Papier steht, das er in eins dieser Bücher gelegt hat.« »Musst du das unbedingt jetzt machen?« Durine ignorierte Kethol. Es hatte keinen Sinn, sich zu streiten, und im Augenblick konnte er sonst nichts Nützliches tun. Pirojil hatte gewollt, dass er die Wahrheit aus Erlic herausprügelte, aber der Mann war schon vollkommen schlaff vor Scham und Selbsthass, und auch mit Prügeln hätte Durine aus dem armen Schwein nichts weiter herausbekommen als die gleiche Geschichte wie zuvor. Durine hatte nichts dagegen, Leute umzubringen oder ihnen weh- zutun, aber er brauchte keine zusätzliche Übung mehr. Er hätte überhaupt nichts dagegen gehabt, seine Techniken an ein paar Adligen auszuprobieren - dieser Baron Viztria würde seiner Ansicht nach mit weniger Zähnen erheblich besser aussehen -, aber selbst mit seiner derzeitigen Autorität würde er damit wohl nicht durchkommen, und herauszuarbeiten, was an den Äußerungen anderer wahr war und was nicht, war Pirojils Spezialität und nicht seine oder Kethols. Wahrscheinlich hätte er sich die Leichen ansehen können, aber er hatte schon öfter Leichen gesehen, und es kam ihm recht un309 wahrscheinlich vor, dass er etwas entdecken würde, was Kethol entgangen war falls es denn überhaupt etwas zu entdecken gab. Der Mörder würde ja wohl kaum seinen Namen in die Haut seiner Opfer geritzt haben, ebenso wenig, wie er ein schriftliches Geständnis hinterlassen hatte. In diesem Zimmer befand sich vermutlich mehr Wohlstand als in einigen Beuteln in der Schatzkammer, obwohl es schwierig sein würde, es in Bargeld umzusetzen,
und Durine konnte sich irgendwie nicht vorstellen, dass sie ihren Pferden Säcke mit Büchern aufladen würden, wenn sie weiterritten. Dennoch, er arbeitete sich weiter durch den Bücherschrank. Falls der Zauberspruch in einem der Bücher verborgen war, hatte Morray ihn vielleicht auch direkt hineingeschrieben. Aber das war eher unwahrscheinlich. Wenn Pirojil so etwas organisiert hätte, hätte er etwas Schlaues getan - zum Beispiel den Zauberspruch in ein Dutzend Teile geteilt und mehrere davon einem Baron gegeben, sodass drei oder vier von ihnen den gesamten Spruch zusammensetzen konnten -, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass die Adligen von LaMut weniger schlau waren als Pirojil oder etwas so Wertvolles herumliegen ließen, damit ein Diener, der die Gemächer des Barons aufräumte, es schnell finden würde. Er war gerade halb mit dem Schrank fertig, als er bemerkte, dass Kethol ihn wütend anstarrte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du auch etwas Nützliches tun könntest?« Durine zuckte mit den Achseln. »Sicher. Wenn du mir eine Vorstellung davon gibst, was das sein könnte.« »Du könntest mir zum Beispiel mit diesem Schreibtisch helfen.« Durine zuckte erneut mit den Achseln. »Ich würde dir gerne helfen, den Schreibtisch des Barons zu durchsuchen oder seine Kleidung oder was auch immer - aber ich weiß nicht einmal, wonach ich suche, selbst wenn ich es vor mir habe.« Andererseits ... Baron Morrays Schwertgurt hing an einem Ha310 ken an der Wand. Der Dolch steckte noch in der Scheide. Durine glaubte nicht wirklich, dass der Baron sich erst selbst die Kehle durchgeschnitten und dann Lady Mondegreen getötet hatte, aber ... Er zog das Rapier. Eine nette Waffe, obwohl der Griff eindeutig zu klein war für Durines große Finger, und er hätte auch einen größeren Handschutz bevorzugt und einen polierten statt einen mit tief eingravierten Schnörkeln, die die Oberfläche von diesem hier bedeckten. Aber die Geschmäcker waren eben verschieden. Die leichte, schmale Klinge war gut geölt und zeigte keine Spur von Rost, und die Spitze war scharf genug, dass man einen Splitter damit hätte herausholen können. Er packte die Klinge mit der linken Hand, wobei er den Armeistoff zu Hilfe nahm, wenn auch mehr, um den Stahl vor der Feuchtigkeit seiner Finger zu schützen als die Finger von der Schneide, und stellte fest, dass die Waffe sich gut bog und federte. Nicht die Art Waffe, mit der Durine in eine Schlacht ziehen wollte - selbst wenn man die Schneide schliff, hatte die leichte Klinge nicht genug Gewicht, um bis auf den Knochen durchzudringen -, aber es war eine schöne Duellwaffe. Er steckte das Rapier wieder ein und zog den Dolch. Der Griff war mit der gleichen grünlichen Drachenhaut bezogen, und die Schnörkel auf dem Messinggriff passten zu denen auf dem Handschutz des Rapiers. Aber der Dolch war schwer, gut ausbalanciert und scharf genug, dass sich Durine damit die Haare vom Arm rasieren konnte. Und es war absolut kein Blut daran zu erkennen, kein frisches und auch kein getrocknetes. Er hielt ihn hoch. »Hätte der Mörder das hier verwendet haben können?«
Kethol blickte von der Schreibtischschublade auf, die er gerade durchsuchte, und sein gereizter Blick wurde rasch friedlich. »Kann schon sein. Scharf?« 311 »Sehr.« Durine zeigte mit der Dolchspitze auf die nun haarlose Stelle an seinem Unterarm. Er fuhr mit dem Daumennagel an der Schneide entlang und konnte nur spüren, wie der Stahl leicht in den Nagel schnitt, aber keine kleinen Kerben und erst recht keine größeren. »Ist noch nie benutzt worden, um irgendwas damit zu hacken.« Kethol schüttelte den Kopf. »Aber das hat nichts zu bedeuten. Der Mörder hat ihnen die Kehlen sehr ordentlich durchgeschnitten.« »Keine Wunden an den Armen? Seltsam, man sollte denken, dass das zweite Opfer aufgewacht ist, als das erste getötet wurde.« Kethol nickte. »Ich habe einmal einen Wachposten umgebracht, während sein Kamerad ganz in der Nähe schlief, und -« »Dungaran?« »Nein. Semrick, wenn ich mich recht erinnere, oder vielleicht auch Maladon. Nach einer Weile verschwimmt das alles miteinander. Aber wie ich sagte, ich bin ziemlich gut, und er hat sich nicht gerührt, bis das Messer durch seine Kehle war, aber dann hat er noch genug um sich geschlagen, um den zweiten Mann zu wecken, und mit dem musste ich mich ziemlich beeilen.« »Vielleicht haben Lady Mondegreen oder der Baron sehr tief geschlafen?« »Kann schon sein.« Kethol schien allerdings nicht überzeugt zu sein. »Es gab entweder zwei Mörder, und sie haben es hervorragend aufeinander abgestimmt, oder der Mörder war sehr, sehr schnell. Wenn einer von ihnen im Tod um sich geschlagen hätte, hätte das nicht gestört, wenn das andere Opfer schon tot gewesen wäre. Aber das würde gewaltiges Tempo erfordern.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich würde sagen, von den Baronen sind Verheyen und Langahan die schnellsten, nachdem ich gesehen habe, wie sie vorgestern Abend mit Steven Argent gekämpft haben. Verheyen ist vielleicht sogar noch eine Spur schneller als der Schwertmeister.« »Nun ja, er ist auch jünger.« Nicht, dass es bei diesem Übungs312 kämpf einen großen Unterschied gemacht hätte. Geschwindigkeit war eine gute Sache, aber Steven Argent hatte mehr Jahrzehnte der Übung im Handgelenk als Verheyen. Was eine hässliche Möglichkeit nahe legte. »Du glaubst doch nicht, dass es der Schwertmeister war?« »Nein.« Kethol lehnte sich zurück. »Daran hatte ich nicht gedacht. Wieso sollte er so etwas tun?« »Nun, es gibt Gerüchte, dass auch er es mit Lady Mondegreen getrieben hat.« »Es gibt so viele Gerüchte.« Kethol schüttelte den Kopf. »Wenn man den Gerüchten glaubt, hat die Lady für jeden Adligen in der Grafschaft die Beine breit gemacht. Aber ich glaube das nicht.« »Ich auch nicht.« Durine nickte. Man konnte niemals vollkommen sicher sein, aber ihm gefiel Pirojils Theorie, dass Lady Mondegreen sich ihre Geliebten sorgfältig wegen ihrer äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Ehemann ausgesucht hatte, der sie nicht schwängern konnte - immerhin erklärte das ihre Affären mit Morray und
Argent, und wenn sie willig gewesen war, sich auch mit einfachen Leuten einzulassen, kämen mehr Kandidaten zusammen, als Durine zählen könnte. Aber ... »Nicht alle Zimmer haben nach Patschuli und Myrrhe gerochen. Argent ist vielleicht zu dem Schluss gekommen, wenn er sie nicht haben könnte, sollte sie auch sonst keiner haben.« Durine glaubte das nicht wirklich, aber solange er nur mit Kethol sprach, brauchte er seine Worte nicht auf die Goldwaage zu legen. Und außerdem war es eine Möglichkeit. Kethol dachte einen Augenblick nach - was offenbar sehr anstrengend war - und schüttelte dann den Kopf. »Aber hätte er es auf eine Art getan, die genau zu dem Aufstand führen könnte, den er so unbedingt vermeiden wollte?« Durine steckte das Messer wieder in die Scheide. »Wahrscheinlich nicht.« Er hielt nachdenklich inne. »Die Kehlen durchgeschnitten?« Kethol schüttelte vor Überraschung über diese Frage den Kopf. »Ich habe dir doch schon gesagt -« 313 »Nein. Nicht hier. Damals in Semrick oder Maladon oder wo auch immer.« Kethol begriff endlich und nickte. »Ja. Es gab eine Menge Blut, aber er hat immer noch um sich geschlagen und getreten wie ein abgestochenes Schwein, obwohl ich auch die Luftröhre erwischt hatte und er keinen Laut rausbrachte.« Durine nickte. Er hatte selbst Erfahrung in solchen Dingen und zog einen Stich in die Niere vor - der Schock des Schmerzes ließ das Opfer für gewöhnlich erstarren oder einen festen Schwertschlag in den Nacken, in der Hoffnung, die Wirbelsäule zu durchtrennen, aber über solche Dinge konnten sich Männer seiner Zunft stundenlang streiten. Und insgesamt kannte sich Kethol mit diesen Dingen besser aus als Durine. Was eine weitere, wirklich hässliche Möglichkeit nahe legte. »Ja. Du hältst das immer noch für wirkungsvoller als einen Stich von hinten?« Er versuchte, es wie ein typisches Fachgespräch klingen zu lassen, aber Kethol verstand es nicht so. »Gestern Abend warst du ungewöhnlich still.« Kethol stieß sich vom Schreibtisch ab und stand auf. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann raus damit. Wenn du denkst, dass ich... dass ich die beiden umgebracht habe, dann -« Durine hob die Hand. Er hatte nicht mehr Angst vor Kethol als vor jedem anderen, aber dennoch ... »Nein, nicht wirklich. Ich habe nie erlebt, dass du jemanden ohne Grund umgebracht hast, und ich kann mir nicht vorstellen, was für einen Grund du diesmal gehabt haben solltest. Eifersucht? Jeder konnte sehen, dass du von der Lady recht angetan warst, aber das ist kein Grund, sie umzubringen, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du Morray mochtest.« »Ich habe ihn zumindest respektiert.« Kethol nickte. »Wenn du mich also nicht des Mordes bezichtigen willst, was willst du dann damit sagen?« »Nicht viel. Mir ist nur aufgefallen, dass du gestern Abend sehr still warst, und ich frage mich, ob es etwas gibt, was du mir nicht gesagt hast.« 314 »Und wenn?«
»Dann sag es mir entweder jetzt oder nicht. Deine Sache.« Kethol schluckte. Dann setzte er sich wieder hin und begann zu erzählen. Durines Miene blieb ausdruckslos, während Kethol ihm leise berichtete, wie er diesen mythischen Tsurani-Späher mit Hilfe einer alten blauen Rüstung, eines toten Pferdes und seiner Brezeneden geschaffen hatte. Als er fertig war, nickte Durine. »Bisschen überschlau, aber es scheint funktioniert zu haben.« Er lächelte beinahe. »Klingt mehr nach Pirojil als nach dir. Er hatte damit nichts zu tun?« Kethol schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Zeit, mit einem von euch darüber zu reden. Der Gedanke kam mir, als wir alle auf dem Weg in die Unterstadt waren, und ich begriff, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich einen Kampf unterbrechen kann, außer indem ich alle umbringe, die damit zu tun haben. Ihr beiden könnt euch vielleicht erfolgreich als Offiziere ausgeben, aber das ist nicht meine Art. Also habe ich getan, was ich konnte.« Das hatte er wirklich, und Durine hielt Kethols Besorgnis, dieser einzelne angebliche Späher im Winter könnte die gesamte Strategie des Königreichs durcheinander bringen, für übertrieben. Die Hauptleute hatten zwar darüber gesprochen, aber die Adligen, die den Krieg führten, waren an Berichte aus den unteren Rängen gewöhnt, in denen Dinge übertrieben wurden - wie eine Einheit, die schwere Gegenwehr meldete, was für gewöhnlich bedeutete, dass sich zwei Einheiten Tsuranis auf der nächsten Anhöhe befanden, vielleicht sogar eine Kompanie, aber keine Legion. Der Bericht über den Späher hatte die Hauptleute ebenso verblüfft wie Durine. Aber die Herzöge und die höheren Offizier würden diesen Bericht einfach nur zu anderen hinzufügen, und selbst wenn sie wirklich an die Existenz eines solchen Spähers glaubten, würden sie nicht wegen eines einzigen Vorfalls anord315 nen, dass sich die gesamten Streitkräfte von zwei Herzogtümern auf einen Angriff in Richtung LaMut vorbereiteten. Wenn die Herrscher des Königreichs so voreilig wären, dann hätten sie sich nicht so lange gegen die Tsuranis wehren können. »Aber diese Brezeneden«, sagte Durine. »Das klang interessant. Glaubst du, wir könnten deine, die du vergraben hast, wiederfinden?« Kethol nickte. Selbstverständlich war das möglich. Niemand sonst hätte einen weiteren Buckel im Schnee bemerkt, aber er hatte bewusst eine Stelle genau zwischen zwei Bäumen ausgewählt, nur für den Fall, dass er die Schneeschuhe später noch einmal brauchte, und Kethol konnte sich an einen Baum so gut erinnern wie an ein Gesicht. »Und du könntest vielleicht noch ein Paar oder zwei herstellen?« Kethol nickte. »Aber -« Die Mittagsglocke läutete. »Wir sollten lieber rauf in den Adlerhorst gehen und hören, was Pirojil herausgefunden hat. Es sei denn, du glaubst, dass es hier noch weitere >Spuren< gibt, oder du weißt jemanden, aus dem ich etwas herausprügeln könnte?« Kethol schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann los«, sagte Durine und machte eine fegende Bewegung mit den Fingern. »Ich muss noch zum Abort, und dann komme ich nach.« Er hob warnend den Finger.
»Du kannst Pirojil von den Brezeneden erzählen, aber sprich nicht über diese andere Sache«, sagte er. »Er hat schon genug im Kopf, und wir wissen, dass es da oben Geheimgänge gibt - die Wände könnten Ohren haben.« Kethol erwähnte die Sache mit dem Tsurani-Späher nicht, aber das hätte er ebenso gut gleich tun können, sobald er von den Brezeneden erzählte. Pirojil lehnte sich zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet, und nickte dann. Sehr schlau, formte er mit den Lippen. Dann fügte er leise hin316 zu: »Wenn wir hier fertig sind, könntest du dann drei neue Paare herstellen? Und wie lange würde das dauern?« Durine hatte das Gleiche gefragt. Kethol nickte. »Nicht lange. Ein paar Stunden vielleicht.« Es gab unten im Keller, wo alle erdenklichen Dinge für den Fall einer Belagerung aufbewahrt wurden, sicher genug Holz und Leder, und falls er keine passenden Schnüre fand, konnte er sie immer noch aus einer Kuhhaut schneiden. Der Offiziersraum, den man ihnen nach ihrer Beförderung in der Unterkunft zugewiesen hatte, hatte eine kleine Feuerstelle, und der Teekessel würde genügend Dampf liefern, um das Holz zu biegen. Die Brezeneden würden vielleicht nicht so elegant sein wie die, die der Pfadfinder hergestellt hatte, aber es war möglich. Er brauchte nur die passenden Holzleisten, musste sie zurechtbiegen und dann das Netz aus Lederschnüren knüpfen. »Warum?« »Aus dem offensichtlichen Grund.« Pirojil nickte. »Ich denke, es wäre vielleicht eine gute Idee, LaMut zu verlassen, bevor der Schnee schmilzt, jetzt, da es warm genug ist, sich längere Zeit draußen bewegen zu können, und -« Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Aber ich lasse mich ablenken. Was hast du in Lady Mondegreens Zimmer gesehen?« Kethol erzählte es ihm so genau, wie er konnte. Pirojil unterbrach ihn nicht, außer um ihn zu bitten, etwas noch näher zu erklären. Nicht, dass es viel zu erklären gab: Die beiden Toten waren tot, sie waren von jemandem getötet worden, der schnell war und mit der Waffe umgehen konnte, und nichts, was Kethol gefunden hatte, erinnerte auch nur vage an eine Spur. Fantus schien den Bericht jedoch zu genießen; er war kurz nach Kethol aufgetaucht, und Kethol hatte nicht einmal gesehen, aus welcher Richtung er gekommen war. Nicht, dass das zählte; Kethol zog einfach sein Messer und kratzte damit die Augenwülste des Drachen, während er weitersprach, und Fantus reckte den Hals und schmiegte sich gegen Kethols kraulende Bewegung. Ein Feuerdrache war eigentlich recht angenehme Gesellschaft, obwohl Kethol nie zuvor von ei317 nem zahmen gehört hatte. Wenn sie jemals ihre Schänke zu den Drei Schwertern bekommen würden, würde er versuchen, einen zu fangen und zu zähmen. Aber die Gedanken an diesen noch weit in der Ferne liegenden Tag hielten ihn nicht davon ab, weiter Bericht zu erstatten. Erst, als es an der Tür klopfte, verstummte er. »Ja?«
Ereven kam mit einem Tablett herein. Wie er den Türknauf bediente, obwohl er die Hände voll hatte, war Kethol ein Rätsel, aber er fragte nicht. Jeder Beruf hatte das Recht auf ein paar Geheimnisse. »Ihr habt darum gebeten, das Mittagessen hier einzunehmen?«, fragte Ereven, und nur ein Hauch von Missbilligung darüber, dass diese Eindringlinge die Gemächer des Schwertmeisters wie ihre eigenen benutzten, schwang in seiner Stimme mit. »Ja, und ich habe auch nach Mackin geschickt.« »Der Zwerg, Sir?« »Ja, der Zwerg. Sorgt bitte dafür, dass er hier herauffindet.« »Jawohl, Sir.« Durine kam herein, als der Oberste Diener gerade wieder ging, und setzte sich neben die Feuerstelle. »An diese Bequemlichkeit könnte ich mich gewöhnen«, sagte er. »Schade.« »Ja.« Pirojil zwang sich zu einem Lächeln. »Wirklich schade.« Er griff nach einem Stück Brot mit Fleisch und kaute einen Augenblick nachdenklich. »Also gut, ich -« Es klopfte erneut an der Tür, und Mackin kam herein, ohne auf Erlaubnis zu warten. Er nickte Kethol und Durine knapp zu und baute sich dann vor Pirojil auf. »Ich gehe davon aus«, sagte Pirojil, »dass der Schwertmeister immer noch mit den anderen unten ist.« Mackin nickte. »Da er offensichtlich nicht hier ist, ist diese Schlussfolgerung kein sonderlich bestechender Beweis deiner Klugheit.« »Nein, aber dass ich außerdem noch weiß, dass du weißt, dass er nicht hier ist denn sonst wärst du nicht einfach so hier herein318 gestürmt -, ist schon überzeugender, oder?« Da Pirojil saß, war er beinahe auf Augenhöhe mit dem Zwerg. »Und Milo redet immer noch mit den Adligen?« Mackin nickte. »Ja. Er ... als ich ihn zum letzten Mal sah, war er gerade dabei, sich intensiv mit Folson zu unterhalten, der sich offenbar nicht so sehr an all diesen Fragen stört wie die anderen. Obwohl alle ziemlich angespannt sind. Als Milo ein Weinglas fallen ließ, war jeder einzelne Adlige auf den Beinen, und mehrere Wachen kamen angestürzt.« Der Zwerg lächelte. Ihm gefiel es, dass die Adligen so nervös waren. »Hast du irgendwas Nützliches rausgefunden?« »Nein. Aber ich wusste natürlich auch nicht, wonach ich fragen sollte, wenn man mal von >Habt Ihr zufällig letzte Nacht ein paar Kehlen durchgeschnitten?< absieht. Hattest du wirklich etwas erwartet?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber ich habe noch eine Aufgabe für dich. Etwas, was du ganz sicher tun kannst.« »Ja?« »Hol eine Schaufel und überprüfe die Misthaufen unter jedem Aborterker. Du brauchst nicht allzu tief zu graben.« »Soll das ein Witz sein?« Der Zwerg fand das gar nicht komisch. »Wonach soll ich denn suchen?« »Nach einem blutigen Lappen oder Tuch - vielleicht nach einem Hemd. Ein Stück Stoff mit ein paar langen Blutstreifen darauf.« »Und du glaubst, dass ich es dort finden werde?«
Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Aber du wirst danach suchen, und du wirst hinterher sagen können, dass du danach gesucht hast. Wenn du fertig bist, komm wieder her und erstatte mir Bericht.« Er hielt einen Augenblick inne, fügte dann rasch hinzu: »Und wasch dich ein bisschen, bevor du zurückkommst.« »Und dann?« »Und dann kommst du mit Milo wieder zu uns dreien, wenn 319 wir die Adligen um den Tisch in der Großen Halle versammeln, und ...« »Und?« »Und ich den Namen des Mörders nenne.« Mackin sah aus, als wollte er etwas sagen, aber er starrte Pirojil nur einen Augenblick an und grinste schließlich. »Und alles nur, weil es auf den Misthaufen keine blutigen Lappen gibt?« »Mag sein«, erwiderte Pirojil. »Sagst du mir, um was es geht?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sage es nicht einmal Kethol und Durine. Sie werden es zur gleichen Zeit erfahren wie du.« Wieder kurzes Schweigen. »Damit kann ich eventuell leben. Eine Schaufel, wie?« »Geh.« Mackin ging. Als er die Tür schon erreicht hatte, sagte Pirojil: »Und wasch dir den Dreck ab, bevor du zurückkommst.« Über die Schulter rief Mackin zurück: »Ich habe mich schon ein bisschen gewaschen!« Dann verschwand er. Pirojil schaute dem Zwerg hinterher und fragte sich, was seine Definition von »waschen« wohl beinhaltete. Er sah immer noch aus, als hätte er sich in einer Kohlengrube gewälzt, und stank wie ein Abflussrohr. Dann schnaubte Pirojil und kam zu dem Schluss, dass Mackin sich wirklich ein bisschen gewaschen haben musste, denn er hatte nicht schlimmer gestunken als sonst. Pirojil biss noch ein Stück Fleisch ab, dann wandte er sich an Durine. »Ich will, dass du mit Kethol in unser Quartier gehst, und dann könnt ihr an diesen ... diesen Schneeschuh-Dingern arbeiten, von denen er gesprochen hat. Mindestens drei Paar - besser fünf. Ich nehme an, es wird morgen früh ein wenig ungemütlich für uns werden, und wir sollten hier verschwinden, Sold hin oder her. Einverstanden?« »Scheiße, ja«, sagte Durine. »Eine Schande, dass wir das Geld zurücklassen sollen, aber ...« Er griff in sein Hemd und holte ei320 nen vertraut aussehenden Lederbeutel heraus. »Ich habe unseren Sold ohnehin vom Kämmerer geholt, und noch einen kleinen Aufschlag, weil wir solchen Arger hatten. Vielleicht hat Steven Argent andere Vorstellungen, aber ich habe nicht vor, nur wegen ein bisschen Wechselgeld hier zu bleiben.« Pirojil verzog das hässliche Gesicht zu einem Grinsen, aber Kethol war mehr als nur ein wenig angewidert. Er wusste nicht genau, wieso. Es wäre nicht das erste Mal, aber auch nicht das einundfünfzigste Mal, dass sie einem Toten Geld abgenommen hatten. Aber wenn man die Taschen einer Leiche durchkämmte, musste man sie zumindest ansehen ...
den Schreibtisch des Barons einfach zu plündern, war im Vergleich dazu beinahe widerwärtig sauber. Aber ein Mann, der als Söldner arbeitete, konnte sich solche Bedenken nicht leisten, und falls er wirklich sentimental geworden sein sollte, konnte Kethol das für sich behalten. Also nickte er nur. »Sicher«, sagte er. Durine nickte ebenfalls. »Eine letzte Runde im Abgebrochenen Zahn heute Abend?« Auch Pirojil nickte. »Gern.« Kethol schüttelte den Kopf. »Eine letzte Runde, ja. Das war unsere Tradition, immer wenn wir einen Ort hinter uns lassen -« »Außer, wenn wir uns beeilen mussten«, sagte Pirojil mit zustimmendem Nicken. »Ich habe es nicht unbedingt mit Traditionen. Dennoch, es hat uns bisher offenbar Glück gebracht, und ich würde nur ungern -« »Es ist noch genug Wein in der letzten Flasche, aus der der Baron und seine Lady das letzte Glas getrunken haben, und ich ... ich würde gerne an meinem letzten Abend in LaMut auf die beiden anstoßen. Und ich möchte, dass ihr beide euch anschließt.« Die anderen starrten ihn ausdruckslos an, und schließlich sagte Durine: »Also gut, Kethol. Wie du willst.« Er sah Pirojil an. »Wie sicher bist du, was den Mörder angeht?« Pirojil öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn dann wieder. »Ich würde sagen, die Chancen, dass alles so läuft, wie ich 321 möchte, stehen etwa sechzig-sechzig. Schlechter, wenn ich vorher zu viel darüber rede. Sogar mit euch beiden.« »Ach ja?« Durine hob die Augenbrauen. »Dann halt den Mund und tu, was du tun musst, und ich wette, es wird funktionieren.«
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Antworten
Es war still in der Halle. Zu still. Zumindest war Steven Argent dieser Ansicht, obwohl er es für sich behielt. »Ich möchte Euch bitten, Euch am Tisch niederzulassen, meine Herren«, sagte Pirojil. »Und gleich werde ich noch eine Bitte an Euch richten, und ich hoffe, dass alle ihr Folge leisten.« »Wenn Ihr etwas wisst, dann hört auf, um den heißen Brei herumzureden. Raus damit!«, fauchte Viztria und machte einen raschen Schritt auf Pirojil zu. Steven Argent trat dem Baron in den Weg. »Ich denke, Baron Viztria, dass es das Klügste wäre, zu tun, um was Hauptmann Pirojil Euch bittet - und sei es nur, weil seine Bitten im Augenblick meine Befehle sind, und bis Graf Vandros zurückkehrt, sind meine Befehle in dieser Burg das Gesetz.« Viztria sah aus, als wollte er etwas sagen, und Steven Argent hatte noch nicht entschieden, wie er damit umgehen würde, aber das brauchte er am Ende auch nicht, weil der kleine Mann mit dem Frettchengesicht schließlich doch den Mund zuklappte und sich wieder hinsetzte.
Die einzigen Geräusche, die die Stille störten, waren das Knistern des Holzes in der Feuerstelle und das Schleifen der Stühle auf dem Boden, als sich die versammelten Adligen an den langen Tisch setzten, wie Pirojil es wollte. 323 Steven Argent schaute von einem zum anderen und verspottete sich lautlos dafür, dass er einen Augenblick lang geglaubt hatte, dass sich vielleicht auf einem dieser Gesichter eine Spur von Schuldgefühlen abzeichnen würde. Pirojil setzte sich an den Kopf des Tisches und bat den Schwertmeister mit einer Geste, sich rechts neben ihm niederzulassen. Baron Langahan setzte dazu an, sich zu Pirojils Linker niederzulassen, aber der Söldner schüttelte den Kopf. »Es wäre mir lieber, wenn Ihr Euch weiter unten hinsetzt, Mylord. Wenn es Euch nichts ausmacht.« In der Großen Halle befanden sich nur Pirojil und die Adligen. Durine und Kethol waren anderswo - Pirojil hatte sich darüber nur vage geäußert -, und der Zwerg und dieser Söldner mit den wässrigen Augen, die Pirojil ausgeholfen hatten, waren unten im Kerker bei den Hauptleuten und den Wachsoldaten, die bis auf die Wachen auf den Mauern alle dort zusammengerufen worden waren. Selbst die Diener waren allesamt in die Küche geschickt worden, wo Ereven auf sie aufpasste und Befehl hatte, sie dort zu behalten, bis man nach ihnen schickte. Steven Argent wusste nicht genau, was Pirojil vorhatte, aber was immer es war, es wäre sicher das Beste, wenn niemand außerhalb dieses Raumes davon erfuhr, bis er die Gelegenheit gehabt hatte zu entscheiden, was darüber an die Öffentlichkeit gelangen sollte. »Der nächste Punkt...« Pirojil wandte sich Steven Argent zu. »Schwertmeister, wenn Ihr bitte so freundlich sein würdet, die Waffe zu ziehen. Ich fürchte, jemand könnte versuchen, mich zu unterbrechen, und ich überlasse es Euch zu entscheiden, ob Ihr das gestatten oder verhindern wollt.« »Ich bin überzeugt -«, begann Viztria, aber der Schwertmeister schnitt ihm das Wort ab. »Ich bin überzeugt, dass ich imstande bin, mit jeder Art von Unterbrechung zurechtzukommen«, erklärte Steven Argent, stand auf und zog sein Rapier. »Und falls jemand dumm genug ist, aufzuspringen und sich auf Hauptmann Pirojil zu stürzen, 324 werde ich den Betreffenden in Stücke schneiden, bevor er auch nur drei Schritte gemacht hat.« »Interessante Ausdrucksweise - >in Stücke schneiden«^ sagte Pirojil und nickte. »Gar nicht so einfach mit einem Rapier - obwohl ich noch keinen besseren Schwertkämpfer gesehen habe als Euch, Mylord, und ich bezweifle nicht, dass Ihr jeden hier aufspießen könntet, bevor er auch nur einen Schritt macht.« Argent nickte zustimmend. »Danke, Schwertmeister«, sagte Pirojil und wandte sich dann wieder an die versammelten Barone. »Wir werden eine Weile hier sein, und ich möchte, dass es sich alle bequem machen, obwohl ich glaube, dass jemand hier ist, der sich nicht allzu behaglich fühlt, und aus diesem Grund würde ich mich wohler fühlen, wenn
Ihr alle Eure Schwertgurte abnehmen und sie vor Euch auf den Tisch legen würdet. Jetzt gleich, wenn es Euch recht ist - oder sogar, wenn es Euch nicht recht ist.« Mehrere Barone schauten erst einmal Steven Argent an, aber dann schnallten alle ihre Schwertgurte ab, und schließlich lag ein Dutzend davon auf der Platte des alten Eichentischs. »Danke«, sagte Pirojil. »Ich werde einige Zeit reden müssen -ich denke, Ihr werdet alle bald verstehen, warum -, und es wird schneller gehen, wenn ich nicht unterbrochen werde, obwohl natürlich der Schwertmeister hier das Sagen hat und ich diese Ansprache nur halten darf, weil er es duldet. Fangen wir am Ende an und bewegen uns rasch rückwärts zum Anfang. Das Ende: In der vergangenen Nacht hat jemand Baron Morray und Lady Mondegreen umgebracht. Der Anfang: Vor etwas mehr als einer Woche hat Graf Vandros von LaMut drei Söldner - mich selbst und meine Kameraden Durine und Kethol - beauftragt, für die Sicherheit von Baron Morray zu sorgen, nachdem es zu einer Reihe seltsamer Unfälle gekommen war, die ein misstrauischer Mann vielleicht als eine Reihe von Mordversuchen hätte deuten können. Wir haben diesen Auftrag ausgeführt, und bis auf einen Hinterhalt der Tsuranis in Mondegreen ist nichts Außergewöhnliches passiert. 325 Ich denke, dass der Verdacht, den der Graf hatte, durchaus gerechtfertigt war, aber am Ende kam nichts dabei heraus. Während des Krieges hat Baron Morray viel Zeit in LaMut verbracht, und ich denke, wenn ihn jemand hier wirklich tot sehen wollte, hätte er das schon längst erledigt. Ich glaube nicht an eine Verschwörung, die nur aus ein paar fehlgeschlagenen Versuchen -ein Blumentopf, der von einer Fensterbank fällt, was genauso gut vom Wind verursacht sein könnte; Eis auf der Treppe, was im Winter nichts Ungewöhnliches ist; selbst sein Sattelgurt, der durchgescheuert war - und einem Tsurani-Angriff bestand. Also schloss ich, dass die Tsuranis überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten und die Unfälle, nun ja, eben Unfälle waren. Manchmal passiert so etwas eben. Aber es sieht so aus, als hätten die Unfälle und der Verdacht, der durch sie aufkam, jemanden auf eine Idee gebracht. Jemanden, der sehr schnell und sehr schlau ist.« »Das reicht jetzt, Mann! Wenn Ihr etwas zu sagen habt, dann spuckt es einfach aus.« Verheyens Lippen waren vollkommen blutleer. Bevor Steven Argent sich einmischen konnte, nickte Pirojil. »Oh, ich habe viel zu sagen, Mylord, und ich werde schneller dazu kommen, wenn man mich weniger unterbricht. Aber hier sitzen viele kluge Männer, von denen viele durch Baron Morrays Tod etwas zu gewinnen hatten.« Er wandte sich Baron Folson zu. »Nehmt Euch selbst einmal als Beispiel, Mylord. Einer Eurer Hauptleute - Hauptmann Ben Kelly ist, glaube ich, Befehlshaber Eurer Truppe? - glaubt, Ihr würdet einen sehr guten Grafen von LaMut abgeben, sobald Graf Vandros Herzog ist; und bis Baron Morray und Baron Verheyen gestern Abend Frieden geschlossen hatten, bestand für Euch immer noch eine Chance dazu.« Er hob die Hand, um Widerspruch abzuwehren, obwohl Argent bemerkte, dass Folson einfach ruhig sitzen blieb und gar nichts unternahm. »Das Gleiche trifft auch auf Baron Benteen zu und auf die
anderen hiesigen Barone, die alle, wie ich vermute, der Ansicht sind, dass sich Ihr edles Hinterteil recht gut auf dem Stuhl des 326 Grafen ausnehmen würde - und vielleicht in vielen Fällen aus gutem Grund.« »Das macht mich aber noch lange nicht zu einem Mörder«, sagte Benteen. »Nein, Mylord, selbstverständlich nicht. Es macht Euch jedoch zum Nutznießer eines Mordes, so wie viele hier Grund hatten, Baron Morray den Tod zu wünschen. Die meisten haben sich von diesem Wunsch offensichtlich nicht zu einer Tat hinreißen lassen, aber es ist immerhin vernünftig anzunehmen, dass der Mörder wirklich ebenfalls einen Grund hatte und nicht einfach nur mitten in der Nacht aufwachte und beschloss, zur Übung einmal zwei Kehlen durchzuschneiden. Wenn ich jetzt fortfahren dürfte?« Pirojil hörte keinen Einspruch und erklärte: »Baron Verheyen scheint der Einzige unter den hiesigen Baronen zu sein, der kein Motiv hatte - zumindest nicht mehr. Immerhin wissen wir alle, dass er und Baron Morray gestern Abend zu einer Übereinkunft kamen, und ich persönlich denke, dass Baron Morray zu seinem Wort gestanden und seinem ehemaligen Feind seine volle Unterstützung gegeben hätte, wie er geschworen hatte.« Verheyen lehnte sich zurück und nickte. »Ja, er war ein Mann, der zu seinem Wort stand; das ist eine Tatsache, der niemand widersprechen wird.« Pirojil lächelte. »Diese Äußerung ist wahrscheinlich eher eigennützig als großzügig von Euch, Mylord. Immerhin hättet Ihr glauben können, dass Baron Morray dem Grafen leise etwas anderes zuflüstern würde, als er öffentlich erklärt hatte ... das hätte Euch durchaus schaden können. Oder wenn Ihr glaubtet, dass Lady Mondegreen ihren zukünftigen Gemahl für einen besseren Kandidaten für den Titel des Grafen hielt - vergessen wir nicht, dass der Baron in ihrem Bett gefunden wurde -, dann hätte sie vielleicht ihre beträchtlichen Überzeugungskräfte bei Graf Vandros eingesetzt, und nicht zu Eurem Nutzen.« Er kniff für einen Moment die Augen zusammen, dann fuhr er fort: »Ich denke, wir sind uns einig, dass Lady Mondegreen sehr überzeugend sein konnte.« 327 Steven Argent hoffte, dass seine Ohren nicht so heiß und rot aussahen, wie sie sich anfühlten, aber alle starrten ohnehin Pirojil an und nicht ihn. »Also wollen wir Lord Verheyen als Verdächtigen noch nicht vollkommen ausschließen, wenn wir uns auch vorher den Baronen Viztria und Langahan zuwenden. Oder sollten wir uns erst um den Schwertmeister kümmern?« Er nickte, dann schaute er Steven Argent an. »Tun wir das. Jeder hier hat Gerüchte gehört, dass Steven Argent eine Affäre mit Lady Mondegreen hatte, und ich werde den Schwertmeister nicht in Verlegenheit bringen, indem ich frage, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Wenn er es abstreitet, würde das unter den Umständen vielleicht nicht geglaubt werden, da wir zweifellos von jemandem, der mordet, auch erwarten können, dass er lügt; und es zuzugeben würde ihn demütigen. Ein wahrer Edelmann spricht, soweit ich weiß, ohnehin nicht über solche Dinge.« »Ihr könnt doch nicht glauben, dass es der Schwertmeister war, oder Ihr seid sogar noch dümmer, als Ihr unverschämt seid«, höhnte Viztria. »Wenn Ihr Steven Argent
für den Mörder haltet, dann seid Ihr ein Idiot, ihm als Einzigem hier in der Halle seine Waffen zu lassen.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Oder ich will ihn vielleicht verlocken, mich anzugreifen und dadurch seine Schuld zu beweisen. Zu solcher Tücke bin ich durchaus fähig«, erklärte er. »Und was die Behauptung angeht, dass er der einzige bewaffnete Mann hier ist, bin ich da nicht so sicher.« Wo es hergekommen war, hätte Steven Argent nicht sagen können, aber Pirojil hatte plötzlich ein Messer in der Hand, und es sah aus wie ein Wurfmesser. »Wie dem auch sei«, fuhr der Söldner fort, schaute nach unten und fing an, sich mit der Messerspitze den Daumennagel zu säubern, »lassen wir uns nicht ablenken, und wenden wir uns den Baronen Viztria und Langahan zu, die allen Grund haben, jeden einzelnen Baron in LaMut in ein schlechtes Licht zu rücken - ebenso wie den Grafen selbst -, um den Einfluss und die Autorität des 328 Vizekönigs Guy du Bas-Tyra zu mehren, auf Kosten des Herzogs von Yabon, der nach Ansicht des Vizekönigs zu eng mit Herzog Borric von Crydee verbündet ist, dem Guy du Bas-Tyra, wie wir alle wissen, nun wirklich nicht zugetan ist. Wenn nun einer von Graf Vandros' Baronen von einem anderen Baron umgebracht wird, und das auch noch unter dem Dach des Grafen, und der Mörder nicht gefunden werden kann - würde das nicht bedeuten, dass der Graf nicht geeignet ist, Herzog zu werden, ganz gleich, wen er heiratet? Es ist durchaus schon vorgekommen, dass ein Herzog einem unfähigen Baron Titel und Amt nimmt, und obwohl ich mir vorstellen kann, dass ein Prinz oder Vizekönig nur ungern einen Herzog absetzt, könnte man durchaus erwarten, dass Guy du Bas-Tyra nie erlauben würde, dass Graf Vandros von LaMut jemals Herzog Vandros von Yabon wird, wenn man annehmen muss, dass einer seiner Barone ungestraft mit einem Mord davonkam.« Langahans Miene war ungerührt. »Irgendwann später, Hauptmann Pirojil, werden wir beide vielleicht Gelegenheit haben, Eure Respektlosigkeit gegenüber dem Vizekönig zu diskutieren, der das, was Ihr da andeutet, niemals gutheißen würde.« Pirojil zuckte mit den Achseln, ohne dabei den Blick von der Messerspitze abzuwenden, mit der er nacheinander all seine Fingernägel bearbeitete. »Vielleicht nicht. Wenn er davon wüsste. Aber er wäre tatsächlich ein seltsamer Herrscher, wenn er eine Gelegenheit nicht nutzen würde, die sich ihm bietet, oder?« Er blickte auf. »Also. Wir wissen, dass jeder in diesem Raum zumindest Grund hatte, sich von Baron Morrays Tod einen Vorteil zu erhoffen, und dabei haben wir noch nicht einmal darüber nachgedacht, dass das wirkliche Ziel der Morde auch Lady Mondegreen gewesen sein könnte und dass einer ihrer Geliebten - wenn sie denn tatsächlich andere Geliebte hatte - vielleicht der Ansicht war, sie wäre ihm tot lieber als warm und lebendig in den Armen eines anderen Mannes.« Argent schwieg und rührte sich nicht. Ja, seine Affäre mit Carla hatte durchaus intensive Augenblicke 329 gehabt, aber er hatte immer gewusst, dass er nicht der Einzige war, und so gern er sie gehabt hatte, es gab keinen Grund, ihr übel zu nehmen, dass sie sich für Morray entschieden hatte. Er hatte immer gewusst, dass es irgendwann dazu kommen
würde, und war andererseits nicht einmal sicher, ob ihre Beziehung mit ihrer Heirat mit Morray wirklich ein Ende gefunden hätte; Carla Mondegreen hatte der sehr östlichen Ansicht angehangen, dass Treue in der Ehe mehr eine Anregung als ein ehernes Gesetz darstellte. Und selbst wenn sie ihm gefehlt hätte, selbst wenn er nie wieder ihr Parfüm hätte riechen dürfen, während sie in seinen Armen lag, selbst wenn die Vorstellung, dass sie im Bett eines andern lag, ihn gepeinigt hätte - was nicht der Fall gewesen war -, hätte er sie dafür umgebracht? Niemals. »Also bewegen wir uns weiter, und bedenken wir die Frage der Gelegenheit. Lasst uns einmal vollkommen hypothetisch annehmen, dass es der Schwertmeister selbst war, der beschlossen hat, die beiden umzubringen, und sich also aus seinen Gemächern im Adlerhorst nach unten geschlichen hat, ein verborgenes Messer am Körper versteckt und Mord im Sinn. Dann wäre es doch ein recht seltsamer Zufall gewesen, dass der Wachposten gerade schlief, nicht wahr? Es sei denn, der Schwertmeister hat das selbst mit dem Mann arrangiert, und die Behauptung, dass Erlic eingeschlafen ist, war eine Verschwörung zwischen den beiden. Das ist jedoch nicht der Fall.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Mein Freund Durine hat seine ganz eigene Art, ebenfalls sehr überzeugend zu sein, und er ist sicher, dass Erlic, der im Augenblick unten im Kerker eingesperrt ist, so entsetzt über diese beiden Morde ist wie jeder andere. Nein. Es war im Gegenteil der schlafende Wachposten, der einen Wunsch zu einer Gelegenheit werden ließ, und dazu musste der Mörder zunächst einmal die Möglichkeit haben, diesen schlafenden Wachposten überhaupt zu sehen und schnell - sehr schnell; dazu komme ich gleich noch-diese seltene Gelegenheit zu nutzen. Erfüllt Steven Argent diese Voraussetzungen? Die Burg und 330 die gesamte Grafschaft unterstehen seinem Befehl, solange Graf Vandros unterwegs ist, aber es wäre dennoch sehr ungewöhnlich und vor allem auffällig, wenn er sich im Flur vor den Gästezimmern herumtriebe, mit welcher Begründung auch immer, und dabei eine einmalige Gelegenheit erhielte, weil ein Wachposten eingeschlafen ist. Baron Viztria hatte Recht - ich weiß, dass es nicht der Schwertmeister war, und ich bin tatsächlich mehr als dankbar, dass er der einzige andere Mann hier mit einer gezogenen Klinge in der Hand ist. Nein, der Mörder war einer von Euch Baronen, einer der Bewohner des Gästeflügels, einer, dessen Anwesenheit dort keine besondere Aufmerksamkeit erregt hätte, einfach weil er - wie Ihr alle - dort hingehörte.« Er nickte. »In meinem eigenen Beruf habe ich es immer für wichtig gehalten, überraschende Gelegenheiten zu nutzen, und ich muss aus diesem Grund beinahe bewundern, wie der Mörder das getan hat. Er konnte nicht sicher sein, dass der schlafende Wachposten weiterschlafen würde, also musste er bereit sein, auch ihn umzubringen, und zwar schnell, bevor der Mann Alarm geben konnte, und dann schnell in seinem eigenen Zimmer zu verschwinden, nur um dann wieder mit den anderen Baronen, die zu Bett gegangen waren, auf dem Flur zu erscheinen und sich
so überrascht zu geben, wie der Rest tatsächlich war.« Pirojil blickte auf. »Stellt es Euch also vor, meine Herren, wie ich es den ganzen Nachmittag lang getan habe: Der Mörder hört Morray in der Halle und späht in den Flur hinaus. Er sieht, wie der Baron das Zimmer der Baronin betritt. Er denkt über seine Möglichkeiten nach. Er weiß, dass die beiden allein und verwundbar sind. Er wartet. Später schaut er noch einmal nach draußen und bemerkt, dass der Wachposten eingeschlafen ist. Er ergreift die Gelegenheit, zieht sich rasch an -« »Zieht sich an?« Pirojil nickte. »Er kann nicht im Nachtgewand durch den Flur schleichen, nicht mit einem Messer in einer Hand und einem Schwert in der anderen - immerhin würde er das Schwert viel331 leicht brauchen, um den Wachposten auf dem Rückweg umzubringen, falls der Mann aufwachen sollte. Wenn er vor den Morden in so seltsamer Verfassung gesehen wird, wird klar sein, dass er blutige Absichten verfolgt, wenn auch vielleicht niemand genau wissen wird, welche Absichten das sind - und warum sollte er so etwas riskieren? Er ist ein elendes Stück Dreck, wenn ich das hier einmal sagen darf, aber er ist kein Idiot. Wie ich also sagte, er zieht sich an und nutzt die Gelegenheit, durch den Flur zu gehen und die Tür zu Lady Mondegreens Zimmer zu öffnen, nachdem er vielleicht einen Augenblick draußen gelauscht hat, ob sie tatsächlich schlafen. Und dann öffnet er die Tür, sieht sie schlafend im Bett liegen und geht ins Zimmer. Er schließt die Tür wieder hinter sich. Von diesem Punkt an kann er nicht mehr zurück, und er ist zwar schnell mit dem Messer - er wird das demonstrieren, wenn er an ihrem Bett steht -, aber er kann nicht vollkommen sicher sein, ob es ihm gelingen wird, erst eine Kehle und dann die andere durchzuschneiden, ohne dass die Bewegungen des ersten Opfers das zweite wecken. Also zieht er sein Schwert und hält die Spitze über den Kopf des zweiten Opfers, bereit, die Klinge ins Hirn des Opfers zu stoßen, um es zum Schweigen zu bringen, falls der Tod des ersten Opfers ein wenig gewaltsamer und dramatischer wird, als er hofft. Aber er ist nicht nur schnell und geschickt, sondern er hat auch Glück, sein Messer ist sehr scharf, seine Hand ruhig, und ein paar Sekunden später strömt Blut aus den Kehlen von Baron Morray und Lady Mondegreen. Und nun hat er es wirklich eilig. Er hat es getan, und nun muss er wieder in sein Zimmer zurückkehren. Er bläst die Lampe aus - wenn jemand etwas gehört hat und hereinkommt, will er, dass diese Person ihm im Dunkeln ins Schwert läuft; außerdem will er aus offensichtlichen Gründen, dass das Zimmer dunkel ist, wenn er die Tür öffnet und dann ist er wieder an der Tür, öffnet sie einen Spaltbreit, um nachzusehen, ob der Wachposten immer noch schläft, und er hat abermals Glück. 332 Also schleicht er den Flur entlang, das blanke Schwert in der Hand - vergesst nicht, der Wachposten könnte jederzeit aufwachen -, und zurück in sein Zimmer.« Pirojil blickte wieder auf. »Aber ich habe etwas ausgelassen, nicht wahr?«, fragte er lächelnd.
Er wandte sich Baron Langahan zu. »Entschuldigt, Mylord, wärt Ihr bitte so freundlich, Euren Schwertgurt herüberzuschieben?« Langahan tat es, obwohl er kurz zögerte und missbilligend die Stirn runzelte. »Was habt Ihr ausgelassen, Pirojil?«, fragte Steven Argent. »Nun, das Messer, Mylord«, sagte Pirojil und zog das Messer aus Langahans Gurt. Er hob es hoch. Es war die übliche Art von Messer, der Holzgriff vielleicht ein wenig kunstvoller verziert, als es Steven Argent zugesagt hätte, und die einschneidige Klinge glänzend vom Ol und vom Polieren. »Wenn eine Kehle durchgeschnitten wird - und ich kann Euch sagen, damit habe ich einige Erfahrung -, fließt das Blut nicht einfach nur so heraus, es sprudelt. Es wäre wirklich seltsam, wenn die Messerklinge nicht vor Blut getrieft hätte, und vielleicht auch noch die Hand des Mörders. Und er konnte ja wohl kaum mit einem bluttriefenden Messer in der Hand auf den Flur hinausgehen, oder? Wenn er es nicht so eilig gehabt hätte, hätte er ein paar Minuten dazu verwenden können, das Messer ordentlich zu säubern -vielleicht mit der Bettdecke, oder er hätte ein Stück vom Laken abreißen können, aber das hätte ein lautes Geräusch verursacht. Außerdem hat mein Freund Kethol das Zimmer sehr gründlich untersucht, und er hat berichtet, dass keine blutigen Lappen vorhanden waren - nur ein paar Flecken auf dem Laken, wo der Mörder das Messer vielleicht einmal schnell und oberflächlich abgewischt hat, so gut das in ein paar Sekunden eben ging. Stand er im Licht der Öllampe und hat die Klinge sorgfältig und ausführlich gereinigt, sich überzeugt, dass er auch alle Ritzen erreicht hat, und hat er das blutige Tuch dann eingesteckt und mitgenommen?« Pi333 rojil schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass er mit dem Schwert in der linken Hand und dem Messer hinter dem Rücken durch den Flur ging, weil das unweigerlich Flecken auf seiner Kleidung hinterlassen hätte. Er wollte doch sicher das Schwert in die rechte Hand nehmen und die Linke frei haben. Ich gehe also davon aus, dass er mit dem Messer einfach zweimal kurz über das Laken gewischt hat, im Dunkeln, und dann hat er es eingesteckt und es später sorgfältig - sehr sorgfältig, meine Herren - in seinem eigenen Zimmer gereinigt, bis zum letzten Blutfleck. Vielleicht hat er das Tuch, das er dazu benutzt hat, hinterher verbrannt, oder er hat die Klinge im Wasserkrug gereinigt und das blutige Wasser durch den Abort gegossen - oder es vielleicht sogar getrunken, so widerlich das klingt, um die Beweise zu vernichten. Blut ist so ... so schmutzig.« Steven Argent schüttelte den Kopf. »Aber ...« Pirojil nahm Baron Langahans Messer und begann, damit die Scheide aufzuschneiden. »Es tut mir Leid, Baron Langahan, dass ich diese Scheide ruinieren muss.« Er breitete das Leder aus. »Wenn es Baron Langahan gewesen wäre, würden wir hier jetzt Spuren von Blut sehen. Tatsächlich, wenn man sich diese braunen Flecken ansieht -«
»Die sind alt«, sagte Langahan. »Hat nicht jeder einmal ein Messer eingesteckt, obwohl es nicht ganz sauber war?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann mich erinnern, dass ich einmal vor vielen Jahren mit dem Vizekönig zur Jagd war. Wir haben einen Eber erlegt und -« »Ja, Mylord, es ist tatsächlich altes Blut, oder altes Irgendwas.« Pirojil wandte sich Viztria zu. »Ich denke, als Nächstes werde ich Eure Dolchscheide ruinieren, Mylord. Es sei denn, Ihr habt etwas dagegen?« Dieses eine Mal war Viztria sprachlos und schob einfach den Schwertgurt über den Tisch, und Pirojil wiederholte die Prozedur. 334 »Keine Flecken hier, Mylord. Baron Verheyen als Nächster.« Verheyen schnaubte, als er es Viztria gleichtat, und Pirojil schnitt seine Scheide auf, wie er es schon bei den anderen getan hatte. »Interessant, Baron Verheyen«, sagte er und breitete das Leder aus, sodass alle es sehen konnten. »Diese Flecken hier scheinen ziemlich ... frisch zu sein.« Ein höhnisches Grinsen breitete sich auf Pirojils dicken Lippen aus. »Du mörderisches Schwein.« Verheyen war aufgesprungen und riss das Rapier aus Folsons Gurt. »Du verlogener Sack -« »Bleibt, wo Ihr seid, Verheyen«, befahl Steven Argent. »Ihr steht unter Arrest, im Namen des Grafen von LaMut.« Verheyen schüttelte den Kopf. Er war vor Zorn rot angelaufen. »Ich bin unschuldig!«, brüllte er. »Ich bin nicht sicher, was der Mann vorhat, Argent, aber ich werde es schon herausfinden, nachdem ich ihn ein paar Mal verwundet habe.« Er stürzte auf Pirojil zu, der rasch aufgesprungen war und versuchte, sich auf die andere Seite des Tisches zu retten. Steven Argent sprang zwischen sie und schlug das Rapier des Barons mit seinem eigenen beiseite. Pirojil sah zu, wie sich die beiden Männer einander zuwandten, und wartete auf eine Gelegenheit, zur Tür zu rennen. Es war nicht Angst, was ihn dazu trieb, sondern Vorsicht, denn er hatte den Übungskampf zwischen Argent und Verheyen noch gut in Erinnerung, und er wusste, dass der Schwertmeister Glück haben würde, wenn er lebend aus diesem Konflikt herauskam. Sobald er an der Tür war, würde Pirojil nach den Wachen rufen, die den wütenden Baron überwältigen konnten. Das einzige Problem war, dass mehrere Barone zusammengedrängt zwischen Pirojil und der Tür standen. Um an ihnen vorbeizukommen, hätte er sich in Reichweite von Verheyens Schwert begeben müssen. Während er über seinen nächsten Zug nachdachte, ging der Kampf weiter. Pirojil war beeindruckt. Er hatte schon viele Kämpfe gesehen, 335 in Schänken und auf dem Schlachtfeld und mit jeder vorstellbaren Waffe, aber Baron Verheyen war der schnellste Schwertkämpfer, den er je gesehen hatte. Pirojil war sicher, wenn er dem Baron allein gegenübergetreten wäre, hätte er jetzt tot am Boden der Großen Halle gelegen. Er war nicht einmal sicher, ob er zusammen mit Durine und Kethol gegen ihn eine Chance gehabt hätte.
Argent und Verheyen tauschten die Schläge schneller aus, als Pirojil es für möglich gehalten hätte. Die konzentrierte Miene des Schwertmeisters machte deutlich, dass er sich überfordert fühlte. Dennoch bedrängte er seinen Gegner weiter. Er war vielleicht nicht ganz so schnell wie der Baron und auch nicht so geschickt mit der Klinge, aber er war erheblich geübter, und Erfahrung zählte viel, wenn es um Leben und Tod ging. Sie griffen an, wehrten ab und zogen sich wieder zurück, ohne sich dabei wirklich allzu weit von ihren ursprünglichen Positionen wegzubewegen; sie machten immer nur einen oder zwei Schritte in jede Richtung, und Pirojil hielt weiter nach einem geeigneten Augenblick Ausschau, um die Wachen zu holen. Drei hohe Angriffe von Verheyen wurden von Argent abgewehrt, der zweimal einen Gegenangriff versuchte, seinen wachsamen Gegner aber nicht treffen konnte. Dann begann der Schwertmeister mit einer scheinbar rasenden Attacke, nur um dank der geschickten Fußarbeit des Barons abermals zurückgeschlagen zu werden. Und nun spürte Pirojil eine Veränderung bei Argent. Offenbar hatte der Schwertmeister etwas bemerkt, was Pirojil entgangen war. Ein Muster bildete sich heraus, und plötzlich vergaß Pirojil, dass er eigentlich die Wachen holen wollte, und geriet stattdessen vollkommen in den Bann dieser Demonstration vollendeter Schwertkunst. Beide Männer waren inzwischen schweißgebadet, obwohl es nicht warm war, und die einzigen Geräusche im Raum waren das Stampfen von Lederstiefeln auf kaltem Steinboden, das Klirren von Stahl auf Stahl und das schwere Atmen der beiden Kämpfer. Angriff, Abwehr, Gegenstoß, Abwehr; das Duell ging weiter. 336 Dann erkannte Pirojil, was geschah. Argent bereitete eine Falle vor. Jedes Mal, wenn die beiden Männer die Schwerter kreuzten, blieben die Klingen ein wenig länger in Kontakt und übten ein wenig mehr Druck auf die Klinge des Gegners aus. Argent fiel beinahe in ein Muster, dreimal griff er hoch und einmal tief an, und er veranlasste Verheyen damit, in diesem Rhythmus nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten. Dann wechselte Argent zu zwei hohen Angriffen, dann wieder zu dreien, was den Baron bei seinem Gegenangriff verwirrte. Und nun bot Argent Verheyen die Klinge an. Als Verheyen blockierte, drängte er weiter vorwärts, und für einen Augenblick nahm Verheyen die Klinge an und hielt dagegen. Dann bewegte sich Argent nach links, nahm plötzlich die Waffe weg, und Verheyen überstreckte sich und war dadurch für einen winzigen Augenblick ohne Deckung. Eine Sekunde später beugte sich Steven Argent über einen toten Mann, und Verheyens Blut lief am Rapier des Schwertmeisters entlang. Argent blickte auf den toten Baron hinab, dann holte er sehr langsam und bedächtig ein Taschentuch heraus und säuberte seine Klinge sorgfältig, bevor er sie wieder einsteckte. »Du hattest schon angenommen, dass es so ausgehen würde, Pirojil«, stellte er fest. Der Söldner nickte. »Es bestand zumindest die Möglichkeit. Wenn man eine Ratte in die Enge treibt, wird sie kämpfen, und ich wollte, dass diese Ratte in die Enge getrieben wird, Mylord. Er hatte es verdient. Und es wäre mir auch lieber, nicht als jemand bekannt zu sein, der einen Adligen umgebracht hat, ganz gleich, wie gerechtfertigt das war. Baron Verheyen hat Verwandte und angeblich auch ein paar
Freunde, und ich bin sicher, sie werden eher mir die Schuld geben, weil ich ihn als Mörder entlarvt habe, als ihm für die Morde.« »Also hast du mich vorgeschickt, damit ich dich vor ihrer Rache bewahre?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, Mylord, hatte ich so weit noch gar nicht gedacht.« Er zuckte mit den Achseln. 337 »Ich wusste einfach nur, dass ich es zwar im Feld allein oder mit meinen Freunden gegen beinahe jeden Gegner aufnehmen würde - das haben wir oft genug bewiesen -, aber ich bilde mir nicht ein, gegen einen Adligen in einem Duell bestehen zu können, und Ihr wart der Einzige hier, der gegen den Baron eine Chance hatte.« Mit einem Blick auf die Leiche fügte er hinzu: »Und dass ein Mörder seine Strafe erhalten hat, stört mich nicht im Geringsten.« Baron Viztria betrachtete ebenfalls Verheyens reglose Gestalt. Blut floss in den dicken Teppich auf dem Steinfußboden. »Aber warum?«, fragte er. »Mylord?« »Warum hat er Morray und Lady Mondegreen getötet? Morray hatte doch schon zugesagt, sich zu seinen Gunsten zurückzuziehen.« Pirojil zuckte mit den Schultern. »Nur, weil Morray etwas vorhat, musste das nicht auch geschehen. Ist eine Übereinkunft zwischen Baronen für den Grafen bindend ? Oder für den Herzog von Yabon? Oder für den König?« »Nein, selbstverständlich nicht«, sagte Viztria. »Aber es schien ganz logisch zu sein.« »Die vereinigten Ländereien von Mondegreen und Morray hätten zusammen die mächtigste Baronie im Herzogtum ergeben«, fügte Argent hinzu. »Und es ist durchaus möglich, dass gerade das selbstlose Zurücktreten Morrays zugunsten von Verheyen Graf Vandros veranlasst hätte, Morray als seinen Nachfolger zu empfehlen.« Pirojil sagte: »Verheyen konnte nach dem Friedensschluss offiziell behaupten, dass er keinen Grund mehr hatte, seinen Rivalen zu töten, und gerade deshalb wollte er dafür sorgen, dass Morray ihm nie wieder zum Rivalen werden könnte. Nach außen hin hatte er kein Motiv mehr, also glaubte er, dass ihn niemand verdächtigen würde.« Steven Argent sagte: »Das klingt alles so einfach.« Pirojil zog die Brauen hoch. »Schwertmeister, mit Eurer Erlaubnis?« 338 »Was?« »Ich möchte noch einmal mit den Baronen sprechen, nur für einen Augenblick.« Steven Argent nickte. »Selbstverständlich.« Pirojil wandte sich den anderen zu. »Ich möchte Euch für Eure freundliche Aufmerksamkeit danken und mich von Euch verabschieden. Wie ich schon sagte, ich bin nicht vollkommen sicher, dass niemand mir und meinen Freunden die Schuld am Tod von Baron Verheyen geben wird, ob er nun ein Mörder war oder nicht, also ziehen wir uns aus dem Dienst des Grafen von LaMut zurück und machen uns gleich morgen früh auf den Weg.« »Bei diesem Schnee?«, fragte Baron Viztria mit dem üblichen höhnischen Grinsen. »Schnee kann schmelzen, Mylord Viztria. Wir schaffen das schon.« Dann wandte er sich an den Schwertmeister. »Dürfen wir unser Zimmer in der Unterkunft noch
eine Nacht behalten, Mylord ? Oder sollen wir uns in der Stadt nach einer Unterkunft umsehen?« Steven Argent verstand das alles nicht. Diese Männer hatten unter den unangenehmsten Umständen bewiesen, was sie wert waren, und er hatte ihnen anbieten wollen, sie in die reguläre Armee zu übernehmen, immer vorausgesetzt, dass der Graf einverstanden war. Sie waren zwar nicht unbedingt klassisches Offiziersmaterial, aber Kompetenz und Loyalität sollten belohnt werden. Hier vor den Baronen und mit dem toten Verheyen zu seinen Füßen wusste er allerdings nicht so recht, was er sagen sollte, also schwieg er einfach und nickte. »Ich wünsche Euch allen einen guten Tag«, sagte der absurd hässliche Söldner. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ die Halle. Er warf keinen Blick zurück.
Wahrheit
Draußen war es dunkel. Aber das war draußen, und sie waren zum Glück drinnen, und die Öllampen machten das Zimmer angenehm hell. Die Geräusche aus dem Gemeinschaftsraum der Unterkunft waren gedämpfter als üblich. Pirojil konnte leise Gespräche und das Klappern der Würfel hören. Sie hatten sich um die Feuerstelle versammelt, und die Weinflasche aus Lady Mondegreens Zimmer stand auf einem Beistelltisch neben Kethol, der gerade Lederschnüre über einen Holzrahmen zog. Ihre geringe Habe schien in ihrer Zeit in LaMut angewachsen zu sein, und sie hatten vier weitere Rucksäcke aus dem Keller holen müssen, um das behalten zu können, was sie nicht wegwerfen wollten. Ein Packpferd wäre gut gewesen, aber Pirojil konnte sich ein Pferd auf Brezeneden nicht so recht vorstellen. Durine war skeptisch gewesen und wollte das Gepäck noch einmal durchgehen und etwas mehr wegwerfen, aber Kethol hatte rasch aus einer alten Tür, ein paar weiteren Latten und einem Seil eine Art Schlitten improvisiert, und dieses Ding sollte sich relativ leicht über den Schnee ziehen lassen, bis der Schnee dann schmolz, und das würde nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Noch ein paar Tage würden sie auf diesen seltsamen Brezeneden umherstolpern müssen, und dann ... Dann würden sie sich im nächsten Dorf ein paar Pferde kaufen, 340 obwohl sich das als schwierig erweisen könnte. Nun, selbst wenn sie zu Fuß bis nach Zun gehen mussten, um Reittiere zu erhalten, sie hatten immerhin genug Geld dafür. Sie konnten es sich leisten, ein bisschen wählerisch zu sein Nein, ein paar Klepper wären gut genug. Sie würden sie ohnehin in Ylith verkaufen müssen, und Männer, die ein Schiff nehmen wollten, das sie weit wegbrachte, so weit wie möglich, waren kaum in der besten Position zum Feilschen. Und sie würden wahrscheinlich fünf Pferde brauchen ... Kethol hatte bereits ein weiteres Paar Brezeneden fertig und arbeitete am nächsten, als es klopfte. Die Tür wurde dann ohne ein weiteres Wort aufgerissen, und Mackins unmöglich breites Gesicht spähte herein.
»Komm rein«, sagte Kethol. »Wir haben gerade über dich gesprochen.« »Milo sagte, wir kommen mit euch«, sagte der Zwerg. »Ihr könnt die Stadt gerne mit uns verlassen«, erwiderte Durine vorsichtig. »Obwohl wir ein paar Dinge klären müssen, wenn ihr mit uns dreien kommen wollt -« »Ja.« Das Grinsen des Zwergs wurde breiter, und er streckte die kräftigen Hände aus und knackte mit den Knöcheln. »Darauf freue ich mich schon.« »Und zwar, indem wir darüber reden. Wir regeln die Dinge mit Diskussionen und Abstimmungen und nicht, indem wir einander verprügeln. Das heben wir für Situationen auf, wenn wir dafür bezahlt werden.« Mackin zuckte mit den Achseln. »Darüber lässt sich reden. Wenn es nicht funktioniert, dann zieht ihr eben zu dritt weiter, und Milo und ich gehen unserer eigenen Wege. Solange ich dich nicht die ganze Zeit mit >Hauptmann< anreden und deine Befehle befolgen muss, könnte es klappen. Oder auch nicht. So was weiß man vorher nie.« »Ich bin kein Hauptmann«, sagte Kethol. Er war der Erste gewesen, der den grauen Offizierswaffenrock ausgezogen hatte. Die Jacken hatten immer noch die Rangabzeichen auf den Schultern, 341 aber sie lagen nun alle ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl an der Tür. »Und ich war nie ein besonders guter.« »Ich auch nicht.« Durine nickte. »Wir sind einfach nur drei Männer, die für Geld Leute umbringen«, sagte er, dann zuckte er mit den massigen Schultern und warf einen Blick zu Kethol und Pirojil. Vielleicht hatten sie inzwischen ja genug Geld beisammen, um einen Platz für die Schänke zu den Drei Schwertern zu suchen. Oder würden es jetzt Fünf Schwerter sein? Mackin nickte. »Wir werden sehen. Wir brechen also im ersten Morgenlicht auf?« »Wolfsschwanz«, sagte Pirojil. So nannte man diese Tageszeit drunten im Tal, das graue Licht vor der Dämmerung, das gut für ihre Zwecke geeignet war. Mackin nickte. »Dann sollte ich lieber noch ein paar Krüge Bier trinken und ein bisschen schlafen.« Er ging, ohne auf eine Antwort zu warten. »Glaubst du, es wird funktionieren?«, fragte Kethol. »Warum zwei Leute mehr?« »Wir können zu fünft ebenso leicht Arbeit finden wie zu dritt«, sagte Pirojil. »Und ich glaube, dass Milo gewisse Gründe hat, LaMut zu verlassen. Wir können morgen darüber reden, ja?« Kethol beugte sich über seine Arbeit. »In Ordnung.« Pirojil würde Milo und den Zwerg nicht als gleichrangig betrachten, nicht, bevor sie sich im Lauf der Zeit ihren Anteil mit Blut und Geld erkauft hatten, aber man wusste nie, wie viel Geld ein Söldner besaß, solange man ihn nicht ausführlich durchsucht hatte, und es war durchaus möglich, dass die beiden anderen schon genug für ihren Anteil hatten. Und es war auch bereits Blut vergossen worden, obwohl er im Augenblick nicht daran denken wollte und am liebsten nie darüber geredet hätte.
Aber die beiden dazuzuholen würde etwas sein, worüber man sprechen musste. Und sei es nur, um die Diskussion über andere Dinge zu vermeiden. 342 Geheimnisse, dachte er. Scheiße. Er und Milo hatten ein Geheimnis. Pirojil war überzeugt gewesen, dass Verheyen der Mörder gewesen war, und er hatte geglaubt, wenn er den Baron in die Ecke triebe - er wusste, dass Verheyen cholerisch war -, würde er etwas tun, das ihn verriet. Aber er war nicht vollkommen sicher gewesen, und Pirojil hatte viel für Sicherheiten übrig. Selbstverständlich konnte er dem Schwertmeister die Schuld geben, weil der ihn in eine unmögliche Position gebracht hatte. Oder er konnte sich selbst die Schuld geben, weil er seinen eigenen Instinkten und seiner Vernunft nicht gefolgt war. Oder er konnte einfach versuchen, die ganze Sache zu vergessen. Es klopfte abermals an der Tür, und diesmal wartete die Person draußen lange genug, bis Durine »Herein« gesagt hatte. Es war Milo, der fünf kleine Lederbeutel in den Händen trug. »Der Schwertmeister schickt mich mit eurem Sold.« »Unser Sold?« Kethol schaute ihn verdutzt an. »Wie sind sie denn in die Schatzkammer gekommen?« »Ich frage lieber nicht nach Schatzkammern«, sagte Milo und grinste einen Augenblick. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, hat Steven Argent bei den Baronen gesammelt, und die werden ihr Geld zurückerhalten, wenn der Graf zurückkommt. Es genügt nicht, um alle auszubezahlen, aber es reicht für uns fünf, also sollten die anderen lieber nichts davon erfahren.« Er steckte die beiden kleineren Beutel ein und reichte die anderen drei weiter. »Ihr wollt das Geld vielleicht zählen und noch mal mit dem Schwertmeister reden, nur für den Fall, dass ihr denkt, dass unterwegs etwas herausgefallen ist.« Durine nickte. »Wir werden es sicherlich zählen. Es wäre eine Schande, wenn wir gleich auf dem falschen Fuß anfangen, da ihr beiden, du und der Zwerg, mit uns kommen werdet.« »Ja«, sagte Milo, aber er sah dabei Pirojil an und nicht Durine. 343 »Es wäre eine Schande, wenn es Missverständnisse gäbe, also achten wir darauf, dass das nicht passiert.« »Immer mit der Ruhe.« Pirojil hob die Hand. »Wir werden keine Probleme haben. Oder wenn, dann geht ihr einfach euren Weg und wir unseren.« Milo nickte, dann ging er und schloss die Tür hinter sich. Kethol legte das letzte Paar Brezeneden auf den Stapel mit den anderen. »Nun, wenn wir morgen aufbrechen, sollten wir noch eine Runde schlafen. Verbarrikadieren wir die Tür, oder stehen wir Wache oder beides?« »Beides«, sagte Durine. Pirojil nickte. Das war auf jeden Fall vernünftig. In einer Burg verbreiteten sich Neuigkeiten schnell; die Barone würden mit ihren Hauptleuten sprechen, was bedeutete, dass man bald wissen würde, dass die drei Söldner eine Menge Geld
hatten - wenn auch niemand ahnen würde, wie viel es tatsächlich war -, und man war vor Dieben niemals wirklich sicher. »Ich nehme die erste, dann wecke ich dich«, sagte er zu Durine. Dieser nickte. Zumindest in dieser Hinsicht war alles wieder normal. »Ich weiß nicht.« Kethol warf einen sehnsüchtigen Blick zur Tür. »Ich würde gerne noch mal zum Adlerhorst gehen und mich von Fantus verabschieden.« Durine lachte. »Das wäre keine gute Idee. Der Schwertmeister würde wahrscheinlich versuchen, uns zum Bleiben zu überreden, und das würde bedeuten, dass du hier bliebest, weil ich hier unbedingt verschwinden will.« Pirojil nickte. »Ich ebenso. Außerdem hatte ich nie viel für Abschiede übrig, und du auch nicht.« »Ja, aber da ging es um Leute«, sagte Kethol, als würde das einen Unterschied machen. »Drachen sind etwas anderes. In einer anderen Welt hätte ich vielleicht gerne mal einen kennen gelernt.« »In dieser Welt hier solltest du, wenn du jetzt gehst, allerdings lieber nicht wiederkommen und uns sagen, dass wir bleiben«, erklärte Durine mit fester Stimme. 344 Kethol gab auf, aber es fiel ihm sichtlich schwer. »Noch eine Sache ...«, sagte er und goss die Reste des Weins aus der Flasche in ihre drei Becher. Er reichte den anderen die Becher und warf dann Pirojil einen erwartungsvollen Blick zu. »Du bist dran, denke ich.« »Wir alle haben den Baron recht gut gekannt, aber Lady Mondegreen schien eine besondere Vorliebe für dich zu haben, Kethol«, sagte Pirojil. Sie hatte auch auf ihm gespielt wie auf einer Laute, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass sie ihn offenbar gemocht hatte. Und Kethol hatte zweifellos Gefallen an ihr gefunden. Ebenso wie Pirojil es auf seine Art getan hatte. Nur, weil sie ihm eine Höllenangst eingejagt hatte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht gemocht hätte - er hatte es nur vorgezogen, sie aus der Entfernung zu mögen, wenn man bedachte, wie gut sie Menschen manipulieren konnte ... Was die Kehle der Lady langfristig nicht widerstandsfähiger gegenüber einem Schnitt gemacht hatte. Kethol dachte einen Augenblick darüber nach. »Auf Baron Morray und Lady Mondegreen: ein wahrer Edelmann und eine große Dame«, sagte er, dann trank er seinen Wein in einem Schluck, ebenso wie Durine. Pirojil nippte nur daran, weil er länger davon haben wollte. Es war nicht der schlechteste Wein, den er je getrunken hatte, obwohl er für seinen Geschmack ein bisschen bitter und säuerlich war. Nicht, dass ein Mann in seiner Branche allzu empfindlich sein sollte. Dennoch, es könnte sein, dass die Drei Schwerter - oder nun vielleicht die Fünf Schwerter - einen Weinkeller haben würden, ebenso wie gutes Zwergenbier und auch anständig gebrautes Menschenbier, und vielleicht sollte er sich ein wenig über diese Dinge informieren, selbst wenn er es sich bestimmt nie leisten könnte, allzu anspruchsvoll zu sein. Kethol blies die Öllampen aus, und er und Durine legten sich auf die Pritschen und schliefen beinahe sofort ein.
Pirojil nahm seinen Stuhl, lehnte ihn gegen die verriegelte Tür und schloss für einen Moment die Augen. 345 Ja, sie würden über vieles nachdenken und am Ende auch über das eine oder andere reden müssen. Aber er würde sich eine Weile Zeit lassen. Er trank noch einen Schluck Wein. Wirklich zu bitter. Vielleicht gab es hier etwas, was ihm immer noch entging. Er war sicher, dass ihm nicht viel entgangen war. Verheyen wäre wahrscheinlich mit dem Mord davongekommen, obwohl er am Ende nicht Graf von LaMut geworden wäre, nicht, wenn der Mord nicht aufgeklärt worden wäre und alle immer noch unter Verdacht gestanden hätten. Es wäre auch keiner der beiden Männer geworden, die der Vizekönig ins Rennen geschickt hatte, obwohl Guy du Bas-Tyra vielleicht am Ende von der Lage profitiert hätte, indem er einen anderen Vasallen in die Grafschaft gesetzt hätte. Vandros wäre kaum in der Situation gewesen, sich gegen den Druck des Vizekönigs zu wehren, nicht mit einem unaufgeklärten Mord an zwei Adligen im Hintergrund. Pirojil bedauerte beinahe, dass er Recht gehabt hatte. Er hatte gehofft, frisches Blut in Langahans Dolchscheide zu finden. Viztria war viel zu geckenhaft, um ein Mörder zu sein, aber Langahan war stiller und wahrscheinlich gefährlicher. Er trank noch einen kleinen Schluck. Nein, der Wein war nichts Besonderes, aber er konnte immerhin versuchen, ihn zu genießen. Es war also Verheyen gewesen. Verheyen hatte auf seine Weise ebenso großen Respekt vor Lady Mondegreen gehabt wie Pirojil. Es wäre nett gewesen, sich Verheyens Dolchscheide vorher ansehen zu können, aber das hätte nicht die gleiche Wirkung gehabt. Milo anzustiften, Verheyens Messer zu stehlen, sich in den Finger zu schneiden und den verwundeten Finger in Verheyens Dolchscheide zu stecken, bevor er das Messer wieder zurückgab, war genau das Richtige gewesen, und wenn Pirojil auch niemals mit absoluter Sicherheit wissen würde, ob Milos Blut das von Lady Mondegreen und Baron Morray verdeckt hatte, so konnte er doch durchaus damit leben. Vielleicht war Verheyen ja ein bisschen ordentlicher gewesen, als Pirojil gedacht hatte. Vielleicht auch nicht. Also hatte er dafür gesorgt, dass das Problem gelöst wurde. 346 Steven Argent hätte sicher gern gewusst, wie er es gelöst hatte, aber ... Zur Hölle mit ihm. Wenn man einem Soldaten befahl, ein Problem zu lösen, tat er das eben, und er tat es mit Stahl und Blut und tat sein Bestes, dass es nicht sein eigenes Blut war. Es war besser für den Schwertmeister und den Grafen, nicht zu wissen, wie Pirojil herausgefunden hatte, wer der Mörder war. Das traf auch für Kethol und Durine zu, zumindest im Augenblick, obwohl er es ihnen irgendwann sagen würde, wenn sie alle weit genug weg waren. Weit weg klang sehr gut.
Das Nächste, was Pirojil spürte, war ein grobes Rütteln, als Kethol ihn am nächsten Morgen weckte, während das graue Licht der Vordämmerung schon durch das fleckige Fensterglas hereinfiel. Und sobald er wach war, wusste er, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er stellte den Mörder in der Küche. Selbst um diese Tageszeit wimmelte es hier von Köchen und Helfern, und der Geruch nach Brot im Backofen war überwältigend. »Guten Morgen, Ereven«, sagte Pirojil. »Ich wünsche Euch auch einen guten Morgen, Hauptmann Pirojil«, erwiderte der Mann so verdrießlich wie immer. »Ich habe gehört, dass Ihr aufbrecht - soll ich Euch ein wenig Proviant mitgeben?« »Nein. Wir haben, was wir brauchen.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte mich allerdings einen Augenblick mit dir unterhalten. Ich denke, ich sollte mich von dir verabschieden. Und ich bin kein Hauptmann mehr und möchte auch keiner sein.« Ereven nickte. »Selbstverständlich, Hauptmann«, erwiderte er. »Worum geht es?« »Komm mit mir nach draußen, nur für einen Augenblick.« Der Paradeplatz war immer noch mit festgetrampeltem Schnee 347 bedeckt, aber das Zeug fing langsam an zu schmelzen und war stellenweise rutschig. »Ich weiß alles«, sagte Pirojil. Erevens Miene blieb ausdruckslos. »Ihr wisst was, Hauptmann?« »Ich weiß, dass der Wein, den du Baron Morray gegeben hast, mit Schlafmittel versetzt war. Und ich nehme an, das Gleiche galt für Erlies Abendessen.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet.« »Oh, ich glaube, du weißt genau, wovon ich rede, Ereven. Ich könnte sogar raten, weshalb du es getan hast, aber das Wie ist auf jeden Fall klar genug. Und was den Täter angeht, so bin ich versucht anzunehmen, dass der verblichene Baron Verheyen zwei Mitverschwörer hatte, nämlich dich und deine Tochter Emma.« Das drang zu Ereven durch. »Hauptmann, ich -« »Aber ich weiß nicht einmal, ob Verheyen wirklich etwas damit zu tun hatte. Er hasste Morray, und er war klug genug, um Lady Mondegreens Pläne zu durchschauen, aber war er wirklich der Mörder, zusammen mit euch beiden?« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Und ich möchte es gerne wissen. Und wenn ich nicht sofort eine Antwort erhalte, wird der Brief, den ich hinterlassen habe - du brauchst nicht zu überlegen, bei wem -, dem Schwertmeister in ein paar Tagen übergeben werden. Dann wird er dir die gleichen Fragen stellen. Es sei denn ...« »Es sei denn?« »Es sei denn, du erklärst mir jetzt sofort, warum. Das Wie ist einfach, und ich hätte es längst erkennen sollen. Ein Soldat, der auf seinem Posten einschläft? Ein Mann, der bis vorletzte Nacht vollkommen zuverlässig war? Und dann ist er plötzlich während seiner Wache eingeschlafen? Sehr praktisch. Ein seltsamer Zufall. Es sei denn, dass sein Essen mit Schlafmittel versetzt war, ebenso wie der Wein, was auch erklärt, wieso du ihnen die Kehlen durchschneiden konntest, ohne sie zu wecken.
Ein gutes Küchenmesser, scharf geschliffen, wie es alle guten Küchenmesser sein sollten, hat das Zimmer von Lady Mondegreen auf einem zugedeckten Tablett verlas348 sen, nachdem du es auch auf einem zugedeckten Tablett hereingebracht hast, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden, während sie betäubt waren. Niemand fände es auffällig, wenn der Oberste Diener in der Küche ein Messer säubert.« Pirojil nickte. »Ich nehme an, deine Tochter hat dir geholfen.« »Sie weiß nichts davon. Bitte zieht sie nicht mit hinein. Es ist -« »Es ist nicht recht? Aber zwei Leuten die Kehle durchzuschneiden ist in Ordnung?« »Er hat sie behandelt wie ein Spielzeug«, erklärte Ereven, immer noch mit dieser ausdruckslosen Stimme. Ein ganzes Leben, in dem er jeden Ausdruck, Stimme und Miene beherrscht hatte, ließ sich auch jetzt nicht leugnen. »Er hat sie in sein Bett gelockt und ihr alle möglichen Versprechen gemacht - es ist nicht so ungewöhnlich, dass ein Adliger eine Gemeine zur Frau nimmt, und ein wahrer Edelmann erkennt zumindest seine Bastarde an.« »Aber das hat Baron Morray nicht getan.« »Nein. Er hat sie belogen, und sie glaubte, dass er sie liebt. Sie war ein braves Mädchen und hatte vor dem Baron nie einen Mann. Ich hatte gehofft, sie mit dem Sohn von Grigsby, dem Getreidehändler, verheiraten zu können. Er ist ein wohlhabender Mann, und sein Sohn wird eines Tages sein Geschäft übernehmen. Aber eine Schlampe mit dem Bastard eines Adligen? Mein Mädchen glaubte, in Morray verliebt zu sein, aber er hat nichts gesagt, als sie von seinem Kind immer dicker wurde. Ich glaube ...« Einen Augenblick versagte ihm die Stimme, aber dann riss er sich wieder zusammen. »Und dann eine andere Frau zu heiraten, die von ihm schwanger war - es ist ja kein Geheimnis, dass Baron Mondegreen krank war und seine Frau oft mit Morray zusammengekommen ist.« Erevens Stimme klang verbittert. »Welche Art von Mann leugnet denn seine eigenen Kinder? Erst gibt er nicht zu, dass er meine Tochter geschwängert hat, und dann lässt er einen anderen Mann ein zweites Kind mit der Frau, die er heiraten will, beanspruchen! Er und Lady Mondegreen waren schlechte Menschen.« Pirojil nickte. »Und das hier war deine letzte Gelegenheit, sie zu 349 bestrafen, nicht wahr? Verheyen hätte Morray nicht als Kämmerer behalten und hätte schon, bevor er Graf wurde, darauf gedrängt, dass man ihm die Graf schaftskasse anvertraute. Morray und Lady Mondegreen hätten sich auf ihre Ländereien zurückgezogen und ihr Bestes getan, so schnell nicht wieder nach LaMut zurückzukehren, aus Angst, dass Verheyen glaubte, sie würden sich wieder gegen ihn stellen, ganz gleich, was Morray geschworen hatte.« »Ja.« Pirojil nickte. »Dieses Mittel, das du in den Wein und ins Essen getan hast - hast du noch mehr davon?« Ereven zögerte einen Augenblick. »Ja.« »Dann habe ich einen Vorschlag. Er wird dich nicht retten, aber ...« »Aber meine Tochter?« Pirojil nickte. »Ich werde sie aus allem heraushalten, wenn du dich selbst heraushältst. Schlucke alles, was du von dem Zeug noch hast, und wenn du glaubst,
dass das nicht genügen wird, um dich wirklich umzubringen, dann finde etwas Sichereres und schlucke das ebenfalls. Spül es mit einer Flasche des besten Weins herunter, aber bevor du das tust, schreibst du einen Brief, in dem du erklärst, dass du Erlies Essen vergiftet hast - du kannst ja behaupten, du hättest es im Auftrag Verheyens getan, wenn du willst. Aber wenn du behauptest, dass ich dahinter stecke«, fügte er rasch hinzu, »dann wird alles herauskommen, darauf kannst du dich verlassen. Alles - auch, dass deine Tochter dich bestürmt hat, den Vater ihres Babys zu töten.« »Aber das hat sie nicht getan. Sie ahnt nicht einmal, dass ich es getan habe.« »Na und? Das Wort der Tochter eines geständigen Mörders wird gegen das des Hauptmanns stehen, der das Rätsel um die Morde an Lady Mondegreen und Morray gelöst hat. Wem wird der Graf glauben ? Im allerbesten Fall würden sie vielleicht warten, bis das Kind da ist, bevor sie deine Tochter hängen. Entscheide dich, Ereven. Aber entscheide dich jetzt, und sei klug. Es ist deine letzte Gelegenheit.« 350 Nun hatte Ereven seine ausdruckslose Miene wiedergefunden. »Euer Angebot ist akzeptabel, Hauptmann.« Er nickte. Dann fiel für einen Augenblick, nur für einen Augenblick, seine Maske. »Ihr werdet auch noch mein Blut an euren Händen haben, zusammen mit dem von Baron Verheyen.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Ich hatte schon viel Blut an meinen Händen, Ereven. Ich bin daran gewöhnt.« Pirojil hätte versuchen können, sich zu rechtfertigen. Immerhin war Verheyen trotz des Friedens, den sie geschlossen hatten, immer noch Morrays Feind gewesen, und Morray hätte nicht das Geringste gegen Verheyens Tod gehabt. Er hätte Steven Argent die Schuld geben können, weil der Schwertmeister ihn in eine Situation gebracht hatte, die ihn einfach überforderte. Aber das würde nicht funktionieren. Und wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Blut wieder in eine Leiche zurückfließen zu lassen, dann hätte Pirojil sie schon viele Male zuvor genutzt. Erlies Blut jedoch war immer noch in seinem Körper, und Pirojil konnte zumindest den Schaden begrenzen. Ereven nickte. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Und wenn Ihr versprechen würdet, ein gutes Wort für meine Tochter einzulegen, werde ich behaupten, dass es Verheyen war.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Keine Versprechen. Sollte ich jedoch jemals wieder in diese Gegend kommen - unwahrscheinlich, aber man weiß ja nie -, dann werde ich nach ihr sehen. Mehr kann ich nicht tun.« »Das genügt, Hauptmann.« Ereven richtete sich auf. »Wenn das alles war, dann werde ich jetzt...« »Ja, das war alles.« »Dann muss ich nun einen Brief schreiben und eine Flasche Wein suchen, mit der ich das Pulver herunterspülen kann, und ich sollte mich lieber beeilen, bevor Ihr es Euch anders überlegt.« »Genau.«
Ereven drehte sich um und kehrte in die Küche zurück. Pirojil ging ebenfalls wieder nach drinnen. Es gab noch viel zu tun, bevor die Leiche des Obersten Dieners und der Brief gefun351 den würden. Wenn Kethols Beschreibung der ... wie immer er sie auch nannte, diese Schneeschuhe ... zutraf, würde es eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hätten und aus LaMut heraus wären. Und wenn man bedachte, dass ein vollkommen unschuldiger Baron - oder zumindest einer, der so unschuldig war, wie ein Baron eben sein konnte - sinnlos gestorben war, wollte Pirojil lieber nicht mehr in der Stadt sein, wenn das Gerede über die Morde begann und für Wochen Tischgespräch jedes Adligen im Herzogtum wurde. Es wäre ihm lieber, wenn man sich an ihn als »diesen wirklich hässlichen Hauptmann« erinnerte, als dass sich zu viele seinen Namen merkten. Selbst wenn niemand je die Wahrheit herausfinden würde, hatte Verheyen Freunde, die es vielleicht für eine Art von Gerechtigkeit hielten, Pirojil verschwinden zu lassen. Pirojil wollte aus LaMut verschwinden, aber zu seinen eigenen Bedingungen. Sie sollten sich so bald wie möglich auf den Weg machen, alle fünf. Als er eine Treppe hinaufeilte, warf Pirojil durch ein Fenster einen Blick auf die Stadt LaMut. Eigentlich keine üble Stadt. Er hatte schon viel schlimmere erlebt, und nur wenige bessere. Die Sonne war nun beinahe aufgegangen, und die Stadt erwachte zum Leben. Er fragte sich zerstreut, welche Fehler sie außerdem noch gemacht hatten. Nicht, dass das zählte. In ein paar Jahren würde ein neuer Graf in LaMut herrschen, Vandros würde Herzog von Yabon sein, und alles wäre vergessen. Die einzige Frage, die noch an ihm nagte, war, wie der Feuerdrache Fantus es immer wieder geschafft hatte, in die Räume des Schwertmeisters zu gelangen. Es musste irgendwo einen Geheimgang in dieser Burg geben, den nicht einmal der Oberste Diener kannte. Nun, das Leben war voller ungelöster Rätsel, und das hier war eines der kleineren. Pirojil warf einen Blick aus dem Fenster auf den neuen Tag und war froh, dass er noch lebte, um ihn genießen zu können. Irgendwo draußen bellte ein Hund.