LENI BEHRENDT Die drei Wünsche
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LENI BEHRENDT Die drei Wünsche
»Zwei Minuten nach zwölf«, sagte der Arzt, damit die Geburtszeit des kleinen Wesens feststellend, das er soeben mit mühevollem Eingriff ans Licht der Welt geholt. »Und dazu noch der dreizehnte November – na, ich weiß nicht…« »Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Herr Doktor?« fragte die assistierende Schwester verwundert, und er brummte: »Beim Anblick dieses armseligen Würmchens könnte man es beinahe werden. Und die Mutter gefällt mir noch weniger. Nun, versuchen wir zu retten, was sich durch unsere schwachen Menschenkräfte eben, retten läßt.« Das geschah denn auch. Zuerst einmal bei dem Neugeborenen, das bei den geradezu verbissenen Bemühungen von Arzt und Schwester endlich quäkende Laute von sich gab. Also steckte doch Leben in dem kleinen Körper, wenn auch nur ein kümmerliches. Auch die Mutter erwachte langsam aus der Narkose, blieb jedoch in einem Zustand zwischen Wachen und Traum, der ihr das Bild einer gütigen Fee vorgaukelte, die segnend ihre zarten Hände über das winzige Geschöpfchen breitete, das man in den Arm der Mutter gelegt hatte. Und was der Mund des Märchenwesens sprach, formten die Lippen der Erdgeborenen nach, deren Seele sich bereits anschickte, den müden Körper zu verlassen. Die beiden Menschen, die diesem ungereimten Gestammel lauschten, sahen sich bangen Blickes an. »Hörst du es, meine kleine Hariet?« flüsterten jetzt die blutleeren Lippen beschwörend. »Drei Wünsche gibt dir die gütige Fee für dein Leben frei. Immer am Dreizehnten – merke es dir genau – immer am Dreizehnten – wenn du flehend den Höchsten anrufst – in Angst und Not. Man hat dich da oben lieb, mein süßes Kind.« »Wahrscheinlich so lieb, daß man dich hinaufholen wird«, brummte der Arzt in das direkt unheimlich anmutende Geflüster hinein. »Genauso’ wie deine Mutter. Möchte bloß wissen, wo dieser Hermeran bleibt. Wie seine Tante sagte,
wollte er am Spätabend von seiner kurzen Reise zurück sein. Rufen Sie doch mal in seiner Wohnung an, Schwester.« »Im Hause Hermeran gibt es kein Telefon, Herr Doktor.« »Auch das noch. Dann schicker! Sie sofort einen Boten hin. Die Frau stirbt uns ja unter den Händen weg. Und für das Leben des Neugeborenen gebe ich gleichfalls keinen Heller.« Der Bote wurde ausgeschickt, brachte jedoch nur die Tante der jungen Mutter mit. Verstört, als wäre sie an allem schuld, berichtete sie, daß der Neffe immer noch nicht zurückgekehrt sei. Wahrscheinlich hätte er den letzten Zug versäumt. »Herr Doktor, glauben Sie mir doch, er ist ein guter Mensch«, flehte das dürre, ältliche Fräulein den Arzt förmlich an. »Er wäre um alles nicht auch nur für eine Stunde von der Seite seiner Frau gewichen, hätte er die verfrühte Geburt auch nur geahnt. Er hat sie doch so lieb, seine zarte, feine Felizitas – und freut sich doch so sehr auf das Kind.« Sie konnte nicht weitersprechen, weil ein hartes Schluchzen ihr fast das Herz abstieß. Und da legte sich der Groll des Arztes und machte einem erbarmenden Mitleid Platz. Das Kind war tatsächlich fünf Wochen zu früh geboren, womit man in der Familie natürlich nicht gerechnet hatte. Schon gar nicht, da die Frau noch munter war, als der Gatte die eintägige Reise antrat. Armer Mann! Dieser harte Schicksalsschlag würde ihn vernichtend treffen. Liebte er doch seine Feli so sehr, daß er ihr am liebsten die Hände unter die zarten Füßchen, gebreitet hätte. Zumal dann, als sie sich, die die Dreißig längst überschritt, Mutter fühlte. Wie ein Wickelkind war sie von Gatten und Tante gehätschelt worden. Nie hätte letztere damit gerechnet, daß ihr Brotherr, dessen kleinem Haushalt sie schon länger als ein Jahrzehnt vorstand, sich in die Nichte verlieben könnte, als diese die Tante einmal besuchte. Nur auf einige Stunden – und
daraus wurden dann Jahre. Zwei Jahre voll Liebe und Eintracht zwischen den drei Menschen in der kleinen. Wohnung einer Großstadt. Immer noch erfüllte das ältliche Fräulein mit Stolz, daß aus ihrem Brotherrn ihr Neffe geworden war. Er war aber auch wirklich gut von Herz und Gemüt, der Archäologe Dr. Oskar Hermeran. Ein stiller, schwächlicher Mann mit einem durchgeistigten Gelehrtengesicht und einer scharfen Brille vor den kurzsichtigen Augen. Er lebte in einer alten Welt, der nachzuspüren sein Sinnen und Trachten stand. Er bedauerte es schmerzlich, dieser Welt nicht an Ort und Stelle nachforschen zu können, wie es zum Beispiel seinem Bruder Edwin vergönnt war. Doch dafür fehlte Oskar das Geld, das dem andern durch eine reiche Heirat zufloß. Dazu noch dessen robuste Gesundheit und der Unternehmungsgeist. Das wurmte diesen fanatischen Gelehrten so sehr, daß er brüsk die Beziehungen zum Bruder abbrach, obwohl dieser ihm nichts getan hatte. Aber Neid macht nun einmal ungerecht. So blieb Oskar Hermeran denn am Schreibtisch, ging dort förmlich in der Archäologie auf. Was um ihn herum geschah, war dem weltfremden Gelehrten gleichgültig. Er aß und trank nur, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen, egal, ob es nun Gesottenes und Gebratenes oder nur ein Stück trocken Brot war. Allein, daß sein ohnehin schwächlicher Körper dabei nicht verkam, dafür sorgte das bejahrte, ehrsame Fräulein Berta Okleid, die diesen »sonderbaren Heiligen«, wie sie ihn bei sich nannte, nun schon elf Jahre betreute. Energisch nahm sie sich seines kleinen Hausstandes an den ihre Vorgängerinnen verlottern ließen. Sie teilte auch das Geld, das ihrem Brotherrn schlecht und recht durch seine archäologischen Arbeiten zufloß und von dem sie nur einen Teil zum Wirtschaften bekam, mit praktischer Umsicht ein. Brachte stets ein schmackhaftes Essen auf den Tisch und ärgerte sich immer wieder, daß der von ihr so rührend Betreute es wie geistesabwesend zu sich nahm.
Bis dann die liebliche Felizitas in das stille Leben des bereits Fünfundvierzigjährigen trat. Da wurde er sich; mit Erstaunen bewußt, daß er wie jeder andere Mann Anspruch auf ein Familienleben hatte. Und da Felizitas Okleit sozusagen aus der Branche war, da sie schon jahrelang als Sekretärin bei einem Altertumsforscher gearbeitet hatte, so kam ein Paar zusammen, das gut zueinander paßte. Feli wurde des Gatten Famulus, seine Mitarbeiterin und seine geliebte Frau, unter deren Herzen nach zweijähriger Ehe ein kleines Wesen dem Leben entgegen wuchs. Als der weltfremde Mann davon erfuhr, war er zuerst betroffen. Doch dann brach langsam die Freude bei ihm durch. Aus allen Ecken des Gelehrtenstübchens dieses Altertumsforschers schien es zu frohlocken. Und neues Leben blühte aus den Ruinen. Mitte Dezember sollte das, für den Mann kaum faßbare Wunder geschehen. Also konnte er am zwölften November beruhigt auf einen Tag verreisen, um einen für ihn sehr wichtigen Vertrag abzuschließen. Kam er zustande, konnte er sich doppelt auf sein Kind freuen, das seiner glücklichen Ehe die Krönung bringen sollte. Aber ach, das Schicksal bestimmte es anders. Kaum war der Mann fort, setzten bei der Gattin Schmerzen ein, welchen sie sowie auch die Tante zuerst keine Bedeutung beimaßen. Denn bis zur Geburt waren es immerhin noch fünf Wochen, und eine kleine Unpäßlichkeit konnte in dem Zustand schon einmal vorkommen. Als jedoch die Schmerzen nicht nachließen, sondern an Heftigkeit zunahmen, holte Berta einen Arzt, der die junge Frau schleunigst ins Krankenhaus schafften ließ, wo der Chefarzt sich in der Nacht zu einem komplizierten Eingriff entschließen mußte. Wer trug daran die Schuld? Nur die Natur allein. Und als der junge Vater am nächsten* . Morgen endlich vor dem Chefarzt stand, sprach dieser mit gemachter Sachlichkeit:
»Ja, mein lieber Herr Dr. Hermeran, damit müssen Sie sich schon abfinden.« Das war leichter gesagt als getan. Die schmächtige Gestalt schien förmlich in sich zusammenzusinken. In den Augen hinter den scharfen Brillengläsern brütete ein Ausdruck des Nichtbegreifens. Und dann die Stimme, diese dünne, zittrige Stimme, die allein schon eine Welt von Tragik in sich barg: »Das kann doch aber nicht möglich sein, Herr Doktor. Das Kind sollte doch erst Mitte Dezember geboren werden.« »Stimmt«, gab der Arzt sich Mühe, den sachlichen Ton beizubehalten, »aber die Natur geht nun einmal eigensinnige Wege.« »So ist meine Frau – wirklich – tot?« »Leider. Obwohl wir bestimmt alles taten, um sie am Leben zu erhalten.« »Und das Kind?« »Noch lebt es. Wie lange, das steht allerdings in Gottes Hand.« »Welchen Geschlechts ist das Kleine?« »Ein Mädchen.« »Also Hariet«, sprach der verstörte Mann nun geistesabwesend vor sich hin. »So sollte auf ihren Wunsch eine Tochter heißen. Was soll ich nun wohl mit ihr anfangen ohne meine Frau?« Darauf wußte der Arzt keine Antwort. Ihm war ohnehin die Kehle wie zugeschnürt. Es passierte schon einmal, daß die Mutter dem Neugeborenen wegstarb, wenn gottlob auch nur selten. Und jedesmal fühlte der Arzt mit dem Vater Erbarmen – doch mit diesem noch ganz besonders. Ihm war erbärmlich zumute, als er Tante und Neffen davongehen sah – unendlich müde, wie zerbrochen. Und zwar ohne das Kind. Das sollte so lange im Krankenhaus unter fachmännischer Betreuung bleiben, bis es richtig lebensfähig war – oder seiner Mutter nachfolgen würde. Deren verworrene Worte behielt der erfahrene Mann für sich, weil er sie für die Auswirkung einer Halluzination
hielt, wie sie Sterbende manchmal zu haben pflegen. Und so nahm denn das Schicksal der Hariet Hermeran seinen Lauf. Vier Monate später hielt diese Hariet dann Einzug in ihr Vaterhaus. Sie war wohl noch zart, aber so gut entwickelt, daß sie den Kindern ihres Alters kaum nachstand. Man hatte sich im Krankenhaus aber auch die allererdenklichste Mühe mit dem Säugling gegeben und war ordentlich stolz darauf, ihn bestens gepflegt dem Vater übergeben zu können. Allein, dieser war keineswegs erfreut, weil er mit seiner winzigen Tochter nichts anzufangen wußte. Er übergab sie einfach der Tante, die das kleine Wesen als unnütze Belastung betrachtete. Außerdem hatte sie gar keine Ahnung von Kleinkinderpflege. Wußte nur, daß so ein Schreihals ständig hungrig war und einen Haufen Windeln brauchte. Nun, dafür wollte sie schon sorgen, und sattmachen wollte sie das Kind auch, weil es nun einmal da war. Aber schreien durfte es nicht. Damit würde es den gelehrten Vater in seiner Arbeit stören. Also wurde Klein-Hariet in das Hinterstübchen verbannt, das Tante Berta bewohnte. So ein »Quarkzeug« wie Babybettchen würde erst gar nicht angeschafft. Das waren nur unnütze Ausgaben, wo man doch mit jeder Mark rechnen mußte. Der Wäschekorb tat’s auch – und damit holla! Nun, zuerst tat der Korb auch wirklich seine Dienste. Doch als die Kleine, die sich langsam aufzurichten begann, aus der primitiven Bettstatt fiel, kaufte Berta notgedrungen ein gebrauchtes Kinderbettchen. Und schließlich gar einen schäbigen Wagen, in dem ein Schulmädchen das Kind am Nachmittag eine Stunde ausfuhr. Dann konnte es getrost schreien. Doch in der Wohnung unterband die mürrische Tante das energisch. So wurde dann aus dem zuerst so lebhaften Baby langsam ein sehr, ruhiges, ängstliches Kind, das sich mit Vorliebe in
einem Winkel verkroch, sich stundenlang mit der einzigen Puppe, welche die geizig zu nennende Tante sich sozusagen von der Seele gerungen hatte, beschäftigte oder still am Däumchen lutschte. Der Vater bekam sein Kind erst richtig zu sehen, als Berta es an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen ließ. Dann saß es verschüchtert da, das kleine Dinglein, wagte sich kaum zu rühren, geschweigedenn zu sprechen, duckte sich scheu, wenn der Vater es auch nur ansah. Wie hilfesuchend ging dann der Blick der großen Träumeraugen zur Tante hin, die trotz ihres mürrischen Wesens dem Kind lieb und vertraut war, weil es ja nichts anderes kannte. Und dabei war Hariet doch ein besonders reizendes Dirnlein, das so manches Mutterherz in Entzücken versetzt hätte. Wie ein Elflein war sie, so zart und fein, mit dem zierlichen Figürchen, den lichtbraunen Ringellocken und den leuchtendblauen Augen, die das ganze süße Kindergesichtchen beherrschten. Sie war unbedingt eine Kinderschönheit, was selbst die ärmliche Kleidung nicht beeinträchtigen konnte. Und wegen dieser Kleidung wurde Hariet dann auch später, als sie zur Schule ging, von ihren Mitschülerinnen verhöhnt – denn Kinder können bekanntlich sehr grausam sein. Sie war überhaupt nicht beliebt, weil sie ein kluges Köpfchen hatte und außerdem noch eifrig lernte. Das brachte ihr den Namen »Angeberin« ein, und ihre wirklich recht altmodische Kleidung die nicht minder höhnische Bezeichnung »Vogelscheuche«. Das tat der ohnehin schon sensiblen Hariet bitter weh. Ließ sie immer mehr in sich selbst verkriechen, so daß sie auch bei den Lehrern bald als kleiner Sonderling galt. Ihnen genügte, daß Hariet Hermeran eine äußerst begabte und fleißige Schülerin war, alles andere ging sie nichts an. Sonst hätten sie leicht dahinterkommen können, daß dem eigenartigen Kind das Beste im Leben fehlte – die liebevolle Mutter. Die hätte ihr kleines Mädchen bestimmt nicht so »vogelscheucherig« gekleidet, wie die altjüngferliche
Großtante es tat, die der Großnichte aus ihren abgelegten Kleidern die komischsten Gebilde zurechtschneiderte. Denn erstens einmal war die gute Berta geizig, und dann war sie der Ansicht, daß Putz und Tand ein Mädchen eitel und hoffärtig machen. Außerdem mußte Berta wirklich sparen. Denn was sie zum Wirtschaften bekam, war so lächerlich wenig, daß sie nicht nur mit der Mark, sondern tatsächlich mit dem Pfennig geizen mußte. Mehr konnte der Neffe ihr nicht geben, basta! Für ihn mußte zuerst einmal das angeschafft werden, was er für seine archäologischen Arbeiten brauchte. Also mußte seine Tochter sozusagen in Sack und Asche gehen, wodurch sie von den zum Teil recht geputzten Mitschülerinnen natürlich abstach. Immer mußte sie deswegen boshafte Sticheleien einstecken, an die sie sich schließlich gewöhnte und die sie mit einer Gelassenheit hinnahm, die weit über ihre Jahre hinausging. Überhaupt war alles, was Hariet Hermeran tat, von einer gelassenen, fast pedantischen Gründlichkeit. Selbst im Chor, den eine äußerst musikalische Lehrerin leitete, gab sie ihr Bestes her. Folge davon, daß die noch junge Chorleiterin sich Hariets besonders annahm und ihr kostenlosen Gesang- und Klavierunterricht erteilte, das Mädchen sogar auf dem eigenen Klavier üben ließ. Denn obwohl, ein Pianino in der Hermeranschen Wohnung stand, hätte Tante Berta es direkt als Sünde angesehen, wenn die Tochter des Hauses darauf gespielt hätte. Und gar noch singen! Und den gelehrten Mann in seiner Arbeit stören – na, das wäre…! Der sollte überhaupt nicht merken, daß in seinem Hause eine Tochter heranwuchs. Und doch konnte, trotz aller ängstlichen Fürsorge, die gute Berta es nicht verhindern, daß der Vater langsam aufmerksam auf seine Tochter wurde. Aber nicht, weil sie eine kleine Schönheit war, sondern weil sie ein helles Köpfchen zu haben schien. Immer wieder konnte das der
Gelehrte feststellen, und allmählich zog er die Tochter zu sich heran, so daß diese schon mit sechzehn Jahren sein kleiner Famulus wurde. Die Schule erledigte das gescheite Mädchen ganz nebenbei, und es war eigentlich eine Selbstverständlichkeit, daß es spielend sein Abitur machte. Was allerdings nicht möglich gewesen wäre, hätte Hariet nicht Freischule gehabt. Denn die engstirnige und geizige Berta hätte sie bestimmt nicht auf die höhere Schule geschickt. Wäre es nach ihr gegangen, hätte die Nichte schon mit vierzehn Jahren abgehen müssen, damit sie endlich in die Lehre kam und Geld verdiente, nicht nur kostete. Aber da griff der Vater zum erstenmal in die Erziehung seiner Tochter ein. Erklärte ruhig aber fest, daß dieses äußerst begabte Mädchen zur Schule gehen sollte, solange es ihm selbst gefiel. Also mußte Berta sich fügen, und Hariet lernte selbstverständlich weiter. Außerdem war es für sie noch selbstverständlich, daß sie der Tante, die zu kränkeln begann, mehr und mehr die Hausarbeit abnahm. Und als die dann immer mürrischer gewordene Berta eines Tages einem Herzschlag erlag, stand die junge Hariet gewiß nicht hilflos da, sondern übernahm, ohne viele Worte zu machen, den Haushalt – bis dann auch der Vater starb. So still wie er gelebt, war er auch dahingegangen. Und erst mit diesem Moment stand die zwanzigjährige Hariet Hermeran ganz schutzlos und verlassen da – reich an Wissen, aber arm an Lebenserfahrung. Da gab es niemand, der ihr hätte mit Rat und Tat zur Seite stehen können, weil man sich ja von allen Menschen zurückgehalten und weder Freundschaft noch Nachbarschaft gesucht hatte. Ergo hieß es für Hariet: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! So verkaufte sie erst einmal die schlichte Einrichtung der Wohnung, veräußerte die teuren archäologischen Dinge, bis auf die Aufzeichnungen des Vaters, für einen Spottpreis und bezog dann ein möbliertes Zimmer, das zwar sehr
primitiv war, ihrer einfachen Gewöhnung jedoch durchaus entsprach. Und was nun? Zwar besaß sie ein kleines Kapital, das aber höchstens für ein Jahr reichen würde. Also mußte sie sich eine Stellung suchen. Aber was für eine? Zwar hatte sie ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden, verstand auch von der Archäologie eine ganze Menge, wußte auch in der Haushaltführung einigermaßen Bescheid, aber ob das genügt, sich in fremden Diensten behaupten zu können? Nun, der Versuch mußte jedenfalls gemacht werden. Also kaufte Hariet vielgelesene Zeitungen, meldete sich auf mehrere Inserate, um entweder abschlägigen oder gar keinen Bescheid zu bekommen. Rasend schnell vergingen die Wochen, und das Geld schrumpfte zusammen, obwohl das Mädchen sich kaum noch satt zu essen wagte. Wenn sie doch jemanden um Rat fragen könnte. Aber sie besaß ja noch nicht einmal einen Vormund. Wozu auch. Sie wurde sowieso bald einundzwanzig Jahre und somit mündig. Zehn Tage vorher entdeckte Hariet in der Zeitung ein Inserat, auf das sie aufs neue ihre Hoffnung setzte. Denn was da verlangt wurde, dafür müßte sie doch eigentlich geradestehen können, nämlich: Beaufsichtigung der Schularbeiten eines fünfzehnjährigen Mädchens und kleine Hilfeleistungen in einem groß geführten Haus. Unterschrieben war das Inserat mit dem Namen: Baronin von Eggeroth-Herrnhagen. Wo dieses Herrnhagen lag, hatte Hariet zwar keine Ahnung, aber das war ja auch egal. Hauptsache, daß sie in Lohn und Brot kam. Wo, das spielte nun wirklich keine^Rolle. Schon eine Stunde später warf Hariet die Bewerbung in den Briefkasten und wartete dann fieberhaft auf Antwort. Aber fast schien es, als würde sich für sie auch diese Hoffnung zerschlagen.
Doch der Mensch denkt – und Gott lenkt.: Es war um die zwölfte Stunde, als Hariet sich im Mietzimmer auf ihrem schmalen, harten Lager ruhelos herumwarf – hoffnungslos und wie zerschlagen. Woran lag das nur, daß sie niemand haben wollte? Sie war doch der guten Vorsätze voll. Wollte alles tun, was von ihr verlangt wurde. Wie bitter war es doch, so einsam zu sein. Hatte sie denn gar keine Verwandten? Einen Onkel wohl, wie Tante Berta ihr einmal erzählte. Aber das war ein feiner, berühmter Mann und mit seinem Bruder entzweit, weil der nicht auch eine so reiche Frau hatte wie er. So hatte die engstirnige“ Berta sich das wenigstens ausgelegt, was ihr die weit*’ fremde Nichte auch ohne weiteres glaubte. Morgen ist nun mein Geburtstag – dachte Hariet jetzt in stiller Verzweiflung. Und keiner ist da, den das was angeht. Warum muß ich denn allein sein, so mutterseelenallein? Von dem nahen Kirchturm dröhnten zwölf dumpfe Schläge. Und gerade als sie verklungen waren, faltete ein verlassenes junges Menschenkind auf seinem harten Lager die Hände und flehte inbrünstig zu dem Höchsten empor: »Lieber Gott, gib mir Lohn und Brot. Ich komme ja sonst um in all dem Namenlosen, das für mich Leben heißt. Hilf mir doch, Vater, im Himmel droben – hilf mir doch – bitte!« Als sich die zitternden Mädchenlippen schlossen, war es genau zwei Minuten nach zwölf, und der dreizehnte November. Zwei müdegeweinte Augen schlossen sich zu tröstendem Schlaf, der dem jungen ratlosen Menschenkind einen wundersamen Traum vorgaukelte. Eine wunderschöne Fee stand vor der Träumenden, breitete segnend die Hände über das gleißende Köpfchen und sprach gütig: »Dein erster Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet, du wirst in Lohn und Brot kommen. Aber noch stehen dir zwei Wünsche im Leben frei – hüte sie gut.«
Als Hariet dann aus diesem seltsamen Traum erwachte, tat sie ihn lächelnd ab und vergaß ihn dann rasch. Und nur deshalb, weil sie ein Schreiben im Briefkasten fand, das sie nach Herrnhagen beorderte. Da hatte sie wahrlich anderes zu tun, als über einen Traum nachzugrübeln. Es fiel Hariet Hermeran bestimmt nicht schwer, ihr primitives Zimmer aufzugeben. Freudig packte sie die beiden mäßig großen Koffer, die ihre gesamte Habe bargen. In den Handkoffer tat sie außer Kleinigkeiten das dicke Buch mit den Aufzeichnungen ihres Vaters, das sie als Andenken achtete und ehrte. Der Traum war aus ihrem Gedächtnis wie weggewischt. Dafür kreisten in ihrem Hirn gar frohe Gedanken. Sie hatte eine Stelle – und eine gute sogar. Alles frei und dann noch fünfzig Mark im Monat. Wie ein Krösus kam sie sich vor, die nach Vorbild der Tante mit dem Pfennig zu rechnen gewohnt war. Voller Freude und Zuversicht trat sie ihren Flug in das neue Leben an. Ach, wie war für die Unverwöhnte doch alles so neu und interessant. Schon die Reise allein war ein Erlebnis – auch wenn sie ein dreimaliges Umsteigen verlangte. Zuerst einmal Omnibus bis zur Bahn, dann D-Zug, dann Bummelzug, dann Kleinbahn. Nun was lachte die glückliche Hariet in sich hinein, leicht ist mein Gepäck und leicht mein Sinn. Für die beiden größeren Koffer zeichnet die Bahn verantwortlich, und das Köfferlein, das ich mit mir führe, wiegt bestimmt nicht schwer. Auch das Schuldbewußtsein, das sich zaghaft hervorwagen wollte, tat sie frohgemut ab. Sie hatte sich nämlich erlaubt, Zweiter zu fahren, was für ihren schmalen Geldbeutel nicht gerade dienlich war. Aber was, sie verdiente ja jetzt – fünfzig Mark im Monat! Da sollte man nun nicht leichtsinnig werden! Es machte ihr auch gar nichts aus, daß manch verwunderter
oder auch spöttischer Blick sie wegen ihrer altmodischen Kleidung traf. Auch das Mädchen nicht, das in hypermoderner Aufmachung neben ihr saß und sie höhnisch musterte. Dergleichen tat ein Geck, der zu dem kleinen »Chamäleon« wunderbar paßte. Und da gleich und gleich sich ja gern gesellt, geschah es hier auch. Ganz ungeniert flirtete man miteinander, tat ebenso ungeniert seine Meinung über die »altklunkerige Mamsell« kund. Na was, sie zählten ja zur Jugend – und der gehört nun einmal die Welt. Die »Alten« hatten sich ihr einfach unterzuordnen, wurden gegen die Wand gedrückt. Der Ansicht schien jedoch ein Mann mit angegrauten Schläfen nicht zu sein. Auch nicht seine Ehehälfte, die mit unauffälliger Eleganz gekleidet war. Sie schienen noch Macht über ihr im Backfischalter stehenden Töchterlein zu besitzen, denn es zeigte keine Symptome der hypermodernen Jugend, sondern bot in seinem reizenden Habit einen herzerfreuenden Anblick. Und diesem bildhübschen Mägdlein tat die verhöhnte Mitreisende leid. Die dunklen Augen in dem zarten Gesichtchen blitzten, der jungrote Mund sprach leise vor sich hin: »Es gibt auch Gänse federlos, es gibt auch Ochsen hörnerlos.« »Dietlind!« rief die Mutter lachend dazwischen, »das müssen ja ganz komische Gebilde sein. Wo hast du die denn gesehen?« . »Im Panoptikum«, erklärte das Töchterlein mit dem unschuldigsten Gesicht, und der Herr Papa schmunzelte. Und dieses Schmunzeln ging den Vertretern der bahnbrechenden Jugend so auf die Nerven, daß sie mit einem Blick des Einverständnisses und mit einem verächtlich gemurmelten »Banausen« das Abteil verließen. Und dabei hatte sie doch niemand angegriffen. »Na, Gott sei Dank!« lachte die reizende Kleine unbekümmert. »Die sind wir los, diese gräßlichen Typen.«
»Dietlind, ich muß schon sagen, daß du doch eigentlich recht frech bist«, begann die Mutter, und der arge Schelm tat erstaunt. »Ich und frech? Ja, warum denn, geliebte Mutz? Finden Sie das etwa auch, Fräulein…?« »Hariet Herme ran heiße ich«, war die lachende Erwiderung, und das Ehepaar horchte auf. Dann sagte der Mann zögernd: »Warring heißen wir, gnädiges Fräulein. Und nun eine Frage: Sind Sie mit dem berühmten Forscher Hermeran verwandt?« »Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, entgegnete Hariet bescheiden. »Ein Forscher war mein Vater schon – aber kein berühmter.« »Wie hieß er mit Vornamen?« »Oskar.« »Hm. Den ich meine, der heißt Edwin.« »Dann ist das mein Onkel«, wurde das Mädchen nun lebhaft. »Doch leider weiß ich so gar nichts von ihm. Kennen Sie ihn etwa, Herr Warring?« »Allerdings, wenn auch wenig. Er heiratete eine Base von mir, sehr zum Entsetzen ihrer Verwandtschaft. Denn ein so schönes, reiches Mädchen wie Regina hätte bestimmt noch einen anderen Mann gekriegt als den mittellosen Forscher, der von seiner Arbeit besessen war. Aber komm einer gegen sein Herz an. Es verlangt da sein Recht, wo es liebt.« Dabei umfaßte sein zärtlicher Blick die Gattin, die ihn aus Liebe erwählt hatte, obgleich er fünfzehn Jahre mehr zählte als sie. Und dennoch – oder gerade deshalb – war sie der glücklichsten Ehen eine geworden, die durch zwei Kinder ihre Krönung erhielt. Der achtzehnjährige Stammhalter zählte vier Jahre mehr als das Schwesterlein und lebte jetzt in einem Internat. Es hatte Freude an seinen Kindern, das charmante Ehepaar Warring. Sie bemühten sich beide, den Eltern keinen Kummer zu machen, die allerdings auch viel Verständnis für sie aufbrachten.
»Eigentlich sind wir doch mit Fräulein Hermeran verwandt«, meinte Dietlind eifrig, und die Mutter hob lachend die Hände. »Kind, hör auf! Diese Verwandtschaft geht so bestimmt um sieben Ecken. Lassen wir also davon ab, sie ergründen zu wollen.« »Warum denn, Mutz, das ist doch ganz einfach. Die Base von Paps…« »Mädchen, erbarm dich!« flehte nun auch der Vater in komischem Entsetzen dazwischen. »Staunen wir lieber über den Zufall, der uns ausgerechnet in diesem Abteil mit der jungen Dame zusammenbrachte, die eine Nichte des bekannten Forschers ist. Darf man fragen, gnädiges Fräulein, wohin die Reise gehen soll?« »Nach Herrnhagen, Herr Warring, falls Ihnen das ein Begriff ist.« Überrascht blitzte es in seinen Augen auf, ebenso in denen von Frau und Tochter. Doch bevor diese ihrer Überraschung Ausdruck geben konnte, sprach schon der Vater wieder, dem Töchterlein einen warnenden Blick zuwerfend: »Natürlich ist Herrnhagen uns ein Begriff, gnädiges Fräulein. Es grenzt nämlich an unser Gut Prahlen.« »Oh, wie schön! Dann steigen wir wohl auf derselben Station aus?« »Will ich meinen. Aber bis dahin hat es noch gute Weile. Denn nach diesem Zug kommt erst der Bummelzug und dann die Kleinbahn.« »Das weiß ich«, lachte Hariet. »Und ich freue mich auf die Fahrt. Ist es doch die erste in meinem Leben.« Betroffen sahen sich die drei Menschen an, und dann fragte Frau Alice vorsichtig: »So sind Sie immer im Auto gefahren?« »Aber keineswegs, gnädige Frau, wir hatten ja gar kein Auto. Dafür waren wir ja viel zu arm. Ich bin noch nie aus meiner Heimat herausgekommen, fahre mit der Eisenbahn zum ersten Mal.«
Ja, wo gibt es denn so was? hätte der verblüffte Herr am liebsten gefragt, was er natürlich unterließ. Statt dessen streckte er gewissermaßen seine Fühler aus. »Sicherlich werden Sie in Herrnhagen schon ungeduldig erwartet?« »Das weiß ich nicht«, wurde das Mädchen nun kleinlaut. »Ich erscheine dort ja nicht als Gast, sondern als Angestellte. Ich soll der Tochter des Hauses bei den Schularbeiten helfen und mich außerdem im Haushalt betätigen.« »Hm«, meinte Herr Warring mit undefinierbarem Lächeln. »Ein dehnbarer Begriff. So sind Sie Lehrerin, gnädiges Fräulein?« »Nein, das nicht. Ich habe nur das Abitur. Aber ich hoffe, daß mein Wissen bei einer fünfzehnjährigen Schülerin genügen wird.« »Das ganz bestimmt«, bestätigte Frau Warring freundlich, dabei ihrer Tochter, die schon den Mund öffnete, unauffällig auf den Fuß tretend. »Wenn meine Menschenkenntnis nicht trügt, scheinen Sie ein gescheites Köpfchen zu haben.« »Das sagte mein Vater auch«, lächelte Hariet verlegen. »Und die Mutter?« »Die starb bei meiner Geburt.« »Wer erzog Sie?« »Meine Großtante, die vordem Haushälterin bei meinem Vater gewesen war, der dann ihre Nichte heiratete.« Darauf sagte das Ehepaar zuerst einmal gar nichts, und auch die sonst so lebhafte Tochter schwieg betreten. »Hm«, brummelte der Mann dann, dabei die Augen senkend, damit der mitleidige Blick das Mädchen nicht traf. Zwar wußte er aus dessen Leben nichts Genaues, konnte jedoch die Tragik im Leben dieser Gelehrtentochter ahnen. Es kam zu keiner weiteren Unterhaltung, weil der D-Zug auf der Station hielt, wo man umsteigen mußte. Da man nur wenige Minuten Zeit hatte; müßte der Wechsel rasch vor sich gehen. Und das Abteil in dem Bummelzug
war so besetzt, daß man kein vertrauliches Wort mehr miteinander sprechen konnte, ebensowenig wie später im Kleinbahnwagen. Als man den verließ, wartete auf der kleinen Station, die eine Blechbude bezeichnete, ein eleganter Mercedes, neben dem ein Chauffeur stand und nun seiner Herrschaft engegeneilte, um ihr die kleinen Koffer abzunehmen. »Nun, bockt er nicht mehr?« fragte Warring lachend. »Scheint ja wie. eine Primadonna zu sein, die gerade dann ihre, Launen hat, wenn man sie am nötigsten braucht. Verstehen Sie das, gnädiges Fräulein?« »Nein«, lachte Hariet. »Mit Autos habe ich absolut keine Erfahrung.« .»Wohl Ihnen«, seufzte der Mann. »Da kann es Ihnen schon blühen, daß Sie eine dringende Reise per Bahn machen müssen, weil gerade dann so ein chromblitzendes Ungeheuer streikt. Doch wie ist es nun mit Ihnen, man erwartet Sie doch wohl in Herrnhagen?« »Das schon…« »Dann wundere ich mich, daß kein Gefährt hier ist.« »Das traf ich unterwegs«,“ schaltete sich der Chauffeur ein. »Es wird wohl noch eine gute Weile dauern, bis der alte August mit seiner >Staatskarosse< hier ist. Wartet das Fräulein etwa darauf?« Leider – wäre es Warring beinahe entschlüpft. Doch er sagte ermunternd: »Machen Sie sich keine Sorge, gnädiges Fräulein, das Fuhrwerk ist bereits unterwegs. Alles Gute wünsche ich Ihnen.« »Danke, Herr Warring. Ich glaube schon, daß es mir gutgehen wird.« Na, wenn man – verschluckte der Mann die gebührende Antwort wieder, während die Gattin sich freundlich an das junge Mädchen wandte: »Ich sage: Auf Wiedersehen, Fräulein Hermeran. Wir würden uns freuen, Sie auf Prahlen, das ja nur fünf
Kilometer von Herrnhagen entfernt liegt, begrüßen zu können.« »O ja, kommen Sie recht bald«, schloß sich das Töchterlein der Einladung an. »Wir müssen ‘doch unbedingt „unsere Verwandtschaft ausknobeln.« Lachend nahm man Abschied. Und als man in den weichen Polstern saß, sagte Frau Warring mitleidig: »Armes Ding. In deiner Haut möchte ich nicht stecken.« Nun, arm kam sich Hariet Hermeran gewiß nicht vor. Warum auch? Etwa, daß sie auf das Gefährt warten mußte, das sie nach Herrnhagen bringen sollte? Sie war ja in Geduld geübt. Auch daß sie bei dem unwirtlichen Wetter in dem dünnen Mäntelchen fror, nahm sie einfach als selbstverständlich hin. Es machte ihr auch gar nichts aus, daß es regnete. Dafür bot die Blechbude Schutz, auf deren Bank sie sich niederließ. Doch nicht lange, dann fuhr sie erschrocken auf. Wo waren denn ihre Koffer geblieben? Unruhig spähte sie umher und entdeckte dann aufatmend die schäbigen Dinger, die gar griesgrämig anzuschauen unweit des Geleises standen. Doch für Hariet waren sie äußerst wertvoll, bargen sie doch ihre ganze ärmliche Habe, die sie nun in die Bude schleppte. Geduldig saß sie dann wohl noch zehn Minuten lang, dann kam das Fuhrwerk. Altersschwach war der Wagen, altersschwach das Pferd – und altersschwach der Kutscher, der steifbeinig von dem harten Sitz kletterte. Und schon stand das Mädchen neben ihm. »Sie wollen mich doch sicherlich abholen, nicht wahr? Ich heiße Hariet Hermeran.« »Da soll das woll richtig sind«, bestätigte der Alte bedächtig. »Aber es regnet wie auf den tollen Hund, Fräuleinchen. Haben Sie denn nicht so ein Ding von Wettermantel? Wir haben immerhin eine Stunde zu fahren. Bei dem miesen Wetter sogar noch länger.« »Nein, einen Wettermantel besitze ich leider nicht.«
»Schon faul – sogar oberfaul«, zog der Biedere seine verwitterte Mütze fester auf den Schädel. »Aber lassen Sie man, das kriegen wir schon hin. Ich habe eine Decke im Wagenkasten, darin packe ich Sie hübsch warm ein.« Was dann auch geschah. Nur das feine Gesichtchen lugte aus der groben Umhüllung, alles andere wurde sorgfältig verpackt. Nachdem der Alte auch noch die Koffer, die sich in ihrer Schäbigkeit wunderbar dem Milieu anpaßten, kunstgerecht verstaut hatte, nahm er neben dem Mädchen Platz und mußte dem Gaul erst gütlich zureden, bis er langsam abzuckelte. »Wie schön!« lachte Hariet vergnügt, so daß ihr Nachbar sie verdutzt ansah. »Es ist nämlich das erste Mal, daß ich im Pferdegespann fahre.« »Ja, woher stammen Sie denn, Fräuleinchen?« »Aus der Großstadt.« »Ach so, daher. Da sind ja die Autos Trumpf.« »Kann ich nicht sagen, da ich noch nie in einem solchen fuhr.« Ach du liebes bißchen, dachte der Alte erschüttert. Das Marjellchen scheint vom Mond gefallen zu sein. Laut jedoch sagte er: »Sind auch nicht mein Geschmack, die Teufelskutschen. Da setz ich mich lieber in diese alte Karre mit meiner braven Suse davor. Die macht’s schon noch, obgleich sie ihr Gnadenbrot bekommt – wie ich auch. Und bloß deshalb, weil unser Herr Baron ein Herz hat für Mensch und Tier. Wenn es nach der anderen Bagage ginge – na, Schwamm drüber, man soll über seine Herrschaft nichts Schlechtes sagen.« Damit biß er die Lippen zusammen, als hätte er schon zuviel verraten. Verstohlen betrachtete er das Mädchengesicht, das so lieb und süß aus der derben Umhüllung schaute. Ganz andächtig blickten die Augen umher – und dabei war doch bestimmt nichts Besonderes zu sehen. Nur die Asphaltstraße und links und rechts
Felder, die frischgepflügt nichts Grünes zeigten. Und als man in den Wald fuhr, wurden die leuchtendblauen Augen noch größer vor Staunen. »Das ist ja Wald – richtiger Wald«, sprachen die jungroten Lippen so andächtig wie ein Gebet, worüber der biedere Alte nun sein graues Haupt schütteln mußte. Wald – na ja – schön ist er schon, aber eigentlich doch etwas Selbstverständliches. Wenigstens für August, der schon in Herrnhagen geboren wurde, das von Wald umschlossen war. Und was würde das kleine Dummchen wohl zu dem See sagen, der jetzt in Sicht kam. Nun, dieser Anblick schien ihr die Sprache verschlagen zu haben. Denn sie sprach kein Wort mehr – schaute nur und schaute. Ganz warm wurde dem sonst so borstigen Alten plötzlich ums Herz. Du guter Gott, gab es denn wirklich noch so was Liebes in der heutigen verrückten Welt? Schon oft hatte er Fräuleins von der Kleinbahn abgeholt, siebenmal, wie er rasch errechnete. Und alle waren entsetzt gewesen über das Gefährt, über ihn und über die einsame Gegend. Und kaum, daß sie im Schloß warm geworden waren, mußte er sie wieder zur Bahn fahren. Immer nach einem Mordskrach mit der Gnädigen. Und dabei hatten die Fräuleins alle gewissermaßen Haare auf den Zähnen gehabt. Wie also sollte sich dieses liebe Dummchen wohl in dem »Hexenkessel« durchsetzen, das wie ein Engelchen vom Himmel gefallen zu sein schien. Am liebsten wäre August umgekehrt, hätte das Mädchen in die Kleinbahn gesetzt und es nach Hause geschickt. Aber da er in der Bibel gut bewandert war, kannte er auch diese Stelle: Wes nicht deines Amtes ist, da laß deinen Fürwitz. Also fuhr August weiter, bog dann rechts in eine Lindenallee ein, deren alte Bäume jetzt kahl waren. Wie anklagend streckten sie die Äste gen Himmel, der gar griesgrämig dreinschaute. Unausgesetzt regnete es, ein scharfer Wind wehte. Es war so richtiges Novemberwetter.
Hariet merkte nicht, daß die Decke, die sie umhüllte, vor Nässe triefte, so aufgeregt war sie. Und als sie das Schloß erblickte, das so feudal und trutzig seinen Platz behauptete, wurde ihr bang ums Herz. Hilfesuchend sah sie zu dem Kutscher hin, der das Gefährt zu einem Anbau lenkte, der ein wenig versteckt stand und so nicht das Gesamtbild des prächtigen Gebäudes störte. In dem Anbau lagen die Wirtschaftsräume, und es war bezeichnend für die Stellung, die Hariet hier einnehmen sollte, daß ihr erster Eintritt nicht durch das feudale Portal, sondern durch den Küchenflur erfolgte, vor dessen Tür nun das Gefährt hielt. »Na, da wären wir ja nun«, sagte August bedächtig, während er vom Wagen kletterte, hinter der Tür verschwand und gleich darauf mit einem Mädchen wiederkam, das die vermummte Gestalt neugierig musterte. »Na, nun halt hier nicht Maulaffen feil, dumme Schutt!« fuhr der Alte sie barsch an. »Nimm die Koffer und bring sie in das Zimmer des Fräuleins.« »Beide sind mir zu schwer.« »Dann gehst du eben zweimal. Aber dalli, sonst mach ich dir Beine!« Maulend verschwand die dralle Maid,’ etwas vor sich hin murmelnd, das ganz nach: Altes Ekel – klang. Grinsend quittierte August es und wickelte dann Hariet, die ihn ängstlich ansah, aus der Decke. »So Fräuleinchen, nun raus aus der Staatskutsche! Ganz verklammt sind Sie, kein Wunder bei dem Dreckwetter. Und nun will ich Ihnen einen guten Rat geben: Lassen Sie sich nichts gefallen, sonst treibt die Bagage in dem Kasten da bald Schindluder mit Ihnen. Wenn es zu toll kommen sollte, sagen Sie es mir. Ich spreche, dann mit dem Herrn Baron, und der räumt dann schon auf. In aller Ruhe macht er das, aber seine Worte fahren allemal ins Gebein. Und nun alles Gute.« »Danke, August. Sie sind so gut zu mir.« »Das soll ja nu woll so sind, bei so einem
eingeschüchterten Puttchen.« Jetzt kam das Mädchen wieder, nahm den zweiten Koffer und maulte: »Kommen Sie, Fräulein, damit Sie wissen, wo Sie hingehören.« Mit dem Köfferchen in der Hand folgte Hariet der rasch Davonschreitenden. Es ging durch einen geräumigen Flur, die Treppe hinauf, einen Gang entlang, durch eine Pendeltür. Dahinter wurde der Gang breiter, dessen Boden ein dicker Läufer bedeckte. Zu beiden Seiten waren hohe, reichgeschnitzte Türen. Auf der linken Seite zwischendurch Fenster, durch die der Gang Licht bekam. Blühende Topfblumen standen auf den Brettern, duftige Gardinen hingen hinter blanken Scheiben. Und der Anblick des Zimmers, das Hariet dann betrat, überwältigte sie fast. Es war nicht groß und nur einfach möbliert, doch das unverwöhnte Mädchen fand es einfach luxuriös, an dem gemessen, das sie mit Tante Berta geteilt und nach deren Tod für sich allein gehabt hatte. Und es war düster gewesen, das Hinterzimmer der Großstadtwohnung, das nach Norden lag und daher keine Sonne bekam. Außerdem ging das Fenster nach einem kleinen Hof, den hohe Häuser im Viereck abschlossen. »Na, dann richten Sie sich man hier ein, Fräuleinchen«, meinte die dralle Maid gönnerhaft, die angesichts des verschüchterten Mädchens so was wie ein menschliches Rühren beschlich. »Hoffentlich lohnt das überhaupt, denn hier hält es kein Fräulein lange aus. Nebenan ist das Zimmer von der kleinen Baronesse. Sie ist zwar ein Deibel, hat aber ein gutes Herz. Das beste jedenfalls von der hochnäsigen Sippschaft.« Damit zog sie ab, und Hariet blieb sich allein überlassen. Fröstelnd legte sie Hut und Mantel ab, der trotz der Decke vom Regen nicht verschont geblieben war, trat an den Heizkörper, dem eine mollige Wärme entströmte, und lehnte sich dagegen.
In Hariets Zuhause hatte es nur Kachelöfen gegeben, die aus Sparsamkeit nur mäßig geheizt wurden. Nur die Studierstube des Vaters machte eine Ausnahme, die wurde sogar überheizt. Denn Berta war der Ansicht, daß der gelehrte Neffe, der ohnehin schwächlich war, es mollig haben mußte. Ihre dürftige Stube heizte Berta nur, wenn es draußen sehr kalt war. Hariet dachte daran, daß sie so manches liebe Mal zitternd vor Kälte ins Bett kroch. Nur gut, daß sie ihre Schularbeiten in der Küche machen, sich überhaupt da aufhalten durfte, wo der Herd ja des Kochens wegen unter Feuer gehalten werden mußte. Und nun sollte sie in einem so wunderschönen Zimmer wohnen dürfen? Das war ja kaum zu fassen. Sogar einen Teppich hatte es, ein weißes, breites Bett mit einer Daunendecke, einen Korbsessel mit einem Tischchen davor, Schrank, Kommode und einen niedlichen Schreibtisch. An dem Fenster hingen duftige Gardinen, und einige Bilder schmückten die Wände. Dazu das Leben hier umsonst, dazu fünfzig Mark im Monat. Ach, Hariet kam sich ja so reich vor. Hoffentlich sagte sie der Frau Baronin zu. Sie schrak zusammen, als die Tür, die zum Nebenzimmer führte, aufgerissen wurde und ein Backfisch hereinstürmte. Neugierig schauten zwei grüngraue Augen aus einem niedlichen, stupsnasigen Gesichtchen, das blondes, ziemlich kurzgehaltenes Haar umwirrte. Die mittelgroße Figur war noch ein wenig unfertig und schlaksig. »Da sind Sie ja, Fräulein«, sagte das Baroneßchen burschikos. »Meine Güte, Sie scheinen ja kaum aus den Windeln zu sein. Und so was soll mir nun imponieren?« »Wer sagt Ihnen denn, daß ich das will?« entgegnete Hariet mit einem Mut, den sie selbst bewunderte. »Liebhaben möchte ich Sie – oder mögen Sie das nicht?« »Ach herrje«, ließ die Kleine sich perplex in den Korbsessel fallen, der die bequemste Sitzgelegenheit bot. »Sie führen sich hier ja ganz apart ein, Fräulein…«
»Hariet Hermeran heiße ich.« »Auch das noch. Wer gab Ihnen denn den Namen, der so gar nicht zu Ihnen paßt?« »Meine Eltern natürlich.« »Wer waren die?« »Zwei liebe Menschen.« »Pfff«, blies Backfischchen die Backen auf. »Sie scheinen Grips zu haben, Kleine. Ob Sie jedoch damit bei mir durchkommen, möchte ich stark bezweifeln.« »Ist das denn so schwer, Baronesse?« »Sagen Sie Dolly, so heiß ich nämlich. Alles andere ist Schall und Rauch, sagt mein Bruder Ulf, der es wahrscheinlich aus dem Faust hat, der da sagt: Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.« Da mußte Hariet denn doch lachen. Das kecke Baroneßchen gefiel ihr, obwohl der peniblen und ernsthaften Gelehrtentochter diese Art von Mensch völlig neu war. Ohne mit einer Wimper zu zucken, hielt sie dem durchdringenden Blick der sehr schönen, grüngrauen Augen stand. »Na ja«, meinte die Kleine einfach. »Mir gefallen Sie gut, weil Sie so ganz anders sind als die Fräuleins, die hier ihr Gastspiel gaben. Hoffentlich findet das auch meine Mama – sonst sehe ich schwarz. Und nun folgen Sie mir, damit ich Sie ihr vorführe. Tun Sie bloß demütig. Wissen Sie, was >noblesse oblige< bedeutet?« »Ich glaube schon«, gab Hariet lachend zurück. »Auf gut deutsch: Adel verpflichtet.« »Herrlich!« streckte Backfischchen begeistert die schlanken Beine in die Luft. »Wenn Sie das erfaßt haben, wird es Ihnen bei meiner Mama fortan Wohlergehen.« »Hm«, hob Hariet unbehaglich die Schulter. »Finden Sie nicht auch, Dolly, daß Sie so gar nicht respektvoll von Ihrer Mutter sprechen?« »Mutter?« zogen sich die Winkel des jungroten Mundes nach unten. »Na ja – gehen wir.« Damit zog Dolly die andere am Ärmel mit sich fort. Es ging
den teppichbelegten Gang entlang, über eine gleichfalls teppichbelegte Treppe hinunter bis zu einer weitläufigen Halle, die Hariet fast wie eine Kirche anmutete mit den hohen, schmalen Buntglasfenstern. Gotik – stellte die Gelehrtentochter sachlich fest. In wunderbar reinen Linien erhalten. Ob die Besitzer des Schlosses das wissen? Eine gedachte Frage und daher unbeantwortet. Andächtig schritt Hariet Hermeran über kunstvollen Mosaikboden, über dicke Teppiche und nahm sich vor, all die Herrlichkeit der Halle, die sie jetzt nur flüchtig in Augenschein nehmen konnte, nach und nach zu ergründen. Und dann stand sie in einem Wohngemach, dessen Höhe und Weite schon einem Saal glich. Auch hier gab es dicke Teppiche, wuchtige Möbel, schwellende Polster und kostbare Bilder. Tradition – schoß es Hariet durch den Sinn. Oft davon gelesen, doch noch nie mit den Augen erschaut. Wie unwirklich kam ihr das alles vor, wie ein märchenhafter Traum. Und träumend war auch der Blick, der über den Mann hinging, der sich aus einem der tiefen Sessel am brennenden Kamin erhob und eine formelle Verbeugung machte. »Eggeroth«, sprach eine sonore Stimme, die den Herrenmenschen verriet. Hariet blieb keine Zeit, diesem vollen, dunklen Klang nachzulauschen, denn schon sprach eine andere Stimme in hochfahrendem Ton: »Da sind Sie ja, Fräulein. Ich heiße Sie willkommen. Hoffentlich enttäuschen Sie mich nicht, wie es Ihre Vorgängerinnen taten. Was ich verlangen muß, ist unbedingter Gehorsam und absolute Treue zur Herrschaft.« »Ja«, entgegnete Hariet artig und hätte am liebsten geweint wie ein verängstigtes Kind. Und ehe sie sich so recht versah, hatte Dolly sie schon mit sich gezogen und sie im Laufschritt durch die Halle, über die Treppe in das nette Stübchen geführt, wo der Schelm sich zuerst einmal halb
totlachen wollte. »Oh, Fräulein Hariet, Sie machten ja den Eindruck eines Lämmchens, das den Wolf wittert. Wie alt sind Sie eigentlich?« »Einundzwanzig Jahre.« »Ach du liebe Güte, da komme ich mir mit meinen fünfzehn ja direkt welterfahren vor. Aber ich glaube, Sie sind das, was meiner Mama zusagt: demütig und bescheiden.« »Baronesse…« »Dolly heiße ich, und ich nenne Sie Hariet. Denn Sie sind ja nur sechs Jahre älter und keine Respektsperson für mich.« »Ach, Dolly – muß ich mich vor Ihnen fürchten?« »Nein«, entgegnete Backfischchen gnädig. »Sie werde ich bestimmt nicht so piesacken wie Ihre Vorgängerinnen, weil Sie mir irgendwie leid tun. Und man soll seine Kräfte nur an gleichwertigen Gegnern messen, sagt mein Bruder. Und nun ab mit Ihnen in die Halala. Denn wie ich bemerke, fallen Ihnen vor Müdigkeit fast die Augen zu. Ich lasse Ihnen einen Imbiß rauf schicken. Stärken Sie sich, und dann schlafen Sie gut.« Damit wirbelte sie hinaus. Hariet ließ sich wenig später die Brotschnitten, die ein Mädchen brachte, gut munden und fiel dann fast vor Müdigkeit ins Bett. »Nun, du Strick, hast du dein neuestes Opfer bereits in Angst und Schrecken versetzt?« fragte der Bruder lachend, als sein jüngstes Schwesterlein wieder im Familienkreis erschien. »Wann wird es sein Bündel schnüren?« »Hoffentlich nicht so bald«, ließ die Kleine sich nonchalant in den Sessel sinken. »Sie ist ja so rührend unselbständig und altmodisch, die gute Hariet. Und so was muß man doch beschützen, nicht wahr?« »Na – beschützen? Ich glaube eher, daß du die Schüchternheit der jungen Dame gehörig ausnutzen wirst.« »Das wäre unfair«, widersprach die Kleine entschieden. »Ich bin doch schließlich kein Unmensch.«
»Nein, aber ein ungezogenes Gör.« »Also, Ulf, diese Bezeichnung muß ich mir doch ernstlich verbitten. Was heißt hier ungezogenes Gör! Ich wehre mich nur gegen schreckschraubige Gouvernanten und deren erhobenen Zeigefinger. Die allerdings können bei mir auf keinen grünen Zweig kommen.« »Und du meinst, daß Fräulein Herme ran diesen Finger nicht erheben wird?« »Bestimmt nicht, dazu hat sie viel zu große Angst.« »Vor dir etwa?« »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich sie abtun werde, falls sie zu dumm sein sollte, um mir bei den Schularbeiten zu helfen, wie es bei den andern Fräuleins der Fall war. Warum siehst du mich denn so konsterniert an, Mama?« »Weil du ein Enfant terrible bist, meine Tochter Dolly.« »Na, laß gut sein, Muttchen«, sprach der Schelm ihr gütlich zu. »Ein schwarzes Schaf muß es ja in jeder vornehmen Familie geben. Um so mehr Freude hast du an deiner ältesten Tochter, die so ganz nach deinem Geschmack ist.« »Ulf, verbiete diesem gräßlichen Mädchen den Mund«, verlangte die Mutter klagend, die Fingerspitzen nervös gegen die Schläfen pressend. »Es bringt mich noch ins frühe Grab, das schreckliche Kind.« »Nun, nun«, begütigte der Sohn, »so junge Spatzen müssen sich erst mausern.« »Und warum war das bei Martina nicht nötig?« zeigte sie auf ihr Lieblingskind, das ganz das Ebenbild der Mama war. »Dieses Kind hat mir noch nie eine trübe Stunde bereitet. Es hat von jeher gewußt, was es seiner vornehmen Abstammung schuldig ist.« Darauf hätten ihre beiden anderen Kinder viel antworten können, was sie jedoch wohlweislich unterließen. Denn diese Frau von ihren Ansichten abzubringen, hieße ganz einfach Wasser mit Sieben schöpfen. Also sagte die Kleine nur elegisch: »Die Zeiten sind nicht mehr, wo Berta spann.« Das klang so drollig, daß selbst die Mutter lachen mußte.
Der Bruder jedoch zupfte die Lieblingsschwester am Ohrläppchen. »Was du nicht schon alles weißt«, schmunzelte er. »Wen hast du da eben zitiert?« »Bismarck im Reichstag am 24. Mai 1870«, erfolgte prompt die Antwort. »Hm. Und du sollst dich noch einer Gouvernante unterwerfen? Eigentlich ein unbilliges Verlangen.« »Warum denn nicht? Wenn diese Gouvernante wirklich mehr weiß als ich, dann in Gottes Namen. Aber die alten, verknöcherten Scharteken…« »Dolly!« »Naja, Mama, ich bin ja schon still. Ich werde also abwarten, ob Hariet mir noch was beibringen kann. Wenn nicht, versetze ich ihr den Todesstoß, wie ihren Vorgängerinnen.« »Dolly, bedenke, wie schlecht du in der Schule stehst«, rang die Mutter konsterniert die Hände. »Und warum, Mama?« verfinsterte sich die junge Stirn. »Doch nur, weil ich wegen Krankheit ein halbes Jahr lang den Unterricht versäumen mußte. Sei lieber mit mir froh, daß die Kinderlähmung so glimpflich mit mir verfuhr.« Nun schwieg die Mutter denn doch betroffen, und der Bruder strich zärtlich über das Wuschelköpfchen. »Hast recht, Kleines. Wenn du es nicht schaffst, ist es gewiß nicht deine Schuld, das wissen auch die Lehrer. Dann bleibst du eben noch ein Jahr in der Obertertia. Dann hast du immer noch mit zwanzig Jahren dein Abitur.« »Muß es denn überhaupt sein, daß ich es mache? Martina hat es ja auch nicht.« »Freches Ding!« fuhr diese empört auf, doch der Bruder winkte kurz ab. »Laß das jetzt, Martina. Und du sei vernünftig, Dolly. Eine abgeschlossene Bildung ist etwas, was dem Menschen ein sicheres Gefühl gibt. Denn man kann nie wissen, wie es im Leben kommt.« »Naja, ich wehre mich ja auch nicht«, bekannte die Kleine
verschmitzt. »Setze ich meine Zuversicht auf meine neue Gouvernante.« Hariet Hermeran streckte im Bett die schlanken Glieder, gähnte herzhaft und blinzelte dann ins Licht, das grau durch das Fenster drang. Dann ein kurzes Besinnen und schon war sie hellwach. Richtig, sie lag ja jetzt nicht mehr auf dem harten Bett des möblierten Zimmers, sondern auf dem, das ihr laut Vertrag in dem feudalen Schloß zustand. Und es war weich, das Bett, die Daunendecke mollig warm. In dem Heizkörper knackte es. Ein Zeichen, daß die Zentralheizung bereits in Betrieb war. Wie spät war es denn überhaupt? Acht Uhr, wie sie mit einem Blick auf die Armbanduhr, die noch von ihrer Mutter stammte, feststellte. Da hatte sie sich ja arg verschlafen, was man ihr, die hier im Dienstverhältnis stand, bestimmt übel vermerken würde. Hastig sprang sie aus dem Bett und sah sich nach einer Waschgelegenheit um, die sie jedoch nirgends entdecken konnte. Ja, wie denn, sollte sie etwa fortan gewissermaßen ungewaschen und ungeplättet bleiben? Die Antwort darauf gab ihr Dolly, die zuerst das lockige Köpfchen vorsichtig durch den Türspalt steckte und dann den zierlichen Körper nachschob. »Guten Morgen, Hariet«, grüßte sie fröhlich. »Schon munter?« »Schon? Ich glaubte bereits, verschlafen zu haben.« »Für gewöhnlich wäre das der Fall, doch heute ist Sonntag. Da kann man nach Belieben der Ruhe pflegen.« »Ich als Angestellte auch?« »Bis acht Uhr unbedingt. Am besten ist, Sie studieren den Zettel, der Sie davon in Kenntnis setzt, was Sie sollen und was Sie nicht sollen. Ein ganzes Dokument, sage ach Ihnen.« »Und wo ist es?« »Auf meinem Schreibtisch.« »Da nützt es mir allerdings nicht viel.«
Sie lachten beide, dann fragte Hariet, wo sie sich hier wohl waschen könnte. »Herrje, das wissen Sie auch noch nicht? Gehen Sie den Gang links ab bis zur Pendeltür. Dann finden Sie das Bad. Nicht zu verfehlen, da Ihnen die Schrift schwarz auf weiß förmlich in die Augen springt.« »Wollen Sie nicht zuerst baden?« »Besten Dank. Ich nenne ein Bad mein eigen, das allerdings auch von meiner Schwester benutzt wird. Es liegt zwischen den Gemächern der gnädigen Baronesse und meinem Stübchen, jawohl!« »Dolly, Sie sind doch ein arger Schelm.« »Freut mich zu hören. Lieber so, als susetimpelig. Ich mache jetzt Toilette, Sie tun desgleichen, und dann schaue ich wieder zu Ihnen herein.« Damit huschte sie ab, und Hariet hörte sie im Nebenzimmer einen flotten Schlager pfeifen. Diese Unbekümmertheit, mit welcher die Baronesse ihr Leben anpackte, war der Gelehrtentochter neu. Denn um sie herum war ja immer nur eine freudlose Schwere gewesen. Der Vater, der in einer alten Welt lebte, die mürrische Tante, die kein Lachen um sich duldete, die einfache Wohnung mit dem düsteren Hinterzimmer. Nun, das war ja vorbei. Jetzt begann für sie ein neues Leben, das ihr sicherlich mehr Freude bringen würde, obwohl sie sich als Angestellte ihr Brot verdienen mußte. Hariet nahm den Mantel aus dem Schrank und zog ihn über das dürftige Nachthemdchen, denn ein Bademantel stand ihr nicht zur Verfügung. Er war ja bisher auch unnötig gewesen in der engen Wohnung der Großstadt. Man badete nur am Sonnabend, und wenn Berta die Kohlen knapp wurden, auch dann noch nicht einmal. Die Pantoffeln, in die Hariet schlüpfte, waren? alt und ausgetreten. Die würde sie vor allem anderen zuerst erneuern müssen. Aber sie bekam ja jetzt Geld. Wohl stimmte das. Aber die unerfahrene Hariet hatte ja keine Ahnung, wie verschwindend klein die Summe war,
wenn es an allen Ecken und Enden fehlte. Das sollte sie schon noch erkennen lernen, doch augenblicklich fühlte sie sich reich. Das Bad erregte ihr Entzücken, obwohl es längst nicht so komfortabel eingerichtet war wie die Badezimmer der Familie und die der Gäste. Denn das Bad war für die Angestellten bestimmt, die in diesem Stockwerk wohnten, und dazu gehörte Hariet augenblicklich allein. Das Bad der Dienerschaft lag im Anbau. Jedenfalls fühlte Hariet Hermeran sich reich und immer reicher. Behutsam öffnete sie die Hähne und freute sich, wie das Wasser heiß und kalt in die Wanne rauschte. Wie blankgeputzt von innen und außen kam sie sich vor, als sie wieder ihr trautes Stübchen betrat. Was zog sie nun an? Viel stand ihr wahrlich nicht zur Verfügung. Zwei Blusen und ein Rock nebst einem schon ziemlich schäbigen Kleid für den Alltag, ein etwas besseres für den Sonntag. Alles andere waren Sommersachen und davon auch gewiß nicht viel. So zog sie denn ihr bestes Gewand an, weil heute ja Sonntag war. Man merkte ihm wohl an, daß es nicht unter der Nadel einer geübten Schneiderin hervorgegangen war, dieses dunkelblaue Kleidchen. Strümpfe und Schuhe waren alles andere als elegant – also ein kleines Aschenputtelchen, das da stand. Ein Glück, daß die Natur ihm diese gleißende Lockenpracht mitgegeben hatte – denn Dauerwellen wären ja nie in Frage gekommen. Sehr sorgfältig, damit es ja nur hübsch ordentlich dem Kopf anlag, wurde dieses wunderschöne Haar gebürstet, geflochten und im Nacken fest zu einem abscheulichen »Dutt« gedreht. Dem sah Dolly, die unbemerkt eingetreten war, fast andächtig zu, bis sie dann ihrer Entrüstung freien Lauf ließ: »Ist denn das die Möglichkeit! Besitzt das Mädchen das schönste Haar, das ich jemals sah, und knuddelt es zusammen wie ein Seil. Das stört direkt meinen Schönheitssinn.«
»Haben Sie denn so viel davon?« fragte Hariet lachend. »Natürlich. Aber lassen Sie man, ich werde schon…« Was, blieb ungesagt. Aber an dem spitzbübischen Gesicht der Kleinen konnte man merken, daß sie etwas aushecken wollte. Sie selbst sah sehr niedlich aus in dem hübschen Kleidchen. Als Hariet ihr das sagte, schnitt sie eine Grimasse. »Na, da sind Sie aber anderer Ansicht als meine Mama. Für die bin ich ein häßliches Entlein, aus dem niemals ein Schwan wird«, schloß sie mit unbekümmertem Lachen, »und nun kommen Sie, gehen wir frühstücken.« »Wo denn?« »Im Frühstückszimmer.« »Darf ich denn das?« »Was, essen?« »Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sagen Sie mir doch bitte, wo ich meine Mahlzeiten einnehmen soll.« »Na schön, Sie ängstliches Gemüt. Sie heften sich dabei immer an meine Fersen.« »Das möchte ich schon für mein Leben gem.« »Freut mich, soviel rührende Anhänglichkeit. Ihre Vorgängerinnen sahen meine Fersen lieber entschwinden, als sich an sie zu heften.« »Dolly!« »Naja, recht haben Sie, werde ich also seriös. Am Alltag wird uns das Frühstück in meinem Zimmer serviert, am Sonntag nehmen wir es unten ein. Mittagszeit zwölf Uhr, nach alter Landwirte-Sitte. Da die gräßliche Schule mich aber länger festhält, so bis eins oder gar bis zwei, tafeln wir beide nach. Der Sonntagsbraten jedoch wird im trauten Familienkreis vertilgt, auch der Nachmittagskaffee wird gemeinsam getrunken. Kapiert?« »Ja.« »Na schön. Gehen wir also frühstücken.« Wenig später betraten sie ein kleines Gemach, das urgemütlich wirkte. Durch das buntverglaste, spitzbogige
Fenster bekam der Raum ein warmes Licht. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden, in einem Eckschrank prunkte altes, wertvolles Porzellan. Die Mitte des schmalen Raumes nahm ein Tisch ein, umstanden von hohen Stühlen mit Gobelinbezügen an Lehne und Sitz. Über dem Tisch hingen zwei entzückende Laternchen mit buntem, geschliffenem Glas – und über dem allen wehte ein Hauch von vornehmer Tradition. . Der Hausherr, Dollys Bruder Ulf, der bereits frühstückte, erhob sich beim Eintritt der beiden Mädchen und begrüßte Hariet durch eine höfliche Verbeugung, dann fuhr er dem Schwesterlein neckend durch den Wuschelkopf. »Na, du Strolch, am Sonntag schon so früh munter? Da pflegtest du doch sonst bis in den Mittag hinein zu schlafen.« »Sonst ja, aber von heute an muß ich wachsam sein«, erklärte das Persönchen wichtig, während es sich an den Tisch setzte und Hariet an die Seite winkte. Auch der Bruder nahm seinen Platz wieder ein. »Warum mußt du denn wachsam sein?« fragte er verwundert. »Weil ich Hariet unter meinen Schutz genommen habe, merke dir das.« »Nanu, das klingt ja fast, als ob du die junge Dame ausgerechnet vor mir schützen müßtest«, lachte er belustigt. »Woher denn plötzlich so edle Anwandlungen, du borstiges kleines Gör?« »Oh, bitte sehr! Wer Schwache leiten will, der sei von ihrer Schwachheit selber frei – ist nicht von mir.« »Das kann ich mir denken«, schmunzelte der Bruder. »Mädchen, Mädchen, deine Schlagfertigkeit sollte man nun wirklich nicht unterschätzen.« »Darf ich mir als Enfant terrible auch erlauben«, tat das Persönchen nonchalant ab. »Ich muß doch meinem Namen Ehre machen. Na, nun essen Sie doch endlich, Hariet«, kreiste ihre Hand über den Tisch, der so gedeckt war, wie es einer
verfeinerten Lebensart entspricht. Und was es da alles zu essen gab, hatte man sich im Hause Hermeran kaum an den Feiertagen geleistet! Sie schienen sehr reich zu sein, die Eggeroths. Und Reichtum war etwas, was Hariet mächtig imponierte. Wie oft hatte sie davon geträumt, reich zu sein und sich alles das leisten zu können, was in den Schaufenstern der Läden so aufreizend ausgestellt war. Wie hatte sie immer die Autos bewundert, die so chromblitzend dahinflitzten. Hatte bei den wenigen Malen, da sie im Kino war, die Darstellerinnen beneidet, die so fesch und elegant aussahen. Hatte sich brennend gewünscht, einmal eine der prächtigen Villen von innen zu betrachten, an deren Gärten sie manchmal vorüberging. Und nun wohnte sie gar in einem Schloß, kaum zu fassen war das. Wenn das ganze Drum und Dran sie nur nicht so eingeschüchtert hätte. Sie wagte sich kaum zu bewegen. Konnte nicht begreifen, daß Dolly sich an diesem wunderbar gedeckten Tisch so zwanglos benahm, sogar dabei noch vergnügt lachte und schwatzte. Und dazu noch mit dem Mann, der in seiner ganzen Art etwas ungemein Herrisches an sich hatte, wie Hariet sich zum Beispiel einen Despoten vorstellte. Sie kroch unter seinem kurzen, scharfen Blick, der sie einige Male streifte, förmlich in sich zusammen. Würgte an jedem Bissen und starrte dann schließlich dem Diener entgegen, der in seiner schlichten Livree erschien und meldete: »Fräulein Hermeran möchte sofort zu der Frau Baronin kommen.« »Ja, ja – bitte sehr – sofort«, sprang das Mädchen erschrocken auf, und Dolly rief ihm lachend nach: »Man nicht so hastig! Sie wissen ja gar nicht, wohin es gehen soll. Warten Sie auf Lorenz, er wird Sie führen. Pf ff«, blies sie die Backen auf, als die Tür sich hinter den Davoneilenden schloß. »Das ist bestimmt blinder Eifer, der nur schaden kann. Die Mama und unsere holde Schwester werden das nach Kräften ausnutzen.«
»Und du etwa nicht?« fragte der Bruder mißtrauisch. »Nein«, kam es entschieden zurück. »Bei Hariet nicht.« »So vertraut sprichst du von der jungen Dame?« »Ja, ich mag sie.« »Na, Gott sei Dank!« lachte er herzlich. »Sonst könnte das arme Opfer gerade bei dir am meisten erleben.« »Kommt gar nicht in Frage. Die kann sich ja gar nicht wehren – und dann macht mir die ganze Rüpelei keinen Spaß.« Ulf besah sich augenzwinkernd sein keckes Schwesterlein und meinte dann schmunzelnd: »Somit hätte Fräulein Hermeran durch ihr bloßes Erscheinen das geschafft, was die Mama und das halbe Dutzend Damen, die dich bändigen sollten, trotz aller Strenge nicht erreichten. Und dabei macht diese Hariet den Eindruck, als müßte sie jeden einzelnen um Verzeihung bitten, daß sie die Anmaßung besitzt, auf der Welt zu sein.« »Das ist es ja gerade, was meine Ritterlichkeit – ach nein, die gebührt ja dem Mann – also sage ich: meine Anständigkeit hervorruft«, tat die Fünf zehnjährige mit dem hellen Köpfchen großartig. »Du siehst, ich bin besser als mein Ruf – wenn auch nicht oft.« »Dolly, was bist du doch bloß für ein kleines Unikum. Bei dir kann man wirklich von dem weichen Kern in der rauhen Schale sprechen.« »Abgedroschene Phrase, Brüderlein fein. Und nun gehab dich wohl. Ich muß wie eine gütige Fee über meinen Schützling wachen.« Damit tänzelte sie ab, und der Bruder sah ihr schmunzelnd nach. Schon an diesem Morgen sollte Hariet Hermeran erfahren, daß es nicht so einfach sein würde, da in Lohn und Brot zu stehen, wo man sie einfach als »Mädchen für alles« betrachtete. Ihr Debüt begann mit »kleinen« Handreichungen bei der Baronin, die man ruhig als Zofendienste bezeichnen konnte. Denn eine Zofe gab es
immer nur zeitweilig hier, da die verwöhnten und schnippischen Mädchen bald wieder abschwirrten, weil ihnen die Damen, die sie zu betreuen hatten, einfach zu anmaßend waren. Und dann mußte jedesmal das »Fräulein« einspringen, das dann auch gleich hinterher nach einem Krach mit der »unverschämten Gnädigen« empört loszog. Und mit Recht. Denn die schon ziemlich bejahrten Fräuleins sollten ja einen anderen Zweck erfüllen, nämlich: die Schularbeiten der jüngsten Tochter des Hauses beaufsichtigen und kleine Hilfeleistungen im Haus verrichten. So lautete jedenfalls der Vertrag, wie einen solchen auch Hariet Hermeran unterschrieb. Eigentlich erschien sie der Baronin viel zu jung. Aber das Bewerbungsschreiben gefiel ihr – und vor allen Dingen das Foto, das diesem beilag. Es wirkte so rührend altmodisch, so unansehnlich und bescheiden. Das Mädchen war bestimmt das, welches Frau Klarissa schon lange suchte. »Da sind Sie ja, Fräulein«, sprach die Dame herablassend, als Hariet verschüchtert vor ihrem Bett stand. »Sie müssen mir beim Ankleiden helfen. Die Zofe, die auch meine Tochter betreute, hat ihren Dienst aufgesagt, weil sie heiraten will. Und die neue Zofe traf noch nicht ein, weil sie dummerweise erkrankte. Sehr peinlich für mich und die Baronesse, die wir an Bedienung gewöhnt sind. So müssen Sie denn einspringen.« »Aber gern, Frau Baronin«, entgegnete Hariet bescheiden, was der Dame gar wohl gefiel. »Ich weiß nur nicht, ob ich der Frau Baronin alles rechtmachen werde.« »Das lernen Sie schon«, wurde gnädigst erwidert. »Sie müssen nur den guten Willen dazu haben. Lassen Sie zuerst einmal das Bad ein. Wie es gemacht wird, kann Ihnen das erste Stubenmädchen zeigen.« Auf ein Klingelzeichen erschien die Erwähnte, die so den Eindruck machte, als ob sie sich nicht an den »Wimpern klimpern« ließe. Sehr adrett sah es aus, das hübsche Wesen in kokettem Schürzchen und Häubchen – nur der kecke
Ausdruck in dem ein wenig gewöhnlichen Gesicht gab zu denken. »Mila, zeigen Sie dem Fräulein, wie man ein Bad richtet«, befahl die Gnädige in der hochfahrenden Art, die ihr nun einmal eigen. »Lernen Sie das unwissende Mädchen in der ersten Zeit an, soweit es meine und der Baronesse Bedienung betrifft. Denn auf das Erscheinen der neuen Zofe werden wir wohl noch eine Zeitlang warten müssen.« »Na, denn kommen Sie man, Fräulein«, sprach die kecke Maid zu der verschüchterten Hariet gönnerhaft. Gleich darauf betraten sie das Bad, das in Kacheln und Chrom nur so blitzte. Mila ließ Wasser in die Kachelwanne, warf ein Badethermometer hinein und schüttete Badesalz hinzu. »Ungefähr einen Löffel voll von dem Zeugs«, erklärte sie dem aufmerksam zuschauenden Mädchen. »Wenn es mehr oder weniger ist, schadet es auch nichts. Die Olle merkt es ja doch nicht. Und mit dieser Bürste scheuern Sie ihr den knochigen Buckel ab.« »Aber Mila, wie sprechen Sie denn von Ihrer Herrin!« entsetzte sich Hariet, und die andere lachte hämisch. »Man merkt, daß Sie noch ein Neuling sind, Fräulein. Seien Sie mal erst einige Wochen hier, dann werden Sie schon anders denken. Das heißt, wenn Sie es überhaupt so lange aushalten. Denn das sind Deibels hier, kann ich Ihnen sagen,’ daß es zum Himmel schreit. Bei denen kann man sich nur mit Frechheit durchsetzen.« Sie prüfte die Temperatur des Bades, stellte die Hähne ab und sprach in das Nebenzimmer hinein: »Frau Baronin, das Bad ist bereit.« Gleich darauf erschien diese, warf den Bademantel ab und stieg vorsichtig in das duftende Wasser. »Ist es nicht zu heiß, Mila?« »Frau Baronin können sich ja am Thermometer überzeugen.« Sie tat’s und nickte gnädig. Tauchte ihren mageren Körper in das wohltemperierte Wasser, worauf Mila zu der langstieligen Bürste griff und den erbarmungswürdig
knochigen Rücken der Herrin nicht gerade sanft striegelte. Dabei warf sie Hariet einen verschmitzten Blick zu. »Au, Mila, seien Sie doch vorsichtiger«, klagte die so wenig liebevoll »Berubbelte« weinerlich. »Sie wissen doch, meine, Nerven.« Also wurde die Bürste behutsamer in Bewegung gesetzt, dann wurde das »Knochengestell« abgeseift, mit wohlriechender Essenz eingerieben – und dann entstieg die Gnädige dem Bade, ihre Reize den beiden Mädchen offen zur Schau stellend. Der dickfelligen Mila machte der Anblick gar nichts aus, doch die sensible Hariet war peinlich berührt. Und dann ließ sich die Dame ankleiden wie ein Baby. Das ging unter den flinken, geschickten Händen Milas ganz glatt, nur bei der Frisur des schütteren Haares haperte es. Die sollten natürlich dicht und bauschig wirken, aber da streikte bei der Fünfzigerin einfach die Natur. Endlich war die Frisur der anspruchsvollen Dame einigermaßen nach ihrem Wunsch. Der Frisiermantel wurde abgenommen, das Kleid übergestreift, und dann wurden die beiden Mädchen entlassen. »Gehen Sie jetzt zur Baronesse. Aber verfahren Sie mit dem sensiblen Geschöpf behutsamer als mit mir.« Man betrat das Nebenzimmer, wo das »sensible Geschöpf« in seinem luxuriösen Bett saß und die Eintretenden unwillig empfing. »Wo bleibt ihr bloß! Es ist schon halb elf Uhr.« »Ja, Baronesse, ich bin ja schließlich keine perfekte Zofe« entgegnete Mila dreist und gottesfürchtig. »Da dauerte es bei der Frau Baronin eben so lange.« Nun begann bei der Tochter die gleiche Prozedur wie bei der Mutter. Nur daß der Anblick dieses um mehr als drei Jahrzehnte jüngeren Nackedeis erfreulicher war. Wenn auch nicht gerade so, daß er ein Künstlerauge entzückt hätte. Auch die Haare ließen sich leichter frisieren, sie waren zwar nicht üppig und ziemlich farblos, aber immerhin.
»Ach, du belegst hier Fräulein Hermeran mit Beschlag«, platzte Dolly ganz ungeniert in das Ankleidezimmer der Schwester. »Ich glaube, die ist für mich da, Tinchen.« »Verstümmele gefälligst nicht so gräßlich meinen Namen!« fauchte die Empörte. »Wie würde es dir gefallen, wollte ich dich Dolchen nennen?« »Bitte sehr, das macht mir gar nichts aus. Du weißt, ich bin bescheiden.« Dabei schaute die Kleine so unschuldig drein, daß Mila alle Mühe hatte, nicht vor Lachen loszuplatzen und selbst die verschüchterte Hariet sich auf die Lippen biß. Die humorlose Martina jedoch, die so gar kein Verständnis für ihr um zehn Jahre jüngeres Schwesterlein hatte, sah es böse an, worauf blitzschnell eine rosige Zungenspitze dem Gehege der Zähnchen entschlüpfte. »Mama!« rief Martina in höchster Not, worauf die Gerufene schleunigst sichtbar wurde. »Ja, was hast du denn, mein Herzchen?« fragte sie konsterniert. »Wer hat dir denn etwas zuleide getan? Dolly etwa?« »Na, wer denn sonst?« entgegnete der Abgott der Mutter aufgebracht. »Sie ist wieder einmal von einer Frechheit, die harte Strafe verdient. Die Zunge hat sie mir gezeigt!« »Du entartetes Kind!« sprach nun streng die Frau Mama. »Du hast heute Stubenarrest. Fräulein, Sie sorgen dafür, daß er eingehalten wird. Das Essen bekommen Sie mit meiner ungezogenen Tochter zusammen oben serviert.« Die beiden Mädchen gingen ab – und das jüngere lachte sich ins Fäustchen. Das war es ja gerade, was es bezweckt hatte. »Hach!« warf sich der kleine Unnütz in Hariets Zimmer mit Vehemenz in den Korbsessel, daß er in allen Fugen knackte. »Das hat wieder einmal wunderbar geklappt. Seien Sie jetzt bloß nett zu mir, Hariet. Sonst sind Sie nicht wert, daß ich Sie erlöste.« »Inwiefern geschah das denn?« »Indem ich Sie aus rotlackierten Fängen errettete. Sonst
müßten Sie jetzt bestimmt noch Zimmer aufräumen und anderes mehr.« »Woher wollen Sie das denn wissen?« »Aus Erfahrung. Das mußten nämlich Ihre sämtlichen sieben Vorgängerinnen, wenn keine Zofe im Hause war, was recht oft geschah. Aber denen gönnte ich es, weil ich sie allesamt nicht leiden konnte. Doch Sie will ich davon verschonen, soweit es in meiner Macht steht.« »So mögen Sie mich gern?« »Ja. Gleich vom ersten Sehen an.« »Ich danke Ihnen«, erwiderte Hariet leise, während Tranen ihren Blick verdunkelten. »Sie sind der erste Mensch, der mich mag. Allen andern war ich bisher nur ein Geschöpf, das man wohl oder übel mit in den Kauf nehmen mußte.« »O Gott«, sagte Dolly betroffen. »Wie kommt das denn? Wollen Sie es mir nicht erzählen?« Hariet tat es. Sprach von ihrer freudlosen, entbehrungsreichen Kindheit, von den Klassenkameradinnen, die sie verhöhnten, von der mürrischen, geizigen Tante, die sie in das düstere Hinterzimmer sperrte, sie karg ernährte und ärmlich kleidete, von dem Vater, der sie erst richtig bemerkte, als sie sein Famulus geworden war – sprach sich überhaupt das erste Mal in ihrem Leben das Herz so richtig frei. Als der trostlose Bericht beendet war, liefen dem äußerlich so ruppigen und innerlich so warmherzigen Backfischchen die hellen Tränen über die Wangen. »Ach, Sie Arme! Da komme ich mir schon bemitleidenswert vor, obwohl ich ein schönes Zuhause habe und einen Brüder, der mich liebhat. Früher war es auch noch mein guter Paps, der mich geradezu sträflich verwöhnte. Aber der ist nun schon zwei Jahre tot, was ich immer noch nicht verwinden kann. Liebe Hariet, was tun Sie mir bloß leid. Aber lassen Sie man«, wischte sie energisch die Tränen fort. »Ich sorge schon dafür, daß Sie hier nicht zu sehr schikaniert werden. Und wenn ich jeden Tag Stubenarrest
kriegen sollte – was in Ihrer Gesellschaft übrigens keine Strafe ist«, setzte sie verschmitzt hinzu. »Wir werden es uns hier oben schon gemütlich machen.« »Ach, Dolly, ich habe doch hier Pflichten.« »Eben«, fiel der Schalk lachend ein. »Es ist jetzt nämlich Ihre Pflicht, mich zu bewachen. Gehen wir in meine Kemenate, da ist es gemütlicher.« Das war es allerdings, dieses reizende Jungmädchenzimmer mit den Schleiflackmöbel und den lustigbunten Polstern. Sogar ein Stutzflügel, weiß mit gold, stand da, wofür Dolly eine Erklärung gab. »Ich soll partout spielen und singen, verlangt meine Mama. Da man dazu auch üben muß, fiel ihr das so auf die Nerven, daß sie mich samt dem Flügel zum Üben nach oben verbannte. Kein Zugeständnis für mich Enfant terrible, da das Instrument ja doch nur in einem unbenutzten Raum herumstand. Den noblen Bechsteinflügel im Wohngemach quält meine mit allen schönen Künsten begabte Schwester Martina.« »Und Sie sind gar nicht begabt, Dolly?« »Doch, sehr sogar. Mit Ruppigkeit, einer flinken Zunge und mit dem, was man Selbsterhaltungstrieb nennt.« »Herein!« rief sie jetzt laut, worauf zuerst ein Tablett sichtbar wurde und dann der würdige Lorenz, der es trug. Und auf dem Brett stand – o Wonne! – ein Schüsselchen mit eingeweckten Kirschen und eines mit Schlagsahne. »Das schickt die Mamsell«, meldete der im Dienst ergraute Diener, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Und zwar als Vorspeise, da das Mittagsmahl laut Verfügung der Frau Baronin kärglich ausfallen wird.« »Oh, Lorenz!« jubelte das Baroneßchen, das der Diener seit dem ersten Schrei kannte. »Hat dich auch keiner von den Gestrengen auf diesem Schleichpfad erwischt?« »Nein, Baroneß.« »Dann wohl dir, der Mamsell und auch mir. Setz ab den süßen Segen!« Er tat es und entfernte sich genauso würdig, wie er
gekommen war. »Guter Lorenz«, sprach Dolly ihm gerührt nach. »Er hat sehr viel gewagt, wie er überhaupt schon so manches für mich wagte. Er hat deshalb so manchen Rüffel einstecken müssen, selbst von meinem Bruder, der keine Winkelzüge liebt. Werden Sie nun auch gehen und mich sowie Lorenz und seine Frau bei der Mama verpetzen, wie es die übrigen Gouvernanten augendienerisch taten?« »Fällt mir auch gerade ein«, lachte die ehrpusselige Gelehrtentochter so leichtsinnig wie noch nie in ihrem Leben. »Schon gar nicht wegen dieser Leckerei, die ich gerade nur dem Namen nach kenne.« »Herrlich!« begeisterte sich das Baroneßchen. »Sie sind die Seele, die ich schon lange suchte.« »Wo ist denn Dolly?« fragte der Baron an der Mittagstafel seine Mutter, die zuerst die Lippen zusammenkniff und dann kurz Antwort gab: »Sie hat wegen ungebührlichen Benehmens ihrer Schwester gegenüber heute Stubenarrest!« »Ist das bei einem so großen Mädchen nicht lächerlich, Mama?« »Nein«, kam es verbissen zurück. »Sie benimmt sich keineswegs als solches, sondern immer noch wie ein ungezogenes Kind. Das ist nämlich der Erfolg der falschen Erziehung deines Vaters, der in der Jüngsten seinen Abgott sah und ihr allen Willen ließ. Und auch du bist mehr als nachsichtig diesem ungezogenen Mädchen gegenüber. Entschuldigst die Unarten, anstatt sie gebührend zu rügen. Wenn das so weitergeht, wird Dolly ein regelrechter Taugenichts. Das meint auch Martina, die sich ihrer unmanierlichen Schwester oft schämen muß.« »Na ja«, entgegnete der Mann, weiter nichts. Weil er nämlich ganz genau wüßte, daß doch jedes Wort wie in den Wind gesprochen sein würde. Diese Mutter hatte eben für die beiden Kinder, die ihrem Gatten glichen, von jeher nicht viel übrig. Liebte um so mehr ihre ältere Tochter, weil sie Art von ihrer Art war. Hatte es dem Gatten und später
auch dem Sohn schwer verdacht, daß sie nicht gleichfalls Kult mit ihrem Abgott trieben. Das wurmte diese vernarrte Mutter und machte sie ungerecht gegen die beiden anderen Kinder. Bei dem Sohn konnte sie leider nicht so, wie sie gern wollte. Denn das verrückte Testament des Gatten hatte sie von Ulf abhängig gemacht. Verrückt? O nein, der kluge und weitschauende Mann war es bestimmt nicht, als er das Testament aufsetzte, nämlich: Er setzte den Sohn, der so ganz Blut war von seinem Blut, als Erben über die Herrschaft Herrnhagen samt aller Liegenschaften ein. Bestimmte auch recht großzügig die Summe, die dieser der Mutter und den beiden Schwestern auszuzahlen hatte. Ersterer, wenn sie ins Witwenhaus zog, letzteren, wenn sie heirateten. Solange erhielten sie die Zinsen des Kapitals und freies Wohnrecht nebst Verpflegung im Schloß. Und dieses Witwenhaus war nun die Waffe, die Frau Klarissa ins Feld führte, wenn ihr etwas nicht paßte. Weil sie ganz genau wußte, daß es mit der Herrschaft Herrnhagens gerade so schlicht um schlicht stand und der Sohn eine Hypothek aufnehmen mußte, um seiner Mutter respektive den Schwestern ihr Erbe auszahlen zu können. Nun, bei Dolly war es noch lange nicht soweit, Martina fand trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre noch immer keinen Mann – und die Mutter? Nun, die hütete sich wohl, das feudale Schloß mit dem immerhin bescheidenen Witwenhaus zu vertauschen. Aber damit drohen, das war ihr direkt eine Genugtuung. Außerdem war es Klarissa wie ein Dorn im Auge, daß der Gatte in seinem »verrückten« Testament den Sohn als Vormund über die jüngste Schwester vorgeschlagen hatte, was das Obervormundschaftsgericht ohne weiteres genehmigte. Also konnte sie nicht, wie sie wollte. Konnte dieses Enfant terrible nicht in ein Internat geben. Schon gar nicht, als es bald nach dem Tod des Vaters an Kinderlähmung erkrankte und von dem Bruder über
Gebühr verwöhnt wurde. Was Wunder, wenn aus dem ohnehin schon vertrotzten Mädchen so nach und nach ein Taugenichts wurde? Daß es in der Schule zurückblieb, war ja allenfalls zu verstehen. Aber daß es auch im zweiten Jahr in der Klasse leistungsmäßig zurückstand, war einfach ein Skandal. Also wurde ein ältliches Fräulein ins Haus genommen, das Dolly bei den Schularbeiten helfen und sich außerdem noch in der Hauswirtschaft betätigen sollte. Aber leider blieb es nicht bei dieser Abmachung, weil die Baronin oft um eine Zofe verlegen war und das jeweilige Fräulein für diese einspringen mußte. Die Folge davon war, daß in eineinhalb Jahren sieben solcher Fräuleins ihr Gastspiel gegeben hatten, weil man sie für geringen Lohn ausnutzte und außerdem noch schofel behandelte. Und zu alledem noch dieser unleidliche Backfisch, der frech wie ein junger Dackel und störrisch wie ein Füllen den Fräuleins alles zum Schabernack machte. Da suchte man sich doch eine Stellung, in der es sich leichter und besser leben ließ. So stand denn Herrnhagen in keinem guten Ruf. Das heißt, was das Schloß anbetraf. In der Außenwirtschaft herrschte eine mustergültige Ordnung und ein gutes Einvernehmen, weil der junge Baron ein wirklicher Herr war, streng aber menschlich. Da kam es nicht vor, daß ein Untergebener ihm gegenüber unbotmäßig wurde, was übrigens auch im Schloß nie passierte. Da sorgte seine Persönlichkeit schon allein für den nötigen Respekt. Und wenn seine Mutter ihm in den Ohren lag, daß sie sich bei der Dienerschaft nicht genügend durchsetzen konnte, meinte er gelassen, daß dieses allein an ihr läge, was sie jedesmal empörte. Na ja, Ulf war eben, genauso wie sein Vater, herrisch und rücksichtslos. Nur bei Dolly, da machte er eine Ausnahme. Lächelte da, wo er scharf durchgreifen sollte. Wenn die Jüngste ihn um Geld anging, zog er sofort seine Börse, während er es bei Mutter und der älteren Schwester kühl ablehnte.
So geschah es auch heute, als man nach dem Mittagessen in einem kleinen Gemach beim Mokka saß. Da bat Martina den Bruder um Geld. Das heißt, sie bat nicht darum, sondern verlangte es brüsk. »Bedaure sehr, ich kann dir leider kein Geld geben«, zuckte Ulf die Achsel. »Du hast das dir Zustehende pünktlich am Ersten bekommen. Ist es etwa schon ausgegeben?« »Was bei den paar Pfennigen gewiß nicht schwer ist«, machte sich die Mama zum Vormund der Tochter, die so ganz ihr getreues Ebenbild war. Lang und hager, einen verkniffenen Mund, ein blasses Gesicht, fahlblaue Augen und fahles Haar – und vor allem das hochfahrende Wesen. Sie war bei der Mutter, die diese Tochter ganz als ihr Geschöpf betrachtete, in eine gute Schule gegangen. »Also ein paar Pfennige nennst du das, Mama, womit oft ganze Familien auskommen müssen«, lächelte der Sohn ironisch. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie gut es dir geht?« »Darauf habe ich nur gewartet!« fuhr sie giftig auf ihn los. »Gutgehen nennst du das, wenn man sparen muß an allen Ecken und Enden? Schon das Haushaltsgeld, das du mir zubilligst, ist so lächerlich wenig, daß ich selbst darüber staune, wie ich damit überhaupt auskomme. Aber du verlangst dafür Delikatessen, über deine Verhältnisse hinaus einen feudalen, großgeführten Hausstand.« »Was mir auch zusteht«, warf er ruhig ein. »Wie gut du mit dem Geld auskommst, ist daraus zu ersehen, daß du jeden Monat eine ganz nette Summe übrig behältst, die du dann für’ dich und Martina ausgibst.« Es war das erste Mal in den zwei Jahren, seitdem er nach des Vaters Tod Familienvorstand war, daß er seiner Mutter das eben Erwähnte vorhielt, weil dergleichen seiner vornehmen Natur nicht lag. Aber da Klarissa immer anspruchsvoller – oder besser gesagt, unverschämter wurde, mußte das einmal zur Sprache kommen. »Na, das ist ja nun wirklich die Höhe!« schnappte die empörte Dame zuerst einmal nach Luft, wie ein Fisch auf
dem Trockenen. Zwei kreisrunde rote Flecke brannten auf den Backenknochen des hageren Gesichts, immer ein Zeichen, daß die gute Klarissa sich in höchster Erregung befand. »Schämst du dich gar nicht, deiner Mutter, der du das Leben verdankst, so eine unerhörte Vorhaltung zu machen? Sieh dich nach einer anderen Wirtschafterin um, ich ziehe mit Martina ins Witwenhaus! Aber dann zahlst du mir hübsch säuberlich das Erbteil auf den Tisch, mein anmaßender Sohn.« »Wie du wünschest«, entgegnete er eisig. Stand auf, eine knappe Verbeugung, dann ging er hinaus. »Mama, soweit hättest du dich nicht hinreißen lassen dürfen«, bemerkte die Tochter ängstlich. »Wenn Ulf nun verlangt, daß du zu deinem Wort stehst, was dann?« »Er wird sich hüten«, lachte die Mutter auf, es klang wie das Krächzen einer’ zornigen Krähe. »Er kann das Geld ja gar nicht flüssig machen, ohne Herrnhagen zu belastend. Laß mich nur machen, mein Herzblatt. Deine kluge Mutter weiß schon, was sie tut.« Von dieser Auseinandersetzung hatte Dolly keine Ahnung. Quietschvergnügt saß sie in ihrem Zimmer, speiste mit Hariet ganz groß, wie sie verschmitzt feststellte. Denn die gute Mamsell, die dem Irrwisch sehr zugetan war, hatte es nicht übers Herz bekommen, ihn so frugal abzufüttern, wie die gestrenge Frau Mama es anordnete. Daher fiel das Mahl, das Lorenz brachte, sogar recht üppig aus. »Du Waghalsiger, hast du denn ‘gar keine Angst, beim Transport dieser >Lukullität< ertappt zu werden?« fragte Dolly lachend, als der Diener die Speisen anrichtete. »Ich bin doch heute auf Wasser und Brot gesetzt.« »Die Mamsell ist manchmal schwerhörig, Baronesse – und ich auch«, bekannte der Musterdiener, ohne dabei seiner Würde etwas zu vergeben. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht, als er eine kleine Flasche Sekt aus der Hosentasche zog und sie auf den Tisch stellte. Zwei Gläser folgten nach, dann wünschte er den Damen höflich guten Appetit und stelzte davon.
»Der ist ja goldig!« lachte Hariet so fröhlich, wie sie noch nie gelacht. »Den könnte man direkt liebhaben.« »Das tun Sie nur«, riet Dolly gönnerhaft. »Der verdient es. Was meinen Sie wohl, wie oft er meine Schandtaten gedeckt hat, er und die Mamsell. Es sind zwei Getreue, die auch bei meinem Bruder einen großen Stein im Brett haben. Trinken wir auf das Wohl dieses prachtvollen Dienerehepaares!« Damit ließ sie den Pfropfen knallen, füllte die Gläser und stieß mit Hariet an, die zum ersten Mal Sekt trank. Beim zweiten Glas hatte sie einen regelrechten Schwips, und da auch Dolly an das köstliche Naß nicht gewöhnt war, stellte sich auch bei ihr ein niedliches Schwipslein ein. So gerieten die beiden Mädchen denn in eine Stimmung, in der sie hätten die ganze Welt umarmen mögen. Die ehrpusselige Gelehrtentochter wollte sich halbtot lachen, als das kecke Baroneßchen mit einer Schere anrückte und rief: »Runter mit dem gräßlichen Dutt! Ich will kein so altklunkeriges Nönnchen ständig vor Augen haben. Darf ich?« »Bitte sehr«, wurde Hariet leichtsinnig, löste das Haar – und ritsch, ratsch schnitt die scharfe Schere es bis zur Schulter ab. »Herrlich!« tanzte der Übermut im Zimmer umher. »Der Kopf ist jetzt bildschön und was darunter ist…« Sie hielt erschrocken inne, weil es kurz anklopfte und gleich darauf der Bruder ins Zimmer trat. Dolly lachte ihn freundlich an, doch Hariet bekam ganz große Angstaugen. Backfischchen hatte recht, der Kopf war jetzt bildschön, den das goldbraune Haar in tiefen Wellen umbauschte und an den Seiten in das heiße Gesichtchen fiel. »Ja, was geht denn hier vor?« fragte der Mann streng, während es in Mund und Augenwinkeln zuckte. »Du hast Fräulein Hermeran das Haar abgeschnitten, wie es die Schere in deiner Hand verrät?« »Jawohl, Brüderlein fein«, gab die beschwipste kleine Dame
ohne weiteres zu. »Sieht meine Hariet jetzt nicht viel schöner aus als mit dem schauderhaften Dutt?« Auf diese Frage blieb er die Antwort schuldig. Meinte nur achselzuckend: »Wenn Fräulein Hermeran sich deinen Übermut gefallen ließ, ist das ihre Sache. Ich bin nur neugierig, was die Mama zu deinem neuesten Streich sagen wird.« »Er wird mir eine Ohrfeige und Stubenarrest einbringen«, folgerte die Kleine unbekümmert, und der Bruder besah sie sich kopfschüttelnd. »Mädchen, was bist du doch bloß für ein Erzschelm. Dem sind Sie bestimmt nicht gewachsen, Fräulein Hermeran.« »Doch«, legte der Übermut das Köpfchen schief und blinzelte den distinguierten Herrn verschmitzt an. »Sie hat mich nämlich lieb. Und Liebe trägt, duldet und verzeiht alles – steht in der Bibel.« Da mußte der Mann denn doch lachen. Zeigte dann jedoch wieder ernst werdend auf die leere Flasche. »Hast du etwa Sekt getrunken, Dolly?« »Jawohl! Eine Spende derjenigen, die hier unter Larven die einzig fühlende Brust ist. Also laß auch du, Bruder, es genug sein des grausamen Spiels. Ich hab ja bestanden, was keiner besteht.« Da lachte Hariet hell auf. Jungfrisch und froh klang dieses köstliche Lachen. Und da sie dank ihres Schwipses Mut hatte, sprach sie in Gegenwart dieses sie sonst so einschüchternden Mannes das aus, was sie dachte: »Und ich soll Ihnen noch was beibringen, Dolly? Sie sind ja bedeutend klüger als ich.« »Hörst du es?« frohlockte der Schalk. »Und zwar aus dem Mund der Gelehrtentochter, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr mit dem Vater zusammen in Altertumskunde schwelgte. Die ihr Abitur mit Auszeichnung machte – ach, . wäre ich doch erst soweit.« »Na, die Auszeichnung wollen wir von vornherein streichen«, schmunzelte der Bruder, der seinem Schwesterchen nun einmal nicht ernstlich böse sein
konnte. »Ein >Ausreichend< dürfte, auch genügen.« »Hariet, widersprechen Sie ihm.« »Das wage ich nicht, Dolly.« »Ängstliches Gemüt. Aber das soll unter meinem Einfluß bald anders werden. Was verschafft mir übrigens die Ehre deines Besuches, gebietender Herr. Kamst du etwa, um mir ins Gewissen zu reden?« »Erraten. Aber dein niedliches Schwipslein würde dir selbst die strengste Strafpredigt rosenrot erscheinen lassen. Daher fange ich erst gar nicht damit an.« »Ach, was bist du doch für ein verständnisvoller Bruder. Komm an mein Herz!« Als sie sich beseligt an seine Brust werfen wollte, entschwand er lachend, und die beiden Mädchen machten es sich bequem. Dolly streckte sich aufs Bett und Hariet auf den Diwan. Und dann fingen sie an zu singen, bis sich die Köpfchen neigten und Schlaf sie umfing. Er war so fest, daß die beiden jungen Menschenkinder gar nicht merkten, als Lorenz erschien und den Tisch abdeckte. Ein gütiges Lächeln umzuckte den Männermund, und gütig war der Blick, der die holden Schläferinnen umfing. Es war am nächsten Morgen. Schrill riß der Wecker Hariet aus süßen Träumen hinein in die Wirklichkeit. Gähnend warf sie einen Blick auf die Uhr – halb sieben, also Aufstehzeit für sie. So verlangte es die Dienstvorschrift. Eine halbe Stunde später die Baronesse wecken und dafür sorgen, daß diese sich zur Zeit auf den Schulweg machte. Und zwar in dem Zweisitzer, den der Chauffeur lenkte. Er holte dann auch seine kleine Herrin von der Schule ab, die vier Tage in der Woche um ein Uhr und zwei Tage um zwei Uhr aus war. Es fiel Hariet nicht leicht, die festschlafende Kleine zu ermuntern. Kein Wunder, da es draußen in Strömen regnete. Und dann ruht es sich bekanntlich wohl im warmen, weichen Pfühl. »Dolly, Sie müssen aufstehen! Dolly, so werden Sie doch
endlich wach! Es ist fast einhalb acht Uhr. Ihnen bleibt ja zum Ankleiden keine Zeit und zum Frühstücken schon gar nicht!« Endlich erhob das verschlafene Persönchen sich in ganz miserabler Laune – und dann ging alles Hals über Kopf. Sich an den Frühstückstisch zu setzen, den Lorenz in dem reizenden Jungmädchenstübchen fürsorglich gedeckt hatte, daran war kein Gedanke. Hariet gelang es gerade noch, der ihr Anvertrauten eine Doppelschnitte in die Hand zu drücken, dann war diese auch schon auf und davon. Schachmatt ließ die Zurückbleibende sich in den nächsten Sessel sinken, um erst einmal zu verschnaufen, dann erst begann sie mit dem Frühstück. Unter der Mütze war der Kaffee heiß geblieben. Dickflüssig tropfte die Sahne in das braune Getränk, ein Stückchen Zucker plumpste nach. Und dann die Schnitte, dick mit Butter bestrichen und mit Landschinken belegt – ach, was waren das doch für herrliche Genüsse! Wenn es ihr doch vergönnt wäre, hier festen Fuß zu fassen, wo alles so ungemein großzügig, so selbstverständlich war. Nicht mehr zurück müssen in das mehr als bescheidene Milieu, aus dem sie stammte. Seufzend fuhr Harriet sich über die Stirn – und da wurde es ihr heiß vor Schreck. Richtig, ihr Haar war ja abgeschnitten, reichte kaum noch bis zur Schulter. Sie sprang auf, trat vor den Spiegel und beäugte sich eingehend. Ein fremdes Gesicht schaute ihr aus dem Glas entgegen – denn eine Frisur kann ein solches schon verändern. Das soll ich nun sein, dachte Hariet halb beglückt, halb verzagt. Was wird nur die Frau Baronin sagen! Mir etwa die Tür weisen? Fertig bekäme sie es schon, die kein Erbarmen zu kennen schien. Wie hatte sie aber auch der übermütigen Dolly die Erlaubnis zu dem Haarschnitt geben können. Es mußte wohl der Sekt sein, der diesen Leichtsinn heraufbeschwor. Zerknirscht nahm Hariet sich vor, nie wieder welchen zu
trinken. In ihrer Niedergeschlagenheit hätte sie am liebsten geweint. Aber das ging nicht. Sie konnte doch unmöglich mit verweinten Augen bei den beiden Damen erscheinen, denen sie bestimmt beim Ankleiden helfen mußte. Hoffentlich war auch heute wieder Mila dabei. Kaum hatte sie es gedacht, stand das Mädchen auch schon in der Tür. »Ach, hier sind Sie, Fräulein? Daher bekam ich auch keine Antwort, als ich an Ihre Zimmertür klopfte. Aber wie sehen Sie denn aus?« unterbrach sie sich lachend. »Haben Ihnen etwa in der Nacht die Heinzelmännchen den gräßliche Dutt abgeschnitten?« »Ein Heinzelmännchen war es schon«, entfuhr es Hariet – und da wußte die andere Bescheid. »Die Dolly also. Das sieht diesem kleinen Deibel ähnlich. Aber machen Sie sich nichts draus, Fräuleinchen. Sie wirken jetzt lange nicht mehr so altklunkerig. Nur das Haar muß noch richtig gestutzt werden, was ich gleich besorgen will. Ich habe nämlich Geschick darin. Wäre am liebsten Friseuse geworden, aber meine Eltern hatten nicht das Geld, um mich ausbilden zu lassen. Also los, ich mache Sie todschick.« »Ach, Mila, was wird bloß die Frau Baronin zu meiner jetzigen Frisur sagen?« »Gar nichts hat die zu sagen. Sie können doch mit Ihrem Haar machen, was Sie wollen. Und nun mal hopp, ich habe nicht viel Zeit.« Das klang wie ein Befehl, dem die ängstliche Hariet sich dann auch unterordnete. Geschickt hantierte Mila mit der Schere und besah dann wohlgefällig ihr Werk. Wie goldbraune Seide glänzte das wellige Haar, das in der Mitte gescheitelt, zwanglos über den Nacken fiel und sich an den Enden zu gleißenden Locken drehte: »Na, Sie haben vielleicht Haar«, sagte Mila andächtig. »Sie können den Scheitel tragen, was bestimmt nicht jeder Kann. Die Trine wird schön fauchen, wenn sie Sie so sieht.«
»Wer ist denn das, Mila?« »Na, die Martina, die wir einfach Trine nennen, weil sie eine ist. Die möchte für ihr Leben gern eine Scheitelfrisur tragen, was aber bei ihrem langen, mageren Pferdegesicht unmöglich ist. Das sieht sie selbst ein.« »O Gott, Mila, dann wird mir die Baronesse am Ende meine Frisur neiden.« »Wird sie, wird sie ganz bestimmt. Aber das freut mich von Herzen.« »Sagen Sie mal, Mila. warum sind Sie eigentlich auf Ihre Herrschaft so schlecht zu sprechen?« »Weil sie es nicht besser verdient. Das heißt, nichts gegen den Herrn Baron, das ist ein feiner Kerl. Wir haben wohl vor ihm einen heillosen Respekt, aber zugleich verehren wir ihn auch. Und die Dolly? Das ist zwar ein kleiner Deibel, aber sie hat ein gutes Herz. Doch die Olle und ihr getreuer Abklatsch, das sind einfach Menschenschinder. Na, Sie werden das auch noch zu spüren bekommen.« In dem Moment klingelte es viermal kurz und scharf. »Das gilt Ihnen«, erklärte Mila. »Ich kam nämlich her, um Sie im Zofendienst zu unterweisen, was ich über die Frisur ganz vergaß.« »Liebe Mila, wollen Sie so gut sein und heute noch mit mir kommen?« bat Hariet ängstlich, und da das Mädchen gutmütig war, willigte es ein. »Na schön, heute noch ja. Aber dann müssen Sie zusehen, allein fertig zu werden. Ich habe ja meine zugeteilte Arbeit als Stubenmädchen, und es fällt mir gar nicht ein, mir für die Ziegen ein Beinchen auszureißen.« * Schon klingelte es wieder, und Mila lachte. »Aha, das ist Sturm. Da können Sie was erleben.« »Sagen Sie, Fräulein, wo bleiben Sie eigentlich!« wurde sie von der Gnädigen, die im Bett saß, unwillig empfangen. »Und wie sehen Sie denn aus! Was haben Sie mit Ihrem Haar gemacht?« »Sie hat es abgeschnitten«, gab die Stubenfee trocken
Antwort. »Schließlich ist es ja ihr Kopf.« »Mila, ich verbitte mir Ihre Frechheit!« zeigten sich jetzt die kreisrunden Flecke auf den Backenknochen der entrüsteten Dame. »Ich werde deswegen beim Herrn Baron vorstellig werden.« »Na, dann kann ich dem Herrn Baron gleich sagen, daß ich mir eine andere Stelle suchen werde.« Diese Antwort hatte die hochfahrende Dame nicht erwartet – und sie gefiel ihr gar nicht. Weil sie nämlich ganz genau wußte, daß es schwer war, Dienerschaft nach Herrnhagen zu bekommen. Daß es an ihr lag, sah die Gnädige natürlich nicht ein, sie gab immer nur andern die Schuld. Also auch der Dienerschaft, die so oft wechselte. Es gab heute eben keine echte Dienstbarkeit mehr. Die Leute wurden aufgehetzt durch allerlei Neuerungen, die sie aufsässig und dreist machten. Die Unverschämten besaßen ja bald mehr Recht als die Herrschaft, die für mäßige Dienstleistung fütterte und entlohnte. Aber was sollte man dagegen tun? Man brauchte dieses anmaßende Gesindel nun mal – und mußte daher wieder einmal einlenken, was denn auch mit den Worten geschah: »Reden Sie „nicht solchen Unsinn, Mila! Sehen Sie lieber zu, daß ich mein Bad bekomme.« »Na also«, grinste die kecke Maid, als sie mit Hariet im Badezimmer allein war. »Sie sind gar nicht so schlimm, die ollen Ziegen, man muß sie nur zu nehmen wissen.« Hariet hätte viel darauf antworten können. Wagte es jedoch nicht, Mila zu verärgern, die trotz ihrer Keckheit hier recht angesehen zu sein schien. Ach, wenn ihr diese Keckheit doch auch gegeben wäre – aber leider. Wie ein Wirbelwind fuhr Dolly in das Zimmer Hariets, die im Korbsessel am Fenster saß und sich abmühte, den Riß in einem Nachtkleid der Baronesse Martina säuberlich zu verstopfen. Sie hatte so ein hauchfeines Gewebe noch nie in Händen gehabt und schwitzte nun gewissermaßen Blut und Wasser. Denn der rosarote Seidenfaden schien immer noch zu derb für den Hauch aus Seide und Spitzen.
»Lassen Sie das jetzt«, entschied Baroneßchen unwillig. »Kommen Sie mit mir essen. Ich habe gräßlichen Hunger nach der Plackerei in der Schule. Dem, der diesen Unsinn ausgetüftelt hat, könnte ich glatt den Hals umdrehen.« »Lernen Sie denn nicht gern, Dolly?« »Nein«, kam es aufsässig zurück. »Lesen, schreiben, rechnen, das muß der Mensch natürlich können. Alles andere ist Humbug, weil ich doch auch einmal heirate und ein halbes Dutzend Kinder großziehen werde. Denen ist es doch nun wirklich egal, ob ich ihre Windeln in höherer Mathematik, Literatur, Kunstgeschichte oder Latein wasche, ob ich mit sechzehn oder mit zwanzig Jahren der Schule entrann.« »Und der Mann?« fragte Hariet lachend. »Der will doch schließlich eine gebildete Frau haben.« »Meiner nicht«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Der ist bestimmt nicht auf Wissenschaft erpicht, weil er auf einer Klitsche treu und brav seinen Kohl bauen wird. Denn so was kommt für mich überhaupt nur in Frage. Oder glauben Sie, daß ich etwa Gefallen an einem so gelehrten Herrn finden könnte, wie zum Beispiel Ihr Vater einer war?« »Nein«, mußte Hariet ihr recht geben. »Sie wären auch viel zu schade dazu.« »Also! Gehen Sie mit mir, um Ihrer Pflicht zu genügen. Sie besteht jetzt darin, mir bei meinem Mittagsmahl Gesellschaft zu leisten.« Das geschah denn auch. Sie saßen allein zu Tisch, weil die andern immer um zwölf Uhr aßen. Also mußte für die Jüngste der Familie und ihr »Opfer« nachserviert werden. Aufgewärmtes natürlich, nach Befehl der Frau Mama – wobei die gute Mamsell und ihr trauter Gemahl schwerhörig waren. Ihr Liebling bekam nur Leibgerichte serviert, was die Gestrenge niemals sah, weil sie um die Zeit der Mittagsruhe pflegte. Hariet beeindruckte das feudale Speisezimmer natürlich sehr. Sie konnte sich – auch später noch – nie satt sehen an all dem Schönen, nie Geschauten.
Der runde Tisch in dem Erker war für zwei Personen gedeckt – und wie gedeckt. Feiner Damast, kostbares Porzellan, schweres Silber und blitzendes. Kristall. Man verschwand fast in den wuchtigen Lehnstühlen, die so weich gepolstert waren. Man konnte so wunderbar den Köpf an das schmiegsame, samtige Leder legen. Ach ja, wie war das doch alles traumhaft schön. Hariet konnte nicht begreifen, daß all die Pracht dem Backfischchen »wurscht« zu sein schien. Warum auch nicht? Sie war ja daran gewöhnt, die kleine Baronesse. Hatte diese Atmosphäre geatmet vom ersten Schrei an. Hätte man sie auf all das Herrliche aufmerksam gemacht, wäre sie wohl baß erstaunt gewesen. »Hariet, warum schauen Sie denn so bedeppert drein?« fragte sie jetzt verwundert. »Will Ihnen das vorzügliche Mahl etwa nicht munden?« »Doch«, entgegnete die andere wie bei einem Unrecht ertappt. »Ich bin nur an solche Delikatessen nicht gewöhnt.« »Dann holen Sie das recht schnell nach«, riet Backfischchen gönnerhaft. »Mag es hier sein wie es will, aber die Küche ist gut, dank unserer Mamsell. Daher hat Lorenz sie ja auch geheiratet, weil Liebe nun einmal durch den Magen geht.« Verschmitzt lachte sie dabei den Diener an, der soeben den Nachtisch servierte. »Nicht wahr, ihr seid ein gutes Gespann, die Mamsell und du.« »Durch Herrschafts Gnaden, Baronesse.« »Pöh«, tat sie ungerührt ab. »Sag lieber durch Gottes Gnaden“. Ich habe nämlich heute eine interessante Religionsstunde hinter mir. Demnach sind die Menschen nichts, Gott alles.« Darauf blieb Lorenz die Antwort schuldig und ging mit stolzer Würde hinaus. Er hatte getan, was er konnte. Hatte seinem Liebling ein Mahl serviert, wie es nicht in der Bestimmung der gestrengen Frau Mama stand. Nach dem Essen rekelte sich Dolly mal erst in ihrem
Zimmer auf dem Diwan. Hariet mußte ihr dabei Gesellschaft leisten. Doch sie war nicht müßig dabei, quälte sich mit dem Nachtgewand der Baronesse Martina weiter ab. Dolly sah eine Weile zu, dann sagte sie ungehalten: »Werfen Sie diese Kodderei doch einfach zum Fenster hinaus, Hariet. Es ist weiter nichts als Schikane meiner lieben Schwester, daß Sie daran herumsticheln müssen. Denn gemäß des Toilettengeldes, das ihr zur Verfügung steht, könnte sie sich jeden Monat so ein Ding leisten.« »Ich muß das tun, was mir beföhlen wird«, bemerkte Hariet bescheiden. »Dafür stehe ich ja hier in Lohn und Brot.« »Ach du lieber Gott«, schnitt die Kleine eine Grimasse. »Wenn Sie sich danach richten wollen, können Sie arbeiten, vom frühesten Morgen bis in die Nacht – und immer wäre es für die Anspruchsvollen noch nicht genug. Übrigens sehen Sie in der neuen Frisur reizend aus. Ich bin ordentlich stolz darauf, diese so wunderbar hingekriegt zu haben.« »Den Stolz muß ich Ihnen leider nehmen«, lachte Hariet. »Denn mit den Zotteln, die Ihre Schere schnitt, hätte ich unmöglich herumlaufen können. Die geschickte Hand Milas hat die Haare erst zurechtgestutzt.« »Tatsächlich?« staunte Dolly. »Dann müssen Sie aber einen großen Stein bei ihr im Brett haben. Denn Mila ist von der Dienerschaft wohl am intelligentesten, aber auch am frechsten. Wie nahm übrigens meine Mama Ihre neue Frisur auf?« »Darüber war die Frau Baronin natürlich sehr ungehalten. Doch Mila trat in so schnippischer Art für mich ein, die ich direkt bewunderte.« »Nun, Sie werden sich bei uns noch über manches wundern«, bemerkte Backfischchen trocken. »Hier heißt es: Hilf dir selbst, dann* hilft dir Gott.« Das schien auch der Fall zu sein. In diesem feudalen Schloß war jeder auf sich selbst gestellt. Zwar trat Dolly für Hariet, die sie nun mal in ihr zärtliches
Herzchen geschlossen hatte, ein, soviel sie nur konnte. Aber sie war ja am Vormittag in der Schule, und gerade dann wurde von dem »Fräulein« viel verlangt. Es mußte nicht nur die Baronin und deren ältere Tochter bedienen, sondern auch deren Garderobe und Zimmer in Ordnung halten. Ferner mußte es überall einspringen, wo es gerade gebraucht wurde. Und das war nun wirklich ein dehnbarer Begriff. Da hieß es wie am laufenden Band: Fräulein hier und Fräulein da Fräulein, Sie müssen dieses, Fräulein, Sie müssen jenes. Und das Fräulein tat es, gutwillig und unermüdlich. War gewissermaßen ein Paslack für alle. Bis Dolly aus der Schule kam, dann hörte das auf. Dann belegte die Kleine »ihr Fräulein« so mit Beschlag, daß es für alle andern tabu war. Und auf diese Stunden freute Hariet sich. Sie brachten ihr Freude und Erholung. Denn einer Obertertianerin bei den Schularbeiten zu helfen, war für das über den Durchschnitt gebildete Mädchen ein Kinderspiel. Dabei saß die Gewissenhafte nie müßig. Hatte immer ein Kleidungsstück in der Hand, das sie mit Mühe und Geschick ausbesserte. Wenn die Damen mit ihrer »Zofe« wenigstens zufrieden gewesen wären. Aber sie hatten ewig herumzunörgeln, zu kritisieren und zu schelten. Das alles ertrug Hariet mit rührender Geduld. Muckte auch nicht auf, als die übelgelaunte Gnädige ihr mit einer Ohrfeige drohte. Nichts konnte man der despotischen Frau recht machen, aber auch gar nichts. Wenn Hariet dann endlich gehen konnte, war sie so schachmatt, daß sie sich erst einmal gegen die geschlossene Tür lehnen mußte. So auch heute. Sie schloß die Augen, unter deren Lidern dicke Tränen hervorliefen, und bemerkte so nicht den Schloßherrn, der den Gang entlangkam, stutzte und dann stehenblieb. Schrak wie bei einem Unrecht zusammen, als die sonore Männerstimme sprach:
»Ja, was haben Sie denn, Fräulein Hermeran? Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Nein – o nein – gewiß nicht«, stammelte sie verstört, lief davon – und er sah ihr kopfschüttelnd nach. Und die Tage vergingen, reihten sich zu Wochen. Das Weihnachtsfest nahte. Einige Tage vorher stürmte Dolly ins Wohnzimmer und verkündete glückstrahlend den Ihren, daß sie in Mathematik eine Eins geschrieben hatte. »Die erste in meinem Leben!« schwenkte sie frohlockend das Heft. »Und daran ist Hariet schuld. Ach, ihr wißt ja gar nicht, wie klug die ist. Wie sie mir alles so eintrichtert, daß ich kaum etwas merke. Ich stehe jetzt in der Schule einfach blendend da.« »Das freut mich, mein Kind«, entgegnete die Mutter gemessen. »Endlich hast du eingesehen, daß Wissen Macht ist.« Das eben noch so strahlende Mädchengesicht verdüsterte sich. Doch schön zog Ulf das Schwesterlein zu sich heran und sagte herzlich: »Bravo, mein Kleines! Du hast wirklich ein Lob verdient.« »Mach sie nicht eitel«, gebot die Mutter streng. »Sie hat doch bestimmt nichts Besonderes geleistet. Wenn man im zweiten Jahr in einer Klasse sitzt, muß man das Pensum wohl spielend schaffen.« Zuerst sah die Kleine die Mutter betroffen an, doch dann ruckte der Kopf in den Nacken, die Augen blitzten. Und was sich dann den jungroten Lippen entrang, ließ den töchterlichen Respekt außer acht: »Vielleicht besinnst du dich, daß dein Abgott Martina zweimal eine Klasse wiederholte. Und nur, weil sie dumm und faul war – während ich…« »Dolly«, sprach der Bruder mahnend dazwischen. »Vergiß dich deiner Mutter gegenüber nicht.« Da weinte sie auf und lief davon. Mitten in Hariets Arme hinein, die zutiefst erschrocken war. »Dolly, was ist dir denn passiert? Liebes, so sprich doch!« Ganz unwillkürlich hatte sich das Du über Hariets Lippen
gedrängt – und da blitzte ein Lachen in den tränennassen Mädchenaugen auf, wie ein Sonnenstrahl, der nach dem Gewitter durch das düstere Gewölk bricht. »Du hast mich geduzt – bleiben wir dabei. Ich duze dich auch.« »Aber das geht doch nicht. Was würde die Frau Baronin dazu sagen?« »Na, der kann ich sowieso nichts rechtmachen. Also kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger schon gar nicht mehr an.« Sie erzählte, was sich soeben unten zutrug. Und da tat sie Hariet bitter leid. Sie kam zu keiner Antwort, weil es kurz , klopfte und der Schloßherr das Zimmer der Schwester betrat. »Erscheinst du, um mich auszuzanken?« rief sie ihm trotzig entgegen, doch er winkte ab. »Das ist nicht meine Absicht, obwohl du es verdientest. Denn der Ton deiner Mutter gegenüber war gewiß nicht von töchterlichem Respekt.« »Und der ihre war mir gegenüber wohl mütterlich, wie?« »Daran müßtest du doch schon gewöhnt sein«, erwiderte er achselzuckend. »Eben rief Tante Alice an und lud uns ein.« »Ist Dietz denn schon gesund?« fragte Dolly dazwischen. »Ja. Seit einigen Tagen befindet er sich außer Bett. Auch ihre Eltern sind schon wieder wohlauf. Übrigens sind Sie mit eingeladen, Fräulein Herme ran«, wandte er sich nun an sie, die sich bescheiden im Hintergrund hielt. »Wie mir meine Tante am Fernsprecher erklärte, sollen Sie eine Verwandte der Warrings sein. Allerdings so um sieben Ecken herum, wie sie lachend hinzusetzte. Mach den Mund zu, Dolly, sonst siehst du gar zu einfältig aus.« »Na, da bin ich ja nun mal platt wie eine Flunder«, behauptete sie. »Hariet, warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Weil ich die Begegnung mit den Herrschaften im Zug vergaß«, bekannte sie ehrlich.
»Dann besinnst du dich jetzt schleunigst wieder darauf und kommst mit nach Prahlen.« »Ich möchte nicht.« »Warum denn nicht?« »Weil mir das als Angestellte nicht zukommt.« »Na, so ein Unsinn! Ulf, befiehl, daß sie mitfährt!« »Meinst du nicht, daß dieser Befehl meine Kompetenz übersteigen würde, Schwesterchen? Fräulein Hermeran ist ja schließlich nicht meine Sklavin.« »Meinst du. Aber die Mama und ihr Abgott sind anderer Ansicht.« »Dolly!« »Na ja, ich bin ja schon still. Also los, Hariet, sei du dann meine Sklavin auch.« Da mußte der Baron lachen – und schon war die kecke Kleine wieder obenauf. Nachdem er betont hatte, daß der Schlitten in einer Viertelstunde abfahrtbereit wäre, ging er, und Dolly ermunterte: »Mach fix, Hariet, mein Bruder haßt die Unpünktlichkeit. Zieh dein bestes Kleid an, denn die Warrings sind schicke Leute.« »Dolly, ich kann doch nicht ohne Erlaubnis der Frau Baronin…« »Mädchen, laß doch endlich von der übertriebenen Bescheidenheit«, zappelte die Kleine jetzt bereits vor Ungeduld. »Du bist doch bestimmt nicht begriffsstutzig. Also mußt du schon längst bemerkt haben, daß hier zuerst einmal der Wille meines Bruders gilt, weil er eben der Herr ist. Und er hat dich zum Mitfahren aufgefordert.« Da mußte Hariet wohl oder übel gehorchen. Und gerade, als sie den Mantel überzog, klingelte es viermal scharf und kurz. »Das ist mein Klingelzeichen«, fuhr sie erschrocken zusammen und hastete davon. Sie merkte gar nicht, daß Dolly ihr auf dem Fuß folgte. »Wo wollen Sie denn hin?« fragte die Baronin brüsk das Mädchen, das sie angstvoll ansah.
Und schon gab das Backfischchen Antwort: »Wir fahren nach Prahlen, Mama.« »Was heißt – wir? Doch nicht etwa auch das Fräulein?« »Ja. Tante Alice lud sie ausdrücklich ein.« »Na, das ist ja noch schöner!« zeigten sich bereits die Flecke auf den Backenknochen. »Das Fräulein bleibt hier!« »Fräulein Hermeran begleitet uns«, kam es gelassen von der Tür her, wo Ulf stand. »Die junge Dame ist nämlich eine entfernte Verwandte der Warrings.« Sehr geistreich war die Frau Baronin ohnehin nicht, aber jetzt sah sie alles andere als das aus. Sie sperrte den Mund auf, klappte ihn wieder zu, sperrte ihn wieder auf. Und diese Gelegenheit benutzte der Mann, die Mutter erst gar nicht die Sprache wiederfinden zu lassen, die ihr diese überraschende Eröffnung geraubt zu haben schien. »Auf Wiedersehen, Mama. Warte nicht mit dem Abendessen auf uns. Man kommt von Prahlen immer so schlecht weg.« Damit ging er, und Dolly folgte ihm hastig, die willenlose Hariet am Ärmel mit sich ziehend. Als sie jedoch ins Freie wollte, hielt der Bruder sie zurück. »Na, so geht das ja nun nicht, daß Fräulein Hermeran so leicht gekleidet bei zwölf Grad Frost Schlitten fährt. Daran hättest du auch denken können, Kleine.« »Das stimmt«, entgegnete sie beschämt* und da stand auch schon Lorenz und hielt Hariet einen Pelz hin, in den sie mit einem hilflosen Lächeln schlüpfte. Dann wurde ihr eine Pelzkappe über die Ohren gezogen, der Kragen hochgeschlagen. Und dann mußte Dolly sich die gleiche Prozedur gefallen lassen, obwohl sie behauptete, daß ihr Pelz, den sie bereits trug, vollauf genügte. Doch gegen den Willen des Bruders kam man eben nicht . an. Der Einspännerschlitten, der schon vor dem Portal stand, war breit genug, um den drei schlanken Personen bequem Platz zu bieten, wobei Dolly in der Mitte den geschütztesten bekam. Lorenz und der Stallbursche, der das
Pferd gehalten hatte, stopften die große Pelzdecke sorgfältig um die Insassen des Schlittens, knöpften die Schneedecke darüber – und fort ging’s pfeilgeschwind. Prahlen lag fünf Kilometer von Herrnhagen entfernt und war mit seinen viertausend Morgen und den beiden Vorwerken ein stattlicher Besitz. Ein gutes Stück Wald gehörte auch dazu, Wasser gleichfalls, also ließ es sich schon wirtschaften, zumal der Besitzer, Ludwig Warring, noch vermögend war. Seine Gattin war die Halbschwester der Baronin Eggeroth und ihr ganz und gar unähnlich, im Aussehen sowie im Charakter. Kein Wunder, da diese ganz ihrer Mutter nachschlug, während Alice, die den Vater mit Klarissa gemeinsam hatte, halb diesem, halb ihrer Mutter nachartete. Und es waren beides schöne und gute Menschen gewesen. Die erste Ehe, die der Ulanenoberleutnant von Braß mit einer reichen Kommerzienratstochter schloß, war eine ausgesprochene Geldheirat. Er mußte daran glauben, wenn er nicht den geliebten bunten Rock ausziehen wollte. Das tat er erst nach zwei Jahrzehnten, als er von einem entfernten Verwandten ein kleines Gut erbte und ihm so eine Existenzmöglichkeit auch ohne das Geld seiner Frau geboten wurde. Er ließ sich kurzentschlossen von seinem »Hauskreuz« scheiden und heiratete das Mädchen, das er schon heimlich liebte, wurde ein glücklicher und freier Mann. Das Töchterchen, das sich nach einem Jahr einstellte, war der Sonnenschein des Hauses. Seine Tochter Klarissa aus erster Ehe erbte nach dem Tod der Mutter das stattliche Vermögen – und zog damit den Baron von Eggeroth an. Für seinen großen Besitz Herrnhagen brauchte er es nicht unbedingt, wollte sich jedoch seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und ein Gestüt errichten. Aber kurz vor der Hochzeit verlor Klarissa ihr Geld an einen betrügerischen Bankier, und da Baron von Eggeroth ein Mann mit hohen Ehrbegriffen war, ließ er die verarmte
Braut nicht sitzen, sondern führte sie heim. Ein echtes Glück bescherte ihm diese Ehe nicht, doch er fand sich damit ab. Zumal ihm ein Sohn geboren wurde, der so ganz Blut von seinem Blut war. Die Tochter, die drei Jahre danach folgte, überließ er ganz der Mutter. Doch das Nesthäkchen, das dann noch eintrudelte, war wieder ganz nach seinem Herzen. Man kann nicht sagen, daß der Baron seine Frau schlecht behandelte, das lag seiner vornehmen Natur nun einmal nicht. Er ließ sich nur nicht von ihr beherrschen, was sie doch so gern gewollt. Drückte stets den Daumen aufs Portemonnaie, sich selbst und seinem Besitz zu Nutz und Frommen. Was eine Dame brauchte, mußte sie natürlich haben, aber Verschwendung duldete der Gatte und Vater nicht. Klarissa, die mit ihrer Halbschwester immer nur in loser Verbindung gestanden hatte, gefiel es ganz und gar nicht, daß diese den Besitzer von Prahlen heiratete und somit in ihre Nähe kam. Und als gar noch die verhaßte Stiefmutter dort Wohnsitz nahm, hätte Klarissa eigentlich die Galle platzen müssen, so sehr erboste sie sich. Frau von Braß war allerdings erst zu ihrer Tochter gezogen, nachdem der Gatte gestorben war und sie das Gut verkauft hatte. Nun, von dieser Plage war Klarissa seit einem Jahr erlöst, weil die Verhaßte der Rasen deckte. Aber deren Tochter lebte nach wie vor herrlich und in Freuden in dem schönen Prahlen, hatte einen Gatten, der sie sehr verwöhnte. Hatte zwei Kinder, die förmlich Kult mit ihrer Mutz trieben, worüber Klarissa sich doch noch mal die Galle ins Blut ärgern würde. Warum konnten ihre Kinder nicht auch so sein? Ja – warum. Hinter dieses Warum hätte sie leicht kommen können, wenn sie eben nicht so selbstherrlich gewesen wäre. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie mit Prahlen in genauso losem Verkehr gestanden wie mit den andern Nachbarn. Aber Gatte wie Sohn und später auch Dolly
waren ja auf diese Menschen wie versessen. Nur Martina nicht. Aber dafür war sie ja auch ganz das verwöhnte Hätschelkind der Mutter. Und diesem von der Frau Baronin so gehaßten Prahlen fuhr nun der Herrnhagener Schlitten zu. Auch ganz was Neues für Hariet Hermeran. Sie hatte gar nicht Augen genug, um all das Wunderbare erfassen zu können, was sich ihnen bot. Am liebsten hätte sie vor Andacht die Hände gefaltet, was jedoch nicht ging, da sie in Fäustlingen steckten. »Hariet, du hast ja ganz fromme Augen«, neckte Dolly. »Bist du etwa noch nie im Schlitten gefahren?« »Du vergißt wohl, daß ich aus der Großstadt stamme, wo ein Schlitten direkt eine Sehenswürdigkeit ist. Genauso wie diese herrliche, unberührte Winterlandschaft hier.« Sie schwieg erschrocken, als der Mann den Kopf nach ihr wandte und sie prüfend ansah. Wie gut, daß ihr Gesicht so vermummt war. Da konnte er wenigstens nicht sehen, wie rot sie unter seinem Blick geworden war. Scheu senkte sie die Augen und wagte kaum noch aufzusehen, bis die Kleine lebhaft rief: »Schau mal, dort liegt Prahlen. Wie in Watte gepackt stehen die Insthäuser da. Und dann der helle Rauch, der fast kerzengerade zum Himmel steigt. Ein Zeichen, daß man überall Kaffee kocht. Ach, ich freue mich schon auf einen gemütlichen Kaffeeklatsch.« Fünf Minuten später hielt der Schlitten vor dem Herrenhaus. Es war langgestreckt mit einem Oberstock und Mansarden. Das Portal überdachte ein säulengetragener, geräumiger Balkon. Über den großen Hof eilte ein Stallbursche, klingelte mit dem Schlitten ab, während die Gäste erst einmal von dem Diener in Empfang genommen wurden. In der Halle eilte ihnen der Hausherr fröhlich entgegen. »Nun, seid ihr nicht verklammt? Es ist verflixt kalt draußen. Legt rasch ab, und dann gibt es zuerst einmal einen Schnaps zum Aufwärmen.«
Hariet, die natürlich wieder Hemmungen hatte, stand ein wenig abseits und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Zögernd folgte sie den drei Menschen, die in lebhafter Unterhaltung die Halle durchschritten und dann ein Zimmer betraten, das vornehm eingerichtet, aber auch sehr traulich war. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah mit einem Gefühl des Verlassenseins zu, wie nun die Hausherrin die lieben Gäste voll Herzlichkeit begrüßte. Ulf neigte sich über ihre Hand und sah sie forschend an: »Darfst du auch schon aufstehen, Alice?« »Natürlich. Bei mir war es ja nur eine Erkältung, ebenso bei Ludwig. Nur unsere Dietz hatte es arg gepackt. Wir haben eine Heidenangst um das Kind ausgestanden.« »Glaub ihr nicht, Ulf, sie übertreibt!« rief die Kleine ihm zu, die in eine Decke gepackt im Lehnstuhl saß. »Was so überängstliche Eltern einem zusetzen können, das sollte man nicht für möglich halten.« »Du hast’s nötig«, lachte der Baron. »Siehst noch blaßschnäbelig aus, aber die Augen sind bereits wieder klar.« »Und frech«, gab Dolly ihren Senf dazu, indem sie die Base und Klassenkameradin umarmte. »Hast mir in der Schule sehr gefehlt.« »Weil du nicht abschreiben konntest«, kam es trocken zurück, doch Dolly warf sich stolz in die Brust: »Hab ich jetzt gar nicht mehr nötig, seitdem Hariet – ja, wo ist die überhaupt…?« Verwundert sah sie sich um und entdeckte nun auch das Mädchen, das poch immer in der Tür stand. Auch die anderen wurden aufmerksam. Und schon eilte die Hausherrin der Schüchternen entgegen. »Aber Fräulein Hermeran, warum stehen Sie denn so verlassen zwischen Tür und Angel? Man immer rein in die gute Stube! Seien Sie uns herzlich willkommen.« »Na, so was«, sagte der Hausherr verblüfft. »Wie kann man sich nur so unsichtbar machen, mein gnädiges Fräulein.« »Das ist so ihre Art«, schaltete Dolly sich ein. »Man muß sie
immer von irgendwo hervorkramen. Typischer Fall von Schüchternheit, aber die gewöhne ich ihr noch ab. Genauso, wie ich ihr den gräßlichen Dutt abschnitt.« Ob es nun richtig war, daß alle über die kecken Bemerkungen lachten, blieb dahingestellt. Aber man konnte dem Schelm einfach nicht böse sein, das war’s. Ebensowenig wie man es bei Dietlind konnte, die von gleicher Art war. Sie meinten es ja auch nicht bösartig, die Backfischchen, waren immer nur mit dem flinken Zünglein vorweg. »Sagen Sie mal, gnädiges Fräulein, wie werden Sie überhaupt mit dem Frechdachs fertig?« erkundigte sich Herr Ludwig augenzwinkernd bei Hariet, die verlegen dastand. Doch schon rief das Töchterlein hinüber: »Bist du formell, Paps, zu der Tochter des Bruders deines angeheirateten Vetters. Komm her zu mir, Hariet, wir sagen du zueinander, obwohl unsere Verwandtschaft sich noch schwieriger feststellen läßt.« Jetzt mußte man wieder über dieses Backfischchen lachen, und der Vater meinte schmunzelnd: »Sie hat tatsächlich so lange herumgetüftelt, bis sie den Verwandtschaftsgrad heraus hatte.« »Aber sie hat recht!« jubelte Dolly. »In den Ferien werde ich mich mal heranmachen, meinen Verwandtschaftsgrad mit Hariet auszuknobeln.« »Dann viel Vergnügen«, lachte die Tante. »Nun kommt, Kinder, trinken wir Kaffee. Doch vorher gibt es einen Schnaps für die verklammten Gäste.« Wie in Herrnhagen, so gab es auch hier ein gemütliches Frühstückszimmer, wo auf dem gedeckten Tisch die Kaffeemaschine brodelte. Dietlind, die der Vater hinübertragen wollte, wehrte sich dagegen entschieden. »Paps, mach um Himmels willen keine Zimperliese aus mir! Soviel ich weiß, sind dir solche zuwider, und das möchte ich doch nicht sein.« Sie hakte sich beim Vater ein, der zärtlich auf sein couragiertes Töchterchen herniedersah.
Die Kaffeestunde wurde so gemütlich, wie sie in dem Hause, wo Glück und Liebe herrschten, gar nicht anders sein konnte. Das war die Atmosphäre, welche die Geschwister Eggeroth von jeher in ihrem Elternhaus vermißt hatten. Daher weilten sie so gern bei den Verwandten, wie es auch ihr Vater tat. Alice war aber auch eine Frau, die herzwarme Traulichkeit in ihrem Heim zu schaffen vermochte. Ganz im Gegenteil zu ihrer Schwester Klarissa. Sobald diese irgendwo auftauchte, wurde es ungemütlich. Kein Wunder, daß sie nicht beliebt war, ebensowenig ihr getreues Ebenbild Martina. Daher wollte sich auch kein Mann für sie finden, obwohl sie ganz gut aussah und auch nicht mit leeren Händen in die Ehe gehen würde; denn ihr Erbteil machte schon einen ganz guten Batzen aus. Es würde dem Bruder nicht leichtfallen, ihr das aufs Brett zu zahlen, was sie natürlich verlangte. Er würde dazu eine Hypothek aufnehmen müssen, wenn auch die Mutter das Ihrige beanspruchte, sofern ihr Liebling heiratete. Das war ihrem Egoismus schon zuzutrauen. Als Ulf einmal mit dem Onkel darüber sprach, meinte dieser tröstend: »Darüber mach dir keine Sorge, mein Junge. Wenn es soweit ist, springe ich mit dem nötigen Kapital ein. Du weißt ja, daß ich das kann. Viel wird es übrigens wohl gar nicht zu sein brauchen. Denn soviel ich weiß, steht Herrnhagen doch recht gut da.« »Gott sei Dank, Onkel Ludwig. Martina würde ich sogar ohne Hilfe auszahlen können, aber die Mama gleich mit, das ist doch ein bißchen viel auf einmal.« »Meinst du wirklich, daß sie es verlangen wurde?« »Unbedingt«, erwiderte er bitter. »Sie droht ja jedesmal damit, wenn ihr etwas nicht paßt. Es ist eben ihr Bestreben, mich völlig zu beherrschen.« »Junge, dagegen wehre dich aber ganz energisch«, riet der Onkel dringlich, »sonst bist du bald nichts weiter als eine Marionette in den Händen dieser herrschsüchtigen Frau.
Zahl sie aus, wenn sie es durchaus will, dann bist du’ sie wenigstens lös. Oder gedenkst du ihr auch darin noch Wohnrecht im Schloß zuzubilligen?« »Nein, dann zieht sie ins Witwenhaus, wo sie selber für ihren Lebensunterhalt aufkommen muß. So hat Vater es im Testament bestimmt – und so werde ich es halten. Es ist ja traurig, daß man bei seiner Mutter so rigoros vorgehen muß, aber an mir liegt es bestimmt nicht.« »Das weiß ich, Ulf«, sagte der Onkel wärm. »Also warte ab. Wie es auch kommen mag, du hast keinen besseren Freund und Helfer als mich.« Diese Worte gaben dem Baron eine Zuversicht, die ihn getrost in die Zukunft schauen ließ. Es war spät, als man endlich von Prahlen loskam. So geschah es stets, weil man sich von der Traulichkeit, die dort herrschte, zu sehr einspinnen ließ. Es war bitterkalt. Die beiden Mädchen hatten sich zusammengekuschelt und sprachen nicht, weil die eisige Luft das nicht zuließ. Jeder gab sich seinen Gedanken hin, während der Schlitten pfeilgeschwind dahinglitt. Das Pferd witterte den warmen Stall und griff daher flott aus. Harriet dachte angstvoll daran, daß sie das würde auslöffeln müssen, was der herrische Mann, der jetzt den Schlitten lenkte, ihr einbrockte. Er befahl, und sie hatte zu gehorchen. Ob er ihre Herrin damit verärgerte, was ging das ihn an? Er brauchte diesen Ärger ja nicht über sich ergehen zu lassen. Doch mit dieser Annahme tat Harriet dem Mann unrecht. Weil sie eben nicht Zeuge des Gesprächs gewesen war, das er mit seinen Verwandten führte, als sie mit den andern beiden Mädchen im Nebenzimmer weilte. Sie besahen dort Bilder, die im Familienalbum steckten. Hauptsächlich die Regina Hermerans, der Gattin des berühmten Forschers. Allerdings waren es Fotos, die mindestens dreißig Jahre zurücklagen. Aber immerhin. Hariet konnte sich jetzt wenigstens ein Bild von der Tante machen, die sie nur dem Namen nach kannte.
»Ist sie nicht rassig?« fragte Dietlind begeistert. »Du, auf diese Verwandte sind wir sehr stolz.« Indes unterhielten sich im Nebenzimmer ihre Eltern mit dem Neffen, und es war Alice, die zuerst auf Hariet zu sprechen kam. »Du lieber Himmel, ist das ein verschüchtertes Menschenkind«, sagte sie mitleidig. »Das wagt ja kaum den Mund aufzumachen. Verkriecht sich gewissermaßen in sich selbst, um nur ja keinen Anstoß zu erregen. Nur gut, daß Dolly sich so spontan an sie anschloß. Und wie stehen deine Mutter und Martina zu ihr, Ulf?« »Das kannst du dir ja denken, Alice«, entgegnete er, der diese um zehn Jahre ältere Frau nicht Tante nannte, während er ihrem Gatten, der ja hätte sein Vater sein können, ohne weiteres den Onkelnamen gab. »Sie sehen in jeder Angestellten nur ein Wesen, das sich ihnen in sklavenhafter Ergebenheit unterzuordnen hat.« »Leistet Hariet bei ihnen etwa auch Zofendienste?« »Leider.« »Aber Ulf, das darfst du doch nicht dulden!« »Das ist sehr leicht gesagt«, hob er die Schultern. »Zwar wahre ich meine Herrenrechte, soweit ich kann, aber über eine Angestellte wie Fräulein Hermeran habe ich nicht zu bestimmen. Die ist in erster Linie meiner Mutter unterstellt.« »Und doch mußt du es versuchen«, erregte Alice sich jetzt. »Gerade so einem verschüchterten Mädchen darfst du deinen hausherrlichen Schutz nicht versagen. Sonst wird das arme Ding ja vollständig zur Sklavin.« »Das ist auch meine Befürchtung«, schaltete sich jetzt Ludwig ein. »Zum Kuckuck, Junge, hau doch mal mit der Faust auf den Tisch und schaff Ordnung in deinem Hause! Es ist bereits so verrufen, daß es bald ohne Dienerschaft sein wird. Das war doch anders, als dein Vater noch lebte.« »Der konnte auch ganz anders durchgreifen, Onkel Ludwig – anders, als ich als Sohn das kann.« »Na ja, gewiß. Aber meinst du nicht auch, daß eine Mutter
nur da liebevolle Rücksicht erwarten darf, wo sie selbst eine solche walten läßt?« Er konnte nicht weitersprechen, da die drei Mädchen zurückkamen. »Ich habe Hariet Bilder von Tante Regina gezeigt«, berichtete Dietlind stolz. »Sie findet diese auch apart.« »Wie sie es bestimmt auch ist«, bestätigte der Vater. »Schön, kühn und verwegen. Ich kann mir vorstellen, daß sie mit ihrem Mann bei dessen Forschungsreisen durch dick und dünn geht.« »Ob das schneidige Ehepaar überhaupt noch lebt, Ludwig?« »Das glaube ich schon, Alice. Bei einem so berühmten Paar bleibt ein Tod nicht verschwiegen. Dafür sorgen schon die Zeitungen. Und auch unser Sohn würde es wissen, der sich für die Berühmtheiten sehr interessiert und alles Lesbare über sie förmlich verschlingt.« »Ach ja, Lutz«, lachte Dolly. »Ich freue mich, daß ich mich in den Ferien, wo er hier ist, wieder mit ihm zanken kann.« »Auch ein Vergnügen«, schmunzelte der Onkel. »Aber ich glaube, Marjellchen, du ziehst dabei immer den kürzeren. Denn ein Primaner kann von einer entwaffnenden Grobheit sein.« »Pöh«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Dann bin ich eben noch gröber.« Man nahm dieses lachend zur Kenntnis und sprach dann von etwas anderem. Als man sich später verabschiedete, flüsterte der Onkel dem Neffen zu: »Junge, denk an die Faust.« Nun. daran dachte dieser, als er am anderen Tage mit Mutter und Schwester beim Mokka saß. Es war ungemütlich in dem kleinen Raum, weil eben die beiden Damen zugegen waren – und dazu noch aufs tiefste beleidigt. Und zwar darüber, weil der Sohn und Bruder gestern über eine Angestellte bestimmte, über die ihrer Ansicht nach nur ihnen allein das Bestimmungsrecht zukam. Also sprach die Frau Mama: »Mein lieber Sohn, deine Handlungsweise mir gegenüber
ist einfach skandalös. Wie kommst du eigentlich dazu, über eine Angestellte zu bestimmen, die in meinen persönlichen Diensten steht?« »Liebe Mama«, versetzte der Sohn, dabei an die >Faust< denkend, »inwiefern steht die junge Dame denn in deinen persönlichen Diensten? Derjenige, der ihr Lohn und Brot gibt, bin ich doch wohl, nicht wahr? Und daher werde ich auch nicht länger gülden, daß du Fräulein Hermeran, die erstens mal das Abitur machte und außerdem noch der Famulus ihres gelehrten Vaters war, nicht nur Zofendienste zumutest, sondern sie als Kuli betrachtest. In erster Linie ist die junge Dame für Dolly da. Und wenn sie außerdem noch kleine Hausarbeiten verrichtet, tut sie für ein Monatsgehalt von fünfzig Mark schon reichlich genug. Daß sie jedoch noch dich und Martina bedienen muß, eure Garderobe in Ordnung hält, eure Zimmer säubert, sogar noch als Paslack der Dienerschaft herabgewürdigt wird, das bezeichne ich als Menschenschinderei. Und so was kann, und will ich als Herr des Hauses nicht länger dulden, das schön sowieso in einem schlechten Ruf steht. Also möchte ich dich bitten, Fräulein Hermeran mit den angeführten Dingen nicht mehr zu behelligen.« Zuerst war die Mutter einmal starr vor Staunen. Was fiel denn dem Sohn plötzlich ein? Noch nie hatte er eine so rücksichtslose Sprache ihr gegenüber geführt. Ach so, er war ja gestern in Prahlen gewesen, wo man ihn bestimmt aufgehetzt hatte. Aber ehe sie noch ihrer Empörung Luft machen konnte, sprach Ulf schon wieder kurz und herrisch: »Ich werde Mila ein gutes Wort geben, daß sie bei dir und Martina Zofendienste übernimmt. Sie ist zwar für solche nicht direkt ausgebildet, ist aber dafür sehr geschickt – und hat vor allen Dingen den Mund auf dem rechten Fleck. An ihre Stelle tritt ein anderes Stubenmädchen, das ich wahrscheinlich nur für Geld und gute Worte hierher bekommen werde – und damit dürfte sich der Fall erledigt haben.«
»Noch lange nicht hat sich der Fall erledigt!« rief die Mutter erbost. »Ich ziehe ins Witwenhaus, heute noch! Aber dann will ich mein Geld, verstehst du?« »Kannst du haben.« »Sieh mal an, wie großspurig«, höhnte sie. »Willst du mir nicht verraten, woher du diese immerhin nicht kleine Summe zu nehmen gedenkst?« »Aus den Einnahmen meines Besitzes«, kam es gelassen zurück. »Lege schriftlich deine Forderung nieder, denn du weißt, daß dieses laut Testament erforderlich ist.« Noch wahrnehmend, daß die impertinente Dame vor Staunen den Mund offen behielt, ging er, weil das alles seiner vornehmen Natur zuwider war. Aber Onkel Ludwig hatte recht. Er mußte rigoros vorgehen, wenn er nicht zur Marionette dieser herrschsüchtigen Frau werden wollte. Am nächsten Morgen wartete Hariet auf das Klingelzeichen, das sie zur Baronin beorderte, was so um zehn Uhr herum zu geschehen pflegte. Und jetzt war es bereits eine Stunde darüber. Also wurde das, was sie befürchtet, jetzt zur Gewißheit. Die Herrin trug es ihr nach, daß sie gestern gegen ihren Willen nach Prahlen gefahren war. Aber sie konnte doch nichts dafür, der Baron hatte es ihr doch befohlen, und nun würde sie gewiß seinetwegen ihre Stelle verlieren. Mußte fort von hier, wo es ihr doch so gut ging. Wo sie keine Sorge ums tägliche Brot zu haben brauchte, außerdem noch Geld bekam. Zwar gab es ein bißchen zuviel Arbeit, aber das machte ihr nichts aus. Sie arbeitete doch gern. Erschrocken fuhr sie zusammen, als es klopfte. Wie eine Schuldige, die man zur Rechenschaft ziehen will, sah sie Lorenz entgegen, der eintrat und meldete: »Der Herr Baron wünscht Fräulein Hermeran zu sprechen.« Wie es Hariet gelang, dem Diener mit zitternden Beinen zu folgen, hätte sie später nie zu sagen vermocht. Ihr Herz klopfte wie rasend, als sie das Zimmer betrat, wo der Gefürchtete sich von seinem Schreibtisch erhob und ihr
entgegentrat. Betroffen sah er in das erschreckend blasse Mädchengesicht, in die angstgeweiteten Augen, die Glieder zitterten und bebten. »Ist Ihnen nicht gut, Fräulein Hermeran?« fragte er besorgt. »Doch, mir ist gut, aber mir ist auch – wieder nicht gut.« »Nun, nun«, sprach er beschwichtigend in ihr Gestammel hinein. »Zuerst nehmen Sie mal in diesem Sessel Platz. So – und nun beruhigen Sie sich zuerst einmal.« »Ich bin doch ruhig.« »Das merkt man Ihnen an. Warum haben Sie eigentlich Angst vor mir?« »Weil – weil – ach, ich weiß es doch nicht. Muß ich jetzt fort von hier, Herr Baron?« »Ach, das ist es«, dehnte er. »Wäre das denn so schlimm?« »Ja – sehr schlimm. Ich wüßte gar nicht, wo ich hin sollte – ich bin ja so allein.« Das letzte klang wie ein Hauch, und der Mann mußte sich erst einige Male räuspern, bevor er sprechen konnte. Doch dann geschah es kühl und sachlich: »Ich habe Sie herbestellt, um Ihnen zu sagen, daß es sehr freundlich von Ihnen war, für die Zofe einzuspringen, die meine Mutter im Stich ließ. Mila wird jetzt an ihre Stelle treten, und Ihr Amt wird es fortan sein, sich meiner Schwester Dolly zu widmen und dafür zu sorgen, daß im Hause alles in Ordnung ist. Aber nicht so, indem Sie unterlassene Arbeiten der Dienerschaft verrichten, sondern diese beaufsichtigen – also gewissermaßen wie ein guter Hausgeist über allem schweben. Übrigens muß in der Gehaltsfrage ein Fehler unterlaufen sein – denn es beträgt monatlich nicht fünfzig, sondern achtzig Mark. Sind Sie damit einverstanden?« Zuerst starrte das Mädchen ihn wie entgeistert an, doch dann leuchtete es in den eben* noch so verängstigten Augen auf. »Oh, Herr Baron – ich bin glücklich.« Da stieg dem Mann die Röte der Beschämung ins Gesicht.
Mitleidig war der Blick, der zu ihr hin ging, die jetzt die großen, leuchtenden Blauaugen entzückt durch das weite Gemach schweifen ließ. Diese kostbare Einrichtung muß viel Geld gekostet haben – schoß es ihr durch den Sinn. Viel mehr, als ihr Vater in Jahren verdiente. Es mußte herrlich sein, so viel Geld zu besitzen. Aber das kam ja wohl nur den Bevorzugten des Schicksals zu, nicht so geduckten Geschöpfen, wie sie eines war. Erschrocken fuhr sie zusammen, als die sonore Stimme wieder sprach: »Dann wären wir uns ja einig, Fräulein Hermeran. Lassen Sie sich fortan nicht mehr ausnutzen. Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich, wenn jemand das wagen sollte.« Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich – als ob Hariet das jemals könnte. Dafür schüchterte dieser Mann sie viel zu sehr ein. Schon allein seine hohe, prachtvoll gewachsene Gestalt, das hartgeschnittene, rassige Gesicht, die blauen Augen, die so kalt blicken konnten wie glitzernde Kiesel, und dann sein herrisches Gebaren. Nein, Hariet hatte einfach Angst vor diesem ungewöhnlichen Mann. »Darf ich gehen, Herr Baron?« »Bitte sehr.« Da hastete sie davon, hinauf in ihr Zimmer, wo sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Warum sie weinte, war ihr selbst nicht klar. Denn sie war ja nicht entlassen, hatte im Gegenteil weniger Arbeit und Gehaltszulage zugesagt bekommen. Also mußten es wohl die Nerven sein, die nach dem ausgestandenen Schreck nachgaben – und im übrigen war sie eine jämmerliche Plinskarline. Nach dieser Feststellung wischte sie energisch die Tränen fort – und erschrak dann zuerst einmal wieder, als es klopfte und sich dann eine Person ins Zimmer schob, die man mit kugelrund bezeichnen konnte. Auf einem kurzen Hals saß ein vollwangiges, blühendes Gesicht mit verschmitzten Äuglein. Das dunkle, in der Mitte
gescheitelte Haar lag straff dem Kopf an und war in Flechten aufgesteckt. An der Frau, die nahe der Fünfzig sein mochte, glänzte alles vor Sauberkeit, selbst der Scheitel und das Gesicht. »Ich bin die Mamsell«, verkündete das rundliche Wesen mit der Würde eines Potentaten. »Der Herr Baron schickt mich zu Ihnen, damit ich Sie unter meine Fittiche nehme. Und da sind Sie gut aufgehoben, da kann keine Niedertracht an Sie heran. Wenn Sie einer von der Bande ärgert, kommen Sie zu mir. Dann schlage ich ihm den Kochlöffel um die Ohren.« »Ach du lieber Gott«, entfuhr es Hariet entsetzt. »Ob ich nicht die erste sein werde, der das geschieht?« Da lachte Mamsellchen, daß das Bäuchlein nur so wippte. »Nein, an so verschüchterten Hascherchen vergreife ich mich nicht, die beschütze ich. Wissen Sie, was der Herr Baron zu mir sagte? Mamsellchen, hat er gesagt, nimm dich des ängstlichen kleinen Mädchens an, sonst nutzt man es zu sehr aus. Und was der Herr Baron sagt, das ist für mich und meinen Alten, die wir hier schon über dreißig Jahre dienen, ein Evangelium. Wir haben ihn auf dem Arm getragen, den Ulf, und so was verbindet wie Pech und Schwefel. Er ist uns treu, wir sind ihm treu, und so was mag der liebe Gott. Also, Fräuleinchen, passen Sie mal hübsch auf, was Ihre Arbeit ist. Zuerst kümmern Sie sich mal um unser Dollychen, weil das Kind ja gar keine Führung hat. Passen gut auf, daß sie ihre Schularbeiten macht, erklären ihr das, was sie nicht weiß. Denn so was können Sie, sagt der Herr Baron. Sie sind durch die Schule gelehrt und auch durch Ihren Vater. Dann sehen Sie zu, daß Dollychen“ nicht ohne Frühstück in die Schule rennt, sonst verkommt uns das Kind noch, und das wollen wir alle nicht haben. Und dann muß es immer gut angezogen sein, keine zerrissenen Strümpfe und so. Aber das machen Sie ja schon alles, weil Sie unser Dollychen liebhaben, sagt der Herr Baron. Naja, das wäre das. Und weiter sehen Sie am Vormittag in
den Stuben nach dem Rechten. Denn unsere Stubenmädchen sind keinen Heller wert, pfuschen herum, daß Gott erbarm. Aber nehmen Sie nicht womöglich den Besen selbst in die Hand, sondern schlagen ihn der faulen Bande um die Ohren. So, das wäre Ihre ganze Arbeit.« Wie zur Bestätigung dessen fuchtelte sie ergrimmt über dem gesenkten Mädchenkopf und wurde dann weich wie Butter in der Sonne. »Daß Gott erbarm, so was von Heimchen aber auch. Na, lassen Sie man, Herzchen, ich sorg jetzt schon für Sie. Und unser Dollychen tut das auch und auch der Herr Baron. Die sind gut, die erbarmen sich über Mensch und Tier. Und nun kommen Sie mit. Ich rufe die Dienerschaft zusammen und sage ihr die Wacht an. Dabei drohe ich noch mit dem Herrn Baron – und dann sollen Sie mal sehen, wie die Bande Sie in Zukunft respektiert.« Mit dem Tag ging für Hariet die Sonne auf, wie sie es bei sich nannte. Die Dienerschaft hütete sich, ihr dreist zu begegnen, weil sie den Schutz fürchtete, unter dem sie jetzt stand. Zwei Tage vor Weihnachten bekam Dolly Ferien und belegte »ihre Hariet« jetzt vollständig mit Beschlag. Es wurde ein rechtes Treugespann, das miteinander lachte und plauschte und auch gemeinsam die hohe Tanne im Saal schmückte. Dabei sangen sie Weihnachtslieder und erbosten damit die Frau Baronin, die wie ein Gespenst durch das Schloß schlich, und ihr getreuer Schatten Martina stets hinterdrein. Und dann war der Weihnachtsabend da, wo zuerst die Arbeiter der Herrschaft Herrnhagen, dann die Beamten und hinterdrein die Schloßangestellten beschert wurden. Und zu denen gehörte auch Hariet, sehr zum Verdruß Dollys. Sie hätte das ihr so liebe Mädchen gern bei der Familienfeier gehabt, aber dafür reichte ihre Macht nicht aus. Aber die bescheidene Hariet war auch so zufrieden. Freute sich über die Geschenke, die nur mäßig ausfielen, da sie
erst kurze Zeit im Dienst stand. Eine Kleiderschürze, Seife und ein bunter Teller, mehr hielt die Frau Baronin für diese kurzfristige und außerdem so anmaßende Angestellte nicht für angebracht. Doch als Hariet in ihrem Zimmer den Knabberteller untersuchte, lag auf dem Boden ein Kuvert – und darin steckte – ein Hunderter. Ein Hunderter, tatsächlich! Noch nie hatte sie so einen Schein in Händen gehabt. Zuerst glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen, aber das Wunder war da und blieb. Überwältigt von freudigem Schreck ließ sie sich in den Korbsessel sinken und spann Zukunftspläne, die gar hoch hinausgingen. Demgemäß hätte der Schein den hundertfachen Wert besitzen müssen. Eigentlich war es doch sehr anständig von der Baronin, ihr außer den Geschenken noch das Geld zukommen zu lassen. Das sagte sie auch Dolly, als diese später nach oben kam. »Na, man vorsichtig«, versetzte diese trocken; »Der Dank gebührt meiner Mama nicht, sondern meinem Bruder, der in jeden bunten Teller der Angestellten so einen Umschlag legt. Aber bedank dich nicht bei ihm, das kann er nicht leiden.« Also unterließ es Hariet – und zwar gern. Denn dem hoheitsvollen Mann ihren Dank zu sagen, wäre wieder von Zittern und Zagen begleitet gewesen. Hariet atmete auch erleichtert auf, als die Baronin ihr durch den Diener sagen ließ, daß sie heute das Abendessen nur im Kreise ihrer Familie einzunehmen wünsche. Zwar empörte es Dolly, aber sie konnte es nicht ändern. So ging sie denn verdrießlich allein zum Abendessen, und Hariet bekam das ihre von der Mamsell höchstpersönlich serviert. Eine Auszeichnung, die bestimmt nur Auserwählten zuteil wurde. »Ich esse mit Ihnen«, erklärte die Gestrenge kurz und bündig. »Denn es geht ja nun nicht an, daß an so einem Heiligen Abend der Mensch allein ist. Aber ich weiß schon,
was die Gnädige damit bezweckt, daß Sie gerade heute so einsam sein sollen, Fräuleinchen. Das ist ihre Rache, weil sie Sie jetzt nicht mehr so schikanieren kann, wie sie gern möchte.« »Das ist eine Rache, die mich nicht trifft«, lachte Hariet. »Ich bin im Gegenteil der. Frau Baronin dankbar, daß sie mich von diesem Abendessen dispensiert. Denn glauben Sie nur nicht, Mamsellchen, daß es ein Vergnügen ist, an einem Tisch zu sitzen, wo man mit Nichtachtung für etwas gestraft wird, was man gar nicht verbrochen hat. Denn ich kann wirklich nichts dafür, daß der Herr Baron so durchgreifende Bestimmungen traf. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich auch weiter Zofendienste bei den beiden Damen verrichtet.« »Das hätte denen so gepaßt«, lachte die Mamsell grimmig auf. »Lassen Sie man, wie der Herr Baron es anordnet, ist es gut und richtig. Und jetzt essen wir. Ich habe schon dafür gesorgt, daß wir nicht zu kurz kommen.« So tafelten sie denn frohgemut, und zwar auserlesene Delikatessen. Und warum auch nicht? Es heißt ja in der Bibel: Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden. Also auch nicht Mamsellchen verbieten^ die guten Dinge zu essen, die sie bereiten mußte. Und da auch der Tischwein auserlesen war, bekam Hariet bald einen Schwips. »Mamsellchen, mir geht es doch so gut«, bekannte sie aus tiefstem Herzensgrund. »So ein schönes Weihnachtsfest habe ich noch nie erlebt. Meine sparsame Tante Berta gestattete nicht mal einen Baum, weil sie das für unnütze Geldverschwendung hielt. Ich glaube, sie hat gar nicht gewußt, wenn Weihnachten war – und ich auch nicht.« »Armes Kindchen, was hat man bloß mit Ihnen gemacht«, murmelte die Frau, der das gute Herz fast vor Mitleid überfloß. »Gehen Sie schlafen, das ist jetzt das beste für Sie. Ich bringe Sie auch zu Bett.« »Ach ja, Mamsellchen, das ist schön. Sie sind so gut zu mir.
Lieber Gott, ich danke dir.« Es waren zärtliche Hände, die das Mädchen, das in seiner leichten Berauschtheit noch so manches aus seinem freudlosen Leben ausplauderte, zu Bett brachten. Und als die Mamsell sich dann behutsam von der Schlummernden entfernte, brummelte sie vor sich hin: »Du großer Gott, was hast du bloß mit dem armen Seelchen gemacht. So was ist doch nun wirklich nicht statthaft, so mancher nichtswürdigen Kreatur alles zu geben und so einem armen Herzchen gar nichts. Mach das gut, lieber Vater im Himmel droben, mach das gut. Das ist mein Weihnachtsgebet.« Und während Hariet der Traumgott umfing, feierte man unten in der Familie Weihnacht. Diese Feier bestand darin, daß man sich langweilte, unlustig die Weihnachtsbowle trank und pflichtschuldig in den Baum starrte, an dem die Kerzen brannten. Dolly, die Weihnachtslieder spielen sollte, weigerte sich entschieden. Und da die Mutter ja ständig an ihrer Jüngsten herumtadeln mußte, tat sie es auch jetzt. »Dolly, ich muß dich rügen und dein Fräulein mit. Sie hätte dir unbedingt einige nette Sachen einüben müssen, denn zu ihren Pflichten gehört auch musikalisches Können. Sie hat das in dem Bewerbungsschreiben auch ausdrücklich hervorgehoben, versagt jedoch darin, wie sie bei allem versagt.« »Mama, so laß das doch jetzt«, unterbrach der Sohn sie unwillig. »Mag Martina doch spielen und singen, für deren musikalische Ausbildung viel Geld ausgegeben wurde.« »Mein armes Kind ist leidend.« »Nun, so ist es dein anderes Kind eben auch.« »Verzeihung, ich vergaß, daß du für deinen Liebling ja immer eine Entschuldigung findest.« »Genauso, wie du für den deinen, Mama.« Da schwieg sie beleidigt, und das war gut. Denn so ließ sie wenigstens ihre Jüngste in Ruhe, die dem Bruder einen bittenden Blick zuwarf, den er sehr wohl verstand.
»Bist du müde. Kleines?« »Sehr, Ulf.« »Dann husch, husch ins Körbchen! Schlaf gut.« Herzlich wurde er umarmt und geküßt. Dann einen flüchtigen Kuß auf die Wange der Mutter, einen auf die der Schwester, und Backfischchen entrann der Langeweile. Sie freute sich auf einen gemütlichen Schwatz mit Hariet, doch leider schlief diese so fest, daß sie sich nicht ermuntern ließ. Also kroch auch Dolly in den weichen Pfühl und schlief sofort ein. Es war schon heller Morgen, als sie aus diesem tiefen Schlaf erwachte. Die heruntergelassenen Jalousien dämpften das Licht in Raum ab, doch durch die geöffnete Tür des Nebenzimmers flutete es hell und sonnig. »Hariet, wo bist du?!« rief die kleine Langschläferin. Schon eilte die Gerufene herbei und zog die Jalousien hoch. »Guten Morgen, Dollylein«, sagte sie fröhlich. »Bist du endlich munter?« »Noch nicht ganz«, kam es gähnend zurück. »Schade, ein schöner Traum ging zu Ende.« »So laß ihn, die Wirklichkeit kann auch ganz schön sein.« »Hast du schon gefrühstückt?« »Natürlich nicht. Wie sollte ich es wohl wagen, ohne dich nach unten zu gehen und mich an den Frühstückstisch zu setzen.« »Na eben, du bescheidenes Mägdlein.« Sie sprang aus dem Bett und verschwand im Bad. Steckte jedoch noch einmal den Kopf durch die Tür und rief Hariet zu: »Klingele bitte viermal kurz und viermal lang. Dann weiß man in der Küche, daß ich auch an diesem hohen Feiertag oben zu frühstücken wünsche.« Und tatsächlich klappte es. Lorenz brachte das Frühstück, dem man dann auch mit Appetit zusprach. Dolly, die im Reitdreß erschien, wurde von Hariet angestaunt. »Willst du etwa ausreiten, Dolly?« »Ich bin so frei.« .
»Aber du rittest doch noch nie, solange ich hier bin – und das sind immerhin fast sechs Wochen.« »Da war ich gerade pferdelos, weil mein altes, treues Roß an Altersschwäche einging. Aber nun erhielt ich von meinem noblen Bruder eines als Weihnachtsgabe, das ich jedoch vorerst einmal unter seiner Aufsicht reiten darf. Also laß uns rasch frühstücken, damit mein Brüderlein fein nicht zu lange auf mich warten muß.« Während man aß, meinte Dolly bedauernd: »Schade, daß du mich nicht zu Pferd begleiten kannst, Ette.« »Um Gott!« hob diese abwehrend die Hände. »Schon der Gedanke, mich einem Pferd überhaupt zu nähern jagt mir Angstschauer über den Rücken.« »Ach, du armes Großstadtkind, wie bist du doch um alles Schöne betrogen«, sprach Backfischchen pathetisch. »Denn alles was schön ist, kennst du kaum vom Hörensagen. Schaff dir ein Pferd an, ich rate dir gut.« »Gewiß, warum auch nicht«, kam es trocken zurück. »So was gebührt ja auch einer Angestellten. Was kostet überhaupt so ein Pferd?« »Dehnbarer Begriff. Hunderte bis Tausende.« »Ach du liebes bißchen! Das ist bestimmt etwas für unsereins.« »Hast bei Mamsellchen schon ganz nett abgefärbt«, lachte Dolly. »Denn dieses >Unsereins< ist ihr Leib- und Magenspruch.« Zehn Minuten später war Dolly dann zum Ausritt fertig. Und zwar im winterlichen Dreß, also sämtliche Kleidungsstücke pelzgefüttert. Und dann sah Hariet vom Fenster aus zu, wie diese vom Glück begünstigten Geschwister abritten. Es war ein Bild voll Eleganz und Schneid. Und wieder, wie schon so oft, erfüllte ein Sehnen Aschenputtelchens Herz: Reich sein, sich alles das leisten können, was diesen Glückskindern des Schicksals selbstverständlich schien.
Aber das ward ihr nun einmal nicht gegeben, sie hatte im Schatten gestanden von Anfang an. Hatte verzichten müssen, immer verzichten – und würde es müssen bis an ihr Lebensende. Kurz vor dem Mittagessen war Dolly von ihrem Ritt zurück. Sie brachte einen Hauch von Winterluft mit, dazu rote Wangen und leuchtende Augen. »Schön war das«, bekannte sie fröhlich. »Hilf mir bitte beim Umkleiden, damit ich zum Mittagessen zurechtkomme. Sonst gibt es einen Rüffel von der Mama.« »Bitte, Dolly, geh ohne mich«, bat Hariet, als der Gong ertönte. »Die Frau Baronin hat mir gestern ja deutlich zu verstehen gegeben, daß sie mein Beisein an der Tafel nicht wünscht.« »Aber mein Bruder wünscht es«, sprach Dolly so ernst wie selten. »Und es ist nicht ratsam, sich seinem Willen zu widersetzen. Dann kann er nämlich hart und unnachgiebig sein. Das muß er ja auch, sonst könnte er sich in seinem großen Betrieb unmöglich durchsetzen. Also komm schon, Ette, so schlimm wird es nicht werden.« O doch, es wurde schlimm, sehr sogar. Denn als Hariet an der Tafel erschien, sagte die Frau Baronin empört: »Fräulein, Ihre Dreistigkeit übersteigt nun wirklich alle Grenzen! Ich habe Ihnen doch gestern durch den Diener sagen lassen, daß ich Ihr Erscheinen an der Tafel nicht wünsche.« »Bitte, Fräulein Hermeran, bleiben Sie hier«, sprach nun der Hausherr der bereits Enteilenden nach. Es war ganz ruhig gesagt – und doch klang es, als wenn Stahl auf Eisen schlägt. Sogar die Baronin war von dem Ton betroffen. Es wurde ein sehr ungemütliches Mahl, an dem Hariet mit den Tränen zusammen die Speisen herunterwürgte. Und denen sie dann freien Lauf ließ, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Betreten stand Dolly dabei, bis sie dann den Bruder in seinem Arbeitszimmer aufsuchte. »Ulf, laß doch Hariet den Mahlzeiten fernbleiben«, bat sie eindringlich. »Du glaubst ja gar nicht, wie gräßlich sie ihr
sind. Sie sitzt jetzt oben und weint sich fast die Augen aus dem Kopf. Das kann ich doch unmöglich mit ansehen.« »Du bist ein gutes Kind, mein Kleines«, entgegnete er lächelnd. »Aber diese Mahlzeiten müssen sein, damit Fräulein Hermeran ihre Minderwertigkeitskomplexe langsam verliert. Denn mit diesen kann sie hier nie festen Fuß fassen. Und das willst du doch?« »O ja, ich möchte Hariet nicht mehr missen.« »Also! Dann steife ihr auch das viel zu weiche Rückgrat. Denn damit wird sie sich nirgends im Leben behaupten können.« Die Tage vergingen, reihten sich zu Wochen und Monaten. Schon nahte der Frühling und mit ihm das Osterfest. Strahlend vor Freude kam Dolly mit einem guten Zeugnis nach Hause, das ihr die Versetzung nach Untersekunda brachte. Und wieder behauptete sie, daß sie dieses Hariet zu verdanken hätte, was Mutter und Schwester bitter einging. Denn noch immer mochten sie das Mädchen nicht, obgleich dieses wie ein guter Geist im Hause waltete, wo jetzt alles wie am Schnürchen lief. Was die beiden Damen immer wieder ärgerte, war, daß dieses unscheinbare Mädchen, welches sie unter weiser Voraussicht ins Haus nahmen, sich zu einer regelrechten Schönheit zu entfalten begann – trotz der einfachen Sachen, die es trug. Denn zu eleganten reichte es nicht. Das hatte die einst so weltfremde Hariet schon längst erkennen müssen, die sich eingebildet hatte, für einen Hundertmarkschein eine halbe Aussteuer kaufen zu können. Da hatten sie die Einkäufe hinterher nun wirklich eines anderen belehrt. Hariet hatte überhaupt in den fünf Monaten, die sie nun auf Herrnhagen weilte, viel gelernt, sogar der Baronin und ihrer Tochter ohne Furcht zu begegnen. Zwar wehrte sie sich auch jetzt noch nicht gegen die ewigen Sticheleien, nahm sie jedoch gelassen hin. Der Dienerschaft gegenüber fand sie den richtigen Ton, und für Dolly sorgte sie wie eine gute ältere Schwester.
Aber was Hariet auch tun mochte, immer fand die Frau Baronin etwas auszusetzen. Lag dem Sohn ständig mit dieser »anmaßenden Person« in den Ohren – doch er lächelte und schwieg. Und gerade das erboste die Frau Mama. Sie fühlte sich übergangen, ausgeschaltet da, wo sie fast dreißig Jahre lang das Zepter schwang, das der »entartete« Sohn ihr nun so rücksichtslos aus den Händen wand. Aber sie zog daraus nicht die Konsequenzen, übersiedelte nicht ins Witwenhaus, wohin sie ja eigentlich gehörte, sondern blieb. Rang verbissen um den Platz, der ihr gar nicht mehr zukam. Denn es stand im Hausgesetz der Eggeroth, daß die Frau nach dem Tod des Gatten ins Witwenhaus zog, was die andern Frauen auch ohne weiteres getan hatten. Allerdings mußten die Söhne vollkommen den Lebensunterhalt der Mütter bestreiten und ihnen außerdem noch eine monatliche Summe von fünfhundert Mark zahlen. Durch Generationen war das alles auch ganz glatt gegangen – es hatte aber auch noch nie unter den Frauen der Eggeroth eine so herrschsüchtige gegeben wie Klarissa. Und da der Gatte das wußte, hatte er in seinem Testament bestimmt, daß der Sohn die Mutter auszuzahlen hatte, wenn sie ins Witwenhaus zog. Also gewissermaßen als Köder für die geldgierige Frau. Leider hatte sie bisher noch nicht angebissen, immer nur danach geschnappt – sehr zum Verdruß derer, denen sie das Leben schwermachte. Und dazu gehörte auch Hariet Hermeran. Die Baronin und ihre ältere Tochter waren die Schatten, die das jetzige Leben des Mädchens verdüsterten. Aber dann gab es auch wiederum manches, was dieses Leben licht und hell machte. Dazu gehörten auch die Besuche in Prahlen. Sie und Dolly verlebten dort Stunden herzwarmer Traulichkeit, wozu sich Ulf oft einfand. Und jedesmal war dann Hariet wie umgewandelt, ihre Zutraulichkeit wich scheuer Zurückhaltung. »Ich glaube, mein Sohn, du bist Hariet so etwas wie kleinen
Kindern der Baubau«, schmunzelte der Onkel, als an einem sonnigen Frühlingstag die drei Mädchen gegangen waren, um Schneeglöckchen zu pflücken. »Denn ihre Zutraulichkeit, mit der sie uns jetzt begegnet ist wie weggewischt, sofern du nur auftauchst. Woran liegt das?« »Weiß der liebe Himmel«, erwiderte Ulf lachend. »Ich tu der Kleinen doch bestimmt nichts, aber stets geht sie in großem Bogen um mich herum. Wenn ich mal mit ihr sprechen muß, was ich möglichst vermeide, sieht sie mich an wie ein Lämmchen den bösen Wolf. Irgendwie scheine ich ihr von Herzen unsympathisch zu sein.« »Hm«, machte der Onkel und sprach dann von etwas anderem. Kurz vor Ostern lernte Hariet auch den Sohn des Hauses kennen, der sich als stolzer Oberprimaner präsentieren konnte. Ein frischer Junge, der sich bestimmt nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Mit Hariet, von der er natürlich schon gehört hatte, stand er gleich auf Du und Du. Und da ein Achtzehnjähriger ja leicht entflammt ist, verliebte er sich in die Einundzwanzigjährige wie auf Kommando. Selbstverständlich ganz geheim, anders hätte es seine Ruppigkeit nicht zugelassen. Mit Dolly zankte er sich, wo er nur konnte. Blieb jedoch ganz gelassen, während sie sich erboste. Jedenfalls konnte es, wo beide waren, nie langweilig werden. Es war am Ostersonnabend, als Hariet und Dolly im Dogcart, den ein braver Brauner zog, gemächlich Prahlen zuzuckelten. Zu ihren Füßen stand ein Korb, in dem zehn Küken aus einer ganz besonderen Brut wohlgeborgen ruhten. Sie bedeuteten ein Ostergeschenk Ulfs an Alice, die sich mit Hühnerzucht befaßte und der diese Sorte noch fehlte. Hariet kutschierte. Ihre neueste Errungenschaft, auf die sie nicht wenig stolz war. Die Wangen glühten vor Eifer, die Augen strahlten, der Mund lachte und gab dabei zwei Reihen prachtvoller Zähne frei. Das goldbraune Gelock,
das zwanglos über den Nacken fiel, glänzte und gleißte im Sonnenlicht. Den grazilen Körper umschloß ein heller Frühjahrsmantel, die Füße steckten in feinen Strümpfen und hellfarbenen Sandaletten. Jedenfalls konnte von einem »alt-klunkrigen Nönnchen« jetzt nicht mehr die Rede sein. Denn die da so eifrig das Gefährt lenkte, war ein bildschönes, nett gekleidetes Menschenkind. Das fand auch der Reiter, der schon eine Weile hinter dem Wagen herritt. Bemerkte schmunzelnd, wie die beiden schmucken Maiden die Köpfe zusammensteckten, wie sie schwatzten und lachten. Bis dann Dolly, die sich einmal umwandte, den Bruder bemerkte. »Ulf!« rief sie erfreut. »Reitest du etwa auch nach Prahlen?« »Ursprünglich wollte ich es nicht, aber jetzt tu ich’s«, blitzten die Zähne durch die hartgeschnittenen Lippen. Einige verwegene Sätze des rassigen Trakehners, dann trabte er neben dem Wagen her. Und schon war der lachende Frohsinn Hariets wie fortgeweht. Steif saß sie da und überließ die Unterhaltung den Geschwistern. Von der harmlosen Schwester blieb das unbemerkt, doch der Bruder mußte sich wieder einmal wundern und ärgern. Zum Kuckuck, was hatte er dem Mädchen getan, daß es sich ihm gegenüber verkroch wie die Schnecke in ihrem Häuslein! Da stand man doch tatsächlich wie vor einem Rätsel. Nun, er hatte gewiß keine Lust, dieses Rätsel zu lösen. Die Hauptsache, daß diese Angestellte ihre Pflicht tat. Alles andere ging ihn nichts an. In Prahlen wurde man wie gewöhnlich herzlich empfangen, und Alices Freude über das Ostergeschenk war groß. Man setzte die Küken auf den Teppich, und die ganze Gesellschaft kauerte um die possierlichen Tierchen herum. Bis sie frierend zusammenkrochen, da wurden sie in den Korb zurückgetan und in die Küche gebracht. Am Kaffeetisch übermittelte Dolly die Einladung der Mutter, wobei sie ihren Kommentar dazu gab:
»Kommt, o kommt, ihr Lieben alle. Tut ihr es nicht, ist die Mama ungenießbar, und wir Armen müssen darunter dulden und leiden.« »Hauptsächlich du, Frechdachs«, meinte Lutz, seelenruhig dabei nach einem Stück Kuchen mit viel Rosinen angelnd, und schon funkelte sie ihn an. »Unverschämter Bengel! So frech, wie du frech bist, kann doch schon keiner frecher sein.« »Gutes Deutsch.« »Ich bin ja auch kein Oberprimaner.« »Aha, also eine Anerkennung meiner Würde.« »Junge, mach Feierabend!« lachte die Mutter gleich den andern. »Sonst brauchst du dich nicht zu wundern, wenn dir plötzlich Krallchen im Gesicht sitzen.« »Pöh, dafür sind mir die meinen viel zu schade«, tat Backfischchen verächtlich. »Er befindet sich eben in den Flegeljahren, da muß man ihm manches nachsehen.« »Recht so, Marjellchen, du hast den Sinn erfaßt«, schmunzelte der Onkel. »Man merkt bei dir immer mehr die gute Schule Hariets.« Sonst wäre diese um eine schlagfertige Antwort nicht verlegen gewesen, die sich hier ganz wie zu Hause fühlte, seitdem sie auch mit den Gastgebern das trauliche Du tauschte. Aber jetzt war der Baron zugegen – und schon verkroch sich das Schnecklein in seinem Häuslein. Das war nun einmal so und würde wohl auch schwerlich anders werden. Hell und sonnig zog der Ostermorgen herauf. Hariet, die schon früh erwachte, erhob sich leise, um die noch festschlafende Dolly nicht zu wecken, schloß behutsam die Tür zum Nebenzimmer und öffnete das Fenster weit. Oh, du herrliche Gotteswelt, wie bist du doch so schön – schoß ihr der Anfang eines Frühlingsliedes durch den Sinn, als sie in den Park hinabschaute, wo der weite, gepflegte Rasenplatz schon erstes Grün zeigte. Auf ihm leuchtete Krokus, voll und dicht, entzückend anzuschauen in seiner lustigen Buntheit. Osterlilien, Tulpen und Narzissen
blühten auf den Beeten, Veilchen, verspätete Schneeglöckchen und Buschwindröschen schoben sich keck dazwischen. Wie von einem hauchdünnen grünen Schleier umhüllt, erschienen die Birken, an den hohen, alten Kastanienbäumen saßen die Knospen dick und prall. Hariet, die ja zum ersten Mal in ihrem Leben das Erwachen der Natur auf dem Lande mitmachte, wurde das Herz ganz groß und weit bei dem andächtigen Schauen. Ihre Hände falteten sich, und was der junge Mund dann sprach, kam aus des Herzens tiefstem Grund: »Lieber Gott, ich danke dir, daß du es mir vergönnt, so viel Herrliches zu schauen.« Dann riß sie sich von dem wunderholden Anblick los und begann mit der Morgentoilette, wobei sie sich mehr Zeit ließ als sonst. Denn ihr kleiner lieber Quälgeist brauchte ja heute nicht zur Schule, also gab es keine Hetzerei. Es war Hariet nämlich noch immer nicht gelungen, ihre Schutzbefohlene auch nur fünf Minuten früher aus dem Bett zu bekommen als unbedingt nötig. Allerdings hatte sie durchgesetzt, daß die Kleine schon am Abend ihre Büchermappe packte und daß sie am Morgen zwischen dem Ankleiden eine Tasse Kaffee trank und eine gutbelegte Schnitte dazu aß. Zwar mußte Hariet der Eiligen die Happen direkt in den Mund stecken, ihr die Tasse da vorhalten, aber sie tat es gern und wurde deshalb nicht müde, es immer wieder zu tun. Nachdem Hariet sich heute in aller Ruhe angekleidet hatte, ging sie hinunter in den Wintergarten, um die Blumen zu gießen, die sich erst richtig entfaltet hatten, seitdem das gewissenhafte Mädchen sie betreute. Es freute sich über jedes Sprößlein, jede Knospe, jede Blüte, die ihm wie lebende Wesen vorkamen, die liebevolle Fürsorge brauchten. Als Hariet dann das Wohngemach durchschritt und prüfend feststellte, daß alles darin in Ordnung war, erschien ihr der weite Raum öde und leer. Sie sah einen andern vor sich, in dem sie gestern geweilt. Da waren alle
Vasen gefüllt mit Blumen und erstem Grün, in dem trauten Wohngemach von Prahlen. Denn darin waltete eine Hausfrau, die zu sagen pflegte: Blumen gehören zum Menschen wie Luft und Licht. Nun, Hariet hatte trotzdem geatmet und gelebt, einundzwanzig Jahre lang, obwohl die Wohnung in der Großstadt keine Blume schmückte. Man mußte diese nämlich kaufen, und das hielt Tante Berta für Geldverschwendung. Aber hier brauchte man die Blumen nicht zu kaufen. Hier wuchsen sie auf den Beeten und im Gewächshaus, das ein knurriger Gärtner wie ein Zerberus hütete. W7enn sie ihm ein gutes Wort gab – vielleicht…? Also wagte sie sich gewissermaßen in die Höhle des Löwen. Sie staunte selbst über ihren Mut, als sie vor dem Mann stand, der sie aus hellen, falkenscharfen Augen durchdringend musterte. »Was wollen Sie denn, Fräulein?« fragte er barsch. »Können Sie denn nicht lesen, daß der Eintritt hier für alle Unbefugten verboten ist?« »Ja«, gab sie kleinlaut zu, »das Schild ist ja groß genug.« »Also! Was suchen Sie denn trotzdem hier?« »Ein paar Blumen, Herr Gärtner – bitte!« »Für wen?« »Für die Allgemeinheit. Ich möchte das Wohnzimmer damit schmücken.« »Hat keinen Zweck, das sieht ja doch niemand. Der Herr Baron noch allenfalls und auch die Dolly. Aber den andern müssen Sie schon eine Kollektion schöner Kleider ins Zimmer hängen, dann wären sie entzückt – aber Blumen? Nee, nee, Fräulein, die sind nur für zarte Gemüter.« »Dann entschuldigen Sie bitte, das habe ich nicht gewußt.« »Sie wissen noch vieles nicht, Sie törichtes Kind. Na, warten Sie, ich will Ihnen einige Blumen geben. Aber die stellen Sie in Ihr Zimmer, verstanden? Denn man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen, steht schon in der Bibel. Merken Sie sich das, junges Fräulein.«
»Ja«, sagte sie verschüchtert – und wieder traf sie ein durchdringender Blick. Dann umzuckte ein Lächeln den schmalen Männermund, der wie ein Strich wirkte in dem braunen, verwitterten Gesicht. Die Gestalt war groß und hager, der Rücken ein wenig gebeugt. Jedenfalls war der Mann eine Persönlichkeit, die sich nie und nirgends übersehen ließ. Jetzt überreichte dieser Respekt einflößende Gärtner der Angestellten des Schlosses drei Rosen. Sie waren tiefrot, mit einem schwarzen, samtigen Schimmer. Ein berauschend süßer Duft entströmte diesen köstlichen Blüten. Die Mädchenaugen würden groß und rund, ein grenzenloses Erstaunen spiegelte die Bläue wider. Ganz blaß war das feine Gesichtchen geworden vor Schreck. »Nun nehmen Sie schon, Sie Dummchen, die sind für Sie persönlich.« »Aber, aber, Melchior…«, ließ sich da hinter ihnen eine sonore Stimme vernehmen, bei der Hariet zusammenzuckte. »Soll ich da meinen Augen trauen? Deine eifersüchtig gehütete Königin der Rosen verschenkst du – und gleich drei Stück?« »Warum denn nicht, Herr Baron«, schmunzelte der Mann. »Die Königin – der Königin.« »Potztausend! Wissen Sie auch, welch eine Auszeichnung Ihnen mit den Rosen zuteil wird, Fräulein Hermeran?« »Nein, Herr Baron – oder ja – aber ich danke Herrn Melchior«, stotterte sie verwirrt und suchte dann ihr Heil in der Flucht. »Komisches Marjellchen«, sprach Ulf ihr kopfschüttelnd nach. »Warum hat es eigentlich solche Angst vor mir, Melchior?« »Das Rehlein wittert den Jäger«, kam es trocken zurück. »Womit kann ich dem Herrn Baron dienen?« »Mit denselben Rosen, die du soeben an das ängstliche kleine Mädchen so verschwenderisch verschenktest. Ich will mit diesen erlesenen Blüten Frau Warring einen Ostergruß bringen. Also gib schon deinem Herzen einen Stoß.«
»Na ja, Herr Baron, wenn sie Frau Warring kriegen soll, dann muß ich ja schon. Aber nur zwei, dann bleiben, mir noch sechs. Die muß ich weiterzüchten, damit die Frau Baronin, die hier einziehen wird, den schönsten Hochzeitsstrauß bekommt.« »Hm. Und wenn ich mich mit der Hochzeit beeile?« »Daraus wird nichts. Der Herr Baron muß zuerst noch durch Liebesleid und Herzensnot. Aber wenn übers Jahr die Novemberstürme toben, dann kommt das große Glück.« »Na, weißt du, Melchior, du kannst einem mit deinen Weissagungen manchmal das Gruseln über den Rücken jagen«, entgegnete Ulf unbehaglich. »Warum denn gleich Liebesleid und Herzensnot? Es werden auch ohne diese unbequemen Begleiterscheinungen Ehen geschlossen.« »Aber nicht die vom Herrn Baron.« »Eigensinniger Kerl!« mußte dieser jetzt lachen. »Aber diesmal sollst du nicht recht behalten.« »Sollte mich freuen. Bitte, hier sind die Rosen. Ich spende sie Frau Warring gern – denn sie ist eine Frau mit Herz.« »Danke, Melchior. Ihr das zu übermitteln, wird mir ein Vergnügen sein.« Damit ging er versonnen davon. Es war doch etwas Eigenes um diesen Melchior, der in der Umgegend als Hellseher galt. Und er hatte auch tatsächlich schon manches vorausgesagt, was ihm Ansehen und Scheu einbrachte. Hauptsächlich diejenigen, die ein schlechtes Gewissen hatten^ gingen ihm in großem Bogen aus dem Weg. Nur wenige Menschen erfreuten sich seiner Gunst. Und das waren erst mal der Freiherr und seine jüngere Schwester, ferner der Diener Lorenz mit seiner Frau und der alte August. Und nun schien auch noch Hariet Hermeran zu diesen Auserwählten zu zählen, wovon sie allerdings keine Ahnung hatte. Sie freute sich nur über die wunderbaren Rosen, die sie gerade in die Vase tat, als Dolly aus dem Nebenzimmer he rein wirbelte und dann ruckartig stehenblieb. »Woher hast du denn Melchiors Königin?« fragte sie
perplex. »Von ihm persönlich – für mich persönlich.« »Ach du liebe Güte! Dann hast du aber eine ganz tolle Eroberung gemacht. Denn dieser unbestechliche Mann vergibt seine Gunst nur sehr spärlich. Du, jetzt steigst du in meinen Augen erst so richtig an Wert.« »Wie ich mir jetzt aber vorkomme«, lachte Hariet fröhlich. »Und nun habe ich Hunger.« »Dann komm, das lukullische Frühstück wartet nebenan. Ich habe Mamsellchen so lange umschmeichelt, bis sie gnädigst einwilligte, uns beiden Hübschen auch während meiner Ferien das Frühstück oben servieren zu lassen. Damit übertritt sie wohl ein Gebot ihrer gestrengen Herrin und ich auch, aber was tun wir nicht alles für unser Herzenskind Hariet, dem jede Mahlzeit am Familientisch ein Greuel ist.« Nun, ein Greuel waren diese Mahlzeiten Hariet nun gerade nicht, aber immerhin unangenehm. Zwar blieb sie in Gegenwart der Baronin und ihrer ältesten Tochter bei Tisch wohl still, war aber nicht mehr so geduckt wie in der ersten Zeit. Es war ein auserlesenes Mahl, das an diesem Osterfeiertag Lorenz und das erste Stubenmädchen servierten. Mehr als sonst schwebte das Fluidum der Vornehmheit über dem weiten Raum, das selbst einen Banausen dazu gezwungen hätte, sich manierlich zu benehmen. Die Unterhaltung war kühl und gemessen. Man sprach eben nur, um nicht stumm dazusitzen. Höflich erfolgte die Rede, höflich die Antwort. Der Mokka blieb Hariet erspart, weil auch Dolly nicht daran teilnahm. So zogen denn die beiden Mädchen ab, hinein in die gemütliche Klause. Dort konnte man sich geben, wie einem zumute war, brauchte keine strenge Kritik zu fürchten. Dolly warf sich auf den Diwan und streckte sozusagen alle viere von sich. »Los, Ette, spiel mir etwas vor, was vom Frühling spricht, von Lenz und Liebe«, verlangte sie kategorisch, doch die
andere lachte sie aus. »Der Lenz ist erst im Mai, mein liebes Kind – und die Liebe weltenfern. Aber den Frühling, ja, den laß ich mir gefallen.« Also setzte sie sich an den Stutzflügel und spielte Frühlingslieder. Und weil das so schön war, sang sie die Weise mit. Sie hätte es wahrscheinlich nicht getan, wenn sie gewußt, daß sie außer Dolly noch einen Zuhörer hatte. Dieser lag auf der Terrasse im Liegestuhl und ließ sich von der warmen Mittagssonne bescheinen. Lauschte mit Vergnügen den Klängen, die durch das geöffnete Fenster im ersten Stock zu ihm hinwehten. Es war eine herzwarme Stimme, in die dann die noch etwas dünne des Backfischchens hineinklang. Und da der Frühling von der Liebe ja nicht zu trennen ist, kam sie in jedem Lied vor. Doch das alles perlte so leicht, so unbeschwert über die Lippen der beiden jungen Menschenkinder, ein Zeichen, daß sie noch verschont geblieben waren von der Liebe Lust und Leid. Selbst die Stelle in dem Lied klang unbekümmert, frisch, frei und froh: Der Frühling ist kommen mit all seiner Macht, der Frühling, der hat mir die Liebe gebracht, er hat mir mein Herz verwundet… »Das war schön«, sagte Dolly, als Hariet später den Kiavierdeckel zuklappte. »Wie kommt es bloß, Ette, daß du dem Instrument so wunderbare Töne zu entlocken verstehst. Ist das etwa Zauberei?« »Nein, nur Übung, du Faulpelz«, kam es lachend zurück. »Aber warte, ich kriege dich schon noch heran an dieses herrliche Gebilde in Weiß und Gold.« »Pöh«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Meine Finger sind lahm und stupid ist mein Sinn. Das sagt auch Lutz.« »Na, dann muß es ja wohl stimmen. Und nun erhebe dich, mein Faultierchen, machen wir einen Spaziergang durch den frühlingsduftenden Wald.« »Mitnichten, mein herzliebes Treugespann. Reiten
vielleicht, aber gehen kommt nicht in Frage. Das kostet nämlich Schuhsohlen. Außerdem ist es bald Kaffeezeit, und 4ie Prahlener kommen, von denen man sagen kann: Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Wer prägte das Wort, mein gelehrtes Fräulein?« »Schiller, soviel ich weiß.« »Eine Eins, Schülerin, setzen Sie sich. Ach, Ette, meinst du nicht auch, daß wir beide viel zuviel wissen?« »Ich weiß nur, daß du ein ganz verdrehtes kleines Balg bist. Was wirst du anziehen zur Feier des Tages?« »Das Grüne. Onkel Nolte sagt ja wohl im Busch: Du ziehst mir nicht das Grüne an – aber du bist ja nicht Onkel Nolte, und ich heiße nicht Helene.« Sie lachten beide – und auch der Mann auf der Terrasse lachte in sich hinein. Er konnte beruhigt sein. Bei diesem Mädchen war seine kleine Schwester bestens aufgehoben. Bevor die Gäste eintreffen sollten, gab es noch für ihn einen harten Strauß mit der Mutter auszufechten. Diese hatte nämlich bestimmt, daß Hariet mit Lorenz zusammen an der Tafel bedienen sollte, weil das erste Stubenmädchen Ausgang hatte. Zufällig erfuhr das der Herr des Hauses und disponierte um. Und dieses erfuhr nun wiederum die Frau Baronin, die sich immer noch als Herrin aller Reußen fühlte. Empört rauschte sie in das Arbeitszimmer des Vermessenen. Die Augen funkelten, der Mund war verkniffener denn je, wie abgezirkelt brannten die roten Flecke auf den Backenknochen. »Ulf, ich verbitte mir das!« schrie sie ihm entgegen, der sie zuerst verblüfft ansah. Dann bot er der Mutter einen Platz an, die es jedoch vorzog, stehend zu verkünden, was sie zutiefst empörte: »Wie kommst du dazu, mein Sohn, meine Befehle zu widerrufen und mich damit bei der Dienerschaft lächerlich zu machen? Ich sage dir, das Fräulein wird bei Tisch bedienen, hast du mich verstanden?!« »Ach, darum geht es«, versetzte er gelassen. »Mama, denk
doch einmal darüber nach.« »Ich denke nicht, ich befehle!« rief sie ihm erregt ins Wort. »Und zwar, daß das Fräulein bei Tisch bedient. Es ist nicht besser als jeder andere Dienstbote, aber ihr scheint in dieser anmaßenden Person ja etwas Besonderes zu sehen – du, Dolly, Lorenz, die Mamsell – und neuerdings auch dieses Scheusal von Gärtner. Er hat ihr Rosen gegeben, verstehst du? Von den Rosen, mit denen er ein so lächerliches Theater macht. Und Martina, dem Herrenkind, schlug er sie ab, um sie dann an eine Domestikin zu verschenken. Das ist ja einfach ein Skandal, der zum Himmel schreit! Ich verlange, daß du diesen unverschämten Menschen fristlos entläßt!« »Das kann ich nicht, Mama, weil Vater ihn auf Lebenszeit anstellte. Mit den Rosen kann er machen, was ihm beliebt. Sie sind sein Experiment, das er aus eigener Tasche zahlt. Doch wir sind ganz von der Bedienung abgekommen. Mama, ich bitte dich, sei doch vernünftig.« »Ich will nicht vernünftig sein, ich will mein Recht!« Seufzend strich der Mann sich ruckartig über Augen und Stirn, in den Mundwinkeln hockte ein bitteres Lächeln. Es klang müde, als er nun sprach: »Du machst es mir wahrlich schwer, dir mit dem Respekt zu begegnen, den ein Sohn einer Mutter schuldig ist. Also muß ich da befehlen, wo ich viel lieber bitten möchte. Und zwar, daß die junge Dame nicht bei Tisch bedienen wird. Und zwar aus den Gründen, weil sie dazu dienstlich nicht verpflichtet und dann eine Verwandte der Warrings ist. Willst du denn das nicht einsehen?« »Nein. Mag diese Person auch aus fürstlichem Geblüt sein, hier jedoch ist sie nichts weiter als ein Dienstbote. Ich werde sie heute noch fristlos entlassen.« »Das werde ich zu verhindern wissen.« »Komisch, wie du für diese Person eintrittst«, höhnte sie. »Da könnte man fast…« »Es ist wohl besser, wenn du gehst, Mama«, unterbrach der Sohn sie mit einer eisigen Ruhe, die beängstigender wirken
kann als heißer Zorn. »Fräulein Hermeran bleibt. Und zwar aus dem Grunde, weil Dolly sie braucht. Und nun Schluß der Debatte, die mich förmlich – anwidert. Und wenn du jetzt nach beliebter Art mit dem Witwenhaus drohen willst – bitte.« Sie hielt es jedoch für ratsam, es zu unterlassen. Warf ihm nur einen Blick zu, der ihn eigentlich hätte in Grund und Boden schmettern müssen und rauschte hocherhobenen Hauptes hinaus. Übrigens war das alles weiter nichts gewesen, als der oft zitierte Sturm im Wasserglas. Denn die Gäste mußten absagen, weil sie selbst überraschenden Besuch von außerhalb bekamen. Eins-zwei-drei im Sauseschritt, läuft die Zeit, wir laufen mit – sagt Wilhelm Busch, der lachende Philosoph, und hat damit, wie in vielem, recht. Wir sausen einfach hinweg über Stunde und Zeit, die nie stillsteht, die hinfließt über Freud und Leid, Not und Tod er Menschheit. Wer da nicht mithalten kann, wird einfach überrannt vom Lauf der Welt. So wäre es auch der weltfremden Hariet. Herme ran ergangen, wenn sie nicht einen starken Halt gehabt hätte, den sie neuerdings auch an dem Gärtner fand. Sie hatte keine Scheu vor dem seltsamen Mann, suchte ihn oft auf, und immer wai Dolly dabei. Er war ja so welterfahren und klug, so ein richtiger Weiser. Zu gern lauschten die beiden Mädchen seinen Erzählungen und merkten dabei gar nicht, wie er sacht und lind Gutes und Schönes in ihre jungen Herzen senkte. Manchmal kam auch der Baron hinzu, wenn Melchior erzählte. Lächelnd beobachtete er dann die beiden Zuhörerinnen, deren leuchtende Augen an den Lippen des weisen Mannes hingen. ‘ Hauptsächlich Hariet lauschte diesen Erzählungen wie gebannt und schöpfte daraus immer wieder frohe Zuversicht. Denn nach dem Osterfest hatte sie mehr denn je unter den Bosheiten der Baronin und ihrer Tochter zu leiden, die immer wieder Mittel und Wege fanden, das Mädchen zu schikanieren und zu
demütigen. Doch es hielt tapfer aus und wurde dann ihre Peiniger für einige Zeit los. Und zwar, als diese im Juli ihre Sommerreise antraten, wofür sogar Geld vorhanden war. Ein Vorfahr der Eggeroth hatte nämlich einen Reisefonds angelegt, der jedes Jahr von den Familienmitgliedern zu gleichen Teilen in Anspruch genommen werden konnte, was die Baronin und Martina natürlich restlos taten, während die Teile von Dolly und Ulf ständig anwuchsen. Selbstverständlich kamen für die beiden anspruchsvollen Damen nur mondäne Orte in Frage, wo sie so lange in der »großen Welt« schwelgten, bis das Geld aufgebraucht war. Dann allerdings mußten sie wieder in die »Einsamkeit« zurück, wo sie zuerst einmal in Erinnerungen schwelgten und sich dann auf die nächste Reise freuten. So reisten sie denn auch in diesem Jahr beseligt ab, und Ulf redete Dolly zu, sich mit Hariet den Prahlener Verwandten ; anzuschließen und mit ihnen in den Sommerferien an die See zu fahren. Doch davon wollte die Kleine nichts wissen. »Ich soll fort von hier, wo es jetzt so wunderbar harmonisch ist? Na, das wäre! Wald, Feld und Flur haben wir hier und Wasser auch, sicherlich alles noch viel besser, als in den überlaufenen Bädern. Sollst mal sehen, wie Hariet und ich uns in den Ferien vergnügen werden.« Das geschah denn auch. Wie Kletten hing das Treugespann aneinander, nichts unternahm eines ohne das andere. Selbst auf ein Pferd hatte Dolly die ängstliche Hariet gezwungen. Allerdings war es ein frommes Pferdchen, aber immerhin, es trabte. Zuerst stand die Reiterin Todesängste im Sattel aus, doch dann wurde sie kühn und immer kühner. Es verging kein Tag, an dem die beiden Mädchen nicht im See ihr Bad nahmen. Hariet, die natürlich nicht schwimmen konnte, lernte es unter Dollys Anleitung bald. Wenn man Trubel haben wollte, fuhr man zur Stadt. Suchte dort eine Konditorei auf oder ging ins Kino. Jedenfalls vergnügte man sich wie und wo man konnte.
Der Bruder bemerkte das alles mit stillem Ergötzen. Er gönnte dem Schwesterlein jede Freiheit. Die Ferien waren ja so kurz – und vor allem die Harmonie, die jetzt im Schloß herrschte. Mit der war es dann auch vorbei, als die beiden mondänen Damen Ende Oktober zurückkehrten. Sie brachten sogar einen jungen Mann mit, den Martina fest in ihren lilaroten Fängen zu haben schien. Er war so ein richtiger Dandytyp und galt in seiner Familie ein wenig als schwarzes Schaf. Aber das wußten Mutter und Tochter ja nicht. Wußten nur, daß er der Erbe eines großen Unternehmens und ein liebenswerter Mensch war. Sie hatten ihn in einem mondänen Bad kennengelernt, wo der junge Mann dann ihr steter Begleiter wurde, und zu seiner Ehre sei es gesagt, daß er ernste Absichten auf Martina hatte. Warum auch nicht? Sie war ja nicht so übel. Es würde sich schon in einer Ehe mit ihr leben lassen, wenn man nicht Wert auf Glück und Liebe legte. Und das tat Carol Droik durchaus nicht. Denn Liebe und Ehe waren für ihn zwei getrennte Begriffe. Der Vater wünschte, daß er ihm eine Schwiegertochter brachte, die nicht ganz arm war, einen untadeligen Namen hatte und zu repräsentieren wußte. Und das traf bei der Baronesse Eggeroth alles zu. Natürlich wollte der vorsichtige Mann erst einmal die Verhältnisse näher kennenlernen, aus denen seine Zukünftige stammte, ehe er sich zu einem bindenden Wort entschloß. Also sagte er mit Freuden zu, als die Damen ihn nach Herrnhagen einluden – und ausgerechnet dort mußte er ein Mädchen kennenlernen, das sein Herz sofort entflammte. Und dabei war es noch nicht einmal sein Typ. War ihm zu scheu, zu bescheiden, zu wenig mondän, paßte überhaupt gar nicht zu ihm. Nun, er wollte die Kleine ja auch nicht heiraten, sondern nur einige nette Wochen mit ihr verleben. Hinterher zahlte er sie aus und heiratete die Baronesse.
Und ein gerissener Bursche war dieser Carol Droik schon, so richtig geübt im Fallenstellen für schüchterne junge Rehlein. Tat in Gegenwart anderer so, als machte er sich über diese Angestellte des Hauses lustig, bezeichnete sie als kleinen Trampel. Zu Martina war er von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit, becourte die angehende Schwiegermutter, stand mit Dolly auf lustigem Neckton und mimte dem skeptischen Ulf den treuherzigen Burschen vor. Sie ließen sich alle von dem liebenswürdigen Schwerenöter blenden, der sozusagen das ganze Schloß auf den Kopf stellte. Es herrschte jetzt darin von früh bis spät Frohsinn und lustiges Lachen. Und das gefiel Dolly doch gar zu gut. Sie heftete sich direkt an die Fersen ihres fidelen zukünftigen Schwagers, der mit seiner immer guten Laune alles um sich herum beherrschte. Und er verstand das Backfischchen gut zu nehmen, oh, wie gut. Die Kleine zappelte förmlich vor Ungeduld, in seine Gesellschaft zu kommen. Machte ihre Schulaufgaben nur noch flüchtig, und als Hariet sie deshalb einmal liebevoll ermahnte, wurde sie ausfahrend wie noch nie. »Ach, laß mich doch, du langweilige Suse. Carol meint, ich wüßte schon viel zu viel.« Fort war sie, und Hariet weinte bittere Tränen. Kam sich so verlassen vor, wie kaum in ihrem Leben zuvor. So gingen die Wochen dahin. Man zählte bereits den zwölften November, und Carol Droik weilte nun schon drei Wochen im Schloß. Glänzende Feste hatte man in der Zeit nicht gegeben. Die wollte man nachholen, wenn man Verlobung und Hochzeit feierte. Nur einige Nachbarn hatte man eingeladen, darunter auch die Prahlener. Was sie von Carol Droik dachten, wußte Hariet nicht, da sie ja mit den Verwandten nicht zusammentraf. Auch nicht bei Tisch. Dem blieb sie fern, seitdem der vielgeliebte Gast im Hause war. So saß denn auch Hariet am Vortage ihres Geburtstages in
ihrem Zimmer einsam und allein. Denn Dolly, die früher ihre Gesellschaft so gern gesucht, fand nun keinen Gefallen mehr daran. Es war ja jetzt unten auch so lustig, so froh und leichtbeschwingt. Man konnte lachen, immer nur lachen über die fidelen Einfälle des zukünftigen Schwagers. Hariet merkte gar nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Bis sie aus ihren trostlosen Gedanken aufschreckte. Sie sollte ja Blumen aus dem Gewächshaus zum Tafelschmuck holen, weil zum Abendessen Gäste erwartet wurden. Rasch zog sie den Mantel über und hastete hinaus. Die Treppe hinunter, durch die weite Halle, um möglichst schnell in den Park zu gelangen. In ihrer Eile bemerkte^ sie nicht den Mann, der gerade aus einer der Türen trat, stutzte – und dann mit einem fatalen Lächeln dem ahnungslosen Mädchen nachschlich. Endlich würde es in die Falle gehen, das scheue Rehlein. Lange genug hatte es ja auch gedauert. Noch nie war diesem gerissenen »Fallensteller« dieser »Sieg« so schwer gemacht worden. Es war fast dunkel, als Hariet ins Freie trat. Wie drohend reckten sich die entlaubten Äste der Bäume empor. Aus der Düsternis der Alleen, überhaupt aus allen Ecken schien ihr eine Gefahr entgegenzugrinsen, die sie vor Angst erschauern ließ. Doch tapfer schritt sie aus. Erst einmal an dem Schloß vorbei, an der Terrasse, deren Tür weit offen stand. Warmer Lichtschein flutete aus dem Gemach, in dem man gemütlich beisammensaß. Frohes Lachen flatterte zu der Verängstigten hin, die eilenden Fußes vorüberfloh. Schnell, immer schneller, dorthin, wo, das Gewächshaus stand. Allein, sie erreichte es nicht. Denn in einem Gang, wo es besonders dunkel und unheimlich war, wurde sie plötzlich von rückwärts in zwei Arme gezogen, die sich fest wie Eisenklammern um den zitternden Mädchenkörper spannten. Ein heißer Atem streifte die zarte Mädchenwange, eine Männerstimme raunte: »Hab ich dich endlich einmal erwischt, mein scheues Rehlein? Lange genug hat es gedauert, deiner habhaft zu
werden. Hab keine Angst vor mir, ich meine es gut. Folge mir in den Pavillon, wo du erfahren sollst, was die Dichter mit sieben Seligkeiten des Himmels bezeichnen. Du hast sie verdient, denn du bist wunderschön. Von einer Schönheit, die im Verborgenen blüht. Aber es gibt Schatzgräber, mein süßes Kind, Schatzgräber…« »Denen der Spaten um die Ohren zu schlagen fehlt!« donnerte eine markige Stimme in das Geflüster hinein, die den gewissenlosen Mann, der sich schon an seinem Ziel geglaubt, entsetzt zusammenfahren ließ. Die Arme gaben das Opfer frei, das dann mit einem schluchzenden Laut in zwei andere Arme flüchtete, die es gut und treu umfingen. »Melchior, oh, Melchior, Sie hat bestimmt der liebe Gott geschickt, damit Sie mir beistehen sollten in meiner Not.« stammelte das entsetzte Mädchen und zuckte dann zusammen, als die markige Stimme aufs neue laut und gewaltig losdonnerte. Sie drang bis zu denen hin, die im Wohngemach saßen, und erschrocken aufsprangen und auf die Terrasse eilten. Und was sie dann laut und deutlich hörten, ließ ihnen fast das Blut in den Adern stocken. »Lassen Sie Ihre unsauberen Hände von dem Mädchen, Herr! Es ist kein Freiwild, verstanden?! Es steht unter meinem Schutz, das reine, holde Kind, für das ich bereit bin, meinen letzten Blutstropfen herzugeben!« Wie erstarrt verharrte der sonst so zungenfertige, selbstherrliche Carol. Er war nicht fähig, auch nur einen Fuß zu setzen, obwohl ihn vor dem Mann, der wie die personifizierte Vergeltung dastand, so sehr graute, daß ihm fast die Haare zu Berge standen. Und dann wurde es plötzlich lebhaft um ihn, der wie blöd lachte. Alle, die im Wohnzimmer gesessen hatten, scharten sich um ihn. Doch bevor sie noch eine Frage über die zitternden Lippen bekamen, sprach schon wieder der Gärtner Melchior, vor dem alle eine gewisse Scheu hatten. Und diesmal klang seine Stimme gut und mild: »Kommen Sie, Kindchen, ich bringe Sie in Ihr Zimmer. Übernachten Sie dort, aber dann gehen Sie fort. Es ist hier
ein zu heißer Boden für so zarte Füßchen, hier hat immer nur der Stärkere recht. Wir wollen unserm Herrgott danken, daß er mich noch zur Zeit kommen ließ.« Nun saß Harriet in ihrem Zimmer mit bitterschwerem Herzen. Wollte ganz klar und logisch denken, aber sie konnte es nicht. Immer nur kreisten die Worte Melchiors in ihrem Hirn: Es ist hier ein zu heißer Boden für so zarte Füßchen, hier hat nur der Stärkere recht. Und Herr Carol Droik war eben hier der Stärkere. Ein verhätschelter Liebling der gesamten Familie Eggeroth. Und wenn die Angestellte Hariet Hermeran da mit tausend goldenen Zungen reden wollte, man würde dennoch nicht ihr glauben, sondern diesem gewissenlosen Menschen. Die Bestätigung sollte auch nicht lange auf sich warten lassen. Ohne ein Klopfzeichen ging die Tür auf, und das grinsende Gesicht eines Mädchens wurde sichtbar. Ein Umschlag flatterte Hariet zu Füßen, und dann klappte die Tür wieder zu. Mit zitternden Händen wurde der Brief geöffnet, zwei entsetzte Augen lasen die welligen Worte: Sie verlassen morgen früh sofort mein Haus, Sie ehrlose Person. Wenn Sie das nicht tun, lasse ich Sie von der Polizei hinaussetzen – Baronin von Eggeroth. Da lachte Hariet Hermeran auf, so schmerzzerrissen, so von Bitterkeit durchtränkt klang das Lachen, das dann ein hartes Schluchzen erstickte. In dem Moment sprach unten im Wohngemach eine lachende Männerstimme: »Ja, meine Herrschaften, vor den Aufdringlichkeiten weiblicher Dienstboten ist unsereins nun einmal nicht sicher.« Und was sagte der Herr Baron dazu? Nichts. Und die Dolly? Auch nichts. Das verstörte den Diener Lorenz, der diese leichtfertigen Worte mit anhörte, so sehr, daß er zu dem Gärtner Melchior eilte, der in seiner Stube, die sich dem Gewächshaus anschloß, die Bibel las. Er war gar nicht erstaunt, als sein Freund Lorenz plötzlich vor ihm stand.
»Setz dich«, sagte er kurz. »Nimm eine Zigarre aus dem Kasten und schweige, weil ich mich erst mit unserm Herrgott auseinandersetzen muß.« Obwohl Lorenz nicht viel Zeit hatte, setzte er sich dennoch und schwieg. Sein Gegenüber, das da so würdig saß und den braunen Finger bedächtig über die große schwarze Schrift gleiten ließ, schien nicht zu finden, was er suchte. Ergo ließ er davon ab, steckte seine Pfeife in Brand, legte sich im Lehnstuhl zurück und zitierte Kant: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.« »Ja«, bestätigte Lorenz, »so sagt man wohl. Aber die Menschen hier leben trotzdem sehr gut, obwohl sie heute eine himmelschreiende Ungerechtigkeit begingen.« »So glaubst du an Hariets Schuldlosigkeit?« »Welch eine Frage! Anders hättest du dich bestimmt nicht für sie eingesetzt. Und das konntest du auch nur, weil du laut Testament unseres alten Herrn Barons hier angestellt bist auf Lebenszeit, wie meine Alte und ich ja auch. Da kann uns keiner an den Wimpern klimpern – auch nicht der Ulf. Denn dem traue ich nicht mehr, er hat mich heute bitter enttäuscht.« Er gab wieder was Carol sagte und wie der Baron dazu schwieg. »Und nun hätscheln sie diesen Halunken«, fuhr er grimmig fort. »Die verliebte Trine, deren Mutter, der Ulf und auch die Dolly. Da soll man nun nicht an den Menschen irre werden.« »Hm. Und was sagt deine Frau dazu?« »Die möchte der ganzen Bande am liebsten den Kochlöffel um die Ohren schlagen. Sie jammert und klagt, daß sie nicht zu Hariet gehen und sie trösten kann, weil sie seit gestern mit Hexenschuß zu Bett liegt. Und mich läßt die Kleine nicht vor, sie hat sich eingeschlossen.« »Das Beste, was sie tun kann«, meinte Melchior, dabei gemütlich sein Pfeifchen schmauchend. »Aber sag mal, werden im Schloß nicht Gäste erwartet?«
»Ja. Sie werden wohl schon da sein.« »Und dann bist du noch nicht auf deinem Posten?« »Ach, mich ekelt die ganze Bande an.« »Glaube ich dir. Aber Dienst ist nun einmal Dienst. Verfüge dich, mein Freund, sonst muß ich auch noch an dir irre werden.« So schieden sie denn mit warmem Händedruck. Hariet packte – ein dehnbarer Begriff. Denn so ein Kofferpacken kann höchste Freude hervorrufen – oder tiefste Betrübnis. Freude, wenn man zu lieben Menschen fahren will, Betrübnis, wenn man niemanden hat, der zu einem gehört. Und vor allen Dingen, wenn man nicht weiß, wohin man soll. Und das wußte Hariet Henne ran nun wirklich nicht. Sie stand so verlassen da, wie selten ein Mensch. Selbst ihr einziger Onkel war jetzt gestorben, wie man ihr in Prahlen erzählte. Die Zeitungen waren voll gewesen von der Nachricht des Todes dieses berühmten Mannes, dessen so plötzliches Hinscheiden man allgemein bedauerte, auch die in Prahlen. Na ja, die aus Prahlen, die waren gewiß nicht besser als die Herrnhagener. Wohl hatten sie die entfernte Verwandte mit freundlicher Herablassung behandelt, hatten ihr sogar das Du angeboten – und saßen nun unter den Gastgebern und Gästen, fröhlich feiernd. Wahrscheinlich die Verlobung der Tochter des Hauses, die ja gewissermaßen schon längst in der Luft lag. Bedauerten wahrscheinlich sehr, daß sie dieser schamlosen Angestellten Hariet Hermeran ihr Haus geöffnet hatten. Aber damit tat das verbitterte Mädchen den Warrings unrecht. Wohl waren sie entsetzt über die Begebenheit, die Klarissa ihnen voller Empörung zutrug. Aber nicht entsetzt über Hariet, der sie so eine Schamlosigkeit nicht zutrauten, sondern über die Familie Eggeroth, die diesen gewissenlosen Burschen hätschelte, während sie sein unschuldiges Opfer in Acht und Bann tat. Und da machten auch Ulf mit und Dolly? Kein Wunder,
daß auch dieses Ehepaar an der Menschheit irre wurde. Gern wären sie zu Hariet gegangen, um sie mit nach Hause zu nehmen, doch sie fürchteten, damit einen Skandal heraufzubeschwören. Aber morgen, dann wollten sie hier Abrechnung halten, auch mit Ulf und Dolly. »Ich kann die ganze Bande nicht mehr sehen«, knurrte Ludwig verbissen. »Komm, Fraule, bevor ich mich zu etwas hinreißen lasse, das unter allen Umständen vermieden werden muß.« So fuhren sie denn nach Hause, ohne sich von den Gastgebern verabschiedet zu haben. »Nur gut, daß unsere Dietz nicht mit war«, sagte Alice, als man zu Hause noch einen Kognak auf den Schreck trank. »Unsere hitzige Kleine hätte bestimmt ihrem Herzen Luft gemacht und somit den Skandal heraufbeschworen, den wir so ängstlich vermieden. Oder sie hätte gar so schmählich versagt wie Dolly.« »Das glaube ich nicht«, warf der Gatte entschieden ein. »Dafür ist sie zu sehr unsere Tochter. Gehen wir schlafen, Liebste. Denn heute können wir ja doch nichts mehr unternehmen.« Dasselbe dachte auch Hariet, als sie ihre Sachen gepackt hatte. Das nahm viel Zeit in Anspruch, und es war nicht weit von Mitternacht, als sie endlich ins Bett kam. Da lag sie nun und starrte mit brennenden Augen ins Dunkel. Es waren gar bittere Gedanken, die in ihrem schmerzenden Hirn kreisten. Von unten tönte gedämpfte Musik, Lachen flatterte dazwischen, und da biß Hariet die Zähne zusammen in jähem Schmerz. Natürlich, warum sollten sie auch nicht. Der Zwischenfall mit dieser schamlosen Angestellten war ja peinlich gewesen, gewiß. Aber noch lange kein Grund, sich damit den schönen Abend zu verderben. Man warf diese ehrlose Person eben hinaus und damit holla! Reich müßte man sein, reich und angesehen, um mit denen da unten auf gleicher Stufe zu stehen. Ihnen heimzahlen, was sie heute an ihr verbrachen. Abrechnung
halten dürfen, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Tief und tönend schlug die Turmuhr in die Gedanken dieses armen, verlassenen Menschenkindes hinein, das dann die Hände faltete und zu Gott flehte in seiner Angst und Not: »Lieber barmherziger Vater im Himmel droben, was habe ich denn verbrochen, daß du mich so leiden laßt, daß ich so arm sein muß und allein? Laß mich doch auch einmal reich sein, wie die da unten, die mich heute treten durften wie einen verlassenen Hund.« Die Stimme brach, die Tränen flossen – es war genau zwei Minuten nach zwölf. Ein neuer Tag brach an, der dreizehnte November. Und in den Traum des ratlosen, verzweifelten Mädchens trat wieder die Fee, die mit gütigem Lächeln die zarten Hände über das gleißende Köpfchen breitete. Die Stimme klang voll und warm: »Auch dein zweiter Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet. Du wirst reich sein, du wirst Vergeltung üben. Aber noch steht dir ein Wunsch frei – hüte gerade den wie etwas Heiliges.« Dieses zweite Mal blieb Hariet erst recht keine Zeit, um über den seltsamen Traum nachzugrübeln, sie hatte wahrlich an anderes zu denken. Nicht einmal an ihren Geburtstag dachte sie, als sie erwachte und entsetzt auf den Wecker starrte. Schon über acht Uhr und sie wollte doch gerade heute früh aufstehen und das Schloß verlassen, während darin alle noch schliefen. Denn es würde über ihre Kraft gehen, denen zu begegnen, die sie eine Ehrlose nannten. Angestrengt lauschte sie zum Nebenzimmer hin, dessen Tür sie gestern nicht nur zumachte, sondern auch abschloß – aus übertriebener Vorsicht, wie sie jetzt mit bitterem Lächeln feststellte. Denn die Baronesse Dolly hatte gar nicht daran gedacht, Einlaß zu begehren. Nein, sich nicht wieder in Bitterkeit verlieren, dazu hatte sie jetzt keine Zeit. Nur fort von hier, so schnell wie
möglich. Und dann ging alles fast überstürzt. Nicht einmal Zeit zum Bad nahm Hariet sich, rieb Gesicht und Hände nur mit einem duftenden Wasser ab. Nahm nicht einmal Abschied von dem traulichen Stübchen, in dem sie sich ein Jahr lang so wohl gefühlt. Die beiden großen Koffer waren schwer, aber auch der kleine, den sie mit der Handtasche zusammenband und über die Schulter warf, hatte auch sein Gewicht. Nun, bis auf die Landstraße würde sie schon kommen. Dort mußte sie dann zusehen, wie sie weiterkam. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, lauschte sie erst einmal mit angehaltenem Atem, doch alles in dem weiten Schloß blieb still. Da schlich sie den Gang entlang, die Treppe hinunter, durch die Halle, durch das Wohnzimmer zur Terrasse und über diese in den Park. Dieser Weg erschien ihr nämlich sicherer als der über den Hof. Denn um diese Zeit pflegte sich niemand im Park aufzuhalten, schon gar nicht bei dem unwirtlichen Wetter. Aufatmend packte sie die Koffer fester, um sie dann vor Schreck fallen zu lassen – denn vor ihr stand wie aus dem Erdboden gewachsen, der Gärtner Melchior und sagte ruhig: »Habe ich mir doch gedacht, daß Sie diesen Weg wählen würden. Überlassen Sie mir die Koffer, die sind ja viel zu schwer für so ein Heimchen. Und nun bewegen wir uns mal auf Schleichpfaden. Denn Sie wollen doch sicherlich keinem begegnen, stimmt’s?« »Ja, Melchior. Bitte, ich möchte ganz schnell fort von hier. Ich könnte es nicht ertragen…« Die Stimme brach und der Mann sagte begütigend: »Na, nun man nicht weinen, Kindchen, das greift die Nerven an. Und die werden sowieso noch viel hergeben müssen.« Damit nahm er die Koffer und schritt ihr voran, die ihm vertrauend folgte. Zögerte jedoch, als er am Gewächshaus stehen blieb und sah ihn angstvoll an.
»Kommen Sie nur, hier sind Sie sicher. Denn hier trauen sie sich nicht her, die ein schlechtes Gewissen haben.« »Die und ein schlechtes Gewissen«, lachte sie bitter auf. »Die fühlen sich doch so in ihrem Recht, wenn sie eine Ehrlose hinausjagen wie einen räudigen Hund.« »Kindchen, Sie weinen ja schon wieder und das dürfen Sie doch nicht. Unser alter Herrgott lebt ja immer noch.« »Der hat es aber nie gut gemeint mit mir, Melchior. Bin ich denn so viel schlechter als andere Menschen?« »Ein Schäfchen sind Sie. Gehen wir.« Gleich darauf betraten sie die Stube, in der Hariet oft gesessen und den Erzählungen des Gärtners gelauscht. Es war mollig warm in dem weiten Raum, den außer dem Kachelofen noch ein kleiner Herd wärmte, auf dem der Wasserkessel summte. Auf der buntkarierten Decke des Tisches standen zwei Tassen, belegte Brote häuften sich auf einem Teller. »Nun nehmen Sie mal Platz, Marjellchen. Ich habe den Kaffee noch nicht gebrüht, weil ich ja nicht wußte, wann wir frühstücken werden. Aber gleich ist es soweit.« Schon wenige Minuten später durchwehte aromatischer Kaffeeduft den Raum. Schwarzbraun floß die belebende Flüssigkeit in die Tassen, Sahne kam dazu, ein Stückchen Zucker auch, und dann ermunterte der Gastgeber: »So, Kindchen, jetzt hauen Sie mal tüchtig rein. Wenn der Mensch nämlich satt ist, kann er weit mehr ertragen als mit leerem Magen.« »Melchior, warum sind Sie bloß so gut zu mir. Ich bin doch nichts, ich habe doch nichts…« »Eben deshalb«, unterbrach er sie, gemütlich sein Pfeifchen schmauchend. »Die was haben und die was sind, beschützt ihr Ansehen und ihr Geld. Wo wollen Sie jetzt hin?« »Zuerst einmal fort, möglichst weit. In eine billige Pension gehen und mir von da aus eine Stelle suchen.« »Hm. Ohne Zeugnisse wird das nicht so einfach sein. Und von hier haben Sie keines zu erwarten. Sind Sie übrigens offiziell entlassen?«
»Entlassen?« gegenfragte sie mit dem bitteren Lachen, das dem Mann direkt ins Herz schnitt. »Davongejagt hat man mich.« »Wer denn?« »Die Frau Baronin.« Wörtlich gab sie den Inhalt des Schreibens wieder, und Melchior murmelte vor sich hin: »Bin nur neugierig, ob der Ulf etwas von dem Brief weiß.« »Gewiß weiß er es, aber das ist ja jetzt so egal. Ach, Melchior, ich habe doch so große Angst vor der Zukunft. Können Sie mir diese nicht verraten? Sie sollen doch die Kraft dazu besitzen.« »Kindchen, glauben Sie doch nicht daran, was die Leute da quasseln«, unterbrach er sie ruhig. »Wohl ahne ich manches – aber das ist auch alles. Und diese Ahnung sagt mir, daß Sie endlich aus dem Schatten in die Sonne kommen werden. Doch wann das geschieht, weiß ich natürlich nicht, das weiß nur unser Herrgott allein. Und daher habe ich zuerst einmal vorgesorgt.« Gemächlich zog er einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn dem Mädchen. »Da habe ich Ihnen eine Adresse aufgeschrieben und die Züge, mit denen Sie dahin gelangen. Es ist ein Dorf und das Pfarrhaus Ihr Ziel. Wenn der Herr Pfarrer fragt, wer Sie schickt, nennen Sie meinen Namen. Vertrauen sich ihm an – und dann hilft er Ihnen bestimmt weiter. Haben Sie Geld?« »Ja. Ich ersparte mir ungefähr zweihundert Mark.« »Nicht viel, aber besser als gar nichts.« Er stand auf, holte Pergamentpapier herbei und begann darin die Schnitten zu verpacken. »So, die stecken Sie ein. Werden den Proviant nötig haben, weil Sie erst am Nachmittag an Ort und Stelle sind. Und nun gehen wir, damit Sie nicht den Zug versäumen. Einmal muß ja doch geschieden sein.« Es fiel Hariet bitter schwer, den gemütlichen Raum zu verlassen. Aber sie mußte jetzt tapfer sein, durfte den
Jammer nicht Herr über sich werden lassen. Es war ja schon ein Glück für sie, daß sie nun wußte, wohin sie sich überhaupt wenden sollte. Und das verdankte sie dem gütigen Mann, der wie ein Vater für sie sorgte, besser als ihr leiblicher Vater jemals für sie gesorgt hatte. Hariet schauerte zusammen, als sie ins Freie trat. Es war so ein richtiges Novemberwetter, regnerisch, stürmisch und kalt. Der Himmel war grau verhangen, es nieselte unausgesetzt. »Na, denn wollen wir mal, Kindchen«, redete der Mann ihr gütlich zu, während er die Koffer auf einen Handwagen lud. »Bis zur Stadt brauchen Sie nicht zu gehen, nur bis zum nächsten Bauern. Der hat Telefon, durch das ich ein Mietauto bestellen werde. Ich hätte es ja gern bis hierher bestellt, aber dann hätte es ja auf den Hof fahren müssen – und das wollte ich Ihretwegen vermeiden. Denn für Sie ist es besser, klammheimlich zu verschwinden, da Sie schon Bosheiten genug haben einstecken müssen.« »Lassen Sie nur, Melchior, es geht ja auch so«, lächelte sie tapfer. »Sie helfen mir ohnehin schon viel, wofür ich Ihnen so dankbar bin.« »Ist schon gut«, brummte er, während sich seine starken Brauen finster zusammenzogen. »Aber lassen Sie man, unser alter Herrgott lebt noch. Und der wird auch die hochmütige, unbarmherzige Bande zu finden wissen. Es heißt ja nicht umsonst in der Bibel: Hochmut kommt vor dem Fall.« Er zog den Wagen durch ein Labyrinth von Gängen, in dem Hariet sich bestimmt nicht zurechtgefunden hätte. Endlich stand man vor einem kleinen Tor, das Melchior aufschloß und den Wagen geschickt durch die Enge schob. Dann ging es auf einem Pfad die Parkmauer entlang, bis man die Asphaltchaussee erreichte. »So, das hätten wir geschafft«, meinte Melchior bedächtig. »Nur noch ein halbes Stündchen halten Sie aus, dann können Sie mit dem Auto weiter bis zur Bahn fahren.« Ein schwacher Trost. Denn auch eine halbe Stunde kann
unter Umständen zur kleinen Ewigkeit werden, wenn man so erbärmlich fror, wie es bei Hariet der Fall war. Der Regenmantel war bereits durchnäßt, das eiskalte Wasser drang durch die Schuhe. Und eiskalt klebten die dünnen Strümpfe an den Beinen. Und zu allem Überfluß setzte nun noch Schlackschnee ein, der Wind wurde stärker und kälter. Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem Mädchen hin. Hoffentlich hielt es durch, ohne sich eine Krankheit zu holen. Es war aber auch ein Wetter, wo der Bauer nicht mal seinen Hund hinausjagte. Aber dieses zarte Dinglein mußte raus, ohne Erbarmen. Immer grimmiger wurden des Mannes Gedanken. Zum Kuckuck, sonst begegnete man doch Autos auf der Straße noch und noch, von denen eines die Kleine sicherlich zur Stadt mitgenommen hätte. Aber ausgerechnet schienen heute diese Teufelskutschen wie ausgerottet. Aha, endlich nahte so ein Ungeheuer, allerdings kam es von der Stadt. Mordsmäßiges Ding, gehörte wahrscheinlich so einem Geldsack. Der würde bestimmt kein Erbarmen kennen und Barmherzigkeit üben an dem armen Dinglein, das vor Kälte zitternd kaum noch weiter konnte. Und siehe da, der »Geldsack« hielt. Die Wagentür wurde geöffnet, und was Melchior da erblickte, erstaunte ihn nicht wenig. Ja, was war das nun eigentlich, ein Mann, oder eine Frau? Dem hellen, flauschigen Mantel nach zu urteilen letzteres, aber das Monokel, das im linken Auge klemmte, das glatte, kurzgeschnittene Haar, Donner noch eins, da sollte sich einer auskennen! Erst als das sonderbare Wesen sprach, tippte Melchior auf Femininum. Denn die Stimme war zwar dunkel, aber nicht männlich. »Ja, wo tippeln Sie denn hin?« fragte diese Stimme verwundert. »Ist das etwa bei dem Hundewetter ein Vergnügen?« »Kann man nicht direkt sagen«, schmunzelte Melchior, dem diese Dame auf den ersten Blick gefiel.
Es ging etwas Verwegenes von ihr aus, etwas unbedingt Vornehmes und Damenhaftes, wie der Mann jetzt erkannte. »Wo kommen Sie denn her?« ging das Examen weiter. »Von dem Rittergut Herrnhagen.« »Hat man da keine Wagen?« »En masse sogar – aber nicht für uns gewöhnliche Sterbliche.« »Aha! Etwas ausgefressen?« »Wie man’s nimmt.« Da lachte die Fremde auf. Es war ein warmes, von Herzen kommendes Lachen, das sofort gefangen nahm. Der Dame gefiel der Mann, von dem ein Fluidum ausging, das sich nur gefühlsmäßig erfassen läßt. »Na, Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie etwas Ehrenrühriges begehen könnten«, gestand sie freimütig. »Wohin soll es denn gehen?« »Bis zum nächsten Bauern, wo ich telefonisch ein Mietauto zu bestellen gedenke, das dieses kleine Fräulein zur Stadt und zum Bahnhof bringt.« Jetzt erst fiel ihr Blick auf Hariet, die wie ein Häuflein Unglück anmutete, verregnet, frierend, blaß und verweint. »Steigen Sie ein«, entschied die Dame spontan. »Mein Weg führt mich zwar in entgegengesetzte Richtung, aber das ist ja nun egal. Wollen Sie bitte so freundlich sein, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen, Herr…?« »Melchior heiße ich, gnädige Frau«, machte der Mann eine tadellose Verbeugung. »Ich bin Gärtner auf der Herrschaft Herrnhagen.« »Öh«, sagte die Dame da, weiter nichts. Wenig später waren die Koffer verstaut, und Hariet griff mit beiden Händen nach der Hand des Mannes. »Melchior, ich danke Ihnen – oh, wie sehr!« bebte die Stimme in verhaltenem Weinen. »Mag der Herrgott es Ihnen lohnen, was Sie an mir taten – ich kann es leider nicht.« Damit wandte sie sich hastig ab, nahm neben der Dame im Auto Platz, ein Winken zu Melchior hin, der über das ganze
Gesicht lachte, dann wendete der luxuriöse Wägen und schoß wie ein nur mit Mühe gebändigtes Tier dahin. Doch nur kurze Zeit, dann ließ das Tempo nach, und ein forschender Blick der Lenkerin ging zu dem Mädchen hin. »Nun, mein Fräulein, Sie sind ja nicht zu knapp verregnet. Hoffentlich holen Sie sich in den nassen Kleidern nicht den Tod.« »Ach«, winkte Hariet müde ab, »es wäre nicht das Ärgste, was mir passieren könnte.« »Aber, aber! Noch so jung und dann schon so hoffnungslos? Hat der Schatz Sie im Stich gelassen?« »Ich habe keinen, gnädige Frau.« »Soll ich Ihnen das glauben?« »Unbedingt.« »Hm. Gehören Sie zu dem feudalen Herrnhagen?« »Ja, ich gehörte – aber nur als Angestellte.« »Haben Sie Ihren Dienst gekündigt?« »Nein, mir ist gekündigt worden«, entgegnete das Mädchen bitter. »Oder richtiger gesagt: Man hat mich mit Schimpf und Schande davongejagt.« »Aus welchem Grunde?« »Gnädige Frau – bitte – Sie sind mir fremd. Ich habe schon viel zuviel gesagt.« »Meinen Sie?« »Ja. Man soll andere mit seinen Angelegenheiten nicht behelligen.« »Mädchen, Sie gefallen mir. Darf ich wissen, wie Sie heißen?« »Hariet Hermeran.« Der Wagen hielt mit einem Ruck. Die blaugrauen Augen sahen fast bestürzt auf das Mädchen, das wie ein Häufchen Unglück auf dem Sitz kauerte. »Wollen Sie mir Ihren Namen bitte noch einmal nennen?« »Gewiß, gnädige Frau. Ich heiße Hariet Hermeran.« Einige Herzschläge lang beklemmende Stille, dann wieder die Frauenstimme, belegt und unfrei. »Und Ihr Vater?«
»War der Archäologe Oskar Hermeran. Er starb vor fünfzehn Monaten.« Da fuhr die Dame den Wagen scharf nach rechts und drosselte ihn ab. Zuerst schüttelte sie den Kopf, als könnte sie immer noch nicht begreifen, was nun wiederum Hariet nicht begreifen konnte. Was hatte die Dame nur, warum sah sie sie so merkwürdig an? Und dann sprach die dunkle, wohllautende Stimme ernst und betont: »Also meine Nichte.« »Um Gott, gnädige Frau!« hob Hariet jetzt verstört die Hände. »Was soll ich sein?« »Meine Nichte. Oder besser gesagt: Die Nichte meines Mannes, des Forschers Edwin Hermeran.« »O Gott«, sagte Hariet jetzt zum zweiten Mal. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte, wie ein ratloses, verzweifeltes Menschenkind nur weinen kann, das nicht aus noch ein weiß in seiner Not. Regina Hermeran ließ sie weinen, während ihre Augen selbst in Tränen schwammen. Dir muß ja das Leben nicht wenig mitgespielt haben, du armes Ding, dachte sie erschüttert. Allmählich ließ das heiße Weinen nach, und da sagte die Tante leise: »Erzähle mir aus deinem Leben, Hariet – aber restlos alles.« Und da brach es aus dem gepeinigten Mädchenherzen hervor. Alles bekam die Tante zu hören, es war die Beichte eines vom Schicksal arg vernachlässigten Menschenkindes. Danach war es zuerst einmal beklemmend still, dann sagte Regina wieder leise: »Ich habe von deiner Existenz nichts gewußt, Hariet, überhaupt nichts von der Heirat deines Vaters, da die Brüder gewissermaßen in Feindschaft lebten. Und dann pflegt ja jeder persönliche Kontakt abzubrechen. Armes, liebes Dinglein, das war ja ein richtiger Dornenweg, den du gehen mußtest bis auf den heutigen Tag. Aber laß nur, jetzt bin ich da. Ich werde alles nachholen, was andere dir schuldig geblieben sind. Doch zuerst einmal ins Hotel, damit du in trockene
Kleidung kommst. Und dieser hochmütigen, erbärmlichen Bande in Herrnhagen…« Ihre Stimme erstickte in Grimm und Groll. Der Wagen schoß davon und hielt vor dem ersten Hotel der Stadt, wo Regina Herme ran seit gestern zwei der besten Zimmer bewohnte. Sie sprach mit dem Portier, und ehe Hariet es sich so recht versah, stand sie in einem mollig warmen Zimmer. Sie zitterte so sehr vor Aufregung und Kälte, daß sie sich in den nächsten Sessel sinken lassen mußte, weil ihr die Beine einfach den Dienst versagten. Forschend betrachtete die Tante dieses »Häufchen Unglück«, dann sagte sie gütig: »So, mein Kind, jetzt gehst du erst einmal ins Bett und schläfst dich aus. Alles Weitere wird sich dann finden.« . Ohne Widerrede ließ sich das erschöpfte Mädchen von der Tante auskleiden und ins Bett bringen. »Eine Wärmflasche«, verlangte Regina von dem Zimmermädchen, das auf ihr Klingelzeichen herbeigeeilt war. »Und dann einen Glühwein, stark und heiß.« Eiligst war beides zur Stelle. Und während die Tante der Nichte das heiße Getränk einflößte, legte das Mädchen vorsichtig die Gummiflasche an die erstarrten Füße und lauschte dann erstaunt dem Gespräch, aus dem sie sich natürlich keinen Reim machen konnte. »Tante Regina, wie gut, daß es dich gibt. Dich hat mir der liebe Gott zum Geburtstag geschenkt.« »Ist der denn heute?« »Ja. Vor zweiundzwanzig Jahren wurde ich geboren, am dreizehnten November, zwei Minuten nach zwölf.« »Huch, wie gruselig, mein Herzchen«, schlug die Tante absichtlich einen leichten Ton an. »Den Geburtstag müssen wir feiern, aber erst, wenn du ausgeschlafen hast. Dann gibt’s für jedes Jahrein Glas Sekt.« »O wie schön, ich bin ja so glücklich«, tropften die Worte schon schlaftrunken von den Lippen. * Hariet Hermeran schlief, verlor sich in Träumen, nur der eine Traum war in ihrem Gedächtnis wie ausgelöscht. Mit einem Gefühl der.
Rührung sah Regina Hermeran auf die holde Schläferin nieder, die ihr das Schicksal heute so ungeahnt zuführte. Dann sagte sie zu dem Zimmermädchen, das unschlüssig am Bett verharrte: »Passen Sie mal auf, Kleine. Sie lassen meine Nichte schlafen, stören durch nichts diesen Schlaf, sehen nur öfters nach ihr. Sollte sie wider Erwarten erwachen, bevor ich wieder hier bin, servieren Sie ihr ein gutes, schmackhaftes Mahl.« »Sehr wohl, gnädige Frau«, knickste das Mädchen vor diesem vornehmen, einflußreichen Gast. Dann entfernte es sich, und Regina sah nach ihrer Armbanduhr. »Zwölf«, murmelte sie. »Also werde ich erst einmal in aller Gemütsruhe tafeln – und dann den zärtlichen Verwandten in ihr geruhsames Mittagsschläfchen platzen.« Hätte Hariet Hermeran nur eine Ahnung gehabt, was sich in dem feudalen Schloß zutrug, nachdem sie es verließ, wäre ihr Schlaf wohl nicht so tief und fest gewesen. Denn dort gab es zwischen zehn und elf Uhr eine harte Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn. Rücksichtslos drang dieser in das luxuriöse Schlafgemach ein und erklärte kurz und bündig, daß er Carol Droik zwingen würde, das Schloß zu verlassen. Er hätte es bereits getan, wenn der Mann aufnahmefähig gewesen wäre. Aber leider wäre er aus dem bleiernen Schlaf des total Betrunkenen nicht wachzurütteln. Das alles hörte Dolly mit an, welche die Mutter für diese Nacht auf den Diwan ihres Schlafzimmers verbannt hatte, damit dieses reine Kind um Gottes willen nicht mehr mit der ehrlosen Person Hariet Hermeran zusammen kam. Aber jetzt konnte der ergrimmte Mann auf seine jüngste Schwester keine Rücksicht nehmen – und wollte es auch nicht. Sie war ja jetzt schließlich sechzehn Jahre alt, und es konnte gar nichts schaden, wenn das wohlbehütete Baroneßchen zu hören bekam, daß das Leben kein Garten Eden für alle ist, daß es auch Menschen gab, die außerhalb des Paradieses lebten, aus dem sie teils mit, teils ohne
Schuld verbannt waren. Und nun saß Backfischchen in seinem reizenden Nachtkleidchen auf dem Diwan und sperrte Mündlein und öhrlein auf. »Ja, bist du denn plötzlich wahnsinnig geworden, mein Sohn?« fragte die Mutter, nachdem sie wieder frei atmen konnte. »Den Verlobten deiner Schwester willst du aus dem Haus weisen? Warum denn nur, um alles in der Welt?« »Weil er ein Schuft ist«, knirschte der ergrimmte Mann hervor. »Während er Martina umwarb, versuchte er bei Fräulein Hermeran im trüben zu fischen.« »Ach, um die geht’s«, höhnte die Baronin – und da schlug der sonst so rücksichtsvolle Sohn mit der Faust auf den Tisch, daß nicht nur die Mutter entsetzt zusammenfuhr, sondern auch ihre Jüngste, und auch die Älteste, die aus dem Nebenzimmer gelaufen kam, zur Mama ins Bett kroch und sich zitternd an sie schmiegte. »Ob diese junge Dame oder eine andere, das ist in diesem Fall gleich!« peitschte die Männerstimme auf. »Tatsache bleibt Tatsache. Und die ist, daß dieser Carol Droik Fräulein Hermeran im Park wie ein Wegelagerer überfiel. Und wäre Melchior nicht zur Zeit gekommen, dann hätte dieser gewissenlose Bursche das größte Unheil anrichten können.« »Das ist nicht wahr«, weinte Martina auf. »Carol ist ein Ehrenmann durch und durch. Die Person warf sich ihm an den Hals, das hat er mir doch selbst geschworen.« »Nun, diesem Schwur mußt du wohl glauben«, fand Ulf langsam seine Gelassenheit wieder. »Ich sehe, dir ist nicht mehr zu helfen, die du durch die Liebe verblendet bist. Nimm also deinen Ehrenmann Carol und ziehe mit ihm hin in Frieden.« Nach diesen ironischen Worten war es zuerst einmal still. Dann meinte die Mutter maliziös: »Und warum hast du diesen Schurken nicht schon gestern zum Haus hinausgejagt, nachdem er deine Heilige belästigt hatte?«
Es gab einen knirschenden Laut, so fest biß der Mann die Zähne zusammen. Man sah, wie er sich mit Aufbietung aller Kraft zur Ruhe zwang. »Weil Gäste erwartet wurden«, erwiderte er dann eisig. »Und den Leutchen eine Sensation zu bieten, untersagte mir mein guter, bisher unbescholtener Name. Denn Wespen sind leicht herangelockt – aber nur schwer vertrieben.« »Wunderbar ausgetüftelt, mein Sohn«, lachte die Mutter hysterisch auf. »Aber ich weile lieber in einem Nest von Wespen als in dem schleimiger Schlangen.« »Bitte sehr, steht dir frei, Mama. Und somit wäre jeder Kommentar überflüssig. Komm, Dolly.« »Das Kind bleibt hier!« kreischte die Mutter, nun aller Vornehmheit bar. »Ich wünsche es nicht, daß es immer weiter von dem unreinen Atem der lasterhaften Person berührt wird.« »Beruhige dich«, entgegnete der Mann jetzt müde. »Die >Lasterhafte< ist fort. Und zwar auf Grund deines Schreibens, das ich in ihrem Zimmer fand.« »Also hat mein Schreiben seinen Zweck erfüllt«, lächelte die >würdige< Dame so recht niederträchtig. »Du kannst jetzt in dein Zimmer gehen, Dolly. Wir jedoch, Martina und ich, werden in Begleitung des >Schurken< Carot Droik diese gastliche Stätte verlassen.« »Bitte«, entgegnete der Sohn eisig. »Aber dann gibt es hierher kein Zurück.« »Wollen wir auch gar nicht, mein Herzblatt, wie?« »Nein, Mamachen«, lächelte das Herzblatt selig. »Unsere Heimat wird fortan im Zuhause meines Liebsten sein.« Da wandte Ulf sich brüsk ab und ging hinaus. Er merkte nicht, daß Dolly ihm auf dem Fuß folgte. Erst als er sich in seinem Arbeitszimmer stöhnend in den Schreibtischsessel sinken ließ, fühlte er seine Schulter berührt, sah auf und mitten in das verstörte Gesichtchen seine* Schwesterleins hinein. »Nun. Dolly, wie ist’s?« fragte er bitter. »Zu welcher Partei
gehörst du?« »Zu deiner natürlich«, weinte die Kleine heiß auf. »Laß mich nicht allein, Ulf – bitte! Laß mich nicht allein!« »Na schön, dann zieh dich an und komm mit mir. Ich gedenke nämlich nach Prahlen zu fahren, wo mir noch ein Kampf gegen Verächtlichkeit und Mißtrauen bevorsteht.« Und das sollte ihm tatsächlich werden, als er mit der Schwester bei den Verwandten eintraf. Kühl nahm man sie auf. Selbst die junge Dietlind, die gleich Dolly heute vor Aufregung die Schule schwänzte. »Ja, so stehen wir denn vor euch, gewissermaßen nackt und bloß«, sprach Ulf bitter in das eisige Schweigen hinein. »Aber ich möchte euch zu bedenken geben, daß manchmal der Schein trügt.« »Hm«, meinte der Hausherr mit einem durchdringenden Blick in das Gesicht des Neffen, das hart und blaß war. »Doch zuerst einmal die Frage: Wo ist Hariet?« »Das weiß ich nicht«, kam es müde zurück. »Sie hat auf ein Schreiben meiner Mutter hin heute früh das Schloß verlassen.« »Na ja, geschehen ist geschehen, daran läßt sich nichts mehr ändern. Nehmt Platz und erzählt ausführlich.« Das tat zuerst einmal Dolly mit bitterlichem Weinen. »Glaubt mir doch, Tante und Onkel, ich hätte Hariet nicht fortgelassen. Aber die Mama hielt mich fest, schleifte mich sogar zur Nacht in ihr Zimmer, das sie abschloß. Wie sollte ich da wohl entkommen?« »Da hast du recht«, bestätigte der Onkel betroffen. »Und du, Ulf, warum warfst du diesen Lumpen nicht einfach zum Haus hinaus?« »Weil Gäste da waren, Onkel Ludwig. Darunter recht sensationslüsterne Leutchen, wie du ja selbst weißt. Ich wollte vermeiden, daß die traurigen Verhältnisse bei uns zum Gaudium an Biertischen und Damenkaffees werden.« »Da allerdings muß ich dir beipflichten. Und wie ist es jetzt? Gedenkst du diesen minderwertigen Carol Droik immer weiter zu hätscheln?«
»Das habe ich weiß Gott nicht getan«, kam es knapp zurück. »Der Mann wäre schon längst aus dem Haus, aber es war mir einfach nicht möglich, ihn wach zu kriegen. Er hat viel getrunken und sich in diesem Rausch mit Martina verlobt. Leider konnte ich das nicht verhindern, ohne eine widerliche Szene heraufzubeschwören. Denn Mama und Martina sind ja wie versessen auf diesen Menschen. Wollen sogar Herrnhagen aufgeben und mit ihm ziehen. Das haben sie mir noch vor einer Stunde erklärt.« »Dann laß sie laufen!« rief der Onkel erbost dazwischen. »Laß sie durch Schaden klug werden, diese hirnverbrannten Gemüter. Aber wehe, du nimmst sie wieder in Gnaden auf, wenn sie zu Kreuze kriechen!« »Keine Angst, jetzt gibt es kein Pardon mehr. Sollte Mama nach Herrnhagen zurückkehren, wird sie im Witwenhaus wohnen.« »Hoffentlich. Und was wird aus Dolly?« »Die bleibt bei mir, der ich auf Wunsch meines Vaters ihr Vormund bin.« »Na, Gott sei Dank! Dein Vater war ein kluger, weitschauender Mann, mein Junge, der ganz genau wußte, was für Scherereien deine liebe Mama dir noch bereiten würde. Daher der Köder mit dem Witwenhaus oder besser gesagt: Den Köder mit der Auszahlung. Hoffentlich bist du jetzt kuriert und nicht mehr so penibel auf den Sohnesrespekt bedacht.« »0 nein. Dafür ist die Medizin zu bitter, die ich jetzt schlucken muß.« Man nahm im Prahlener Herrenhaus nach dem Mittagessen gerade den Mokka ein, als plötzlich eine weibliche Gestalt auf der Schwelle stand – sehr schick, sehr apart, sehr verwegen. Ein Fluidum ausstrahlend von der Welt, die fern und geheimnisvoll ist. »Nun starrt mich nicht so entsetzt an«, sprach dieses geheimnisvolle Wesen ganz menschlich und amüsiert. »Ich bin es wirklich – nicht etwa mein Geist.« »Regina!« schrie Alice da auf wie in schwerster Not. »Wo
kommst du denn so plötzlich her?« »Auf ganz unabenteuerlichem Wege«, kam es trocken zurück. »Und zwar im Auto aus der Stadt.« Jetzt hatte sich auch Ludwig soweit gefaßt, daß er die unerwartete Base in leidlicher Haltung begrüßen konnte. Auch Dietlind drängte sich heran, entzückt, diese berühmte Tante von Angesicht zu schauen. »Was ist denn das für ein Firlefänzchen?« fragte Regina lachend. »Etwa eure Tochter?« »Jawohl«, gab Ludwig vergnügt zurück. »Wir haben auch noch einen um vier Jahre älteren Sohn, der aber im Internat ist. Eigentlich komisch, Gina, daß wir dir als Verwandte unsere Familienverhältnisse klarlegen müssen.« »Es ist vieles komisch im Leben«, versetzte sie ungerührt, und dann ging ihr Blick zu den Geschwistern hin, die sich im Hintergrund gehalten hatten. »Unsere Nichte, Baronesse von Eggeroth, unser Neffe, Baron von Eggeroth«, stellte Ludwig leicht verlegen vor – und da umgab die Angekommene etwas, das man mit einem Hauch eisiger Kälte bezeichnen konnte. Es war sehr still im Zimmer, bis dann die dunkle, melodische Stimme sprach: »Ach, Sie sind das – na ja.« Was sie damit meinte, ließ sich nicht ergründen – doch es wirkte wie eine Ohrfeige. »Komm, Gina, mach es dir gemütlich«, sagte Ludwig hastig. Geschäftig nahm er ihr den Mantel ab, placierte sie in einen Sessel. Und da saß sie nun, die ihrem Gatten Kameradin gewesen war durch dick und dünn. Hatte keine Gefahren gescheut, keine Strapazen, nicht Hunger und Durst, Hitze und Kälte. Die wochenlang im Zelt kampierte und dann wiederum in den Luxushotels aller fünf Erdteile die große Dame war. Was Wunder, wenn das einen Menschen kennzeichnete, ihm gewissermaßen den Stempel aufdrückte. Ihn zu einer Persönlichkeit werden ließ, die gewiß nicht alltäglich war. Sie war rassig, die Frau, rassig bis in die Fingerspitzen. Hoch und schmal die Gestalt, kühngeschnitten das Gesicht,
was noch das Monokel und der kurze, glatte Haarschnitt hervorhob. Klug und geistreich, schlagfertig und ironisch, liebenswürdig und charmant, immer frohgemut und guter Dinge, niemals schlecht gelaunt, so vital Spottete sie ihrer fünfzig Jahre. Also konnte man von dieser fast einmaligen Frau nicht verlangen, daß sie sich mit langen Erklärungen abgab. Daß sie das zu tun pflegte, was man mit der Tür ins Haus fallen nennt. Ergo sagte sie, was die andern vor Überraschung zuerst einmal fassungslos werden ließ: »Ich habe Hariet bei mir. Ganz zufällig traf ich sie auf der Chaussee, als sie, von diesem famosen Gärtner Melchior ‘geführt’ – zum Bahnhof wollte – vom Regen durchnäßt, am Leben verzweifelt, arm, verlassen, wie ein getretener herrenloser Hund. Kennt ihr denn hier überhaupt kein menschliches Erbarmen?!« Da weinte Dolly heiß auf, und auch die andern schauten verstört drein. Des Freiherrn Antlitz war hart und blaß. »Ein Skandal ist das!« fuhr die Stimme unbarmherzig fort. »Aber jetzt bin ich da. Und wehe demjenigen, der diesem bedauernswerten Geschöpf, das bisher immer nur im Schatten des Lebens stand, auch nur ein Härchen zu krümmen versucht!« »Das wollen wir ja gar nicht«, begütigte der Vetter. »Hariet hat das bestimmt alles falsch aufgefaßt, was sie dir wahrscheinlich erzählte.« »Natürlich«, höhnte sie dazwischen. »Es ist ja so hübsch bequem, seine Schuld auf andere abzuwälzen. Wenn die in Herrnhagen so, schändlich versagten, hättest du dich der Kleinen annehmen müssen, Ludwig. Denn wie sie mir erzählte, warst du und die Deinen so ganz lieb zu ihr. Ein sanftsäuselndes Gefühlchen, das gleich bei der ersten Probe vollständig versagte – schämt euch!« »Aber Gina, so ist es doch nicht! Her mich doch erst einmal an.« »Nein!« unterbrach sie den Vetter schroff. »Entschuldigungen laß ich nicht gelten, ich halte mich an
die Tatsachen. Und eine davon ist, daß du mich schwer enttäuscht hast, Ludwig. Du warst doch früher ein so warmherziger Mensch.« »Und ist es auch heute noch«, fuhr jetzt Alice der Base gewissermaßen in die Parade. »Ich muß schon sagen, daß du recht einseitig urteilst, Regina.« »Ach so, dann hat mich Hariet also angelogen.« »Gina, sei doch nicht so entsetzlich ironisch. Von Lügen kann natürlich nicht die Rede sein, das traue ich Hariet nicht zu. Aber diese weiß ja gar nicht, was sich, nachdem Melchior sie in ihr Zimmer brachte, unten zutrug.« »O ja, das wußte sie wohl. Man feierte unten herrlich und in Freuden Verlobung. Willst du das etwa auch abstreiten?« »Nein.« »Also! Übrigens soll diese Schurkerei des Salonbürschchens Carol Droik nicht ungeahndet bleiben. Ich kenne ihn zufällig und auch seinen Vater. Ein anständiger, biederer Mann, der an seinem Sohn nicht viel Freude hat. Und der fackelt nicht lange, dessen bin ich gewiß. Ergo: Wird nach meinem Schreiben ein hartes Strafgericht erfolgen!« »Herrlich!« rief da Dietlind begeistert, die mit Dolly in einem Sessel saß und gleich ihr dickverweinte Augen hatte. »Besorge diesem Lumpen nur eine gehörige Tracht Prügel, Tante Regina.« Da mußte diese denn doch lachen – und somit war der Bann gebrochen. Impulsiv sprang Dietlind auf, setzte sich zur Tante auf die Sessellehne und sah sie treuherzig an. »So unbarmherzig, wie du annimmst, sind wir alle nicht«, erklärte sie eifrig. »Wir haben die Hariet sogar lieb.« »Das habt ihr ja auch bewiesen«, kam es trocken zurück. »Na, Schwamm drüber, an Geschehenem läßt sich nichts mehr ändern. Gib mir einen Mokka, Alice, damit ich meine geengte Kehle anfeuchten kann. Ich bin weiß Gott nicht rührselig. Aber der Anblick dieses kleinen Elendbündels auf der Chaussee hat mich denn doch gepackt.« Mit Genuß nippte sie den Mokka und wurde fortan friedlicher. Daher wagte auch der Vetter die Frage:
»Wo ist Hariet jetzt?« »In's Hotel Kaiserhof eurer Kreisstadt, wo ich abgestiegen bin. Ich habe dort das erbärmlich frierende, erschöpfte Menschlein zu Bett gebracht und hoffe, daß es nicht krank werden wird. Und ich muß schon sagen, daß Gottes Wege doch wunderbar sind. Denn wie hätte es sonst wohl geschehen können, daß ich ausgerechnet auf der Chaussee meiner Nichte begegne, von deren Existenz ich überhaupt keine Ahnung hatte? Es gab mir direkt einen Stich ins Herz, als dieses liebe Dinglein kurz vor 4em Einschlafen so rührend sagte: Tante Regina, wie gut, daß es dich gibt. Dich hat mir der liebe Gott zum Geburtstag geschenkt.« »Also hat sie heute sogar noch Geburtstag?« fragte Ludwig betroffen. »Jawohl – auch das noch.« »Willst du sie jetzt bei dir behalten?« fragte Alice leise, und die Base sah sie verwundert an. »Na, was denn sonst? Glaubst du etwa, ich ließ dieses vom Schicksal getretene Häuflein Mensch noch jemals von mir? Dem soll jetzt werden, was ihm das unbarmherzige Leben bisher versagte: Mutterliebe^imd ein trautes Zuhause. Schade, daß ich diesen verbohrten Bruder meines Mannes nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann, der seinem Kind alles schuldig blieb. Es einfach aus Bequemlichkeit dieser engstirnigen, geizigen Tante übergab. Hätten Edwin und ich nur eine Ahnung gehabt, wäre 4as Leben der Kleinen anders verlaufen. Aber dieser fanatische Gelehrte brach ja brüsk jede Verbindung mit uns ab und nur aus Berufsneid. Na ja, jetzt ist er tot.« Danach war es erst einmal still, bis Ludwig fragte: »Willst du jetzt in der Heimat bleiben, Gina?« »Ja. Es zieht mich nun nichts mehr in die Feme, seitdem ich meinen prächtigen Lebenskameraden verlor.« Die Stimme schwankte, ein heißer Schmerz brannte in den Augen der Frau. Doch schon hatte sie sich wieder gefaßt und fuhr ruhig fort:
»Ich habe ihn unter Afrikas heißer Sonne lassen müssen, wie es sein Wunsch war. Aber sein Werk will ich weiterführen vom Schreibtisch aus, wozu mir die wertvollen Aufzeichnungen verhelfen werden. Ich hoffe, dabei in Hariet einen Famulus zu finden, wie sie es ja schon bei ihrem Vater war. Und der verstand eine ganze Menge. Schade, daß er so verbohrt war und sich nicht mit seinem Bruder zusammentat.« »Wo gedenkst du dich nun niederzulassen, Gina?« »Irgendwo – nur schön muß es da sein, Ludwig. Schön und friedlich.« »Da weiß ich guten Rat«, wurde der Mann jetzt lebhaft. »Auf unserem Weg zur Stadt, ungefähr drei Kilometer von dieser entfernt, liegt ein Schlößchen, das sich vor Jahren mal ein regierender Fürst als Buen Retiro und als Gefängnis seiner jeweiligen Kurtisane erbauen ließ. Bis dann diese Zeit der >Galanterie< aufhörte, da stand es immer wieder zum Verkauf, wie auch jetzt. Das kleine Anwesen ist wirklich idyllisch gelegen, allerdings etwas verwahrlost. Um es zu renovieren, dazu gehört Geld. Aber das hast du ja wohl, Regina?« »Daran ist kein Mangel. Willst du den Kauf vermitteln, Ludwig?« »Gern, Gina. Aber zuerst wirst du dir das Schlößchen wohl ansehen müssen. Denn man pflegt, wie man so sagt, nicht die Katze im Sack zu kaufen.« »Da hast du recht. Leite bitte schon alles in die Wege.« »Schön. Wo willst du bis dahin wohnen?« »Im Hotel.« »Das ist ungemütlich, Regina. Unser Haus steht dir offen.« »Herzlichen Dank. Sehr lieb von dir gemeint, aber vergiß bitte nicht, daß ich Hariet bei mir habe – und daß diese Hariet verbittert und mißtrauisch geworden ist infolge böser Erfahrungen. Zwar kenne ich das Mädchen so gut wie gar nicht, aber ich glaube, es besitzt – Stolz. Also wird es nicht leicht sein, das Vertrauen, das sie in bitterer Not zu euch verlor, aufs neue wiederzufinden.«
»Regina, was bist du doch für eine prächtige Frau«, erwiderte der Vetter warm. »Und welch eine gute Menschenkennerin.« »Das wird man bei so einem Zigeunerleben, das ich bisher führte«, entgegnete sie lachend. »Und jetzt muß ich ins Hotel zurück, damit ich zur Stelle bin, wenn mein Kind, das mir so ohne mein Zutun in den Schoß fiel, erwacht. Bleibt es nun dabei, daß du den Kauf des Schlößchens für mich vermittelst, Ludwig?« »Worauf du dich verlassen kannst, Regina.« »Verflixte Geschichte«, brummte er, als die Base abgefahren war. »Gina hat recht. Wir haben in bezug auf Hariet allesamt schmählich versagt.« Es war schon gegen Abend, als Hariet aus tiefem Schlaf erwachte. Sie mußte sich zuerst besinnen, wo sie überhaupt war. Und als sie das erfaßt hatte, glaubte sie dennoch an einen wundersamen Traum. Denn es konnte doch wohl kaum Wirklichkeit sein, daß diese Tante, von der sie immer nur gehört, plötzlich da war, als sie sich in Not befand, sie in dem feudalen Auto mitnahm und sie in einem mollig warmen Hotelzimmer zu Bett brachte? So was gab es doch gar nicht, höchstens nur in Märchen. Allein, es schien wahr zu werden, das Märchen vom Aschenputtelchen. Und wenn es auch kein Prinz war, der sich zeigte, so immerhin eine gute Fee, die vor ihrem Bett stand und lachend sagte: »Du hast aber einen gottgesegneten Schlaf, Kleines. Hunger?« »Nicht sehr. Ich frühstückte ja bei Melchior.« »Das ist schon lange her, mein Kind. Also wollen wir mal gemütlich tafeln.« Und da die arme, bisher vom Leben so arg vernachlässigte Hariet Hermeran weiter in Märchenstimmung bleiben sollte, stand dann auch wie hingezaubert ein Tischleindeckdich vor dem Bett, auf dessen Rand die märchenhafte Tante Regina saß und mit der Nichte um die
Wette schmauste. Bis dieser dann etwas einfiel. »Bitte, Tante Regina, willst du wohl so lieb sein und mir meinen Handkoffer reichen?« bat sie schüchtern die Tante, die ihr noch immer so unwirklich vorkam. Denn Tanten pflegen ja eigentlich nicht vom Himmel zu fallen. Schon gar nicht so charmante und so Respekt einflößende. Als der gewünschte Koffer vor Hariet stand, klappte der Deckel hoch und zwei Päckchen, hübsch säuberlich von Pergamentpapier umhüllt, lagen den Augen frei. »Das ist mein Proviant, den Melchior mir mitgab«, erklärte die Nichte der amüsiert lächelnden Tante. »Denn ich sollte ja erst am Nachmittag in dem Pfarrhaus ankommen.« »Sag, Kleine, dieser Melchior ist wohl so eine Art Hellseher?« »Man hält ihn jedenfalls dafür«,’ mußte Hariet zugeben. »Aber er sagt, daß Gott nur allein allmächtig ist. Wollen wir nicht die Brote essen? Es ist doch zu schade, daß sie umkommen.« »Denn man zu. Vor Brot darf man nie die Ehrfurcht verlieren, das habe ich bei meinem Zigeunerleben erkennen gelernt. Brot ist und bleibt nun mal eine Gottesgabe.« »Ja«, bestätigte Hariet. »Und Kartoffeln. Wenn man das hat, kann man nie verhungern, sagte Tante Berta immer. Alles andere ist Schlemmerei.« Regina hätte in diesem Fall viel antworten können, doch sie schwieg und sah interessiert zu, wie Hariet die Pergamentpapierhülle löste. Was dann zum Vorschein kam, war nicht Brot, sondern ein grüner Umschlag, wie man ihn für Geschäftsbriefe zu verwenden pflegt. Und was die zitternden Mädchenhände dann aus dem Umschlag zogen, waren fünf Hundertmarkscheine. »O Gott«, sagte Hariet entsetzt. »Wo kommen die denn her! Soll denn das Märchen gar kein Ende’ nehmen?« »Nun, an diesem Geld finde ich durchaus nichts Märchenhaftes«, lachte Regina amüsiert. »Das hat dir dein Beschützer Melchior ganz einfach ins Brotpäckchen
geschmuggelt.« »Und hat damit bestimmt seine Ersparnisse geopfert«, fiel Hariet erregt ein. »Er verdient doch nicht viel an barem Geld und muß daher lange sparen, bis er so eine Summe zusammen hat. Ob ich sie ihm zurückgebe?« »Nein, mein Kind«, sprach die Tante jetzt tiefernst. »Du würdest damit den Mann bitter kränken – und das willst du doch nicht?« »Um alles nicht! Das hat er wahrlich nicht um mich verdient.« »Na also. Steck das Geld nur ruhig ein. Es wird sich mit der Zeit schon etwas finden, womit wir dem Mann seine Güte vergelten können. Vor allen Dingen werben wir ihn morgen aufsuchen, um ihn über dein Geschick zu beruhigen.« »Bitte, Tante Regina, ich möchte den Herrnhagener Park nicht mehr betreten. Und das muß man, wenn man zu Melchior gelangen will.« »Das kann ich verstehen, mein Kind. Dann schreib deinem Melchior. Oder soll ich das tun?« »O ja, Tante Regina, Du kannst das bestimmt viel besser als ich.« Also erhielt der Gärtner Melchior einen Brief, den er mit tiefer Befriedigung, las und ihn dann in den Kasten tat, der das barg, was dem Mann lieb und teuer war. Hariet jedoch geriet in einen Wirbel von Geschehnissen hinein, der sie kaum zur Besinnung kommen ließ. Man zählte bereits vier Tage vor Weihnachten, als man endlich in dem renovierten Schlößchen saß, das fortan Aschenputtelchens Heimat sein sollte. Aschenputteichen? Nun, davon konnte jetzt wirklich keine Rede mehr sein. Denn Aschenputtelchen war in den fünf Wochen eine Dame geworden, elegant und bezaubernd schön. Hariet staunte selbst darüber – und die Tante freute sich. Gerade so hatte sie sich immer ein Töchterlein gewünscht, das sie sich jedoch in ihrem unruhigen Leben nicht leisten
konnte – nicht leisten durfte, wenn das kleine Wesen nicht bei fremden Menschen aufwachsen sollte. Und ihren so leidenschaftlich geliebten Mann allein in die Ferne schweifen lassen – unmöglicher Gedanke! Da verzichtete sie lieber auf Mutterfreuden und blieb dem Gatten geliebte Kameradin durch dick und dünn. Doch jetzt war er tot. War mit siebzig Jahren mitten aus der Arbeit gerissen worden. Ein schöner Tod – aber äußerst schmerzvoll für die Gattin, die dieses plötzliche Dahinscheiden zuerst gar nicht fassen konnte. Alles, woran sie mit treuem Herzen hing, war vorbei und entschwunden. Sie stand jetzt allein. Aber nicht lange. Dann ließ das Schicksal die allzeit tapfere Frau eine Nichte finden, für die zu leben es sich lohnte. Das Vertrauen beglückte sie, das dieses schöne, scheue Menschenkind nach und nach zu ihr fand. Und da sie ein Mensch von raschen Entschlüssen war, fackelte sie nicht lange, sondern erschien nach einer herzbewegenden Unterredung mit Hariet an maßgebender Stelle und erklärte kurz und bündig: »Ich möchte die Nichte meines verstorbenen Mannes adoptieren. Also bitte, meine Herren, lassen Sie mal Ihren Amtsschimmel ausnahmsweise munter traben. Denn – ich möchte noch zu Weihnachten Mutter werden.« Lachend versprach man der charmanten Witwe des berühmten Forschers, sogar die Peitsche zu gebrauchen, und da alle erforderlichen Unterlagen vorhanden waren, traf tatsächlich gerade am Heiligabend die Bestätigung der Adoption ein, die dann Regina dem Mädchen unter die Nase hielt, im Schein der brennenden Kerzen. »So, mein Kind, damit ich dich fest habe für alle Zeit. Ich bin jetzt deine Mutter, also liebe und ehrfürchte mich. Und schau nicht so begriffsstutzig drein, so was gefällt mir an meiner Tochter nicht.« Und dann brach die Freude bei Hariet durch. Sie war so herzrührend, daß Regina die Tränen kamen, weswegen sie sich aber gleich hinterher schämte.
Und dann stahl sich der Muttername über die Lippen des jungen Menschenkindes, das ihn ja nie hatte aussprechen dürfen. Und dann wurde aus dem scheuen, zaghaften Mutter, das zärtliche Mutz. »Na also«, lachte Regina. »Das paßt am besten zu mir. Aber was klemmst du da so fest unter den Arm?« »Meine Weihnachtsgabe für dich. Und zwar sind es Aufzeichnungen meines Vaters. Ich glaube, daß sie dich interessieren werden.« »Kind, die sind ja ein Vermögen wert«, sagte Regina betroffen, nachdem sie das Buch durchgeblättert hatte. »Und wie mich das interessiert, da hupft sogar mein Herz vor Freude. Das beuten wir aus – und zwar unter dem Namen deines Vaters.« »O ja, das tun wir, Mutz. Aber jetzt habe ich keine Zeit, jetzt muß ich mich erst über meinen Gabentisch freuen. Aber nein, ich kann mich ja doch nicht freuen – ich bin ja eigentlich betrübt.« »Ein komisches Kuddelmuddel von Empfindungen«, schmunzelte Regina. »Woher denn diese plötzliche Betrübnis?« »Wegen Melchior. Ob wir ihn herbitten und mit ihm zusammen feiern?« »Nein, du Dummes, damit täten wir diesem Mann keinen Gefallen. Der fühlt sich in seiner Einsamkeit am wohlsten. Aber vergessen ist er nicht. Ich habe mir nämlich erlaubt, ihm in deinem Namen ein kleines Paket zu schicken, in dem sich auch Samen von Orchideen befindet. Das wird dem Blumenzüchter bestimmt die größte Weihnachtsfreude sein.« Und das stimmte. Mit einem Schmunzeln ließ Melchior den Samen behutsam durch seine braunen Finger gleiten. Sein Gärtnerherz feierte Weihnacht wie kaum im Leben zuvor. Aber nicht jedem ward so ein beglückendes, besinnliches Weihnachtsfest beschieden. Und dazu gehörten erst einmal die Baronin Klarissa und ihre Tochter Martina. Ganz anders
hatten sie sich diese Weihnacht gedacht und zwar im Kreise der Familie Droik. Aber ach, mit diesem Carol hatten sie alles auf eine Karte gesetzt – und somit alles verloren. Denn als sie an dem denkwürdigen dreizehnten November, nach der scharfen Auseinandersetzung mit Sohn und Bruder zu dem so ungerecht Beschuldigten flüchten wollten, fanden sie ihn nicht mehr vor. Er hatte sein Heil in der Flucht gesucht. Das war für die Damen ein harter Schlag. Und der bald darauf folgende war nicht weniger hart, als Ulf aus Prahlen zurückkehrte und zwischen sich und der Mutter gewissermaßen das Tischtuch zerschnitt. Fort wäre der vielgeliebte Carol? Das war ja nun wirklich die beste Lösung. Denn die Verlobung, die ein Betrunkener proklamierte, wäre immerhin leichter zu lösen als die Ehe mit so einem zweifelhaften Ehemann. »Ulf, kennst du denn kein menschliches Erbarmen?!« schrie die Mutter, nachdem der Sohn ihr eiskalt diesen Unterschied zwischen Verlobung und Ehe klargemacht hatte. »Siehst du denn gar nicht, wie deine arme Schwester leidet?« »Nein«, kam es ungerührt zurück. »Wäre sie ein unerfahrenes Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren, würde ich diesen Reinfall bedauern. Aber sie ist acht Jahre älter und hat außerdem eine Mutter, die sie leitet.« »Ulf, du bist erbarmungslos!« »Habe ich schon einmal gehört. Geh jetzt erst einmal auf Reisen, bis Gras über die blamable Angelegenheit gewachsen ist. Wenn ihr zurückkommt, ist das Witwenhaus instandgesetzt, in dem du dann leben wirst, Mama. Das Geld, das dir testamentarisch zusteht, liegt bereit. Martina jedoch bleibt es überlassen, ob sie bei dir wohnen will oder hier.« »Bei mir natürlich, du entarteter Sohn und Bruder!« schrie die Mutter wütend, rauschte hocherhobenen Hauptes ab – und ihr Liebling hinterdrein. So ging man denn auf Reisen und lebte herrlich und in
Freuden. Warum auch nicht? Man hatte ja Geld, viel Geld sogar. Allein, auch der tiefste Brunnen schöpft sich aus. Doch vorläufig konnte man noch lustig schöpfen, feierte Weihnacht ganz groß – und war doch nicht so ganz zufrieden. Je mehr der Mensch hat, je mehr er eben will. Das traf bei Dolly nun allerdings nicht zu. Sie war nicht unzufrieden, sie war traurig, als sie mit dem Bruder so ganz allein Weihnacht feierte. Man hatte sich beschenkt, reichlich sogar, aber das Herz blieb leer. »Ach, Ulf, warum müssen wir so verlassen sein«, klagte die Kleine. »Komm, laß uns nach Prahlen fahren. Da kann ich mich wenigstens mit Lutz zanken.« »Immerhin etwas«, lachte er amüsiert. »Zieh dich aber warm an, denn draußen weht ein kühles Lüftchen.« Nicht lange danach saß man im Schlitten und fuhr Prahlen zu. Es war bitterkalt draußen, doch umso wärmer war es im trauten Wohngemach, wo die Familie Warring bei der Weihnachtsbowle saß. Mit Hallo wurden die Ankommenden begrüßt. »Sehr vernünftig von euch, herzukommen und nicht zu Hause Trübsal zu blasen«, lärmte der Onkel aufgeräumt. »Reiht euch ein in unsere gemütliche Runde.« Man tat’s, und Dolly seufzte tief auf. »Schön ist das hier. Und Bowle gibt es auch, herrlich! Na denn Prosit allerseits!« Man trank sich zu und starrte dann verblüfft auf den Weihnachtsmann, der plötzlich in der Tür stand und gar grimmig mit der Rute drohte. »Die gebührt euch, ihr Ungezogenen!« brummte eine tiefe Stimme. »Aber ich will diesmal noch Gnade walten lassen.« »Regina!« rief der Vetter lachend dazwischen. »Nun gib man hier nicht so an. Runter mit dem Sack vom Rücken, ausgeschüttet die Gaben!« Im Nu war der prächtige Weihnachtsmann umringt, jubelnd wurde der Sack entleert. Vier Pakete kamen zum Vorschein, alle fein säuberlich mit Namen versehen. Neugierig packte man aus – und fand gerade das darin, was
man sich gewünscht hatte. »Nun sag mal, Ludwig, woran hast du mich eigentlich erkannt?« fragte Regina enttäuscht. »Ich glaubte mich so wunderbar getarnt.« »Und dennoch tatest du es nicht gründlich genug«, kam es schmunzelnd zurück. »Denn ein Weihnachtsmann pflegt keine Damenpumps zu tragen.« Da brandete ein Gelächter auf, das kein Ende nehmen wollte. Es ebbte erst ab, als Hariet näher trat, die sich auf Reginas Geheiß verborgen gehalten hatte, um durch ihre Anwesenheit den Weihnachtsmann nicht zu verraten. Es war das erste Mal seit Hariets Fortgang aus Herrnhagen, daß sie wieder unter die Menschen trat, die ihr so weh getan. Regina hatte ihre ganze Überredungskunst anwenden müssen, um das Mädchen nach Prahlen zu bekommen. Und nun stand eine ganz andere Hariet Hermeran da. Eine, die fremd wirkte in ihrer eleganten Kleidung und dem leicht spöttischen Lächeln. Man begrüßte sich auch fast wie Fremde, und es war der Gewandtheit der Weltdame Regina zu danken, daß es zu keiner peinlichen Situation kam. Sie schälte sich mit so drolligen Bemerkungen aus ihrer Verkleidung, daß man Tränen lachte. »Bist doch ein charmantes Frauenzimmerchen«, meinte der Vetter anerkennend, und sie sah ihn verschmitzt an. »Bitte sehr, mir gebührt jetzt Ehre.« »Die gebührt dir schon immer, Tante Regina«, meldete sich der Sohn des Hauses, der von dieser Tante sofort hell begeistert war. »Du bist nicht nur charmant, du bist einfach phänomenal.« »Du hast den Sinn erfaßt, mein junger Held«, betrachtete sie vergnügt den hübschen Krauskopf, den sie jetzt erst kennenlernte. Und er gefiel ihr, genauso wie die anderen Warrings. Als man dann später der vorzüglichen Bowle zusprach, sagte Regina etwas, das die andern nicht wenig verblüffte – und zwar:
»Ich habe ein Kind gekriegt.« »Huuuch!« schrie Dietlind erschrocken auf, was die andern auch beinahe getan hätten. Und Regina lachte, ihr Monokel blitzte. . »Ja, ja, meine Herrschaften, es geschehen ja doch noch Zeichen und Wunder. Betrachtet nur mein Kind genau – gefällt es euch?« Eine neckische Kopfbewegung zu Hariet hin, dann eine großartige Handbewegung. »Darf ich vorstellen: Hariet Hermeran-Hermeran. Seit heute meine amtlich besiegelte Adoptivtochter.« Augenblicklang noch ein Wie-nicht-begreifen – dann herzliches, befreiendes Gelächter. »Ich sage ja, Tante Regina ist phänomenal!« rief Lutz der Begeisterung voll. »Lassen wir hochleben Mutter und Kind!« Nachdem das geschehen war, fragte Ludwig schmunzelnd: »Nun sag mal, Gina, wie hast du diese Adoption so schnell bewerkstelligen können? So was braucht bei den Behörden doch seine gute Weile.« »Ich habe den maßgebenden Herren gesagt, ich müßte Weihnachten unbedingt Mutter werden, daher möchten sie ihren Amtsschimmel in Trab setzen. Man versprach mir, sogar die Peitsche zu benutzen – und bitte sehr, der Erfolg ist da.« O ja, er war da – und zwar ein zauberhafter. Denn anders konnte man das junge Menschenkind nicht bezeichnen, das da so lässig im Sessel lehnte. Es hatte in den sechs Wochen schon viel von seiner jetzigen Pflegemutter gelernt. Von der Angestellten Hariet Hermeran war nichts übriggeblieben, schon gar nichts von dem Aschenputtelchen, das bei der Frau Baronin nebst gnädiger Tochter Zofendienste verrichten mußte. Jetzt hatte sie selbst eine Zofe mit ihrer Mutz gemeinsam. Aus dem Aschenputtelchen war tatsächlich über Nacht ein Prinzeßlein geworden – und der Prinz würde bei dieser Erbtochter wohl nicht lange auf sich warten lassen.
Obwohl Hariet mit den andern scherzte und lackte, ging doch ein gewisses Etwas von ihr aus, das zu warnen schien: Bitte nicht zu intim – denn ich habe den zwölften November nicht vergessen. Das empfand wohl am schmerzlichsten die kleine Dolly. Sie mußte immer wieder die Tränen zurückdrängen, die aus dem betrübten Herzchen hinauf wollten. Was sollte sie Hariet wohl sagen, wie sich rechtfertigen? Erstens wagte sie es bei diesem so wundersam veränderten Mädchen nicht, und dann würde es ihr auch nicht glauben. Am unbefangensten von allen war Lutz. Denn er kannte das Geschehnis nur durch die Erzählung der Eltern. Und das ist immer anders, als wenn man etwas direkt miterlebt. »Hör mal, Hariet, ich habe eben von Tante Regina gehört, daß du so wunderbar Klavier spielen und singen kannst. Willst du das jetzt nicht tun?« »Nein«, kam es freundlich lächelnd zurück. »Ich bin hier Gast. Aber ich höre andere sehr gern musizieren.« »Bist du aber unfreundlich.« »Nicht wahr?« »Ja, ja, meine Kleine hat Stacheln«, lachte Regina amüsiert. »Dann stutze sie ihr doch.« »Ich denke gar nicht daran. Aber wie wäre es, wenn ihr uns morgen allesamt besuchtet? Dann ist Hariet nämlich Gastgeberin und wird sich den Wünschen der Gäste fügen müssen.« »Einfach großartig!« strahlte der frische Junge. »Wann sollen wir kommen, Tante Regina?« »Nicht vor dem Aufstehen, mein Sohn.« »Junge, hast du es eilig«, lachte der Vater. »Wir kommen gern, Gina. Bist du nun aber auch schon komplett eingerichtet?« »Ja, seit einigen Tagen. Ich bin neugierig, wie euch unser Eldorado gefallen wird. Wir dürfen doch auch auf Ihren und des Schwesterleins Besuch rechnen, Herr Baron?« »Verbindlichsten Dank, gnädige Frau. Wir werden uns erlauben.«
Es waren die ersten Worte, die der Mann in Gegenwart der Damen Hermeran sprach, was nicht aufgefallen war bei der regen Unterhaltung. Da merkte ihm wenigstens niemand an, wie wenig wohl er sich in seiner Haut fühlte. Das Schlößchen war ein Bau aus dem vorigen Jahrhundert, und es war an ihm nicht gespart worden. Erker und Türmchen, Altane und Balkons, alles so richtig kokett, galant und verspielt. Reizend sah es aus mit seinem schneeweißen Anstrich, den grünen Jalousien, dem schmucken Portal und der nach dem Park zu gelegenen weiten Terrasse. Der Park war nicht groß, aber sehr hübsch angelegt. Er umschloß das Haus, wurde nur von einem breiten Gang unterbrochen, der gleichzeitig als Auffahrt diente. Ein kunstvoll geschmiedetes Tor versperrte jedem Unbefugten den Eintritt. Etwas abseits stand ein Gebäude, das unten Stallungen und oben zwei kleine Wohnungen barg. Die eine bewohnte jetzt der Chauffeur mit seiner Frau und die andere das Faktotum des Anwesens mit seiner gemütlichen Eheliebsten, die das Zepter über Küche und Keller schwang. Darin waltete außerdem noch die Chauffeurgattin, in den Zimmern tat es der Diener, wobei ihm das Zöfchen gern half. Alles erstklassige Kräfte, auserwählt mit dem erprobten Kennerblick der weitgereisten Weltdame Regina Hermeran. Unten barg das Schlößchen zwei große Räume, die durch eine Portiere getrennt werden konnten. Sie dienten als Speisezimmer und Wohngemach. Ferner gab es noch einen lauschigen kleinen Salon, ein mäßig großes Arbeitszimmer, eine entzückende Diele und die Wirtschaftsräume. Im oberen Geschoß lagen die Schlafzimmer der beiden Damen mit Ankleidezimmer und Bad, zwei Fremdenzimmer und etwas abseits die Räume der Bediensteten. Alles war so eingerichtet, daß es selbst den verwöhntesten Ansprüchen genügen mußte. Das fanden auch die Gäste, die zur Kaffeezeit eintrafen und
zwar in zwei Schlitten. Im ersten saß die Familie Warring, im zweiten der Freiherr mit seiner Schwester. »Das riecht ja hier förmlich nach Geld«, lachte der Vetter, als er die Base begrüßte. »Hast du viel davon, Gina?« »Mir langt’s«, fiel sie fröhlich in sein Lachen ein. »Also, meine Herrschaften, treten Sie ein und bringen Sie Glück herein.« Das galt in erster Linie dem Freiherrn, der sich artig über die ihm gereichte Frauenhand neigte und dann die Tochter des Hauses mit stummer Verneigung begrüßte. Das fiel nicht weiter auf, da die anderen so vieles zu bestaunen hatten. Dolly wurde von Hariet zwar mit Handschlag begrüßt, wie ja auch die Verwandten, aber das geschah so kühl, fast ein wenig hochmütig, daß die betrübte Kleine am liebsten geweint hätte. Dann folgte zuerst einmalein gemütliches Kaffeestündchen, bei dem man sich lebhaft unterhielt. Außer den Geschwistern Eggeroth. Die saßen zumeist schweigend da, und man war taktvoll genug, dieses nicht zu bemerken. Lutz hingegen war obenauf, und auch sein Schwesterlein fand allmählich die gewohnte Keckheit wieder. »So – jetzt wirst du aber musizieren, meine liebe Gastgeberintochter«, verlangte Lutz, als man im Wohngemach beisammensaß, wo ein Blüthnerflügel schwarzglänzend stand. »Auf diesen Moment habe ich mich immerzu gefreut. Zuerst spielst du alle Weihnachtslieder, die es gibt.« »Dabei geht ihr bestimmt die Puste aus«, amüsierte sich Regina, der dieser hübsche, frische Junge Spaß machte. »Vielleicht dürften sich da auch Liebeslieder dazwischenschmuggeln, mein Herr Oberprimaner?« »Quatsch«, kam es pomadig zurück. »Die überlasse ich gebrochenen Herzen.« »Pfui, Junge, du bist abscheulich!« entrüstete sich die Mutter, während die anderen lachten. »Warte bloß ab, bis es bei dir soweit ist.«
»Dann leime ich es wieder zusammen, geliebte Mutz.« Was dann kam, war einfach scheußlich. Denn Hariet musizierte – aber wie. Da stimmte kein Ton, und die Stimme zeterte dazwischen. »Mädchen, hör auf, ich kann nicht mehr!« wollte Regina sich ausschütten vor Lachen. »Katzenmusik ist ja noch melodisch dagegen!« »Leider kann ich es nicht besser«, zuckte der Schalk bedauernd die Achseln. Entzückend war er anzuschauen mit den blitzenden Augen und dem verschmitzten Lächeln. Auch eine neue Errungenschaft bei dem einst so verschüchterten Aschenputtelchen, dem der Baron von Eggeroth wie ein höheres Wesen erschienen war. Und heute? Heute imponierte der Mann der verhätschelten Erbtochter kein bißchen mehr – jawohl! Regina, die in der Seele dieses jungen Menschenkindes lesen konnte wie in einem aufgeschlagenen Buch, lachte in sich hinein. So wollte sie ihr Töchterlein haben – genauso. Sie war ihm eine geschickte Lehrmeisterin gewesen und würde es auch weiter bleiben. »Hariet, weißt du, was du bist?« fragte der Herr Oberprimaner nach dem schaurig-schönen Spiel, doch schon rief die Mutter dazwischen: »Junge, benimm dich!« »Ja, was hast du denn?« fragte er scheinheilig. »Ich will doch nur sagen, daß Hariet bedauernswert unmusikalisch ist. Mit deren Katzenmusik kann höchstens noch der Rundfunk konkurrieren. Nicht wahr, Dolly-Dolly?« »Um Himmels willen, laß die jetzt bloß in Frieden!« wehrte die Mutter entsetzt, und das Söhnchen meinte resigniert: »Na ja, man wird immer verkannt wie eine unverstandene Frau.« Danach gab der übermütige Schlingel erst einmal Ruhe und nur, weil der Diener Halbgefrorenes servierte. Genießerisch sog der Herr Oberprimaner am Strohhalm und schielte dabei zu Dolly hin, die ihm aber auch gar nicht gefiel. Sie war ja von einer direkt schauderhaften
Artigkeit. Und Ulf? Der saß da wie der steinerne Gast. Und Hariet? Die war jetzt ein ganz verwöhntes, hochmütiges Balg. Derselben Ansicht war auch sein Vater. Denn als man später nach Hause fuhr, brummelte er: »Scheußlich ist so was! Das kleine hochnäsige Balg macht es einem verflixt schwer, wieder den vertrauten Ton zu ihm zu finden. Ich meine, so arg war unser Vergehen nun auch wieder nicht, um dafür womöglich ein Leben lang scheel angesehen zu werden.« »Das tut sie doch gar nicht, Ludwig. Sie ist doch recht liebenswürdig und artig.« »Eben, zu sehr. Von einer Artigkeit, bei der man friert.« In dem anderen Schlitten saß man auch nicht gerade leichten Herzens da. Dolly weinte sogar ein bißchen und klagte: »Ach, Ulf, warum mußte die Mama mich damals festhalten. Nun läßt Hariet mich das entgelten.« »Nanu, Kleines, sie war doch ganz freundlich zu dir.« »Ja, von einer farblosen Freundlichkeit, die schlimmer sein kann als Schroffheit. Und sie kann doch so lieb, so herzlich sein, das habe gerade ich immer wieder erfahren können.« »Da war sie auch noch ein armes Mädchen, das schon dankbar war, wenn man ihm freundlich begegnete. Doch heute ist diese Hariet Hermeran eine reiche Erbin, ein verhätscheltes Töchterchen, das es sich erlauben darf, Gnade und Ungnade mit Nonchalance zu erteilen. Und wir sind nun eben mal bei ihr in Ungnade gefallen, Schwesterchen. Der einzige, der sich nach wie vor ihrer Gunst erfreut, ist Melchior. Und warum? Weil er da für sie eintrat, wo wir anderen versagten.« »Aber doch nicht mit Absicht!« rief die Kleine aufgeregt dazwischen. »Das muß ihr nur richtig klargemacht werden.« »Willst du das tun, Schwesterchen?«
»Nein, ich wage es nicht. Aber du könntest es doch wenigstens versuchen.« »Ich werde mich hüten!« »Mein Gott, Ulf, was soll das’ denn bloß werden! Am besten ist, wir geben den Verkehr mit dem Schlößchen auf.« »Das können wir nicht, Dolly, das hieße sich der Gesellschaft ausschließen und somit als Außenseiter behandelt zu werden. Denn die interessanten Damen aus dem Schlößchen werden in der Gesellschaft bald tonangebend sein. Also heißt es für uns: Mitgefangen, mitgehangen.« Und damit sollte der Freiherr recht behalten; das Schlößchen wurde in der Umgegend bald ein Begriff. „Man drängte sich an die beiden Damen heran, wetteiferte förmlich, sich bei ihnen Liebkind zu machen. Und warum? Weil die Besitzerin des Schlößchens einen berühmten Namen hatte und Geld. Zwei große Hauptfaktoren in der Gesellschaft. Dazu hatte diese einflußreiche Dame auch noch eine zauberschöne Tochter. Was Wunder, wenn die heiratsfähigen Herren gewissermaßen ihre Westen glatt zogen und forsch taten. Nur der Baron von Eggeroth tat das nicht, der blieb stets von einer kühlen Reserviertheit. Und die kluge, weit- und menschenkundige Regina Hermeran amüsierte sich köstlich. Mochte das Aschenputtelchen, das so über Nacht ein Prinzeßlein’ geworden war, nur seine Triumphe feiern. Das machte selbstischer und steifte das immer noch ein wenig zu weiche Rückgrat. Jedenfalls geriet Hariet in einen Wirbel hinein, in dem sie sich immer mehr behaupten lernte. Überall wurde sie hofiert, überall öffneten sich ihr die Türen weit. Ein Lächeln von ihr beglückte, eine hochmütige Geste machte betroffen.
Und die fand sie überall da, wo sie auf Aufdringlichkeit stieß. Dann war das hochmütige Schnutchen da, wie die vielgeliebte Mutz es zu bezeichnen pflegte. Doch als Hariet es auch für Dolly hatte, als diese sich ihr zaghaft zu nähern wagte, sagte Regina ernst: »Nun mach Feierabend mit deinem Groll, mein Kleines. Dolly ist längst nicht so schuldig, wie du es annimmst.« »Doch – es hat mich genauso im Stich gelassen wie alle anderen. Und auch schon vorher war sie längst nicht mehr so lieb zu mir wie früher. Sie hing diesem Blender ebenso an wie alle in Herrnhagen.« »Blender. – damit hast du die richtige Bezeichnung getroffen, mein liebes Böckchen. Und ein sechzehnjähriges Kind darf sich schon noch blenden lassen, will ich meinen. Und dieser Blender war lustig und fidel, so was zieht ein Backfischchen immer an.« »Na schön. Aber als mich alle im Stich ließen?« »Da hätte es die warmherzige Dolly bestimmt nicht getan«, fiel Regina ruhig der Erregten ins Wort. »Aber sie wurde von ihrer Mutter festgehalten, mußte sogar die Nacht auf dem Diwan in deren Schlafzimmer verbringen. Sogar der Schlüssel wurde aus der verschlossenen Tür gezogen. Was sagst du nun?« »Woher weißt du denn das?« »Von den Prahlenern. Und was die betrifft, hatten sie sich fest vorgenommen, dich am nächsten Tag zu sich ins Haus zu holen. Sie konnten ja nicht ahnen, daß diese niederträchtige Baronin dir noch am Abend den üblen Wisch zugehen lassen würde. Und der Baron…« »Um Himmels willen, laß mich mit dem in Ruhe!« hielt sich das Mädchen nervös die Ohren zu. »Hariet, du wirst ja ungezogen.« »Mutz, liebe Mutz.« »Na ja, mein Herzchen, ist ja schon gut. Ich will dich ja nicht länger quälen. Dir nur zu bedenken geben, daß manchmal der Schein trügt.« Diese ernsten Worte sollten nicht umsonst gesprochen
sein. Schon gar nicht, weil die geliebte Mutz sie sprach. Also begrub Hariet langsam ihren Groll, worüber keiner so glücklich war wie Dolly. Sie war jetzt kaum noch zu Hause, verbrachte manchmal sogar die Nacht im Schlößchen, so daß Regina schmunzelnd sagte, sie hätte jetzt plötzlich zwei Töchter. Und der Bruder ließ das Schwesterlein gewähren – es sollte nicht so einsam sein wie er. Was übrigens gar nicht so lange der Fall war. Denn an einem Abend im Februar erschienen die Baronin und Martina. Ganz plötzlich tauchten sie auf, als die Geschwister mit der Hausdame, die Ulf vor einigen Wochen eingestellt hatte, nach dem Abendessen im Wohngemach saßen. Ach, was war das bloß für eine Freude, als die Frau Mama ihre beiden »geliebten Kinder«, nach denen sie sich so »schmerzlich gesehnt«, in die Arme schließen konnte. Auch Martina war sehr erfreut – und bei der schien es sogar echt zu sein. »Ach, Kinder, zu Hause ist doch zu Hause«, bekannte die Mama, nachdem sich ihre >Freude< gelegt hatte und sie im Sessel saß. »Sag mal, mein Sohn, was war das für eine Frau, die hier war und sich nun zurückzog?« »Das ist die Hausdame«,’ erklärte Ulf gelassen. »Hausdame?« dehnte die Mutter. »Wozu brauchst du die denn?« »Als Repräsentantin.« »Das dürfte ich doch wohl sein«, wurde die Stimme schon wieder spitz. »Und ich werde mir mein Recht bestimmt nicht nehmen lassen.« »Darüber wollen wir jetzt nicht reden, Mama.« »Ich wüßte auch nicht, was darüber zu reden wäre. Aber lassen wir das jetzt wirklich. Ich möchte mich nicht gleich nach der Rückkehr in mein Schloß wieder ärgern müssen, mein Sohn, daß du so selten und dann so kurz und bündig an mich schriebst. Daß ich von anderer Seite erfahren mußte, welch sensationelles Geschehen sich in unserer
nächsten Nähe zutrug. Ist es wirklich wahr, daß die Gattin des berühmten Forschers Hermeran das Schlößchen gekauft und diese minderwertige Person Hariet adoptiert hat?« »Ja.« »Welch ein Mißgriff – aber hochinteressant. Das Wunder muß ich mir doch persönlich ansehen. Schon morgen mache ich im Schlößchen meinen Besuch.« »Davon möchte ich dir entschieden abraten, Mama.« »Warum denn?« »Weil man dich wahrscheinlich gar nicht vorlassen wird.« Die Flecke auf den Backenknochen zeigten sich, die Augen >spickten<, der Mund kniff sich zusammen. »Na, das wäre denn doch die Höhe! Mich soll man nicht vorlassen – mich, die Baronin Eggeroth! – die erste Dame der Gesellschaft?« »Meine liebe Mama«, entgegnete der Sohn ungerührt. »Diese Weltdame dürfte in ihrem bewegten Reiseleben mit allerlei Persönlichkeiten zusammengekommen sein. Und ich glaube nicht, daß diese ihr besonders imponiert hätten. Schon gar nicht eine Baronin Eggeroth, die nichts weiter als eine Landadelige ist.« »Du wirst impertinent, mein Sohn! Und wie ich dieser Forschersfrau imponieren werde!« »Na schön, werde denn durch Schaden klug. Ich möchte dich nur noch darauf aufmerksam machen, daß Frau Herme ran ihre Adoptivtochter innig liebt – und daß du diese am zwölften November aus dem Haus jagtest wie eine Ehrlose.« »Ach, was«, tat sie verächtlich ab. »Damals war diese Hariet hier nur ein Dienstbote. Wäre sie allerdings das gewesen, was sie heute ist…« Nun schwieg sie doch unter dem sarkastischen Lächeln des Sohnes. »Na eben«, war alles, was der Mann sagte. Doch es wirkte wie ein Schlag ins Gesicht. Und der zweite, natürlich bildlich genommen, traf Mutter
und Tochter, als sie sich durch den Diener des Schlößchens der Herrin melden ließen und den Bescheid kriegten, daß diese leider nicht zu sprechen wäre. Da quollen der Frau Baronin fast die Augen aus dem Kopf – das ihr! – Und: »Das mir!« schrie sie dem Sohn entgegen, als sie ins Wohnzimmer platzte, mit Wut geladen bis zur Halskrause. »Mich abweisen zu lassen – mich! Aber ich werde Vergeltung üben. Vergeltung! Unmöglich werde ich diese anmaßende Forschersfrau in der Gesellschaft machen!« »Dann viel Vergnügen«, achselzuckte der Sohn. »Wenn du an dieser Abfuhr noch nicht genug hast.« »Schweige, du entarteter Sohn! Ich ziehe noch heute ins Witwenhaus! Ist es zu meinem Empfang bereit?« »Ja. Die Räume sind gelüftet und geheizt.« »Das würde ich dir auch geraten haben. Fortan scheiden sich unsere Wege.« Damit rauschte sie ab, und Dolly, die auch im Wohnzimmer zugegen war, sagte kläglich: »Wie in einem schlechten Film.« Da mußte der Bruder denn doch lachen. »Hast recht, Kleine. Aber wie du siehst, kann so was auch im Leben passieren.« Und tatsächlich zog Klarissa mit Martina ins Witwenhaus, was sie jedoch schon bald bereute. Sie fühlte sich dort gar nicht wohl. Aber ein Zurück ins Schloß gab es nun nicht mehr, das wußte sie genau. Und da der Mensch ja nur zu gern seine Schuld auf andere schiebt, so war eben diese Forschersfrau daran schuld, daß sie, die Frau Baronin von Eggeroth, jetzt in der Verbannung leben mußte. Und schon begann sie mit Einflüsterungen bei ihresgleichen, mußte jedoch zu ihrer Bestürzung erkennen, daß sich keiner etwas einflüstern ließ. Man stand sozusagen wie eine Garde hinter dem Schlößchen. »Die Klarissa macht sich einfach unmöglich und uns alle mit!« schalt Ludwig aufgebracht, als er an einem Tag aus
der Stadt zurückkam, wo er so mancherlei gehört hatte. »Wenn sie Grips im Kopf hätte, müßte sie sich doch sagen können, daß sie mit ihren Intrigen gegen die Damen im Schlößchen in der Gesellschaft anrennt wie gegen einen Fels. Man kann sich ja kaum noch irgendwo blicken lassen, ohne sich dieser Verwandten schämen zu müssen. Und wie muß es erst Ulf und Dolly zumute sein. Es ist, um auf die Akazien zu klettern!« »Tu’s nicht, mein lieber Alter«, lachte Alice, die den Gatten kaum jemals so ergrimmt gesehen hatte. »Die verbohrte Klarissa ist es gewiß nicht wert, daß du dich auf so stachelige Dinger schwingst. Warte lieber ab, bis sie an ihrem Gift ersticken wird.« So ähnlich drückte sich auch Regina aus, als sie von einem Weg in die Stadt nach Hause kam, wo Hariet saß und sich abmühte, die schwierige Handschrift ihres Vaters zu entziffern. »Na, die Baronin Eggeroth erstickt bestimmt noch einmal an ihrem Gift, wenn sie es nicht mehr verspritzen kann,« lachte sie, sich dabei behaglich in den Sessel schmiegend. »Ich glaube, sie hat bereits die Gelbsucht, so sieht sie nämlich aus.« »Hast du etwa einen Zusammenstoß gehabt, Mutzilein?« erkundigte Hariet sich gleichfalls lachend, doch die andere winkte großartig ab. »Wo denkst du hin, mein Kind, das kann mir doch nicht passieren. Im Gegenteil, die Frau Baronin schenkte mir sogar ihre gnädige Beachtung, als sie auf den Parkplatz rauschte, wo ich gerade mit dem Geheimrat Wendt sprach. Sie schenkte mir ihr süßestes Lächeln und bedauerte… Nun ich bedauerte auch, nämlich, es sehr eilig zu haben, hüpfte ins Auto und entschwand. Im Spiegel bemerkte ich noch, wie der nette Geheimrat über das ganze Gesicht lachte und wie die Frau Baronin mir sozusagen dolchgespickte Blicke nachschickte. Du lieber Himmel, wo hat die Frau bloß ihre netten Kinder her. Denn auch die ältere Tochter ist gar nicht mal so übel,
steht nur vollständig unter der Fuchtel der despotischen Frau Mama. Mit ihr zusammen kann sie sich behaupten, doch ohne sie ist sie ein Nichts.« Sie konnte nicht weitersprechen, weil Dolly und Dietlind ins Zimmer wirbelten. »Wir bleiben zu Tisch, Mutz«, erklärte erstere kurz und bündig. »Haben nämlich am Nachmittag eine Probe für das Theaterstück, das wir zum Wohltätigkeitsfest aufführen sollen. Und für die paar Stunden lohnt es erst gar nicht, nach Hause zu fahren. Gibst du uns also etwas zu essen?« »Ist das nun eine Bitte oder ein Befehl?« »Eine Bitte natürlich.« »Dann bin ich beruhigt.« Es wurde ein gemütliches Mahl. Die beiden Backfischchen lachten und schwatzten, fühlten sich ganz wie zu Hause. »Wußtest du schon von dem Fest, Mutz?« fragte Hariet befremdet. »Natürlich, mein Kind. Wir beide stehen schon längst auf der Liste. Ich als Hebe, die all die Göttergatten mit Sekt besäuselt, du als Schützenliesel, die ihr Herz den Göttlichen entgegenhält. Wer ins Schwarze trifft, hat gewonnen. Jeder Schuß eine Mark.« »Herrlich, Mutzilein!« jubelte Dolly. »Darf ich da mitmachen?« »Jawohl. Du sammelst die Pfeile ein, die von den forschen Schützen verschossen werden und scheffelst außerdem noch das Geld.« »Und ich, Tante Gina?« »Du reichst mir die Sektgläser zu, kleine Dietz. Denn ich fürchte, daß es an meinem Stand so turbulent zugehen wird, daß mir keine Zeit bleibt, selbst nach den Gläsern zu greifen.« Und so war es tatsächlich. Denn der Stand war stets belagert, an dem die charmante Frau das prickelnde Naß ausschenkte, so charmant, wie sie das ganze Leben anpackte. Sie trug beileibe kein phantastisches Gewand, sondern ein
schlichtes Kleid und wirkte gerade deshalb so raffiniert elegant. Das dunkle Haar war wie stets glatt zurückgekämmt, das Monokel blitzte. Tatsächlich, diese Frau war bestimmt nur einmalig in ihrer Art. Sie bezauberte immer noch, trotz ihrer fünfzig Jahre. Und der kleine Boy, der ihr zur Hand ging, war einfach süß in dem hellroten Anzug mit den blanken Knöpfen. Keck saß die runde Mütze auf dem Lockenköpfchen, die dunklen Augen strahlten, wenn man dem reizenden Bengelchen schmunzelnd ein Trinkgeld in sein Händchen drückte. Gleichfalls tat es das Nebenstück, das einige Stände weiter dem Schützenliesel zur Hand ging. Zwar pflegt eine solche immer schmuck zu sein, doch kaum eines hatte bisher so einen Zauber ausgestrahlt wie dieses Lieselchen. Die Tracht war durchaus schlicht, wie es unter der Regie der Mutz auch nicht anders sein konnte – aber sie hatte es in sich. »Der Balg ist einfach traust«, schmunzelte ein weißhaariger Herr, der an der Seite des Barons von Eggeroth langsam durch den Saal bummelte. »Da so dreißig Jahre jünger sein! Den Deubel noch eins, da würde man die Weste glattziehen und forsch tun.« »Das besorgen schon andere genug, Exzellenz«, entgegnete Ulf trocken. »Der Stand ist ja so belagert, daß man schon Schlange stehen muß, um zum Schuß zu kommen.« »Ulf!« rief da eine helle Stimme von dem Stand her. »Ulf, geh doch nicht vorüber! Bitte, meine Herren, machen Sie meinem Bruder Platz – er schießt doch so gut!« Lachend kam man dem Wunsch des reizenden Boys nach, und energisch wurde der Zögernde von seinem schmunzelnden Begleiter an den Stand geschoben. »Sie wollen also schießen, mein Herr?« fragte Schützenliesel in geschäftsmäßigem Ton. »Jeder Schuß eine Mark. Wenn Sie jedoch dreimal hintereinander ins Schwarze treffen, brauchen Sie nichts zu zahlen und erhalten noch als Hauptpreis dieses rotleuchtende Herz.«
»Der entzückende Racker versteht sein Geschäft«, raunte Exzellenz dem Mann zu, der in aller Gelassenheit das Gewehr nahm, das eine zarte Hand ihm reichte. Dann nahm sein scharfes Jägerauge erst einmal Korn auf das große Herz, das rotleuchtend inmitten der Bude hing, mit schwarzen Kreisen und dem runden Zentrum versehen. Und schwarz waren auch die Lettern, die direkt aufreizend forderten: Schieß Schützenliesel dreimal mitten ins Herz! »Gemacht«, lächelte der Freiherr da sein aufreizendes Lächeln, das nicht jeder vertragen konnte. »Also schießen wir.« »Na, na, man nicht so großspurig, Herr Baron«, meinte einer der Herren spöttisch. »Ich bin gewiß ein geschickter Schütze, habe es aber immer nur auf einen Schuß ins Schwarze gebracht. Das Herz wackelt nämlich ganz gewaltig!« »Ruhig wackeln lassen, Herr Forstassessor«, kam es seelenruhig zurück. »Man ist ja schließlich an wackelnde Herzen gewöhnt.« Damit hob er langsam das Gewehr an die Backe, prüfte scharf Kimme und Korn – und päng, saß der Schuß mitten im Schwarzen. »Herrlich!« rief das Schwesterlein des geschickten Schützen. »Noch zwei Schuß, Ulf, blamier uns bitte nicht!« Und es saß der zweite Schuß – und auch der dritte. Bejubelt von den Gönnern, süßsauer hingenommen von den Neidern. Deubel noch eins, dieser arrogante Baron verstand tatsächlich zu schießen. Schützenliesel schenkte ihm dafür ein gnädiges Lächeln, während Exzellenz, die gefürchtete und maßgebende Persönlichkeit der Gesellschaft, begeistert rief: »Jetzt herausgerückt mit dem Herzen, Schützenliesel! Es hat seinen Meister gefunden!« Er war auch derjenige, der das rote, stanniolglitzernde Herz dem sich sträubenden Freiherrn um den Hals hängte. Dann las er schmunzelnd, was da schwarz auf weiß geschrieben
stand: »O Mägdelein, nimm dich in acht, ein Meisterschuß nie Freude macht. Ob er da kommt aus dem Gewehr, aus Amors Pfeil – es hat sein Teil… Huch, gnädiges Fräulein, wie grausig! Finden Sie nicht auch?« »Warum denn, Exzellenz?« hob sich hochmütig das feine Naschen. »Das Wort ist tot, der Glaube macht lebendig, sagt Schiller.« »Donnerwetter, Kleine, Sie verstehen zu verblüffen«, strich Exzellenz schmunzelnd das weiße Bärtchen. »Also kann in einem schönen Körper auch ein schöner Geist stecken.« Nun brandete ein kaum endenwollender Jubel los, der bis zu dem Stand drang, wo Hebe Regina augenblicklich eine kurze Atempause beschieden war. Aufgeregt fragte der niedliche Boy: »Was mag denn da los sein, Tante Gina?« »Daß da ein guter Schütze dreimal hintereinander ins Schwarze getroffen hat«, kam es trocken zurück. »Denn er trägt ja das Herz am Bande.« »Meinst du, Ulf, Tantchen?« »Ja, den meine ich.« Diejenigen, die alles das verkauft hatten, was im Stand gelagert war, hatten damit ihre Ehrenpflicht erfüllt und konnten sozusagen auf den Lorbeeren ausruhen. Zu denen gehörten mal in erster Linie Regina und ihre Tochter – denn die Sektflaschen standen leer, die Pfeile waren verschossen. Und der Erlös? Eine erkleckliche Summe, die man dem Vorstand des Komitees abliefern konnte. Es waren sogar Hundertmärkscheine darunter, die sich in der Kasse Reginas sowie in der Hariets vorfanden. Und einen von denen hatte der Baron von Eggeroth gestiftet. Einen für ein Glas Sekt, den anderen für die drei Schüsse ins Schwarze, die von Rechts wegen frei waren. Aber der Mann war nun so, was man mit noblesse oblige bezeichnen konnte. Er ließ sich nichts schenken, er gab lieber. »Meine Damen, ich muß schon sagen, daß Sie selbst meine
hochgeschraubten Erwartungen übertroffen haben«, lobte die würdige Präsidentin des Komitees, nachdem sie das abgelieferte Geld gezählt hatte. »Ich glaube, alle anderen Stände zusammengenommen haben nicht soviel eingebracht, wie einer von Ihnen. Ich danke Ihnen im Namen der Bedürftigen, denen der Erlös zukommen soll.« »Huh, das war feierlich«, lachte Regina, als sie das Töchterlein mit sich zog, dorthin, wo ein Tisch hinter Blattpflanzen verdeckt stand. »Nun wollen wir uns mal diese Flasche Sekt zu Gemüte führen. Sie ist nicht etwa aus dem Bestand geklaut, den ich zu verwalten hatte, sondern beim Ober bestellt und ehrlich bezahlt.« Wie auf ein Stichwort erschien dieser, ließ mit dem Geschick des Vielgeübten den Pfropfen knallen und schenkte das perlende Naß in die Gläser. »Wohl bekomm’s den Damen.« Weg war der Eilige, und Regina trank zuerst einmal das Glas in einem Zug leer. »Oh, das tut gut, das frischt die erlahmten Kräfte auf. Man ist eben schon zu alt für solche Mätzchen.« »Mach dich doch nicht niedlich, Mutz«, lachte Hariet hellauf. »Du und alt, da lachen ja alle Hühner.« »Wenn sie dabei viel Eier legen, dann laß sie ruhig lachen. Prosit, mein Herzblatt, trinke dir getrost einen Schwips an. Aber sag dann nicht etwa die Wahrheit, ich rate dir gut. Sonst müßtest du ja der Frau Baronin von Eggeroth sagen, daß man um ihren Stand herumging wie die Katze um den heißen Brei.« »Was verkaufte sie denn, Mutz?« »Konfitüren.« »O weh!« »Sag ich auch.« »Und die Baronesse Martina?« »Rosen, mein Kind, Rosen.« »Hat sie diese wenigstens verkauft?« »Kein Gedanke. Die Blumen der Liebe stehen’ da und klagen wie die Rosen in Freiligraths Gedicht >Der Blumen
Rache<: Daß wir in der bunten Scherbe welken, schmachten, sterben müssen.« »Oh, Mutz, du hast ja schon einen Schwips!« wollte das Töchterlein sich ausschütten vor Lachen – und verriet mit diesem hellklingenden, köstlich frohen Lachen das Versteck. Denn schon lugte über die Blätterwand ein reizendes Gesichtchen, und dann wurde auch das ganze Menschlein sichtbar, das den sich sträubenden Bruder mit sich zog. »Ulf, sei doch nicht so störrisch!« »Finde ich auch«, bestätigte Onkel Ludwig, der mit Gattin und Töchterlein auftauchte, hinterher Exzellenz mit der feinen, zarten Gattin und dann – o Schreck laß nach, die gnädige Baronin mit der verlegen lächelnden Martina. Nun, was sollte man machen? Am besten gute Miene zum bösen Spiel. Und da elf Personen an dem Tisch nicht Platz hatten, wurde ein zweiter herangestellt, und man placierte sich vergnügt. »Herr Ober, Sekt!« kommandierte Exzellenz, als stände sie vor einem Regiment Soldaten. »Aber nicht nur eine Flasche, dann bekäme ja jeder nur einen Fingerhut voll. Sagen wir mal zuerst vier!« Der Herr Ober enteilte – und Exzellenz strich sich unternehmungslustig das weiße Bärtchen. »Na, denn wollen wir mal vergnügt in die Kanne steigen. Doch wie ich sehe, hat unsere charmante Frau Hermeran nebst Töchterlein schon eine Flasche Sekt intus. Natürlich macht ‘das den Damen nichts aus – so wie sie gebaut sind.« »Soll das etwa eine Schmeichelei sein, Exzellenz?« »Doch nur, gnädige Frau. Ich bin immer galant und – verliebt. Denn, um mit unserem guten Wagner zu sprechen: Der Frost hat mir bereifet des Hauses Dach, doch warm ist’s mir geblieben im Wohngemach«, zeigte er auf Kopf und Herz, was allgemeines Schmunzeln hervorrief. Nur die Frau Baronin, die schmunzelte nie, die lächelte nur in allen Nuancen – von der verbindlichsten Liebenswürdigkeit, der Scheinheiligkeit, bis zur Bosheit
und Niedertracht. Doch jetzt war das Lächeln entschieden pikiert. Was fiel denn diesen Exzellenzen ein, die in der Gesellschaftsordnung gleich hinter ihr rangierten, diese Forschersfrau so zu becouren! Sie waren doch sonst so wählerisch in ihrem Verkehr, schlossen sich nur schwer an jemand an. Und taten nun hier mit den beiden Frauen so vertraut, während man sie, die erste Dame der Gesellschaft, gar nicht beachtete. Impertinent, einfach impertinent! Es gab eben keine wohlerzogenen Menschen mehr in der heutigen Zeit. Und diese Hariet, was bildete die sich eigentlich ein. Am liebsten hätte die Frau Baronin diese arrogante Person an die Zeit erinnert, als sie noch Zofendienste bei ihr verrichtete. Aber das wagte sie denn doch nicht. Denn die Zunge dieser Forschersfrau konnte verflixt spitz und scharf sein – ebenso wie die Zunge der in der Gesellschaft gefürchteten Exzellenz. Allein, etwas mußte doch geschehen. Die Frau Baronin konnte doch nicht dasitzen und sich behandeln lassen, als wäre sie ein Nichts. Mußte sich unbedingt in den Vordergrund drängen. Und das glaubte sie zu tun, indem sie mal zuerst ihre Tochter Dolly, die sich ja am wenigsten wehren konnte von allen, sozusagen aufs Korn nahm. »Dolly, ich verbiete dir, Sekt zu trinken«, drang die unangenehme Stimme scharf und vernehmlich in das frohe Lachen hinein. »Du gehst noch zur Schule, vergiß das nicht. Wie siehst du überhaupt aus in diesem geschmacklosen Anzug, und was hast du denn da auf der Brust hängen?« »Das ist ein Herz, Mama«, sprach die Kleine verlegen in die jetzt so peinlich anmutende Stille hinein. »Ulf schenkte es mir.« »Und woher hat er es?« »Sich als Preis erschossen.«
»Ja, kannst du denn überhaupt schießen, mein Sohn?« fragte die Frau Mama so erstaunt, als wäre sie dahinter gekommen, daß er Seil tanzte. Sie machte sich so lächerlich mit dieser Frage, daß selbst Martina vor Verlegenheit errötete, während die anderen heldenhaft mit dem Lachen kämpften. Das Monokel in Reginas Auge blitzte nur so. Es blieb dem Freiherrn erspart, eine Antwort zu geben, weil jetzt die Musik einsetzte und zum Tanz rief. Und da sich vor Regina Exzellenz verneigte, Ludwig vor dessen Gattin, tat Ulf es bei der Mutter, so daß Alice mit den vier Mädchen zurückblieb, doch auch sie wurden weggeholt, bis auf Martina. »Ja ist denn das die Möglichkeit?« empörte sich die Frau Mama, als sie in Begleitung des Sohnes an den Tisch zurückkehrte. »Du sitzt, mein Liebes? Wo sind denn die anderen?« »Sie wurden zum Tanz geholt.« »Auch Dolly?« »Ja.« »Das grüne Ding?! Na, da werde ich doch wohl.« »Mama, ich bitte dich, laß Dolly gewähren«, fiel der Sohn hastig ein. »Es tanzen heute noch mehr so blutjunge Mädchen, alle, die beim Theaterspiel mitwirkten.« »Lax, mein Sohn, durchaus lax ist deine Auffassung. Kein Wunder bei dem Umgang mit diesen Banausen…« »Ich höre immer Banausen«, lachte Regina, die am Arm der Exzellenz plötzlich auftauchte und die Bemerkung der Baronin gehört hatte, ebenso wie Ludwig mit seiner Dame. »Wo gibt’s denn hier Banausen, meine Herrschaften?« »Oh, die gibt’s überall, meine Gnädigste«, erwiderte Exzellenz trocken. »Selbst in eine illustre Gesellschaft können sich so unangenehme Menschen einschleichen – und das ist schade.« Nun, diese Abfuhr mußte selbst die nicht sehr feinfühlige Baronin verstehen. Und da es ihr ungemütlich zu werden begann unter diesen Menschen, die so etwas wie ein eisiger Hauch umwehte, wandte sie sich an Martina, die wie
gewöhnlich stumm und steif dasaß. »Du siehst so blaß aus, mein Kind. Ist dir nicht gut?« »Nein, mir ist tatsächlich nicht gut«, kam die Antwort so, wie Mamachen sie erwartete. »Dann komm, mein Liebling, es ist hier wirklich sehr heiß. Suchen wir uns ein kühleres Plätzchen. Die Herrschaften entschuldigen.« O ja, sie entschuldigten – und zwar sehr gern. Ihnen tat nur der Sohn dieser impertinenten Dame leid, der so den Eindruck machte, als ob er sich seiner Mutter – schämte. Und als Dolly den Bruder zum Tanz mit sich zog, sprach Exzellenz in die peinliche Stille hinein: »Armer Kerl! Er kann einen tatsächlich bis in die Seele hinein erbarmen.« »Das kann er«, bestätigte Ludwig. »Er ist ein durchaus vornehmer Charakter, und ihm ist daher nicht gegeben, seiner Mutter gegenüber so aufzutreten, wie sie es verdiente. Aber auch Martina tut mir leid, die unter der Fuchtel dieser despotischen Frau ja gar nicht anders werden konnte, als sie ist. Die darf ja gar keinen eigenen Willen haben. Da müßte sich ein Mann finden, der sich der Unterdrückten annimmt und die Schwiegermutter zum roten Kuckuck jagt.« »Der Mann müßte aber Mut haben«, lachte Regina, konnte jedoch nicht weitersprechen, weil die Geschwister an den Tisch traten. »Herrlich ist das!« zappelte Dolly vor Aufregung. »Tanzen möchte ich, immerzu tanzen, mit wem, ist mir egal. Komm, Onkel Ludwig.« »Na, das ist nach deiner letzten Beteuerung gerade kein Kompliment für mich«, schmunzelte der Mann und ließ sich gutwillig von der tanzlustigen Nichte mitziehen. Vor Hariet jedoch verneigte sich der Baron. »Ein Elitepaar«, zwinkerte Exzellenz ihnen nach. »Meinen Sie nicht auch, gnädige Frau?« »Ich meine gar nichts«, versetzte Regina trocken und folgte dann dem Herrn, der sie zum Tanz holte. Es war ein Tango,
der gespielt wurde, und der elegant wirken kann, wenn er richtig getanzt wird. Und Hariet Hermeran tanzte ihn mit Grazie. Denn es war ein guter Tanzlehrer, den Regina ins Haus kommen ließ, damit er ihrem Töchterlein, das ja bisher noch nie getanzt, die Kunst Terpsichores erschloß. Und es hatte sich gelohnt. Die in jeder Beziehung so wundersam veränderte Hariet beherrschte jetzt auch mit Sicherheit das Parkett. Aber auch ihr Partner galt überall als eleganter Tänzer. Bei dem Paar saß jeder Schritt, jeder Takt. Der Mann spürte seine grazile Partnerin kaum im Arm, hielt ganz korrekt die vorgeschriebene Distanz. Und dabei sang die Geige doch so süß, das Cello klagte. Wenn Hariet einmal rasch den Blick hob, sah sie dicht über sich das harte, rassige Männerantlitz. Die Augen glitzerten darin wie bläuliches Eis, die schmalen Lippen lagen fest aufeinander. Denn es fiel dem Mann gar nicht ein, seine Partnerin zu unterhalten. Was sollte er auch sprechen? Sie hätte ja doch nur hochmütig geantwortet, wie das so ihm gegenüber ihre Art war. Mochten andere Männer um die schöne Erbtochter herumscharwenzeln, ihm war das nicht gegeben. Er konnte wohl in zarter, ritterlicher Weise um eine Frau werben – aber niemals ihre Gunst erbetteln. Die Baronin von Eggeroth mußte endlich einsehen, daß sie sich in der Gesellschaft nicht mehr behaupten konnte. Man lud sie zwar ein, begegnete ihr aber so kühl, daß sie sich empört dagegen wehrte und damit einen Fauxpas nach dem anderen beging. Ihr größter Groll jedoch war, daß die beiden Damen aus dem Schlößchen in der Gesellschaft direkt Furore machten, daß die heiratslustigen Herren wie toll hinter der jüngeren her waren. Gott ja, sie sah wohl ganz nett aus, war aber keineswegs mit Martina zu vergleichen. Und damit hatte die Baronin einmal recht. Denn Martina, nie eine Schönheit gewesen, begann bereits zu altern,
mehr, als ihre siebenundzwanzig Jahre bedingten. Das lag daran, weil sie stets verdrießlich war und sich in der Abgeschlossenheit des Witwenhauses langweilte. Daß man bei den Geselligkeiten gewissermaßen im Bogen um sie herumging. An einen Freier war überhaupt nicht zu denken, und danach sehnte sich schließlich jedes Mädchen. Hauptsächlich dann, wenn es sich langsam den Dreißig nähert. »Mama, ich halte es hier nicht mehr aus«, klagte Martina weinend, als man nach einem Ball nach Hause zurückkehrte. »Ich bin doch überall nur Mauerblümchen. Laß uns auf Reisen gehen, vielleicht finde ich da endlich einen Mann.« Das leuchtete der Frau Mama ein. Einen Mann fand ihr >liebes schönes Kind< unter den >Banausen< hier wirklich nicht, für die war es allemal zu schade. Außerdem behagte ihr das Leben im Witwenhaus absolut nicht, zumal man sich allein bedienen mußte. Denn die alte, halbtaube Frau, die man mit Geld und guten Worten herbekam, verrichtete nur die notwendigsten Arbeiten in Küche und Haus. Wenn man zur Stadt fahren wollte – und das wollte man oft – mußte man immer wegen des Autos im Schloß anrufen. Und dann waren sie noch nicht einmal immer da, selbst nicht der kleine Wagen. Ach, man führte schon ein elendes Leben in der Verbannung. Daß sie allein die Schuld an dieser Verbannung trug, fiel der selbstherrlichen Dame natürlich nicht ein. Sie hätte schön warm und weich im Schloß sitzen können, geachtet und geliebt von ihren Kindern – wenn sie nicht so hochfahrend und herrschsüchtig gewesen wäre. Aber das war sie doch nicht, Gott bewahre! Das war nur ihr »entarteter« Sohn. Also packte man im Witwenhaus die Koffer, reiste ab – und tat keinem damit weh. Im Gegenteil, die »mißratene« Jüngste und der »entartete« Sohn atmeten wie erlöst auf, und in der Gesellschaft vermißte niemand die impertinente
Dame und ihren »Schatten«, wie man Martina bezeichnete. Indes sauste rastlos die Zeit dahin – und die Menschen sausten mit. In der Gesellschaft hatte man den Winter gut überstanden, hatte Feste gefeiert, bei denen die Damen aus dem Schlößchen niemals fehlten. Und auch Baron von Eggeroth fehlte nicht. Er dachte gar nicht daran* zum Einsiedler zu werden, weil er einer hochmütigen jungen Dame auf Schritt und Tritt begegnete. Ob es da im Ballsaal war, auf Gesellschaften, Konzert, Theater und Kino, Ski, Schlittschuhlauf, vergnüglichen Schlittenfahrten und anderes mehr, immer und überall traf man zusammen. Selbst später bei den Ritten konnte eine Begegnung nicht ausbleiben, weil das Schlößchen ja nur zwei Kilometer von Herrnhagen entfernt lag und so nur eine Enklave bildete in dem Bereich des Barons von Eggeroth. Reiten hatte Hariet Hermeran auch erst lernen müssen wie alles andere, wobei ihr die Mutz, die ja sozusagen auf dem Sattel geboren war, dem Töchterlein eine unnachsichtige Lehrmeisterin wurde. Folge davon war, daß dieses Töchterlein sich bald mit Nonchalance im Sattel behauptete, den ein rassiges Pferd nicht gerade sanftmütig trug. Hariet ritt auch selten ohne die geliebte Mutz, der sie wie eine Klette anhing. Doch wenn es einmal geschah, konnte sie versichert sein, daß sie dem Baron von Eggeroth begegnete. Zuerst ärgerte sie sich darüber, doch dann betrachtete sie es ganz einfach als einen Witz des Zufalls. Es war an einem heißen Tag im Juli. Ha riet befand sich auf der Terrasse des Schlößchens ausnahmsweise allein; denn die Mutz war zum Zahnarzt gegangen. Gar nicht schön ist das hier ohne meine Mutz – dachte das Mädchen Hariet, dabei im Schaukelstuhl wippend. Ohne sie ist das Schlößchen öd und leer. Sie ist die Seele vom Ganzen, ein Stern, um den sich die Trabanten scharen, der Pol, um den sich alles dreht. Du bist eben du, meine liebe geliebte Mutz, nichts weniger und nichts mehr. Verträumt ließ Hariet ihre Augen über die Rasenfläche
schweifen, die nicht groß aber peinlichst gepflegt war. Blumen blühten auf den Rabatten in verschwenderischer Fülle. Verströmten ihren süßen Duft mit dem der Lindenblüten zusammen. In den Bäumen rauschte es leise, Vöglein zwitscherten darin, und über allem lag tiefer Friede. Und inmitten all dieser Herrlichkeit ringsum ertappte die jetzt so verwöhnte Hariet sich bei dem Gedanken: Bin ich eigentlich glücklich? Doch kaum hatte sie das gedacht, als sie auch schon entsetzt auffuhr. Nicht weiter denken, um Gottes willen! Das wäre ja eine schreiende Ungerechtigkeit gegen ihre Mutz und gegen das Schicksal, das es jetzt doch so gnädig mit ihr meinte. »Pfui, Hariet, schäme dich!« schalt sie sich selber aus, während sie aufsprang. Das kam davon, wenn man so vor sich hin döste. Dann kam man auf die verrücktesten Gedanken. Also sich aufs Pferd geklemmt und bei einem frisch-fröhlichen Ritt die Flausen verjagt. Nicht lange danach ritt sie ab und zwar den Feldrain entlang, der hinter dem Schlößchen begann und zum Wald führte. Da hinein wollte sie nicht, weil die Mutz es ihr verboten hatte, allein durch den Wald zu reiten. Und Hariet wäre es nie eingefallen, ein Gebot dieser so schwärmerisch geliebten Frau jemals zu übertreten. Also ritt sie erst einmal den Rain entlang, wo rechts und links Korn wogte. Somit befand sie sich auf Herrnhagener Gelände, dessen Betreten Unbefugten streng verboten war. Aber sie war nicht unbefugt, da der Freiherr den beiden Damen aus dem Schlößchen gestattete, sich auf seinem Grund und Boden frei zu bewegen. Es war heiß auf dem Feld, unbarmherzig brannte die Julisonne darauf nieder. So leicht Hariet auch gekleidet war, spürte sie dennoch die Hitze und war froh, als sie den Waldrand erreicht hatte, wo die hohen, alten Bäume wenigstens von einer Seite Schatten spendeten. An der anderen hüpfte ein Bach geschwätzig seine Bahn, und
jenseits des Ufers zog sich eine weite Wiese hin, auf der Kühe weideten. Und siehe da, ein Reiter kam der Reiterin entgegen, worüber diese sich gar nicht einmal wunderte. Und da man sich ja nicht so fremd war, daß man mit kurzem Gruß aneinander vorüberreiten konnte, hielt man eben an und grüßte sich. »Es ist heiß«, eröffnete Hariet nicht gerade geistreich die Unterhaltung, und bestätigend kam es zurück: »Ja, es ist heiß.« »Dafür haben wir aber auch Sommer.« »Ja, wir haben Sommer.« Schien es Hariet nur so, oder blitzte es wirklich humorvoll in den Augen des Mannes auf? Darüber nachzudenken blieb ihr jetzt keine Zeit, weil ein brennender Schmerz sie zusammenzucken ließ – und dann noch einer. Erschrocken griff ihre Hand zur Lippe – und da flog sie auf, die böse Wespe, die ja bekanntlich beim Stich den Stachel nicht verliert, sondern lustig drauf losstechen darf. Nun, Hariet war bestimmt nicht zimperlich, das hätte ihre verwegene Mutz sich auch ernstlich verbeten. Aber zwei Wespenstiche hintereinander in die empfindliche Lippe sind immerhin keine Kleinigkeit. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie schwankte im Sattel – und hörte dann wie aus weiter Ferne eine erschrockene Stimme sagen: »Um Gott, gnädiges Fräulein, was ist Ihnen denn geschehen?« »Eine – Wespe – stach – mich.« Schon fühlte sie sich vom Pferd gehoben ‘ und am. Waldesrand in weiches Moos gebettet. Der Mann zog die Jacke aus, rollte sie zusammen und schob sie behutsam unter das eigenwillige Köpfchen, das jetzt so matt dalag. Dann nahm er aus der Satteltasche eine kleine Rasche Kognak, die er immer für alle Fälle mitführte, schraubte das Becherchen ab, füllte es mit der belebenden Flüssigkeit und flößte sie dem Mädchen ein, dessen Unterlippe bereits eine deutliche Schwellung zeigte.
»Trinken Sie nur, gnädiges Fräulein – so ist es recht. Und da man auf einem Beinchen nicht stehen kann, gleich noch so ein Tränklein hinterher.« Nachdem er dieses Samariterwerk vollbracht, begann er mit dem zweiten, indem er zum Bach schritt, sein Taschentuch in die kühle Flut tauchte und dann das nasse Tuch behutsam gegen die geschwollene Lippe drückte. Es war eine ungemein zärtliche Hand, die das tat. Die Augen blickten gar nicht so kühl wie sonst. Und da wußte Hariet plötzlich, warum sie in ihrem jetzt so schönen, verwöhnten Leben nicht so ganz und gar glücklich sein konnte, so aus tiefstem Herzen heraus glücklich. Sie stöhnte auf, und schon war ihr das rassige Männerantlitz ganz nahe. »Tut es denn so arg weh, gnädiges Fräulein?« »Das ist es doch nicht«, winkte sie verächtlich ab. »Das tut schon längst nicht mehr weh. Und im übrigen bin ich eine Zimperliese!« fuhr sie, zornig über sich selbst, in die Höhe. Und ehe er sie daran hindern konnte, stand sie schon, auf den Beinen. »Nun, geht’s?« fragte er jetzt in gewohnt kühlem Ton. »Danke, Herr Baron. Es tut mir leid, daß ich Sie bemühen mußte.« »Bitte sehr, nicht der Rede wert.« Da war es wieder, dieses Lächeln, das sie durchaus nicht leiden konnte, und das sie wiederum so liebte – ach, sie war närrisch! Brüsk wandte sie sich ab, schwang sich in den Sattel, senkte die Gerte zum Gruß und ritt davon, dem Schlößchen zu. Wie erstaunt war sie jedoch, als der Mann sich in aller Seelenruhe an ihrer Seite hielt, als könnte es gar nicht anders sein. Es war ein sehr ungnädiger Blick, der ihn traf, und den er mit einem spöttischen Lächeln quittierte. »Bitte, Herr Baron, ich wünsche nicht, daß Sie sich weiter um mich bemühen«, sagte sie in einem Ton, der direkt beleidigend wirkte.
Es blitzte gefährlich in den Männeraugen auf, die Zähne bissen sich zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten, doch er blieb an ihrer Seite und sagte gelassen: »Ob Sie mich nun bemühen oder nicht, mein ungnädiges Fräulein, darf jetzt keine Rolle spielen. Was ich jetzt tue, ist nichts weiter als – Menschenpflicht.« Sie zuckte zusammen wie unter einem Hieb. Aber es geschah ihr ganz recht, warum wurde sie so beleidigend. Sie wußte doch schon längst, daß dieser Mann sich so etwas nicht bieten ließ, daß er immer mit gleicher Münze heimzahlte. Scheu war der Blick, der zu ihm hinging. Kein Muskel regte sich in dem stolzgeschnittenen Antlitz. Wie harte, blanke Kiesel blitzten die Augen unter den zusammengezogenen Brauen. Das blonde, leichtgewellte Haar lag zwanglos geordnet um den schmalen Kopf, zwischen den prachtvollen Zähnen klemmte die gradlinige Pfeife – es war ein Bild kraftstrotzender, kühner Männlichkeit. Also war dieser erfreuliche Anblick mehr zum Lachen als zum Weinen, und Hariet begriff sich selbst nicht, warum ihr die Tränen kamen, die dieser arrogante Mensch natürlich nicht sehen durfte. Ein leichter Schlag mit der Gerte, das erschrockene Pferd preschte ab – und lustig trabte das andere nebenher. Es waren zwei schneidige Reiter, die vor dem Schlößchen hielten. Schmunzelnd sah Regina, die gerade am Portal stand, ihnen entgegen. Ein Druck auf den Knopf – und langsam öffnete sich das schmiedeeiserne Tor, durch das jedoch nur die Reiterin ritt, während der Reiter seinen Weg fortsetzen wollte. »Hallo, Herr Baron, warum so stolz?« rief Regina ihm nach. »Wollen Sie etwa das Schlößchen mit Nichtachtung strafen?« »Meine Mission ist erfüllt«, kam es knapp zurück. »Mission? Das müssen Sie mir näher erklären. Ergo bemühen Sie sich hierher.« Also blieb dem Mann nichts anderes übrig, als Order zu
parieren. Nachdem Regina ihn begrüßt hatte, fiel ihr Blick auf Hariet, die gerade dem herbeieilenden Faktotum das Pferd übergab. »Ja, was ist denn mit dir geschehen?« fragte sie, entsetzt auf die arg geschwollenen Lippen starrend. »Eine Wespe stach mich.« »Aha«, nickte die Frau, die ja durch ihr bewegtes Reiseleben daran gewöhnt war, blitzschnell zu kombinieren und einen Schreck in Sekundenschnelle zu überwinden. »Da machtest du schlapp und der Herr Baron tauchte als Retter in der Not auf. Stimmt’s?« »Ja.« »Hm. Na, denn komm schon, du kleine Prise, sonst kippst du mir noch aus den Schlorrchen.« Damit umfaßte sie das Mädchen und wandte sich dann dem Mann zu, der, das eine Pferd am Zügel, unschlüssig dastand. »Nehmen Sie das Pferd des Herrn Baron mit, Thimm.« »Verzeihung, gnädige Frau, ich muß leider fort.« »Sie müssen gar nichts, mein lieber Freund. Höchstens sich eine Erfrischung gefallen lassen, als kleinen Dank für Ihren Ritterdienst.« Das klang wie ein Befehl, dem der guterzogene Mann sich nicht widersetzen durfte. So folgte er denn den beiden Damen durch das Haus nach der Terrasse, wo die Mutz ihr Töchterlein im Liegestuhl unterbrachte. Der Diener wurde beordert, eine Schüssel mit Wasser, Tonerde und ein weiches Tuch zu bringen. Als das zur Stelle war, erhielt der Mann den Auftrag, für eine Erfrischung zu sorgen. »So, mein. Kind, jetzt werde ich dich mal verarzten«, lachte Regina. »Siehst reizend aus mit dem Lippchen.« Geschickt mixte sie Wasser und Tonerde, stellte die Schüssel auf einen Hocker, den sie an den Liegestuhl schob, durchfeuchtete das Tuch und legte es auf die Lippen des Mädchens. »Das ist alles, was sich in diesem Fall tun läßt. Mach nicht
so ein klägliches Gesichtchen, du Dummes. Was meinst du wohl, wovon ich in meinem Leben schon gestochen worden bin, doch nie ist es mir dabei an den Kragen gegangen. So – und wir wollen uns mal stärken nach dem Schreck, Herr Baron. Denn was unser guter Jan da bringt, ist ein Zaubertrank für heiße Tage.« Das war es wirklich, dieses eisgekühlte Getränk. Es erfrischte und stillte vorzüglich den Durst. Da man es aus dem Strohhalm sog, konnte Hariet trotz ihrer arg geschwollenen Lippe mithalten. »Und nun erzählen Sie mal, Herr Baron, wie, wo und was?« Er tat’s, und dann bat er, sich verabschieden zu dürfen; denn in der Landwirtschaft wäre jetzt Hochsaison. Als er gegangen war^ weinte Hariet heiß auf. Doch davon ließ sich die erfahrene Frau nicht aus der Fassung bringen. Sie streichelte zärtlich das gleißende Köpfchen und sagte leise: »Das ist die Reaktion, mein Kind.« Was sie damit meinte, blieb ungeklärt. Im September erhielt Baron von Eggeroth einen Brief, der ihn teils freute, teils beunruhigte. Denn seine Schwester Martina schrieb ihm, daß sie in einer Woche zu heiraten gedächte. Der Bruder möchte schon das ihr zustehende Geld bereithalten. Wenn er Lust hätte, könnte er an ihrer Hochzeit teilnehmen, die allerdings nur klein gefeiert würde. »Du zahlst ihr das Geld natürlich erst dann aus, wenn sie verheiratet ist«, erklärte Onkel Ludwig, den der Neffe um Rat fragte. »Am besten ist, du fährst zu der angekündigten Hochzeit hin, damit du weißt, was überhaupt los ist.« Das tat Ulf denn auch, Dolly, die er mitnehmen wollte, weigerte sich so entschieden, daß auch hier der Onkel eingriff. »Laß sie hier, Junge, vielleicht ist das ganz gut. Ich kann mir nicht helfen, mir kommt da etwas mulmig vor. Schon daß Martina an dich schrieb und nicht deine Mutter, gibt mir
zu denken.« »Mir auch, Onkel Ludwig, nun, ich werde ja sehen.« Und er sah – und staunte. Nicht über seinen Schwager, der gefiel ihm eigentlich ganz gut, sondern über seine Schwester. Die erklärte ihm nämlich kurz und bündig, daß sie keine Lust mehr hätte, sich immer weiter von der Mama gängeln zu lassen. Sie hätte schließlich wie jedes andere Mädchen Anspruch auf ein Eheglück. Doch das würde ihr nie werden, solange die Mama sie unter ihrer Fuchtel hätte. Damit zog sie ab – und der Bruder schaute nicht gerade geistreich hinter ihr drein. »Ja, mein lieber Baron, so ist das nun einmal«, lachte Herr Franz Frischling, in dessen Arbeitszimmer man saß. »Die Martina mußte sich nun mal entschließen, entweder für ihre Mutter oder für mich. Wie Sie sehen, hat sie letzteres getan. Sonst könnte ich sie ja gar nicht heiraten. Denn Ihre Mutter – darf ich offen sprechen, Herr Baron?« »Bitte.« »Danke. Ihre Mutter ist nämlich ein Frauentyp, vor dem die Männer Reißaus nehmen. Und sich so was auf den Hals laden, hieße dem Teufel Quartier geben. Und das kann ich nicht, weil ich viel unterwegs bin. Da muß ich mein Haus immer gut bestellt wissen. Und das wird die Martina tun, sie hat das Zeug dazu. Sie hat einen guten Namen – und den muß die Repräsentantin meines Hauses haben. Denn auf so was sieht die Menschheit auch heute noch. Schauen Sie, Herr Baron, mein Vater war ein einfacher Schlosser, und wenn Sie das Werk ansehen, das er geschaffen hat, werden Sie bestimmt sagen: Hut ab vor dem Mann! Und daß er seinem Milchen treu blieb, das er als armer Schlucker heiratete, ist bestimmt aller Ehren wert. Aber das Milchen war keine Repräsentantin – muß ich noch weiter sprechen?« »Nein, Herr Frischling, ich bin durchaus im Bilde. Aber eines möchte ich Ihnen zu bedenken geben: Meine Schwester Martina ist nie von dem Rockzipfel der sie völlig beherrschenden Mutter losgekommen. Ob sie sich nun
ohne diese behaupten kann, ist fraglich.« »Na ja, wagen wir eben dieses Experiment. Wenn es schiefgehen sollte, ist es ja kein Hals- und Beinbruch, dann geht man eben wieder auseinander.« Auch eine Auffassung – dachte Ulf, dabei den Mann betrachtend, der von der Ehe sprach wie von einem Geschäft. Er war groß und breit, mit einem frischen, ein wenig derben Gesicht, sehr hellen blauen Augen und mittelblonden, ziemlich kurz geschnittenem Haar, dazu gut angezogen. Und was der Baron jetzt dachte, sprach sein Gegenüber offen aus: »Sie werden sich sicherlich wundern, Herr Baron, daß ich gerade Ihre Schwester zur Frau begehre. Aber wie schon gesagt, ich brauche für mein Haus eine Repräsentantin mit einem guten Namen. Und dann muß mir meine Frau mit den Kinkerlitzchen vom Hals bleiben, auf die die Weibsen ja so versessen sind. Immer so mit Schnuckichen und Puckichen, mit hundert Küßchen in der Stunde und allerlei süßem Gesäusel mehr, nein, dafür bin ich nicht zu haben. Und ich glaube, daß Martina mich damit verschonen wird. Oder sind Sie anderer Ansicht, Herr Baron?« »Ja, Herr Frischling, da muß ich Ihnen zu meiner Beschämung gestehen, daß ich gar keine rechte Meinung über meine Schwester habe. Denn sie war von jeher so sehr das Geschöpf meiner Mutter, daß man nun wirklich nicht sagen kann, wie sie sich ohne diese Gängelei benehmen wird. Wie lange kennen Sie Martina denn schon?« »So ungefähr sechs Wochen. Ich war überarbeitet und mußte ausspannen, und ausgerechnet hielt der Arzt so ein mondänes Dings von Bad für das Gegebene. Na ja, da lernte ich eben Martina kennen. Zuerst gefiel sie mir gar nicht. Aber als ich sie einige Male ohne die Frau Mama erwischte, mußte ich erkennen, daß sie gar nicht so übel ist. Wir sprachen uns aus, und als Sie immer wieder betonte, wie über ihr die Gängelei der Mutter wäre, entschloß ich mich, sie zu heiraten ohne Schwiegermütter,
das war die Bedingung, die ich stellte.« »Nun, dann wäre ja alles geklärt, Herr Frischling. Wie stehen Sie sonst zu meiner Mutter?« »Gar nicht. Ich halte sie mir vom Hals.« »Weiß sie, daß Sie ihr nach der Hochzeit das Haus verschließen werden?« »Nein, die Zeterei wollte ich mir ersparen. Ich werde sie einfach vor die vollendete Tatsache stellen.« So geschah es denn auch. Was sich dabei abgespielt hatte, wußte Ulf nicht, weil er gleich nach der Trauung des jungen Paares abgereist war: Er erhielt nur einen Brief von der Mutter, in dem diese erklärte, daß sie jetzt keine Tochter Martina mehr hätte. Sie wäre das undankbarste, gefühlloseste Geschöpf unter der Sonne und ihr Mann, dieser Schlosser, ein ganz ordinärer Flegel. Sie weile jetzt in einem Bad, um ihre vollständig zerrütteten Nerven auszukurieren. »Na, da muß es ja ziemlich heiß hergegangen sein«, schmunzelte Onkel Ludwig, der durch den Neffen vollkommen im Bilde war. »Denn so wie du mir den Mann geschildert hast, fackelt der nicht viel. Hoffentlich wird Martina sich mit ihm verstehen.« O doch, sie tat es. Führte mit ihm sogar eine ganz gute Ehe. Ihr war ja die Hauptsache, daß sie sich alles das leisten konnte, was ihr Herz begehrte, und er war zufrieden, daß sie ihn mit Gefühlsduseleien in -Ruhe ließ. Und eines Tages tauchte dann auch wieder die Frau Baronin in Herrnhagen auf und zwar in Gesellschaft gleichgesinnter Seelen. Zwei Damen, die sich freuten, im Witwenhaus ein gutes Unterkommen zu finden, denn ihre Rente betrug nicht gerade viel. Aber soviel immerhin, daß sie der Baronin nicht auf der Tasche zu liegen brauchten, diese altjüngferlichen Schwestern, bei denen ein Mensch ohne Titel ein untergeordnetes Wesen war. Es fand sich sogar ein Ehepaar, das die drei Damen betreute. Und da der Mann den Führerschein besaß, wurde ein Auto angeschafft, von dem man ausgiebigst Gebrauch
machte. Jedenfalls war die Frau Baronin jetzt bestens untergebracht, worüber ihre beiden Kinder im Schloß nicht wenig froh waren. Unentwegt raste die Zeit dahin, und es kam wieder einmal der zwölfte November. Draußen regnete es und stürmte, doch im Schlößchen war es mollig warm. Einsilbig und verträumt saß Hariet da und merkte gar nicht, daß die Augen der Mutz sie immer wieder aufmerksam forschend streiften. Das Mädchen gefiel ihr nicht. Aber nicht etwa, weil es sich irgend etwas zuschulden kommen ließ. Im Gegenteil, die Kleine war reizend in ihrer Art, immer zärtlich bemüht um die Mutz, heiter und vergnügt. Und doch… »Gehen wir schlafen«, sprach Regina in die Stille hinein. »Denn morgen geht es heiß her, wozu wir Kräfte sammeln müssen. So viele Menschen abfüttern und vergnügen zu müssen, strengt die Gastgeber immer an.« »Muß das überhaupt sein, Mutz? Können wir meinen Geburtstag nicht in beschaulicher Ruhe verleben?« »Nein, mein Kind, das können wir nicht. Wir leben nun mal in dieser Gesellschaft und müssen dem Rechnung tragen. Außerdem solltest du dich schämen, mit deinen dreiundzwanzig Jahren, die du morgen feiern wirst, schon zu resignieren. Sieh mich an, die ich fast dreißig Jahre älter bin als du. Ich finde mich in jeder Wirbelei zurecht, weil ich eben mitwirbele.« »Dafür bist du ja auch einmalig, mein Mutzilein«, kam es stolz und sehr zärtlich zurück. »Du bist mein Vorbild, mein Ideal.« »Erbarm dich, Madchen, und hör auf!« hob Regina beschwörend die Hände. »Sentimentalitäten stehen dir nicht – und mir schon gar nicht. Geh lieber schlafen und sei morgen wieder mein herzfrohes Vögelein.« »Nein, Mutz, ich möchte musizieren.« »Dann tu’s, mein Herz, aber verliere dich nicht gar zu sehr
in Liebesliedern.« »Liebeslieder? Wie kommst du denn darauf?« »Nun, ich meinte nur so. Denn: Lieb ist Wunder, Lieb ist Gnade, die wie der Tau vom Himmel fällt – sagt Geibel in seinem Minnelied. Daher spiel mir eins vor.« »Also doch«, lachte Hariet, aber das Lachen klang nicht ganz echt. »Jetzt gerade laß ich die Minne sausen, du liebste aller Spottdrosseln und spiele Frühlingslieder…« »Die von der Minne nicht zu trennen sind.« »Ach, Mutz, du bist mir ja doch über.« Damit setzte Hariet sich an den Flügel, spielte und sang, was ihr gerade in den Sinn kam. Aber was sie auch beginnen mochte, es sprach alles von Liebe – ob es da eine Arie war oder ein Volkslied. Es war eine Lust, diesem kleinen Musikgenie zuzuhören. Vergnügt brummte Regina die Weisen mit – bis sie dann aufhorchte und verschmitzt in sich hineinlachte. Denn jetzt klang etwas auf, ganz süß und leise, fast wie ein Gebet: Ich trage meine Minne, vor Wonne stumm, im Herzen und im Sinne, mit mir herum. Ach, daß ich dich gefunden, du mein liebes Kind, das freut mich alle Tage, die mir beschieden sind. Klopften da nicht Tränen in der herzwarmen Stimme mit? Die Menschenkennerin Regina hörte sie jedenfalls heraus und unterbrach die holde Sängerin absichtlich burschikos: »Laß es genug sein des grausamen Spiels, Kleines. Mein Bettzipfel Winkt ganz gewaltig.« So trennte man sich herzlich zur guten Nacht. Und da zog die Mutz, die so viel Herz und Gemüt besaß wie selten eine Frau, das Mädchen in die Arme, das sie mehr liebte als alles auf der Welt. »Hör zu, mein Ettekind, es tut nicht gut, seine Minne vor Wonne stumm in sich zu tragen. Sie darf ruhig ein bißchen Krach machen.« Damit schob sie das verdutzte Mädchen ab, das sich erst
gar nicht Mühe gab, über diese seltsamen Worte nachzudenken. Als sie später in ihrem luxuriösen Bett lag, sah sie nach der Uhr. Fünf Minuten noch, dann wurde sie dreiundzwanzig Jahre. Und was hatten sie ihr gebracht? Einundzwanzig Jahre lang ein echtes Aschenputteldasein voll Einsamkeit und Entbehrung. Danach ein Jahr in einem Dienstverhältnis voller Demütigungen aller Art – und dann ein Jahr voller Glanz und Verwöhnung, voll echter, wahrer Mutterliebe. Und doch, etwas fehlte in diesem Leben. Etwas, das wie der Ton einer Äolsharfe war, so zart und süß. Vom Turm des Schlößchens schlug die Uhr, klangvoll und tief. Da falteten sich zwei zarte Hände, und ein junger Mund flehte inbrünstig: »Lieber Gott, sei mir nicht böse, daß ich so undankbar bin. Strafe mich nicht dafür – bitte! – obwohl ich es verdient hätte. Sei mir gnädig – so ganz gnädig und laß mich so ganz aus tiefstem Herzen glücklich sein.« Das Gebet verstummte, es war genau zwei Minuten nach zwölf. Und zum dritten Male trat die Fee in den Traum des jungen Menschenkindes. Sie lächelte lieb und mild. »Auch dein dritter Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet. Du sollst glücklich werden – so ganz von Herzen glücklich. Danke Gott dafür, daß er dich so gütig geführt. Werde nie hoffärtig in deinem Glück, bleibe Gott demütig für alle Zeit. Dann wird dein Leben ein köstliches sein, gesegnet durch die Güte des Höchsten.« Als Hariet am nächsten Morgen erwachte, war sie nicht so einsam und arm wie vor zwei Jahren, nicht so verzweifelt und gehetzt wie vor einem Jahr, sondern konnte sich im weichen Bett dehnen und strecken, als verhätscheltes Töchterlein des Hauses. Hätte also Muße gehabt über den seltsamen Traum nachzudenken – aber er war fort aus ihrem Gedächtnis, einfach ausgelöscht. Die drei Wünsche, die ihr das Schicksal freigab, waren ausgesprochen. Nun
würde sie beweisen müssen, ob sie dieser Gnade wert war, ohne jeden Einfluß einer höheren Macht. Unten zog die vielgeliebte Mutz sie herzlich in die Arme und sagte weich: »Mein Wunsch für dich, mein Herzenskind, ist, daß du so ganz aus tiefstem Herzen heraus glücklich werden mögest.« Damit schob sie das Mädchen an den Geburtstagstisch, wo es mal für eine Weile gut untergebracht war. Denn alles, was darauflag, mußte gebührend bestaunt und bejubelt werden. Hariet freute sich und lachte. Aber auch die Mutz lachte und zwar sich ins Fäustchen. Denn als sie am Vormittag zur Stadt fuhr und den Wagen auf einem Platz parkte, stand da der Baron von Eggeroth und schloß gerade seinen Wagen auf. Wie schon gesagt, diese Frau verstand blitzschnell zu kombinieren – was sie denn jetzt auch tat. Charmant, wie sie nun einmal war, trat sie auf den Mann zu und sagte harmlos: »Guten Tag, Herr Baron! Fahren Sie nach Hause?« »Ganz recht, gnädige Frau.« »Dann tun Sie mir bitte einen Gefallen, ja?« »Mit dem größten Vergnügen.« »Also! Da Sie ja sowieso am Schlößchen vorbeifahren müssen, wird es Ihnen wohl nichts ausmachen dort vorzusprechen und meiner Tochter zu bestellen, daß sie nicht mehr die Minne verstecken soll.« »Wie bitte?« fragte er verdutzt, und sie lachte. »Das kann ich Ihnen leider nicht erklären, weil mir die Zeit dazu fehlt. Aber meine Tochter wird Bescheid wissen. Hoffentlich treffe ich Sie noch im Schlößchen an, wenn ich zurückkomme.« Ihn lieb anlächelnd ging sie davon – und er sah ihr kopfschüttelnd nach. Und da das Schicksal schon längst auf der Lauer lag, um sich an zwei liebeheißen Herzen zu erfüllen, fand es auch einen Weg dazu. Denn gerade als der Diener dem gnädigen Fräulein den Besuch des Herrn Baron von Eggeroth
meldete, saß diese am Flügel, spielte und sang so recht von Herzen traurig: »Ich trage meine Minne, vor Wonne stumm, im Herzen und im Sinne, mit mir herum.« Mit einem Mißton riß das Spiel ab – und was dann vor dem Mann stand, war ein vor Schreck erblaßtes Mägdlein, das seine Augen jetzt gar nicht in Gewalt hatte – aber auch gar nicht. Und da ja nach weisem Ausspruch das Auge der Spiegel der Seele sein soll, lag diese Seele denn sozusagen nackt und bloß da. Und es war bestimmt nicht schön von dem Mann, daß er nun lachte – ein übermütiges, so recht glückhaftes Lachen. Es verwirrte das arme Mädchen so sehr, daß es nicht dazu fähig war, die gewohnt hochmütige Miene aufzustecken. »Verzeihung, gnädiges Fräulein«, wurde er gleich wieder ernst, konnte jedoch den lachenden Augen nicht gebieten. »Darf ich Ihnen sagen, daß Sie die prächtigste Frau der Welt Mutter nennen dürfen?« »Das weiß ich doch schon längst«, fand nun das Mädchen seine Sicherheit wieder. »Aber was hat das damit zu tun, daß Sie herkommen und mich auslachen?« »Alles!« blitzte es in den Männeraugen auf. »Denn die charmante Frau Mama schickt mich her, um Ihnen durch mich sagen zu lassen, daß Sie nicht mehr die Minne verstecken sollen. Wollen Sie ihr gehorchen – Hariet?« Entzückt betrachtete er dann, wie heißes Rot das Mädchenantlitz überflutete. Wie seine wundersamen Augen zuerst entsetzt blickten – und sich dann langsam mit Tränen füllten. Und da fackelte der Mann nicht länger, der so lange seine heiße Liebe zu dem bezaubernden Geschöpf hinter Gleichgültigkeit und kühler Gelassenheit hatte verstecken müssen. Der seine Minne nicht mit Wonne trug, sondern mit qualvoller Sehnsucht. Und dann sollte Hariet erfahren, wie weich die herrische Männerstimme kl in* gen konnte, wie es aus den kühlen Augen brechen konnte, gleich einem blauen, blitzenden
Strahl – den Strahl heißer Liebe. »Oh«, sagte das Mädchen da überwältigt vor seligem Schreck. Und das war mal zuerst alles, was sie sagen konnte, weil ein anderer Mund den ihren verschloß. Bis eine lachende Stimme die Liebenden aus ihrer Versunkenheit riß: »So ähnlich habe ich es mir gedacht. Kommt her, ihr Dickköpfe, die vor lautet Hemmungen nicht zueinander finden konnten. Da mußte erst eine alte Frau Kopf gegen Köpfchen stoßen.« »Oh, Mutz!« jubelte Hariet, sich glücklich an sie schmiegend. »Er hat mir ja noch nicht mal einen Heiratsantrag gemacht. Er lachte mich zuerst aus und nahm mich dann einfach in die Arme.« »So gehört sich das auch für einen echten Kerl«, kam es ungerührt zurück. »Warum da erst viele Worte machen? Er ist gekommen im Sturm und Regen, er hat genommen mein Herz verwegen – und damit holla! Und nun wenden wir Sekt trinken.« »Aber Mutz, am Vormittag?« »Warum denn nicht, du Dummchen. Den habe ich mir doch wohl redlich verdient.« Das erkannte man ohne weiteres an und begoß die Verlobung, die heute abend bestimmt Furore machen würde. »Wer wird denn alles hier erscheinen, Mutz?« erkundigte sich der neugebackene Schwiegersohn, und sie lachte. »Der Name ist dir ja bereits geläufig, mein Sohn. Wie alt bist du überhaupt?« »Dreißig.« »Und ich bald einundfünfzig. Da kann ich dir also mit ruhigem Gewissen Mutter sein. Und wer erscheinen wird? Natürlich die Elite, mein Jungchen – wozu wir nun auch deine liebe Mutter mit ihren verwandten Seelen werden zählen müssen. Denn übergehen können wir sie jetzt nicht mehr – hoffentlich sagen sie ab.« Aber sie dachten gar nicht daran. Erschienen mit einer
Miene, als ob man sie mit der Einladung beleidigt hätte. Die Verlobung sollte erst bei Tisch bekanntgegeben werden, und die Mutz mußte immer wieder mahnen: »Kinder, werft euch nicht so verliebte Blicke zu. Ihr verpatzt mir dabei die Überraschung, auf die ich mich wie ein Spitzbube freue.« Und als alle Ermahnungen nichts nützten, sperrte sie die verliebten Leutchen einfach in ein separates Zimmer. »So, ihr Nichtsnutze, hier bleibt ihr bis zum Essen.« »Geliebte Mutz, was besseres konntest du uns gar nicht antun!« »Sei still, du Bengel! Daß du noch einmal so närrisch sein könntest, hätte ich nie geglaubt.« Lachend entschwand sie und holte das Paar erst zu Beginn der Tafel wieder, an der aller Glanz entfaltet wurde, den diese Frau sich leisten konnte. Sehr apart sah sie wieder einmal aus in ihrem raffiniert einfachen Kleid. Die sehr gepflegten, glatt zurückgekämmten Haare gaben ihr eine besondere Note, das Monokel blitzte. Und das Töchterlein? Nun, das war bezaubernder denn je. Es war dem Verlobten nicht zu verdenken, daß er dieses zaubersüße Menschenkind trunkenen Blickes betrachtete. Und dann war der Moment da, wo er seine Verlobung bekanntgeben konnte. Zuerst Stille – doch dann brach ein kaum enden wollender Jubel los. Hauptsächlich die beiden Backfischchen benahmen sich halb irrsinnig vor Freude. Aber auch das Ehepaar Warring war beglückt, gleichfalls Exzellenz nebst der feinen Gattin. Sie hatten nun mal die beiden Damen aus dem Schlößchen ins Herz geschlossen, gleichfalls den Baron von Eggeroth samt seiner kleinen Schwester. Mit den lieben Menschen Kontakt zu behalten für alle Zeit, war der Wunsch des kinderlosen Ehepaares. Bei den anderen Gästen war die Freude gemäßigter – und schon gar keine zeigte sich bei den Herren, die sich Hoffnungen auf das Goldfischchen gemacht hatten. »Was dieser arrogante Baron für einen Dusel hat, das steht wohl einzig da«, sagte einer dieser enttäuschten Herren zu
einem anderen, der auch nicht gerade vergnügt dreinschaute. »Nicht nur daß das Balg zauberhaft aussieht, hat es auch noch Köpfchen, das dazu fähig ist, die Aufzeichnungen des Vaters richtig auszubeuten, die allein schon ein Vermögen wert sind. Natürlich zusammen mit der Mutz, die ja nun wirklich in allen Sätteln gerecht ist. Über die Schwiegermutter kann der Baron sich noch extra freuen.« »Das kann er auch wirklich, mein Herr«, ließ eine lachende Stimme die beiden herumfahren. »Ich freue mich sogar über mich.« Weg war sie – und die Herren machten ein langes Gesicht. Und ein noch längeres machte die Frau Baronin – zuerst. Denn sie faßte sich rasch und knöpfte sich den glückstrahlenden Bräutigam vor. »Mein Sohn, wie kommst du dazu, dich ohne die Erlaubnis deiner Mutter zu verloben?« machte sie ihrer Empörung Luft, die ihr jedoch gleich wieder wegblieb, als dieser entartete Sohn freundlich erwiderte: »Weil ich schon längst von deinem Rockzipfel weg bin, Mama.« Damit ließ er sie stehen, die mit Wut geladen war bis zur Halskrause. Und diese Wut konnte sie noch nicht einmal entladen. Denn diese impertinente Forschersfrau bekam es fertig, sie aus dem Haus zu weisen – wie sie dieser Schlosser, der sich stolz ihr Schwiegersohn nennen durfte, hinausgewiesen – oder richtiger gesagt: hinausgeworfen hatte. Und Martina, ihr Glück, ihr Augentrost, sah dem mit eiskaltem Lächeln zu. Nun ja, tragisch war das alles schon. Aber jeder kann eben nur das ernten, was er säte. Und diese Mutter hatte keine gute Saat ausgestreut. Anders die Mutz. Die liebte man, die verehrte man. Die gehörte einfach mit zum Glück der Verlobten. Für sie war sie höchste Instanz und würde es auch imitier bleiben. Ebenso wie das Ehepaar Warring bei seinen Kindern. Denn auch es hatte immer nur Liebe gesät.
»Eigentlich kann die Frau einem leid tun«, sagte die Mutz, als die Gäste fort waren und man im Kreise der Verschworenen noch gemütliche Nachfeier hielt. »Denn kein Mensch kann schließlich aus seiner Haut heraus. Im Grunde genommen kann sie sich nämlich selbst nicht leiden. Warum schmunzeln Sie denn so, Exzellenz?« »Weil Sie wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen haben, gnädige Frau.« »Oja, Mutz, das hast du«, kroch Dolly ihr vor Begeisterung halb auf den Schoß. »Wir haben dich ja alle so lieb und sind so stolz auf dich. Und verlassen wirst du nicht sein, wenn Hariet heiratet. Dann zieh ich zu dir und bin dein Kind.« »Äußerst beruhigend für die Mutz«, lachte Onkel Ludwig. »Hast du eine Ahnung, Marjellchen! Die Mutz wird nie allein sein, weil sie für uns alle der ruhende Pol ist.« »Das war ein gutes Wort, Onkel Ludwig«, sagte Ulf warm, und die anderen stimmten aus tiefstem Herzen zu. »Nun macht mich mal hier nicht verlegen, ihr überschwenglichen Gemüter. So geht es mir nun. Die ich nach dem Tode meines liebsten Edwin allein zu stehen glaubte, habe jetzt eine große Familie am Hals.« »Bravo, Mutz, darauf müssen wir einen trinken!« rief Exzellenz begeistert. »Auf die Frau, die sich durch niemand und nichts verblüffen läßt!« Und das stimmte. Denn sie war nicht einmal verblüfft, als sie mit den Verschworenen am nächsten Vormittag beim Katerfrühstück saß und ein Mann hereinkam, den die anderen wie einen Geist anstarrten. Mutz jedoch tat es nicht, sie rief lachend: »Man immer hereinspaziert, Herr Melchior. Denn ohne. Ihren Glückwunsch kann das junge Paar doch unmöglich glücklich werden.« »Melchior!« rief jetzt auch Ulf gleichfalls lachend: »Soll ich denn meinen Augen trauen? Du Einsiedler machst einen Besuch?« »Na Ehrensache«, schmunzelte der Mann, der in seinem
altmodischen Bratenrock sehr würdig aussah. »Wenn so ein feines Prinzeßlein sich verlobt, da sitzt selbst unser lieber Herrgott zu Gast.« Damit überreichte er der freudestrahlenden Hariet fünf seiner so ängstlich gehüteten »Königinnen«. »Die sind zur Verlobung, gnädiges Fräulein«, verneigte er sich galant. »Zur Hochzeit gibt es etwas ganz Apartes.« »Kommt ihr auch zu«, meinte die Mutz seelenruhig. »Und nun reihen Sie sich ein in unsere Runde, Sie lieber Gast. Dudeln Sie sich ruhig einen an, das ist die Sache schon wert.« Und schon war es aus mit der feierlichen Stimmung. Sie wurde fröhlich wie zuvor, und dieser Ehrengast wurde allgemein becourt. Schmunzelnd ließ er es sich gefallen. Sagte bedächtig, nachdem er den ersten Schluck auf das Glück des Brautpaares getrunken hatte: »Es ist nun einmal was eigenes um unser Prinzeßlein, das spürte ich sofort, nachdem ich es sah. Wir sind glücklich, eine solche Herrin zu bekommen, die Mamsell, der Lorenz, der August und ich. Die sind halb närrisch vor Freude.« »Noch mehr als ich, Melchior?« Da ging ein Lachen über das faltige Männerantlitz. »Nein, wohl kaum. Denn so närrisch wie der Herr Baron sich benahm, als er gestern zu mir hereinplatzte und Blumen holte, das war schon der Höhepunkt von Närrischsein.« Da brach ein kaum endenwollender Jubel los. Als der sich gelegt hatte, fragte die Mutz mit spitzbübischem Lächeln: »Und was wird dem jungen Paar beschieden sein, Sie Hellseher?« »Hat sich was mit der Hellseherei, gnädige Frau«, kam es schmunzelnd zurück. »Denn so hell wie ich, dürften wir alle hier sehen, nämlich: Daß da immer daß Glück ist, wo die Liebe haust. Und daran wird es im Schloß niemals mangeln.« Und damit sollte er recht behalten. Denn die junge Baronin erfüllte das, was die Fee ihr riet: Sie dankte Gott
für ihr Glück immer wieder aufs neu, wurde nicht hoffärtig dabei – und so wurde denn ihr Leben ein köstliches und ein gesegnetes. ENDE