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Das Buch Seit sechzig Jahren fuhrt das Sol-Imperium Krieg gegen die Zor-Hegemonie. Die vogelähnlichen Zor müssen eine Niederlage nach der anderen einstecken. Doch sie greifen immer wieder an - ihre religiös-mythologisch geprägte Weltanschauung lässt ihnen gar keine andere Wahl. Aber davon wissen die Menschen nichts. Sie halten die Zor einfach für eine höchst aggressive, unbelehrbare Kamikaze-Spezies. In seinem Buch Der totale Sieg vertritt Admiral Marais die These, dass gegen diese Mentalität nur ein Kraut gewachsen ist: die totale Ausrottung. Als die Zor erneut eine Basis der Menschen angreifen, erteilt der Imperator Admiral Marais den Oberbefehl über die Raumflotte. Doch die Strafaktion läuft aus dem Ruder. Marais macht einige Zor-Planeten dem Erdboden gleich und glaubt nun, er müsse bis zu den Heimatwelten der Zor vorstoßen. Daraufhin entzieht ihm der Imperator das Kommando. Aber die Flotte steht loyal zu ihrem Admiral. Und plötzlich begreift dieser, dass er sich einen Mythos der Zor zunutze machen kann: den Mythos vom »Bringer der Vernichtung«, der Dunklen Schwinge... Der Autor Walter H. Hunt, 1959 in Massachusetts geboren, arbeitete lange Jahre als Programmierer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem ersten Roman »Die dunkle Schwinge«, dem Auftakt zu einer großen SF-Abenteuer-Serie, landete er auf Anhieb einen großen Publikumserfolg. Mehr zu Walter H. Hunt unter: www.walterhunt.com
WALTER H. HUNT
DIE DUNKLE SCHWINGE Roman
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der amerikanischen Originalausgabe THE DARK WING Deutsche Übersetzung von Ralph Sander Printed in Germany 2006 Umschlagillustration: Franz Vohwinkel Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Greiner Ö Reichel, Köln Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-453-52184-6 ISBN-13: 978-3-453-52184-1
Alle diese Menschen übten einen großen Einfluss auf mich aus, als dieses Buch entstand. Ihnen soll es auch gewidmet sein: meinen Eltern Earle und Clothilde Hunt, die leider die Veröffentlichung nicht mehr erleben durften; Mrs Sandra Hawkes, einer großartigen High-School-Lehrerin, die mich inspirierte und mir die Kunst des Schreibens beibrachte; meiner eigenen Hellen Schwinge, meiner Frau und besten Freundin Lisa, die mein halbes Leben lang alles mit mir geteilt hat; und meiner guten Freundin Susan Stone, die sich von Anfang an für dieses Buch eingesetzt hat. Ich danke euch allen, dass ihr an mich geglaubt habt.
1 Auftakt T-0 Stunden 2. Februar 2311 0342 Standardzeit Wer seinen Feind und sich selbst kennt, muss bei keiner Schlacht deren Ausgang fürchten. Wer sich selbst, aber nichtseinen Feind kennt, wird für jeden großen Sieg, den er davonträgt, auch eine Niederlage erleiden. Wer weder sich noch seinen Feind kennt, wird in jeder Schlacht untergehen. Sun Tzu, Die Kunst des Krieges, IV:18
Die scharf abgegrenzte Silhouette des Raumschiffs Lancaster kam auf dem Bugmonitor des Shuttles eben in Sichtweite, als über die Lautsprecheranlage der Gig ein systemweiter Alarm ertönte. Sergei Torrijos, der
Captain der Lancaster, hatte es sich auf einem der Passagierplätze bequem gemacht, um sich für einen Moment von der langweiligen Aufgabe abzulenken, die Inspektionslogbücher des Schiffs - seines Schiffs durchzusehen. Der Offiziersanwärter, der das Schiff steuerte, nahm den Alarm augenblicklich zur Kenntnis, während Sergei sein Daten-Pad zur Seite legte und nach vorn kam. »Rufen Sie die Lancaster«, befahl er dem Piloten, der prompt reagierte, und nahm im Kopilotensitz Platz. Das kleine Holo in der Konsole löste sich auf und zeigte nun ein Bild der Brücke. »Hier spricht der Captain. Was ist los, Chan?« »Feindliche Schiffe im Anflug, Sir«, kam die Antwort seines XO Chan Wells. »Bei den Sprungpunkten vier und fünf ist die Hölle 3
los. Admiral Bryant hat den Einsatzbefehl gegeben, und ich habe Commodore McMasters für Sie in der Warteschleife.« Die Lancaster war vor zwei Tagen im System eingetroffen und bildete einen Teil von Admiral Coris Bryants Flagg-Geschwader. Selbst in Friedenszeiten war es hier in den Neuen Territorien unbedingt erforderlich, Stärke zu zeigen, auch wenn Politiker und Gelehrte zu Hause davon redeten, das Militär zu reduzieren, seit die Bedrohung durch die Zor der Vergangenheit angehörte. Die Imperiale Navy hatte sich vehement dagegen ausgesprochen und gab stattdessen das Geld der Steuerzahler für solche Kreuzer wie diesen aus. Vor nicht einmal einer Stunde hatte Sergei mit seinem Geschwaderkommandanten Commodore McMasters und dem diensthabenden Admiral einen Inspektionsgang durch die Basis auf dem Planeten unternommen. So angenehm es auch war, echte und ungefilterte Luft zu atmen und die Wärme der Sonne auf seiner Haut zu spüren, wusste er doch genau, er würde sich erst wieder wohl fühlen, wenn er zurück auf seinem eigenen Schiff war. »Geschätzte Ankunftszeit, Ensign?« »Zwölf Minuten, Sir, wenn wir die momentane Geschwindigkeit beibehalten. Mit ein wenig Hilfe von der Lancaster könnte ich die Zeit halbieren.« »Dann tun Sie's, Chan«, sagte er zu seinem XO. »Sprungpunkte vier und fünf, sagten Sie?« »Korrekt, Sir.« Sprungpunkte vier und fünf: achtzehn und zwanzig Stunden Rektaszension. Richtung Antares. »Stellen Sie den Commodore durch zur Gig. Ich bin auf dem Weg.« Das Bild der Lancaster -Brücke verschwand, als das kleinere Schiff beschleunigte. Sergei fluchte, weil er jetzt nicht auf der Lancaster war, aber wohl die Hälfte aller Captains der Flotte befanden sich in diesem Moment in ihren Gigs, oder aber sie standen gerade in Unterwäsche in ihrem Quartier. Das Schlimmste für jeden Captain war die 3
Vorstellung, nicht an Bord seines Schiffs sein zu können, wenn es angegriffen wurde. Dass Sergei sich jetzt in einem Shuttle befand und die im Orbit kreisende Lancaster in Sichtweite, nicht aber viele Stunden entfernt am anderen Ende des Systems war - das hatte für ihn wenigstens etwas Tröstendes. »Sergei, hier ist Ted.« Die Stimme seines Kommandanten klang vor der Geräuschkulisse des Alarms gehetzt und angespannt. Das Bild folgte einen Moment später dem Ton. Auf dem kleinen Monitor konnte er hinter Commodore Ted McMasters sehen, welches hektische Treiben auf der Brücke der Gustav Adolf herrschte. Das Flaggschiff des Geschwaders war bereits auf dem Weg. »Melde mich, Sir. Ich bin in Kürze zurück auf der Lancaster.« »Sie haben gegen den verdammten Vertrag verstoßen, Sergei. Wir sind ihnen ...« - er drehte sich zur Seite, um eine Anzeige zu betrachten - »... wir sind ihnen zwei zu eins unterlegen, weil die halbe Grenzflotte Manöverübungen abhält.« »So viele Schiffe haben die doch gar nicht!«, gab Sergei zurück und blickte auf den Bugmonitor, der allmählich vom Bild der Lancaster ausgefüllt wurde. »Sie haben auf dieser Seite der Verwerfung vierzig oder fünfzig Schiffe, aber wir hätten nicht gedacht, dass sie sie unbemerkt zusammenziehen könnten. Da haben wir uns offenbar geirrt.« Gut fünf Minuten später war die Gig mithilfe des internen Traktionsfelds in den Hangar der Lancaster geholt worden, und Sergei rannte durch die Korridore seines Schiffs, ohne sich darum zu scheren, dass eine solche Eile sich für einen Mann mit seinem Dienstgrad nicht ziemte. McMasters Worte hallten in seinem Kopf nach: Da haben wir uns offenbar geirrt. Während er im Lift nach oben fuhr, dachte er über die Konsequenzen nach. Diesmal hatte der Frieden keine zwanzig Monate gehalten; die Regierung im Sol-System war mit ihren Bedingungen den Zor gegenüber sehr großzügig gewesen, da man sie für zu schwach hielt, um eine weitere Attacke über 3
haupt nur in Erwägung zu ziehen. So wie bei jeder vorangegangenen Gelegenheit war der Gedanke lächerlich erschienen, die Zor könnten erneut einen Krieg zwischen ihrem kleinen Reich und dem viel größeren und mächtigeren Sol-Imperium beginnen. Auf der anderen Seite hatte für mehr als ein halbes Jahrhundert mit wiederholten Unterbrechungen Krieg geherrscht. Die Zor waren nach den Siegen der Flotte zahlenmäßig und waffentechnisch unterlegen gewesen und massiv geschwächt worden, ehe der Vertrag von Efal dem Feldzug ein Ende setzte. Da haben wir uns offenbar geirrt. Die Lifttür ging auf, Sergei verließ die Kabine. »Captain auf der Brücke«, sagte Chan im Aufstehen. Wer nicht mit den Arbeiten beschäftigt war, die das Verlassen des Docks betrafen, ging in Habtachtstellung. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er den Leuten, sich wieder zu setzen, während er den Platz des Piloten übernahm. Chan reichte ihm einen Reader, der Auskunft gab über den Status des Schiffs. »Alle Sektionen«, sagte Sergei und betrachtete das Display, »Statusmeldung.« »Maschinenraum einsatzbereit.« »Steuer besetzt und bereit, Captain.« »Waffensektionen einsatzbereit, Sir.« »Navigation einsatzbereit.« Letztere Meldung war reine Formalität, da sie angesichts eines Angriffs der Zor keinen Sprung machen würden, der sie aus dem System hinausführte - was aber die Hauptaufgabe der Navigationssektion war. Solange sie sich im Normalraum befanden, fiel das Manövrieren in den Aufgabenbereich des Steuermanns. Überhaupt war die ganze Prozedur eine Formsache, denn Chan hatte bereits vor mehr als zehn Minuten Befehl gegeben, das Schiff gefechtsbereit zu machen, und jetzt war man schon zum Ablegen bereit - fünf Minuten vor dem in den Vorschriften vorgegebenen Zeitpunkt. Während der Kurs eingegeben wurde, der vom Flaggschiff des Geschwaders übermittelt worden war, beobachtete Sergei die 4
Lichtpunkte auf seinem Radarschirm, die unaufhörlich zahlreicher wurden. Mehr als vierzig feindliche Schiffe wurden bereits gemeldet, und es tauchten immer weitere auf. Zehn Minuten. Masseradar, das im Gegensatz zum auf Licht basierenden Radar ohne Zeitverzögerung ein Ergebnis lieferte, erfasste die Masseverzerrung des lokalen Raums und zeigte an, wie Objekte von der Größe eines Planeten bis hin zu Raumschiffen bei ihrer Bewegung im Raum das Kontinuum krümmten. Was er auf seiner Anzeige sah, war nahezu ein Echtzeitbild, das nur minimal verzögert wurde, da der Computer der Lancaster es erst noch aufbauen musste. Das Schiff selbst war dagegen noch Stunden vom Rand des Systems entfernt, wo die Schlacht bereits in vollem Gang war. In weniger als zehn Minuten bringen sie vierzig, fast fünfzig Schiffe ins System, überlegte er. So präzise können sie nur arbeiten, wenn sie alle den gleichen Ausgangspunkt haben. Mithilfe ihres Vektors und der Fahrt im Moment des Materialisierens wäre es ein Leichtes, diesen Herkunftspunkt zu bestimmen. »Chan...«, begann er, um seinen stellvertretenden Kommandanten genau das erledigen zu lassen, doch der war ihm zuvorgekommen und deutete auf einen Schirm über der Ops-Station. »Ungefähr fünfzehn Parsec entfernt, aber noch innerhalb der Antares-Verwerfung. Die Sterne sind da ziemlich dünn gesät, aber der Computer hat drei, vier wahrscheinliche Punkte ausmachen können. Scheint so, als hätten sie in der Nähe einer dunklen Sonne zum Sprung angesetzt, aber ich verwette meinen nächsten Monatslohn, dass sich da irgendwo eine Basis befindet.« Ein Schiff, das nach einem Sprung auftauchte und die Geschwindigkeit von Translicht auf Unterlicht reduzierte, trug den Vektor mit sich, der Auskunft gab über die Ausrichtung und Geschwindigkeit in dem Moment, in dem es zum Sprung ansetzte. Dieses »Sprung-Echo«, das sich aus diesem Vektor sowie aus einem Wert zusammensetzte, der das Ausmaß der durch den Sprung selbst verursachten Raumstörung angab, machte die Berechnung des Startpunkts zu einer leichten Übung. 4
»Eine Basis, die groß genug ist für über fünfzig Schiffe? Man braucht Jahre, um so etwas zu bauen, erst recht in aller Heimlichkeit.« Sergei umfasste die Sitzlehne, als ihm etwas bewusst wurde. »Aber in Friedenszeiten ginge das viel leichter.« Chan sah wieder auf das Diagramm, das gut fünfzig Flugbahnen anzeigte, die alle von einem gemeinsamen Punkt tief im Territorium der Zor ausgingen - irgendwo innerhalb der dunklen Zone der Antares-Verwerfung. »Man hat uns reingelegt.« T-28 Stunden 27 Minuten 31.Januar 2311 2315 Standardzeit
»Wo zum Teufel haben sie denn das aufgetrieben?«, fragte Commodore McMasters sotto voce, als die auf einer Pfeife gespielte Musik mit voller Lautstärke das Hangardeck der Orbitalstation beschallte.
So wie der Rest von Admiral Bryants Leuten standen sie in Habtachtstellung, während sich der Admiral mit dem Kommandanten der Pergamum-Basis unterhielt. Es war ganz offensichtlich nur eine kleine Aufmerksamkeit, da sogar der ältliche Admiral - von dem man wusste, dass er keinerlei musikalisches Gehör besaß und in der Öffentlichkeit zudem kaum einmal eine Gefühlsregung erkennen ließ - eine Art schmerzliches Wiedererkennen zeigte. Es war jedoch keine Melodie, die Sergei vertraut war, während er eine fragende Miene aufsetzte und seinem Kommandanten gegenüber mit einem kaum wahrnehmbaren Schulterzucken reagierte. Nachdem er sich einige Momente Zeit gelassen hatte, um seine Umgebung zu betrachten, kam Sergei zu dem Schluss, dass er schon zu lange an Bord von Raumschiffen lebte. Das Deck der Pergamum-Basis war ein gewaltiger Container, groß genug, um die Lancaster aufzunehmen - sogar zwei- oder dreimal, dachte er und 5
stellte sich vor, wie sein Schiff hier Gondel an Gondel mit zwei Ebenbildern untergebracht sein würde -, und damit war es größer als jeder umschlossene Raum, in dem er sich je aufgehalten hatte. Es übertraf sogar den immens geräumigen Flottentransporter Ponchartrain, auf dem er zuerst gedient hatte. Die Höhe des Hangars entzog sich jeder Beschreibung, da sich die Decke irgendwo im diffusen Licht hoch über ihm verbarg. Er schätzte sie auf sechs-bis siebenhundert Meter, während Länge und Breite mehrere Kilometer betragen mussten. Fast an der Grenze seiner Sichtweite machte er vor dem nachtschwarzen Hintergrund des Weltalls -das von einem Druckfeld zurückgehalten wurde - ein Schiff aus, das durch die Schleuse in den Hangar geflogen kam. Es war ein Geleitschiff, das wohl halb so groß wie die Lancaster war, auf diese Entfernung jedoch aussah wie ein Spielzeugmodell. »>My Old Kentucky Home<«, flüsterte McMasters und unterbrach Sergeis Beobachtungen. »Wie bitte?« Die letzten Klänge der Musik verhallten allmählich auf dem Deck. »>My Old Kentucky Home<. Für Bryant. Er kommt aus Kentucky in Nordamerika. Auf Terra. Dieses verdammte Stück haben sie gespielt.« »Habe ich noch nie gehört.« In der Arkologie von Buenos Aires, wo er aufgewachsen war und zum letzten Mal einen mehr als zweitägigen Aufenthalt auf seiner Heimatwelt eingelegt hatte, kannte man es ganz sicher nicht. »Ein altes Volkslied. Aus dem neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert. Möchte bloß wissen, wo sie das gefunden haben. Es ist...« Was immer es war, Sergei sollte es nicht erfahren, da der Admiral, der von den Offizieren der Basis begleitet wurde, sein Gespräch beendet hatte und sich nun näherte, um die lange Abfolge von Begrüßungen zu beginnen. Es vergingen mehrere Minuten, bis die Gruppe endlich die Reihe erreichte, in der Sergei neben Ted McMasters stand. In der Zeit 5
hatte er die Namen der Senioroffiziere der Station auswendig gelernt. Sir Stefan Ewing, Lord Governor von Pergamum. Ewing war unübersehbar ein Lackaffe, ein Adliger in Navy-Uniform, die in winzigen Details von den Vorschriften abwich. Das war eigentlich nur das Privileg eines Admirals, während dieser Mann nur ein Commodore war. Admiral Bryant schien sich daran jedoch nicht zu stören, doch in Anbetracht der Bedeutung der Familie Ewing hier in den Neuen Territorien hätte er das auch nicht kundtun können. Sergei machte es auch in einer Zeit des Friedens wütend, dass die am äußersten Rand des Imperiums gelegene Flottenbasis sich in den Händen eines adligen Fatzkes befand, der - wenn er sich nicht irrte - sein Offizierspatent gekauft hatte. Ach, was soll's?, sagte er sich im Geiste. Er ist nicht der Erste, der so etwas macht, und er wird auch nicht der Letzte sein. Stattdessen lächelte er mit militärischer Präzision, salutierte und reichte dem Lord Governor von Pergamum die Hand. »Ich habe schon viel über Sie gehört, Captain«, knurrte Ewing in einem Tonfall, als habe er das auch schon jedem anderen anwesenden Offizier gesagt. »Ich hoffe, nur Gutes, Mylord.« Ewing war bestenfalls ein »Sir«, doch hier ging es nur um die höfliche, nicht um die korrekte Anrede. »Ja, durchaus Gutes. Die Lancaster, stimmt's?« »Das beste Schiff der Flotte, Mylord, wenn ich das so sagen darf. Vielleicht wünscht der Commodore eine Führung?« »Wir werden sehen, was meine Zeit zulässt, Captain.« Ewing musterte ihn noch einmal, dann ging er weiter zu Cory DeWitt von der Pembroke. Admiral Bryant warf ihm einen neugierigen Blick zu, ehe auch er sich dem nächsten Offizier in der Reihe zuwandte. »Möchte wissen, was das sollte«, flüsterte Sergei McMasters zu, nachdem der Admiral und der Governor außer Hörweite waren.
»Wenn ich raten soll, würde ich sagen, Ewing ist auf der Suche nach Kandidaten für irgendeinen freien Posten.« 6
»Ein Posten als Stabsoffizier?« »Nein, das bezweifle ich. Er wird annehmen, dass Sie sich sträuben würden, ein Kommando gegen einen Schreibtischposten einzutauschen. Eher dürfte es etwas mit dem Flottenstützpunkt zu tun haben. Ich würde sagen, das ist eine ziemlich große Ehre.« »Würden Sie annehmen?« »Mir würde man den Posten gar nicht erst anbieten. Ich habe schon zu viel auf dem Buckel, um Leuten wie Sir Stefan Ewing Prestige zu verschaffen. Er sucht nach einem aufgeweckten jungen Mann<.« Sergei errötete leicht bei dieser Beschreibung, doch er wandte nicht den Kopf zur Seite, um McMasters anzusehen. Dennoch konnte er fast hören, wie der Mann neben ihm lächelte. »Um Gottes willen, ich bin fast einundvierzig.« »Eben.« T+2 Stunden 11 Minuten 2. Februar 2311 0533 Standardzeit
Während sich die Lage an der zur Verwerfung gelegenen Seite des Gebiets um Pergamum zuzuspitzen begann, verließen die Lancaster und ihre Schwesterschiffe in aller Eile die Docks. Mit einem Siebtel Lichtgeschwindigkeit ließen sie den Asteroidengürtel hinter sich und steuerten der in 750 Millionen Kilometer Entfernung stattfindenden Konfrontation entgegen. So wie alle Konflikte, die man von einem weit innerhalb eines Schwerkraftfelds gelegenen Punkt verfolgte, schien auch dieser in Zeitlupe abzulaufen. Noch zweimal würden sich Dienst- und Ruheschicht abwechseln, bevor Sergeis Schiff überhaupt in das Gebiet vordrang, in dem der Konflikt wütete. Auch wenn das bevorstehende Gefecht für Anspannung sorgte, bedeuteten die fünf Stunden, die zwischen dem ersten Alarm und 6 dem ersten visuellen Kontakt vergingen, dass auf der Brücke der Lancaster Ruhe und fast schon Normalität wieder Einzug hielten. Niemand vergaß darüber aber das Risiko, ein von Todessehnsüchten verfolgter Zor-Captain könnte mit seinem Schiff tief in das Schwerkraftfeld springen, um die menschlichen Widersacher zu überraschen. Dass so etwas bislang nicht geschehen war, vermittelte ein Gefühl von Ausgewogenheit. Der Feind war dort draußen unterwegs, am Rand des Systems, wo er auch hingehörte. Andererseits hatte es bis vor gut zwei Stunden noch gar keinen Feind gegeben, zumindest nicht nach Ansicht der Admiralität und der Regierung. Der Besuch auf Pergamum war als eine friedliche Mission gedacht gewesen. Die Zor-Schiffe waren im Normalraum in der Nähe zweier klar definierter Sprungpunkte außerhalb des äußersten planetaren Orbits des Pergamum-Sonnensystems materialisiert. Das System war ursprünglich von den Zor kartographiert worden, als es ihnen noch gehörte. Die beiden Sprungpunkte befanden sich in Gebieten mit niedriger Massekonzentration und geringer Wahrscheinlichkeit für Gefahren wie Asteroiden, Kometen und Staub. Nichts im All war wirklich statisch, und die Sprungpunkte trieben mit allem anderen immer weiter, was aber nichts daran änderte, dass diese klar definierten Punkte der sicherste Platz zum Materialisieren waren. Sergei rutschte auf seinem Pilotensitz hin und her und befasste sich mit dem Gefecht, das erst in vielen Stunden stattfinden würde. Sein Blick ruhte auf den zehn Lichtpunkten auf seiner Anzeige, die für McMasters' Geschwader standen. Die bewegten sich so schnell wie möglich auf den Punkt zu, an dem es notwendig wurde, für den Eintritt in das Kampfgebiet die Geschwindigkeit zurückzunehmen. »Die Geschwaderbesprechung wartet auf Sie, Skip«, ließ ihn Anne DaNapoli von der Kom-Station aus wissen, er warf seinem XO einen kurzen Blick zu, und während der Sergeis Platz übernahm, verließ er die Brücke und ging in den Bereitschaftsraum. 6
Rund um den glänzenden Konferenztisch hatten die vier Commander in holographischer Form bereits Platz genommen: Bert -Sir Bertram - Halvorsen vom Schlachtschiff Mycenae; Cory DeWitt vom Raumschiff Pembroke - einem Schiff, das fast ein Zwilling der Lancaster hätte sein können; Von Singh von der Harrison, einem in die Jahre gekommenen, altehrwürdigen Schiff der Coneor-dance-Klasse; außerdem Adolfo Schaumburg vom Geschwadertransporter Cambridge. McMasters' Platz am Kopfende des Tischs war noch frei. Sergei nickte den anderen Captains zu, während er sich setzte.
Schließlich begann sich das holographische Abbild von Ted McMasters zu formen, und innerhalb von Sekunden entstanden auch die Darstellungen der vier übrigen Captains. McMasters sah sich in dem Raum um, in dem an Bord der Gustav Adolf der Commodore saß, neun Holos erwiderten seinen Blick. »Wie ich Ihnen vor einigen Stunden mitteilte«, begann er ohne Vorrede, »sind wir am Rand des Systems zahlenmäßig unterlegen. Ihre Analyse des Masseradars wird Ihnen bereits die Erkenntnis vermittelt haben, dass es noch schlimmer ist als bislang angenommen. Nahe den Sprungpunkten an der Verwerfung befinden sich zweiundneunzig feindliche Schiffe. Es ist durchaus möglich, dass die Zor jede diesseitige Basis ungeschützt zurückgelassen haben, vielleicht sogar einige in den Home Stars, um diesen Angriff gegen uns zu starten.« Er blickte nach unten auf eine Anzeige, die sich gleich vor ihm befand. »Was sich am Sprungpunkt befand ... ist nicht mehr da. Der Flottentransporter Zambezi meldet den Verlust von achtzig Prozent seiner Fighter. Er fliegt mit Notenergie und steuert ein Dock gleich außerhalb des Kampfgebiets an. Das Patrouillenkommando meldet außerdem den Verlust von mehreren kleinen Raumfahrzeugen sowie der folgenden Schiffe...« Er berührte das Display und betrachtete die Liste. »Die Alma-Ata, die Aldebaran, die Via Appia und... die Sun Tzu. Alle wurden mitsamt ihrer kompletten Besatzung ausgelöscht.« Der letzte Name sorgte für er 7
staunte Laute von allen Anwesenden. Die Sun Tzu war ein Raumschiff der fünften Generation, eines der größten und am besten bewaffneten Schiffe der Flotte, das dem Kommando von Admiral Sir Graham DeSaia unterstellt gewesen war. »In Anbetracht der gegenwärtigen Situation hat Admiral Bryant das Kommando über Pergamum übernommen. Sollte Admiral Lord Ralston mit einem Teil der Grenzflotte zurückkehren oder sollte Admiral Carson eintreffen, geht das Flaggkommando an einen von beiden über. Für den Moment hat die Royal Oak das Kommando. Admiral Bryants neue Befehle für das Geschwader lauten wie folgt.« Ein Display in der Mitte des Tischs erwachte zum Leben, McMasters begann die voraussichtliche Angriffsfront der Zor zu beschreiben. »Dies ist ihre derzeitige Position und Konzentration«, erläuterte er. »Und hier erwartet der Admiral sie in den nächsten vier bis sechs Stunden.« Das Display veränderte sich und zeigte die Zor-Schiffe, die sich inzwischen auf breiter Front im System verteilt hatten und nun auch viel tiefer in das Schwerkraftfeld vorgedrungen waren. »Admiral Bryant glaubt, sie werden versuchen, die Basis zu zerstören, da es ihnen nicht möglich sein würde, sie zu verteidigen, selbst wenn ihnen die Einnahme gelingen sollte. Eineinhalb Geschwader werden gegen dieses Kontingent innerhalb des Asteroidengürtels entsandt, während der Rest von uns in erster Linie versuchen soll, die Zor von vornherein an einer Annäherung zu hindern.« »Sir...« Cory DeWitt machte einen wütenden Eindruck. »Verstehe ich richtig, dass wir mindestens fünfzehn Schiffe zurückhalten, während der Rest versucht, ein Drittel des Sonnensystems zu verteidigen? Sie sind uns so bereits drei- bis viermal überlegen, aber ohne die Geschwader...« »Ja, richtig.« McMasters schien davon selbst auch nicht begeistert zu sein. »Der Admiral hat einen Alarm der Klasse eins angeordnet, und wir erwarten, unverzüglich von Sha'en Unterstützung zu erhalten.« »Bis dahin sind wir vielleicht alle längst tot, Commodore.« 7
»Es sind meine Befehle, verdammt noch mal«, fuhr er sie an. »Das ist unsere Situation. Was die Zor derzeit noch an der Peripherie des Systems aufhält, wird in den nächsten sechs Stunden nicht mehr dort sein - weil sie alles kampfunfähig geschossen oder gleich komplett vernichtet haben werden. Man muss kein Taktiker der imperialen Kriegsschule sein, um sich das auszurechnen. Admiral Bryant ist der Ansicht, dass die Basis das Ziel der Zor ist, und sie will er beschützen. Wir haben alles in unserer Macht Stehende zu tun, um ihn darin zu unterstützen. Alles spricht für uns ... ausgenommen unsere zahlenmäßige Unterlegenheit. Wir sind schneller, klüger und besser bewaffnet. Außerdem hat jedes Schiff in diesem Geschwader bereits Kampferfahrung gesammelt. Für andere Schiffe ist es der erste Konflikt, und einige von ihnen sind in dieser Schlacht bereits zerstört worden. Das könnte der Grund sein, warum wir dazu bestimmt worden sind, uns hier den Zor in den Weg zu stellen.« »Sir«, warf Sergei ein, »hat irgendjemand eine Ahnung, warum die Zor uns angreifen?« McMasters sah ihn an und lehnte sich in seinem Sessel ein wenig nach hinten. »>Warum?< Wer zum Teufel soll das wissen?«, fügte er als Kommentar an. »Haben Sie irgendwelche Fakten zum Thema?« »Keine konkreten Informationen, Sir, lediglich Mutmaßungen.« »Rücken Sie schon mit der Sprache raus, Sergei.« »Nun, Sir... es spricht einiges dafür, dass wir es nicht mit einem willkürlichen Angriff zu tun haben. Pergamum ist ein plausibles Ziel, ein wichtiger Flottenstützpunkt Die Zor müssen glauben, dass die Zerstörung der Basis und unserer Flotte dem Sol-Imperium einen schweren Schlag zufügen würde. Aber
warum gerade jetzt, Sir? Warum sollten sie ausgerechnet jetzt zuschlagen, es sei denn, es gibt etwas, was sie wollen?« »Niemand versteht die Zor«, meldete sich Von Singh von der Harrison zu Wort. »Und erst recht versteht niemand, was sie wollen.« 8
Einige andere machten zustimmende Bemerkungen, während McMasters die Fingerspitzen aneinander legte. »Worauf wollen Sie hinaus, Sergei?« »Sir, hier auf Pergamum sind zahlreiche Schiffe stationiert, andere statten der Basis einen Besuch ab. Viele Schiffe befinden sich derzeit im Manöver und sind nicht abkömmlich. Gestern waren die meisten von uns mit Kanapees und Smalltalk in der Villa des Governors beschäftigt. Die meisten von uns... und zwei Flottenadmirale. Wäre es nicht denkbar, dass die Zor wussten, wer hier ist, und dass sie genau deswegen hier sind?« »Sie brauchten jemanden, der sie das hätte wissen lassen. Einen Spion, einen Späher.« »Oder einen Verräter, Sir.« Darauf wusste keiner der anderen etwas zu erwidern. Commodore McMasters schien das Unbehagen der Anwesenden zu spüren und fuhr fort: »Die Schiffe, die sich innerhalb des Orbits des Asteroidengürtels befinden, unterstehen dem Kommando von Lord Governor Ewing. Die Royal Oak ist hier draußen bei uns. Bis wir unseren Zielpunkt erreicht haben, können wir uns nur weiter vorbereiten ... und warten.« T-16 Stunden 12 Minuten 1. Februar 2311 1130 Standardzeit
Warten war eine Beschäftigung, die man manchmal über sich ergehen lassen musste, wenn man in der Navy Seiner Majestät diente. Dennoch empfand Sergei die langen Phasen der Untätigkeit bei gesellschaftlichen Anlässen in Friedenszeiten als nahezu unerträglich. Sir Stefan Ewings palastgleiche Villa war an einem Hang gelegen, von dem aus man einen Blick auf die kleine Hauptstadt von Pergamum hatte. So wie fast jedes andere wichtige Gebäude auf 8
dieser Welt war es aus einem besonderen lavendelfarbenen Stein gebaut. Der stammte vom nahe gelegenen Emperor Willem Mountain, der das üppige Tal der Hauptstadt überragte. Durch die Lage am Hang, durch seine drei Etagen und durch die runden Türme an allen Ecken wirkte die Villa aus einiger Entfernung wie ein Traumschloss. Das leuchtende Äußere des Bauwerks fing die Sonnenstrahlen auf und reflektierte sie prachtvoll. Dem Protokoll folgend hatte der Lord Governor von Pergamum unverzüglich eine Einladung an die neu stationierten Commander und ihren jeweiligen Stab gerichtet, die alle ihr Kommen angekündigt hatten. Nach einer kurzen Fahrt im Aircar zum Schloss am Hügel, standen sie nun im Innenhof, nippten an gekühlten Getränken und tauschten Höflichkeiten aus. Sergei hatte sich zu diesem Empfang von seinem XO begleiten lassen. Das Handbuch der Flottenetikette besagte, er könne zwei weitere Offiziere mitbringen, da Ewing nur einen Dienstgrad über ihm stand, doch da war noch etwas anderes, das die beiden Männer voneinander trennte: der Status des Lord Governor als Adliger, eine Eigenschaft, die auch mancher Offizier im Dienstgrad eines Captains besaß - aber nicht Sergei Torrijos. Sein XO Chandra-sekhar Wells, ein ruhiger, zurückhaltender Mann, gebürtig aus Stanton, New India, gut sechs Jahre jünger als er selbst, war für derartige Anlässe die ideale Begleitung. Chan war ein ehrgeiziger Mann, was bei ihm aber nicht zu Lasten der Loyalität seinem Captain gegenüber ging. Außerdem war er vertrauenswürdig, und er verfügte am Hof nicht über mehr Freunde als Sergei selbst - also über keinerlei Freunde, wenn man es präzise ausdrücken wollte. Auf dem Empfang von Lord Governor Ewing konnte Chan als zweites Paar Augen und Ohren für Sergei agieren. Sergei und Chan waren zusammen mit Sir Bertram Halvorsen von der Mycenae per Aircar eingetroffen, und sofort mischte sich Chan unter die anderen Gäste, während Sergei und Bert gemeinsam die Gärten und die harten Drinks bewunderten. »Das ist schon eine beachtliche Kulisse«, meinte Bert, nahm ei 8
nen Schluck und sah sich auf dem umschlossenen Binnenhof um. »Diese Governors in den Grenzregionen wissen, wie man sich ein schönes Leben macht.« »Wollen Sie damit sagen, dass der Governor von New Chicago nicht über eine solche Villa verfügt?« New Chicago war eine Oligarchie und wurde seit der ersten Kolonisierung von immer der gleichen Hand voll Familien kontrolliert.
»Doch, doch, das schon ... aber er brauchte Jahre, um sich so etwas aufzubauen. New Chicago ist jetzt weitestgehend besiedelt: Großstädte, Arkologien, Industroplexe... Aber hier macht der Governor, was er will und wie er es will.« Bert hob sein Glas und fügte leise an: »Und erhebt so viel Steuern, wie es ihm beliebt.« Sergei verstand, worauf Bert hinauswollte, zuckte aber nur mit den Schultern. »Dem Ewing-Clan gehören drei oder vier Sitze in der Imperialen Versammlung. Er dürfte reich genug sein, um sich das hier leisten zu können.« »Und was glauben Sie, wie er so reich geworden ist? Dieser Palast wurde mit öffentlichen Mitteln finanziert, daran gibt es für mich keinen Zweifel.« Nach einigen Sekunden deutete er mit einer Kopfbewegung auf einen der Ecktürme, der durch das Blattwerk des Gartens zu sehen war. »Zugegeben, das Ganze ist ein wenig barock, aber er hat ein gutes Auge, was Architektur angeht.« Zu protzig für meinen Geschmack, dachte Sergei, hielt sich aber auch vor Augen, dass er kein Experte für dieses Thema war. Da er seine Meinung lieber nicht zum Besten geben wollte, nahm er einen Schluck von seinem Drink und sah zu Cory DeWitt von der Pembroke, die sich leise mit Terry DeWitt unterhielt, ihrem Ehemann und Chefingenieur. Ehe Bert Halvorsen weiterreden konnte, tauchte ihr Gastgeber auf, entdeckte die beiden und kam zu ihnen, um ihnen die Hand zu schütteln - was er eine Spur zu lange machte. »Gentlemen«, sagte er, »ich hoffe, es gefällt Ihnen bei mir.« »Sehr sogar, Mylord«, antwortete Sergei prompt, um Bert keine Chance zu leichtfertigen Bemerkungen zu geben. »Captain Hal 9
vorsen und ich haben uns soeben über Ihre Residenz unterhalten.« »Aber, Captain, >Mylord< ist nun wirklich nicht nötig«, gab Ewing zurück. »Bestimmt nicht in einer so angenehmen Gesellschaft. Was das Haus angeht... nun, Felice und ich haben uns alle erdenkliche Mühe gegeben, es so komfortabel wie möglich zu gestalten.« Er sah zu Sergei. »Sagen Sie, Captain Torrijos... Wie kommt es, dass Sie hier stationiert sind?« »Ich glaube, ich hole mir noch ein Glas«, sagte Bert und sah so zwischen Ewing und Sergei hin und her, als sei ihm irgendetwas Unterschwelliges aufgefallen, das Sergei entgangen war. »Wenn die Gentlemen mich entschuldigen würden.« Bevor Sergei ihn aufhalten konnte, hatte Bert sich auch schon zurückgezogen. »Ich... nun, die Lancaster hat eben erst eine dreimonatige Reise am Rand des imperialen Raums hinter sich gebracht, Mylo... Sir. Das Geschwader von Commodore McMasters wurde für Friedensaufgaben in den Neuen Territorien der Flotte von Admiral Bryant unterstellt.« »Für Ordnung sorgen, die Augen offen halten und so weiter?« »Im Großen und Ganzen, Sir. In aller Regel Routineaufgaben, auch wenn es wichtig ist, dass wir hier sind und den Zor gegenüber Stärke zeigen.« »Der Admiral erwähnte das auch schon. Und wie denken Sie darüber, Captain? Wir haben den Zor bei Scandia einen schweren Schlag zugefügt, und danach wollten sie sehr schnell Frieden schließen. Einige sagen allerdings«, Ewing sah sich um und senkte seine Stimme, bis sie einen verschwörerischen Tonfall angenommen hatte, »die Bedrohung durch die Zor sei so sehr minimiert worden, dass eine solche militärische Präsenz hier in den Neuen Territorien nichts weiter als eine Provokation darstelle.« Sergei war mit diesem Argument bestens vertraut. Es war die Hauptforderung der Commonwealth-Partei, die in der Imperialen Versammlung die Opposition stellte. Jeder Flottenoffizier mit einem Funken Verstand wusste, was die Commonwealth-Partei mit 9
den Streitkräften vorhatte, sollte ein dauerhafter Frieden mit den Aliens außerhalb des Imperiums zustande kommen: Dann wollte man die Streitkräfte verstümmeln, ihnen die finanziellen Mittel entziehen und einen großen Teil des Personals entlassen, jedem einen Bonus geben, der in den Ruhestand ging, oder den halben Sold zahlen. Mit anderen Worten: Es würde das kommen, was jede Zivilregierung mit militärischen Einrichtungen machte, kaum dass Frieden herrschte. Dieser Strategie lag allerdings ein Denkfehler zugrunde. »Ich schätze die Sorge des Commodore, was die mögliche Empfindsamkeit der Zor angeht. Aber ich halte es für verfrüht, die Bedrohung als nicht mehr existent zu betrachten.« »Wir haben vor fast zwei Jahren den Friedensvertrag mit den Zor unterzeichnet.« Die Erwiderung des Governors war nicht sonderlich kampflustig, doch alles sprach dafür, dass er Sergei eine Reaktion entlocken wollte. Sergei seinerseits war sich jedoch nicht sicher, welche Reaktion dem Mann gefallen würde. »Der Vertrag von Efal ist nur eine weitere dauerhafte« Vereinbarung mit den Zor, Sir. Geschlossen wurde er gegen die Einwände des Rates der Admiralität und gegen die Empfehlungen einer großen Mehrheit der Gefechts- und Stabsoffiziere. Der Vertrag von Las Duhr wurde nicht mal drei Jahre nach seiner
Unterzeichnung gebrochen, und die Folge waren fast neun Jahre Krieg, bis die Zor-Flotte bei Scandia zum größten Teil vernichtet werden konnte. Ich bin von den friedlichen Absichten der Zor noch lange nicht überzeugt, Sir.« »Aber es stimmt doch, dass wir die Zor jedes Mal weiter und weiter zurückdrängen, wenn sie gegen einen Vertrag verstoßen und uns angreifen, oder nicht? Pergamum wurde vor über dreißig Jahren eingenommen, und heute liegt es zwanzig Parsec innerhalb des imperialen Gebiets. Selbst der Verstand eines Aliens muss doch erkennen, dass sie einen aussichtslosen Kampf gegen uns führen. Sie können uns einfach nicht schlagen.« »Ich... ich bin mir nicht sicher, ob sie so denken, Sir.« 10
»Wir wissen überhaupt nicht, in welchen Begriffen sie denken, Captain. In der Navy weiß das jedenfalls niemand.« Und in der Regierung auch nicht, fügte Sergei im Geist an, behielt diese Bemerkung aber für sich. »Torrijos, ich bewundere Offiziere von Ihrem Schlag. Ihre Erfahrung als Commander ist beträchtlich, Ihre Dienstakte ist beispielhaft. Aber wenn die Zor nicht länger eine Gefahr darstellen... Nun, es gibt mehr Planeten, die regiert werden müssen, als feindliche Aliens, die es zu bekämpfen gilt.« »Sir?« »Pergamum ist im Wesentlichen noch immer ein Flottenstützpunkt. Auch wenn die Grenze fast siebzig Lichtjahre weit weg ist, kommt man sich durch die Präsenz der Grenzflotte eher wie auf einer Welt des Militärs vor, nicht wie auf einer Welt von Zivilisten. Ein dauerhafter Frieden könnte das natürlich ändern.« Ewing sah sich um, als wolle er sicherstellen, dass niemand sie belauschte. »Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sich Pergamum für eine Vertretung bewirbt, werden die Leute davon profitieren, die diesen Zustand herbeigeführt haben. Ich suche nach der richtigen Sorte von Offizieren. Vorläufig kann ich da noch nichts anbieten, aber in sechs Monaten vielleicht. Oder in einem Jahr...« Er ließ den Satz unvollendet, als wolle er Sergei dazu bringen, ihn zu bitten, er möge doch mehr zu dem Thema sagen. »Und selbst wenn die Flotte verlegt wird, werden hier immer noch einzelne Schiffe stationiert sein. Die Regierung seiner Majestät wird dann jemanden benötigen, der sie befehligt.« »Commodore, ich...« »Ich kann nichts anbieten«, wiederholte Ewing. »Noch nicht. Denken Sie trotzdem mal darüber nach, Torrijos.« Dann wandte er sich so plötzlich ab, als habe er jemanden gesehen, den er unbedingt begrüßen müsse, und ging ohne ein weiteres Wort zu einer anderen Gruppe von Offizieren. 10 T+7 Stunden 36 Minuten 2. Februar 2311 1118 Standardzeit
Sergei behielt mit einem Auge den Bugmonitor im Blick, während er mit Chan im Bereitschaftsraum die Meldungen der Abteilungen durchging. Als bei maximaler Vergrößerung das erste Aufblitzen von Waffenfeuer sichtbar wurde und man hier und da einen Schiffsrumpf erkennen konnte, der das Licht reflektierte, kehrten der Captain der Lancaster und sein Stellvertreter auf die Brücke zurück. Der diensttuende Admiral der Flotte rief sie bereits, während sich Sergei noch hinsetzte und Chan den Waffenoffizier ablöste. »Ja, Mylord«, meldete sich Sergei. »Sie haben Ihren Einsatzbefehl ja bereits erhalten, Captain, also bleibt mir nur, Ihnen Weidmannsheil zu wünschen. Die Transporter vor uns haben bereits einige schwere Treffer einstecken müssen. Es könnten ein paar Fighter bei Ihnen Schutz suchen, die versuchen, die Cambrigde zu erreichen. Captain Schaumburg versucht bereits, sie an Bord zu holen. Ich möchte, dass von ihnen so viele wie möglich gerettet werden, aber gehen Sie um Gottes willen keine unnötigen Risiken ein!« »Aye-aye, Sir. Lancaster out.« Er drehte sich zur Kom-Station, ohne den Blick vom Bugmonitor abzuwenden. »Arte, rufen Sie die Gustav Adolf, und sagen Sie dem Kommandanten, dass wir unsere Position einnehmen. Chan, auf Kampfbereitschaft gehen. Status der Waffen und der Abwehrfelder?« »Alle Mann bereitmachen zum Gefecht«, verkündete Chan schiffsweit und sah auf sein Display. »Torpedos scharf, Captain. Alle Kampfstationen haben Status Grün. Absorptionsfelder, Verteiler und Leiter melden ebenfalls Status Grün.« Chief Gunnery Officer Pam Fordyce kam auf die Brücke und setzte sich an ihre Station, Chan Wells stellte sich unterdessen hinter den Steuermann. 10
»Steuermann, Bericht über feindliche Jäger.« »Die nächsten feindlichen Jäger sind achtzigtausend Kilometer entfernt. Zwei Schiffe der Eclipse-Klasse, Markierung drei-fünf-zwei Grad und null-eins-sieben Grad, beide negativ eins-null Grad von unserer Flugrichtung. Das imperiale Schiff...« Der Steuermann überprüfte sorgfältig den Transponder-Kode. »Das
imperiale Raumschiff Anson befindet sich im Gefecht mit ihnen. Die Anson scheint schwer beschädigt zu sein.« »Kom, rufen Sie die Anson. Lancaster kommt zur Hilfe«, befahl Sergei und registrierte, dass die Harrison und die Odessa ihn flankierten. »Chan, suchen Sie uns ein Ziel.« »Aye, Sir.« Chan betrachtete das Pilotendisplay, gleichzeitig nickte der Kom-Offizier Sergei zu. »Anson, hier ist die Lancaster. Unsere Instrumente lassen erkennen, dass Sie schwer beschädigt sind. Machen Sie sich bereit zum Rückzug.« Statisches Rauschen drang aus dem Lautsprecher, begleitet vom Sperrfeuer eines der Schiffe der Eclipse -Klasse. »...anden.« Eine Stimme begann, den Lärm zu übertönen. »Energie bei nur noch dreißig Prozent, Lancaster. Ich bin mir nicht sicher...« Wieder statisches Rauschen. »... reicht, um zu manövrieren und gleichzeitig die Verteidig...« Die Übertragung ging komplett in Rauschen unter, und nach einigen Versuchen konnte der Kom-Offizier nur den Kopf schütteln. Dann blieb keine Zeit mehr für eine sorgfältige Analyse. Kämpfe zwischen Raumfahrzeugen hatten nichts von einem Video, in dem es lärmend und zerstörerisch zuging. Die interne Schwerkraft verhinderte, dass die Crew aus ihren Sitzen geworfen wurde, wenn der Feind eine Breitseite auf ein Schiff abfeuerte. Außerdem geschah bei Artillerieangriffen lange Zeit nichts anderes, als dass sich in den Abwehrfeldern die absorbierte Energie aufstaute. Schiffe feuerten aus Geschütztürmen und Torpedoschächten, die überall am Rumpf zu finden waren und in alle Richtungen zielten. Bei einem Angriff bestand die Absicht darin, die Fähigkeit der 11
feindlichen Schiffe, eintreffenden Beschuss zu absorbieren, zu überlasten. Dabei handelte es sich um einen langwierigen Prozess, der am Ende zur Abschaltung - oder einem katastrophalen Versagen - der Abwehrfelder führte. Andererseits wies das Abwehrfeld eines jeden Schiffs eine komplexe, einem Kristall ähnliche Struktur auf, die sich aufspüren und analysieren ließ. War das erst einmal gelungen, konnte man mit einem einzigen gezielten Treffer das Feld durchdringen und das Feuer bis auf den feindlichen Schiffsrumpf lenken. Die immense Wucht und Hitze eines solchen Treffers konnte für das ungeschützte Metall verheerende Folgen nach sich ziehen. Bei der Verteidigung waren in ein Gefecht verwickelte Schiffe vorrangig damit beschäftigt, absorbierte Energie von den Abwehrfelder abzustrahlen. Aufgrund der pseudo-kristallinen Struktur der Felder wurde die eintreffende Energie nicht immer gleichmäßig verteilt, weshalb ein einwandfrei funktionierendes Verteidigungssystem auch stets mit externen Vorrichtungen ausgerüstet war - Verteiler, die die Energielinien des Felds sorgfältig korrigierten, sobald Energie von ihnen aufgenommen wurde, sowie Leiter, die für einen Ausgleich der Energieabsorption innerhalb des Felds insgesamt sorgten. Ein Schiff also, das nur von vorn, von Steuerbord und von oben beschossen wurde, konnte diese Energie umleiten nach Backbord, nach hinten und nach unten, womit sich die Strahlungskapazität des Schiffsfelds deutlich steigern ließ. Die Aktivitäten dieser Geräte in Verbindung mit permanenten, halb zufälligen Bewegungen eines Schiffs erschwerten eine Analyse der Feldstruktur in ganz erheblichem Maß. Waffenstationen mussten versuchen, die Struktur vorherzusagen, die sich gebildet haben würde, wenn ein Schuss sein Ziel erreichte. Daher setzten die besten Waffenoffiziere neben ihrem Wissen über die Mathematik der Felddynamik ein intuitives Gefühl für die Struktur und den Energiefluss ein, während das Feld auf ihren EM- und gravometrischen Anzeigen als konstanter Wirbel dargestellt wurde. Die besten Schützen agierten in gewisser Weise wie in jenen primiti 11
ven Zeiten, als ein meisterlicher Belagerer seine Intuition und Erfahrung benutzte, um Scheitelkreis und Entfernung zu berechnen, und er sich mehr auf unbestimmbare Faktoren verließ als auf die primitiven Instrumente, die ihm zu der Zeit schon zur Verfügung standen. Ein guter Captain war in der Lage, seinem Schützen zu vertrauen, auch wenn er dessen unwissenschaftlichen Methoden mit Skepsis begegnete. »Es dreht bei, Captain«, sagte Chan. Pam Fordyce brütete über der Feuerkontrolle, während zwei Mann ihrer Crew damit beschäftigt waren, das Feld des Eclipse -Schiffs zu berechnen, das ihnen am nächsten war. »Gut, vielleicht lassen sie dann die Anson für ein paar Minuten in Ruhe.« Die Abwehrfelder des imperialen Schiffs glühten bereits weißlich, was erkennen ließ, dass der Zeitpunkt der Überladung nicht mehr fern war. »Sieht so aus, als hätte die Anson achtern an Backbord einen Hüllenbruch abbekommen. Bei etwa vierzig Grad.« »Bruch bestätigt, Sir«, meldete sich Chan zu Wort. »Masseradar zeigt an, dass die Anson sich am Sprungpunkt befand, als der Angriff gestartet wurde. Er muss die Felder abgeschaltet haben.« »Verdammter Narr.« Es war eine übliche Vorgehensweise, »clean« - also ohne Abwehrfelder - zu fliegen, um Energie zu sparen. Wenn jedoch mit einem Angriff zu rechnen war, empfahl sich diese Methode nicht. Tja,
aber mit einem Angriff war ja nicht zu rechnen gewesen, sagte Sergei sich. »Waffensektion, feuern Sie. Machen wir mal auf uns aufmerksam.« »Feuerbereit, Sir«, hörte er Pam sagen. Die beiden anderen Schützen arbeiteten weiter am Feldproblem, und Sergei sah, dass Pam ebenfalls damit befasst war. »Feuern Sie drauflos.« Sechs supraheiße Energiekugeln schössen aus den Schächten im Rumpf der Lancaster und jagten durch das All ihrem Ziel entgegen. Sergei kam es so vor, als hätte er den Abschuss gespürt, obwohl er genau wusste, dass Plasmatorpedos keinen Rückstoß erzeugten. Alle sechs erreichten im nächsten Moment ihr Ziel, als 12
die feindliche Eclipse zwischen Heck und ungefähr mittschiffs getroffen wurde. »Bereitmachen, um das Feuer zu erwidern.« Die Eclipse hatte sich zwar entsprechend ausgerichtet, um den eingehenden Beschuss besser aufzunehmen, aber ihr Ziel war unverändert die Anson, die sie unablässig mit immer mehr Energie beharkte. Sergei befahl eine weitere Salve, die ebenfalls ins Ziel traf. Gleichzeitig begannen die Felder der Anson immer heller und heller zu glühen. »Schäden an den Verteilern und Leitern der Anson, Captain«, meldete Chan. »Ich schätze, ihnen bleiben noch maximal fünf Minuten, es sei denn, wir können den Angreifer ausschalten. Aber selbst dann...« »Steuermann, ein Viertel voraus. Kom, rufen Sie die Anson. Sagen Sie ihnen, sie sollen sofort von hier abhauen.« Er hörte, wie die Nachricht rausging, war sich aber nicht sicher, ob sie ihren Empfänger erreichen würde. Gleichzeitig wurde das Zor-Schiff auf dem Bugmonitor größer und erreichte den Abstand, der einen direkten Beschuss ermöglichte. »Vordere Geschütze Feuer frei. Pam, wir müssen dieses Feld durchdringen.« »Ich arbeite dran, Skip«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. Die Geschütze der Lancaster trafen mit bemerkenswerter Präzision ins Ziel, da das Feld des feindlichen Schiffs prompt orangefarben und dann bereits gelb zu leuchten begann. Es gab keinen Zweifel daran, dass die Anson sich zurückzuziehen versuchte, doch der Normalraum-Antrieb war durch den Hüllentreffer beschädigt worden und schien nicht mehr zu arbeiten. Das Ziel der Lancaster, das die Auswirkungen des Sperrfeuers längst bemerkt haben musste, ignorierte den Angreifer völlig und attackierte weiter die Anson, auf deren Abwehrfeldern sich dunkelviolette Stellen abzeichneten. »Sie wird hochgehen«, sagte Chan mit ruhiger Stimme. »Kom, rufen Sie die Anson und sagen Sie ihnen, sie sollen das 12
Schiff aufgeben. Die Lancaster wird Feuerschutz für den Rettungsshuttle geben. Steuermann, nähern Sie sich der Anson auf...« »Zu spät«, unterbrach Chan ihn. Auf einmal wurde der Bugmonitor weiß, dann hellblau und violett, und schließlich schaltete er sich für ein paar Sekunden völlig ab. »Beginne mit Ausweichmanöver«, sagte der Steuermann, »auf Ihren Befehl, Captain.« »Tun Sie's«, erwiderte Sergei sofort. Der Bildschirm schaltete sich wieder ein und zeigte, wie zwei Eclipse -Schiffe um den sich ausdehnenden blauen Gasball herummanövrierten, der eben noch das Raumschiff Anson gewesen war. Jetzt gab es nur noch Raumschrott. Das Schiff war dem Gefecht zum Opfer gefallen. Die Lancaster ging auf Schubumkehr, um die Geschwindigkeit zu reduzieren, während sie sich weiter der Schlacht näherte. Die Trägheitsdämpfer hatten mit dem plötzlichen Richtungswechsel zu kämpfen. War die Geschwindigkeit erst einmal verloren, konnte sie nur durch Energieverbrauch zurückerlangt werden, doch ein Großteil dieser Energie wurde bereits von anderen Systemen an Bord beansprucht. Während sich also die Überreste der Anson weiter im Raum verteilten, flog die Lancaster einfach nur um sie herum. Nachdem Sergei gesehen hatte, wie nah die Odessa war, nickte er zustimmend, als sein Schiff auf die beiden feindlichen Objekte zuhielt. Die Zor-Raumschiffe der Eclipse-Klasse waren weit davon entfernt, herausragende Gegner zu sein; sie kämpften fast ohne Antriebsgeschwindigkeit. Stattdessen ließen sie sich durch den Raum treiben und hielten ihre Position mithilfe der Lagekontrolle. Als die Lancaster auf sie zusteuerte, wusste Sergei, sein Schiff war in der Lage, sie zu zerstören, bevor sie entkommen konnten. Seine Gegner mussten das auch gewusst haben. Die Anson, die eine Generation jünger war als die Lancaster, hätte es unbeschädigt ohne Schwierigkeiten mit den beiden Schiffen aufnehmen können. Die Zor, die mit der Zerstörung des Schiffs ihre Mission erfüllt hatten, warteten nun einfach nur noch auf den Tod. 12
»Diese Bastarde«, sagte Sergei leise zu sich selbst. Als die Lancaster sich ihnen näherte, trieben Trümmerteile der verglühten Anson in die Flugbahn des Schiffs, verloren ihre kinetische Energie und drifteten neben ihm her. T-8 Stunden 6 Minuten 1. Februar 2311 2036 Standardzeit
Im Lauf des Tages hatten in der Orbitalbasis diverse Besprechungen stattgefunden, gefolgt vom Empfang des Governors auf seinem Anwesen und einem Galadinner im Pergamum Down Officers' Club<, einem verschwenderisch großen, holzgetäfelten Saal, der vor zwanzig Jahren gebaut worden war, als sich Pergamum noch am Rand der Neuen Territorien befand. Der Saal war fast so pompös wie die Residenz des Governors hoch oben in den Hügeln. Inzwischen konnte man Pergamum fast schon als Nachhut-Basis bezeichnen, da es längst mehr Annehmlichkeiten gab und die strategische Bedeutung deutlich gesunken war. Dennoch war die Grcnzflotte nach wie vor hier stationiert, auch wenn im Moment die meisten Schiffe an Manövern teilnahmen. An diesem Abend war der Saal weit davon entfernt, gefüllt zu sein. Die Tischgespräche schienen viel zu laut in der leeren Weite des Raums nachzuhallen. Umso angenehmer war es, sich zurückzuziehen, was die Offiziere in kleinen Grüppchen machten, indem sie sich in die Spielsäle oder nach draußen begaben, um die klare Nachtluft zu genießen. Andere hatte es - so wie Sergei - in den Dachgarten gezogen, von wo aus man die Sterne betrachten konnte. Die Offiziere, die sich für den Dachgarten entschieden, blieben dort auf Abstand zueinander, da jeder von ihnen allein sein wollte. Abgeschirmt vom Lichtschein der Hauptstadt und des Flottenstützpunkts waren die Sterne klar und deutlich zu sehen, die einen 13
fremden und zugleich auf unerklärliche Weise vertrauten Anblick boten. Als Sergei dastand und in den Himmel blickte, wurde ihm bewusst, dass die Welt, auf der er sich befand, beengend auf ihn wirkte, und dass sein Platz da oben war, auf seinem Raumschiff, umgeben von all den gewohnten Dingen, die sein Leben seit fast fünfzehn Jahren bestimmten. Hier unten auf einem Planeten kam er sich eingeengt und verwundbar vor, auch wenn er nicht so ganz verstand, warum er so empfand. Antares war am Nachthimmel gut zu sehen und befand sich am höchsten Punkt eines strahlenden Halbkreises aus Sternen, der den Spitznamen »der Bumerang« trug. Sergei hatte einige Minuten gebraucht, um in der Datenbank von Pergamum Down das Wort zu finden - es war ein terranischer Begriff, eine Bezeichnung für eine alte Waffe, die später vorwiegend als eine Art Spielzeug eingesetzt wurde und die, wenn man sie richtig warf, zum Werfenden zurückkehrte. Antares, der kräftig rot-orangefarbene Stern nahe der Ekliptik, war der Heimatstern der Zor, jener Feinde der Menschheit. Er war noch nie einem Zor von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten, niemals hatte man einen von ihnen lebend gefangen nehmen können. Nur wenige Gelehrte hatten ihr Gebiet bereist, und für den normalen Flottenoffizier waren die Zor das, was er aus Einsatzbesprechungen und dem 3-V wusste: fremde vogelähnliche Wesen, mit Schnäbeln und Flügeln, mit Krallen an Armen und Beinen. Sie konnten fliegen, doch diese Fähigkeit schien sich auf Welten mit einer Schwerkraft von höchstens einem halben g zu beschränken. Außerdem hieß es, dass sie im Umgang mit einer bestimmten Waffe blitzschnell waren - mit dem Schwert! Im Grunde waren sie Aliens von der Spitze des Bumerangs, die immer wieder dorthin zurückkehrten. Fünf Kriege hatten sie gegen die Menschheit geführt - jeden hatten sie begonnen, jeden hatten sie verloren. Und mit jedem Mal war die Grenze zwischen Menschen und Zor ein Stück weiter in Richtung der Aliens verrückt worden. Laut den Angaben von Sternkarten, in deren Besitz 13
die Menschheit gelangt war, hatte einmal das gesamte Gebiet, das heute die Neuen Territorien darstellte, den Zor gehört - grob formuliert ein Würfel mit einer Kantenlänge von mehr als vierzig Parsec, wobei sich Pergamum nahe dem Zentrum dieses Raums befand, der sich von einer praktisch leeren Region mit Namen Antares-Verwerfung aus in Richtung des Sol-Systems ausdehnte. Auf der anderen Seite der Verwerfung - 150 Parsec vom Sol-System entfernt - befand sich Antares in der Mitte einer Gruppe von elf Sternen, die die Heimatwelten der Zor waren. Vier oder fünf von ihnen konnte man am Nachthimmel von Pergamum sehen, der Rest war mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Sie kehrten immer wieder dorthin zurück. Der Gedanke bescherte dem Flottenoffizier eine Gänsehaut, wollte ihm aber nicht wieder aus dem Kopf gehen. T+13 Stunden 27 Minuten 2. Februar 2311 1709 Standardzeit
»Nachricht von der Gustav Adolf, Skipper.« Auf dem Pilotendisplay war im Umkreis von zweihunderttausend Kilometern keinerlei Aktivität zu erkennen. Sergei nickte Chan zu, damit der die Kom-Station übernahm. »Stellen Sie durch in den Bereitschaftsraum.«
»Aye-aye.« »Sprechen Sie, Sir«, sagte Sergei, kaum dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und versuchte, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Seit sie vor neun Stunden ins Gefecht gezogen waren, hatte er sich nur zwei Stunden lang ausgeruht. McMasters nahm auf dem Platz gleich neben ihm als Holo Gestalt an. »Ich bekomme keine Antwort von der Odessa, der Segontium und der Indefatigable. Die Pembroke meldet schwere Schäden, 14
aber Cory sagt, sie können als Bewachung für die Transporter agieren. Die Cambridge ist in der Ionosphäre des Gasriesen postiert. Allen anderen scheint es gut zu gehen. Wie sieht's bei Ihnen aus?« »Wir liegen bei fünfundachtzig Prozent Effizienz, Sir. Aber wir werden sämtliche überschüssige Feldenergie in der nächsten halben Stunde abgestrahlt haben.« »Gut. Nach meinen Daten zu urteilen, ist Ihr Sektor weitestgehend frei. Unser Befehl lautet, uns in der Nähe der Genève einzufinden. Vermutlich werden wir ein Stück weit zurückweichen müssen, aber wir haben den Zor schwere Verluste zugefügt.« »Ihre Verluste scheinen sie nicht zu interessieren, Sir.« Sergei berichtete ihm von der Zerstörung der Anson und einer ganz ähnlichen Szene, die die Überreste der Karakorum betraf, bei der die Lancaster auch ein wenig zu spät eingetroffen war. »Mein Gefühl sagt mir, Sir, dass sie Schiffe vernichten wollen, sich aber um die Basis gar nicht kümmern.« »Hmm.« McMasters fuhr sich durch sein zerzaustes Haar und rieb sich den Nacken. Elfeinhalb Stunden waren seit dem Start von der Pergamum-Basis vergangen. Der Mann sah aus, als hätte er die ganze Zeit über den Platz des Piloten an Bord der Gustav Adolf nicht verlassen. »An der Beobachtung könnte etwas dran sein, aber der Admiral geht nach wie vor von einem Angriff auf die Basis aus.« »Also bleibt die Verstärkung weiter innerhalb des Asteroidengürtels?« »Für den Augenblick, ja. Wir halten die Verteidigungslinie, Sergei, und werden austeilen anstatt einzustecken. Begeben Sie sich zur Genève, und sollten Sie vor mir dort eintreffen, melden Sie sich beim Admiral.« »Aye-aye, Sir.« Keine zwei Stunden später kam das Flaggschiff der Flotte, die Royal Oak, in Sichtweite. Eine rasche Inspektion des Schiffs und vor allem der Energiegradienten zeigte, dass es in Kämpfe verwickelt worden war. Der Admiral hatte offenbar an vorderster Front 14
mitgekämpft. Die Gustav Adolf war der Lancaster zuvorgekommen und hatte sich zu mehr als zwei Dutzend Schiffen gesellt. Von McMasters Kommando hatten es die meisten Schiffe geschafft, außerdem waren dort die Überreste von zwei anderen Geschwadern versammelt. Die Zor-Schiffe, die auf dem Masseradar der Lancaster zu entdecken gewesen waren, hatten sich ebenfalls zurückgezogen, da sie ganz offenbar nicht bereit waren, sich dem Flaggschiff zu nähern, wenn es von so viel Feuerkraft umgeben war. Es herrschte relative Ruhe, während die Schiffe sich neu formierten und überschüssige Energie aus ihren Abwehrfeldern abgaben. Dennoch erkannte Sergei sofort die Zeichen einer Schlacht, die mehr als dreizehn Stunden lang getobt hatte. Viele Schiffe -mehr als die Hälfte sogar - strahlten noch immer weiß glühende Energie ab, und bei gut der Hälfte von ihnen waren Unregelmäßigkeiten und deformierte Abschnitte in den Feldern zu sehen, was auf ausgefallene oder nicht korrekt arbeitende Ausrüstung hindeutete. Die Lancaster hatte durch Überladung zwei Leiter an Steuerbord verloren, doch die Außenhülle war von Treffern verschont geblieben. Insgesamt war das Schiff noch in einer recht guten Verfassung. »Nachricht von Captain Schaumburg, Skip«, meldete sich Anne DaNapoli von der Kom-Station. Vor vier Stunden war sie zum Dienst erschienen und hatte sich seitdem nicht ablösen lassen. Sie blickte ernst und müde drein, doch wahrscheinlich sah sie noch um einiges besser aus als Sergei selbst. Nach dem Gespräch mit McMasters hatte er sich widerwillig eine Weile hingelegt, aber nicht einschlafen können. »Stellen Sie durch... Dolph, was kann ich für Sie tun?« »Die Lancaster scheint Ihnen Glück zu bringen, Sergei«, stellte Dolph Schaumburg fest. »Ihr Schiff sieht ja aus, als sei es gar nicht in der Schlacht gewesen. Hoffentlich bleibt Ihnen das Glück treu. Ich kann Ihre gestrandeten Flyer an Bord nehmen, sobald Sie wollen.« »Ich habe noch keinen Befehl erhalten, Formation einzuneh 14
men. Dann wäre jetzt doch eigentlich ein guter Zeitpunkt. Sind Sie sich sicher, dass die Cambridge genug Platz an Bord hat? Ich habe hier acht Stück an Bord stehen.«
»Wir haben im Gefecht ein Viertel unserer Fighter verloren, wir haben also Platz genug. Übrigens sollten diese Flyer besser einsatzbereit sein. Meine Leute sind todmüde, und damit meine ich nur die, die nicht in der Krankenstation liegen... oder in der Kühlkammer.« Oder die inmitten der Trümmer im All treiben, dachte Sergei. »Ich werde ihnen den Befehl geben.« »Ich erwarte die Jungs. Cambridge out.« »Hangardeck«, sagte Sergei, nachdem er das Interkom an seiner Armlehne betätigt hatte. »Hier spricht der Captain. Fighter startklar machen und dann rüber zur Cambridge. Bruce, sagen Sie ihnen, sie haben fünfzehn Minuten Zeit, um die Lancaster zu verlassen, sonst müssen sie sich den Rest der Schlacht vom Frachtraum aus ansehen.« Innerhalb einer halben Stunde hatten sich die imperialen Schiffe zu einer konkaven Keilform gruppiert, die Royal Oak und der Flottentransporter Genève befanden sich im Zentrum. Auf diese Weise war die größte Konzentration an Feuerkraft in der Mitte vereint, und es war leichter möglich, Angreifer einzukreisen, sollten sie es ins Zentrum der Formation schaffen. Die nächsten Nachbarn der Lancaster waren der Flottentransporter Cambridge und McMasters' Flaggschiff, die Gustav Adolf, gleich daneben hielten sich die Phaedra und die Harrison auf. Niemand zweifelte daran, dass die Zor-Schiffe die gesamte Formation angreifen wollten. In einer lockeren Linie näherten sich die gegnerischen Raumfahrzeuge, beschleunigten, erreichten ihre maximale Leistung und nahmen dann allmählich die Geschwindigkeit zurück. Der Admiral hatte Fighter vor den großen Schiffen platziert, um das Vorrücken der Zor zu behindern. Die machten jedoch keine Anstalten, den winzigen Schiffen auszuweichen, son 15
dem nahmen es lieber in Kauf, durch Glückstreffer der Fighter-Pi-loten Verluste zu erleiden. Als die Zor in Feuerreichweite waren, hatten die meisten Fighter sich wieder zurückgezogen. Kleinere Raumfahrzeuge konnten sich als nützlich erweisen, wenn die Zor erst einmal in der Falle saßen, daher lauteten Sergeis Befehle, eines zu ermöglichen: Angriffe der Zor auf den Flottentransporter abzuwehren, indem alles attackiert wurde, was nahe genug kam. Die Zor schienen zu wissen, was sie erwartete. Zwei Schiffe der Sunspot-Klasse, ein etwas langsamerer und schwerer bewaffneter Typ als die Eclipse-Klasse, gingen einer direkten Konfrontation mit der Lancaster aus dem Weg und versuchten, die Cambridge zu erreichen. »Feuern Sie nach Belieben«, sagte Sergei, als sie sich näherten. Die Waffensektionen erfassten ihre Ziele und eröffneten das Feuer. Auf dem Pilotendisplay kämpften imperiale gegen Zor-Schiffe, die auf die größeren Raumfahrzeuge zuhielten, ohne sich um das Feuer zu kümmern, das sie empfing. Der Bugmonitor war in ein mattes Orange getaucht, als eines der Zor-Schiffe sein Feuer auf ein Segment des Abwehrfelds konzentrierte. »Feuer einstellen! Steuermann, Kurs auf neue Koordinaten«, befahl Sergei auf einmal und gab einen Kurs nach steuerbord an, der das Schiff in eine Position brachte, in der die Leiter an Backbord und an der Unterseite förmlich präsentiert wurden, während die beschädigten Leiter auf der Steuerbordseite abgeschirmt wurden. »Ein Viertel voraus.« Das Schiff ging auf den neuen Kurs, und ein hellgelber Punkt flammte unmittelbar davor auf dem Schirm auf: Der konzentrierte Beschuss, der das Abwehrfeld der Lancaster hatte knacken sollen, um einen direkten Treffer am Schiff selbst zu landen, war bei dem Manöver durch den abrupten Wechsel in der Struktur des Felds verteilt worden. »Kursänderung zurück, voller Stopp. Waffensektionen, Feuer wieder eröffnen. Pam, wie sieht es mit der Feldstärke aus?« 15
»Um dreiundzwanzig Prozent gesunken«, antwortete Pam Fordyce so prompt, dass sie mit der Frage gerechnet haben musste. »Anne, rufen Sie McMasters. Informieren Sie den Commodore, dass die Zor möglicherweise versuchen, ihre Angriffe zu konzentrieren, um die Felder zu durchdringen. Empfehlen Sie Ausweichmanöver. Ich...« »Verzeihen Sie, Sir, da kommt eine dringende Nachricht von der Geneve«, unterbrach DaNapoli ihn. »Lassen Sie hören.« «... alle Schiffe. Das Flaggschiff der Flotte wird von einer großen Zahl feindlicher Schiffe angegriffen. Ich wiederhole: eine große Zahl feindlicher Schiffe. Konzentrierter Beschuss des Flaggschiffs. An alle Schiffe: Das Flaggschiff benötigt Hilfe.« Die Nachricht wurde wiederholt, und Sergei hob eine Hand, damit die Durchsage unterbrochen wurde. »Anne, versuchen Sie, die Royal Oak zu rufen. Steuermann, wie ist der Status unserer beiden Angreifer?«
»Der nähere von beiden liegt bei etwa vierzig Prozent, Captain, Manövrierfähigkeit teilweise eingeschränkt. Der andere liegt bei gut sechzig Prozent, scheint sich aber zurückgezogen zu haben, um Feldenergie loszuwerden. Er ist fast außer Reichweite unserer Waffen.« »Schicken Sie ihm ein paar Torpedos. Und versuchen Sie bei dem anderen, das Feld zu durchdringen.« »Die Royal Oak scheint die Kommunikation verloren zu haben, Captain«, warf Anne DaNapoli ein. »Ich konnte Commodore McMasters erreichen, Sir. Er meint, dass wir in der Lage sein sollten, hier den Kampf einzustellen und den anderen Verstärkung zu geben.« Sergei nahm sich einen Moment Zeit, um das Pilotendisplay zu betrachten. Die Zor-Schiffe, die zahlenmäßig den imperialen Schiffen deutlich überlegen waren, hatten sich auf die Mitte der Formation konzentriert, als versuchten sie, das Flaggschiff einzukreisen. Selbst die beiden Schiffe, die sich der Cambridge hatten nähern 16
wollen, schienen nun abzuwarten und ihren Kurs Richtung Royal Oak zu ändern. Die Lancaster und die Pembroke beschleunigten und steuerten auf das Zentrum der imperialen Formation zu. Sergei beobachtete, wie sich die Holo-Muster auf dem Pilotendisplay anzuordnen begannen: Der Angriff stellte sich als clevere Strategie dar, die sich deutlich von den früheren Taktiken der Zor unterschied. Die Captains der Zor-Schiffe schienen völlig unbekümmert in das feindliche Feuer zu fliegen und waren dabei so übermäßig aggressiv, wie man es von ihnen kannte, doch ihre Taktik hatte mit einem Mal viel subtilere Züge angenommen. Sie versuchten, die Schiffe im Randbereich der imperialen Formation lange genug zu beschäftigen, um das Feuer auf das Zentrum konzentrieren zu können - so wie sie es von Anfang an geplant hatten. »Pam«, unterbrach Sergei die relative Ruhe auf der Brücke, als die Lancaster damit begann, die Geschwindigkeit zurückzunehmen, während sie sich der Position der Royal Oak näherte. »Versuchen Sie, den Zustand des Flaggschiffs festzustellen.« »Das ist schwierig«, erwiderte sie umgehend. »Es herrscht viel Lärm ... oh.« Ihre Finger flogen förmlich über das Kontrollpult, dann schien sie ihre Bewegungen zu wiederholen, als wolle sie die Information überprüfen, die sie erhalten hatte. Sie drehte sich auf ihrem Platz um und sah zu Sergei. »Sie strahlt in Blau, Sir. Die Royal Oak ist im Begriff, die Feldenergie zu verlieren.« Er klammerte sich unwillkürlich an seinen Armlehnen fest. »Unsere Ankunftszeit?« »Sechs Minuten, Captain. In weniger als zwei Minuten sind wir in Feuerreichweite.« »Steuermann, halbe Kraft voraus.« »Aber das bringt uns aus der Gefechtszone, Sir. Wir können dann nicht rechtzeitig langsamer werden.« »Wir müssen hart wenden. Ich will in Feuerreichweite sein...« 16
Ein großer Teil des Bildschirms blitzte weiß auf, drei weitere Explosionen folgten. »... bevor...« Die Szene, die sich ihm bot, war äußerst verwirrend: Die Explosionen sprangen über auf ein anderes, viel größeres Schiff - womöglich ein Transporter -, und gleichzeitig versuchten Schiffe der Menschen und der Zor, aus dem Gebiet zu entkommen. Nur Schiffe in unmittelbarer Nähe konnten betroffen gewesen sein, es sei denn, der Energieausstoß war immens gewesen. »... Kommando zurück, Steuermann. Pam, können Sie die Royal Oak erfassen?« Er glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Das grelle Licht begann zu verblassen, während sie sich dem Mittelpunkt des Durcheinanders näherten. »Nein, Sir, und ich kann auch die Genève nicht finden.« Auf der Brücke der Lancaster herrschte Grabesstille, wenn man von der üblichen Geräuschkulisse des Schiffs absah. Das Pilotendisplay vor Sergei begann sich neu zu ordnen, indem die Transponder-Kodes von gut einem halben Dutzend Schiffe zu beiden Seiten erloschen, da der Masseradar sie nicht mehr erfassen konnte. »Pergamum-Basis, hier ist die Gustav Adolf.« Die Lancaster empfing eine systemweit ausgestrahlte Mitteilung. Anna DaNapoli wollte sie eben abstellen, doch Sergei hielt sie mit einer knappen Geste davon ab. »Basis, hier spricht McMasters von der Gustav. Können Sie mich hören?« »Hier Pergamum-Basis.« »Basis, schicken Sie Verstärkung. Die Royal Oak und der Transporter Genève wurden zerstört. Wir brauchen die Verstärkung.« »Wiederholen Sie, Gustav Adolf. Sagten Sie, die Royal Oak wurde zerstört?« »Bestätige. Wir brauchen sofort Verstärkung!« »Aye-aye, Sir. Ich gebe Ihre Bitte an den Lord Governor weiter.« »Das war keine Bitte, Basis, sondern ein Befehl. Admiral Bryant war an Bord des Flaggschiffs und ist vermutlich tot. Ich habe jetzt das Kommando. Also schicken Sie die Reserve los!« 16
»Ich ...« Der Kom-Offizier der Pergamum Base hatte eindeutig anderslautende Befehle erhalten. Sergei lehnte sich in seinem Sitz vor. Ted hatte eine systemweite Übermittlung gewählt, damit alle Schiffe mithören konnten. Vielleicht hörten sogar die Zor mit, doch das war im Moment nicht von Bedeutung. »Ich fürchte, ich muss mit Lord Governor Ewing Kontakt aufnehmen, Sir. Er gab mir den ausdrücklichen Befehl...« »Hören Sie mir gut zu, Junge. Hier spricht Commodore McMasters, derzeitiger Befehlshaber aller Streitkräfte in diesem System. Nach Dienstjahren habe ich einen höheren Rang als der Lord Governor, und höher als Sie rangiere ich allemal. Lassen Sie auf der Stelle diese Schiffe starten, damit sie sich zum Asteroidengürtel begeben. Sonst gibt es keine Flotte mehr, die noch verteidigt werden kann. Haben Sie mich verstanden?« »Ich habe verstanden, Sir, aber ich...« Die Verbindung zur Basis brach auf einmal ab, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Einen Moment später war die Verbindung wiederhergestellt, aber die Stimme war eine andere. »McMasters, hier spricht Governor Ewing. Sie sind nicht autorisiert, den Verteidigungsstreitkräften von Pergamum Befehle zu erteilen. Das Kommando über sie wurde mir von Admiral Bryant übertragen.« »Bryant ist tot, Mann, und das werden wir auch bald sein, wenn Sie nicht diese gottverdammten Schiffe losschi...« »Die Aufgabe dieser Schiffe ist es, die Pergamum-Basis zu beschützen, McMasters, und sie werden hier bleiben, um genau das zu tun. Sie haben keine Befehlsgewalt über sie.« »Hören Sie, Ewing. Ich stehe rangmäßig über Ihnen, und wir befinden uns hier in einer Kriegssituation. Das ist keine verdammte m
Übung, in der man Ihnen einen Punkt abzieht, weil Sie gegen die Vorschriften verstoßen haben. Die Zor sind nicht hier, um die Pergamum-Sternenbasis einzunehmen.« »Der Admiral ist... war anderer Ansicht.« »Mir ist egal, welcher Ansicht er war! Die Zor haben es auf die 17
Schiffe abgesehen, Mann. Sie wollen die Flotte außer Gefecht setzen!« »Wenn das stimmt, warum soll ich dann noch mehr Schiffe ins Gefecht schicken? Die Zor werden sie genauso zu Zielen erklären.« »Sie sollen sie losschicken, Lord Governor, weil ich es Ihnen befehle!« »Wie ich bereits erklärte«, gab Ewing zurück, als wolle er einem aufsässigen Schuljungen eine Lektion erteilen, »dass ich Ihre Autorität, mir Befehle zu erteilen, nicht anerkenne.« »Admiral Bryant...« «... ist tot, das sagten Sie bereits. Wenn ein Admiral hier nach Pergamum kommt, bin ich sicher, dass neue Befehle erteilt werden, aber bis dahin habe ich das Kommando. Ewing Ende.« Trotz einiger tausend Kilometer Entfernung konnte Sergei förmlich sehen, wie der Commander vor Wut kochte. Die Waffensektionen versuchten immer noch, die herannahenden Zor als Ziele zu erfassen, während der Steuermann Anweisungen vom neuen Flaggschiff erhielt. Die Lancaster und die anderen Schiffe in der Nähe sollten versuchen, eine Formation einzunehmen, die einem Spinnennetz glich, damit man sich gegenseitig Feuerschutz geben konnte. Unterdessen schien bei den Zor Verwirrung auszubrechen. Willkürlich schössen sie auf alles, was ihnen zu nah kam. Auf Sergei wirkte es so, als hätten sie vollständig ihre Kampfformation aufgegeben. »Augenblick mal«, sagte er leise, als er weiter das Pilotendisplay studierte. Die Zor bewegten sich nicht zufällig weiter, sondern nahmen eine Formation ein, die sich nur langsam abzeichnete -und sie bewegten sich auf die Gustav Adolf zu. »Anne, verbinden Sie mich mit der Gustav Adolf.« Das Flaggschiff der Flotte, sagte er sich. »Sie versuchen es ein zweites Mal.« 17 T+ 1 7 Stunden 6 Minuten 2. Februar 2311 2048 Standardzeit
Eine sengende Klinge aus Feuer fuhr über die Unterseite der Gustav Adolf, schnitt das Hangardeck heraus und verursachte eine Serie von Explosionen. Sergei konnte sich bei dem Anblick vorstellen, wie Schotten zuschlugen, während die internen Schiffssysteme den Schaden zu lokalisieren versuchten. Shuttles und Crewmitglieder wurden ins All gerissen. Manche Shuttles brannten sogar noch, obwohl der Sauerstoff, der den Flammen Nahrung gab, bald aufgebraucht sein würde. Dann würde nichts weiter als Trümmer übrig bleiben... T+ 1 7 Stunden 30 Minuten 2. Februar 2311 2112 Standardzeit
Das Pilotendisplay der Lancaster registrierte Schiffe, die ins System sprangen - zwanzig, dreißig Schiffe in Keilformation, die zielstrebig auf das innere System Kurs nahmen, in dem sich die beiden Flotten bis aufs Messer bekämpften. Die Transponder-Kodes erwachten zum Leben und zeigten, dass es sich um imperiale Schiffe der Zweiten Flotte handelte... T +17 Stunden 54 Minuten 2. Februar 2311 2136 Standardzeit
Wieder meldete das Pilotendisplay Schiffe, die in den Realraum eintraten, diesmal noch ein Stück tiefer im Schwerkraftfeld. Aber diesmal wurden sie als Schiffe der Zor gekennzeichnet. 18
Der Feind erhielt Verstärkung. Sergei musste nicht hinsehen, um zu ahnen, wo sie ihre Reise angetreten hatten: an den Koordinaten in der Antares-Verwerfung, von denen zuvor schon die anderen Schiffe gekommen waren. Abermals wurde ihm bewusst, dass die Zor neue Taktiken zum Einsatz brachten. Denn zum ersten Mal schickten sie nicht gleich ihre gesamten Streitkräfte los, sondern warteten darauf, dass die Verstärkung der Imperialen eintraf, um dann ihrerseits eine zweite Welle folgen zu lassen. Während er seine Befehle erteilte und die Lancaster beidrehen ließ, da es keine Verbindung zu seinem Kommandanten an Bord der Gustav Adolf gab, fragte er sich, ob irgendjemand diese Schlacht bei Pergamum überleben würde. Wieder musste er an den Bumerang denken - die Konstellation am Himmel über Pergamum, mit Antares an der Spitze, dem Heimatstern der Zor...
aLi'e'er'e
Die Wahl des Fluges Teil 1 1. Kapitel
Wir glauben, dieser Vertrag wird die Grundlage bilden für einen dauerhaften Frieden mit dem Volk der Zor. Baron Reichardt von Denneva, Staatssekretär, über den Vertrag von Efal (2309)
Während wir den Frieden nutzen, um uns zu entspannen, rüsten sie wieder auf. Timoniel Narada, Lord Laughton, Erster Lord der Admiralität (2309)
Die Öffentlichkeit nahm die Schlacht von Pergamum als eine recht markante militärische Niederlage wahr, auch wenn es alles andere als ein vernichtender Schlag war. In strategischer Hinsicht war der Verlust für die Zor schmerzhafter als für das Sol-Imperium. Die große Zahl an Trümmerteilen, die im Pergamum-System trieben, nachdem sich auch die letzten Zor zurückgezogen hatten, versorgte den Geheimdienst der Flotte mit einer Fülle von Informationen über den Feind der Menschheit. Zudem gab es ausreichende Hinweise darauf, dass die Zor in erheblichem Umfang ihre Ressourcen eingesetzt hatten, um diesen Angriff überhaupt erst möglich zu machen. Pergamum verblieb unter imperialer Kontrolle. Das System 46 Cygni, das dreiundsechzigeinhalb Lichtjahre rund zwanzig Parsec - von der Antares-Verwerfung entfernt war und damit weit in 18
nerhalb der Grenzen des Sol-Imperiums lag, war nie wirklich in Gefahr gewesen. Der Angriff hatte nicht dem Flottenstützpunkt gegolten, sondern einzig das Ziel verfolgt, die dort stationierten mobilen Streitkräfte zu vernichten. Was noch einsatzbereit war, nachdem sich die überlebenden Zor zurückgezogen hatten, blieb dort, um die Basis zu bewachen. Schiffe, die den kurzen Sprung zum Raumdock bei Mustapha zurücklegen konnten, begaben sich dorthin. Die Aufräumarbeiten begannen, Tote wurden bestattet -viele von ihnen im All. Eine Woche verstrich, ohne dass es zu einer weiteren Attacke kam, und dann ein Monat. Das Sol-Imperium befand sich wieder im Krieg. Sergei Torrijos, Commodore in der Navy Seiner Imperialen Majestät, wartete darauf, dass die Retina-Abtastung seine Identität bestätigte. Als schließlich die letzten Sicherheitstüren zur Seite glitten, um ihm Zutritt zu gewähren, nahm er noch rasch ein paar kleinere Korrekturen an seiner Uniform vor, erst dann ging er durch den hell erleuchteten Korridor. Beide Wände schmückten Porträts von Kriegshelden, die allesamt finster dreinblickten und Uniformen zur Schau stellten, auf denen Ehrenabzeichen und Verdienstorden prangten. Das war Teil der Atmosphäre der Admiralität - damit Junioroffiziere vor Ehrfurcht erstarrten und das Gewicht einer altehrwürdigen Tradition auf ihren Schultern spürten, die seit hunderten von Jahren Bestand hatte.
Zwar wäre Sergei lieber auf seinem Raumschiff gewesen, doch er wusste, aus welchem Grund er hier war. Jeder dieser auf den Porträts verewigten Männer würde liebend gern mit mir tauschen, sagte er sich. Ein lebender Commodore zu sein ist allemal besser als ein toter Admiral. Er erreichte die letzte zweiflügelige Tür, die mit Schwert und Sonne dekoriert war, dem Symbol des Sol-Imperiums. Die Türen aus poliertem Holz waren mit Messinggriffen versehen - Relikte aus einer fernen Vergangenheit. 19
»Herein«, hörte er eine vertraute Stimme rufen, kaum dass er angeklopft hatte. Er trat ein, und sein Blick fiel auf die Skyline von Greater St. Louis, auf den beständigen Strom an Coptern und Aircars sowie auf den riesigen Weltraumhafen. Das Offene, Weite des Raums löste in ihm ein gewisses Unbehagen aus, hatten die langen Jahre an Bord eines Raumschiffs bei ihm doch eine leichte Platzangst entstehen lassen. Ganz am linken Rand des Panoramablicks drehte sich ein Mann zu ihm um. Ein breites Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, dann kam er durch das Zimmer zu Sergei gehumpelt, der dastand und seine Dienstmütze unter den Arm geklemmt hielt. Beide salutierten und gaben sich die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, mein Freund. Die Uniform eines Commodore steht Ihnen gut.« »Vielen Dank, Admiral.« »So förmlich?« Konteradmiral Theodore McMasters begab sich langsam zu einem Sideboard und deutete auf eine bequeme Sitzgruppe in einer Ecke des Raums. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Wodka, stimmt's? Oder gr'ey'l?« »Nein, danke, Sir.« »Dann schenke ich nur mir ein Glas ein.« McMasters gab Whiskey und Soda in ein Glas, rührte gut um und hob es dann in Richtung des Kontrolltowers. »>Auf den ewigen Ruhm von ...< Ach, den Rest kennen Sie ja«, unterbrach er sich selbst und stellte das Glas neben dem Sessel ab, in dem er Platz nahm. »So. Sind Sie mit dem neuen Kommando zufrieden?« »Diese Frage müssen Sie mir eigentlich gar nicht stellen. Es ist mehr, als ich mir je hätte erhoffen können.« »Sie sind ja auch ein verdammt guter Offizier, Sergei.« »Sir, Sie wissen doch, dass es in der Navy Seiner Majestät so gut wie nichts besagt, ob man ein >verdammt guter Offizien ist oder nicht. Ohne Freunde ganz oben wird aus einem >guten Offizien nie mehr als ein Steuermann oder ein Bordingenieur.« 51
»Mein alter Freund und Kamerad - Sie haben nun einen Freund ganz oben.« Er zwinkerte ihm zu und lächelte, dann breitete er die Arme aus, als wolle er ganz Greater St. Louis umfassen. »Ich hatte auch nicht damit gerechnet, hier zu sitzen, aber nach... nun, das Mindeste, was ich für Sie tun konnte, war, Ihnen einen neuen Satz Schulterklappen zu verschaffen. Vor allem, wenn Sie mit der alten Rostlaube fliegen müssen.« »>Rostlaube« Sergei rutschte in seinem Sessel nach vorn. »Die Lancaster ist das beste Kampfschiff der ganzen Flotte!« Nach einem kurzen Zögern fügte er an: »Sir.« McMasters musste lächeln. »Jeder Captain der Flotte würde das von seinem Schiff behaupten, aber es freut mich, dass Sie auf das alte Mädchen so stolz sind. Früher war es mein Schiff, und ich hoffe, Sie behalten sie als Ihr Flaggschiff, wenn die Generalüberholung abgeschlossen ist.« »Aye-aye, Sir.« Sergei hatte befürchtet, ihm könnte ein neu in Dienst gestelltes Schiff der vierten oder fünften Generation als neues Flaggschiff zugeteilt werden. Er würde jedem gegenüber zugeben, dass er die alte Lancaster bevorzugte, auf deren Crew und Systeme er sich verlassen konnte. Ohne diese Crew und die Systeme wäre er heute längst tot - so wie die Männer und Frauen der Royal Oak, der Pembroke, der Sun Tzu und anderer Schiffe. Schiffe, von denen nur verformtes Metall übrig geblieben war, das zusammen mit anderen Trümmern, Fleisch und Knochen durch die Leere des Systems 46 Cygni trieb. Pergamum. Die Echos dieser Schlacht, die vor einigen Wochen stattgefunden hatte, hallten immer noch in seinen Ohren nach, und vor seinem geistigen Auge spielten sich wie eine 3-V-Dokumentation die Szenen der Vernichtung ab. Diese Vernichtung war das unvermeidliche Ergebnis jenes Vertrauens, das man einmal mehr in die Zor gesetzt hatte, weil man an den »ernsthaften Wunsch nach Frieden« dieser feindseligen Aliens glauben wollte. 19
Seine düsteren Gedanken mussten sich in seinem Gesicht widergespiegelt haben, da McMasters erneut sein Glas hob. »Ich erinnere mich auch daran, Sergei, alter Mann. Die Gustav Adolf befand sich in einer noch schlechteren Verfassung, als wir Mustapha erreichten.«
Eine Explosion an Bord der Gustav Adolf hatte McMasters' Bein zerschmettert. Zur Zeit der Schlacht war er im Kampfgebiet der ranghöchste Offizier gewesen - ein Commodore, der keinem Admiral Rechenschaft ablegen konnte, da kein Admiral überlebt hatte. »Ich nehme an, Sir«, sagte Sergei einen Moment später, »Sie haben mich nicht hergebeten, um über die gute alte Zeit zu reden.« »Nein, es gibt etwas Wichtigeres.« McMasters beugte sich vor und legte die Hände auf seine Knie. Es waren die Hände eines Ingenieurs, von Brandwunden und Narben überzogen, die der Admiral in seiner langen Karriere vom Junior-Ingenieur über den Chefingenieur bis hin zum Spezialisten davongetragen hatte. »Sergei«, sagte er und betrachtete seine Finger. »Ich habe wichtige Neuigkeiten für Sie. Die betreffen eine Sache, die den Verlauf dieses Krieges verändern könnte. Erinnern Sie sich an einen Captain namens Marais?« Ein paar Sekunden dachte Sergei nach. »Ein Aristokrat, wenn ich mich nicht irre. Der Familie gehört... eine landwirtschaftliche Kooperative?« »Marais-Tuuen, ganz richtig. Während des letzten Krieges, also in der Zeit vor Efal, wurde er schnell befördert. Dann machte er einige Bemerkungen über die Kriegführung, die seinen Vorgesetzten gar nicht gefielen. Also entschied er sich, freiwillig in den Ruhestand zu gehen, wurde gleichzeitig aber zum Vizeadmiral befördert und aus dem aktiven Dienst genommen. Um sich zu beschäftigen, verfasste er ein Buch.« McMasters holte aus einer Schublade eine Buchdisk hervor und schob sie über die Tischplatte zu Torrijos. »Haben Sie es gelesen?« Sergei schüttelte den Kopf. »Ich hatte nie das Vergnügen, Sir, 20
doch soweit ich weiß, handelt es sich um eine Kampfschrift gegen die Zor.« Er nahm das Buch und betrachtete das kleine 3-D-Foto auf der Umschlagrückseite, das den Autor zeigte. Der Mann mit den grauen Schläfen trug die Uniform eines Captains, erweckte aber nicht den Eindruck eines lärmenden Wirrkopfs, als den ihn die Kritiker darstellten, wie sich Sergei erinnerte. »Einfach nur ein Verrückter?«, fragte er. Der Admiral trank einen Schluck. »Kann sein. Lassen Sie mich das Buch kurz zusammenfassen: Marais wartet mit einer Analyse auf - vielleicht die Analyse eines Verrückten, vielleicht aber auch nicht -, die jeden Schritt der Zor untersucht, seit sie vor sechzig Jahren Alya angriffen. Er hat einen Blick auf die Quellen der Zor werfen können, vorwiegend Mythen und Religiöses, aber auch einige ihrer öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen. Ich habe ihn überprüft und muss sagen, dass seine Referenzen stimmen und er ihre Sprache fließend zu beherrschen scheint. Geschrieben hat er das zwei Jahre vor der Schlacht von Pergamum, aber er wusste da bereits, dass die Zor nicht die Absicht hatten, den Frieden zu wahren - weder nach dem Vertrag von Efal noch nach irgendeinem anderen Vertrag, den sie je unterzeichnet haben. Der Grund ist aber nicht etwa der, dass es sich um eine Bande von Lügnern handelt. Ganz im Gegenteil, er hält sie sogar für extrem ehrbar.« »Und warum brechen sie dann jeden Vertrag, den sie schließen?« »Nun, er sagt, sie brechen diese Verträge eigentlich gar nicht. Sie ignorieren sie vielmehr. Für die Zor hat ein Vertrag mit einer >niederen Lebensform< - also Menschen wie Sie und ich - keine Bedeutung. Die Menschheit entzieht sich den Schöpfungsparabeln der Zor, sie ist eine Abscheulichkeit, die vernichtet werden muss. Wir haben schon immer vermutet, dass es irgendeinen Grund für ihre schreckliche Verbissenheit geben muss, schließlich greifen sie vorzugsweise dicht besiedelte Gebiete und landwirtschaftlich genutzte Welten an, anstatt militärische oder industrielle Ziele auszuwählen. Jeden Frieden, den sie schließen, nutzen sie seiner An 20
sieht nach lediglich, um aufzurüsten und sich für die nächste Schlacht bereitzumachen.« McMasters hielt kurz inne. »Unser Problem besteht darin, dass wir bei jedem Friedensangebot sehr entgegenkommend vorgehen und den Zor ihre Armee und ihre Flotte belassen, nachdem sie sich ergeben haben. Damit schaffen wir aber eigentlich nur die Grundlage für den nächsten Angriff, der ein paar Jahre später folgt. Die Zor betrachten jeden Feind, der so denkt und handelt, mit Verachtung«, schloss er seine Ausführungen. »Mich überrascht nicht, dass sein Buch so schlecht aufgenommen wurde«, sagte Sergei. »Es lässt uns Menschen schwach und unentschlossen erscheinen. Es ignoriert auch völlig den Druck der Medien, als sich der Krieg in seiner heißen Phase befand.« »Jene Gruppen, die nie gesehen haben, zu welchen Zerstörungen die Zor fähig sind...« »Und Marais hat davon auch nie etwas gesehen.« »Das stimmt. Er diente vor allem in der Nachhut, er war nur ein-oder zweimal in Kampfgebieten eingesetzt, und dann auch nur als Stabsoffizier. Aber weshalb ich das zur Sprache bringe, Sergei -die heftigste Kritik an seinem Buch Der totale Sieg erntete er für seine Aussage, die Zor würden wieder angreifen, und zwar schon
sehr bald. Niemand an höherer Stelle hielt einen weiteren Angriff der Zor auf das Sol-Imperium für möglich. Sogar die Analysen der Admiralität ergaben, dass die Zor nach der Niederlage bei Scandia mindestens zehn bis zwölf Jahre benötigen würden, um wieder angriffsfähig zu sein.« McMasters lehnte sich nach hinten und nippte an seinem Drink, dann legte er die Fingerspitzen aneinander. »Wie es scheint, haben die Admiralität und alle anderen die Zor massiv unterschätzt. Alle ... bis auf Ivan Hector Charles, Lord Marais, Vizeadmiral, Imperiale Navy, im Ruhestand.« »Mit anderen Worten...« »Mit anderen Worten, mein alter Freund - Marais hatte Recht, zumindest in einem Punkt. Wichtiger aber ist, dass irgendjemand 21
- und Gott allein weiß, wer das war - ein Exemplar von Der totale Sieg dem Imperator zugespielt hat. Das Ergebnis davon ist, dass Marais letzte Woche an den Imperialen Hof bestellt wurde.« Torrijos schnaubte verächtlich. »Ich möchte wetten, er will reaktiviert werden.« Wieder huschte ein Lächeln über McMasters' Gesicht. »Genau. Aber das ist nur ein Teil der Fakten. Lord Marais hat darum ersucht, zum Admiral der gesamten Flotte ernannt zu werden, um das Kommando über alle Offiziere zu bekommen.« Ein Truppentransporter rollte über die Hauptlandebahn, die für ihn frei gemacht worden war. Die Vibrationen waren im Fußboden zu spüren, außerdem klirrten die Fensterscheiben, obwohl die Entfernung über eineinhalb Kilometer betrug. »Was hat er?« »Den meisten Anwesenden am Hof Seiner Majestät verschlug es prompt die Sprache, aber der Imperator erklärte, er werde darüber nachdenken. Offenbar wurde auf den First Lord der Admiralität massiv Druck ausgeübt, denn Marais' Bitte wurde stattgegeben. Mit Wirkung ab dem 1. April 2311, also von heute an in drei Wochen, ist Ivan Lord Marais Ihr und mein vorgesetzter Offizier. Und das gilt natürlich auch für jeden anderen - Raumflotte, Marine, Luftwaffe und Bodentruppen. Im Kampfgebiet genießt Marais uneingeschränkte Autorität.« »Sir, das ist ein Skandal ... eine Beleidigung! Werden Sie das hinnehmen?« »Was soll ich denn Ihrer Ansicht nach machen? Zurücktreten? Marais festnehmen, wenn er eines unserer Schiff betritt? Ihn zum Duell herausfordern? Einen Attentäter auf ihn ansetzen? Das hier ist nicht 3-V, das ist die Realität, mein Freund. Mir bleibt gar keine andere Wahl, als das hinzunehmen. Entweder Lord Marais ist ein fähiger Mann, dann werden wir alle daraus Nutzen ziehen. Oder er ist unfähig, dann wird meine Anwesenheit vielleicht dafür sorgen, eine völlige Katastrophe zu verhindern. Sie müssen wissen, dass man mir den Posten des Chief of Staff angeboten hat.« 21
»Vom Imperator?« »Von Marais selbst.« »Inoffiziell gesprochen, Admiral - der Mann ist dreist.« »Da haben Sie Recht, aber er genießt auch das Vertrauen Seiner Imperialen Majestät. Womit wir bei Ihnen wären, Sergei. Ich bin aus dem Rennen, da ich dienstuntauglich bin. Was einem da an der Akademie vermittelt wird, dass ein Gefechtsoffizier so etwas wie ein Supermann sein muss, der stark, genial und so weiter ist... alles Unsinn. Aber eines muss ein Gefechtsoffizier: Er muss gehen können, er darf nicht humpeln. Sie werden mir ein neues Bein wachsen lassen, doch damit bin ich für ein Jahr oder noch länger außer Gefecht gesetzt. Auf jeden Fall wird die Zeit reichen, um mich überflüssig werden zu lassen. Vor allem, wenn Krieg herrscht. Ich werde für die Zeit einen Schreibtischjob übernehmen müssen, und wenn schon, kann es auch der Schreibtisch des Chief of Staff für Marais sein. Das gibt mir wenigstens die Möglichkeit, ihn zu beraten, vor allem bei seiner Entscheidung hinsichtlich des Kommandanten des Flagg-Geschwaders.« Sergei hatte schweigend zugehört, doch die letzte Bemerkung sorgte dafür, dass er leicht zusammenzuckte, als er begriff, was sie bedeutete. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, fügte McMasters an: »Ich sagte ihm, Sie seien der Beste der ganzen Flotte. Er hielt Sie zwar für zu jung und unerfahren, aber ich konnte ihm versichern, dass fünfzehn Jahre auf der Brücke eines Raumschiffs Erfahrung genug für einen Mann von Ihrer Begabung sind. Sie waren mein Steuermann, mein XO, mein Wing Commander, Sergei, und ganz offen gesprochen: Sie sind verdammt noch mal der beste Offizier, mit dem ich jemals dienen durfte. In eineinhalb Monaten wird Admiral Marais einen Vorstoß ins Zor-Territorium unternehmen, der entweder unser größter Triumph in einem halben Jahrhundert Krieg oder eine völlige Katastrophe werden wird. Vielleicht wird Marais' Strategie darüber entscheiden, vielleicht aber auch Ihr Geschick. Ich möchte, dass Sie mit dabei sind als sein Flagg-Commodore.« 21
»Ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sir. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, als Sie mich herbestellten, mitten in einer Phase ohne Job, aber... nun, was ich damit sagen will, ist...« Er ließ den Satz unvollendet. »Ich vermute, Sie nehmen den Posten an.« »Wenn ich die Lancaster haben kann, Sir, dann nehme ich an.« »Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Sie darauf nicht bestanden hätten.« McMasters stand langsam auf und ging zum Sideboard. »Wie wäre es jetzt mit einem Drink?« »Wäre nicht schlecht, weil mir sonst vermutlich klar wird, was gerade eben geschehen ist.« 22
2. Kapitel Der Komplex der der Admiralität in St. Louis erstreckte sich über eine Fläche von mehreren hundert Quadratkilometern, die früher einmal als Ackerland genutzt wurde. Ursprünglich war sie rings um das noch ältere Lambert Field errichtet worden, im Lauf der Jahrhunderte hatte man sie aber immer wieder erweitert und sich dabei mehr und mehr die Überreste der ursprünglichen Stadt einverleibt, an die sie anfangs grenzte. Doch ein Großteil von St. Louis war ohnehin in Schutt und Asche gelegt worden, als der Akzessionskrieg tobte, aus dem später das Sol-Imperium hervorging. , Die Stadt selbst war zu einer Einöde verkommen. Das Wahrzeichen, das die Skyline der alten Stadt geprägt hatte, der berühmte Gateway Arch, war längst Geschichte, teilweise bei den Bombardements zerstört und dann von Seabees* dem Erdboden gleichgemacht, die zu diesem Zweck angefordert worden waren. Hätte man den Bogen nicht wegen der Hohlräume unter seinem Fundament zu einer Gefahr erklärt, wäre er ein Verkehrshindernis gewesen, oder - schlimmer noch er hätte an eine Zeit erinnert, bevor es Imperatoren gab und bevor man den Weltraum erkundete. Heutzutage sah die Skyline einer Stadt anders aus, gedrungener und irgendwie auch verlassen. Die gewaltigen Arkologien, die die ausladenden Agroplexe von Arizona und Nevada überragten oder die Küsten von Virginia und Carolina überspannten, hatten sich als attraktiver erwiesen als die vierhundert* Pioniere der Marine; Anm. d. Red. 22
Jahre alten Urbanen Gerippe, von denen der Kontinent überzogen war. Sergei hatte St. Louis erstmals besucht, als er gegen Ende des dritten Krieges zwischen Menschen und Zor im Jahr 2295 ohne Beschäftigung war, nachdem der Transporter Ponchartrain schwere Schäden erlitten hatte und ins Raumdock gebracht wurde. Der Vertrag von Las Duhr, ein noch tollkühnerer Frieden als der von Efal, hatte der Versammlung einen guten Vorwand geliefert, das Budget der Imperialen Navy schnellstmöglich drastisch zu beschneiden. So wie viele andere war auch Sergei an Land gestrandet - mit einem Offizierspatent und seinem Halbsold, außerdem mit der Würde eines Flottenoffiziers, der aber über kein Schiff verfügte. Damals wie heute hatte er sich in einer Suite in den BOQ einquartiert, den Bachelor Officer Quarters, die an der nordöstlichen Seite des Komplexes gelegen waren. Von dort konnte er mit dem Aircar innerhalb von zehn Minuten den Flugtower und die Büros der Admiralität erreichen. Zu der Zeit hatte es nur wenig Hoffnung für einen aufstrebenden, aber alles andere als einflussreichen First Lieutenant gegeben, der am Hof über keinerlei Freunde verfügte, der aus dem Krieg zurückgekehrt und weit entfernt war von der armen Mega-city Buenos Aires. Er war sechsundzwanzig und fühlte sich in St. Louis genauso fehl am Platz wie zu Hause. Nachdem er mit einem Wasp-Fighter gegen Flottentransporter der Zor gekämpft und dies überlebt hatte, konnte ihn das Leben einer Landratte einfach nicht mehr reizen. Ihm war die Gelegenheit gegeben worden, sein hart erarbeitetes Offizierspatent aufzugeben und sich ins Privatleben zurückzuziehen, um als Frachtpilot, Sicherheitsmitarbeiter oder in einer ähnlichen Funktion zu arbeiten, hatte man doch die Abfindungen noch einmal deutlich aufgestockt. »Seine Imperiale Majestät hat für Ihre Dienste keine weitere Verwendung, daher ist es mir eine Freude, Ihnen das White Cross zu überreichen und Sie ehrenhaft aus dem imperialen Dienst zu entlassen.« So oder ähnlich lautete der Satz, mit dem man verabschiedet wurde. 22
Wenn dem Dienst Seiner Majestät besonders daran gelegen war, das Patent eines bestimmten Offiziers erlöschen zu lassen, gab es eine Methode, die als »Riffing« bekannt war - abgeleitet aus dem offiziellen Sprachgebrauch »reduction in Force«, der »Verkleinerung der Streitkräfte«. Offiziere mit Ehepartnern oder Lebensgefährten, die selbst nicht dem Militär angehörten, wechselten nur zu gern ins Zivilleben über, da sie nicht das Risiko eingehen wollten, an einem weiteren Krieg teilnehmen zu müssen. In Sergeis Leben gab es niemanden, der ihn zu einer solchen Entscheidung hätte veranlassen können, und damit stand er auch nicht vor einer Wahl. Der Weg, der ihn an diesen Punkt geführt hatte, war weder einfach noch gefahrlos gewesen. Er war der sanierten Armut seiner Geburtsstadt Buenos Aires entkommen, indem er
zur Akademie der Küstenwache ging, die er nach einem Trainingseinsatz im Sol-System mit Auszeichnung abschloss. Auch seinen Dienst an Bord des Flottentransporters Ponchartrain hatte er mit Auszeichnung absolviert. Eigentlich hatte schon vor langer Zeit festgestanden, dass die Navy seine Karriere war, doch das vorzeitige Ende der Feindseligkeiten ließ daran in ihm Zweifel aufkommen. Hier im St.-Louis-Komplex war er erstmals Ted McMasters begegnet, damals noch ein Commander. Ted war Kriegsgerichtsrat in einem Verfahren gegen Sergei gewesen, als der auf der Ponch vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Angeklagt war er wegen Diebstahls - eine Behauptung, die ein bestechlicher wachhabender Offizier erfunden hatte, nachdem Sergei als armer Bürgerlicher aus Buenos Aires bei Übungsflügen die Söhne aller Barone in Grund und Boden geflogen und sie nach allen Regeln der Kunst blamiert hatte. Auch wenn es viel einfacher gewesen wäre, die meineidlichen Aussagen der wahren Schuldigen zu akzeptieren, hatte Ted entschieden, dass die Ehre des Dienstes es verlangte, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Würdevoll hatte er es hingenommen, dass die Anklage der Imperialen Navy in sich zusammenfiel. Ted hatte das Glück, einen Posten innezuhaben, als der Frieden 23
kam. Über einige Kontakte am Hof war es ihm gelungen, sich den Rückhalt des legendären Taktikers Sir Malcolm Rodyn zu sichern, der zu jener Zeit Kommandant der Lancaster war. Auf diese Weise war es ihm möglich, der neue Captain dieses Schiffs zu werden. Nachdem er seine Befehle erhalten hatte und seine Schulterklappen die glänzenden Rangabzeichen eines Captains trugen, kam Ted McMasters zurück ins Sol-System, wo er nach geeigneten Offizieren suchen wollte, die die zentralen Positionen unter seinem Kommando einnehmen konnten. Dieser Schritt war nötig, da mit Sir Malcolms Wechsel auf den Posten eines Stabsoffiziers am Hof auch der Weggang all seiner Offiziere verbunden gewesen war. Einige von ihnen folgten ihm in einer neuen Funktion als seine Berater, andere wurden auf Sir Malcolms Betreiben hin befördert und standen für den Dienst auf der Lancaster nicht mehr zur Verfügung. Zu der Zeit war Sergei der Ansicht gewesen, sein Zusammentreffen mit Ted in der Offiziersmesse sei reiner Zufall, doch später erfuhr er, dass die Versetzung längst vorbereitet war und nur auf Sergeis Einverständnis und Unterschrift wartete. »Ich brauche gute Offiziere«, hatte Ted gesagt. »Las Duhr wird die Zor höchstens für achtzehn Monate ruhen lassen.« Das war bei den Streitkräften eine weit verbreitete Ansicht, der sich lediglich die Zivilisten nicht anschließen wollten. »Halten Sie sich bereit, in einer Woche auszulaufen.« Sergei nannte ihm die Namen einiger Kameraden, von denen er glaubte, sie seien so gut wie er selbst - oder sogar besser. McMasters wollte keinen von ihnen haben. »Tut mir Leid«, sagte er bei jedem von ihnen. »Steht nicht auf meiner Liste.« Diese Reaktion war Sergei äußerst ungerecht erschienen, denn ohne einen Gönner wie Captain McMasters, der sie aus dem Raumdock retten konnte, würden sie so lange dort festsitzen, bis sie aufgaben. »Es ist unfair«, stimmte McMasters ihm zu. »Niemand ist da anderer Meinung. Aber ich habe das verdammte System nicht erfunden, und ich muss mich nach den Spielregeln richten. Den wenigen Einfluss, den ich habe, nutze ich für mich, so gut ich es kann. 23
Wenn Sie erst mal mein Dienstalter und meinen Dienstgrad haben, werden Sie es sicher nicht anders halten.« Tatsächlich hatte er es über die Jahre hinweg nicht anders gehalten. McMasters hatte auf diese Weise fast alle Schlüsselpositionen an Bord der Lancaster besetzt, angefangen bei Chan Wells. Fünfzehn Jahre später war Sergei wieder an diesen Ort zurückgekehrt, diesmal jedoch unter völlig veränderten Bedingungen. In gewisser Weise hatte sich der Kreis geschlossen, denn jetzt lag es in seiner Verantwortung, ein Kommando fürs All vorzubereiten. Allerdings unterschieden sich die Umstände deutlich von jenen, die '96 geherrscht hatten. Damals war der Krieg in vollem Gang gewesen, und die Regierung nahm jeden verfügbaren Offizier. Nun waren die Aussichten für seine Karriere deutlich besser, denn aus dem sechsundzwanzig Jahre alten First Lieutenant war ein einundvierzigjähriger Commodore geworden, der sogar mehr Ansehen genoss und gefechtserprobter war als Ted McMasters zu seiner Zeit. Eines der Privilegien eines Commodore bestand darin, einen verschwenderisch ausgestatteten Speisesaal verlangen zu können, um während des Essens zu konferieren. Sergei hatte am Abend zuvor telefonisch reservieren lassen und war erschrocken gewesen, mit welcher Unterwürfigkeit Bürokraten einem Flaggoffizier begegneten, sogar dann, wenn der gerade erst auf diesen Posten befördert worden war. Der Warrant Officer, der die Transaktion erledigte, fragte nicht mal nach einer Kontonummer für die Belastung, obwohl er hundert andere Fragen zu stellen wusste - zur Sitzordnung, zum Menü, zum Wein, sogar zur Farbe der Tischdecke und des Geschirrs. Sergei hatte als Teds XO und als Captain seines eigenen Schiffs bereits mit solchen Dingen zu tun gehabt, jedoch nie in solchen Dimensionen. Seit seiner Rückkehr von der Front hatten
sich die Ereignisse so sehr überschlagen, dass ihm der Überblick abhanden gekommen war. Ihm wurde klar, dass er einen Staff Officer benötigte, der sich zukünftig dieser Details annehmen würde. 24
Um 1130 am Morgen seines Stabstreffens kam ein Aircar zu ihm und brachte ihn mit halsbrecherischem Tempo vom BOQ zum Rickover Building, jenem vorwiegend aus Glas und Stahl bestehenden, fünfunddreißig Etagen zählenden Verwaltungsgebäude, in dem die Messe für die Gefechtsoffiziere untergebracht war. Zum Glück zählte der Fahrer zur schweigsamen Sorte, und er war klug genug, einen Commodore nicht zu stören, wenn der in Gedanken versunken war. Es gab einiges, worüber Sergei nachdenken musste. In den wenigen Tagen seit seinem Treffen mit Admiral McMasters war er gezwungen gewesen, in der halben Zeit die Schiffe auszuwählen und die Versetzungsbefehle für jene Offiziere zu erhalten, die er seinem Kommando unterstellen wollte. Als jüngster Flagg-Commodore in der Flotte Seiner Imperialen Majestät hatte er wiederholt den Namen des neuen Flottenadmirals ins Spiel bringen müssen, um ähnliche Anforderungen anderer Offiziere in ihrer Dringlichkeit zurückzustufen, die ebenfalls versuchten, jene Posten neu zu besetzen, die durch die Kämpfe bei Pergamum und an anderen Stellen entlang der Peripherie frei geworden waren. Anders als unterwürfige Stabsoffiziere hatte jeder Gefechtsoffizier im aktiven Dienst Einfluss auszuüben und Privatinteressen zu verfolgen. Er wusste, dass er durch plumpes Taktieren manche vor den Kopf gestoßen und sich vielleicht sogar ein paar Feinde gemacht hatte. Doch es stand zu viel auf dem Spiel, um sich darüber Sorgen zu machen. Während das Aircar weiterflog, ging Sergei in Gedanken durch, was er in den letzten Tagen erreicht hatte. Nach einigem Hin und Her war es ihm gelungen, alle zehn Kommandopositionen in seinem Geschwader zu besetzen. Allerdings musste er dafür mehr Fäden ziehen als bei allen anderen Verhandlungen, die er in der Navy bislang mitgemacht hatte. Die kleineren Schiffe zurückzuerlangen, war von allem noch das Leichteste gewesen. Das plötzliche Wiederaufflammen des Krieges hatte die Kreuzer-Formationen massiv zerrissen, sodass die Schiffe einzeln oder in Zweiergrup 24
pen zur Verfügung ständen. Bei den größeren Schiffen war es nicht so mühelos verlaufen, vor allem wenn ihre Commander in die Kämpfe verwickelt gewesen waren, doch letztlich war es ihm gelungen. Der Ausbruch des Krieges hatte alle überrascht - sogar diejenigen an den Grenzen des Imperiums, wie sich Sergei vor Augen hielt. Mehrere Tage waren nötig gewesen, das Sol-System zu erreichen, wo er seine Beförderung bestätigt bekam und neue Befehle erhielt. Die Ranken seiner Privilegien hatten bereits Halt gefunden und machten sich das durch Pergamum und die Folgen ausgelöste Chaos in der Befehlskette zunutze. Es gab genügend Offiziere, die keinem Kommando zugeteilt waren, daher war es kein Problem, Personal zu finden. Schiffe Seiner Majestät zu bekommen, war jedoch ein ganz anderes Thema gewesen. Er hatte keinen Gebrauch gemacht von seinem Vorrecht, die Commander jener Schiffe auszutauschen, die ihm nun unterstanden, weil er darauf vertraute, dass den Schiffen und der jeweiligen Besatzung besser damit gedient war, wenn die gleichen Männer und Frauen weiter das Kommando führten wie bisher. Dennoch wusste er so wenig über die Offiziere, mit denen er speisen würde, dass er sich gut vorstellen konnte, wie nervös sie sein mussten. Im Rickover wimmelte es von Offizieren, die eifrig salutierten. Er bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch und betrat den Lift mit dem Hinweisschild NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL, der ihn ohne Zwischenstopp in den obersten Stock brachte. Obwohl Sergei eine Viertelstunde zu früh eintraf, war er der Letzte. Seine zehn neuen Untergebenen nahmen Habtachtstellung ein, als er hereinkam, und verharrten in ihrer Position, während er über den dicken Teppich zu seinem Platz am Kopfende des Tischs ging. Eine Ordonnanz wollte ihm in den ausladenden Sessel mit hoher Rückenlehne helfen, doch Sergei bedeutete ihm, es sei nicht nötig. »Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er in die Runde, woraufhin sich die Offiziere steif hinsetzten. Sein Blick fiel auf eine kleine, mit 24
Monogramm versehene Karte vor ihm auf dem Tisch: CDRE. S. TORRIJOS. Die Offiziere, die ihm bis dahin zum Teil nur namentlich bekannt gewesen waren, wirkten angespannt, da sie nicht wussten, was sie von ihrem neuen Kommandanten zu erwarten hatten. Sergei atmete tief durch und sah von einem zum anderen. Gleich links von ihm saß Uwe Bryant, der jüngste der zehn Offiziere und Kommandant der Indomitable. In seiner makellosen Galauniform, die eine bedrückende schwarze Armbinde aufwies, wirkte er, als fühle er sich sehr unwohl. Sein Großvater Admiral Sir Coris Bryant war bei Pergamum ums Leben gekommen, womit es an Uwe war, dessen Vermächtnis zu erfüllen. Die Indomitable war - so wie ihr Zwillingsschiff Inflexible - aus den Überresten dessen ausgewählt worden, was von Admiral Bryants Kommando nach der Schlacht von Pergamum noch verblieben war. Der Admiral und sein XO hatten Admiral DeSaia an Bord der Sun Tzu eben
einen Besuch abgestattet, als die Zor angriffen. Damit war es dem jüngeren Bryant zugefallen, das kleine Schiff während der gesamten Schlacht zu befehligen. Er besaß den Ruf eines intelligenten, wenn auch manchmal übervorsichtigen Offiziers. Neben ihm saß Alyne Bell, Captain des Transporters Gagarin. Ihre Uniformbluse war dekoriert mit den Abzeichen aus mehr als zehn Jahren. Über sie wusste Sergei, dass sie kurze Zeit an Bord der Ponehartrain gedient hatte, das erste Schiff, auf dem er selbst eingesetzt worden war. Im Gegensatz zu dem jüngeren Mann schien sie auf das gefasst, was kommen würde. Die Gagarin war ein neuerer Transporter der Eridanus-Klasse, die den alten Geschwader-Transporter Cambridge ersetzte, nachdem der unter dem Kommando von Dolph Schaumburg bei Pergamum schwere Schäden davongetragen hatte und für mindestens vier bis fünf Monate im Raumdock bleiben musste. Mit Sergeis Hilfe war es Dolph aber zumindest gelungen, das Schiff reparieren zu lassen, anstatt es einfach zu verschrotten. Links von Captain Bell hatte Roger Fredericks Platz genommen, Kommandant des Kreuzers Inflexible. Fredericks war seit vielen 25
Jahren Gefechtsoffizier und hatte unter dem Kommando von Admiral Bryant die Gefechtstaktiken für Kreuzer revolutioniert. Seiner spitzen Zunge jedoch »verdankte« er es, dass er nicht weiter befördert wurde. Er blickte säuerlich drein, womöglich weil er nicht damit einverstanden war, dass Sergei den Platz am Kopfende des Tischs einnahm. Neben ihm saß Senior Captain Yuri Okome vom Geleitschiff Ike-gai. Okome gehörte fast schon automatisch zu diesem Geschwader. Seit über fünfundzwanzig Jahren war er im aktiven Dienst, und immer wieder wurden Beförderungen in gehobene Kommandopositionen von ihm abgelehnt, damit er Captain seines eigenen Schiffs bleiben konnte. In Friedenszeiten war er Logistik-Ausbilder an der Marine-Akademie, wo er mit seinem Narbengesicht und seiner fordernden Art den Kadetten die Hölle heiß machte. Am anderen Ende des Tischs sah er Senior Captain Marc Hudson, den Kommandanten des Raumschiffs Biscayne, der den Ruf erworben hatte, bei Beschuss besonders kühl zu bleiben und äußerst innovativ zu denken. Seine Dienstakte war eine umfangreiche Sammlung von Kommentaren jener Menschen, die er mit seiner Art beeindruckt hatte, und solcher Zeitgenossen, die sich im Laufseiner rund zwanzig Dienstjahre vor den Kopf gestoßen fühlten, seit er als jüngster Offizier überhaupt das Kommando über ein Raumschiff übernommen hatte - die alte Boadicea, die in der Schlacht bei Anderson's Star schwer beschädigt worden war. Beide Lager - seine Befürworter wie seine Kritiker - hielten sich in etwa die Waage. Sharon MacEwan, Captain der San Martin, saß auf dem nächsten Platz. Sie war ein jüngerer Spross der berühmten fighting MacEwans<. Es wäre eine Schlagzeile in den 3-V wert gewesen, hätte ein Vorstoß ins Zor-Gebiet ohne einen oder eine MacEwan auf einem Kommandoposten stattgefunden. Mehr als zwei Dutzend Offiziere, die alle diesem Clan angehörten, dienten in der Imperialen Navy und setzten eine Familientradition fort, die schon zu jener Zeit etwas Althergebrachtes war, als Bonnie Prince Char 25
lie zurückkehrte und seinen Anspruch auf den britischen Thron anmeldete. Sergei fiel auf, dass Sharon sich bereits den typischen finsteren Blick der MacEwans angewöhnt hatte, durch den sich auch mancher Senioroffizier eingeschüchtert fühlte. Zu MacEwans Linken saß Tina Li, die das Raumschiff Sevastopol befehligte, ein Schiff mit einer langen Geschichte und Tradition. Das erste Schiff mit diesem Namen hatte den ersten Imperator von der Halpern-Sternenbasis ins Sol-System begleitet und sich während des Akzessionskrieges wiederholt ausgezeichnet. Zwei Punkte machten Captain Lis Ruf so außergewöhnlich. Zum einen standen alle ihre Offiziere und die gesamte Crew absolut loyal zu ihr - mindestens drei oder vier Untergebene hatten nach Pergamum jeder ein eigenes Kommando abgelehnt, weil sie auf der Sevastopol bleiben wollten. Zum anderen hatte sie sich den Ruf erworben, sich - und ihre Leute - in kritische Situationen zu bringen und auch wieder einen Ausweg daraus zu finden. Bei Pergamum war sie dem Feind zahlenmäßig unterlegen und von den anderen Schiffen der eigenen Flotte abgeschnitten worden, woraufhin sie ein tollkühnes Manöver vollzog, indem sie weit oben in der Atmosphäre eines Gasriesen hart wendete und dann mit vollem Schub in eine feindliche Formation steuerte, um ihr Schiff in Sicherheit zu bringen. Eher konservativ eingestellte Vorgesetzte hatten sie zu Beginn ihrer Karriere oft als leichtsinnig bewertet, doch ihr Erfolg ließ diese Kritik bald verstummen. Die Männer und Frauen an Bord der Sevastopol wussten offenbar, wie gut sie es dort angetroffen hatten - weshalb sie das Schiff auch nicht verlassen wollten. Neben Li sah er Sir Bertram Halvorsen sitzen, den Kommandanten des Raumschiffs Mycenae. Sergei hatte fast vier Jahre lang zusammen mit ihm unter McMasters gedient, und er war froh, den Mann bei sich zu haben. Bert war Erbe einer Grafschaft und eines immensen industriellen Vermögens. Ihm hing der Ruf an,
verweichlicht zu sein, was vor allem mit der verschwenderischen Ausstattung seines Schiffs zusammenhing. Vom ehemaligen Flaggschiff Royal Oak abgesehen bot die Mycenae die beste Offi 26
ziersmesse in der gesamten Flotte. Sergei hatte oft mit Bert Halvorsen zu Abend gegessen und hielt ihn für einen freundlichen Gastgeber - sogar gegenüber einem Bürgerlichen, wie Sergei sich einmal mehr vor Augen halten musste. Er sah in ihm einen sehr kompetenten Mann, was er auch aus eigener Erfahrung wusste, da er Seite an Seite mit ihm gekämpft hatte. Es gab nur wenige Menschen, denen Sergei bei einem Gefecht noch mehr vertraut hätte als ihm. Sir Gordon Quinn vom Raumschiff Helsinki saß unmittelbar rechts von Sergei. Er entstammte auch einem alten Adelsgeschlecht, das von britischem ebenso wie von imperialem Hochadel war, und er behauptete, auf einen Stammbaum zurückblicken zu können, der mehr als tausend Jahre zurückreichte. Mit der Aufgabe konfrontiert, zehn beliebige Schiffe und zehn beliebige Captains der Flotte auszusuchen, wären die Helsinki und mit ihr Sir Gordon niemals in die engere Wahl gekommen. Das Schiff war alt - zwölf Jahre vor der Lancaster erbaut - und eigentlich nur ein Umbau der noch älteren Lyonesse-Klasse. Und Quinn war ein taktloser, arroganter Adliger, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, andere auf seine Herkunft hinzuweisen. Da Sergei Mühe hatte, überhaupt zehn Schiffe zu finden, die ihm unterstellt sein sollten, war er notgedrungen auf die Helsinki gekommen. Seine Absicht, wenigstens Quinn durch einen anderen Kommandanten zu ersetzen, war jedoch zunichte gemacht worden, da dessen Stab an Bord der Helsinki sich viele unangenehme Eigenschaften mit dem Captain teilte und niemand über ein ausreichendes Maß an Erfahrung verfügte. Ein anderer Kommandant hätte zwar Sergeis Vertrauen genossen, auf das Schiff hätte er sich dann aber im Gefecht nicht verlassen können. Also behielt Quinn das Kommando, aber Sergei würde genau darauf achten, wie der Mann darauf reagierte, einem Commodore unterstellt zu sein, der lediglich ein Bürgerlicher war. Die Helsinki - neben der Biscayne, der Sevastopol und der San Martin - seinem Befehl zu unterstellen, war hur erforderlich geworden, nachdem so viele Schiffe bei Pergamum zerstört oder 26
beschädigt worden waren. Wenigstens hatte die Helsinki überlebt, was man von Schiffen wie der Pembroke, der Harrison und der Odessa nicht sagen konnte, die wie so viele andere zu einem Klumpen Schlacke dezimiert worden waren. Die Erinnerung an die vielen gefallenen Freunde und Kameraden ließ Sergei einen Moment lang innehalten, ehe er sich seinen neuen Offizieren zuwandte. »Ich möchte Ihnen zunächst einmal danken, dass Sie so kurzfristig Zeit gefunden haben«, sagte Sergei und faltete die Hände. »Mir ist klar, Sie wurden ein wenig im Unklaren gelassen, aber ich kann Ihnen versichern, dass es mir bis vor kurzem nicht anders erging. Meine Beförderung ist noch recht frisch, meine Befehle sind noch viel frischer. Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um über die Vergangenheit nachzudenken, außer natürlich, wenn wir der Toten gedenken und dem immerwährenden Ruhm des Dienstes unseren Respekt erweisen. Ich muss meine Aufmerksamkeit auf die Zukunft richten. Ich habe den Befehl, mit Ihnen und Ihren Schiffen ein neues Geschwader zu bilden, die meine Flagge und die des neuen Admirals der Flotte tragen wird.« Er unterbrach sich und musste sich räuspern, dann nahm er einen Schluck aus dem elegant geriffelten Wasserkelch. Sein Blick ging von einem Gesicht zum nächsten. Die Mienen verrieten ihm, dass diese Frauen und Männer gebannt darauf warteten, was er als Nächstes sagen würde. »Der neue Admiral hat mich - auch auf Empfehlung von Admiral McMasters - ausgewählt. Ich gebe zu, dass einige von Ihnen schon länger dienen als ich oder auch ein höheres Ansehen genießen. Dennoch fiel die Wahl des Admirals und damit auch die Wahl des Imperators auf mich. Meine Absicht ist es, dieses in mich gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Dass ich Sie und Ihre Schiffe unter mein Kommando stellen möchte, zeugt von dem gleichen Vertrauen, das ich wiederum in Sie setze. Einige von Ihnen haben bereits unter dem Kommando von Admiral McMasters mit mir gedient, einige von Ihnen sind mir nur dem Namen nach bekannt. Ausgewählt habe ich Sie aufgrund der Empfehlungen des Admi 26
rals und Ihres beispielhaften Dienstes. Natürlich können Sie sich dagegen aussprechen, unter meinem Kommando zu dienen, doch ich hoffe, Sie alle werden annehmen. Es wird mir eine Freude und Ehre sein, mit Ihnen zu dienen. Ich möchte Sie alle an Bord willkommen heißen.« Wieder hielt er inne und trank einen Schluck Wasser. Die ihm unterstellten Offiziere tauschten Blicke aus, dann konzentrierten sie sich langsam wieder auf ihn. »Ich möchte die strategische Situation besprechen und Ihre Aufgaben innerhalb des Geschwaders erläutern, doch bevor wir damit beginnen, würde ich gern wissen, ob es Fragen von Ihrer Seite gibt.« »Es kursiert das Gerücht, dass die Admiralität einen Zivilisten zum Admiral der Flotte gemacht hat. Stimmt das, Sir?«
Sergei blickte auf, während die Kellner wortlos überbackene Zwiebelsuppe servierten, und machte denjenigen aus, der die Frage gestellt hatte: Captain Marc Hudson von der Biscayne. »Captain?« »Ich ... würde gern wissen, wer der neue Admiral der Flotte ist, wenn es dem Commodore recht ist.« Vielleicht, überlegte Sergei, stellt er zu viele Fragen. »Unser neuer Admiral ist kein Zivilist, Captain. Vielmehr handelt es sich um Konteradmiral Ivan Hector Charles, Lord Marais«, erwiderte er ruhig. »Er wird bei Tuuen an Bord kommen.« »Lord Marais ist ein... ein Stabsoffizier«, stellte Hudson fest. »Lord Marais ist Admiral der Flotte«, konterte Sergei. Er wusste genau, was der ältere Mann in diesem Moment dachte: Ein Stabsoffizier, der das Kommando über die Flotte hat? Das kann nur in einer Katastrophe enden. Dieser Gedanke war Sergei auch schon durch den Kopf gegangen. Dennoch hielt er es für erforderlich, seinen neuen befehlshabenden Offizier zu verteidigen, deshalb fügte er mit kühlem Tonfall an: »Unser Imperator hat ihn ausgesucht. Ich nehme doch nicht an, dass Sie dagegen etwas einzuwenden haben, oder, Hudson?« 27
Schweigen machte sich breit, zugleich war die Stimmung extrem angespannt. Sergei griff nach dem Löffel mit dem Wappen der Admiralität darauf und berührte leicht die Suppentasse, während er sich stumm dafür verfluchte, dass er die Situation so schlecht im Griff hatte. »Ich bitte den Commodore um Verzeihung«, sagte Hudson auf einmal. »Ich wollte weder die Ehre des Admirals oder - Gott behüte - gar die Seiner Imperialen Majestät beflecken. Ich wollte nur... auf Lord Marais' mangelnde Kampferfahrung hinweisen. Wenn ich mich nicht irre, Sir, hat sich seine Lordschaft erheblich stärker auf akademischem Gebiet als im Gefecht profiliert.« »Dessen bin ich mir bewusst, Captain Hudson.« »Es geht hier nicht um einen Übungsflug, Sir, sondern um einen Krieg. Um einen Krieg gegen einen Feind, den wir alle bestens kennen.« »Dessen bin ich mir ebenfalls bewusst. Worauf wollen Sie hinaus?« Hudson sah die anderen Offiziere an. Die Gerüchte über Marais hatten zweifellos längst die Runde gemacht. Sergei vermutete, dass vor seinem Eintreffen darüber diskutiert worden war, und offenbar hatte man Hudson dazu bestimmt, das Thema anzusprechen. »Ich meinte das nicht abwertend, Sir, ich... nichts, Sir.« Sergei überlegte, ob er nachhaken sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Wenn es keine weiteren Fragen gibt, schlage ich vor, dass wir weitermachen. Es ist einiges zu besprechen.« Die Offiziere rührten sich wieder, während er nach einem Stylus griff und ein Kontroll-Pad neben seinem Tischset berührte. Das Licht wurde ein wenig gedimmt, und über der Tischmitte erschien eine 3-V-Projektion, die das Kriegsgebiet zeigte: die Neuen Territorien, die man im Verlauf der letzten sechzig Jahre den Zor abgenommen hatte. Auf der Sol zugewandten Seite der Darstellung kennzeichnete ein Schriftzeichen Mustapha, die territoriale Hauptstadt und zugleich Standort der größten Reparatureinrichtung der Neuen Territorien. Weitere Symbole zeigten unter 27
anderem, wo Flottenstützpunkte und andere strategisch wichtige Orte lagen. Sergei bewegte den Stylus, um eine Stelle nahe dem Rand jener sanft geschwungenen Linie zu markieren, die die vertraglich festgelegte Grenze zwischen Zor und Menschen zeigte. »Vor gut acht Wochen entsandten die Zor eine große Streitmacht, um einen Angriff auf die Pergamum-Basis zu verüben. Ohne vollständige geheimdienstliche Informationen über ihre Aufstellung lassen sich nur Vermutungen anstellen, wie sie es geschafft haben, genügend Schiffe zusammenzuziehen, um den Angriff starten zu können. Dieser Bericht« - er ließ ein Icon anzeigen - »deutet auf einen gemeinsamen Startpunkt hin, der sich aus den Vektoren der eingehenden Sprünge während der Schlacht ergibt. Er scheint irgendwo in der Antares-Verwerfung zu liegen.« Nach kurzer Pause fuhr Sergei fort: »Es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass eine Reihe von Standorten auf dieser Seite der Verwerfung ungeschützt zurückgelassen wurde, um den Angriff zu ermöglichen. Diese Taktik wurde schon einmal angewandt, aber aus unerfindlichen Gründen hat es alle überrascht, dass die Zor erneut so vorgehen würden. Der Angriff begann um 0342 Standard am 2. Februar. Siebzehneinhalb Stunden nach der Ankunft der ersten Zor-Schiffe trafen Teile der Zweiten Flotte ein. Nicht einmal eine halbe Stunde darauf schickten die Zor eine massive Verstärkung ins Kampfgebiet, ein deutliches Zeichen dafür, dass der Gegner mit dem Auftauchen unserer Verstärkung von vornherein gerechnet hat.« Sergei sah die Kommandanten der Reihe nach an, während er weitersprach: »Die Taktik, die im Verlauf der Schlacht zur Anwendung kam, und ihr Ergebnis lassen darauf schließen, dass die Zor vorhatten, einen
möglichst großen Teil unserer Flotte zu vernichten oder zumindest kampfunfähig zu schießen. Alle Angaben über unsere Verluste sind auf das unbedingt Notwendige beschränkt. Ich habe die kompletten Angaben studiert und verstehe, warum sie nicht freigegeben werden. Angesichts der begrenzten Mittel unseres Feindes muss man sagen, dass er einen bemerkenswerten 28
Erfolg für sich verbuchen konnte. Pergamum war nicht bloß eine Ohrfeige für uns, sondern ein Schlag in die Magengrube. Wir alle wissen, dass der Angriff all unseren diensttuenden Admirale das Leben kostete, außerdem sechsundzwanzig weitere Kommando-Offiziere, Dutzende Offiziere in den unteren Dienstgraden sowie mehr als dreitausend Rekrutinnen und Rekruten. Die Erste, Zweite und Fünfte Flotte sind im Durchschnitt um fünfundvierzig Prozent reduziert worden. Ein Drittel der in dieser Zahl enthaltenen Schiffe wird in den aktiven Dienst zurückkehren, aber bei den meisten von ihnen wird dies mindestens vier Monate dauern. Pergamum haben wir nicht verloren, aber es hätte durchaus dazu kommen können. Unter Berücksichtigung dessen, was wir derzeit noch da draußen im Einsatz haben, könnten wir bei einem erneuten Überfall der Zor weder Pergamum noch irgendeinen anderen Posten nahe der Verwerfung halten.« Sergei holte kurz Luft. »Wir glauben, dass die Verluste der Zor genauso verheerend ausgefallen sind, aber wenn sie bei Pergamum so massiert zuschlagen konnten, ist es durchaus denkbar, dass sie so etwas auch an anderer Stelle versuchen. Die Zor dürften wissen, was sie mit ihrer Attacke erreicht haben. Außer Ihnen und mir weiß das hier aber fast niemand. Unsere Mission wird zusätzlich erschwert, weil uns nur eine minimale Fehlermarge bleibt und die potenzielle Gefahr unbedingt geheim gehalten werden muss.« »Glauben Sie, die Gefahr ist wirklich so groß, Sir?«, fragte Sharon MacEwan. »Glauben Sie das nicht, Captain?« »Ich wüsste nicht, was hier anders gewesen ist als bei jedem anderen vorangegangenen Kriegsausbruch, Commodore. Ein plötzlicher Angriff der Zor nach einem Friedensschluss ist doch bereits so gut wie normal. Wir haben auf jeden Fall damit gerechnet. Was ist diesmal anders, Sir?« »Es gibt mindestens zwei Unterschiede, Captain. Erstens hat kein anderer Angriff der Zor jemals so verheerende Wirkung ge 28
habt, nicht einmal die Attacke auf Alya vor sechzig Jahren. Sie müssen nur die Schlacht von Pergamum mit dem Angriff auf Boren von 2291 vergleichen. Obwohl wir es damals mit eineinhalbmal so vielen feindlichen Schiffen zu tun hatten, verloren wir nur ein Drittel von dem, was uns Pergamum beschert hat. Wir haben bei Boren auch nicht einen einzigen Admiral verloren.« Sergei bemerkte, dass Uwe Bryant abrupt aufsah, und verfluchte seine gedankenlose Wortwahl. »Der zweite Grund wiegt allerdings erheblich schwerer als der erste. Wie Ihnen bekannt ist, konnte die Zivilregierung Seine Imperiale Hoheit davon überzeugen, dass die Zor weder über die Ressourcen noch den Willen verfügten, weiter Krieg gegen das Imperium zu führen. Gegen die Warnungen der Admiralität wurden nach dem Vertragsschluss von Efal Basen geschlossen, Mannschaften vom Dienst freigestellt, Schiffe ins Dock gebracht, und die Verteidigung wurde vernachlässigt. Weitere Aktionen in dieser Richtung wurden sogar noch zum Zeitpunkt des Angriffs geplant.« Er machte eine Pause und erinnerte sich an ein Gespräch mit Sir Stefan Ewing. Prompt musste er seine Wut unterdrücken. »Auch wenn die Verluste bei Pergamum nicht so massiv ausgefallen wären, ist das Imperium schlechter auf einen Krieg vorbereitet als je zuvor.« »Verzeihen Sie, Commodore.« Roger Fredericks hob eine Hand und sah zu MacEwan, die nur nickte und ihm den Vortritt ließ. »Das Bild, das Sie da zeichnen, zeigt eine recht starke Streitmacht der Zor, der eine versprengte und größtenteils unvorbereitete Imperiale Navy gegenübersteht. Wenn dem wirklich so ist, was soll dann ein einzelnes Geschwader bewirken? Es gibt zahlreiche Ziele zu verteidigen, und wir können allenfalls raten, wo die Zor als Nächstes zuschlagen werden.« »Ein berechtigtes Argument, Captain«, antwortete Sergei. »Allerdings nur dann, wenn wir Garnisonsdienst schieben würden. Sehen Sie sich um, Captain. Würden Sie sagen, dass es sich hier um den Kommandostab einer Garnison handelt?« 28
Roger Fredericks wahrte seine Würde und sein selbstsicheres Erscheinungsbild, während Sergei die anderen der Reihe nach ansah, um festzustellen, was in seinen Untergebenen vor sich ging. Einige - Li, Quinn, MacEwan - wirkten überrascht und verärgert, andere - wie Halvorsen, Hudson und Bell - waren mit einem Mal viel mehr bei der Sache. Als er Yuri Okome anschaute, saß der zwar mit gestrafften Schultern da und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Miene zeigte keine Regung, aber seine Augen funkelten, als wollten sie sagen: Schon gut, ich bin erstaunt, aber ich werde den Teufel tun, das jemandem zu zeigen.
Sergei wartete noch einen Moment lang, dann sagte er: »In weniger als drei Wochen unternehmen wir einen Sprung nach Tuuen, und von da geht es weiter nach Mustapha. Ich habe für Sie noch keine Befehle vom Admiral, außer dass wir uns sofort auf einen Angriff gegen die Zor vorbereiten sollen.« »Mit zehn Schiffen, Sir?«, wunderte sich Alyne Bell. Sie hatte fortwährend auf ihrem Pad Notizen gemacht und immer von der strategischen Darstellung zu Sergei und zurück geschaut. »Ich möchte nicht Ihnen oder dem Admiral gegenüber respektlos erscheinen, Sir, aber diese Streitmacht genügt niemals für...« »Ich würde Ihnen wohl zustimmen, Captain Bell, wenn mir unsere Befehle bekannt wären. Ich vermute, der Admiral geht davon aus, dass unser Erfolg vom Überraschungsmoment abhängt.« »In Anbetracht der verfügbaren Informationen scheint es so, Sir, dass jede Einrichtung, die wir angreifen, eine Verstärkung anfordern kann, die uns mindestens ebenbürtig ist. Bedenkt man dann die Grausamkeit der Zor, werden sie mit uns kurzen Prozess machen, während wir noch versuchen, unsere Haut zu retten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Überraschungsmoment lange vorhalten wird.« »Das wird es auch nicht«, erwiderte Sergei. »Ich gehe davon aus, es gibt einen übergreifenden Plan, wenn wir diesen Punkt erreicht haben.« 29
Vetternwirtschaft und Günstlingswesen im Dienst Seiner Majestät sorgten dafür, dass Offiziere nicht schnell bereit waren, ihre Meinung kundzutun. Es überraschte Sergei nicht, von seinen neuen Offizieren kaum ein kritisches Wort zu hören. In gewisser Weise war das beruhigend, weil ihm der Gedanke nicht gefallen hätte, Unstimmigkeiten zwischen seinem Kommandostab und seinem neuen Vorgesetzten zu dulden. Doch ihre Zurückhaltung schien ein Unbehagen zu überdecken, von dem er nicht annahm, dass es sich so leicht aus der Welt schaffen ließ. Dazu musste er erst ihr Vertrauen erlangen. Hudson blieb zurück, als die Besprechung für beendet erklärt war. Sergei versteifte sich, während er sich von den anderen Offizieren verabschiedete. Der Tisch wurde bereits abgeräumt, doch Sergei ließ sich Zeit, um seine Unterlagen zusammenzupacken. »Was kann ich für Sie tun, Captain?«, fragte er schließlich, als Hudson sich ihm näherte. »Sie können meine Entschuldigung annehmen, Sir«, antwortete der. »Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen gleich beim ersten Zusammentreffen Ärger bereitet habe.« »Eine Entschuldigung ist nicht nötig.« Er nahm Hudsons Hand und drückte sie fest. »Ich bin froh, dass ich jemanden dabeihabe, der sich nicht scheut, den Mund aufzumachen.« »Ich bin nicht der Einzige, der das machen wird, Commodore. Ich bin nur der Störrischste.« Sein Lächeln wirkte auf Sergei verblüffend ansteckend. »Ich war eigentlich sogar überrascht«, fuhr er fort, während Sergei seine Aktentasche nahm und sie beide zum Lift gingen, »dass der Commodore bereit war, mich zu berücksichtigen. Ich hatte nicht damit gerechnet, so bald wieder mit von der Partie zu sein.« »Mein Report besagt, dass die Biscayne bei fast hundert Prozent liegt.« »Sie ist ein gutes Schiff, Sir. Aber Sie wissen, Sie hätten die Biscayne auch ohne mich bekommen können. Es geht nicht wirklich um die Hardware.« Sie betraten die Aufzugkabine. 29
»Ach?« Sergei betrachtete Hudson, der ein wenig größer war. Seine Schläfen waren leicht angegraut, sein markanter Kopf wurde von einer typischen Navy-Frisur gekrönt, doch obwohl sein Haar kurz geschnitten war, wirkte es irgendwie zerzaust. »Ich stelle zu viele Fragen«, gab Hudson zurück. »Normalerweise im falschen Moment. Schlechte Angewohnheit für einen Flottenoffizier. Aber das wäre natürlich nur dann von Bedeutung, wenn ich noch einen Scheißdreck darum geben würde.« »Foyer«, sagte Sergei, woraufhin sich der Lift in Bewegung setzte. »Man könnte es als unhöflich auslegen, wenn Sie Ihrem Vorgesetzten erklären, dass Sie darum keinen Scheißdreck geben.« »Sir, ich bin wohl fünf bis sechs Jahre älter als Sie. Wenn ich jemals ein Flaggoffizier hätte werden sollen, dann müsste das wohl längst geschehen sein, zumal im Moment fast jeder befördert wird. Wenn ich natürlich weiter oben einen guten Freund hätte...« Die Anspielung war nicht zu überhören, und Sergei drehte sich zu dem älteren Mann um, während sich die Verärgerung in seinen Augen widerspiegelte. »Nein, nein, Sir«, sagte Hudson rasch und hob eine Hand. »Verstehen Sie das nicht falsch. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, Commodore Torrijos. Es ist mehr nötig als die Gönnerschaft von Ted McMasters, bevor ich vor jemandem Respekt habe.« Sergei sah zur Seite. »Sie haben eine seltsame Art, diesen Respekt zu zeigen«, sagte er ohne Betonung. Der Lift war im Erdgeschoss angekommen, die Türen glitten zur Seite. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Hudson«, meinte er knapp und ging los.
Aus einem unerklärlichen Grund blieb er nach ein paar Metern stehen, während die Menschenmenge um ihn herumeilte. Er drehte sich um und sah Hudson am Aufzug stehen. Sergei begriff mit einem Mal, dass er sich von seiner Verärgerung hatte leiten lassen. Hudson war gezielt zu ihm gekommen, und er musste irgendein Motiv dafür haben; offenbar wollte er ein heikles Thema ansprechen. 30
Es schien ihm sinnvoll, dieses Motiv zu ergründen. Langsam kehrte er zum Aufzug zurück. »Also gut, Captain, dann machen wir doch mal einen Spaziergang.« Hudson erzählte ihm einiges über die herrschende Stimmung, während sie über das Gelände der Admiralität schlenderten. Die Gerüchte, die Marais betrafen, kursierten seit fast einer Woche; diese Art von Neuigkeiten ließ sich nicht lange geheim halten. Der Imperiale Hof mochte auf Oahu abgeschieden gelegen sein, doch das Kommunikationsnetzwerk, das sich über das gesamte Sol-System erstreckte, war voll von Spekulationen, seit die erste Meldung über Pergamum eingegangen war. Sergeis erste Reaktion auf Marais' Ernennung war eine Mischung aus Überraschung und Schock gewesen. Sein eigener Karrieresprung zum Commodore war unerwartet gekommen, doch die Verantwortung und die Aufgaben, die damit einhergingen, ließen ihm kaum Zeit, über die Konsequenzen zu spekulieren. Hudson machte keinen Hehl daraus, wie die meisten Offiziere, mit denen er gesprochen hatte, auf Marais' Ernennung reagierten: mit Wut und Empörung. Einhellig herrschte die Meinung vor, Ted McMasters hätte dessen Posten bekommen sollen. Den Offizieren an der Front wäre es egal gewesen, ob man ihn dafür im Krankenbett auf die Brücke hätte schieben müssen. Doch ihre Meinung zählte nicht, stattdessen lag die Entscheidung beim Imperator und beim Generalstab, und die hatten sich gemeinschaftlich für Marais ausgesprochen. Während sie spazieren gingen und Hudson erzählte, musste Sergei an Teds Worte denken: »In eineinhalb Monaten wird Admiral Marais einen Vorstoß ins Zor-Territorium unternehmen, der entweder unser größter Triumph in einem halben Jahrhundert Krieg oder eine völlige Katastrophe werden wird.« Hudsons Meinung tendierte zu Letzterem. Er rechnete mit einem schrecklichen Desaster, einem passenden Zeugnis für eine käufliche und korrupte Imperiale Navy. Es sei denn, Marais' Stab tat 30
das, was man von jedem guten Stab erwarten durfte: Er versuchte ihn daran zu hindern, falsche Entscheidungen zu treffen, die sie alle das Leben kosten könnten. »Ich weiß nicht, was mir weniger gefällt«, sagte Sergei schließlich. »Ihre defätistische Haltung oder Ihre angekündigte Insubordination.« »So ist das gar nicht gemeint«, versicherte Hudson ihm. »Es geht lediglich darum, ungenaue oder widersprüchliche Befehle auf eine Art auszulegen, die einen Sinn ergibt. Wenn Marais schlau genug ist, das Lob für sich einzustreichen, soll es mir auch recht sein.« »Dann haben wir also ein Geschwader mit elf Admiralen statt einem.« »Nein«, meinte Hudson. »Es werden wohl nur noch zehn sein, wenn dieses Gespräch beendet ist.« Sergei verbrachte den Nachmittag in seinem Quartier damit, einen Stapel Dokumente durchzuarbeiten, die Marais ihm via Admiral McMasters hatte zukommen lassen. Es gab Notizen über frühere Feldzüge gegen die feindlichen Aliens, präzise Anmerkungen von der Art, wie sie ein Gelehrter machen würde, Analysen der Formationen und Taktiken. Die Einführung enthielt kaum etwas, was er nicht schon wusste. AN: Cmdr S. Torrijos STICHWORT: ZOR VON: Adm I. Marais BESCHREIBUNG DES KÖRPERS: Zweibeinige Säugetiere, zwischen 1,30 und 1,70 m groß. Ein Armpaar, ein Beinpaar, Gliedmaßen enden jeweils in einer Klauenhand mit gegenüberstehendem Daumen. Flügel, Spannweite zwischen 2,50 und 4,00 m; funktionieren ohne mechanisches Hilfsgerät in einer Umgebung mit weniger als 0,65 g (Standard). Gesichtszüge erinnern an terranischen Adler: knochiger Kamm auf dem Schädel, Schnabel, Augen mit Nickhaut. 30
GESELLSCHAFT: Die Zor sind eine empfindungsfähige Spezies, die unabhängig von der Entdeckung durch die Menschen die Fähigkeit zu interstellaren Reisen entwickelt hat. Die Zor leben in einer Kriegerkultur, die zentralen Prinzipien sind die des »inneren Friedens« und des »äußeren Friedens«. Der »innere Frieden« leitet sich ab aus einem Gefühl des Einsseins, einer harmonischen Einheit mit dem eigenen Selbst, die das Ergebnis von Meditation sein soll, eine Art Nirvana. Der »äußere Frieden« dagegen bezeichnet die harmonische Einheit mit der Gesellschaft, die Wahrung eines strengen Ehrenkodex. Es ist bekannt, dass ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung gegen diese Ethik verstößt, indem diese Zor zu tief in Meditation versinken (und den »inneren Frieden« verletzen, indem sie ein falsches Nirvana erreichen) oder indem sie in einer schädlichen Art mit der Gesellschaft umgehen (und den »äußeren Frieden« verletzen, da sie im Umgang mit
anderen Zor Spannungen aufkommen lassen). Der Übeltäter wird in den meisten Fällen ausgestoßen [idju) und begeht fast immer Selbstmord. EINSTELLUNG: Die Zor betrachten ihre Welt als von ihrem Schöpfer esLi geschaffen, und die Existenz einer anderen Spezies lässt sie glauben, esLi habe sich von ihnen abgewandt. Die anhaltende Existenz der Menschheit wird früher oder später den mystischen Kreis aus innerem und äußerem Frieden zerbrechen lassen und damit auch die Zor selbst vernichten. Diese Erkenntnis treibt die Zor dazu an, gegenüber den Menschen solch exzessive Gewalt anzuwenden. Daher muss genau dieser Punkt angesprochen werden. Textende Marais' gründliche Analyse umfasste auch ein Kompendium über die Kultur und die Gesellschaft der Zor. Der Admiral wusste über das Thema offensichtlich gut Bescheid, immerhin hatte er dem Vernehmen nach kurz nach dem Vertrag von Las Duhr mehrere Wel 31
ten der Zor diesseits der Antares-Verwerfung besucht, Informationen gesammelt und die Kultur und Sprache studiert. Zwar war der Text nicht so trocken wie der Stil, den Sergei sonst gewohnt war, doch er musste einräumen, dass es viel Wissenswertes über diesen Feind der Menschheit zu lesen gab. Wenige Menschen waren überhaupt einmal einem Zor begegnet, in einer Schlacht hatte man noch nie einen von ihnen gefangen nehmen können. Doch Marais war kenntnisreich wie kein Zweiter. Er verwies auf alle bekannten Quellen zum Thema, angefangen bei den ersten Aufzeichnungen der Robotsonden vom Angriff auf Alya bis hin zur letzten Verhandlungsrunde vor dem Vertrag von Efal. Einen besonderen Schwerpunkt legte der Bericht auf die Fülle von Daten, die man von der eingenommenen Basis bei Mustapha hatte sammeln können. Begleitet wurde der Bericht - natürlich - von Marais' Buch. Sergei hatte das verdammte Buch zweimal von vorn bis hinten durchgelesen, wobei ihm die Rhetorik und die Ausdrucksweise aufgefallen waren, die ihm fast schon zu gezielt gewählt erschienen waren. Manches davon war eine Tirade gegen den schwachen Willen der Menschheit, anderes dagegen klang durchaus zutreffend. Während die Sonne am westlichen Himmel unterging und sein Wohnzimmer in fahles Licht tauchte, las er noch einmal die Passagen, die er markiert hatte. »Wir vergessen immer wieder, dass unsere Gegner keine Menschen sind«, hatte Marais geschrieben. Zor und Menschen sind zwei grundverschiedene Spezies, deren grobe äußere Ähnlichkeiten womöglich purer Zufall oder auch damit zu erklären sind, dass sich beide unter ähnlichen Umweltbedingungen entwickelt haben. Eine solche Ähnlichkeit bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass auch die Denkstrukturen oder Motivationen ähnlich sind. Es ist ein tödlicher Irrtum, im Kampf gegen die Zor eine Strategie zu entwickeln, ohne deren Sicht des Universums zu berück 31
ichtigen. Wir haben versucht, sie auf unsere Art zu bekämpfen, och seit sechzig Jahren versagen wir jedes Mal aufs Neue, auch wenn wir Kampf um Kampf gewinnen. So unangenehm es auch sein mag, aber wir müssen endlich anfangen, sie auf ihre Art zu bekämpfen. Sollte er allen Ernstes Zivilisten bombardieren? Oder wollte er eine weiteren Friedensabkommen mehr schließen? Sergei konnte sich nicht vorstellen, dass ein solches Handeln ei der Admiralität oder in der Öffentlichkeit auf Gegenliebe stoßen würde. Das wäre so gut wie unmöglich, von einer Auslöschung er gesamten Spezies ganz zu schweigen. Und das war nicht nur unmöglich - das war sogar unvorstellbar. 31
3. Kapitel Die gegenwärtige Lancaster war 2292 in Dienst gestellt worden, einem insgesamt sehr guten Jahr für den Raumschiffbau. Sie war eines von neun Kriegsschiffen, die im Lauf des Jahres in den Raumdocks der Mustapha-Werft fertig gestellt wurden. Es herrschte Krieg, man befand sich in der dritten und bis dahin brutalsten Konfrontation zwischen Menschen und Zor. Dem Antrag des Premierministers hinsichtlich der gewaltigen Ausgaben für den Schiffbau war stattgegeben worden, da man die Imperiale Navy stärken und ergänzen wollte, nachdem sie unter den jüngsten Gefechten und unter der Korruption und Selbstbedienungsmentalität der vorherigen Regierung massiv gelitten hatte. Der Tradition der Flotte entsprechend wurde am 23. September 2292 das Messingschild des vorangegangenen Schiffs im Rahmen einer angemessenen Zeremonie an der geschwungenen Rückwand der Brücke montiert. Die frühere Lancaster, ein Schiff aus der Lyonesse-Klasse, hatte dem Sol-Imperium zweieinhalb Jahrzehnte lang treue Dienste geleistet, ehe das Schiff in einem der vielen heftigen Kämpfe am
Rand des Boren-Systems auf einen Haufen Altmetall und deformierten Kunststoff reduziert worden war. Zu Weihnachten 2291 hatte man dieses Schiff ebenfalls im Rahmen einer Zeremonie außer Dienst gestellt. Der gleichen Tradition entsprechend hatte man den glücklosen Captain des Schiffs und seine Offiziere bei Halbsold vom Dienst freigestellt, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als jeden Posten anzunehmen, den sie oder ihre Gönner am Hof auftreiben konnten. 32
Da Raumschiffe nicht für Landungen in einer Atmosphäre entworfen wurden, mussten sie weder aerodynamisch noch symmetrisch sein. Es galt jedoch die Faustregel, dass die Hülle eines Schiffs umso besser von einem Abwehrfeld umgeben werden konnte, je kleiner die gesamte Oberfläche war. Beim Design eines Schiffs waren Faktoren wie die Masse, die Maschinenleistung im Normalraum und die Leistungsfähigkeit des Sprungantriebs maßgeblich. Ein Schiff mit mehr Masse erforderte einen höheren Energieverbrauch, damit die Abwehrfelder und internen Systeme wie die Trägheitsdämpfer gespeist werden konnten. Je höher die Maschinenleistung war, umso besser ließ sich ein Schiff beschleunigen und manövrieren. Und je leistungsfähiger der Sprungantrieb war, umso größere Distanzen konnten in kürzerer Zeit zurückgelegt werden, was entscheidend war für den Einsatzradius des Schiffs. Die Lancaster der neuen Concordance-Klasse war ein beeindruckendes Schiff und wartete mit einem völlig neuen Design auf, das in allen drei Bereichen Verbesserungen mit sich brachte. Über dreißig Jahre lang hatte die Flottenarchitektur Panzerung und Schilde auf Kosten der Manövrierfähigkeit in den Vordergrund gestellt - Faktoren, die imperiale Kampfschiffe nahezu unbezwingbar machten, wenn sie von planetaren Basen oder von nur mäßig bewaffneten Schiffen aufständischer Kolonien beschossen wurden. Doch den Angriffen der Zor-Geschwader, die ohne Rücksicht auf eigene Verluste attackierten, waren sie nicht gewachsen. Die traditionsverbundene Führungsebene hatte mehrere Jahre benötigt, ehe sie ihren Fehler einräumte, und weitere Jahre waren verstrichen, bis sich diese Einsicht im Design niederschlug. Das Ergebnis waren die Schiffe der Concordance-Klasse, die die neueste und modernste Entwicklung darstellten. Der erste Kommandant, Captain Sir Malcolm Rodyn, schickte die Lancaster kurz nach Indienststellung auf ihren Probeflug -eine Erkundungsmission, um einen Überblick über die Lage entlang der Peripherie des Imperiums zu erhalten und die demorali 32
sierten Kolonisten ein wenig aufzubauen, indem man dort »Flagge zeigte«. Crew und Offiziere hatten in langwierigen Auseinandersetzungen genug Erfahrung mit den Zor gesammelt, waren aber mit dem neuen Schiff noch nicht vertraut und bekamen eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Ein Geschwader aus drei feindlichen Schiffen machte einen Sprung ins System, als sich die Lancaster im Orbit um New Patras befand, und versuchte sofort, das imperiale Schiff einzukreisen. Diese Schwarmtaktik hatte den Zor in der Vergangenheit immer wieder gute Dienste geleistet. Der gerissene Rodyn begegnete den Zor zunächst mit dem gemächlichen Tempo einer Lyonesse, dann auf einmal drehte er bei, überrumpelte die nur leicht bewaffneten Widersacher und schaltete zwei Schiffe sofort, das dritte nur Augenblicke später aus, noch bevor eines von ihnen die Abwehrfelder hatte überlasten können. Raumfahrer - allen voran Gefechtsoffiziere und -besatzungen -sind ein sehr abergläubisches Völkchen, eine Eigenart, die sie von ihren zur See fahrenden Vorvätern übernommen haben. Schützen auf einem Kriegsschiff bevorzugen eine Seite oder Ausrichtung, und manche von ihnen bestechen sogar den Petty Officer, wenn sie einen neuen Posten antreten, damit der ihnen einen Platz an Backbord oder Steuerbord, Bug oder Heck, Oberoder Unterseite zuteilt. Fast jeder Steuermann und Navigator nimmt wiederholte und unnötige Scans vor und überprüft laufend seine Ausrüstung, eine nervöse Angewohnheit, die einen Captain zur Weißglut bringen kann. Ingenieure sind natürlich die Schlimmsten von allen. Sie sind so auf das unterschwellige Summen der Maschinen eingestellt - wie ein Konzertmusiker auf sein Instrument -, dass sie auf die geringste Abweichung und auf jeden noch so winzigen Aussetzer sofort reagieren. Von diesen individuellen Eigenarten einmal abgesehen, sind Raumfahrer generell sehr abergläubisch, was das Schiff angeht, auf dem sie dienen. So wie bei jedem anderen Aspekt der Imperialen Navy kann sich auch hier niemand der Tradition und der Vor 32
geschichte entziehen." Für das Schiff und die Offiziere spielen der Ruf und das »Glück« eine entscheidende Rolle. Der ersten Lancaster hing der Ruf an, unheilbringende Kommandos anzuziehen. Systemausfälle, desinteressierte Führungskräfte und eine Reihe von wenig wünschenswerten Einsätzen gipfelten schließlich in der schlimmsten aller Katastrophen - der Zerstörung bei einem Überraschungsangriff. Das Hangardeck verlor dabei seinen Druck, womit das Schiff praktisch nicht mehr zu steuern war. Die nächste Breitseite ließ die Struktur des zentralen Maschinendecks zusammenbrechen, wodurch das Schiff fast in zwei Teile zerrissen und mehr als ein Drittel der Crew ins All geschleudert wurden.
New Patras markierte einen Wendepunkt in jener Pechsträhne, den man bis dahin mit dem Namen Lancaster verband. Es war der Beginn einer Serie von »Glückstreffern«, die genauso zufällig waren wie das Pech, von dem die Vorgängerin verfolgt worden war. War man dort schon fast von einem Fluch ausgegangen - ein anscheinend sich selbst erfüllender Aberglaube -, machte sich die neue Lancaster schnell einen Namen als Glücksbringerin, als die sie sich auch in den folgenden Jahren erweisen sollte. Rodyn seinerseits hatte sich ein White Cross und eine Erwähnung in den Lehrbüchern der Akademie verdient. Der Captain der Lancaster hatte sich sein Offizierspatent und das Kommando über das Schiff auf die altmodische Weise beschafft -indem er es kaufte. Die glücklichste Wendung für das Schiff bestand wohl darin, dass er sich als einer der besten Captains überhaupt entpuppte. Sein Glück schien der Lancaster treu zu bleiben, als er sie 2296 an Ted McMasters übergab. Rodyn, auf den man am Imperialen Hof anstieß, starb sechs Monate nach seiner Beförderung in den Stab Seiner Majestät an den Folgen eines plötzlichen, schweren Herzinfarkts. Sein Schiff, das sich nun in neuen, aber gleichermaßen fähigen Händen befand, festigte derweil weiter den Ruf, das beste der Flotte zu sein. An diesem Ruf hatte sich nichts geändert, als die Lancaster 2304 an Sergei Torrijos übergeben wurde, 33
nachdem die Beförderung von Commodore Sir Coris Bryant zum Admiral Ted McMasters zum Flaggoffizier hatte aufrücken lassen. Nur widerstrebend trat McMasters die Lancaster an seinen XO ab, und mit dem gleichen Widerwillen übernahm er das Kommando über Bryants Schiff, die Gustav Adolf. Anders als Rodyn überlebte McMasters sein erstes Jahr fernab von seinem alten Schiff und nutzte sein neues Kommando, um Seiner Imperialen Majestät gut zu dienen. Bis Pergamum. Das Summen der Maschinen der Lancaster im Ohr, lag Sergei Torrijos auf dem Rücken und ließ seine Gedanken abschweifen. Er musste nicht viel dazu beitragen, um Erinnerungen von vor dreißig Jahren wach werden zu lassen. Er dachte zurück an Buenos Aires, sein erstes Zuhause. (Sogar hier in der Finsternis inmitten des unaussprechlichen Nichts des Sprungraums, der sich gleich hinter der metallenen Hülle des Schiffsrumpfs befand, war er noch wach genug, um zu erkennen, dass Buenos Aires nicht länger sein Zuhause war. Die Navy war sein neues Zuhause und auch seine Familie geworden.) Buenos Aires, eine Megacity mit fünfundachtzig Millionen Einwohnern, die sich zu beiden Seiten der Mündung des Rio de la Plata drängten, ein Monument der sanierten Armut, die die Bürgerlichen des Sol-Imperiums geerbt hatten. Armut war bei genauer Betrachtung das verkehrte Wort, weckte es doch Assoziationen, die längst so gut wie verschwunden waren - Schmutz, Hunger, Krankheiten. In Buenos Aires gab es nichts davon. Wäre ein einfaches Problem wie die Müllentsorgung ein Stolperstein gewesen, dann wäre die Stadt schon vor einem Jahrhundert daran zugrunde gegangen. Buenos Aires war nicht im Müll erstickt, als er die Stadt verlassen hatte. Wenn es ein Problem gab, dann war es Selbstverneinung, ein Zustand, in den man leicht verfallen konnte, wenn man in einem Wohlfahrtsgefängnis aus Hochhäusern lebte. Er hatte den Druck auf sich gespürt, vor allem weil seine Eltern für das Bau 33
ministerium arbeiteten - Gefangene, die im Schweiße ihres Angesichts ihr eigenes Gefängnis ausweiteten. Mit siebzehn war er von dort fortgegangen, da er wusste, er würde vermutlich nie wieder eine Landratte sein, ganz gleich, welche Karriere ihn im Dienst Seiner Majestät erwartete. Als er fünf Jahre später sein Offizierspatent erhielt und die Flugschule absolvierte, wusste er es mit Sicherheit. Sein Leben würde sich von nun an in der Navy abspielen. Er hatte es nie bereut, sein altes Leben hinter sich gelassen zu haben. Im Augenblick kümmerte er sich nicht um seine Verpflichtungen, die er als Commander der Lancaster und als Befehlshaber des neuen Geschwaders des Admirals zu erfüllen hatte. Solange das Schiff durch den Sprungraum reiste und es von den anderen Schiffen und vom Rest des Universums isoliert war, gab es nichts, was seine Anwesenheit auf der Brücke unbedingt erfordert hätte. Er konnte Chan die Übungen zur Gefechtsbereitschaft leiten lassen, auch wenn es eine Aufgabe war, der er sich normalerweise gern widmete. Doch in den sieben Jahren, in denen er dieses Schiff befehligt hatte, war seine Verantwortung auf die Lancaster beschränkt gewesen. Das aber war nun anders geworden. Mit Blick auf die Ereignisse der letzten Woche dachte Sergei über den Krieg nach. Für ihn war es immer »der Krieg«, auch wenn die Öffentlichkeit das Ganze als eine Reihe voneinander unabhängiger Konflikte sah, die jeweils für sich Ursache und Wirkung besaßen. Für diejenigen, die ihr Leben dem Kampf verschrieben hatten, war es jedoch ein fortgesetzter Kampf, ein langer, blutiger Krieg, den die Menschheit austrug, seit sie irgendwo jenseits ihres eigenen Territoriums auf diese Aliens gestoßen war. Da niemand diese erste Begegnung überlebt hatte, war die genaue Position nicht bekannt. Doch die feindseligen Fremden hatten bei
dem kurzen, brutalen Konflikt genügend Daten sammeln können, um einiges über die Struktur und die militärische Schlagkraft des Territoriums der Menschheit in Erfahrung zu bringen. Damit hatte alles angefangen. Die Religion der Zor hatte sie von 34
da an immer weiter angetrieben. Im Herbst 2252, also nur ein paar Monate nach der ersten Begegnung, hatte sich ihr Zorn gegen die Menschheit gerichtet. Alya war eine friedliche, landwirtschaftliche Kolonie nahe den Grenzen des Territoriums der Menschheit, eine Welt mit unglaublich fruchtbarem Boden und einem erheblich besseren photosynthetischen Zyklus wegen der einzigartigen Spektren in Alyas Sonne. Die Zor benötigten nur sechs Stunden, um die Siedlung und ihre Felder in geschmolzene Schlacke zu verwandeln, was von Beobachtungsrobotern aufgezeichnet wurde, deren Existenz die Zor übersehen hatten. Kein Mensch überlebte die Dunkle Dämmerung von Alya. Die Geschichte der Dunklen Dämmerung zählte zu den Albträumen der Vergangenheit. Sie trug sich mehr als eine Generation vor Sergeis Geburt zu, doch das Ereignis - und die Legende, die daraus entstand - hatte dazu beigetragen, die Menschheit für den größten Kampf ihrer gesamten Existenz zusammenzuschweißen. Aber trotz technologischer und zahlenmäßiger Überlegenheit wurde der Todesstoß - sollte so etwas überhaupt vorstellbar sein - von der imperialen Regierung zurückgehalten, die immer noch daran glaubte, irgendwie müsse sich eine Einigung erzielen lassen. Die Erinnerungen mit ihren immer wieder zurückkehrenden Bildern von Alya ... von Anderson's Star... und Pergamum ... ließen sich durch Friedensverträge so leicht verdrängen. Aber genauso leicht kehrten sie zurück, sobald ein Vertrag gebrochen wurde. Während er auf seinem Bett lag, fragte sich Sergei, ob dieses jüngste Unternehmen wohl etwas bewirken könnte oder ob es wie jedes Mal zu nichts weiter als einem vorübergehenden Friedensschluss kommen würde. Er kehrte auf die Brücke zurück, wo es wie stets kurz vor dem Ende eines Sprungs hektisch zuging. An der Ingenieursstation drängten sich mehrere Männer und Frauen - es hatte einige Unregelmäßigkeiten gegeben, als sie zum Sprung ansetzten, und nie34
mand wollte irgendein Risiko eingehen. Sein Erster Offizier Chan Wells saß auf dem Platz des Piloten und überprüfte den Kurs auf einem Holo-Display. Als er Sergei sah, sagte er: »Captain auf der Brücke.« Wer nicht mit einer wichtigen Aufgabe beschäftigt war, nahm Habtachtstellung ein. Auf dem Bugmonitor herrschte die absolute, undurchdringliche Schwärze des Sprungraums, da das Licht nicht bis hier vordrang. Der Anblick hatte auch nach zweihundert Jahren Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit noch immer etwas Beklemmendes, wenn man in diese Schwärze blickte und sich fragte, ob man je wieder das Licht zu sehen bekommen würde. Doch das war nicht der einzige Grund für die Anspannung. Da ein Schiff im Sprung vom Universum abgeschnitten war, konnte niemand sagen, ob am Zielpunkt feindliche Schiffe auf einen warteten. Die Bedingungen des stellaren Reisens ermutigten förmlich zu Überraschungsangriffen - der Krieg (vor allem der gegen die Zor) war ein trickreiches Falschspiel, aber mit Zeitverzögerung: Die Offensive kam kraftvoll, die Verteidigung bestand darin, zur rechten Zeit am rechten Ort genügend Schlagkraft zur Verfügung zu haben. Die Admiralität stellte wohldurchdachte Mutmaßungen über die Gesamtstärke des Feindes an, bediente sich hoch entwickelter Computersimulationen, um den nächsten Angriff vorauszusagen, und verlagerte Streitkräfte in ausreichender Zahl, damit der Attacke begegnet werden konnte. Eben diese Simulationen waren es, die die imperiale Regierung vor zwei Jahren davon überzeugt hatten, die Zor seien nicht stark genug, um an irgendeiner Stelle wieder anzugreifen. Die Simulationen hatten dabei auch einwandfreie Arbeit geleistet, denn der Fehler steckte in den grundlegenden Annahmen. Um eine ausreichend starke Streitmacht losschicken zu können, hatten die Zor von einem halben Dutzend wichtiger Welten die Verteidigung abgezogen - eine Entscheidung, die bei der Simulation nie als Möglichkeit in Betracht gezogen worden war. Weil ein menschlicher Admiral so etwas niemals machen würde. 34
Die Maschinen- und Navigationscrews gaben ihre Berichte an Sergei, der ihnen befahl, mit der Prozedur zum Beenden des Sprungs fortzufahren. Schiffsweit schallte aus dem Interkom der Befehl, das Schiff gefechtsbereit zu machen, gefolgt vom Alarm, der das Sprungende ankündigte. Der Navigator begann mit der Sequenz und war bereit zum erneuten Sprung, sollte die Lancaster zu nahe an einem anderen Schiff materialisieren. Die totale Schwärze des Sprungraums wich einer Farbe, die der von Quecksilber glich. Dann tauchte das Tuuen-System vor ihnen auf: acht Planeten, darunter drei erdähnliche Welten mit äußerst fruchtbarem Boden. Sie gehörten der landwirtschaftlichen Kooperative Marais-Tuuen, einem Zusammenschluss von zwei Familien zum beiderseitigen kommerziellen Vorteil. Die Tuuen, denen das System ursprünglich zugestanden worden war, hatten wegen eines finanziellen Engpasses vor einem
Jahrhundert sechzig Prozent ihres Unternehmens an die größere Marais-Familie verkauft. Seitdem war das System aufgeblüht, man war mit einen Sitz in der Imperialen Versammlung vertreten, besaß einen lukrativen Versorgungsvertrag mit der Navy und verfugte über die Gönnerschaft aller Verbindungen, die der mächtige und vermögende Marais-Clan besaß. Die Lancaster flog in das System ein, das Geschwader folgte ihr in geordneter Formation. »Aaachtung«, rief der Bootsmann, als Torrijos mit den Offizieren aller Abteilungen im Schlepptau den Wartebereich betrat. Der Hangar war hell erleuchtet und leer, da der Druck auf dem Deck auf null heruntergefahren wurde, damit die Schleuse geöffnet werden konnte. Die Wartezone war vom Hauptdeck durch ein Glastahl-Schott abgetrennt, das enormem Druck standhalten konnte, dabei aber völlig durchsichtig war. Eine Ehrengarde aus Offizieren und einer entsprechenden Anzahl Marines wartete in makellosen Galauniformen auf die Barkasse des Admirals. Torrijos stand einen Moment lang da und betrachtete das ver 35
traute Deck der Lancaster. Vor vielen Jahren hatte Ted McMasters ihn dieses ganze verdammte Deck schrubben lassen, als er noch Offiziersanwärter war. Die ganze Zeit über hatte er an jenem Tag Bruce Wei beobachtet, den Lieutenant, der damals Dienst gehabt hatte, und ständig hatte er sich gefragt, ob Wei auf die Idee kommen könnte, die Schleuse zu öffnen und ihn hinaus ins All zu schicken. Sie waren damals alles andere als beste Freunde gewesen. Heute dagegen war Wei Major, gleich nach dem Captain Befehlshaber über die Truppen der Lancaster, und in diesem Moment saß er über diesem Deck an seinem Platz und wartete auf Torrijos' Befehl, das Schott zu öffnen, damit die Barkasse passieren konnte. Bruce war noch immer der gleiche Bastard wie vor Jahrzehnten, doch sie beide hatten sich schließlich angefreundet, als Sergei die Vorzüge des Marines erkannte - Mut, Loyalität und ein kühler Kopf, den er auch bei Pergamum bewiesen hatte... Fast wäre ihm dieser Tag wieder durch den Kopf gegangen, als ihn das Interkom aus seinen Erinnerungen riss. Keith Danner, der Kom-Offizier, nahm den Ruf entgegen. »Die Barkasse von Admiral Marais bittet darum, an Bord kommen zu dürfen, Sir.« Torrijos wandte sich an Bruce Wei. »Sagen Sie ihnen, die Erlaubnis ist erteilt.« »Aye-aye, Sir.« Langsam öffnete sich das Schott und klappte nach außen. Dahinter konnte ein geübtes Auge ein schmales, stromlinienförmiges Schiff mit einer nadelspitzen Nase ausmachen. Die Ehrengarde stand nach wie vor in Habtachtstellung, und das galt auch für Torrijos und seine Offiziere, während die Barkasse langsam auf das Deck geschwebt kam und fast genau in der Mitte landete. »Admiral Marais an Bord, Sir«, meldete Wei so, wie es das Protokoll von ihm verlangte. Nachdem die Schleuse geschlossen war, flammten auf dem Deck 35
die grünen Lichter auf, die anzeigten, dass der Druck wiederhergestellt war und normale Atmosphäre herrschte. Das Glastahl-Schott wurde nach oben gezogen. Anders als ein Flottenstützpunkt verfügte die Lancaster nicht über genügend interne Energie, um diese Aktivität allein mit Energiefeldern zu bewerkstelligen. Die Luke des kleinen Schiffs ging auf, eine Treppe fuhr heraus. Torrijos und sein Gefolge überquerten den freien Bereich und warteten am Fuß dieser Treppe. Marais und ein fast ausgemergelt wirkender Mann in der Uniform eines Captains kamen die Stufen herunter. Der Admiral entsprach genau den Fotos, die Sergei von ihm gesehen hatte: groß, ausgesprochen gutaussehend, ernste Miene. Stumm erwiderte er den Salut von Sergei und seinen Offizieren, dann schüttelte er Sergeis Hand. »Erlaubnis an Bord kommen zu dürfen, Captain?«, fragte Marais, der sich damit an die traditionelle Regel hielt: Jeder - mit Ausnahme des Imperators -, der ein imperiales Schiff betrat, musste als Erstes diese uralte Floskel zitieren. Sergei nickte und musste innerlich grinsen, da er wusste, dass außer einer Bestätigung ohnehin keine andere Antwort möglich war. Marais ließ seinen Blick über die Offiziere schweifen, dann über die Crewmitglieder, die dienstfrei hatten und hier erschienen waren, um ihn zu empfangen. Der andere Offizier musterte gleichfalls die Anwesenden, was auf Sergei wie eine Bestandsaufnahme wirkte. »Commodore, es ist mir ein Vergnügen«, erklärte Marais und beendete damit das Schweigen. »Ich habe schon viel über Sie gehört.« »Nur Gutes, will ich doch hoffen, Sir.« »Sehr Gutes, das kann ich Ihnen versichern. Admiral McMasters hat Sie mit sehr großem Nachdruck empfohlen, als ich ihn um seinen Rat bat.« Ohne weitere Vorrede kam er dann zum Thema: »Ich bin zwar davon überzeugt, dass Sie dieses Unternehmen mit Skepsis betrachten, aber ich kann Ihnen versichern, dass es von ent
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scheidender Bedeutung ist. Wir befinden uns am kritischsten Punkt in diesem gesamten Krieg. Ob es uns gefallt oder nicht - der Erfolg dieser Flotte wird über die Zukunft unserer Spezies entscheiden, darüber, ob wir leben oder sterben werden.« Dieser Mann hat absolut nichts Zurückhaltendes an sich, dachte Sergei und hoffte, dass seine Miene nicht verriet, was in ihm vorging. »Sie können sich der umfassenden Kooperation meines gesamten Geschwaders gewiss sein, Admiral. Wenn es jetzt oder in Zukunft irgendetwas gibt, das wir tun können, um Sie zu unterstützen, werden wir jederzeit zu Ihrer Verfügung stehen.« Nachdem die Formalitäten abgehakt waren, stellte Torrijos seine Senioroffiziere vor, während Marais seinen Adjutanten Captain Stone vorstellte, dann wurde der Admiral zu seinem Quartier eskortiert, das auf demselben Deck wie das von Sergei lag. »Ich möchte Sie gern in meinem Quartier sprechen, wenn Sie von der Brücke zurückkommen«, sagte Marais, als Sergei gerade gehen wollte. »Admiral?« »Es ist sehr wichtig, Commodore. Vor uns liegt sehr viel logistische Arbeit. Treffen wir uns um... sagen wir... 1900? Wir können dann gemeinsam zu Abend essen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, Sir.« Marais lächelte auf eine Art, die Sergei nicht gefiel. Sein Adjutant Stone blieb dicht hinter dem Admiral. Sergei traf fast zur gleichen Zeit in Admiral Marais' Kabine ein, als auch das Abendessen serviert wurde. Er hatte den Sprungbeginn überwacht, dem nun ein zweiwöchiges Intervall folgte, das das Geschwader zum Flottenstützpunkt bei Mustapha bringen würde. Bis dahin würden Crew und Offiziere mehr oder weniger die Zeit totschlagen, und doch zeigte der Admiral so große Eile, mit der Planung zu beginnen. Was soll's?, dachte Sergei. Marais ist ein Stabsoffizier, vom 36
Dienst an der Front hat er keine Ahnung. Wahrscheinlich will er die Vorratsplanung oder etwas Ähnliches durchgehen. Er betrat die Kabine, hinter ihm wurde das Essen hereingebracht. Stone führte ihn in den Wohnraum. Sergei sagte sich, dass es nur um ein Abendessen gehen würde, weiter nichts. Doch aus einem unerklärlichen Grund wollte er sich selbst nicht glauben. Das Essen stand auf einer Warmhalteplatte. Sergei schickte den Steward fort, dann waren er und der Adjutant allein. »Der Admirai...«, begann er. »Admiral Marais meditiert«, fiel Stone ihm ins Wort. Es war das erste Mal, dass er den Mann reden hörte. Seine Stimme war so sanft wie Seide, als sei sie von vornherein dazu bestimmt gewesen, andere zu besänftigen. Auf Sergei hatte sie jedoch die gegenteilige Wirkung. »Er wird jeden Moment fertig sein. Ich habe die klare Anweisung« - Stone lächelte und ließ seine makellosen Zähne blitzen -, »den Admiral nicht zu stören, wenn er meditiert.« »Das ist auch gar nicht nötig.« Beide Männer drehten sich um, als sie die Stimme hörten. Marais kam aus dem Schlafraum. Er war lässig gekleidet, seine Augen hatten einen entrückten Blick, der langsam klarer wurde, als er erst die beiden betrachtete und sich dann in der Kabine umsah. Er ging zur Warmhalteplatte, nahm den Deckel ab und schnupperte. »Hühnchen Kung Pao. Mein Kompliment an Ihre Kombüse, Commodore Torrijos. Ich bin davon überzeugt, dass es so gut schmeckt, wie es riecht.« Sie aßen zu Abend und unterhielten sich dabei im Plauderton über das Geschwader und die Flotte. Vor allem ging es um das Personal und die Zuverlässigkeit der Kampfschiffe - beide hatten bei Pergamum einen schweren Schlag hinnehmen müssen, was gerade mal zwei Monate her war. Sergei kam es vor, als würde er wie ein Schwamm ausgedrückt, bis Marais alle nützlichen Informationen aus ihm herausgeholt hatte. Als das Essen beendet war, gingen die drei Offiziere hinüber 36
zum Wandschirm. Marais nahm das kleine Päd zur Hand und aktivierte den Schirm. Zunächst zeigte er ein Gebiet mit einem Radius von etwa dreißig Parsec rund um Pergamum. Ihr momentanes Ziel Mustapha war am Randbereich dieser Sphäre gelegen. Marais nahm den Anzeigepfeil zu Hilfe und bewegte ihn langsam durch die Darstellung, zeigte auf Pergamum und dann auf Mustapha, und schließlich setzte er eine Markierung, die die aktuelle Position der Flotte zeigte.
»Commodore, vor uns liegt sehr viel Arbeit, und uns bleibt nur sehr wenig Zeit. Irgendwo dort« - er verschob den Pfeil auf den Bereich jenseits von Pergamum, der Zor-Territorium anzeigte - »hält sich eine Flotte der Zor auf, die zwar schwere Verluste hinnehmen musste, aber nach wie vor eine in sich geschlossene Streitmacht ist. Die Zor werden annehmen, dass wir so wie in der Vergangenheit alle Welten in der Region nun schwer bewaffnen, weil wir einen weiteren Angriff erwarten. Außerdem werden sie annehmen, dass wir einige Zeit benötigen werden, um eine Flotte zusammenzustellen, die den Zweck erfüllen soll, die Zor einzuschüchtern, sie in einer großen Schlacht zu schlagen und eine Friedensvereinbarung zu erreichen. Diesmal jedoch werden sie sich in all ihren Erwartungen und Annahmen irren.« Marais sah kurz zu Stone, dann blickte er Sergei wieder an. »Mir ist bekannt, dass einige Mitglieder Ihres Stabs an dem Effekt zweifeln, den dieser Einsatz gegen die Zor haben könnte.« »Ich glaube, ihnen wäre wohler zumute, Sir, wenn wir auf Verstärkung von den Flottenstützpunkten Deneva oder Charlestown warten würden. Einige meiner Offiziere glauben, zehn Schiffe seien nicht ausreichend, um die Zor zu schlagen. Ich bin geneigt, mich dieser Ansicht anzuschließen.« »Was würden Sie als ausreichend ansehen, um die Zor zu schlagen?« »Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich bin mir nur sicher, dass weniger als zwanzig Schiffe bestimmt nicht genügen.« »Und was verstehen Sie darunter, die Zor >zu schlagen«, Com 37
modore?« Abermals sah er zu Stone. Seine Miene schien zu verraten, dass er exakt diesen Gesprächsverlauf erwartet hatte. »Ich... in der Vergangenheit, Admiral, war es...« »In der Vergangenheit, Commodore. In der Vergangenheit. Vergessen Sie das alles. Die Frage lautet: Was ist erforderlich, um sie zu schlagen? Was kennzeichnet einen Sieg?« Sergei überlegte kurz, dann entschied er sich für eine Antwort aus dem Lehrbuch: »Ein Feind ist dann geschlagen, wenn man ihm nachhaltig die Fähigkeit genommen hat, kriegerische Akte zu verüben.« »Nach Ihrer Definition haben wir also die Zor noch nie geschlagen. Jedes Mal wenn wir einen Vertrag mit ihnen unterzeichneten, gaben wir ihnen nur die Möglichkeit, uns weiterhin zu bekämpfen. Zwar wurde das Imperium beim ersten Friedensschluss bis hierher erweitert« - er richtete den Pfeil auf ein Gebiet nahe der vernichteten Kolonie Alya -, »beim zweiten Mal bis hierher.« Er bewegte den Pfeil um rund fünfzehn Parsec weiter bis zur Region rund um Pergamum. »Und so ging es weiter, bis unsere Grenzen bis hierher verschoben wurden« - er zeigte auf die Region nahe Eleuthra, jenem System, das mit dem vor zwei Jahren geschlossenen Friedensvertrag dem imperialen Territorium hinzugefügt wurde -, »was insgesamt nach einem Gewinn aussieht. Obwohl wir uns jedes Mal weiter ausbreiten konnten, haben wir unseren Feind nie geschlagen, wenn wir Ihre Definition zugrunde legen.« Das imperiale Territorium, das sich vom Sol-System aus in alle Richtungen erstreckte, war ein unregelmäßig geformtes Ovoid, dessen Längsachse rund 275 Parsec maß. Am weitesten dehnte es sich in Richtung Antares aus, dem Heimatsystem der Zor. Die Heimatwelt der Menschen lag damit nicht ganz im astrographischen Zentrum des Imperiums. Nahe der Antares-Verwerfung, einem Gebiet fast ohne Sterne, grenzte das Imperium an eine Anhäufung von Zor-Welten, die durch die Verwerfung vom übrigen Territorium der Zor getrennt waren. Verglichen mit den bekannten Dimensionen des Zor-Ge 37
biets war das Reich der Menschen immens groß. Die Aliens waren eigentlich in jeder Hinsicht die Unterlegenen, wie Sergei fand. Er saß schweigend da, betrachtete den Anzeigepfeil auf dem Schirm und ließ sich Marais' Kommentare durch den Kopf gehen. Eine Schlacht zu gewinnen, bedeutet nichts, wenn man den Krieg verliert, überlegte er. Und wenn trotz aller Anstrengungen der Menschheit, trotz aller »Kriege«, die man scheinbar »gewonnen« hatte, der Feind nicht geschlagen worden war, dann hatte man ihn überhaupt nie besiegt. »Diesmal müssen wir die Zor schlagen, Commodore Torrijos. Wir müssen den Zor die Möglichkeit nehmen, je wieder einen Krieg mit uns zu beginnen, indem wir ihnen nicht nur die Mittel nehmen, sondern auch ihren Willen brechen. Mit anderen Worten: Wir werden einen Krieg zu ihren Bedingungen beginnen.« »Sir...« Sergei sah von Marais kurz zu Stone, der regungslos dasaß. In den Augen des Admirals blitzte etwas auf, doch Sergei war sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was in diesem Moment in dem Mann vor sich ging. »Sir, wenn ich das richtig sehe, dann bedeutet ein Krieg zu den Bedingungen der Zor, dass der Feind praktisch völlig ausgelöscht wird.«
»Das ist korrekt.« Marais spielte mit dem Päd und drehte es in der Hand hin und her. »Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, die uns zur Verfügung stehen. Und wir müssen tun, was erforderlich ist, um sie in die Tat umzusetzen. Wenn das unsere logische Vorgehensweise ist... dann soll es eben so sein.« 38
4. Kapitel
Die Öffentlichkeit ist offenbar der Meinung, dass der Krieg mit den Aliens zwar eine Last, aber zugleich von Vorteil ist. Immerhin dehnten sich die Grenzen des Imperiums seit der ersten gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Zor bei Alya Stück für Stück aus, wodurch jedes Mal weitere Sonnensysteme entlang der Achse Sol-System-Antares dem Imperium eingegliedert wurden. Während der Regentschaft von Imperator Philip II. wechselte ein Gebiet mit einem Durchmesser von fast zehn Parsec von militärischer zu ziviler Kontrolle. Die 'Neuen Territorien! umfassten zu Beginn zweiundzwanzig bewohnbare Welten. Mit dem Vertrag von Efal aus dem Jahr 2309 wuchs diese Zahl auf über fünfzig - von der kalten industriellen Welt Eleuthra an der zur Verwerfung gelegenen Seite bis hin zu Alya an der Sol zugewandten Seite. Dadurch wurde nicht nur das Steueraufkommen für das Imperium deutlich gesteigert, sondern eine ganze Reihe von Adelsfamilien (von denen einige neu begründet wurden) übernahm Grund und Boden, um ihn zu verwalten, auszubeuten und gegen weitere Übergriffe durch den Feind zu befestigen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass die Neuen Territorien ein unsicheres Gebiet waren, denn sie stellten weiterhin den Schauplatz dar für die immer brutaleren Konflikte zwischen dem Sol-Imperium und der Zor-Hegemonie. Doch mit jedem nachfolgenden Friedensvertrag wurden weitere Welten den Neuen Territorien hinzugefügt, sodass die ein Stück von der Grenze entfernt liegenden Planeten allmählich zur Ruhe kamen. Trotz verheerender Verluste hielten die Zor verbissen an einer Reihe von Koloniewelten auf der Sol zugewandten Seite der Antares-Verwerfung fest, einer Sternenlosen Region im All, deren Durchmesser sich auf einige Parsec belauft. Diese planetaren Systeme wirkten wie eine riesige gespreizte Klaue, ein Arm, der die Verwerfung überspannte und den dort anwesenden Menschen trotzte. Mit Feuer und Schwert: Die Geschichte des Konflikts zwischen Menschen und Zor, von Ichiro Kanev (Gleason Publishing, Adrianopel 2310) 38
Die Pergamum-Basis lag tief innerhalb der Neuen Territorien, war aber nach dem Angriff der Zor so gut wie bedeutungslos geworden. Die Basen am Boden und im Orbit wurden zwar aufrechterhalten, doch es fehlte an einer strategischen oder taktischen Bedeutung, und da ein großer Teil der Flotte in Raumschrott verwandelt worden war, der am Rand des Systems durchs All trieb, gab es praktisch keine Verteidigung mehr. Der Heimathafen der Imperialen Navy blieb weiterhin Mustapha. Mustapha hatte man achtundzwanzig Jahre zuvor den Zor abgenommen. Die Eroberungsgeschichte war typisch für eine Grenzwelt. Sie war von den Zor massiv befestigt worden und diente als Versorgungslager für ihre Flotte. Als deren Position unhaltbar wurde, rückte die Imperiale Navy vor, und die Zor zogen sich zurück - bis auf ein paar hundert zum Sterben verurteilte Krieger, die den Posten bis zum letzten Mann verteidigten. Nachdem auch die letzten Zor getötet und die Trümmer weggeschafft worden waren, holte die Navy die Seabees, die die Basis umbauten, damit sie den Anforderungen ihrer neuen menschlichen Nutzer entsprach. Neben dem unübersehbaren strategischen Vorteil einer intakten Basis gab es noch einen anderen Punkt zu bedenken: Was die Zor zurückgelassen hatten, lieferte einen umfassenden Einblick in die Denkweise und den Glauben dieser Aliens. Mustapha entpuppte sich als eine Art Stein von Rosette für die Xenologen, die sich mit dieser fremden Spezies befassten. Keine derart intakte Einrichtung der Zor war den Menschen zuvor in die Hände gefallen. Grundriss und zurückgelassene Ausrüstung verrieten viel über die Aliens: ihre Gesellschaftsstruktur (pyramidenartig), ihre Kommandostruktur (extrem breit gefächert - die begrenzte Reichweite der Kommunikationsanlagen legte die Vermutung nahe, dass die meisten Schiffe in einem Kampfgebiet eigenständig Entscheidungen trafen), und sogar ihre Ess- und Trinkgewohnheiten (was auch weitere Erkenntnisse über ihre Physiologie mit sich brachte). Das alles lag wie ein komplexes Puzzle vor den Gelehrten, auch wenn viele wichtige Teile nach wie vor fehlten. 38
Das auffälligste Objekt im Mustapha-System war ein gewaltiger Torus aus Metall, ein künstlich gefertigter Ring, der den Mond der einzigen bewohnbaren Welt im System vollständig umgab. Verankert war er auf der Mondoberfläche mithilfe von breiten Speichen, die einen Viertel Kilometer hoch waren, wobei der Ring eine Stärke von über hundert Metern hatte und mit dem bloßen Auge von Mustapha aus zu erkennen war. Dieses Bauwerk, das ein Wunder der Ingenieurskunst darstellte, war offenbar als Raumdock und Reparatureinrichtung entworfen worden. Es umfasste mehrere Raumdocks, die jeweils über die Art von schwerer Ausrüstung verfügten, die für Zor-Schiffe erforderlich war. Es war mit einem immensen Aufwand verbunden gewesen, die Anlage den Bedürfnisse der Menschen und ihrer Schiffe anzupassen, doch dieser Aufwand kostete trotz allem nur einen Bruchteil dessen, was Seine Imperiale Majestät hätte ausgeben müssen, um eine solche Anlage von Grund auf errichten zu lassen. Außerdem war allein der Nutzen für die Propaganda es wert gewesen, die Ressourcen der Admiralität auszuschöpfen.
Auch nach dem Umbau waren auf der Mustapha-Basis Hinweise darauf zu finden, dass sie ursprünglich von Aliens erbaut worden war. Da waren die sonderbaren und ein wenig beklemmenden Winkel der Außenhülle, außerdem das geätzte Flechtwerk, das die Ingenieure an den Innenwänden belassen hatten. Als die Flotte bei Mustapha in den Normalraum zurückkehrte, war die Basis noch kaum auszumachen. Der Lichtpunkt im inneren System verlor sich fast völlig vor dem Sternenfeld im Hintergrund. Auf einen entsprechenden Befehl an den Steuermann erhielt Sergei eine vergrößerte Darstellung der Aussicht, die Einzelheiten der Basis erkennen ließ. Er entdeckte sieben mit dem Bug am Torus angedockte Schiffe, was das Ganze wie den Fiebertraum eines Flottenarchitekten in Schwarz und Silber aussehen ließ. Das Bild auf dem Monitor war zu grob, um Silhouetten oder Markierungen zu zeigen, doch Sergei wusste aus dem Gedächtnis, welche Schiffe 39 dort lagen: Banff, Ulysses Grant, Phaedra, Victoria, Lacus Solis, Philip III, Wu Shih. Sie alle wurden derzeit noch repariert, doch in Kürze würden sie sich wieder der Imperialen Flotte anschließen, um gegen die Zor in den Krieg zu ziehen. Zwei Wochen hatte der Sprung zu ihrem Ziel gedauert, eine Zeitspanne, die Sergei genutzt hatte, um sich mit den logistischen Aspekten seines neuen Kommandos zu beschäftigen und sich an die gelehrtenhaften, fast schon schrulligen Pläne seines neuen befehlshabenden Offiziers zu gewöhnen. In dem Augenblick, als die große ehemalige Zor-Basis in Sichtweite kam, hatte Sergei das Gefühl, der Krieg würde erst jetzt richtig beginnen. Kaum war die Lancaster über der Station in den Orbit gegangen, hatte der Admiral den Wunsch geäußert, die Reparaturstation zu besuchen. Sergei stellte eine Ehrengarde zusammen, zu der er selbst und drei seiner Senioroffiziere gehörten. Um den Admiral und seine Eskorte zur Mustapha-Basis zu bringen, wurde die Gig der Lancaster als Barkasse zurechtgemacht und mit der offiziellen ID-Fahne von Admiral Marais versehen. Dann legte man rasch die Entfernung zur Basis zurück und steuerte ein offenes Dock am Ring an, das dem kleinen Schiff zugewiesen wurde. Die Gruppe verließ die Gig und betrat eine große Luftschleuse, von dort gelangte man in einen breiten gekrümmten Korridor. Feines Flechtwerk überzog die Wände, fing das von oben kommende fluoreszierende Licht auf und leuchtete unheimlich. Drei Offiziere in Galauniform erwarteten sie bereits. Über das Interkom war die Pfeife des Bootsmanns zu hören. »Es ist mir eine Ehre, Admiral«, sagte der Senioroffizier und trat salutierend vor. »Captain Henry Alvarez zu Ihren Diensten, Sir. Willkommen an Bord.« »Danke, Captain«, erwiderte Marais. »Mein Geschwaderkommandant, Commodore Torrijos«, stellte er seinen Begleiter vor und deutete auf Sergei. »Die Captains Alyne Bell, Marc Hudson und Sir Gordon Quinn vom Geschwader und mein Adjutant, Captain 39
Stone«, fuhr er fort und zeigte auf jeden der Angesprochenen. Alvarez stellte im Gegenzug seinen Chefingenieur und seinen Chefarchitekten vor. »Wenn der Admiral mir folgen möchte«, sagte Alvarez und wollte Marais zum inneren Dock führen. Bevor er aber einen Schritt machen konnte, hob der Admiral die Hand und trat zur Wand. Er ging ein wenig in die Hocke und strich mit den Fingerspitzen über das geätzte Flechtwerk. »Admiral...«, sagte Alvarez, der verwundert klang, doch Marais nahm von ihm keine Notiz. Der junge Captain sah zu Sergei, wohl in der Hoffnung, von ihm eine Erklärung zu erhalten, aber der konnte nur mit den Schultern zucken. Einen Augenblick später richtete sich Marais wieder auf und kehrte zur Gruppe zurück, die respektvoll auf ihn wartete. In Gedanken wandte er sich an Stone und sagte: »Interessant.« Während der nur ernst nickte, sah Marais die anderen an. »hRni'i. Inschriften.« Als keiner darauf reagierte, fügte er an: »Die Zor, die diese Station bemannten, ließen Beweise für ihre Anwesenheit zurück. Ich habe mir die Muster angesehen.« »Können Sie sie entziffern, Mylord?«, fragte Alvarez überrascht, und als Marais nickte, fuhr der Mann fort: »Was sagen sie?« »Sie sagen...« Marais sah wieder zu den hRni'i an den Wänden. »Diese dort wurden sehr spät ergänzt, kurz vor der Aufgabe der Station. Sie sagen... das Nest bereitet sich auf den Tod vor.« Innerhalb der Station betrug die Schwerkraft etwas weniger als ein halbes g. Durch die Portale aus Glastahl konnte man die beschädigten Raumschiffe sehen, deren Profile sich deutlich von dem sternenübersäten Himmel abhoben. Schweißer in Raumanzügen schwebten wie Glühwürmchen an den Außenhüllen, um Reparaturen vorzunehmen. Klaffende, unregelmäßig geformte Löcher im Rumpf zeugten von dem Schicksal, das diese Schiffe ereilt hatte. Viele von ihnen waren völlig unvorbereitet gewesen, hatten die Abwehrfelder nicht aktiviert und waren damit ungeschützt den
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Angriffen ausgeliefert gewesen. Die Erinnerungen an die Schlacht kehrten zurück, während Sergei dem Admiral folgte. Mehrere Gruppen von Arbeitern beantworteten Marais' Fragen und erklärten ihre Arbeit an dem jeweiligen Schiff. Der Admiral gewann mühelos ihr Vertrauen, da er keine Frage zweimal stellte und nie herablassend mit den Leuten redete. Die stolzen Namen der Schiffe Seiner Majestät waren auf den Statustafeln vor den Zugangsschleusen aufgelistet, während draußen im All die Mannschaften fieberhaft daran arbeiteten, eben diese Schiffe wieder raumtauglich zu machen. »Diese Schiffe sind dort draußen, weil die Zor etwas taten, was ihnen niemand zugetraut hatte«, sagte Marais. »Wie ich gehört habe, sollen sechs weitere Schiffe bis Monatsende wieder einsatzbereit sein. Damit werden die Zor nicht rechnen.« Er hatte den Arbeitern aus eigener Tasche einen beträchtlichen Bonus versprochen, sollten sie mit den Reparaturen termingerecht fertig sein. So etwas war zwar ungewöhnlich, aber es kam schon einmal vor. »Wir werden in zweiundsiebzig Stunden nach Pergamum springen. Commodore, informieren Sie bitte alle Geschwader. Ihre Befehle finden Sie im Computer der Lancaster hinterlegt.« »Zweiundsiebzig Stunden. Aye-aye, Sir... Wo wollen Sie mit dem Rest der Flotte zusammentreffen? Die Einsatzbefehle sprachen von einem umfassenden Aufmarsch hier bei Mustapha.« »Daran hat sich auch nichts geändert. Allerdings werden wir den Zor bis dahin bereits mindestens einmal schwere Schäden zugefügt haben.« »Bei Pergamum, Sir?« »Bei L'alChan, Commodore.« »L'alChan verfügt meines Wissens nicht über einen Flottenstützpunkt, Sir.« »Ganz richtig. L'alChan ist ein ziviles Ziel. Es sollte für unsere Zwecke genügen, nämlich die Zor-Flotte aus der Reserve zu locken und sie zu einem Fehler zu zwingen.« 40 »Die Zor-Flotte wird unserer Flotte ohne Zweifel überlegen sein, Sir. Darf ich auf die Risiken hinweisen, die damit...« »Ich bin mir der Risiken durchaus bewusst, Commodore.« Marais wandte sich von der Schleusentür ab und sah Sergei an. »Es gibt aber keinen Grund, sich Sorgen zu machen wegen der Zor-Flotte. Von ein paar Schiffen abgesehen, die das System verteidigen, werden wir bei L'alChan auf keinen nennenswerten Widerstand stoßen. Und dennoch wird das unseren Absichten dienen.« »Jawohl, Sir. Allerdings fürchte ich, dass ich das nicht verstehe, Sir.« Stone lächelte finster und breit. »Alles zu seiner Zeit, Commodore«, gab der Admiral zurück. Marais hatte entschieden, dem Sha'en-Geschwader die Aufgabe zu übertragen, die Heimatfront und den Flottenstützpunkt auf Mustapha zu bewachen. Sein eigenes Geschwader würde in der momentanen unvollständigen Zusammensetzung den Krieg ins Territorium der Zor hineintragen. Die zehn Schiffe seines Geschwaders legten den Sprung von Mustapha nach L'alChan in weniger als sechs Tagen zurück. Wie vom Admiral vorausgesagt, hatten die Zor keinen so frühen Angriff erwartet, und erst recht nicht gegen eine Welt, die keinen militärischen Wert besaß. Die Finsternis des Sprungs wich dem quecksilbergrauen Wirbel, der sich zu Streifen veränderte, aus denen Sterne wurden. Die Lancaster war bereits gefechtsbereit, als der Bugmonitor wieder ein normales Bild zeigte. Der Admiral hatte den Brückenplatz des Chefingenieurs eingenommen, von dem aus er einen guten Blick auf das Pilotendisplay und die Waffenstationen hatte. »Anne«, sagte Sergei, ohne seinen Kommunikationsoffizier anzusehen. »Geben Sie das Signal, dass der Sprung beendet ist.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das große 3-D-Display vor ihm, das den umgebenden Raum der Lancaster anzeigte. Zu sehen war ein detailliertes Bild des Systems; kleine Symbole kennzeichneten die Massendichte in der Nähe der sieben Planeten und ihrer Son 40
ne, außerdem gab das Display Hinweise auf Gefahren für das Schiff und auf ungewöhnliche Eigenschaften. Sobald die anderen Schiffe des Geschwaders ins System kamen, würden sie auf dem Display angezeigt werden. Am äußersten Rand der Sensorreichweite wurden drei kleinere feindliche Schiffe registriert, die auf den Sprungpunkt zusteuerten. »Aye, Sir«, gab Anne DaNapoli zurück und löste ein Signal aus. Der Klang einer Bootsmannspfeife durchschnitt die Stille auf der Brücke. »Die Gagarin meldet sich, Sir.« Der Flottentransporter war auf dem Pilotendisplay bereits zu sehen gewesen, bevor Beils Stimme aus dem Lautsprecher ertönte. »Die Biscayne meldet sich, Commodore.« Auch Hudsons Schiff leuchtete auf der Anzeige auf.
»Helsinki hier«, sagte Gordon Quinn. »Sir«, fügte der Adlige nach einer kurzen Pause an. Sergei ignorierte diese bewusste Kränkung. Im Moment fehlte ihm die Zeit, sich damit zu befassen. »Ikegai zur Stelle, Sir«, hörte er Okomes Stimme. Das Eskortschiff begann sofort, seine Geschwindigkeit an die des Flaggschiffs anzupassen, obwohl seit Beendigung des Sprungs nicht mal eine Minute vergangen war. »Die Mycenae meldet sich, Commodore.« »Hier ist die San Martin, Commodore.« Sharon MacEwans Stimme drang kraftvoll aus den Lautsprechern. »Bereit zum Einsatz, Sir.« »Die Inflexible meldet sich, Sir.« »Die Indomitable meldet sich, Sir.« Die kleinen Schiffe waren kaum materialisiert, da manövrierten sie bereits, um ihre vorgesehenen Positionen einzunehmen. Die Gefechtsbereitschaft hatte dafür gesorgt, dass die Abwehrfelder aller Schiffe bereits hochgefahren waren. »Gagarin, nehmen Sie Gefechtsposition ein«, sagte Sergei. »Anne, rufen Sie die Sevastopol. Ich habe sie noch nicht auf meinem Display gesehen.« 41 »Aye-aye, Commodore. Sevastopol, hier spricht die Lancaster. Hören Sie mich?« Sergei beobachtete sein Display, während im Hintergrund auf seiner Brücke die Meldungen aus dem Geschwader zu hören waren. Die erste Gruppe Fighter hatte die Gagarin innerhalb von fünfzehn oder zwanzig Sekunden verlassen, während die Frontschiffe - die Biscayne, die Helsinki und die Lancaster -ihre Formation einnahmen. Das Eskortschiff Ikegai schob sich auf der Steuerbordseite hinter das Flaggschiff. Die Abwehrfelder der beiden Schiffe schimmerten leicht, als sie sich kurz berührten. Das kleinere Raumfahrzeug schützte die Flanke des Transporters. Allerdings gab es eine Lücke an der Stelle, an der sich die Sevastopol hätte befinden sollen. »Mycenae, schließen Sie die Lücke.« Das Display zeigte die drei Zor-Schiffe, die nach wie vor von ihrer Basis auf dem Weg zu ihnen waren. Die Darstellung deutete an, dass sie sich nahe jenem Punkt befanden, an dem sie ihre Geschwindigkeit zurücknehmen mussten, wenn sie nicht an den Schiffen der menschlichen Invasoren vorbeifliegen wollten. »Alle halbe Kraft voraus«, befahl Sergei. Es würde zwar ein wenig mehr Treibstoff kosten, aber indem sie den Zor-Schiffen entgegenflogen, würden sie sie zu einem plötzlicheren Verlangsamen zwingen, was für sie eine stärkere Belastung darstellen würde. »Keine Antwort von der Sevastopol, Sir.« »Mycenae, gehen Sie nur auf ein Viertel. Bert, hören Sie mich?« »Aye, Commodore.« »Ich bekomme kein Signal von der Sevastopol. Wenn Tina am Sprungpunkt auftaucht, möchte ich nicht, dass ihre Flanken ungeschützt sind. Sobald Sie sie registrieren, lassen Sie es mich wissen.« »Verstanden.« Die Mycenae glitt hinter die sechs anderen Schiffe, die vorrückten, um die feindlichen Schiffe abzufangen. Diese konnte Sergei inzwischen auch identifizieren. Es handelte sich um schwer gepanzerte Patrouillenschiffe der Stalker-Klasse, gut bewaffnet und sehr wendig, aber ohne die Fähigkeit, Raumsprünge 41 zu machen. Die Fighter des Transporters waren fast in Feuerreichweite. »Zor-Schiffe, hier spricht Commodore Sergei Torrijos vom Sol-Imperium als Repräsentant des Admirals der Flotte, Lord Marais. Ich fordere Sie auf, sich zu ergeben und dieses System an uns zu übergeben.« Wieder herrschte auf der Brücke Schweigen, das nur von gelegentlichen Kommentaren der Fighter-Piloten unterbrochen wurde. Nach mehreren Sekunden reagierten die Zor auf die für sie übliche Weise: Energiezungen schössen aus den herannahenden Schiffen auf den führenden Fighter, der dem Beschuss auswich. Sergei warf dem Admiral einen Blick zu, doch der schien von der Reaktion nicht überrascht zu sein. »Also gut, Captain Bell«, sagte er und stützte sich auf einen Arm auf. »Zeigen Sie's ihnen.« Die Vorteile der Fighter bestanden darin, dass sie sehr wendig und sehr schnell waren, zwei Eigenschaften, die zu Lasten praktisch aller anderen Faktoren gingen, angefangen beim Komfort für den Piloten bis hin zum Fehlen von Abwehrfeldern rings um das kleine Schiff. Der Pilot musste einen Druckanzug samt Helm tragen, damit er eine Überlebenschance hatte, wenn er aussteigen musste. Der Sitz war für ein paar Stunden erträglich, erlaubte aber nur minimale Bewegungen. Alle Kontrollen und Statusanzeigen waren übersichtlich angebracht, Letztere gaben Auskunft über die eigene Position, die des Mutterschiffs und des Ziels. Einen Fighter zu fliegen, war für Piloten der Imperialen Navy der aufregendste, zugleich aber auch gefährlichste Job. Er erforderte höchste Konzentration, beste Reflexe und eine Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Alyne Bell wusste all das aus eigener Erfahrung, so wie auch ihr Commodore. Die Brücke des Transporters unterschied sich nur geringfügig von der eines Raumschiffs. Das Pilotendisplay war um einiges größer und
wurde von einem »Traffic Director« kontrolliert, üblicherweise dem XO des Transporters, dem der Staffelfüh 42
rer Bericht erstattete. Waren alle vier und in manchen Fällen auch alle sechs Fighter im Einsatz, konnte sich die Situation so-abrupt ändern, dass die Brücke ohne einen solchen Offizier allein deshalb im Handumdrehen zum Tollhaus wurde, weil man versuchte, die Bewegungen der eigenen Fighter im Blick zu behalten. »Also gut, Captain Bell. Zeigen Sie's ihnen.« »Sie haben den Mann gehört, Lew«, sagte sie zu Lew Cornejo, ihrem XO, der über sein Headset die eingesetzten Fighter überwachte. »Schicken Sie die zweite Staffel raus, sobald sie bereit sind.« »Aye, Captain«, erwiderte er. »Zweite Staffel, bereitmachen ...« Er hielt einen Moment lang inne, als er sah, wie das Transpondersignal eines Fighters der ersten Gruppe von der Anzeige verschwand. Auf dem Bugmonitor war eine Explosion zu beobachten, die sich fast am Rand der visuellen Reichweite abspielte. »Bereitmachen zum Start«, sprach er schließlich weiter. »Die Gagarin meldet den Verlust von zwei Fightern, Sir«, meldete DaNapoli ein paar Minuten später, während die Hauptstreitmacht weiter ins Schwerkraftfeld flog. »Eines der feindlichen Schiffe hat seine Manövrierfähigkeit verloren.« »Wie lange, bis wir in Feuerreichweite sind, Chan?« »Bei derzeitiger Geschwindigkeit knapp sechs Minuten, Sir.« »Wo ist ihre Basis? Welche Strecke müssen sie zurücklegen, um Schutz zu suchen?« »Ich errechne ihre Flugbahn, Sir... Ich kann eine Basis auf Höhe der Umlaufbahn des vierten Planeten ausmachen. Würden sie sich mit maximaler Geschwindigkeit zurückziehen, hätten sie immer noch eine Dreiviertelstunde vor sich, um in den Schutz der Basis zu gelangen.« Die Flugbahn erschien als dünner Lichtstreifen auf dem Pilotendisplay. Chan stand von seiner Station auf und stellte sich neben Sergei. »Sie schaffen es niemals bis nach Hause.« Während das Geschwader sich näherte, jagten die zwei Fighter um die drei größeren Zor-Schiffe herum und suchten nach der 42
Schwachstelle für einen Angriff. Fast gleichzeitig machten beide Piloten eben diesen Punkt aus. Gebündeltes Laserfeuer traf auf das sich verschiebende, leuchtende Abwehrfeld und sprang in einem Bogen auf den Rumpf über, wobei es sich ausbreitete wie die Blitze eines Sommergewitters und sich multiplizierte, anstatt sich zu verteilen. Die glücklichen Schützen gaben sofort eine Warnung an ihre Kameraden aus, und noch während die Zor-Schiffe versuchten, zu manövrieren und das Feuer abzulenken - was manchmal gelang -, zogen sich die Fighter zurück, um in sichere Entfernung zu gelangen, bevor es zur Explosion kam. Die Abwehrschilde der beiden Zor-Schiffe wurden heller und heißer, veränderten sich von Rot über Gold zu einem grellen Blauweiß, ehe es zu einer heftigen Detonation kam... Jubel brach auf der Brücke der Lancaster aus, als die Monitore polarisiert und die Sensoren für einen Moment nutzlos wurden. Zwei Energiekugeln dehnten sich so weit aus, dass sie den Kurs der herannahenden Schiffe kreuzten, die daraufhin auswichen. Als die visuellen und taktischen Anzeigen wieder aktiv wurden, konnte die Lancaster das verbliebene Zor-Schiff aufspüren - das keine Deckung suchte, sondern in Richtung des Sprungpunkts flog, an dem die Mycenae noch immer auf die fehlende Sevastopol wartete. »Helsinki, drehen Sie bei und holen Sie ihn sich!« Dieser Befehl war kaum über Sergeis Lippen gekommen, da registrierten die Sprungsensoren ein eintreffendes Schiff. Die Sevastopol steuerte von Backbord und achtern auf das Zor-Schiff zu und eröffnete sofort das Feuer. Im Kreuzfeuer der Sevastopol und der Mycenae war das kleine Schiff chancenlos. Das Geschwader näherte sich dem inneren System. Die Hauptwelt von L'alChan, der vierte Planet des Systems, besaß eine Orbitalbasis, auf der die drei Zor-Schiffe stationiert gewesen waren. Der massierten Feuerkraft der menschlichen Angreifer konnte diese Basis nichts entgegensetzen. Nachdem ein großer Teil der Hülle 42 zusammengebrochen war, verlor die Station rasch ihre gyroskopische Stabilität, geriet aus ihrem Orbit und tauchte in die Planetenatmosphäre ein. Von den angreifenden Schiffen verfolgt, stürzte sie auf den Planeten. Was beim Wiedereintritt in die Atmosphäre nicht verglühte, versank im nördlichen Ozean dieser Welt, einige hundert Kilometer von der nächsten Landmasse entfernt. Sergei war von diesem Punkt an bereit, eine Kapitulation der Bodentruppen zu akzeptieren, und gab eben den Befehl, eine Verbindung zur planetaren Basis herzustellen, als Marais diese Anordnung widerrief. »Sie hatten bereits eine Gelegenheit, sich zu ergeben«, sagte er ruhig und legte die Hände gefaltet in den Schoß.
»Die Situation ist seitdem aber eine andere, Sir«, stellte Sergei klar. Der Waffencomputer identifizierte bereits erste Ziele auf dieser Welt, vorrangig dicht besiedelte Gebiete und Industriekomplexe. »Sie haben Ihre Befehle, Commodore. Führen Sie sie aus.« Sergei spielte mit dem Gedanken, ihm zu widersprechen. Es gab keinen wirklichen Grund mehr, die Einrichtungen auf dem Planeten zu vernichten, nachdem die militärische Schlagkraft des Systems neutralisiert worden war. Es gab keinen wirklichen Grund, es sei denn... es sei denn, man nahm Pergamum oder Alya als Grund. Nach einem Moment, der sich unendlich lang hinzuziehen schien, erteilte Sergei den Feuerbefehl. In der Stille seiner Kabine, die nur vom Geräusch seiner auf der Tastatur tippenden Finger und dem leisen Schaben des Stylus unterbrochen wurde, schien die Gewalt, die die Flotte auf die landwirtschaftlich genutzte Welt der Zor hatte niederregnen lassen, unendlich weit entfernt. Es gab keine Aufzeichnung des Angriffs aus erster Hand, da man nicht auf dem Planeten gelandet war, doch wenn Sergei seine Augen schloss, konnte er sich fast vorstellen, was sich dort unten abgespielt hatte... Er dachte an einen warmen Nachmittag im Frühling. Der Him 43 mel war klar, Blumen blühten, eine sanfte Brise wehte. Womöglich waren aus weiter Ferne Laute der einheimischen Tierwelt zu hören. Er hielt dieses Bild vor seinem geistigen Auge fest und ließ es auf sich einwirken - das Wetter, die Brise, das Zwitschern der Vögel (oder welche Arten von Tieren es dort gab), die Pflanzenwelt. Und dann wurde diese Idylle mit einem Mal in den siebten Kreis der Hölle verwandelt. Feuer regnete vom Himmel, die Vegetation wurde durch chemische Kampfstoffe in Brand gesetzt, der Boden zitterte bei jeder Explosion, in der Luft trieb ein stechender Brandgeruch - nach Holz, Kunststoff und Fleisch. Mit geschlossenen Augen hatte er sich das Szenario vorgestellt, aber so plötzlich, wie das Bild entstanden war, verdrängte er es auch wieder. Die Bilder von Tod und Zerstörung verblassten, und sein Blick fiel auf den noch nicht fertig gestellten Bericht auf seinem Wandschirm. Lange musste er nicht überlegen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er lieber an etwas anderes dachte. Doch die Eindringlichkeit dieser Bilder suchte ihn immer wieder heim, ganz gleich, wie sehr ihn diese Gedanken abstießen. Irgendwie brachte er sie in Zusammenhang mit den Bombardements von Buenos Aires oder St. Louis, von London oder Paris, nicht aber mit einer Metropole der Aliens auf L'alChan. Es war wie Alya, eine Welt, die ganz zu Beginn des langen Kampfs von den Zor verwüstet worden war. Auf Alya gab es einen Kontinent, der aufgrund radioaktiver Strahlung für Jahrhunderte unbewohnbar bleiben würde. Der Gedanke machte die Tatsache, dass nun L'alChan zerstört worden war, in keiner Weise erfreulicher. Es fiel ihm nur leichter, daran zu denken. »Herein.« Die Tür glitt auf, und Chan stand mit Captain Tina Li von der Sevastopol da. Sie trug ihre Galauniform. Sergei stand von seinem Schreibtisch auf, während sie beide salutierten, dann bedeutete er 43 Captain Li, sich in einen Sessel zu setzen, während er seinen XO wegtreten ließ. Er nahm ihr gegenüber Platz und schwieg für einige Augenblicke, um seine Untergebene nervös zu machen. »Ich nehme an, Sie wissen, warum ich Sie hergebeten habe, Captain.« »Ich kann es mir vorstellen, Sir.« »Ich hielt es für unangebracht, das über eine Kommunikationsverbindung zu Ihrem Schiff zu besprechen, bei der jeder mithören kann. Unter anderem habe ich es hier mit einem Admiral zu tun, und da das Ganze der erste große Einsatz unter meinem Kommando ist... Verstehen Sie mich, Captain?« »Klar und deutlich, Sir.« »Gut.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich möchte offen zu Ihnen sein, Tina. Ich kenne Sie nur Ihrem Ruf nach, und ich bin mir sicher, Sie haben auch einiges über mich gehört. Ich habe großen Respekt vor Ihrem Schiff und Ihrer Crew - und ebenso vor Ihnen als Skipper. Ich bin davon überzeugt, dass Ihr Geschick verantwortlich dafür ist, dass Sie immer noch leben und die Sevastopol nach wie vor einsatztauglich ist. Aber das hier ist kein Patrouillenflug, bei dem jeder für sich arbeitet. Der Gefechtsplan hat nicht das vorgesehen, was Sie getan haben, und das Schiff, das Sie ausgeschaltet haben, wäre gar nicht dort gewesen, hätte ich Bert Halvorsen nicht den Befehl gegeben, Ihren Arsch zu retten. Es war ein schillernder Auftritt, und die Sevastopol kann einen weiteren Abschuss für sich in Anspruch nehmen. Aber Ihr Schiff hätte dabei auch draufgehen können.« »Der Krieg ist immer mit Risiken verbunden, Sir.«
»Verdammt, Tina! Kommen Sie mir nicht mit solchen Sprüchen. Ihr Job besteht nicht darin, einfach Risiken einzugehen, sondern zu wissen, welche Risiken Sie eingehen können. L'alChan verfügte über drei Verteidigungsschiffe und eine Orbitalbasis. Wir waren den Schiffen und der Basis in allen Punkten überlegen, es gab keine Rechtfertigung für Ihr Risiko, den Sprung zu verzögern. Bei Mustapha sind ein halbes Dutzend Schiffe fast einsatzbereit, und 44 jedes kann Ihren Platz einnehmen. Und es gibt mindestens hundert Gefechtsoffiziere, denen ich das Kommando über die Sevastopol geben könnte.« »Diese Entscheidung steht Ihnen frei.« Tina sah ihn wütend an, ihre Fäuste hatte sie geballt. Sergei konnte fast ihre Gedanken lesen: Ich habe auch Freunde am Hof. »Ich möchte diese Entscheidung aber lieber nicht treffen. Ich will Ihr Schiff, ich will Sie als Commander. Aber ich will auch, dass Sie meine Befehle befolgen.« Sie wirkte ein wenig erleichtert. »Was werden Sie machen, Sir?« »Mit Ihnen? Gar nichts. Die Sevastopol hatte einen kurzzeitigen Ausfall der Navigation, dem Sie ganz sicher auf den Grund gehen werden. Ich werde für dieses Blutbad niemandem einen Orden verleihen. Vielleicht macht das ja der Admiral. Aber ich erwarte, dass meine Befehle in Zukunft ausgeführt werden. Darüber werde ich auch nicht mit Ihnen diskutieren. Das ist mein Job, und wenn Sie mich meinen Job machen lassen, Tina, bekommen Sie von mir großen Spielraum, wie Sie den Ihren erledigen.« Er stand auf, ging zum Wandschrank und holte eine große Karaffe und zwei Gläser heraus. Nachdem er ein wenig aus der Karaffe eingeschenkt hatte, reichte er Tina ein Glas. »Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er und stieß mit ihr an. Marais hielt eine Ansprache an das Geschwader, als die meisten Schiffe noch immer um die verwüstete Welt L'alChan kreisten. Das Echo dieser Ansprache würde Sergei bis zurück nach Mustapha verfolgen, dessen war er sich sicher. Der Admiral hatte sich dem Anlass entsprechend umgezogen. Es war eine übliche Praxis unter Admiralen vor allem unter den wohlhabenden -, dass sie ihre eigenen Uniformen entwerfen und schneidern ließen, die von völlig schmucklosen Modellen bis hin zu solchen reichten, die ans Lächerliche grenzten. Die meisten Entwürfe hatten eine nostalgische Note und orientierten sich an Stilen, die bereits Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt waren. 44 Marais hatte sich für eine schlichte schwarze Uniform entschieden, die am Kragen und den Manschetten silbern bestickt und mit Verdienstabzeichen und Medaillen dekoriert war. Sergei vermutete, dass einige davon von seinen Ahnen stammten, die alle dem Imperium gedient hatten. Es betonte jedoch sein Auftreten auf eine angenehme Weise und erzeugte die gewünschte ernste Wirkung. Als er zu reden begann, flammten seine Augen so eindringlich auf, dass es bereits etwas Erschreckendes hatte. »Oftmals in der langen Geschichte unserer Spezies stand ein Stamm, eine Nation oder eine Zivilisation an einem Scheideweg. Der eine Weg bedeutete Fortbestand, Sieg, Reichtum oder Macht, der andere Vernichtung, Niederlage, Armut oder Versklavung. Manchmal entschied man sich für den richtigen Weg, ein anderes Mal fiel die falsche Entscheidung, die in die Irre führte. Es gibt Leute, die sagen, man könne diesem Verhaltensmuster nicht entkommen, man könne aus dem Kreislauf des Schicksals nicht ausbrechen, das für alle Zeiten einen Teil der Menschheit gegen einen anderen aufbringt. In der Tat ist es so, dass wir vor der Vereinigung aller Menschen unter der Schutzherrschaft des Imperators oft kurz davorstanden, uns in einem Konflikt selbst auszulöschen. Diese Ära liegt hinter uns. Wir als Spezies haben uns auf den richtigen Kurs gebracht, denn wir führen nicht länger untereinander Krieg. Wir suchen stattdessen vereint in den Tiefen des Alls nach unserer Bestimmung. Bei diesem Vordringen sind wir anderen Spezies begegnet. Den Otran und den Rashk, bei denen wir auf Freundschaft und gegenseitiges Verstehen stießen, obwohl unsere Kulturen so grundverschieden sind, viel unterschiedlicher, als es jemals bei zwei Kulturen der Menschheit der Fall gewesen ist.« Er machte eine kurze Pause. »Und dann trafen die Menschen und ihre Verbündeten auf die Zor. All unseren Anstrengungen zum Trotz haben wir nie eine echte Verständigung mit dieser Spezies erreichen können, die nach wie vor auf unsere endgültige Auslöschung abzielt. Jeder Vertrag, den wir mit ihrem Hohen Nest un 44 terzeichneten, war für sie nur eine Gelegenheit, eine Verschnaufpause einzulegen und uns dann wieder anzugreifen. Dieser blutige Kampf hält an, selbst in Friedenszeiten und trotz unseres Strebens nach Ruhe und Frieden. Es liegt nicht daran, dass wir etwas hätten, was sie uns abnehmen wollten. Es liegt nicht daran, dass
wir Welten kolonisiert haben, die ihnen gehörten. Es liegt nicht einmal daran, dass sie glauben, wir seien von Natur aus gefährlich für sie.« Wieder eine Kunstpause. »Es liegt einfach nur daran ... dass wir existieren.« Marais nickte Anne DaNapoli zu. Das Gesicht des Admiráis verschwand von den Bildschirmen des Geschwaders und wurde durch ein Bild des Pergamum-Systems ersetzt. Die Überreste etlicher Raumschiffe trieben durchs All, dazu Ausrüstungsgegenstände, Fracht und... Crewmitglieder. Es war alles, was von diesen Schiffen noch geblieben war, die es nicht geschafft hatten, den Attacken auszuweichen. Jeder in der Flotte hatte einen Freund oder Kameraden gehabt, der dort gefallen war. Seit dem Angriff wurden diese Szenen wieder und wieder gezeigt. Überall im Geschwader, das sich in der Nähe der zerstörten Zor-Kolonie auf L'alChan aufhielt, ballten Frauen und Männer die Fäuste oder mussten bei dem Anblick schlucken. »Wir werden vor dieser Bedrohung niemals Sicherheit haben, solange wir uns weigern, unsere Feinde zu besiegen. Bedenken Sie immer eines: Die Zor sind unsere Feinde und sie waren immer unsere Feinde, auch in jeder Friedensphase. Seit einem halben Jahrhundert versuchen wir, einen echten Frieden mit ihnen zu schließen. Wir haben versucht, so mit ihnen umzugehen, wie es unsere Kultur und Geschichte von uns verlangen - so, wie die Nationen der Menschen miteinander umgegangen sind. Doch ihre Sichtweise des Universums schließt aus, dass neben ihnen eine andere Spezies existieren kann.« Wieder tauchte Marais' Gesicht auf dem Bildschirm auf. Ein aufmerksamer Beobachter hätte merken können, dass sein Ausdruck etwas angespannter oder vielleicht auch nur eindringlicher wirkte. 45 »Die Zor streben unsere Vernichtung an. Wenn wir diese schmerzliche Tatsache ignorieren und nicht entsprechend handeln, wird es keine zukünftigen Generationen geben, die unseren Fehler erkennen und korrigieren könnten. Wenn wir sie nicht jetzt und hier mit allem Nachdruck aufhalten, und zwar auf die gleiche Weise, wie sie uns aufhalten wollen, dann wird die menschliche Spezies aufhören zu existieren. Wir müssen diesen Krieg gewinnen, denn sonst werden wir niemals gewinnen. Es gibt keinen Mittelweg, wir werden ihnen nicht die Gelegenheit zur Kapitulation geben. Es wird keine Nachsicht geübt. Dies ist der wichtigste Augenblick in der Geschichte der Menschheit.« Er salutierte auf die imperiale Art, indem er die Hand an die Schläfe und dann die Faust an die Brust legte. Tausende von Crewmitgliedern auf allen Schiffen ahmten die Geste prompt nach. »Sieg!«, rief er. In seinen Augen brannte ein Feuer. Von seiner kämpferischen Ansprache angestachelt, reagierten die Untergebenen auf der Lancaster - Commodore Sergei Torrijos eingeschlossen - mit einem ebenso kämpferischen: »Sieg!« Für den Augenblick waren alle Zweifel vergessen, doch das würde nicht lange so bleiben. 45
5. Kapitel Auf privatem Kanal übertragen, 12. Mai 2311, 2244 Standardzeit Verschlüsselt SML/42A/113-1 Schlüssel nicht wiederherstellbar Anhänge: Text, Video Orange: Die Ansprache, die Person Alpha gehalten hat, ist für Ihre Begutachtung beigefügt. Sie wird in wenigen Tagen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, aber vielleicht möchten Sie sie auf ihren semantischen Gehalt hin untersuchen. Sie zeigte auf jeden Fall Wirkung, denn die Zuhörer standen da, jubelten und skandierten »Sieg«. Die Personen Beta/22 und Beta/19 haben darüber spekuliert, ob es die Absicht von Alpha ist, eine Führungsposition in der Imperialen Versammlung zu übernehmen. Anhand der im Überflug aufgezeichneten Beweise (s. Anhang) könnten Vorwürfe laut werden, dass es sich um besondere Grausamkeiten handelt. Doch die Analyse der Psych-Umfrage deutet an, dass die Toleranz der Öffentlichkeit gegenüber solchen Akten viel höher ist, als es sogar die Personen vor Ort für möglich halten. Ich muss Sie allerdings daran erinnern, dass der Erfolg von Person Alpha zwar unsere Optionen erweitert, er zugleich aber auch unsere Sorge erhöht, da die Möglichkeit besteht, dass es zu einer Eskalation der Bedrohung kommt. Der Verdacht eines solchen Problems kann durchaus publik gemacht werden, vor allem gegenüber jenen in der Versammlung, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir sollten aber aufpassen, dass die Sache weder hochgespielt noch heruntergespielt wird. >ohne Unterschrift 45 Private Übermittlung, Priorität 8 14. Mai 2311 V O N : Cdre Sergei Torrijos
Pergamum-Flottenstützpunkt AN: Adm Theodore McMasters Admiralität, H Q , Terra Admiral: Die Aufzeichnung von Admiral Marais' Ansprache an die Flotte bei L'alChan ist für Ihre Begutachtung beigefügt. Den Text werden Sie vermutlich in einigen Tagen ohnehin über offiziellere Kanäle erhalten. Zwar kann ich bei Admiral Marais bislang kein Fehlverhalten feststellen - mit Blick auf den Erfolg der Operation bei L'alChan kann ich sogar nicht anders, als ihn zu loben -, doch ich habe ein ungutes Gefühl, was den kommenden Feldzug angeht. Er hat uns erklärt, diese Operation werde völlig anders ablaufen als alles, was wir bislang in unserer Karriere erlebt haben. Eines weiß ich: Marais hatte am Ende seiner Ansprache alle in seinen Bann gezogen, und die Offiziere und Crewmitglieder dieser Flotte sind - zumindest für den Augenblick -entschlossen, ihm bis ans Ende des Universums zu folgen. Dennoch frage ich mich unwillkürlich, was er sagen wird, wenn die Zor so wie in der Vergangenheit einen Frieden mit uns aushandeln wollen. Zweifellos wird der Imperator ein solches Angebot erwägen und einen Waffenstillstand vereinbaren wollen. Ich fürchte, das wird nicht zu Marais' »totalem Sieg« führen. Die Lancaster befindet sich in gutem Zustand. Ich weiß, Sie wären viel lieber hier bei uns, aber ich weiß auch, dass Sie uns in Gedanken begleiten. >Sergei< In der Meditationskammer herrschte Totenstille, wenn man von den Atemgeräuschen des Hohen Lords absah, sowie vom leichten Rascheln seiner Flügel, wenn eine Brise hindurchwehte. Er konnte seinen Herzschlag fühlen, und er konnte sogar spüren, wie das Blut durch seine Adern gepumpt wurde. Er hatte die Atemtechni46 ken angewandt und seinen Geist mit den Acht Winden schweifen lassen, doch die Träume wollten sich nicht einstellen. Das Träumen war die Pflicht des Hohen Lords, die Verbindung zwischen dem Hohen Nest und dem Lord esLi. Seit der Zeit von A'alu und Qu'u, als die Nester sich zum ersten Mal zusammenschlossen, wurde die Spezies von den vorhersehenden Träumen des Hohen Lords geführt. Der Vater des momentanen Hohen Lords war wie all seine Vorgänger seine Verantwortung behutsam, von Ehrfurcht und Angst erfüllt angegangen. Allmählich aber hatte er sich daran gewöhnt, die Zeichen zu lesen, die ihm in diesen Träumen gegeben wurden. Die Einheit von Innerem und Äußerem Frieden war vollständig gewesen... Bis zu jenem Traum, der die Richtung für das Hohe Nest für immer änderte. Der Hohe Lord erinnerte sich noch gut daran, während er in der Kammer saß. Es war ein Traum, der ihm von seinem Vater mit seinem hsi gegeben worden war, unmittelbar bevor der zu esLi ging. Er kannte den Traum in all seinen Einzelheiten, als hätte er ihn selbst geträumt. esLi hatte zu seinem Vater gesprochen, womöglich aber auch zu ihm selbst. Die Grenzen der Zeit dehnten sich immer und waren beim Träumen nur schwer wahrzunehmen. Der Lord hatte in dem Traum nicht Sein Gesicht gezeigt, aber er hatte mit den Echos der Ebene der Schmach gesprochen. »Siehe, Hoher Lord«, hatte esLi gesagt. »Ich habe dir das Universum gegeben, damit du darüber herrschst. Ich habe dich den Inneren und Äußeren Frieden gelehrt. Ich habe dich mit Meinen Klauen vereint und dich mit Meinen Worten geführt. Doch du hast dieser Abscheulichkeit erlaubt, die Welt zu beschmutzen, die Ich dir gab.« Als Antwort auf die unausgesprochene Frage des Hohen Lords tauchte vor ihm das Bild einer fremden Kreatur auf ‐ ein blasses, flügelloses Wesen, fleischig, hässlich und unangenehm. »Diese Widerwärtigkeit, Hoher Lord, diese Rasse ist jenseits der
46 Grenzen des Zor-Reichs aufgetaucht, sie ehrt weder den Inneren noch den Äußeren Frieden. Ihre Existenz darf nicht zugelassen werden, Hoher Lord. Sie ist ein Affront gegen dich, sie ist ein Affront gegen mich. Ich übertrage dir daher eine große und ernste Aufgabe. Du musst diese Rasse auslöschen, du musst sie vom Antlitz des Himmels reißen. Denn wenn du es nicht machst...« Der Lord esLi wandte sich ihm schließlich doch zu und betrachtete ihn mit seinem Furcht einflößenden, eisernen Gesicht. »Wenn du es nicht machst, Hoher Lord, dann hast du mich zum letzten Mal gesehen. Das gilt auch für deine Nachfolger.« An dieser Stelle endete der Traum. Es war nicht der letzte Traum, den sein geehrter Vater erfahren hatte, doch er war das Alarmsignal Seiner Lordschaft gewesen. Dort draußen - jenseits der Meditationskammer, jenseits der Zor-Heimatwelten - strebten seine Brüder und Cousins danach, das Geheiß auszuführen, das esLi Selbst aufgetragen hatte. Vorsichtig hatte sich der Vater des Hohen Lords - und dann auch der momentane Lord - in den sumpfigen Ozean der vorhersehenden Träume zurückgewagt, und die Spezies hatte sich von ihnen beiden führen lassen. Die Erinnerung an diesen schrecklichen Traum war immer da, und von Zeit zu Zeit war sie besonders stark, als versuche etwas aus der dunklen Halbwelt der Träume hervorzutreten - oder als sei in der Welt des Lichts etwas geschehen, das Auswirkungen hatte auf die Träume des Hohen Lords.
Während er weiter in der Kammer saß und darauf wartete, dass die Träume kamen, fragte sich der Hohe Lord, welche von beiden Möglichkeiten - wenn überhaupt - es wohl war. Bei einem vernünftigeren Widersacher als die Zor hätte die Strategie der letzten sechzig Jahre - ein beiderseitiges Zurückstecken -letztlich keinen so hohen Preis gefordert und aus Feinden sehr wahrscheinlich Verbündete gemacht. Während die Feldzüge der Zor immer dreister und aggressiver wurden, hatte sich die Menschheit zu einer berechenbaren Größe entwickelt, da sie riskante, aber 47 potenziell siegreiche Strategien ablehnte und stattdessen solche befürwortete, die den Status quo bewahrten. Das Imperium bestand nun seit fast zwei Jahrhunderten, weil diese Strategie immer wieder erfolgreich bei aufständischen Kolonien zum Einsatz gekommen war. Wenn sich die Aufrührer nicht durch die Anwendung eingeschränkter Gewalt ruhig stellen ließen, wurde den Forderungen einer Kolonie - im Regelfall ein verbesserter politischer Status innerhalb des Imperiums, bessere Handelsbeziehungen, oft auch eine Vertretung im Senat - stattgegeben, wobei man sich der erneuernden Energie der Rebellen bediente, um sie der Verteidigung des Erreichten zugute kommen zu lassen. Der Großvater des derzeitigen Imperators hatte diese Verfahrensweise zur obersten Maxime erklärt, als er nach der Vernichtung von Alya Zurückhaltung predigte, was den Umgang mit den Zor betraf. »Man darf einen potenziellen Verbündeten niemals völlig vor den Kopf stoßen«, hatte der alte Imperator gesagt, »selbst wenn er im Moment ein Feind ist.« Mehr als ein halbes Jahrhundert lang spielte das Sol-Imperium auf Zeit und hoffte darauf, aus den Zor Verbündete zu machen, obwohl es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen mit ihnen kam. Die Zerstörung von L'alChan trug kaum etwas zum Sieg über die Zor bei, weder kurzfristig noch langfristig. Doch es war wie ein Fanfarenstoß, ein Fanal dafür, dass der Admiral die alte Strategie vollständig über Bord geworfen hatte, dass dieser Krieg nun anders geführt würde. Den Zensoren entging natürlich nicht, dass eine komplette zivile Einrichtung vernichtet worden war. Pflichtbewusst entfernten sie jeden Hinweis darauf, ganz gleich ob es sich um Briefe oder um Depeschen handelte. Die Offiziere der Lancaster sprechen Commodore Torrijos ihren Respekt aus und fühlen sich geehrt, ihn zum Empfang von Captain Bell von der Gagarin zu bitten, der in der Offiziersmesse der Lancaster am 16. Mai zur Abendwache stattfindet. Antwort erbeten an R. Chandrasekhar Wells, Commander 47 Sergei kam aus der Duschkabine und trocknete sich ab, während er an seinem Schreibtisch vorbeiging, auf dem die Einladung auseinander gefaltet lag. Aller Elektronik zum Trotz war sie von Hand geschrieben worden, auf cremefarbenem Briefpapier, das das aus Sonne-und-Schwert-Symbol des Imperiums ebenso trug wie die zwei weißen Rosen, das Emblem der Lancaster. Ein nervöser Offiziersanwärter auf seinem ersten Einsatz hatte die Einladung vor ein paar Stunden überbracht und dabei eine Miene gemacht, als würde er schreiend aus dem Quartier rennen, sollte der Commodore auch nur »buh« machen. Sergei wahrte zwar die ernste Miene, die man von einem Flaggoffizier erwartete, doch innerlich musste er grinsen, als der junge Mann ihm stammelnd einen Gruß von Commander Wells überbrachte, den Brief abgab und dann darauf wartete, wegtreten zu dürfen. Er ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, wartete, bis der sich seinem Körper angepasst hatte, und nahm sich dann die Einladung vor. »Die Offiziere der Lancaster sprechen Commodore Torrijos ihren Respekt aus ...» Für den Captain eines Raumschiffs hätte die Formulierung lauten müssen: »Die Junioroffiziere der Lancaster sprechen Captain Torrijos ihren Respekt aus ...» Doch Sergei war nicht mehr allein für dieses Schiff verantwortlich. Es waren mehrere Wochen vergangen, ehe die Einladung in die Offiziersmesse erfolgt war, eine höfliche Geste, die üblicherweise noch während des ersten Sprungs ausgesprochen wurde. Aber vermutlich hatten sie geglaubt, er sei zu beschäftigt, oder aber sie wollten auf einen besonderen Anlass warten. Nun, den hatten sie jetzt bekommen: Der Captain des Geschwaders war mit den Offizieren aller übrigen Schiffe zusammengekommen, nur die Lancaster hatte bislang noch nicht das Vergnügen gehabt, obwohl sie das Flaggschiff war, das den Admiral und den Commodore beförderte. Er legte die Einladung zurück auf den Tisch und warf das Handtuch in Richtung Wäschekorb. Ein hoher Dienstgrad hat seine Vorzüge, dachte er ironisch. Er wusste, beim Wachwechsel würde ein 47 Offiziersbursche herkommen und hinter ihm aufräumen. Sergei ging zum Schrank, nahm eine saubere Uniform heraus und begann, sich vor dem Spiegel anzuziehen, während er in Gedanken bereits beim kommenden Abend war. Von allen Traditionen der Navy ‐ von denen es reichlich gab ‐war die Offiziersmesse die angenehmste. In den Tagen der zur See fahrenden Navy auf seiner Heimatwelt verfügte der Captain des Schiffs über eine eigene Kajüte und sein eigenes Reich, während die anderen Offiziere auf Privatsphäre verzichten mussten, wenn sie arbeiten, entspannen oder sich vergnügen wollten. Bei der ersten Generation von Raumschiffen mit Überlichtgeschwindigkeit war der
Antrieb platzraubend und nicht sehr effizient gewesen, weshalb es im Schiff extrem eng und gedrängt zuging. Mit Ausnahme des Captains mussten die Offiziere sich die Schlafquartiere mit der Crew teilen. Das Privileg einer Offiziersmesse wurde voller Eifer gehütet. Mit der Zeit hatte sich das alles verändert. Heutzutage war es sogar an Bord eines Kriegsschiffs wie der Lancaster so, dass die Ausstattung einer Offiziersmesse etwas über das Schiff, seine Offiziere und vor allem seinen Captain aussagte. Wohlhabende Commander gingen sogar so weit, selbst dafür zu bezahlen. Sergei und sein unmittelbarer Vorgänger Ted McMasters hatten von der Großzügigkeit des ursprünglichen Captains der neuen Lancaster, Sir Malcolm Rodyn, profitieren können, der einer dieser wohlhabenden Commander gewesen war. Es hieß, Sir Malcolm habe einen der besten Tische in der Navy geführt, und Ted und nach ihm auch Sergei hatten alles daran gesetzt, diesen Ruf nicht zu schädigen. Auf Sergeis erster Reise gab es in der Offiziersmesse ein Galadinner für Admiral Boulanger, bei dem sogar Ted McMasters wortkarg und nervös wirkte. Doch später war Sergei klar geworden, dass der gute Eindruck, den das Dinner bei dem einflussreichen Admiral hinterließ, der Lancaster einen Bonus einbrachte. Es war für Sergei das erste Mal, dass er den politischen Aspekt einer Feier in der Offiziersmesse erlebte.
48 Flüchtig fragte er sich, ob dieses Dinner, das ihn nun erwartete, wohl irgendwelche Implikationen aufwies, die ihm nicht aufgefallen waren. Es war eine Gelegenheit, den Senioroffizieren der Gagarin - Alyne Bell, Lew Cornejo und Anne Marcos - in einer neutralen Umgebung zu begegnen, in der sie alle Gäste des Offizierskorps der Lancaster waren. Seine eigenen Offiziere würden ganz sicher einen guten Eindruck machen wollen. Aber vielleicht war da noch irgendetwas anderes, etwas, auf das er achten sollte. Ohne es bewusst wahrzunehmen, hatte er sich komplett angezogen und stand nun als Commodore der Flotte vor dem Spiegel. Einen Moment lang betrachtete er sein Erscheinungsbild, als bereite er sich auf eine Inspektion vor. Vom rechten Unterarm wischte er eine Fluse weg, außerdem nahm er minimale Korrekturen am Sitz seiner Uniformbluse vor. Ihm fiel auf, dass er mehr graue Haare bekommen hatte, doch das störte ihn nicht. Die Falten rings um seine Augen waren allerdings in erster Linie durch Sorgen bedingt, nicht so sehr durch sein Alter. Vielleicht gehörte das zu dem Preis, den man als Flaggoffizier zahlen musste. Er zog die Uniformjacke über, nahm seine Mütze und verließ die Kabine. Du hast es weit gebracht, hielt er sich vor Augen. Es ist Jahre her, dass dich solche Dinge beeindruckt haben. Doch sie konnten ihn noch immer beeindrucken, und während er zusah, wie die Junioroffiziere darüber wachten, dass der Tisch richtig gedeckt wurde, ließ er seine Gedanken abschweifen. Er dachte darüber nach, wie viele Stunden seines Lebens er auf diesem Schiff verbracht hatte, dem besten Schiff in der Flotte Seiner Majestät. Kurz nach seinem Eintreffen kam Alyne Bell herein, die vom Offizier der mittleren Wache begleitet wurde. Links und rechts von ihr gingen ihre beiden unmittelbaren Untergebenen: Commander Anne Marcos und Commander Lewis Cornejo. Sergei kannte Cornejo aus der Flugschule sowie aus der anschließenden gemeinsamen Zeit auf der Ponchartrain. Lew hatte einen starken Überlebensinstinkt unter Beweis gestellt, der vielen seiner draufgänge 48 rischen Kollegen abging. Es war eine gute Eigenschaft für einen XO der Gagarin. Doch für jemanden, der gern ein eigenes Kommando geführt hätte, kam das einem Stigma gleich, verlieh es ihm doch den Ruf, jegliche Risiken vermeiden zu wollen. Über Marcos wusste er nur, was in ihrer Dienstakte stand, die er wie hunderte andere durchgesehen hatte, als er sein Geschwader zusammenstellte. Sie hatte sich den Ruf erworben, technische Zauberkunststücke zu vollbringen, was man ihr sogar ansehen konnte. Man musste nur darauf achten, wie sie mit dem Blick einer Architektin und Ingenieurin das Innenleben des Schiffs betrachtete. Chan Wells begrüßte jeden seiner Kameraden warmherzig, den Damen überreichte er eine wunderschön geformte weiße Kristallrose, die das alte terranische Königshaus symbolisierte, dem die Lancaster den Namen verdankte. Cornejo übergab er einen weißen Kommandostab, in den das Abzeichen der Gagarin Hammer und Sichel sowie Stern und Schwert - in Silber eingelegt war. Sergei musste anerkennen, dass es sich um eine nette Geste seines XO handelte. Momentan standen die Offiziere in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich und tranken Wein aus großen Kristallkelchen, die alle mit der weißen Rose der Lancaster verziert waren. Nach einigem Manövrieren im Saal, bei dem er drei- oder viermal von seinem Dienstgrad als Commodore Gebrauch machen musste, konnte Sergei ein Gespräch mit Transporter-Commander Alyne Bell führen. »Sie verstehen es, einen Tisch zu decken, Sir«, sagte sie und deutete auf das Porzellan und die Gläser auf dem Tisch. »In erster Linie das Erbe von Sir Malcolm, natürlich ergänzt und erweitert von den nachfolgenden Captains, meine Wenigkeit eingeschlossen.« »Und was genau haben Sie ergänzt?«
Sergei zeigte auf den langen Tisch. »In meinem ersten Jahr als Kommandant der Lancaster hatte ich die Gelegenheit, ihn dem Captain der alten Armitage abzukaufen. Das Schiff war nahe Bo 49 ren in einen Hinterhalt der Zor geraten und schwer beschädigt worden. Die Verschrottung stand an, und ich fand, es sei eine Schande, ein schönes Stück Tropenholz einem solchen Schicksal zu überlassen. Also kratzte ich das Geld zusammen und kaufte den Tisch. Ich habe es bis heute nicht bereut.« Captain Bell schien ihn mit echter Bewunderung anzusehen. »Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, Sir. Etwas so Schönes auf einem Kriegsschiff wirkt generell zwar prahlerisch, aber... wenn man diese Tafel hier sieht« ‐ sie deutete mit dem Weinglas auf das Dekor des Raums ‐, »dann kommt es einem ganz natürlich vor.« Er lächelte und wollte einen Schluck nehmen, als es auf einmal einen Knall gab, gefolgt vom Geräusch berstenden Glases. Sofort zogen sich alle zurück ‐ bis auf den Übeltäter, einen jungen Mann in Galauniform, der wie erstarrt dastand und mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Erstaunen dreinblickte. Auf einmal begann Chan Wells, der Chef der Offiziersmesse der Lancaster, ein Lied anzustimmen, in das die anderen einfielen. »Ein Hoch auf Ensign Elway, ein Hoch auf Ensign Elway, ein Hoch auf Ensign Elway, der heut Nacht hier bei uns ist«, begannen die Offiziere der Lancaster, die den tollpatschigen jungen Ensign auf die Schippe nahmen. Bei jedem Refrain stießen die Männer auf den jungen Mann an, dem die Situation mit jeder Minute peinlicher wurde. Während der letzten Strophe nahm der jüngste Offizier des Schiffs einen breitkrempigen Schlapphut aus einem Regal und ging von einem zum anderen. Jeder Junioroffizier der Lancaster warf ein Scrip in den Hut, der am Ende des Lieds fast randvoll mit besonderem Schwung an Chan Wells übergeben wurde. Der ging zu Ensign Elway, der sich während der Prozedur nicht
49 gerührt hatte. »Auf Befehl des ersten Captains dieses Schiffs ...«, begann er. »... möge seine unsterbliche Seele uns zulächeln...«, warfen die anderen Offiziere ein. »... im Namen der Offiziere und des Captains der Lancaster...« Er verbeugte sich respektvoll in Richtung Sergei. »... mögen unsere Kehlen niemals trocken sein...« «... überreiche ich Ihnen, Ensign Pedro Marion Elway, die Auslösung.« Chan hielt ihm den Hut hin, Ensign nahm ihn an, bedankte sich und gab ihn zurück, während sein Kopf noch immer hochrot war, da alle ihn ansahen. Die Offiziere applaudierten und riefen: »Großartig gemacht!«, und: »Erduldet wie ein Gentleman«, dann nahmen die Gäste ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf, als sei nichts geschehen. Ein Offiziersbursche, den man zwischenzeitlich gerufen hatte, kehrte unterdessen die Scherben auf. »Was war denn das?«, fragte Alyne Bell verwundert. Sergei lächelte sie an. »Eine alte Tradition. Diese Kelche sind aus Corcyran-Kristall geschliffen, sie sind außergewöhnlich schön und unverschämt teuer. Außerdem sind sie extrem zerbrechlich, was bedeutet, dass sie üblicherweise von Ensigns auf ihrem ersten Einsatz zerschlagen werden.« Er hob den Kelch so, dass sich das Licht in der blassen Rose brach, die in die Oberfläche geätzt worden war. »Da wir unsere jungen Besatzungsmitglieder nicht in den Ruin treiben wollen, aber auch unser Kristall und das Porzellan benutzen wollen, gibt es eine einfache Regel: Wenn ein Offizier das erste Mal ein Glas zerschlägt, legen die anderen zusammen, um Ersatz zu beschaffen. Ab dem zweiten Mal ist er auf sich gestellt. Unserem jungen Elway wurde dieses Glas spendiert.« »Ich... verstehe. Sagen Sie, Commodore, haben Sie...« »0 ja. Bei meinem ersten Einsatz auf der Lancaster wurde ich vom Ersten Offizier ausgesucht, ihm bei der Planung eines besonderen Dinners für den Commodore zu helfen. Ich stieß eine Suppenterrine in Delfter Blau vom Tisch und bekam das Lied von XO 49 und dem Offizier vom Tagesdienst vorgesungen. Die beiden erklärten mir anschließend, dass ich ihre Gunst für die nächsten fünf Reisen aufgebraucht hätte.« Captain Bell musste unwillkürlich lachen. Sergei stellte fest, dass ihm der Klang ihres Lachens gefiel, wusste aber nicht, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. »Mich würde interessieren, wie Sie über unseren neuen Admiral denken«, wagte er einen Vorstoß. »Ich war schon immer der Ansicht, Sir, dass es keine kluge Taktik ist, sich über Vorgesetzte zu äußern, vor allem einem anwesenden Vorgesetzten gegenüber.« »Gut pariert, Captain. Kompliment.« Er prostete ihr zu und trank einen Schluck. »Meine Neugier ist aber nicht durch Taktik motiviert. Ich frage mich lediglich, wie das alles auf andere wirken muss.« »Privileg der Offiziersmesse?« Sie sah sich um, als wolle sie feststellen, wer sie womöglich belauschte. Sergei bemerkte, dass sie eine knappe Geste an Lew Cornejo richtete, wohl eine Art Signal.
»Auf alle Fälle.« »Danke, Sir.« Sie nahm einen Schluck. »Mit Blick auf den Admiral würde ich sagen, dass Lord Marais in kurzer Zeit viel erreicht hat - auf jeden Fall genug, um die meisten Senioroffiziere davon zu überzeugen, dass er uns nicht in eine Katastrophe führen wird.« »»Die meistern?« »Na ja, fast alle, würde ich sagen. Bei allem Respekt, Sir, aber Offiziere im Kommandorang sind von Natur aus Skeptiker.« »Sie hören sich an wie Marc Hudson.« Als Hudsons Name fiel, sah sie so plötzlich auf, dass Sergei den Eindruck bekam, er habe ihre Gedanken erraten. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe. Fahren Sie bitte fort.« »Als... Soldaten, Sir, haben wir einen Job zu erledigen. Und wir neigen zu der Ansicht, dass man uns unsere Arbeit machen lassen sollte. Der Kampf gegen die Zor lastet seit zwei Generationen auf uns, und den Krieg hätte man vielleicht schon früher gewinnen 50 können, wenn... wenn man mit mehr Eifer bei der Sache gewesen wäre.« Sie beobachtete seine Reaktionen, als wolle sie feststellen, ob sie sich mit ihren Bemerkungen auf zu dünnes Eis wagte. Das Privileg der Offiziersmesse besagte, dass nichts, was hier von Offizieren besprochen wurde, außerhalb dieses Raums wiederholt werden durfte, es sei denn, es handelte sich um die Planung eines Verrats. Diese ungeschriebene Regel schützte Bell zwar, doch sie konnte nicht einschätzen, was ihr Commodore mit seinen Fragen erreichen wollte. »Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern«, erwiderte er, während er an Pergamum denken musste. Wieder sah er, wie das Hangardeck von Ted McMasters' Schiff weggerissen wurde, wie herausgeschleuderte Shuttles und kleine Reparaturschiffe ohne ein Geräusch im All trieben. »Wenn Sie Admiral wären, Captain, was würden Sie tun?« »Ich würde den Zor mit aller Härte begegnen, Sir, und einen Friedensvertrag mit ihnen erst dann unterzeichnen, wenn wir sicher wären, dass sie sich nicht wieder gegen uns erheben könnten.« »Darüber wird seit sechzig Jahren geredet, Captain.« »Über etwas zu reden und es zu tun, das sind zwei völlig verschiedene Dinge, Commodore. Wir hatten nie die Chance, es zu tun.« »Es gibt aber nach wie vor einen Imperator und eine Imperiale Versammlung, Captain Bell, denen wir früher oder später Rede und Antwort stehen müssen.« Er machte eine ausholende Geste. »Sie können die besten Offiziere in Gottes großem Universum um sich scharen, aber es gibt immer noch den Punkt, an dem der Imperator und der Senat darüber entscheiden, ob der Krieg beendet ist oder nicht.« »Aber weder der Imperator noch der Senat sind hier draußen.« »Ich wüsste nicht, was...« »Wir sind hier draußen, Sir. Wenn das Wort des Admirals etwas wert ist, dann werden wir den Ausgang dieses Krieges entschei 50 den.« Ohne ein weiteres Wort nickte sie knapp, dann zog sie sich zurück und ging zu ihrem XO, um sich mit ihm zu unterhalten. Die Offiziere erhoben sich, als Admiral Marais in Begleitung seines Adjutanten und seines Geschwaderkommandanten den Raum betrat. Er nahm am Kopf des großen ovalen Tisches Platz und aktivierte den Wandschirm hinter sich. Während sich seine Untergebenen wieder setzten, erwachten über der Tischplatte Bilder zum Leben. »Das wird unsere letzte Gelegenheit sein, die strategische Situation zu besprechen, bevor wir den Sprung nach R'h'chna'a unternehmen«, begann er ohne Vorrede. »Die Ansprache an die Flotte, die ich bei L'alChan hielt, war in erster Linie für die Truppen gedacht, was Sie sicher verstehen werden. Dennoch kann ich nicht umhin, wieder auf die Bedeutung dieses Unternehmens hinzuweisen.« Marais legte die Hände gefaltet auf den Tisch. »Anders ausgedrückt: Ich meinte jedes Wort so, wie ich es gesagt habe.« »Ich bitte um Verzeihung, Admiral.« Captain Marc Hudson beugte sich vor. »Darf ich mich des Privilegs der Offiziersmesse bedienen?« Marais sah den Mann an, als habe der ihn allein mit der Frage bereits herausgefordert. »Gestattet, Captain«, sagte er dann. »Danke, Sir.« Hudson räusperte sich. »Ich bin mit den internen Abläufen der Politik am Hof nicht vertraut, immerhin habe ich mehr als dreißig Jahre auf Raumschiffen zugebracht.« Sergei, der links vom Admiral saß, zuckte innerlich zusammen, als er die Spitze bemerkte, die darauf abzielte, dass Marais ein Adliger war und praktisch keine Erfahrung an der Front gesammelt hatte. Marais ließ sich nichts anmerken. »Auf jeden Fall,
Sir, bin ich mir bewusst - so wie wir alle -, dass Ihr Mandat... wenn wir es denn so nennen wollen... dass also Ihr Mandat durch dieses Buch veranlasst wurde, das Sie geschrieben haben und das unser Imperator - lang möge er leben - wohl auf seinem Nachttisch liegen hatte, als er sich Gedanken darüber machte, wen er zum Admiral der Flotte machen sollte.« 51 Die anderen Offiziere rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her, doch rein theoretisch war Hudson durch das Privileg der Offiziersmesse nach wie vor geschützt. »Dieses Buch, Sir, beschreibt in allen Details Ihren Angriffsplan.« »Das ist richtig, Hudson. Allerdings weiß ich nicht...« »Mit Verlaub, Sir, ich gehe davon aus, dass Sie wissen wollen, worauf ich hinauswill. Es ist ganz einfach, Admiral. Ihr Buch - das ich gelesen habe, Sir, und recht interessant fand, wenn ich das so sagen darf... Ihr Buch vermittelt den Eindruck, dass wir diesen Feldzug so lange fortsetzen sollen, bis den Zor nicht nur die Fähigkeit zu einem erneuten Angriff genommen worden ist, sondern bis auch ihr Wille gebrochen ist. Ungeachtet aller Rhetorik, Admiral... und damit kritisiere ich nicht Ihre Art zu formulieren, das möchte ich betonen, Sir... aber ungeachtet aller Rhetorik - sind Ihnen eigentlich die Folgen dessen bewusst, was Sie da andeuten?« Es folgte langes Schweigen. Hudson war einer der erfahrensten Offiziere der Flotte, doch seine gesellige Art ließ einen Zuhörer leicht vergessen, welche akademischen Leistungen er vorweisen konnte, unter anderem einen Doktortitel in theoretischer Physik und Sprungdynamik. Marais nickte. »Captain Hudson, ich bin mir dessen völlig bewusst. Es ist durchaus möglich, dass dieser Feldzug Monate oder gar Jahre dauert, ehe er abgeschlossen ist.« »Sehen Sie, Sir, es ist nicht mehr nötig als ein wütender Zor, der sich mit einem Sprungschiff auf den Weg macht und Millionen Menschen mit einer Wasserstoffbombe oder etwas noch Schlimmerem auslöscht. Die Geheimdienstberichte geben Hinweise darauf, dass die Zor uns in Sachen biologischer Kriegführung einiges voraus haben. Ihr Buch geht von einer guten Idee aus, Sir, aber ich muss Sie doch fragen, wie lange Sie Ihrer Meinung nach diese Strategie verfolgen können, bis der Imperator - lang möge er leben - den Feldzug abbläst? Ich will damit sagen, Sir, je länger dieser Feldzug dauert, umso wahrscheinlicher wird ein Selbstmordangriff auf Paris, Buenos Aires oder St. Louis. Bislang haben die Zor 51 immer aufgegeben. Sie sind bereit, Monate oder sogar Jahre zu kämpfen. Aber was ist mit dem Imperator, Admiral? Was geschieht, wenn er den Rückzug befiehlt?« »Das ist nicht wichtig, Captain. Die Durchführung dieses Feldzugs liegt allein in meiner Hand.« »Sie wollen sagen...« »Ich will sagen«, Marais sah von einem zum anderen, »dass dieser Feldzug dann endet, wenn ich ihn für beendet erkläre. Die Allgemeine Order 6 gibt mir in diesem Punkt Recht und macht mich zum Befehlshaber dieser Flotte, bis mein Auftrag erfüllt ist oder bis ich tot bin. Der Imperator ist über hundert Parsec entfernt.« »Ungeachtet der Situation?« »Korrekt.« Wieder sah er die Anwesenden der Reihe nach an und taxierte sie eingehend. Marc Hudson würde sich später in der Form daran erinnern, dass Marais wirkte wie ein Totengräber, der Maß für seine Särge nahm. »In zehn Tagen wird diese Flotte bei R'h'chna'a auf die Zor treffen. Wie Sie wissen, verleiht uns die Verstärkung unserer Kampfkraft hier bei Pergamum in Verbindung mit den Verlusten, die dem Feind beim letzten Konflikt zugefügt wurden, einen erheblichen Vorteil - sowohl zahlenmäßig als auch mit Blick auf die Feuerkraft. Es dürfte für uns kein Problem darstellen, die von den Zor ausgehende Bedrohung zu eliminieren. Da es keine Rückzugslinie geben wird, werden wir...« »Ich bitte um Verzeihung, Admiral«, warf Captain MacEwan ein. »Was meinen Sie mit »keine Rückzugslinie« »Sehen Sie sich bitte die Einsatzbefehle für diese Mission an, Captain«, erwiderte Marais kühl. »Wir wollen nicht, dass sich die Zor von R'h'chna'a zurückziehen, was sie fast sicher machen werden, obwohl das System als Flottenstützpunkt strategisch von großer Bedeutung ist. Wir wollen vielmehr ihre Streitkräfte vernichten. Kurz gesagt: Die Flotte wird in der Nähe der Sprungpunkte ausschwärmen und den Feind an der Flucht hindern. Taktische Simulationen gehen von einer über achtzigprozentigen Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg bei minimalen Verlusten aus. Wenn 51 jeder Teil der Flotte die ihm zugeteilte Aufgabe erledigt, wird es so gut wie kein feindliches Schiff mehr geben, das den Rückzug antreten kann.«
Sergei dachte später am Schiffsabend über den Plan nach, nachdem die Stabsbesprechung längst beendet war. Ihm schien der Plan nachvollziehbar, da er vorwiegend auf Simulationen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen basierte. Das war keine neue Idee, ließ sich doch der Generalstab schon seit Jahrzehnten von Computersimulationen sagen, was zu tun war. So hatte zum Beispiel eine sehr pessimistische Simulation vorhergesagt, die Zor seien noch auf Jahre hinaus zu geschwächt für einen weiteren Krieg. Manche Schätzungen gingen sogar von zehn bis zwölf Jahren aus, und doch hatten die Zor Pergamum angegriffen. Keine dieser Simulationen hatte die Denkweise der Zor berücksichtigt. In jedem Fall sollte die Flotte in den Raum der Zor eindringen und deren Flotte so weit wie möglich eliminieren. Das Interesse galt diesmal keinen zivilen Einrichtungen, sondern der militärischen Stärke des Feindes. Ohne sie konnte der keinen Krieg führen. Das war eine Sache, an die Sergei glauben konnte. Er war zur Welt gekommen, als der Konflikt mit den Zor noch etwas Neues, Beängstigendes war. In Buenos Aires aufzuwachsen, bedeutete ein Leben mit täglichen Warnungen vor Luftangriffen, mit Zeitungsartikeln, die vom Schicksal jener Kolonien auf anderen Welten berichteten, die von den Zor angegriffen worden waren. Er kannte die politikwissenschaftlichen Dilettanten im 3-V, die Milliarden von Zuschauern bewiesen, wie doppelzüngig und ehrlos die Zor waren. Was Sergei aber am meisten ängstigte, zugleich aber auch anzog, das war nicht die Brutalität, mit der der Feind vorging, sondern die Dimensionen dieses Konflikts. Es handelte sich um den ersten interstellaren Krieg, in den die Menschheit verwickelt war, wenn man von der Unterdrückung der Kolonien Anfang des 22. Jahrhunderts absah, die zum Akzessionskrieg und letztlich zur 52
Gründung des Sol-Imperiums geführt hatte. Aber dieser Konflikt war immer auf ein einzelnes System beschränkt geblieben. Im Krieg gegen die Zor konnte es dagegen überall zu einem Gefecht kommen. Wenn es aber keine Zor-Flotte mehr gab und das Sol-Imperium dafür sorgte, dass auch keine neue Flotte gebaut wurde, dann würde diese Bedrohung für immer gebannt sein. Zwölf Standardstunden vor dem Sprung war der Offiziersclub der Raumbasis Mothallah überlaufen. Sergei hatte seiner Crew freigegeben, sodass an Bord nur eine Minimalbesetzung verblieb. Sowohl Offiziere als auch Personal aus den Mannschaftsdienstgraden der Flotte mussten hin und wieder Zeit miteinander verbringen. So wie die meisten Commander wusste er, dass er seine Leute innerhalb von Minuten wieder an Bord holen konnte, sollte das erforderlich sein. Er wusste aber auch, wie wichtig es war, sich zu entspannen, wenn die Situation so gravierend war und ein achttägiger Sprung vor ihnen lag. Außerdem war ihm klar, dass es auf ihn selbst auch eine erfrischende Wirkung hatte, wenn er wenigstens für kurze Zeit einmal sein Schiff verließ. Als er sich der Theke näherte, bemerkte er Marc Hudson, der seinen Dienstgrad ebenso einsetzte wie seine Ellbogen, um an der Bar einen Platz für Sergei freizumachen. »Nehmen Sie das«, sagte er und bot Sergei einen Becher mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit an, die eben erst eingeschenkt worden war. »Ich habe schon ein zweites Glas bestellt.« »Danke«, gab Sergei zurück. »Eigentlich bin ich kein Biertrinker.« Er nahm einen großen Schluck. »Nun, das da ist auch kein...«, begann Hudson, als Sergeis Gesicht rot anlief und er einen Hustenanfall bekam,»... Bier.« »Was ist das?«, keuchte er. »Acheya. Normalstärke hundertsechzig, lokales Zeugs. Ich mag es ganz gern.« Sergei sagte nichts dazu, sondern sah nur zu, wie Hudson den 52 zweiten Becher nahm und ihn fast in einem Zug leerte. Der Commodore nippte vorsichtig und registrierte einen angenehmen Malzgeschmack, der einen nussigen Unterton hatte. »Laden Sie meinen Torpedoschacht nach, mein Sohn«, sagte Hudson zu dem jungen Barkeeper, der das Glas prompt wieder auffüllte. »Schön, Sie auch mal in einer freundlichen Umgebung zu sehen, Commodore. Was macht die Lancaster?« »Alles bestens, Captain Hudson...« »Marc, wenn Sie diese vertrautere Form erlauben, Sir.« »Sergei.« »Schön, dass mit Ihrem Schiff alles in Ordnung ist. Ted McMasters machte ein höllisches Theater, als jemand vorschlug, das alte Mädchen aus dem Verkehr zu ziehen und die Crew auf andere Schiffe zu verteilen. Ich sagte unserem Admiral, es sei eine verdammte Schande, wenn er das machen würde. Eine überholte Lancaster ist schließlich drei Schiffe der vierten Generation wert, die mit Anfängern bemannt sind Anfänger, die sich untereinander nicht kennen und die nicht mal ihren eigenen...«
»Schon verstanden. Sie haben also zu Marais gesagt...« »Nicht direkt.« Hudson hinterließ seinen Daumenabdruck auf dem Päd, nahm sein Getränk und führte Sergei in einen nicht so überlaufenen Bereich des Clubs. »Eigentlich habe ich das zu Captain Stone gesagt, aber offenbar hat es gewirkt.« »Stone? Sein Adjutant?« »Ja, der. Komischer Kerl. Sehr schweigsam, aber immer hellwach. Kennt jeden und weiß alles. Eidetisches Gedächtnis, wie Sie wissen.« »Weiß ich nicht.« »Nicht?« Sie fanden ein ruhiges Eckchen. Hudson ließ seinen Dienstgrad spielen, um einen Lieutenant wegzuschicken, der mit einer Frau hergekommen war. Nachdem die beiden gegangen waren, nahmen Hudson und Sergei Platz. Während der Captain einen Schluck Acheya trank, passte sich der Sitz seinem Körper an. »Stone hat Karriere als Stabsoffizier gemacht. Er ist etwa so alt wie ich. 53 Irgendeine Kolonistenfamilie. Hat sich immer bei irgendjemandem an die Rockschöße gehängt, um seine Ziele zu erreichen. Er ist seit fünf, sechs Jahren der Adjutant von Marais. Seit der Zeit vor dem letzten Frieden.« Sergei musste lächeln. »Früher sagten wir immer >vor dem Krieg«, heute heißt es >vor dem letzten Frieden.« »Na ja, das will Marais ändern ... Aber zurück zu Stone. Ich wollte einen Blick in seine Dienstakte werfen, aber der Zugriff wurde mir verweigert. Erst ab Flagg-Ebene kommt man da rein, und es gibt nur zwei Flagg-Admirale, die diese Sicherheitsstufe haben - Ted McMasters und unser guter Marais. Ich möchte wissen, was Stone zu verbergen hat.« Sergei saß schweigend da und sah in seinen Becher. »Macht Ihnen irgendwas Sorgen, Sergei?« »Eine ganze Menge sogar, vor allem aber ... Nun, es ist diese ganze Art des Krieges bislang. Der Angriff auf L'alChan, nachdem wir die Verteidigung ausgeschaltet hatten ... das läuft allem zuwider, was ich gewohnt bin. Für die Moral kommt das alles einem Wunder gleich, keine Frage. Jeder in der Flotte scheint einen Freund oder Verwandten zu haben, der im Krieg gefallen ist... aber mir kommt es vor, als würden wir auf etwas eingeschworen, etwas entsetzlich Zerstörerisches und Brutales.« »Krieg ist nun mal zerstörerisch und brutal, das wissen Sie so gut wie ich.« Marc Hudson lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorn, der sich ebenfalls nach vorn bewegte. »Sie sind schon seit einigen Jahren in der Navy, weshalb ich Ihnen das eigentlich gar nicht erst sagen müsste. Aber vielleicht müssen Sie es ja hören. Wir halten uns immer für eine grundsätzlich friedfertige Spezies. >Wenn dich einer auf die eine Wange schlägt ...<, >Was du nicht willst, dass man dir tu' ...< und so weiter. Aber manchmal muss der Wille des Imperators auf eine brutale Weise umgesetzt werden. Seine Majestät sagt: »Begebt euch in dieses oder jenes System und prügelt auf diese Kolonisten oder jene Rebellen ein, bis sie Vernunft annehmen.< Genau das machen wir dann auch. Wenn wir 53 uns auch nur ein einziges Mal weigern, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir werden als Verräter hingerichtet, oder aber das Imperium verschwindet in seiner Gesamtheit.« Hudson trank einen Schluck. »Es steht nicht auf den Bewerbungsvordrucken und auch nicht auf dem Einberufungsbefehl, aber zur Pflicht eines jeden Soldaten gegenüber dem Imperator gehört es, dann zu töten, wenn es einem befohlen wird, ganz gleich, wann und wo das passiert und wer getötet werden soll. So ist das nun mal. Egal, ob man eine Armbrust oder die Laserkanone eines Schiffs benutzt, man drückt auf einen Knopf, man betätigt einen Abzug, und daraufhin stirbt jemand. Man muss sich dafür aber nicht rechtfertigen. Das kann man demjenigen überlassen, der den Feuerbefehl gab.« Wieder hielt er einen Moment lang inne. »Nicht jeder kann den Gedanken des Tötens akzeptieren, nicht mal im Namen des Imperators. Aber es ist ja auch nicht jeder ein Soldat. Sie und ich, wir sind Soldaten. Im Moment wird von uns verlangt, dass wir zu den Zor fliegen und sie so hart rannehmen, dass sie uns nie wieder angreifen können. Ein Frieden wird erst diktiert, wenn wir mit ihnen fertig sind. Kein Waffenstillstand, keine Verträge. Wir ziehen das durch, bis die andere Seite über kein flugtüchtiges Raumschiff mehr verfügt. Dann sagen wir ihnen, was wir wollen, und sie werden uns genau das geben, weil sie wissen, was passiert, wenn sie sich weigern.« »Und wenn sie sich weigern?« »Das werden sie nicht. Keine Spezies, die bei Verstand ist, wird sich noch weigern, wenn sie sich gegen eine Raumflotte nicht mehr wehren kann.« »Und was war mit... mit L'alChan?«
»Eine Machtdemonstration, damit sie sehen, dass wir es ernst meinen.« Marc Hudson beugte sich noch weiter vor und ballte die Hand zur Faust. »Und das ist ja auch so, Sergei. Wir meinen es ernst. Wir werden nicht zulassen, dass der Schwanz weiter mit dem Hund wedelt.« 54 »Und Sie glauben, Admiral Marais wird damit zufrieden sein?« »Ganz sicher.« Hudson trank seinen Becher Acheya aus und stellte ihn auf den Tisch. »Er wird diesen Krieg gewinnen und nach seiner Rückkehr auf Lebenszeit zum Premierminister ernannt werden. Ich wünsche ihm dafür viel Glück. Was den Rest angeht, sollen sich die Politiker darum kümmern.« Er stand auf und ging in Richtung Bar, während Sergei weiter dasaß und sein Spiegelbild in dem halb vollen Becher Acheya betrachtete. 54
6. Kapitel
Nur der Weise wird in der Lage sein, die Dunkle Schwinge zu unterscheiden vom Diener esGa'us, dem Täuscher. (Respekt gegenüber esLi) Wie wirst du den Schatten von esHu'urs Schwinge erkennen? An den Zeichen, die er zeigt. (Haltung der Enthüllten Furcht) hiShthe'eYaTur, Der Flug über Berge (aus dem Shthe'e-Kodex, von Lehrmeister Shthe'e HeChri)
Von seinem Platz hinter dem nur in eine Richtung Sicht erlaubenden Vorhang auf der Plattform über der Ratskammer konnte der Hohe Lord die heftigen Diskussionen jener Würdenträger mitverfolgen, die bereits eingetroffen waren. Er konnte ihre Verärgerung verstehen und sie sogar zu ihrer wahrscheinlichen Quelle zurückverfolgen. Es war das Voranschreiten das Krieges, die Entrüstung, die Frustration und die Angst... ungewohnte Gefühle, vor allem angesichts des andauernden Feldzugs gegen die esGa'uYal, die fremden Diener des Lords der Schmach. Selbst mit Blick auf den herausragenden Sieg, mit dem die jüngste Phase begonnen hatte, war die weitere Entwicklung des Feldzugs nicht hinnehmbar. Außerdem schien es diesmal sogar so, als seien sie nicht willens, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. 54 Und man tuschelte über etwas... etwas anderes. Der Hohe Lord der Zor hatte versucht, in Träumen Trost zu finden, Lord esLi um Rat zu bitten, wie es seine Ahnen und Vorgänger getan hatten. Doch es geschah nichts. Da war kein Traum, den er hätte betrachten können, ganz gleich, wie sehr er sich auf seinen Inneren Frieden konzentrierte. Er hatte sich mit seinen engsten Beratern besprochen, von seinen ihm nahe stehenden Cousins bis hin zum Gyaryu'har, Träger des gyaryu, des HeYen-Reichsschwerts. Doch niemand konnte ihm die Antwort geben, nach der er suchte. Vielleicht, so überlegte er, während er weiter die Ratsmitglieder bei ihrer hitzigen Diskussion beobachtete, konnte ich die korrekte Frage nicht präzise formulieren. Unter ihm trafen die noch fehlenden Mitglieder des Rates der Elf ein, der alte Lord Makra'a HeU'ur und Lord Riyas HeChra. Beide kamen in den Saal geflogen und nahmen ihre Plätze ein. Dort unten waren zwölf Zor zugegen: je einer, der eines der elf ursprünglichen Nester vertrat - Zusammenschlüsse von Clans, die früher einmal die Heimatwelt Zor'a bevölkerten -, außerdem ein zwölfter Lord, der alle übrigen Clans und die unabhängigen L7e vertrat, die über das Zor-Gebiet verstreut lebten. Während die elf Lords der Nester die höchste Würde im Rat innehatten, da sie ihre Herkunft vierundsechzigmal vierundsechzig Jahre zurückverfolgen konnten, war der Sprecher für die Jungen der Gesandte für vierundsechzigmal mehr Individuen. Auch wenn die anderen elf sich gegen ihn stellen sollten, konnte seine Stimme den Ausschlag geben. Die beiden zuletzt Eingetroffenen nahmen wortlos ihren Platz ein, doch an der Haltung ihrer Flügel konnte der Hohe Lord erkennen, dass auch sie verärgert waren. Es war offensichtlich, dass sich ein Teil der Debatte außerhalb der Ratskammer abgespielt haben musste. Der Hohe Lord sammelte sich und nahm sich vor, anschließend mit den Wachen zu sprechen, um zu erfahren, ob sie womöglich irgendwelche Gespräche hatten belauschen können. Dann durchschritt er den Vorhang und stellte sich auf die Platt 54 form. Sofort verstummten alle Unterhaltungen, und die zwölf Ratsmitglieder nahmen ihre Plätze ein. Alle stellten ihre Flügel so, dass sie die Haltung der Höflichen Hochachtung einnahmen, wie es die Ehrerbietung erforderte, die der Lord eines Nests dem Hohen Lord entgegenzubringen hatte, dann sprachen sie wie mit einer Stimme: »Karai'i esShaLie'e, esLiHeYar.« Seid willkommen, großer Lord. Auf den immerwährenden Ruhm von esLi.
»Meine Lords«, begann Sse'e HeYen. »Ich bitte achttausendmal um Verzeihung, dass ich Sie von Ihren Sorgen und Ihrer Verantwortung abhalte, um hier mit mir in einer Zeit des Krieges zusammenzukommen. Es ist nicht üblich, dass der Hohe Lord den Rat einberuft, nachdem wir uns bereits für eine Kampfstrategie entschieden haben. Doch das Hohe Nest hat Berichte von äußerst beunruhigender Natur erhalten, und es gebührt einem Nestling wie mir« - der Hohe Lord veränderte ein wenig seine Flügelhaltung, um einen Anflug von Humor in seinen Worten deutlich zu machen -, »dass ich mich mit den elf Lords der Nester und natürlich auch mit unserem ehrenwerten Sprecher für die Jungen« - dabei deutete er mit einer Kopfbewegung auf den Zor-Lord, der am anderen Ende des Saals saß - »bespreche, um ihre Meinung einzuholen.« »Die Elf danken dem Hohen Lord für die ihnen entgegengebrachte Aufmerksamkeit«, erwiderte Makra'a HeU'ur förmlich. Er sah sich kurz im Saal um und tauschte Blicke aus mit einigen der anderen Lords. Dem Sprecher der Jungen gegenüber deutete er eine Verbeugung an, dann ergänzte er: »Und auch dem Sprecher. So sehr wie Ihre Nestbrüder von HeYen sind auch wir bereit, dem Hohen Nest zu dienen.« »Sind Sie auserwählt worden, um für den Rat zu sprechen, Lord HeU'ur?« »Die Schwinge von esHu'ur traf mein Nest als Erstes, Hoher Lord.« Der Name esHu'ur hallte im Saal unheilvoll nach, und einige Ratsmitglieder bewegten nervös ihre Flügel. Die Clans von L'al55 Chan waren Mitglieder des Nestes HeU'ur. Doch die Doktrin vom Hohen Nest hatte diesen Angriff als von den esGa'uYal kommend dargestellt, den fremden Dienern des Lords der Schmach, nicht aber ein Werk von esHu'ur, dem Zerstörer, der Dunklen Schwinge. »Ihr Nest wurde zuerst angegriffen, Lord HeU'ur. Warum sagen Sie, es sei das Werk der Dunklen Schwinge gewesen?« »Hoher Lord«, erwiderte Makra'a HeU'ur und brachte seine Flügel sorgfältig in eine Haltung, die eine Kombination aus höflicher Geduld und angedeuteter Ehrerbietung darstellte. »Ich habe viele Male acht Jahre lang treu gedient - Ihnen, ebenso Ihrem verehrten Vater und Ihrem erlauchten Großvater. Als ich zum ersten Mal mein chya anlegte« - er legte eine Klauenhand auf die verzierte Waffe, die an seiner Taille hing -, »da waren die fremden esGa'uYal ein neues und bedrohliches Phänomen. Stets haben wir ihre Existenz als einen Affront gegen uns angesehen, als eine Beleidigung für esLi - eine Schöpfung des Lords der Schmach, zu uns geschickt, um unseren Äußeren Frieden auf die Probe zu stellen, wie es Ihr erlauchter Großvater uns lehrte. Es hatte nie einen Grund gegeben, ihnen gegenüber eine andere Einstellung einzunehmen. Wir sahen sie stets als hsth-Fliegen an, nach denen man schlug, oder als artha, die man jagt und tötet. Jedes Mal stellten sie unter Beweis, dass sie zwar intelligent, letztlich aber idju sind, da sie sich selbst Einhalt gebieten. Jedes Mal, bis sie nun L'alChan angriffen. Noch nie gab es einen Angriff, der sich gegen etwas anderes als ein militärisches Ziel richtete. Bis hierher kann ich das noch verstehen, Hoher Lord: L'alChan ist von Wert, sowohl mit Blick auf die Ressourcen als auch hinsichtlich der Lage. Da sie einen neuen Befehlshaber bekommen haben, darf man mit neuen Taktiken rechnen...« »Worauf wollen Sie hinaus, Mylord«, unterbrach der Hohe Lord ihn. Der ältere Zor wandte sich um und sah ihn lange an, dann korrigierte er minimal seine Flügelhaltung - eine Spur mehr Geduld, eine Spur weniger Ehrerbietung - und neigte leicht den Kopf. 55 Aus zehn Schritt Entfernung glaubte der Hohe Lord, das leise empathische Knurren von Lord HeU'urs chya zu hören. Sein eigenes Schwert, das hi'chya des Hohen Nests, schien darauf zu reagieren, da er dessen Verärgerung über diese Unverschämtheit in seinem Geist spürte. Er ging darüber hinweg. »L'alChan wurde nicht einfach nur angegriffen, Hoher Lord. Es wurde nicht bloß zerstört, sondern dem Erdboden gleichgemacht. Kaum ein Stein ist auf dem anderen geblieben. Kein Bewohner hat überlebt, nicht ein Getreidehalm blieb verschont. Ich bin sicher, Sie haben auch die Robotausstrahlungen der Bilder aus dem System gesehen, die völlig von dem bisher bekannten Muster abweichen, dem die esGa'uYal zuvor jedes Mal gefolgt waren. Es war ein e'ChaRell'un, ein rituelles Ausbluten.« »Sie schreiben dem Kommandanten dieser Fremden Eigenschaften zu, die er nicht besitzen kann, Lord HeU'ur. Kein Diener des Lords der Ausgestoßenen kann ein solches Ritual vollziehen.« »Ihr Kommandant versteht die Hochsprache.« »Blasphemie!«, warf eines der älteren Ratsmitglieder ein, andere stimmten unüberhörbar zu. »Sie kreisen über gefährlichem Territorium, Lord HeU'ur«, sagte der Hohe Lord und hob seine Flügel in die Haltung der Formellen Entrüstung. »Er erlernte die Hochsprache bei seinen Reisen zu unseren Welten, als wir einen Waffenstillstand vereinbart hatten. Zwar beherrscht er die Sprache nicht mit all den zutreffenden Modulationen, aber soweit ich weiß, ist er sehr belesen und kann sogar auf eine sehr rudimentäre Weise die hRni'i
verstehen. Warum ist es überhaupt erwähnenswert, dass er unsere Sprache versteht? Selbst Sr'can'u, der meinen Garten bewacht, versteht die Hochsprache, trotzdem ist er deshalb nicht einer von unserem Volk.« »Der menschliche Commander hat nach der Zerstörung von L'alChan vor seinen Gefolgsleuten eine Ansprache gehalten. Er sagte ihnen, es würde keine Bedingungen für eine Kapitulation geben. Mit anderen Worten, Hoher Lord, er hat sich für den Flug des Kriegers entschieden.« 56 Unruhe brach im Saal auf, wütende Ausrufe paarten sich mit Klauenhänden, die nach dem chya'i greifen wollten. Der Hohe Lord sagte nichts, sondern wartete, bis die Unruhe sich wieder gelegt hatte. Niemand wurde formell zum Duell herausgefordert, niemand legte einen Schwur ab, und nach einigen Augenblicken herrschte wieder Stille. »Ein einzelner Angriff auf einen Außenposten, gefolgt von der leeren Rhetorik eines Dieners des Täuschers, ist ebenso ungenügend, um diesem Menschen den Status eines Zor-Kriegers zuzuschreiben. Sie sind alt und weise, Mylord. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie keine anderen Gründe haben, die zu dieser Einschätzung geführt haben.« »Ich danke dem Hohen Lord«, antwortete Lord HeU'ur, dessen Flügel jetzt mehr Ehrerbietung erkennen ließen. »Dem Angriff auf L'alChan folgte eine Attacke gegen R'h'chna'a und gegen S'rchne'e. Sechs Flottendepots mit minimal besetzten Garnisonen wurden ebenfalls zerstört. Nicht eingenommen, meine Lords, sondern vollkommen zerstört. Nicht ein einziges hRni'i überlebte, um die Krieger zu beklagen, die dort starben. Dies ist mehr als nur eine Steigerung der Gewalt in unserem Krieg. Dies geht über einen effizienten Feldzug hinaus. Unser Feind beginnt, die Dimensionen und die Rolle des Zerstörers zu übernehmen. Der Kommandant der esGa'uYal, meine Lords, ist der Avatar der Dunklen Schwinge.« Erneut entwickelte sich beinahe ein Tumult, doch diesmal übertönte die Stimme des Sprechers der Jungen den Lärm. »Wir haben schon zuvor gesehen, wie die Menschen siegen. Auch diese Fremden sind mit Taktiken und Strategien vertraut. Ich habe zwei Dinge auf die Worte meines erlauchter Kollegen Lord HeU'ur zu erwidern.« Die anderen wurden ruhig und hörten ihm zu. »Erstens ist es kein Wunder, dass ein Angehöriger der Fremden hRni'i vernichtet, hält er sie doch nur für Verzierungen. So etwas ist früher auch schon geschehen. Zweitens werden die Lords der Nester früher oder später zweifellos Frieden ausrufen wollen, 56 ganz gleich, welche Inbrunst oder welche Verdienste ein einzelner Mensch an den Tag legt. So haben sie es immer gemacht. Auch nach den geschilderten Vernichtungen verschiedener Welten und Basen haben wir immer noch A'anenu, Ka'ale'e Hu'ueru, die Innersten Sterne und die Kolonien jenseits der von der Verwerfung gelegenen Seite des Innersten. Der Angriff auf ihren Flottenstützpunkt bei Ilya'aHyu - das System, das die Fremden selbst als >Pergamum< bezeichnen - war ein großer Erfolg. Nach meiner Einschätzung hat sich nichts geändert.« »Hoher Lord«, meldete sich HeU'ur wieder zu Wort, sah den Sprecher und dann die anderen Ratsmitglieder an. »Hoher Lord, ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass manche in diesem Saal mich für einen alten Narren halten, der im Handeln unserer Feinde den Schatten der Dunklen Schwinge, des Zerstörers, erkennt. Es ist ihre Meinung, sie sei ihnen zugestanden.« Gemurmel kam auf, doch Lord HeU'ur ging darüber hinweg. »Ich habe viele Schlachten miterlebt, ich habe selbst gegen diese Menschen gekämpft. Jetzt, da sich die Abenddämmerung über meine alten Schwingen legt, könnte man durchaus annehmen, dass ich Muster erkenne, wo keine Muster sind, und dass ich Flüge sehe, die nicht existieren. Es könnte sein... aber es ist nicht so.« Er drückte den Rücken durch, seine Flügel nahmen die exakte Haltung der Ehrerbietung gegenüber esLi ein. »Ich habe mich dem Feind gestellt, und ich habe mich mit den Legenden befasst. Dieser Flug folgt dem Pfad des Klagelieds vom Gipfel, und das ist nicht der Flug, den wir ursprünglich auserkoren hatten. Je länger dieser Feldzug dauert, umso mehr wird meine Einschätzung bestätigt werden. Diesmal hat der Kommandant der Menschen Proportionen angenommen, die größer sind als ein Diener des Lords der Ausgestoßenen.« »Wenn wir ihnen Frieden anbieten«, entgegnete der Sprecher gelassen, »werden sie wieder annehmen.« »Und wenn sie nicht annehmen?« »Wir sind diesen Pfad nicht geflogen!«, konterte der Sprecher 56 wütend. »Mylord der HeU'ur, in den Mustern, die Lord esLi für uns wirkt, wollen Sie die Berührung der Dunkle Schwinge sehen. Schön und gut. Aber wenn wir ihnen ein Friedensangebot machen und die Fremden
annehmen, dann werden sich Ihre ... Indizien ... auflösen wie Nebel im Wind, und es wird keinen esHu 'ur geben.« »Ist das Ihre Empfehlung, Lord Sprecher?«, fragte der Hohe Lord. »Das ist in der Tat meine Empfehlung, Hoher Lord. Es wäre natürlich erforderlich, dass Sie sich mit Ihren Befehlshabern besprechen, um den richtigen Zeitpunkt für eine Friedensgeste zu bestimmen. Doch es sollte bald geschehen, bevor noch mehr...« - er sah kurz zu Lord HeU'ur, dann konzentrierte er sich wieder auf den Hohen Lord - »... Gerüchte kursieren.« »Was sagen Sie dazu, Lord HeU'ur?« »Ich... verbeuge mich vor dem erhabenen Sprecher der Jungen«, erwiderte der. »Aber ich warne den Hohen Lord, denn das Muster bildet sich gerade erst. Und sollten sich die Menschen tatsächlich weigern, einen Friedensschluss zu akzeptieren, dann könnte meine Einschätzung mehr sein als nur... Nebel.« Der Hohe Lord sah den Ausdruck in den Augen des alten Lords, als der sich abwandte und den Sprecher anschaute. Ich werde das nicht vergessen, schienen HeU'urs Blick und Haltung zu sagen. Konteradmiral Theodore McMasters von der Imperialen Navy saß in einem weichen Sessel, fühlte sich auf seinem Platz aber unbehaglich. An der gegenüberliegenden Wand hielt eine alte Standuhr den Takt und spiegelte mit den Bewegungen ihres Pendels die Bewegung der Erde wider. Die Uhr war mit ihrem Alter von mehr als vierhundert Jahren eine echte Antiquität, aus einer Ära vor dem elektronischen Zeitalter, wie es schien, da sie ohne interne und externe Stromzuführ lief. Ein imperialer Beamter kam exakt um halb neun am Morgen her und zog mit einem speziellen Schlüssel die 57 se Uhr auf, die bereits Generationen von Beamten überlebt hatte. Ein geschickter Goldschmied aus Waimea hatte vor kurzem einen neuen Schlüssel angefertigt, nachdem das Original schließlich zu sehr abgenutzt gewesen war und seinen Zweck nicht mehr erfüllen konnte. Der Warteraum war in einer bunten Mischung eingerichtet: dicke, weiche Läufer, Möbel im Bauhaus-Stil und dem Rokoko, in einer Ecke ein altes 2-V-Gerät. Auch wenn McMasters sich nur bruchstückhaft an das erinnerte, was er über Kunstgeschichte gelernt hatte, wusste er doch, dass er vor sich eine willkürlich zusammengestellte Ansammlung verschiedener Stile hatte, von denen der eine nicht zum anderen passte. Es wäre jedoch taktlos gewesen, darauf hinzuweisen. Es gefiel dem Imperator, ein Kenner klassischer Kunst zu sein, und es gab niemanden im Sol-Imperium, der dem widersprechen wollte. Was die Objekte so interessant machte, war die Zeit, der sie entstammten. Vor Jahrhunderten waren das 2-V-Gerät ebenso wie die Standuhr normale Einrichtungsgegenstände gewesen, die zum Alltag der Menschen gehörten. Heute kam niemand mehr ohne automatische Küchen und ohne Reader aus. Während er in seiner Galauniform im Warteraum vor dem Büro des Premierministers im imperialen Palast auf Oahu saß, verstrichen die Sekunden wie in Zeitlupe. Auf der anderen Seite kam es ihm vor, als seien die letzten dreißig Jahre wie im Flug vergangen, als sei es erst gestern gewesen, da er als Offiziersanwärter auf die Charlestown gekommen war, obwohl dieses Schiff vor dreiundzwanzig Jahren in einem Scharmützel bei Anderson's Star zerstört wurde. Kurz danach wurde er Feuerleitoffizier auf der Lancaster, und das war der Beginn seiner Karriere als bester Pokerspieler der Zweiten Flotte. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er bei einer Partie, die im oberen Werferschacht der Lancaster stattfand, diesen Titel und den Sold eines halben Jahres an Bruce Wei verloren hatte. Später kam dann die Gustav Adolf und mit ihr der Einsatz bei 57 Pergamum ... Seine Beinverletzung war fast wieder geheilt, doch die Erinnerung an die Schlacht und an die Schmerzen ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Die Zeit hatte sich alles genommen, was in der Vergangenheit geschehen war, und es unwiederbringlich fortgespült. Es gab nur die Gegenwart, und alles, was blieb, waren Beweisstücke dafür, dass die Vergangenheit überhaupt stattgefunden hatte - Beweisstücke, die man katalogisieren und ausstellen konnte, in Archiven, in Museen und in Warteräumen... Die Tür wurde geöffnet und ein Lakai in Livree kam zu ihm. »Admiral? Seine Exzellenz lässt Sie grüßen, Sir, und er bittet Sie um Entschuldigung, dass er Sie warten ließ. Wenn Sie mir dann folgen würden?« McMasters stand auf und ging hinter dem Mann her. Die wenigen Monate als Stabsoffizier hatten nicht viel daran geändert, dass er nur ungern eine Galauniform trug und er mindestens genauso ungern mit Politikern zu tun hatte. Lieber wäre er jetzt auf einem Raumschiff gewesen, anstatt sich wieder mit einem dieser verdammten Politiker an einen Tisch zu setzen.
Allerdings kam es auch nicht jeden Tag vor, dass ein Admiral ins Arbeitszimmer des Premierministers eingelassen wurde. Der Lakai führte ihn in einen großen sonnendurchfluteten Raum. Nahe dem zur Bucht gelegenen Fenster stand der hoch gewachsene Premierminister und trank eine Tasse Tee, während er auf das Wasser hinuntersah, tief unter dem imperialen Grundstück auf Diamond Head. Von der Tür aus konnte McMasters sehen, wie die Wellen des Pazifik an die Küste schlugen. Der Himmel über Hawaii war strahlend blau. »Mein lieber Admiral«, begrüßte der Premierminister ihn, stellte die Teetasse auf den Schreibtisch und kam auf McMasters zu, um ihm die Hand zu schütteln. »Seine Majestät hat mich etwas länger als erwartet benötigt, deshalb hat sich unser Treffen ein wenig verzögert. Aber ich darf davon ausgehen, dass es nicht unangenehm für Sie war.« 58 »Keineswegs, Sir«, erwiderte McMasters und folgte dem Minister zu einer Sitzgruppe auf der anderen Seite des Zimmers. Der Lakai brachte ihnen Getränke an den Tisch. »Lassen Sie mich Ihnen zuerst ausrichten, Admiral, dass Seine Majestät mit Ihren Anstrengungen sehr zufrieden ist. Seiner Majestät ist klar, dass Sie aus einer schwierigen Situation das Beste gemacht haben.« »Beziehen Sie sich auf meinen Dienstgrad?« »Sie müssen keine Zurückhaltung an den Tag legen, Admiral. Ihre Bereitschaft, auch nach Lord Marais' Berufung, weiter im aktiven Dienst zu bleiben, zeigt, wie treu Sie der Krone ergeben sind.« »Sie müssen mir nicht schmeicheln, Euer Exzellenz.« Der Premier lächelte auf eine Weise, die andeutete, dass er es zu schätzen wusste, einen würdigen Gegner gefunden zu haben. »Touche, Admiral McMasters. Nachdem wir die Vorrede hinter uns gebracht haben, möchte ich Sie über meine Gründe aufklären, Sie persönlich herzubestellen, wenn ein einfacher Anruf genügt hätte. Ich kann meinen eigenen Sicherheitsvorkehrungen in diesem Büro vertrauen, aber wenn das Thema öffentlich bekannt würde, über das ich mit Ihnen reden möchte...« Er ließ den Satz offen, nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Einige Mitglieder der Versammlung scheinen über exzellente Quellen zu verfügen, sowohl bei der Flotte als auch beim Roten Kreuz, und die Berichte, die ihnen über die Verhältnisse im Kampfgebiet zugespielt wurden, sind höchst beunruhigend. So beunruhigend sogar, dass sie damit drohen, ihre Informationen im Sitzungssaal zur Sprache zu bringen. Ich weiß, es ist nicht nötig, im Detail wiederzugeben, was sie beschrieben haben. Es erübrigt sich auch zu sagen, dass Admiral Marais' Handlungen wiederholt gegen Kapitel 17 des Kriegsartikels verstoßen haben. Seine Hoheit ist darüber verständlicherweise zutiefst besorgt.« »Ja, natürlich, Sir. Aber hat der Admiral tatsächlich gegen Kapitel 17 verstoßen?« Das Lächeln des Premier erstarrte. »Admiral Marais hat den 58
Auftrag, die politische Linie umzusetzen, aber nicht, über sie zu entscheiden, McMasters. Die Zerstörung ziviler Ziele, die Ermordung von Zivilpersonen, Angriffe auf zivile Einrichtungen ohne vorherige Warnung das alles sind Verletzungen dieses Artikels, der das Gesetz des Imperators darstellt.« »Ich würde Ihnen zustimmen, Sir, allerdings handelt sich dabei um Zor-Einrichtungen und Zor-Zivilisten.« »Sie unterscheiden doch nicht etwa zwischen...« »Die Zor haben unsere Zivilisten und unsere zivilen Einrichtungen angegriffen, Exzellenz. Warum sollte es so widerwärtig sein, wenn wir das Gleiche machen?« »Aber...« Der Premierminister geriet ins Stottern und wurde rot. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickeln würde. »Wo ist Ihre Menschlichkeit, Mann?« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen, Exzellenz.« »Menschen bombardieren keine Zivilisten, ganz egal, um welche Spezies es sich handelt. Es ist nicht der Wille des Imperators, dass Kriege auf diese Art geführt werden, Admiral.« »Das mag sein, Sir. Aber Kriege dienen letztlich immer dem Zweck, den Feind vernichtend zu schlagen. Ich glaube, Admiral Marais ist umfassend autorisiert, das zu tun, was er für nötig hält, um den Sieg sicherzustellen.« »Wie ich eben sagte, ist Marais autorisiert, die politische Linie umzusetzen, aber nicht, über sie zu entscheiden. Er hat bereits jetzt seine Befugnisse überschritten.« McMasters lehnte sich zurück und wählte seine Antwort mit Bedacht. »Ich muss Euer Exzellenz an die Allgemeine Order 6 erinnern. Admiral Marais ist die völlige Entscheidungsfreiheit gewährt worden, für die Dauer der Notsituation alles...« »Die Zor-Flotte wurde geschlagen - erst bei R'h'chna'a, dann bei S'rchne'e...« »>Für die Dauer der Notsituation, fiel McMasters dem Premier ins Wort. »Der Admiral ist der Ansicht, dass die Notsituation erst
59 dann zu existieren aufhört, wenn die Zor für die Menschheit keine Bedrohung mehr darstellen.« »Und wann wird das der Fall sein? Wenn alle Zor getötet wurden?« McMasters erwiderte nichts, sondern schaute auf seine Hände, die er gefaltet auf den Schoß gelegt hatte. »Admiral«, sagte der Premierminister langsam. »Wir reden hier über die Auslöschung einer ganzen Spezies.« Er trank einen Schluck und stellte das Glas zurück auf den Beistelltisch. »Wir reden hier über einen Gewaltakt, der in der Geschichte der Menschheit ohnegleichen ist.« »Admiral Marais wird das tun, was er für nötig hält, um die Zor daran zu hindern, dass sie die Menschheit auslöschen.« »Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen? Gegen den Willen seines Imperators?« »Euer Exzellenz, ich bin kein Politiker, ich bin Soldat. Ich bin ein treuer Diener des Imperators und der Stabschef des Admiráis der Flotte. Seine Imperiale Hoheit hat Admiral Marais auserkoren und ihm die Befugnis gegeben, die Allgemeine Order 6 zu aktivieren. Das hat er getan, und er hat damit nicht gegen seine Loyalität gegenüber dem Imperator verstoßen.« »Das wage ich zu bestreiten, Admiral McMasters. Es lassen sich leicht Argumente dafür finden, dass er sich auf eine für einen Offizier untragbare Art und Weise verhalten hat. Genauso leicht kann er ersetzt werden.« »Tatsächlich?« McMasters machte eine erstaunte Miene. »Durch wen will Seine Hoheit den Admiral ersetzen?« »Durch Sie.« »Durch mich?« McMasters lehnte sich vor. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.« »Wieso nicht?« Der Premier entspannte sich genügend, um ein Lächeln über seine Lippen huschen zu lassen. Er war es gewohnt, die Fäden zu ziehen, und er glaubte, McMasters sei bereit, sich manipulieren zu lassen. »Mein lieber Admiral, Sie haben lange 59 und hart gekämpft, um den Posten zu erreichen, den Sie heute innehaben. Sie haben am Hof mehr Freunde, als Ihnen bewusst sein dürfte.« »Oder Admiral Marais hat mehr Feinde.« »Was auf das Gleiche hinausläuft, nicht wahr? Der Imperator ist sehr zufrieden über die Siege bei L'alChan, R'h'chna'a und S'rchne'e, aber er will, dass dieser Feldzug nun ein Ende nimmt. Wie es scheint, möchte Admiral Marais diesem Wunsch nicht entsprechen. Es wäre ein Leichtes, ihn seines Kommandos zu entheben und Sie als seinen Nachfolger einzusetzen.« Der Minister wartete schweigend, was McMasters dazu sagen würde. Nachdem er einige Augenblicke lang die Stille im Zimmer auf sich hatte wirken lassen, entgegnete er: »Euer Exzellenz, mein Anstand verbietet es mir, Ihnen mit meinen eigenen Worten zu sagen, was ich von diesem Vorschlag halte. Trotz meiner Einstellung zu Admiral Marais werde ich mich aber nicht für einen politischen Schachzug benutzen lassen, um ihn zu ersetzen. Von allen anderen Gründen einmal abgesehen, würde ich mich zu Ihrer Marionette machen, sollte ich das Angebot annehmen. Nein, Sir. Sagen Sie meinen >Freunden<, ich werde das nicht machen.« Er setzte seine Mütze auf. »Wenn Sie mich lediglich hergeholt haben, um mir diesen Vorschlag zu unterbreiten, dann ist unser Gespräch damit wohl beendet.« Er stand auf und ging zur Tür. Der Premierminister blieb ungerührt sitzen und sagte: »Es gibt noch andere Offiziere außer Ihnen, Admiral.« An der Tür angekommen drehte sich McMasters zu ihm um. »Das mag wohl sein. Aber Admiral Marais und seine Flotte sind hundertdreißig Parsec von hier entfernt.« »Was soll das heißen?« »Ganz einfach, Euer Exzellenz. Der Imperator hat in seiner Weisheit entschieden, Marais zum Admiral der Flotte zu machen. Er hat die Flotte so weit fort von der Erde gebracht und Marais mit so weitreichenden Befugnissen ausgestattet, dass der jeden Krieg führen kann, den er führen möchte. Ob Seine Hoheit das gewollt 59 hat oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass er die Situation nicht länger kontrolliert.« »Und was schlagen Sie vor?« »Was ich vorschlage?« McMasters lächelte müde. »Sagen Sie dem Imperator, er soll Marais' Buch noch mal lesen. Und diesmal sollte er besser glauben, was darin geschrieben steht. Denn es wird alles so kommen, wie Marais es formuliert hat. Alles.« Er öffnete die Tür. »Guten Tag, Euer Exzellenz.« Noch bevor McMasters' Schritte im Korridor verhallt waren, kam der Lakai hinter einem Alkoven hervor und ging zum Fenster. Er zog den Vorhang ein Stück zur Seite, als beobachte er etwas oder jemanden am Strand, dann wandte er sich mit dem Anflug eines Lächelns dem Premierminister zu.
»Wie melodramatisch«, sagte er. »Dann haben Sie alles mitgehört?« »Viel besser.« Er ließ sich in einen der bequemen Sessel sinken und zeigte auf sein rechtes Ohrläppchen und den kleinen Ohrring in Form eines Sterns. »Ich habe es alles hier aufgezeichnet.« »So, so.« Der Premierminister verschränkte die Arme vor der Brust und hob fragend eine Augenbraue. »Und? Was denken Sie?« Der Lakai legte die Füße auf ein Kissen und lehnte sich zurück. »Ich denke, dass Sie in großen Schwierigkeiten stecken.« »Sie wissen verdammt genau, was ich meine.« »Was ich über McMasters denke? Nicht, dass meine Meinung irgendetwas wert ist, jedenfalls nicht, bis ich das hier« - er berührte sein Ohr - »zurückgebracht habe, damit es analysiert wird, aber...« »Aber?« »Ich bin mir nicht sicher, ob er blufft. Bevor Sie irgendetwas sagen, lassen Sie mich Ihnen versichern, dass er mich genauso überrascht hat wie Sie. Ich hätte auch nicht erwartet, dass er Marais verteidigen würde. Sein Psychoprofil ließ die Annahme zu, er würde die erstbeste Gelegenheit nutzen, um einen adligen Emporkömmling ohne Kommandoerfahrung vom Thron zu stoßen, zu 60 mal Seine Imperiale Hoheit McMasters bei der Entscheidung für diesen Posten von vornherein übergangen hatte. Seine Dienstakte deutete daraufhin, dass...« »Hören Sie, Smith, oder wie immer Sie heißen«, unterbrach ihn der Premierminister. »Sie hatten mir versichert, er würde auf diesen Vorschlag eingehen. Ich erinnere mich genau, dass die Agency zu keiner Zeit mit Begriffen wie >hindeuten<, >wahrscheinlich< oder >erwarten< gearbeitet hat. Sie...« »Ich habe Ihnen überhaupt nichts versichert.« Der Mann erhob sich prompt und stellte sich vor den Premier. Seine lässige Haltung war genauso rasch verschwunden, wie er zuvor seine Lakaienrolle abgestreift hatte. »Die Agency hat Ihnen absolut nichts versichert. Wir sind davon ausgegangen, dass er auf ein solches Angebot positiv reagieren wird. Dass das nicht passiert ist, dürfte eher an Ihrer ungeschickten Gesprächsführung liegen.« »Ich...« Der Minister wandte sich kurz ab, um seine Wut in den Griff zu bekommen, dann erwiderte er mit vor Zorn bebender Stimme: »Sie werfen mir vor, ich hätte das Gespräch ungeschickt gehandhabt? Das wird Sie den Kopf kosten!« »Nein, das glaube ich eher nicht. Wahrscheinlicher ist, dass es Sie den Kopf kosten wird.« Lächelnd ging er hinüber zu dem Alkoven, hinter dem er hervorgekommen war. »Guten Tag, Premierminister«, sagte er über die Schulter. Die Wellen schlugen weiter unterhalb des Palastes an den Strand, durch das Fenster wehte eine warme Brise, doch der Premier fröstelte. (Aus den Aufzeichnungen der Imperialen Versammlung, 24. Juni 2311, Fragestunde) MITGLIED HSIEN:... Euer Exzellenz, das Rote Kreuz berichtet von zahlreichen Vorfällen, bei denen Streitkräfte unter dem Kommando von Admiral Ivan Marais Grausamkeiten an Zivilisten verübt haben. Die Dokumente dazu sind zu den Ak 60 ten genommen undstehen den Mitgliedern zur Verfügung... [Identifizierung der Datenbank-Information] ... Möchte die Regierung zu diesen Vorfällen Stellung nehmen? PREMIERMINISTER: Der First Lord der Admiralität wird für die Regierung antworten. FIRST LORD: Bestimmte Dinge in Verbindung mit Operationen der Kriegsmarine unterliegen der Geheimhaltung, Mr Hsien, und können nicht öffentlich diskutiert werden. HSIEN: Euer Exzellenz, die Regierung weicht der Antwort aus. Die Angelegenheit ist bereits der Allgemeinheit bekannt, daher kann sie in der Versammlung auch öffentlich diskutiert werden. PREMIERMINISTER: Die Regierung ist sich dessen bewusst, Sir. Die Gründe für diese Handlungen unterliegen aber der Geheimhaltung. HSIEN: Es gibt einen früheren Fall, der das Recht der Versammlung betrifft, zu erfahren, was... PREMIERMINISTER: Es gibt auch frühere Fälle, die das Recht der Regierung betreffen, in Krisenzeiten Informationen zurückzuhalten, die die imperiale Sicherheit angehen. HSIEN: Diese Krise spielt sich hunderte von Lichtjahren von hier entfernt ab... PREMIERMINISTER: Sie scheinen sich nicht der Tatsache bewusst zu sein, dass der Feind jederzeit einen massiven Schlag gegen das Sol-System führen könnte. Wir haben bislang nicht geglaubt, die Zor könnten zu einem solchen Angriff fähig sein, aber sie haben unseren Glauben bei Pergamum widerlegt. Zu der Zeit
gingen wir davon aus, die Zor würden nicht ihre eigene Verteidigung vernachlässigen, um einen solchen Angriff auszuführen. Und doch haben sie genau das getan. Solange noch ein einziges Sprungschiff der Zor existiert, befinden wir uns in einer Notsituation. Und so lange besitzt Admiral Marais die Befugnis, zu allen erforderlichen Mitteln zu greifen, um dagegen vorzugehen. 61 HSIEN: Soll das heißen, die Regierung heißt diese Grausamkeiten gut, Euer Exzellenz? PREMIERMINISTER: Die Regierung weigert sich, jegliches Handeln von Admiral Marais' Flotte als »Grausamkeit« zu bezeichnen, Sir. HSIEN: Wird die Regierung dann auch die Beweise verwerfen, die vom Roten Kreuz vorgelegt wurden? PREMIERMINISTER: Sofern sie die Vertretbarkeit des Handelns der Navy betreffen, Mr Hsien, lautet die Antwort ja. Ted McMasters spielte lustlos mit dem Pad und überflog die Einsatzberichte Dutzender Kriegsschiffe der Navy. Er war nur zum Teil mit den Gedanken bei seiner Arbeit. Ausdrucke der Berichte der letzten Tage stapelten sich auf seinem Schreibtisch, hier und da waren Stellen markiert. Der Premierminister und seine Regierung befanden sich in einer höchst unangenehmen Situation, überlegte McMasters. Ob es ihm gefiel oder nicht, die Regierung war gezwungen, Marais' Handlungen gutzuheißen, da sie nichts dagegen unternehmen konnte. Für den Premierminister war es mehr eine Frage des Prinzips, da es um sein politisches Überleben ging. Das Eingeständnis, dass Marais nicht länger von der Regierung kontrolliert wurde, hätte für den Premier das Ende bedeutet. Aber es stimmte ja auch. Marais konnte tun und lassen, was er wollte. Er war hundertdreißig Parsec von der Erde entfernt. McMasters scherte es nicht, wie viele Zor - ob Soldaten oder Zivilisten - sterben mussten, wenn dadurch der Krieg gewonnen wurde. Es war die Vergeltung für Alya und Pergamum und ein Dutzend anderer Schlachten. Marais meinte es wirklich ernst, und zwar so ernst, wie es niemand für möglich gehalten hätte. Allerdings klangen seine Argumente auch schlüssig. Halbherziges Vorgehen war ebenso ausgeschlossen wie ein Waffenstillstand, solange die Zor nicht geschlagen waren. Die Berichte über exzessive Brutalität mussten nicht übertrieben sein, doch so war ein Krieg 61 nun mal. Ob es sich um Grausamkeiten handelte, war schwer zu beurteilen ... und doch saß McMasters hier in seinem bequemen Sessel, sah zu, wie Shuttles von Lambert Field abhoben, und versuchte, Entscheidungen zu kritisieren, die über hundert Parsec von ihm entfernt getroffen wurden. Während die Schatten auf dem Raumhafen der Admiralität länger wurden und sich die Dunkelheit in sein Büro schlich, verspürte McMasters ein eisiges Schaudern, das er nicht abschütteln konnte. Marais machte ihm Angst, nicht weil er so rigoros gegen die Zor vorging, nicht mal, weil er eine Bedrohung für die derzeitige Regierung darstellte. Aber von Anfang an hatte jeder Marais unterschätzt und sein Buch als aufgeblasenen Unsinn abgetan, als einen Schwall heißer Luft über den Willen eines Volkes und über den totalen Sieg durch rückhaltlose Gewaltanwendung. Sogar McMasters hatte sich davon beeindrucken lassen, und für einen Moment hatte er seinen natürlichen Zynismus vergessen, mit dem er sonst solchen Dingen begegnete. Jeder auch er selbst - hatte geglaubt, Marais würde den Feldzug durchziehen, entweder Erfolg haben oder scheitern, aber er würde nicht weiter kommen, als jeder andere es in den letzten fünfzig Jahren geschafft hatte. Was, wenn er so erfolgreich sein würde, dass die Zor aufgaben? Was, wenn sein Feldzug zu einem totalen Sieg über die Zor führte, vielleicht zur Auslöschung der Spezies, zum Tod von Milliarden empfindungsfähiger Wesen? Der Gedanke war lachhaft, unvorstellbar. Noch als er mit dem Premierminister zusammengesessen und über dieses Thema gesprochen hatte, waren ihm die Sorgen der anderen lediglich wie ein politischer Schachzug vorgekommen. Niemand in der Geschichte der Menschheit hatte jemals einen solchen Akt begangen... Niemand hatte jemals die Macht besessen, um einen solchen Akt zu begehen. Bis jetzt. Er hatte dem Premierminister gesagt, er solle das Buch lesen. Marais würde das tun, was er darin vorgeschlagen hatte, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Admiral Marais wird das tun, was er 61 für nötig hält, um die Zor daran zu hindern, die Menschheit auszulöschen. Das, was er für nötig hält. Doch was würde er anschließend tun? McMasters berührte das Pad und wählte eine Nummer mit hoher Priorität. Das Pad leuchtete einen Moment lang schwach, während es seinen Fingerabdruck las. Dann tauchte auf dem Wandschirm ein Operator auf. »Guten Tag, Sir, was kann ich für Sie tun?«
»Admiral McMasters hier, ich muss sofort den Premierminister sprechen.« »Ich... es tut mir Leid, Admiral, aber Seine Exzellenz ist momentan in einer Konferenz. Wenn ich...« »Dann holen Sie ihn aus dieser Konferenz heraus. Es ist von äußerster Dringlichkeit. Sagen Sie ihm, es geht um die Verteidigung des Sol-Imperiums. Machen Sie schon.« 62
7. Kapitel
Der Held sinkt auf die Ebene herab; er hat seine Wahl im Dienste seines Lords getroffen, ohne Furcht zieht er sein Chya (Haltung des Kriegers) (Ruhm für esLi)
und bietet die Stirn im Herzen des Sturms während die Dunkle Schwinge sich herabsenkt, (Respekt gegenüber esHu'ur) ungeheißen, unkontrollierbar, ein Teil der Welt, die strahlende Dunkelheit ist, während das Licht verblasst.
Das blauweiße Diadem der Sonne schob sich über den Horizont, als der Fighter von der Stadt wegschwenkte. Das Licht wurde für einen Moment vom silberfarbenen Rumpf reflektiert, ehe der Fighter die obere Schicht der Atmosphäre ansteuerte, wo das Mutterschiff im Orbit kreiste. Hätte auf dem Planeten noch jemand gelebt, um diese Szene zu beobachten, dann wäre ihm womöglich in den Sinn gekommen, dass sie etwas Künstlerisches besaß - ein Raumfahrzeug, das durch den strahlend blauen Himmel flog und das von den ersten Sonnenstrahlen dieses Morgens erfasst wurde. Aber selbst wenn noch jemand gelebt hätte, wäre er ein Zor gewesen - und deren Vorstellung von Kunst unterschied sich zweifellos deutlich von der der Menschen. Es war ein müßiger Gedanke. Während der Planet hinter dem schnellen Raumfahrzeug zurückfiel, konnten die Piloten auf dem Letzte Übermittlung der Basis Qu'useyAn, 6. Juli 2311 (übersetzt) (aus den persönlichen Akten von Admiral Ivan Marais)
62 Bildschirm die Zerstörung betrachten, die sie auf der einst blühenden Welt der Zor angerichtet hatten. Nur wenige der großen eleganten Gebäude waren nicht in sich zusammengebrochen. Die hängenden Straßen waren auf den Grund gestürzt, der Boden war verbrannt und von Explosionstrichtern überzogen. Eine Mischung aus Ruß und feiner Asche regnete noch immer auf die Stadt herab, wirbelte inmitten der Trümmer umher und folgte der leichten Morgenbrise über die breiten Alleen. Sie überzog sogar die Tragflächen des Fighters, der seinem Treffpunkt mit dem Mutterschiff entgegenflog. Seit ein einzelnes Geschwader den Sprung von Mustapha aus angetreten hatte, war die Zahl der großen Schiffe unter dem Kommando von Admiral Marais von zehn auf dreißig angewachsen. Die Arbeiten bei Mustapha kamen gut voran, vor allem angespornt durch die Zusage von Sonderzahlungen sowie durch den Einsatz von zusätzlichem Personal. Sergei war von allen Commandern der dienstälteste, zudem hatte er den Admiral an Bord, womit seinem Schiff die Führungsposition zufiel. Nach der Ankunft der beiden anderen Commodore bei Pergamum nur wenige Stunden nach dem Angriff auf R'h'chna'a hatte er die Vorbereitung einer umfassenden Untersuchung für den Admiral geleitet. Geheimdienstberichte über die Bewegungen der Zor waren dafür ebenso zusammengestellt worden wie Empfehlungen für das weitere Vorgehen. Bei der Fertigstellung seines Berichts griff Sergei nicht nur auf die Senioroffiziere zurück, sondern auch auf die Kommandanten mit der meisten Erfahrung - Bert Halvorsen, Gordon Quinn und Uwe Bryant. Übergeben wurde der Bericht spät während der Abendwache, einen Tag nach Eintreffen der Neuankömmlinge und nach einer hektischen Vorbereitungsphase, die die ganze Schiffsnacht in Anspruch nahm. Marais brauchte nur vier Stunden, dann rief er sechs Offiziere zu sich, um das Ergebnis zu präsentieren. Der Admiral hatte das Recht, jeden Raum auf jedem der Schiffe dieser Flotte in 62 Anspruch zu nehmen, doch er bevorzugte es, seine Konferenzen an Bord der Lancaster abzuhalten. Ein Raum nahe dem Quartier des Admiráis war für seine Zwecke umgebaut worden - 3-V-Ses-sel und -Tische hatte man aufgestellt, um einen Besprechungsraum daraus zu machen. Hier traf sich der Admiral mit seinem übermüdet dreinblickenden Stab. Die Offiziere betraten den Raum und nahmen Platz, ohne dass Marais etwas sagte. Lediglich Sergei warf er einen Blick zu. Der wusste, was in diesem Bericht stand, und er hatte eine Vorstellung davon, wie der Admiral darüber dachte. Dennoch ließ er sich nichts anmerken, als er sich wie die anderen hinsetzte. »Gentlemen«, begann Marais schließlich, als auch er sich gesetzt hatte. Seine Hände legte er auf die schwarze Tischplatte, die sein Gesicht widerspiegelte. »Ich habe mir den von Ihnen vorbereiteten Bericht angesehen.
Nachdem ich mich mit seinem Inhalt auseinander gesetzt habe, bin ich zu der Ansicht gekommen, dass mir wegen meiner mangelnden Erfahrung an der Front die Feinheiten Ihrer Argumente nicht klar sind.« Die Art, wie er das sagte, machte deutlich, dass er es so nicht meinte. »Ich möchte gern, dass Sie sie mir erläutern, damit ich mich eingehender damit befassen kann.« Sergei war überrascht. Er hatte schon mit einer formellen Zurückweisung des Berichts gerechnet. Was er von dieser Reaktion des Admiráis halten sollte, wusste er nicht. Klar war nur, dass seine Bitte nichts anderes als ein Befehl war. »Captain Bryant«, sagte er. »Können Sie die Präsentation übernehmen?« »Mit Verlaub, Sir«, erwiderte der, sah hilfesuchend zu Sergei und dann wieder zu Marais. »Ich bin nicht vorbereitet auf...« »Dessen bin ich mir bewusst«, fiel der Admiral ihm ins Wort. »Es muss ja nichts Hochgestochenes sein. Bitte, ich höre.« Bryant stand auf und nahm seinen Bericht mit zu dem kleinen Podest am anderen Ende des Raums. Sein Blick fiel auf Sergei, als könne der ihm helfen. Bryant war sich erkennbar nicht im Klaren 63 darüber, welchem Zweck diese Demonstration folgte. Wollte Marais ihn vor den anderen blamieren? War er irgendwie zwischen die Fronten geraten? »Schirm aktivieren«, sagte er in den Raum und tippte auf die Tasten eines in die Tischplatte eingelassenen Pads. Das 3-V schimmerte kurz, dann zeigte es eine Karte der Neuen Territorien sowie der angrenzenden Regionen, die von den Zor kontrolliert wurden. Bryant räusperte sich und sah von einem Offizier zum nächsten. »Der jüngste Konflikt begann mit einem Angriff der Zor auf den Flottenstützpunkt bei Pergamum.« Er berührte eine Taste; ein Punkt in der Darstellung wurde um eine Beschriftung ergänzt und leuchtete hellblau auf. »Auf der Grundlage von Gefechts- und Geheimdienstberichten, die wir bei und nach diesem Gefecht sammeln konnten, haben wir die Gesamtstärke der Zor-Flotte zu der Zeit auf einundfünfzig große Schiffe geschätzt - sechsundzwanzig Schlachtschiffe der Eclipse-Klasse, elf Kreuzer der Hawk -Klasse, acht Transporter der Nest-Klasse, vier Kreuzer der Talon-Klasse sowie zwei weitere Schiffe älterer Bauart, ferner achtundachtzig kleinere Schiffe, von denen mehr als drei Viertel den Zerstörern der Wing-Klasse zuzurechnen waren. Alle diese Schiffe können Sprünge von mindestens zehn Parsec vornehmen. Eine komplette Auflistung ihrer Fähigkeiten und der Charakteristika dieser Streitmacht findet sich im gedruckten Bericht, außerdem wird er auf den Schirmen vor Ihnen angezeigt. Der Angriff ging von einem Punkt tief im Raum aus, vermutlich nahe einer dunklen Sonne, die auf der Sol zugewandten Seite im ersten Drittel der Antares-Verwerfung gelegen ist.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Um über eine genügend große Streitmacht für den Angriff auf Pergamum zu verfügen, muss der Zor-Admiral die Verteidigung von mindestens sechs Kolonien auf der Sol zugewandten Seite der Antares-Verwerfung abgezogen haben. Wie es scheint, wurden die Stützpunkte bei R'h'chna'a, S'rchne'e, Ch'than, T'lirHan, B'tha*a und QüuseyAn komplett geräumt. Zusätzlich wurden vom Stützpunkt bei A'ane 63 nu fünfzig Prozent der Kampfkraft abgezogen. Unsere Verteidigung wurde von dem Angriff vollkommen überrascht und verfuhr nach den gewohnten Taktiken, nachdem die Zor-Flotte zurückgeschlagen worden war. Die Zweite und die Fünfte Flotte, die im Kriegsgebiet stationiert waren, hatten sich aufgeteilt, um anderen militärischen Einrichtungen in den Neuen Territorien Schutz zu bieten, allen voran Mothallah, der am dichtesten bevölkerten Welt der Neuen Territorien, sowie Mustapha, der Flottenreparaturwerft. Das alles ereignete sich natürlich vor der Bestellung Ihrer Lordschaft.« Er sah zu Marais. »Die Zor rechneten mit einem Vergeltungsschlag, jedoch nicht so bald, wie wir ihn ausführten, und erst recht nicht dort, wo wir zuschlugen.« Bryant hob das L'alChan-System hervor, das noch gerade eben im Einflussbereich der Zor lag. »Meldungen von Spähern zeigen, dass die Zor-Flotte sich nach Pergamum aufteilte, aber ausschließlich militärische Ziele schützte. Je eine Hälfte kümmerte sich um S'rchne'e und Ch'than, der Rest kehrte nach A'anenu zurück. Mehrere Ziele waren durch dieses Manöver völlig schutzlos, darunter auch L'alChan. Unser Angriff machte sich diese Tatsache zunutze, auch wenn wir nicht wussten, ob währenddessen eine Verstärkung eintreffen würde. Die Zor, die L'alChan verteidigten, wussten dagegen eines sicher: Als wir angriffen, hätte sie nur eine sofortige Kapitulation retten können. Jeder Versuch, Widerstand zu leisten, wäre Selbstmord gewesen. Angesichts der wenigen Dinge, die wir über die Zor-Kultur wissen, kann man nur vermuten, dass die Alternative für sie viel schlimmer gewesen wäre.« Im Raum herrschte tiefes Schweigen, als Bryant für einen Moment eine Pause einlegte.
»Der Zor-Admiral muss Spekulationen über unseren nächsten logischen Zug angestellt haben. Wenn seine Informationen über unsere Zahl und Schlagkraft dem entsprachen, was wir über die Zor wissen, muss ihm klar geworden sein, dass wir stark genug sind, um es diesseits der Antares-Verwerfung mit jeder Flotte auf 64 zunehmen. Er weiß auch aus früheren Konflikten zwischen Imperium und Zor, dass wir nach einem Konflikt zunehmend kriegsmüde werden. Eine lange Auseinandersetzung wirkt sich also zugunsten der Zor aus. Also muss sein Ziel darin bestehen, unsere Streitmacht so lange wie möglich auf breiter Front zu beschäftigen, indem er an vielen verschiedenen Stellen entlang der Peripherie der Neuen Territorien angreifen lässt. Damit sollen wir davon abgehalten werden, uns auf eines der offensichtlichen Ziele zu konzentrieren - einen ihrer Flottenstützpunkte, vor allem aber auf A'anenu.« »A'anenu«, wiederholte Marais und unterbrach Bryants Vortrag. Der wollte eben weiterreden, doch Marais hob eine Hand. Die anderen Offiziere rutschten unbehaglich auf ihren Plätzen hin und her. »Sir?«, fragte Bryant an Sergei gerichtet, der keine Antwort wusste. »A'anenu«, sagte Marais abermals. »Captain Bryant, welchen strategischen Wert hat A'anenu für die Zor?« »Einen extrem hohen Wert, Sir. Es dürfte ihnen fast unmöglich sein, ohne diese Basis überhaupt operieren zu können. Keine andere Basis könnte sie ersetzen.« »Sie würden davon ausgehen, dass der Zor-Admiral sich dieser Tatsache bewusst ist, richtig?« »Natürlich, Sir, aber ich...« »Natürlich.« In einer schnellen, fließenden Bewegung war Marais aufgestanden und ging zum anderen Ende des Tischs, wo der junge Captain mit verbissener Miene und verkrampfter Haltung stand. »Natürlich weiß er, wie wichtig diese Basis ist, und ihm wird auch klar sein, dass wir das ebenfalls wissen. Wir vernichten S'rchne'e, R'h'chna'a, Ch'than, T'lirHan und alle anderen Basen, und trotzdem können wir A'anenu nicht einnehmen. Um sie zu schlagen - um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, weiter kriegerische Akte gegen uns zu verüben« - er sah einen Moment lang Sergei in die Augen, dann konzentrierte er sich wieder auf Bryant -, 64
»müssen wir A'anenu einnehmen oder zerstören. Da die Zor offenbar sehr wenig Respekt vor ihren eigenen Leuten haben, ob sie nun zum Militär gehören oder nicht, werden sie sich keine Mühe geben, diesen anderen Welten Verstärkung zu schicken. Angriffe auf Welten der Menschen würden im Moment nichts weiter bewirken als eine Vergeudung wertvoller Ressourcen. Ohne A'anenu können die Zor nicht weiter Krieg führen. Und solange sie A'anenu halten, kann die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, nicht eliminiert werden. Beide Seiten sind sich dieser Tatsache bewusst, Captain. Die einzige Schlacht von Tragweite ist die um diesen Flottenstützpunkt.« »Sie werden bei A'anenu auf uns warten«, warf Bryant ein. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung, obwohl er eindeutig nicht davon überzeugt war. »Nicht nur das. Das Gefecht muss eine Bedeutung erlangen, die über den rein militärischen Aspekt hinausgeht. Es wird eine religiöse Bedeutung bekommen, und damit wird es auch von politischer Tragweite sein.« »Religiöse Bedeutung?«, fragte Bryant und blickte zwischen Sergei und dem Admiral hin und her. »Für die Zor hat alles eine religiöse Bedeutung, Sir, wenn ich das richtig sehe«, sagte Bert Halvorsen und fuhr rasch fort, da Marais im Begriff zu sein schien, sich Bryant vorzunehmen. »Warum sollte die Verteidigung eines noch so wichtigen Flottenstützpunkts da eine größere religiöse Bedeutung haben? Vor allem wenn man bedenkt, dass wir nicht mal Teil ihrer Kosmologie sind?« Langsam drehte sich Marais zu den anderen um, stützte sich auf der Tischplatte ab und beugte sich zu Sergei vor, der reglos am entgegengesetzten Ende der Tafel saß. »Erlauben Sie mir, die Situation zu erklären. Computer, zeige den Inhalt meiner persönlichen Datei an, Zugriffskode 14-A.« Das Diagramm der Sternkarte verschwand und wurde durch ein Bild ersetzt, das eine Seite Text in der Computerschrift der Zor zeigte. 64 »Dies ist eine Übermittlung von der Zor-Basis bei Qu‘useyAn, die unmittelbar vor der Zerstörung gesendet wurde. Ihr Ziel hat sie aus offensichtlichen Gründen nie erreicht. Ich glaube, im Anhang zu Ihrem Bericht wird dieses Dokument auch erwähnt. Nach allem, was ich gehört habe, kann ich es nicht fassen, dass Sie das nicht mal gelesen haben.« Sergei erhob sich von seinem Platz und zog seine Uniformjacke gerade. Auch Marais richtete sich auf. »Der Bericht, den Sie vor achtundvierzig Stunden angefordert hatten, sollte auf Berechnungen der Zor-Strategie und auf Einschätzungen unserer Fähigkeiten, den Feldzug gegen die Zor fortzusetzen, basieren. Dieser Bericht wurde entsprechend Ihrem Befehl vorbereitet und vorgelegt. Der Aufwand war unter den
gegebenen Umständen immens, Admiral. Es wurden alle militärischen Möglichkeiten berücksichtigt, die unsere Analyse erfassen konnte.« Marais schien etwas sagen zu wollen, doch Sergei sprach weiter - wenn auch mit Bedacht. »Es ist mir eine Freude, unter Ihnen zu dienen. Nach vielen Jahren im Dienst Seiner Majestät ist der Erfolg, den wir gegen die Zor erzielen konnten, ausgesprochen befriedigend. Außerdem ehrt er den Imperator und das Personal dieser Flotte. Den Feind zu schlagen, hat höchste Priorität, Sir - und ich versichere Ihnen, auch für mich. Als wir den Befehl erhielten, diesen Bericht für Sie zu erstellen, erledigten wir das in unserer Eigenschaft als militärische Befehlshaber, als Taktiker und Soldaten. Unsere Schlussfolgerungen - insbesondere, dass die Zor auch weiterhin eine Bedrohung für jede Welt darstellen, die in Sprungreichweite liegt, und dass ihre logischste militärische Strategie sein wird, unsere Flotte auf eine Vielzahl möglicher Ziele zu verteilen - entsprechen in jeder Hinsicht einer militärischen Denkweise, auch mit Blick auf die jüngsten Ereignisse.« Er deutete auf den Schirm. »Damit haben wir uns auch beschäftigt. Computer, Text in Standard übersetzen.« Eine Wellenbewegung lief über den Schirm, dann war der Text für alle Anwesenden lesbar. »Wir haben uns mit dieser Nachricht beschäftigt, Sir, 65 herauszufinden, welche strategische Position die Zor eingenommen haben. Was wir fanden, war ein mythologischer Text. Ein Gedicht. Unsinn. Die poetischen letzten Worte eines Commanders kurz vor seinem Tod.« »Es ist kein Unsinn, Commodore. Das ist ein Auszug aus dem Klagelied vom Gipfel, und das...« »Ich gebe Ihnen in diesem Punkt Recht, Mylord, und ziehe mein Fehlurteil zurück. Doch ungeachtet der kulturellen Bedeutung sind wir nicht entsprechend gerüstet, um einschätzen zu können, welche Folgen das für die strategische Position zwischen uns und den Zor haben könnte. Wir wurden vor ein militärisches Problem gestellt, und wir haben eine militärische Lösung geliefert. Wenn das nicht das ist, was der Admiral von uns bekommen wollte, hätte er sich deutlicher ausdrücken sollen.« Sergei war unübersehbar wütend, bemühte sich aber, seinen Ärger zu bändigen. Marais war im Begriff gewesen, aus der Stabsbesprechung etwas völlig anderes zu machen, indem er versuchte, einen jungen Captain zu blamieren - und im Zuge dessen vielleicht sogar den gesamten Planungsstab. Sergei war sich nicht sicher, was von beidem es hätte werden sollen, doch er fühlte sich in eine Ecke gedrängt. Jetzt hatte er einen Schritt nach vorn getan, ein Rückzug war nicht mehr möglich. Bryant, den Marais vom Beginn der Zusammenkunft an im Visier gehabt hatte, war unübersehbar erleichtert, nicht länger in der Schusslinie des Admirals zu stehen. Die anderen Stabsoffiziere wirkten so, als gehe es ihnen vor allem darum, unauffällig dazusitzen. Lediglich den Adjutanten des Admirals, Captain Stone, schien es zu amüsieren, wie sich sein Vorgesetzter und der Commodore sekundenlang nur anstarrten. Der Admiral hatte schon zuvor seinen starken Willen demonstriert; vielleicht war das der Grund, dies jetzt nicht zu wiederholen. Womöglich war ihm aber auch bewusst geworden, dass es nicht genügte, wenn die ihm unterstellten Offiziere ihm gehorchten. Er war auch auf ihre Kooperation angewiesen. 65 »Captain Bryant, Sie können sich wieder setzen«, sagte er schließlich und sah zur Seite. »Ihnen und Ihren Kameraden ist mein Dank dafür gewiss, dass Sie so schnell und effizient gearbeitet haben. Es scheint...« Als sich die Stimmung änderte, wechselte auch sein Gesichtsausdruck, und es wirkte, als sei ihm durch die Konfrontation eine große Last aufgebürdet worden. »Es scheint, als hätte ich unsere übergreifende Strategie nicht deutlich genug erklärt. Und offenbar habe ich auch nicht klar genug meine Sicht der Weiterführung unseres Feldzugs zum Ausdruck gebracht.« Bryant und Sergei nahmen wieder Platz, dann erst fuhr Marais fort: »Das Dokument, das Sie hier sehen« - er deutete auf den Schirm -, »ist extrem wichtig, weil es eine Veränderung in der Sichtweise der Zor belegt. Dass dem so ist, mag auf den ersten Blick nicht so ganz deutlich werden. Wie Commodore Torrijos ganz richtig gesagt hat, enthält das Dokument nichts weiter als ein Gedicht aus der Zor-Mythologie, doch es steht völlig im Einklang mit der Sichtweise der Zor, auf diese Art zu kommunizieren, sogar über einen offiziellen Kanal.« Marais atmete durch, dann sprach er weiter: »Die ausgewählte Passage entstammt dem Gedicht Klagelied vom Gipfel. Es beschreibt die Reise des berühmten Zor-Helden Qu'u, der vom ersten Hohen Lord A'alu zur Ebene der Schmach geschickt wird, einer Art... eisiger Unterwelt. Von dort soll er ein Objekt aus der Feste esGa 'us, des Täuschers, bergen und zurückbringen. Der Täuscher ist ein gefallener Engel der Zor-Mythologie, der dort gefangen ist. Qu'u ist im Rahmen eines größeren Plans dort hingeschickt worden, aber er hat sich aus freien Stücken hinbegeben: Er spricht von aLi'e'er'e, oder von der Wahl des Fluges - dass er getan hat, was er tun musste, doch nach wie vor aus freien Stücken. An dem Punkt, der in dieser Passage
beschrieben wird, ist er verzweifelt, ob er jemals seine Welt wiedersehen wird, und er fühlt, dass sich die Dunkle Schwinge auf ihn herabsenkt.« »Die >Dunkle Schwinge<, Sir?«, fragte Sergei. 66
»Die zerstörerische Macht. Die Dunkle Schwinge ist weder gut noch böse, sondern sie existiert einfach nur und löscht alles aus, was sich in ihrem Weg befindet. esHu'ur ist in der Hochsprache der Zor ein Wort voller Anspielungen und Verweise, die ein Mensch niemals ganz wird verstehen können. Auf seine eigene Weise hat der Absender dieser Nachricht sich mit Qu'u gleichgesetzt, und -was noch wichtiger ist - uns vergleicht er mit der zerstörerischen Dunklen Schwinge. Zum ersten Mal sind wir Teil ihrer Kosmologie geworden. Uns ist die Rolle des Zerstörers zugefallen.« »Ich bitte um Verzeihung, Admiral«, warf Sergei ein, »aber was bedeutet das mit Blick auf unsere Strategie?« »Die Zor sind eine fatalistische Spezies.« Marais verschränkte die Arme so vor der Brust, als würde er sich selbst umarmen. »Überall sehen sie irgendwelche Zeichen und Symbole, und angeblich lassen sie sich von den vorhersehenden Träumen ihres Hohen Lords leiten. Wenn sie davon überzeugt sind, dass wir diese Dunkle Schwinge sind, werden sie ihre Aktionen an unsere Bewegungen anpassen. Sie werden versuchen, uns auf die Probe zu stellen, um ihren Glauben zu belegen oder zu widerlegen. Wir müssen unsererseits alles tun, um diesen Glauben zu verstärken.« »Admiral«, meldete sich Bryant zu Wort. »Wollen Sie sagen, Sir, dass wir diesen Feldzug führen, indem wir die Zor in ihrer religiösen Wahrnehmung manipulieren? Dass wir eine Art Schlupfloch in ihrem Glauben zu unserem Vorteil nutzen?« »Es ist kein Schlupfloch in ihrem Glauben, Captain Bryant.« Marais beugte sich vor und stützte sich auf die Tischplatte. Die übersetzte Zor-Nachricht schwebte unheilvoll über ihm auf dem Schirm. »Wenn die Zor weiter gegen uns kämpfen und wir sie weiter besiegen, dann erfüllen wir damit die Rolle, die sie für uns vorgesehen haben. Wir sind die Dunkle Schwinge, der Zerstörer ihrer Spezies.« Der letzte Satz schien im ruhigen Konferenzraum in der Luft zu hängen. Bryant, der im Vergleich zu den anderen anwesenden Offizieren ein junger Mann - aber auch der Enkel eines Admirals 66
und der Sohn eines Admirals - war, ordnete sorgfältig die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und faltete schließlich die Hände. »Sie schlagen damit die Auslöschung einer ganzen Spezies vor, Sir.« »Das ist die logische Folgerung«, gab Marais ruhig zurück. »Ich sehe keine vernünftige Alternative.« »Man könnte eine Einigung...« »Nein.« Wieder erhob sich Marais und zeigte auf den Schirm. »So sehen sie uns im Moment. Das ist die Sprache, die sie sprechen. Es ist die Botschaft, die sie verstehen. Es gibt keinen Spielraum für eine Einigung. Keine Einigung ist denkbar, die die Zor dazu bringen könnte, uns zu respektieren und bei ihren Zusagen zu bleiben. Diese Art von Krieg führen wir nicht mehr. Wir führen jetzt einen Eroberungskrieg. Verstehen Sie das, Captain? Die Zor müssen sich uns bedingungslos ergeben, sonst werden sie ausgelöscht.« »Sie werden sich niemals ergeben«, sagte Sergei ruhig. »Dann erwartet A'anenu das gleiche Schicksal wie L'alChan, S'rchne'e und R'h'chna'a und die kleineren Einrichtungen. Danach werden wir zur Heimatwelt der Zor fliegen und auf die gleiche Weise vorgehen. Das wird dann das Ende der Bedrohung sein, die die Zor für die Menschheit darstellen. Ein für alle Mal.« Die Stabsbesprechung war kurz darauf beendet. Als die Offiziere den Konferenzraum verließen, sagte Marais: »Commander Torrijos, wenn Sie noch einen Augenblick Zeit hätten.« Die anderen Offiziere schienen sich daraufhin noch mehr zu beeilen, nach draußen zu kommen. Als die Tür sich schloss, waren nur noch der Admiral, sein Adjutant und Sergei anwesend. Marais nahm Platz und legte die Hände aneinander. Sergei blieb dagegen stehen und verharrte beinahe in Habtachtstellung. »Es scheint da ein Problem mit meiner Interpretation der Zor-Strategie zu geben. Ich muss wohl nicht erwähnen, Torrijos, dass es 66 mir nicht gefällt, wenn ich vor dem versammelten Stab herausgefordert werde.« Er wartete auf eine Antwort, doch Sergei schwieg. »Vielleicht glauben die Offiziere der Flotte, sie können den Ablauf der Operationen besser leiten als ich.« Wieder sagte Sergei nichts dazu. Er spürte Marais' Wut, und ihm war klar, dass sein Schweigen diese Wut wohl nur weiter schürte. Aber da der Adjutant des Admirals ebenfalls anwesend war, würde jedes seiner Worte offiziellen Charakter bekommen -und damit würde er sich nur noch tiefer hineinreiten. Schlimmer aber war, dass er nicht wusste, worauf es der Admiral abgesehen hatte.
»Die Geschichte hat das Gegenteil gezeigt, Torrijos. Berufsoffiziere«, meinte der Admiral mit einem spöttischen Grinsen, »Männer und Frauen wie Sie haben sechzig Jahre lang gegen die Zor gekämpft und dennoch die Gefahr nie auslöschen können, die von ihnen droht.« Die Art, wie er »auslöschen« sagte, ließ Sergei schaudern, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Und jetzt versucht ihr Akademie-Männer mein Kommando zu untergraben, sowohl hier als auch zu Hause. Das werde ich nicht zulassen, haben Sie verstanden, Commodore?« »Wenn der Admiral die Güte hätte...« »Haben Sie verstanden, Commodore?« »Klar und deutlich, Sir. Allerdings muss ich klarstellen, dass ich kein >Akademie-Mann< bin, Sir.« »Sie sind McMasters' Mann, Torrijos, was keinen Unterschied ausmacht.« »Sir?« »Sein Schützling. Sie sind McMasters' Schützling. Da er selbst nicht mitkommen konnte, hat er dafür gesorgt, dass Sie hier sind. Wenigstens verstehe ich jetzt, warum.« »Mylord, ich... ich muss Ihnen widersprechen. Ich verfolge keinen Plan, weder einen eigenen noch irgendeinen Plan von Admiral McMasters. Ich bin auch bereit zu garantieren, dass Admiral McMasters nach meinem Dafürhalten ebenfalls kein Interesse da 67 ran hat, Ihre Position zu untergraben. Wenn Sie wollen, dass ich meinen Posten aufgebe, müssen Sie das nur sagen. Allerdings war ich davon ausgegangen, dass wir noch Arbeit vor uns haben.« Marais hielt Sergeis Blick stand. »Das ist nicht der Eindruck, den ich gewonnen habe.« »Admiral, ich kann nicht exakt bestimmen, welchen Eindruck Sie stattdessen gewonnen haben. Sir, ich bin der Ansicht, dass ich mit keiner meiner Bemerkungen Trotz, Insubordination oder gar Meuterei angedeutet habe. Ich bin bereit, mich allen formellen Anschuldigungen zu stellen, die Sie gegen mich vorbringen wollen.« »Wahlweise könnte man Sie auch zusammen mit den anderen Verschwörern aus einer Luftschleuse stoßen«, hörte Sergei auf einmal eine ruhige Stimme. Er und Marais drehten sich gleichzeitig zu Captain Stone um, der noch immer schwach lächelte. Einige Sekunden verstrichen, während Sergei zum ersten Mal Nervosität empfand, als würde sich der feste Boden unter seinen Füßen plötzlich in Morast verwandeln. »Auch wenn es sicher Vorbilder für ein abgekürztes Gerichtsverfahren in einem Kriegsgebiet gibt, Stone, halte ich das in diesem Fall nicht für angemessen.« Der Admiral sah wieder Sergei an. Stones Gesichtsausdruck hatte sich nur minimal verändert, doch auf den Commodore wirkte es so, als sei da eine Spur von Enttäuschung zu sehen. Sergei und Stone wechselten einen flüchtigen Blick, und den Commodore überkam ein Unbehagen, das nicht mal durch die unverhohlene Drohung aufgekommen war. Es kam ihm so vor, als sei Stone ein Eindringling auf seinem Schiff und in dieser Flotte. Stone beendete als Erster den Blickkontakt, woraufhin sich Sergei wieder Marais zuwandte. »Meine Quellen am Hof sagen mir, dass der Premierminister Ihrem Mentor vor einigen Wochen den Posten des Admirals der Flotte angeboten hat. Es bildet sich vor allem in der Versammlung be 67 reits eine Opposition gegen diesen Feldzug und meine Methoden. Da McMasters mich nicht leiden kann, gehe ich davon aus, dass man mich in Kürze bitten wird, meinen Posten aufzugeben. Vielleicht ist diese Mitteilung auch schon auf dem Weg. Die Politik reicht mit ihren Tentakeln sogar bis in ein Kriegsgebiet, und noch bevor dieser Feldzug vorüber ist, wird man mir ganz sicher Insubordination und vielleicht sogar Meuterei vorwerfen. Was Sie angeht, Torrijos, scheint es so, als hätte ich Sie völlig falsch eingeschätzt.« »Sir.« Ein weiterer blitzschneller Stimmungswandel war mehr, als Sergei ertragen konnte. Es war verwirrend, und er brauchte einen Moment, ehe er etwas erwidern konnte. »Bei allem Respekt, Sir, aber ich muss mich meinen Aufgaben widmen.« Als der Admiral mit einem minimalen Kopfnicken reagierte, salutierte Sergei, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum und das Deck, so schnell er konnte. Er brauchte jetzt die vertraute Umgebung der Brücke der Lancaster. »Machen Sie weiter, Chan.« In der Offiziersmesse wurde es dunkel, der Projektor erwachte zum Leben und zeigte ein Holo-Luftbild der Welt, die sie wenige Tage zuvor erobert hatten. Gekennzeichnet waren die größten Einrichtungen und Siedlungen, die alle blau kodiert waren. Es bedeutete, dass man sie »neutralisiert« hatte, eine recht freundliche Umschreibung für das Wort »ausgelöscht«.
»Der Bericht, den ich um 0600 erhielt, Sir«, erklärte Chan, »zeigte an, dass alle uns bekannten besiedelten Gebiete neutralisiert wurden. Entsprechend der Standardprozedur gab mir Captain Bell außerdem das Logbuch des Überflugs. Ich habe einen Auszug vorbereitet, den ich Ihnen jetzt vorspielen kann.« »Enthält der irgendetwas, was wir noch nicht wissen?« »Tut mir Leid, Sir, ich...« »Nein, schon gut, machen Sie weiter.« Sergei betrachtete den Teppich. Er war sehr müde, doch als er die Gelegenheit zum Schla 68 fen gehabt hatte, hatte er kein Auge zubekommen. Und nun würde ihn seine Verantwortung zwingen, noch einige Stunden länger auf den Beinen zu bleiben. Dank der modernen Medizin war es ihm möglich, seine Aufmerksamkeit weitestgehend aufrechtzuerhalten. Das änderte aber nichts an der extremen Müdigkeit, die ihm in den Knochen steckte. Chan schob den Zeigefinger über das Pad, das Holo verschwand daraufhin. An seine Stelle trat ein Bild, das eine der Küsten nahe einer großen Stadt von Qu'ueyAn zeigte. Je näher der Fighter kam, umso deutlicher wurde das Ausmaß der Zerstörungen. Die fremde Architektur, die vormals elegant und beeindruckend gewesen war, bestand nun nur noch aus Ruinen. Schmale, hohe Häuser, Fußwege, die auf verschiedenen Ebenen zwischen ihnen verliefen, Balkone, Sitzstangen. Bei der niedrigen Schwerkraft, die nur knapp über einem halben g Standard lag, war es den Zor möglich gewesen, auf dieser Welt ihre Flügel zu benutzen. Das grelle Sonnenlicht zeigte unerbittlich die Trümmer, in die diese prachtvolle Stadt verwandelt worden war. Nichts regte sich dort noch, was den Eindruck erweckte, als würde man das Monument einer Zivilisation sehen, die vor langer Zeit vergangen war - wären da nicht die Leichname der Zor gewesen, die in verkrümmten Körperhaltungen dalagen. Hinter der Küstenstadt folgte eine weite Ebene, unübersehbar Ackerland. Während Sergei den Aufnahmen folgte, erinnerte er sich daran, davon gelesen zu haben, wie außergewöhnlich fruchtbar der Boden dieser Welt war. Er ermöglichte eine extrem ertragreiche landwirtschaftliche Nutzung, was die Welt für die Zor umso wertvoller gemacht hatte. Doch das gehörte jetzt der Vergangenheit an. Die chemischen Kampfstoffe, die beim Angriff auf die nahe gelegene Stadt zum Einsatz gekommen waren, hatten ganze Arbeit geleistet. Das Ackerland war verwüstet und ohne Leben, das Getreide, das niemand jemals ernten würde, war versengt und zermalmt worden. Der Flug führte weiter ins Landesinnere, das von Flüssen und 68 Gebirgsketten durchzogen wurde. Dazwischen lagen tiefe Täler, die vormals grün gewesen, jetzt aber von den Phage-Sporen verbrannt waren. Nahe einer Stelle, an der zwei Flüsse zusammentrafen, kauerten die Überreste einer Zor-Stadt. Die ehemals eleganten Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden, Brücken waren eingestürzt, und aus den Ruinen eines Gebäudes, das wohl eine Fabrik beherbergt hatte, stieg noch immer dichter Rauch auf. Niemand hatte die Toten dieser Stadt beerdigen können. Der Flug führte weiter über die Berge. Die Täler lagen im Schatten, der blauweiße Sonnenschein konnte sie nicht erreichen. Zunächst war es unmöglich, in der Dunkelheit außer ein paar Rauchfahnen etwas zu erkennen. Nach und nach wurde das Bild aber klarer: ein großer Gebäudekomplex, der sich an einer Bergwand nach oben erstreckte, dicht darüber die Gipfel, ein dichter Wald bedeckte das Tal darunter, komplett in tiefe Schatten gehüllt. Das meiste, was man sehen konnte, schien von Bomben und Feuer verschont geblieben zu sein, die anderswo Tod und Verderben gebracht hatten. Sergei wollte bereits fragen, was er da zu sehen bekam, da fiel ihm mit einem Mal auf, dass der Boden an vielen Stellen aufgerissen war und große Löcher in dem felsigen Untergrund klafften. »Das ist ein L'le, ein Nest«, erklärte Chan. »Bakterielle Kampfstoffe wurden auf der Oberfläche eingesetzt, und wärmesuchende Geschosse für den Untergrund. Die meisten Opfer finden sich dort unten, in den Stollen und den... Brutstätten. Die Einrichtungen an der Oberfläche sind intakt geblieben, weil ihre Zerstörung nicht notwendig war. Admiral Marais findet, dass sich dieses Nest hervorragend als Übungsgelände für die Infanterie eignet.« Wie erfreulich, dachte Sergei. »Gibt es noch mehr?«, fragte er, als der Bildschirm grau wurde. »Das Logbuch des Überflugs ist natürlich um einiges länger. Ich dachte mir, dieser Auszug würde genügen. Er zeigt die Haupteinsatzgebiete der Truppe: Bombardements der Industrie- und Militäreinrichtungen, Vernichtung der landwirtschaftlich genutzten 68
Flächen, Zerstörung der Nester. Wegen der erfolgreichen Durchführung dieser Operationen war es nicht nötig, auch noch die Ozeane zu entvölkern.« Sergei saß schweigend da und überlegte, was er nun sagen sollte. Chan spielte nervös mit dem Stylus. »Commodore?«, fragte er nach einer langen Pause. »Sergei? Stimmt irgendetwas nicht?« »Chan, wie viele Opfer hat dieser Einsatz gekostet?« »Zweiunddreißig Tote, siebenhundertachtundz... nein, sieben-hundertneunundzwanzig Verletzte.« »Ich meinte deren Seite.« Chan setzte sich auf. »Ich kann nur eine Schätzung bieten. Etwa vierhunderttausend, Sir.« »Ich nehme an, das ist eine optimistische Schätzung.« »Mit Blick auf die wenigen verfügbaren Informationen und vorläufige demographische Untersuchungen ist das wohl die Untergrenze. Es könnten auch doppelt so viele sein.« Sergei ließ diese Zahl einen Moment lang auf sich wirken. Allmählich kehrten seine Gedanken zurück zu Admiral Marais. Er wusste, der nächste Schritt dieses Feldzugs würde dem letzten noch verbliebenen Flottenstützpunkt in diesem Sektor gelten, A'anenu. Danach blieben den Zor nur noch die Innersten Welten im Antares-System sowie alles, was jenseits davon lag und was für das Sol-Imperium unbekanntes Territorium darstellte. Es war fast sicher, dass Zor'a - wie die Zor ihre Heimatwelt nannten - letztlich auch Ziel eines Angriffs werden würde, der sich von dem Einsatz auf S'rchne'e nicht allzu sehr unterscheiden sollte. Der Kampf um Zor'a würde sogar noch viel heftiger geführt werden, wenn eine Steigerung überhaupt noch möglich war. Am Ende würden die Zor verlieren, weil die Flotte der Menschen ihnen überlegen war. Zum ersten Mal bei diesem Feldzug wurde Sergei bewusst, dass die Flotte im Begriff war, eine ganze empfindungsfähige Spezies auszulöschen. Es ging nicht um Sieg, um Eroberung oder Unter 69 werfung, sondern um die völlige Vernichtung, um das Ende einer ganzen Spezies. Die Zor würden sterben, damit die Menschheit weiterleben konnte. Er konnte diesen Gedanken ethisch nicht mal im Ansatz fassen, so ungeheuerlich wirkte er auf Sergei. Als Soldat hatte er immer akzeptieren können, dass Töten zu seinen Aufgaben gehörte. Wie hatte es ein General im zwanzigsten Jahrhundert einmal formuliert: »Der Job eines Soldaten ist nicht, für sein Land zu sterben, sondern den anderen dämlichen Bastard für dessen Land sterben zu lassen.« Doch es sah ganz anders aus, wenn ein Sterblicher eine Verantwortung auf sich nahm, die höheren Wesen vorbehalten bleiben sollte. Die Auslöschung der Zor sollte nicht in der Hand eines einzelnen Menschen liegen. Nicht einmal der Wunsch der Zor, die Menschheit zu vernichten, konnte das zu einem Akt der Gerechtigkeit machen. Der Todesengel für das Volk der Zor zu sein, war einfach zu viel. Auf einmal traf ihn eine Erkenntnis, die ihn an die Stabsbesprechung denken ließ - und an Marais' Kommentare über die Richtung dieses Krieges. Sie waren längst die Dunkle Schwinge, jener mystische Todesbringer der Zor, der ohne Rücksicht vernichtete, der Verhandlungen keine Chance ließ und der jegliche Vergeltung unmöglich machte. Sie konnten die Dunkle Schwinge sein ... sie würden die Dunkle Schwinge sein. Von einer schrecklichen Gewissheit erfasst, wusste er, dass es so war. Mit einem Mal kam ihm alles fremd vor, als würde er die Welt plötzlich mit anderen Augen sehen. Es gab kein Zurück, es war nicht möglich, irgendetwas ungeschehen zu machen, oder irgendetwas von dem zu verhindern, was kommen würde. »Sagen Sie Captain Bell, sie hat gute Arbeit geleistet, Chan.« Er stand auf und ging zur Tür der Offiziersmesse, dann wandte er sich noch einmal an seinen XO, der ihm vertraut und fremd zu 69 gleich erschien. »Und ... wenn mich jemand braucht, ich bin in meiner Kabine.« »Stimmt etwas nicht, Sir?«, fragte Chan erneut und sah Sergei an. »Nein, es ist... nichts. Überhaupt nichts.« Dann ging er durch den Korridor in Richtung Lift, während seine Gedanken um die Dunkle Schwinge kreisten. 69
8. Kapitel Zwei Briefe, die das offizielle Siegel Seiner Imperialen Hoheit Alexander Philip Juliano trugen, wurden gleichzeitig vom imperialen Anwesen auf Oahu abgeschickt. Der erste Brief, der auf dem persönlichen Velinbriefpapier des Imperators geschrieben war, wurde einem Kurier anvertraut. Die Frau verstaute ihn in ihrer Posttasche und stieg unverzüglich in einen Copter, von dem sie zum transkontinentalen
Shuttle-Landeplatz der Nachbarinsel Molokai gebracht wurde. Dort stand ständig ein Shuttle bereit, der nach dem Eintreffen des Kuriers zur Imperialen Versammlung nach Genf flog. Der Bestimmungsort des zweiten Briefs war deutlich weiter entfernt; er wurde in elektronischer Form und verschlüsselt an einen Kommunikationssatelliten im Orbit geschickt. Der wiederum richtete einen gebündelten Strahl mit Überlichtgeschwindigkeit auf einen Stern fünfter Größe im Sternbild Skorpion und schickte ein Energiepaket los, das innerhalb einer Mikrosekunde geschnürt war, sich ausdehnte und im Nichts des Sprungraums verschwunden war. Wie der Zufall es wollte, erreichten beide Briefe ihr Ziel fast gleichzeitig. Es war ein stürmischer Nachmittag in der Stadt am See. Ein für August untypisch kalter Tag hatte die Genfer heimgesucht, die lieber zu Hause blieben, um dem peitschenden Regen und dem heftigen Wind aus dem Weg zu gehen, die einen Vorgeschmack auf 70 den Herbst brachten. Als wollte eine höhere Macht die Bewohner verspotten, lagen die nur wenige Kilometer entfernten Hänge des Saleve mit ihren Weinreben in strahlendem Sonnenschein, während für die Städter die Sonne hinter dicken grauen Wolken verschwunden war, die sich im Genfer See spiegelten. Der Premierminister stand am Fenster im sechsten Stock und betrachtete die Wetterkapriolen. Für einen Moment war die Versammlung vergessen, und er verlor sich in der schönen Aussicht, an der nicht mal Regen und Sturm etwas ändern konnten. Sein wendiger Verstand erfasste den vorzeitigen Herbsteinbruch schnell als eine Metapher für das, was sich in dem Parlament abgespielt hatte, was sich schon den ganzen Sommer über abgespielt hatte, während er immer wieder taktiert hatte, um einen Vorteil zu erringen. Das Ende war nah. Er konnte es nicht wirklich hören oder sehen, doch er spürte, dass es sich näherte. Er war bei keiner wirklich wichtigen Entscheidung unterlegen, und das würde auch nicht geschehen, beherrschte doch seine Dominion-Partei seit über einem Dreivierteljahrhundert die Versammlung. Nichts sprach dafür, dass er diese Mehrheit verlieren würde. Daran würde nicht mal sein ehemaliger Widersacher, der Abgeordnete Tomas Hsien, etwas ändern. Doch seine Feinde befanden sich innerhalb seiner eigenen Partei. Er wusste, was kam, doch das Protokoll - und natürlich seine Würde - verlangte von ihm, es sich nicht anmerken zu lassen. Nach sechs Jahren als Premierminister im Dienst des alten und des derzeitigen Imperators kannte er sich mit beiden Dingen aus. So hätte es nicht kommen sollen, sagte er sich, rieb sich die Stirn und wandte der Aussicht den Rücken zu. Alles Vertraute in seinem Büro erschien ihm im gedämpften Kunstlicht mit einem Mal fremd und wie ein Widerspruch zu dem düsteren Tag, der draußen herrschte. Er erinnerte sich an bessere Tage, an denen die helle Sommer- oder Wintersonne in sein Büro geschienen hatte. Es war sonnig gewesen an jenem Tag, als er die Führung der Do70 minion-Partei und damit die Regierung übernahm, um seinen in Misskredit geratenen, entmutigten Vorgänger abzulösen, der das Vertrauen der Partei und - schlimmer noch - des Imperators verloren hatte. Ob konstitutionelle Monarchie oder nicht - ohne persönlichen Rückhalt des Mannes, der den Thron auf Oahu innehatte, konnte in der Versammlung nicht vernünftig regiert werden. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Es war ein langer Sommer gewesen, doch er ging nun zu Ende. Bei der Plenarsitzung der Versammlung an diesem Nachmittag (die in der großen schüsselförmigen Kammer stattfand, die man ursprünglich für den Völkerbund errichtet hatte, den es aber seit Jahrhunderten nicht mehr gab) hatte er bemerkt, dass ihm die Kontrolle zu entgleiten begann. In wenigen Minuten würde der Oppositionsführer ihn hier aufsuchen. Seit über drei Monaten gelangten immer wieder Berichte an die Öffentlichkeit, die sich mit den Vorgängen in den Randregionen des Imperiums befassten. Ohne Rücksicht auf die politischen Auswirkungen hatte Admiral Lord Marais den Krieg in einer Weise zu den Aliens getragen, die von einer breiten Öffentlichkeit abgelehnt wurde. Die Regierung war dadurch in eine Zwickmühle geraten, da sie entweder diese brutalen Taten gutheißen oder aber zugeben musste, dass der Navy die Kontrolle entglitten war. Es kam der Wahl gleich, ob er sich besser erhängen oder von einer Klippe stürzen sollte. Das Ergebnis war in jedem Fall das gleiche. Als Ausweg hatte er sogar erwogen, einen Offizier gegen den anderen auszuspielen, um die Kriegführung wieder in den Griff zu bekommen. Der Imperiale Geheimdienst war aber clever genug, sich keine Verantwortung unterschieben zu lassen. Am Ende hatte er selbst wie ein Idiot dagestanden und den Zorn Seiner Majestät über sich ergehen lassen müssen. »Tun Sie was!«, hatte der Imperator ihm gesagt. »Sonst ist Ihr Arsch fällig!« Viel konnte er nicht tun. Seine Quellen und der Geheimdienst 70
lieferten ihm aktuelle Berichte, die dafür sprachen, dass Marais völlig den Verstand verloren hatte und predigte - ja, das war das richtige Wort -, die Zor müssten ausgelöscht werden. Die Spur der Verwüstung, die er bislang hinterlassen hatte, ließ vermuten, dass er seinen Plan ohne Mühe würde ausführen können, selbst wenn dies zur Auslöschung einer ganzen Spezies führte. Es konnte leicht dorthin führen. Wie weit würde Marais gehen? Und wie konnte er ihn aufhalten? Der Wind fuhr durch die Bäume vor dem Gebäude, als wolle er den Premierminister verspotten, weil dessen Frage so sinnlos war. Zum ersten Mal in seiner langen Parlamentskarriere fühlte er sich völlig hilflos. Ein leises Klingeln unterbrach seine Gedanken. »Exzellenz, der Abgeordnete Hsien möchte Sie sprechen.« »Schicken Sie ihn in zwei Minuten zu mir.« Wieder sah der Premierminister zum Fenster und erblickte im Glas sein Spiegelbild. Mein Gott, dachte er. Ich sehe völlig mitgenommen aus. Das geht so nicht. Von seiner charakteristischen Willensstärke erfüllt, holte er tief Luft und straffte die Schultern, fuhr sich über sein schütteres Haar und strich sich mit einem Finger über den gepflegten Bart. Als er sich vom Fenster abwandte, um seinem Besucher gegenüberzutreten, schien er seine Vitalität zurückerlangt zu haben. Mit einem leisen Summen ging die Tür auf. Ein junger Mann mit kaffeebrauner Haut und orientalischen Gesichtszügen betrat das Büro. Er war modisch gekleidet und strahlte unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Das Lächeln auf seinen Lippen war so, wie er es in der Öffentlichkeit oft zur Schau trug. Während er sich mit ausgestreckter Hand dem Premierminister näherte, jagten seine Blicke blitzschnell durch das Zimmer, als wolle er alles erfassen und sehen, ob es ihm wohl zusagen würde. »Tomas, es freut mich, Sie zu sehen.« Der Premier kam ihm bis zur Mitte des Raums entgegen und gab ihm die Hand. Tomas Hsien, Führer der Commonwealth-Partei, verzog keine Miene. 71 »Danke, dass Sie sich' die Zeit nehmen, Georges. Mir ist klar, dass Sie einen vollen Terminkalender haben.« Der Premierminister zeigte auf zwei bequeme Sessel, die vor einem unbenutzten Kamin standen, unter einem riesigen Porträt des Imperators. »Nun«, sagte er, als sie saßen. »Womit kann ich Ihnen dienen?« »Sie wissen, warum ich hier bin. Wir müssen nicht um den heißen Brei herumreden.« Im düsteren Licht des Nachmittags hatte sein unverrückbares Lächeln etwas fast schon Tödliches. »Ich glaube, in der Versammlung ist Ihnen kein langes Leben mehr beschieden.« »Ich habe nach wie vor die Mehrheit hinter mir. Nichts hat sich geändert.« Der Premierminister lehnte sich nach hinten. »Alles hat sich geändert. Sie haben die Kontrolle über den Krieg verloren.« »Sie haben nichts in der Hand, um diese aberwitzige Behauptung zu belegen. Der Krieg verläuft exakt nach dem Plan der Admiralität.« »Und wie sieht dieser Plan aus?« »Darüber kann ich mit Ihnen nicht reden.« »Wir unterhalten uns hier unter vier Augen, Georges. Was wir sagen, wird nicht offiziell dokumentiert. Außerdem verfuge ich über die Zugriffsberechtigung eines Abgeordneten. Sie können diese Informationen nicht zurückhalten.« »Doch, das kann ich, und das werde ich auch. Ich glaube nicht, dass Sie daran etwas ändern werden.« »Das Volk...« Der Premierminister beugte sich über die Armlehne seines Sessels und sah Hsien in die Augen. »Das Volk hat damit nichts zu tun. Das Volk...« Er machte eine ausholende Geste zum Fenster, hinter dem der Wind Blätter durch den Regen trieb. »Das Volk, mein Freund, sitzt nicht in der Imperialen Versammlung. Es trifft keine Entscheidungen, seine Meinung ist nicht erwünscht, und es wird auch nicht danach gefragt. Regierungen und Unternehmen treffen 71 die Entscheidungen, und solange es Konsumgüter gibt und die Shuttles pünktlich sind, überlässt das Volk uns das Regieren. Mehr als die Hälfte aller Erwachsenen im Sol-Imperium hat in den letzten sechzig Jahren mindestens einen Verwandten bei einem Angriff der Zor verloren, beim Militär genauso wie unter der Zivilbevölkerung. Wissen Sie, was das heißt? Mehr als die Hälfte des Volks, Tomas, hat einen Groll auf die Zor. Mitgefühl mit ihnen haben nur Wissenschaftler und andere Intellektuelle, aber nicht das Volk.« »Das wird sich ändern, wenn das Volk erfährt, wie dieser Groll in die Tat umgesetzt wird.« »Und wie soll das geschehen?« Nun war es an Hsien, eine dramaturgische Pause einzulegen. Er rieb sich die Hände und fuhr fort. »Natürlich weiß ich nur, was mir meine Quellen berichten. Aber mir ist bekannt, dass Ihr Admiral auf mehreren von den Zor kontrollierten Welten die gesamte Zivilbevölkerung ausgelöscht hat. Als Nächstes will er auch den
großen Stützpunkt bei A'anenu auslöschen - nicht einnehmen, sondern auslöschen - und anschließend die Heimatwelten der Zor angreifen.« Er betrachtete den Premierminister, ob der irgendeine Reaktion erkennen ließ. Der Premier ließ sich nichts anmerken, kochte aber innerlich vor Wut. Woher zum Teufel weiß er diese Dinge? »Reden Sie ruhig weiter.« »Ich habe auch erfahren, dass der Größenwahn Ihres Admirals eine neue Stufe erreicht hat. Man könnte es als Größenwahn von mythischen Dimensionen bezeichnen. Offenbar glaubt er, die Zor halten ihn für den Engel des Todes, und allem Anschein nach glaubt er auch, das zu sein.« »Marais ist ein Experte auf diesem Gebiet.« »Halten Sie diesen Unsinn nicht für gänzlich unangebracht?« »Marais ist so erfolgreich wie kein anderer vor ihm. Ich kann schwerlich diesen Erfolg in Abrede stellen, Tomas. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Seine Entscheidungsfreiheit einschränken?« 72 »Dann heißen Sie also gut, was dort abläuft. Sie heißen die Auslöschung einer ganzen Spezies gut.« »>Gutheißen< ist wohl ein wenig übertrieben.« »Aber darauf läuft es hinaus. Es sei denn... es sei denn, Ihnen ist die Kontrolle über die Situation entglitten.« Am liebsten hätte er geantwortet: Ja, so ist es. Wir haben es mit einem Verrückten zu tun. Wir müssen hilflos zusehen, wie er macht, was ihm gefällt. Aber er wusste, bei diesem Mann würde das zu nichts führen, selbst wenn es der angemessenere Weg gewesen wäre. Doch das war nicht der Fall, ganz gleich, wie eng sich die Schlinge bereits um seinen Hals zugezogen hatte. Der Bastard hat völlig Recht, dachte er. Ich habe wohl wirklich nicht mehr lange das Sagen. Auch wenn das nichts an den Mehrheitsverhältnissen in der Versammlung ändert. »Sie können die Situation so darstellen, wie Sie das möchten.« Hsien seufzte wie ein Mann, der die Geduld mit einem trotzigen Kind verloren hatte. »Wirklich, Georges, ich hatte Sie für einen vernünftigen Menschen gehalten. Vielleicht wird der Imperator geneigter sein, mir zuzuhören.« »Der Imperator würde Sie nicht mal zu sich vorlassen, Tomas, das wissen Sie so gut wie ich. Also sparen Sie sich die Zeit.« »Es tut mir wirklich Leid, Ihnen widersprechen zu müssen.« Der Oppositionsführer zog einen Umschlag mit dem Siegel des Imperators aus der Innentasche seiner Jacke. Die Lasche war vorsichtig geöffnet worden, als handele es sich um eine Kostbarkeit. »Ich habe die Einladung bereits erhalten.« Während der Premierminister sprachlos vor Verblüffung dasaß, erhob sich Tomas Hsien aus seinem Sessel und steckte den Brief wieder ein. »Ich gehe davon aus, dass die Gespräche mit Ihrem Nachfolger schneller Früchte tragen werden. Bleiben Sie ruhig sitzen, ich finde allein hinaus.« Ehe der Premier etwas einwenden konnte, hatte der andere das Büro bereits verlassen, die Tür glitt hinter ihm zu. 72 Der Sturm rannte derweil unerbittlich gegen die große Fensterscheibe an und zerrte an den Ästen der Bäume. Der logistische Teil des Angriffs auf A'anenu machte eine umfangreiche Planung erforderlich. Mehr als zweitausend Marines waren nötig, die alle eingewiesen und ausgerüstet werden mussten. Während die Flotte im Orbit der ehemaligen Zor-Kolonie auf S'rchne'e blieb, übten die Truppen in den Bergregionen des Planeten. An Bord der Schiffe spielten Brücken-, Maschinen- und Waffencrews Simulationen durch, um für den anstehenden Kampf gewappnet zu sein. Die Lancaster war in diese Übungen einbezogen, was für Sergei eine zusätzliche Belastung bedeutete, mit der er aber zumindest vertraut war. Den Pilotenplatz auf der Brücke seines eigenen Schiffs einzunehmen, entspannte ihn mehr als irgendetwas anderes in den letzten Wochen. Die Crew hatte soeben eine Übung abgeschlossen, bei der es um einen Nahkampf gegen ein Frontschiff der Eclipse-Klasse ging. Sergei setzte eine Variante des Rodyn-Manövers ein, um das Schiff zu vernichten. Chan Wells war damit beschäftigt, eine statistische Zusammenfassung zu erstellen, da öffneten sich die Lifttüren. Als er sich umsah, sagte er sofort: »Admiral auf der Brücke«, dann nahm er Habtachtstellung ein. Die übrige Brückencrew erhob sich ebenfalls. Als Captain auf seiner eigenen Brücke wäre Sergei nicht dazu verpflichtet gewesen, er stand aber aus Höflichkeit gegenüber Admiral Marais auf. Ein Blick genügte, um ihn erkennen zu lassen, dass sein vorgesetzter Offizier seine Wut nur mit Mühe unterdrückte. Marais gab ihm ein Zeichen. »Ich möchte Sie in Ihrem Bereitschaftsraum sprechen, wenn diese Übung abgeschlossen ist«, sagte er und ging zur Tür. Sergei warf nur einen kurzen Blick auf den Bericht, den Chan ihm gab, dann folgte er dem Admiral.
Er betrat den Bereitschaftsraum und salutierte, als Marais sich zu ihm umdrehte und den Blick von dem Holo abwandte, das S'rchne'e zeigte. »Sie wollten mich sprechen, Sir?« 73 »Wie sicher ist dieser Raum?« »Ich kann ihn sprachversiegeln, Sir.« »Dann tun Sie das bitte.« »Computer, diesen Raum auf mein Sprachsignal hin versiegeln. Torrijos, Sergei.« »Commodore Torrijos: Sprachmuster bestätigt«, meldete sich eine Stimme zu Wort, dann ging über der Tür ein Licht an. Außerdem war nun auch durch ein Lichtsignal von außen erkennbar, welche Sicherheitsvorkehrung herrschte. »Bevor ich zum Thema komme, Torrijos, möchte ich mich für die Bemerkungen meines Adjutanten entschuldigen. Er entwickelt mir und meinen Zielen gegenüber eine ... eine Art Beschützerinstinkt. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass bestimmte Offiziere in dieser Flotte nicht mit meinen Methoden einverstanden sind. Und ich glaube, ihre politischen Verbindungen zu Hause verleihen ihnen hier zusätzliches Gewicht. Aber ich habe zu Unrecht angenommen, Sie würden zu ihnen gehören.« »Danke, Sir...«, sagte Sergei, obwohl er sich nicht darüber im Klaren war, ob es sich nun um ein Kompliment handelte oder nicht. Insgeheim fragte er sich, ob Marais vielleicht nur wieder irgendein psychologisches Spielchen mit ihm trieb. »Ihr Gönner McMasters hat sich - anders als bislang von mir vermutet - als ein Freund erwiesen. Man hat ihm das Kommando über die Flotte angeboten, damit er mich ablöst, und offenbar hat er abgelehnt. Der Imperator war über diese Ablehnung sehr brüskiert, da er gehofft hatte, sich die Peinlichkeit zu ersparen, selbst meine Absetzung zu bewirken. Nun hat er einen anderen Weg eingeschlagen.« Marais zog eine Depesche aus seiner Uniformjacke und gab sie Sergei. »Das traf vor wenigen Stunden ein.« Sergei öffnete die Depesche, die aus dem Sol-System stammte und von Oahu kam. Ein Blick auf den Kode des Absenders ließ ihn das Siegel des Sol-Imperators erkennen. Einen Moment lang starrte er nur darauf, dann las er eilig den Text. 73 Offizielle Übertragung, Priorität 21 8. August 2311 an: Adm Ld Ivan H Marais, Befehlshaber an Bord der IS Lancaster Admiral, wir übersenden Ihnen unsere besten Grüße und unseren herzlichen Glückwunsch, was Ihre Erfolge gegen die feindlichen Zor angeht. Ihre unvergleichlichen Siege sind überall im Imperium mit Beifall aufgenommen worden, was unser in Sie gesetztes Vertrauen als Admiral der Flotte bestätigt. Ein entsprechender Empfang wird Sie erwarten, wenn Sie nach dem Ende des Feldzugs ins Sol-System zurückkehren. Meine Glückwünsche gelten auch den tapferen Männern und Frauen, die unter Ihrem Kommando dem Imperator dienen. Mit großer Freude können wir Ihnen mitteilen, dass der Zor-Bevollmächtigte einen neuen Vorschlag unterbreitet hat und zu größeren Zugeständnissen bereit ist als je zuvor: kompletter Rückzug der Flotte aus dem Gebiet der Verwerfung als Gegenleistung für die Einstellung jeglicher Kampfhandlungen. Wenn dieser Vorschlag angenommen wird, macht das einen Angriff auf den Flottenstützpunkt bei A'anenu und weiteres Blutvergießen hinfällig. Um die Bedingungen zu besprechen, haben wir heute einen Unterhändler nach S'rchne'e geschickt, der unmittelbar nach seinem Eintreffen Kontakt mit Vertretern des Hohen Nests aufnehmen wird, damit ein für beide Seite annehmbarer Waffenstillstand vereinbart werden kann. Wir sprechen Ihnen nochmals unseren Dank für Ihre Erfolge aus. >Alexander Philip Juliano, Imperator< imperiales Siegel< »Der Imperator will nicht, dass Sie den Krieg gewinnen«, sagte Sergei schließlich. »So sieht es aus.« Marais steckte die Depesche wieder ein. »Ich hatte mit einer solchen Wendung gerechnet, doch das ändert nichts 73 daran, wie wütend ich darüber bin. Der Botschafter hat ein Ende des Krieges angeboten, dazu den Rückzug ihrer Flotte von A'ane-nu - sofern wir uns ebenfalls von dort fern halten. Da aber A'ane-nu weiterhin in ihrer Hand wäre, würde dies alles null und nichtig machen, was wir bei diesem Feldzug errungen haben. Außerdem würde es natürlich für die Zor der Beweis sein, dass wir... dass ich nicht die Dunkle Schwinge bin. Dabei ist dies hier unsere große Chance, die Zor zu besiegen...« »Oder sie auszulöschen.«
»Diese Möglichkeit hatte von Anfang an existiert. Schließlich wollen sie uns ja auslöschen. Das ist unsere große Chance, und der Imperator gibt dem Druck nach, indem er einen bevollmächtigten Botschafter herschickt, damit der mit den Zor einen Frieden aushandelt.« »Was sollen wir machen, Sir? Der Befehl des Imperators...« »Meiner Ansicht nach ersetzt der Befehl des Imperators nicht meine ursprüngliche Anweisung. Ich vertrete nach wie vor die Meinung, dass es nicht möglich ist, Frieden entlang den Grenzen des Sol-Imperiums zu schaffen, wenn wir A'anenu nicht einnehmen.« »Was werden Sie dem Botschafter sagen?« »Ich habe nicht vor, dann noch hier zu sein. Wenn der Botschafter S'rchne'e erreicht, werden wir bereits bei A'anenu sein. Es wird so gut wie sicher zu einem Kriegsgerichtsverfahren kommen, aber wir könnten zuvor noch den Krieg gewinnen. Nur einer kann mich noch aufhalten.« »Wer, Sir?« »Sie, Torrijos. Sie können mich jetzt meines Kommandos entheben und die Kontrolle über die Flotte übernehmen. Sie werden dann zwar ebenfalls vor ein Kriegsgericht kommen, aber ich vermute, mithilfe meiner nunmehr zahlreichen Feinde würden Sie von allen Vorwürfen freigesprochen. Ich vertraue darauf, dass Sie die korrekte Entscheidung treffen.« Nun verstand Sergei, warum der Admiral einen versiegelten 74 Raum gewünscht hatte, bevor er ihm die Depesche zeigte. Die Entscheidung lag ganz allein in seinen Händen. Er konnte zu Marais stehen, weil es strategisch notwendig war. Damit widersetzte er sich zugleich dem Befehl des Imperators und würde wegen Insubordination vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Oder aber er übernahm das Kommando über die Flotte und kam wegen grober Verfehlungen vors Kriegsgericht. Es kam der Wahl gleich, ob er sich besser erhängen oder von einer Klippe stürzen sollte. Das Ergebnis war in jedem Fall das gleiche. »Wie lauten Ihre Befehle, Sir?« Marais hatte einen Moment lang die Holo-Kugel betrachtet, sah nun aber wieder zu Sergei. »Sie sind sich des Risikos für Ihre Karriere bewusst?« »Diesen Krieg zu gewinnen, ist Sinn und Zweck meiner Karriere, Sir.« Ein hartes Lächeln umspielte Marais' Lippen. »Sehr gut. Berufen Sie für 1400 eine Stabsbesprechung ein. Ich gehe davon aus, dass wir uns noch vor dem Ende der Abendwache in Marsch gesetzt haben.« Der Angriff auf den Flottenstützpunkt bei A'anenu diente zwei Hauptzielen. Vor allem ging es darum, die Basis sowie die sie umgebenden Anlagen einzunehmen, anstatt sie zu zerstören. Durch eine Einnahme kam man den Zentralwelten der Zor um fünfzehn Parsec näher, was den Nachschub für weitere Angriffe erheblich erleichterte. Pergamum lag weit hinter ihnen, Mothallah noch weiter, und was dazwischen gelegen war beispielsweise die Überreste von S'rchne'e -, eignete sich nicht zur Bewältigung dieser Aufgabe. Da keines der größeren Schiffe auf einem Planeten landen konnte, war der wichtigste AspeVt der, die Orbitalstation ohne nennenswerte Schäden zu erobern. Alles andere erschien wie ein Kinderspiel. Es wäre viel klüger gewesen, die Zor-Basis einfach zu zerstören, von den Seabees eine 74 behelfsmäßige Station errichten zu lassen und dann eine Raumstation an Bord eines der großen Frachtschiffe heranzuschaffen. Das hätte jedoch Wochen gedauert, und so lange wollte Marais nicht warten - womöglich weil er einfach zu ungeduldig war, vielleicht aber auch, weil der imperiale Unterhändler auf dem Weg hierher war. Die Einnahme der existierenden Station war die einzig sinnvolle Alternative. Das zweite Ziel bestand in der Zerstörung der Zor-Flotte. Marais ging davon aus, dass die Zor weder Zeit noch Ressourcen aufwenden würden, um andere Welten zu schützen. Vielmehr würden sie alle verfügbaren Kräfte bei A'anenu zusammenziehen, um die Station vor dem Herannahen der Dunklen Schwinge zu verteidigen. Strategisch machte das Ganze sogar Sinn, wenn man die mythologische Seite außer Betracht ließ. Angesichts der zusätzlichen Kräfte, die das Imperium ins Rennen schickte, war eine Verteidigung der Basis die einzige Chance für die Zor, einen zahlenmäßigen Gleichstand herbeizuführen. Marais hoffte, die gegnerische Flotte komplett zu eliminieren und den Weg frei zu machen für die eigenen Leute, damit sie die Antares-Verwerfung überqueren und die Heimatwelten der Zor angreifen konnten. Das Vorrücken der Flotte gegen A'anenu setzte allen Gerüchten ein Ende, der Krieg könnte vorüber sein. Das Thema war mehr als nur motivierend, denn die Flotte war voller Offiziere, die gute Verbindung oder großen Ehrgeiz oder beides besaßen. Eine erfolgreiche militärische Karriere war ein guter Ausgangspunkt für eine
politische Karriere, während die Beteiligung an Kriegsverbrechen solche Bestrebungen unweigerlich zunichte machte. Sergei wusste das so gut wie jeder andere. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, dass eine Einnahme des letzten Stützpunkts der Zor in diesem Sektor den Krieg mit einem Sieg beenden könnte. Marais' Erfolge würden in der Öffentlichkeit sicherlich großes Gewicht haben und Begriffe wie »Massaker« und »Kriegsverbrechen« schneller vergessen lassen. Sergei wusste nur zu gut, dass in den Offiziersmessen überall in der Flot 75 te Bedenken laut wurden, man werde einen Pyrrhussieg erringen, wenn der Feldzug zu tief ins Territorium der Zor hineinführte. Wenn die Zor der Flotte allerdings zu hohe Verluste beibrachten oder wenn es sogar feindliche Schiffe gab, die sich unbemerkt auf den Weg ins Sol-Imperium gemacht hatten, dann würde ein Sieg keinen Wert mehr haben. Wenn St. Louis oder Genf bombardiert wurde, war eine Flotte nichts wert, die vierhundert Lichtjahre weit entfernt war. »Zwanzig Minuten bis zum Abfangpunkt, Captain.« Marc Hudson nickte dem Steuermann zu. Vor ihm auf dem Schirm wurde die Sonne des Systems allmählich größer, war aber zum Teil vom wichtigsten bewohnten Planeten verdeckt. Die Orbitalbasis kam soeben ins Bild. »Jim« - er drehte sich zu seinem Waffenoffizier Jim Allison um -, »scannen Sie die Basis.« Er betätigte das Interkom an seiner Armlehne. »Marines auf Gefechtsstationen.« Schiffsweit ertönte der Alarm. Auf seinem Transponder beobachtete Hudson, wie sein Geschwader in Gefechtsformation ging: Die erste schwer bewaffnete Staffel ging in Kampfformation und steuerte die Planetenoberfläche an, während die beiden verbliebenen sich die Orbitalstation vornahmen. »Station bei sechzig Prozent Leistung, Sir. Abwehrfelder aktiviert.« »Irgendwelche Schiffe angedockt?« »Nein, Sir. Soweit ich das erkennen kann, sind alle Docks frei.« »Also gut, Lieutenant. Feuern Sie nach Belieben.« Er drehte sich ein wenig zur Seite, um zu seinem Kom-Offizier zu blicken. »Ensign Zhu, geben Sie allen Schiffen grünes Licht zum Vorrücken.« Dann begann der Angriff. Der interplanetare Raum war mit einem Mal von Lichtsäulen erfüllt. Während sich die schwer gepanzerte Basis mit zwei Geschwadern befassen musste, tauchte das dritte in die Atmosphäre ein und nahm die Einrichtungen auf der Nachtseite des Planeten unter Feuer. Sobald die Artillerie am 75 Boden sowie die Raketenwerfer ausgeschaltet waren, würden die Marines abspringen, um diese Planetenbasen zu sichern. Es war riskant. Die gesamte Operation hing von einer zuverlässigen Einschätzung des Admirals ab, der glaubte, das Hauptziel der Zor bestehe darin, die Flotte der Menschen zu vernichten, während sie die dahinter gelegenen Stützpunkte sich selbst überließen. Traf dies zu, so war das für Hudson von Nutzen, denn als ergrauter Veteran der letzten beiden Kriege gegen die Zor hatte er eine allzu gute Vorstellung von den taktischen Fähigkeiten seiner Widersacher. Zwar waren sie im Kampf voller Eifer und unerbittlich, zugleich gingen sie aber auch so verbohrt vor, dass es einem wunden Punkt gleichkam. Bei einer Strategiebesprechung zu Beginn dieses Feldzugs hatte Marais einen soziokulturellen Grund für dieses Verhalten genannt. Hudson hatte darauf erwidert, es sei nur wichtig, dass die Zor verdammt stur waren und auch verdammt dämlich sein konnten. Eine kulturelle Motivation für ein bestimmtes Verhalten des Feindes änderte schließlich nichts an der Tatsache, dass man ihm im Gefecht gegenübertreten musste. Problematisch würde es für Hudson, wenn die Hauptflotte es nicht schaffen sollte, die Zor an den Randbereichen des A'anenu-Systems zu schlagen. Dann wäre der Feind in der Lage, die Basen zurückzuerobern. Für Hudsons Männer, die sich dann tief im Schwerkraftfeld befanden, gäbe es kein Entkommen, da die Zor sich zwischen ihnen und dem zurück nach Sol führenden Sprungpunkt befinden würden. Hudson war ein Einzelkämpfer und hasste es, sich auf das taktische Vermögen eines Militärtheoretikers wie Marais verlassen zu müssen, selbst wenn der einen so guten Mann wie Sergei Torrijos unter sich hatte. Marais konnte sich jeden Augenblick für einen idiotischen Zug entscheiden und damit Hudsons Auftrag in Gefahr bringen ... und Hudson würde womöglich nicht überleben, um anderen davon zu berichten. Während die Schlacht tobte, beobachtete er mit einem Auge 75 permanent den Masseradar-Transponder, damit er Gewissheit hatte, dass der Flotte nahe dem Sprungpunkt nicht ein einziger Zor entkam.
Das Abwehrfeld polarisierte bis zum infraroten Bereich, dann ließ es wieder nach, während Lichtblitze über den Schiffsrumpf tänzelten. Das Schiff war bereits dem Untergang geweiht, doch der Artillerieoffizier konzentrierte weiter sein Feuer auf das Ziel. Dennoch vergingen einige Sekunden, ehe das Schott des Maschinenraums nachgab und der Sprungantrieb sich selbst und alles in seiner unmittelbaren Umgebung mit ungeheurer Wucht auslöschte. In den Jubel, der auf der Brücke der Lancaster ausbrach, rief Lieutenant DeClerc: »Commodore, wir haben soeben eine Nachricht erhalten.« »Von wem?« »Sie kommt von außerhalb des Systems, Sir.« Ihr Schlachtplan war im Geheimen vorbereitet worden. Marais hatte nicht die Absicht, seinen Zeitplan bekannt zu geben, nachdem die Flotte den Sprung nach A'anenu unternommen hatte. Bis zur Einnahme von A'anenu sollte keine Information nach außen dringen. Anders ausgedrückt: Niemand hätte wissen können, dass sie sich bereits hier befanden. »Speichern«, sagte Marais, ohne den kritischen Blick vom Bugschirm abzuwenden. »Die Nachricht trägt einen Kode der Admiralität von hoher Priorität, Admiral...« »Speichern, Lieutenant«, wiederholte Marais, dessen Miene verriet, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Wut im Zaum zu halten. »Mich interessiert Ihre Nachricht nicht mal, wenn sie den persönlichen Kode des Allmächtigen tragen würde.« »J-ja, Mylord.« DeClerc wirkte ein wenig erschrocken. Er war es nicht gewohnt, wütende Antworten dafür zu bekommen, dass er seinen Job erledigte. 76
Auf der Brücke der Lancaster war es auf einmal sehr ruhig. Marais sah von Offizier zu Offizier, von Station zu Station. »Ich habe hier das Kommando, und daran wird sich nichts ändern, solange diese Bedrohung weiterhin besteht. Lieutenant, Sie werden alle eingehenden Nachrichten annehmen, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, und zwar so lange, bis ich Ihnen das Gegenteil befehle. Haben Sie verstanden?« DeClerc nickte ein wenig unsicher. »Ja, Mylord.« Während er sprach, war auf dem Schirm zu sehen, wie ein weiteres feindliches Schiff detonierte. Ein heller Kranz wie der einer neuen Sonne ließ den Schirm über und rings um Marais' Kopf aufflammen, bis sich die Polarisationsfilter einschalteten. Selbst mit der Hilfe von Computern erforderte es höchstes Geschick, im All die Geschwindigkeit eines Schiffs an die eines anderen Objekts anzupassen. Ein Steuermann musste ein angeborenes Gefühl für das Schiff besitzen, das er steuerte, sowie für die relative Bewegung des Ziels und natürlich auch für alle anderen Kräfte, die dabei auf die beiden Objekte einwirkten. An der Flottenakademie fielen regelmäßig viel versprechende Kadetten durch, denen es an diesem Geschick fehlte oder die nicht in der Lage waren, es sich anzueignen. Ein Steuermann, der bei einer Übung nicht an ein sich bewegendes Objekt andocken konnte, setzte zu viele Menschenleben aufs Spiel, wenn er das Gleiche machen sollte, während das Schiff unter Beschuss stand. Während die noch verbliebenen Waffen der Basis aus kurzer Entfernung alle verfügbare Energie in die Abwehrfelder pumpten, näherten sich die Biscayne und ihre Schwesterschiffe der Orbitalbasis. Sie war von ihrer Form her grob sphärisch. Um ihren Äquator zog sich eine breite Ausbuchtung, die einem Torus ähnelte, der in regelmäßigen Abständen von kreisrunden Schleusen unterbrochen wurde, deren Form auf die Zor-Schiffe abgestimmt war. Die Biscayne und ihre Schwesterschiffe hatte man mit speziellen Zugangsröhren ausgerüstet, um an die Schleusen andocken und ih 76 ren Schließmechanismus überwinden zu können. Es gab keinen Zweifel daran, dass hinter den Schleusen die Zor-Infanterie wartete. Marc Hudson wusste aus Erfahrung, wie viel Überwindung es kostete, einen Befehl zu erteilen, der ein Drittel oder die Hälfte des Personals in den fast sicheren Tod schickte. Doch ihm war auch klar, dass die Basis eingenommen werden musste, und diese Tatsache wog schwerer als alles andere. Die Biscayne näherte sich der Station bis auf hundert Meter und wählte eine Stelle aus, an der sich ein zerstörter Waffenturm befand. Auf Befehl von der Brücke wurde ein flexibler Metallschlauch mit einem Durchmesser von drei Metern von der oberen vorderen Luftschleuse an der Backbordseite des Schiffs ausgefahren. Mithilfe der Steuerdüsen zu beiden Seiten dieses Schlauchs konnte er vor der Schleuse der Station in Position gebracht werden, während die Abwehrfelder der Biscayne das auf sie gerichtete Feuer absorbierten. »Marines in Position, Sir«, meldete sein XO. Rund um den Ring der Station meldete auch ein Dutzend anderer Schiffe ebenfalls Einsatzbereitschaft.
»Also gut, Dana«, erwiderte er. »Jetzt liegt's an ihnen.« Die Marines in der Zugangsröhre kauerten sich hinter eine Barriere, die Laserfeuer abwehren konnte. Ein Stück voraus streckte ein Techniker den Daumen nach oben, um die anderen wissen zu lassen, dass er die Schleusenelektronik ausgeschaltet hatte. »Aufmachen, Russ«, rief Christopher Boyd, der Sergeant, der den Befehl über die Gruppe hatte. Die Marines versteiften sich, die Waffen waren auf die Schleuse gerichtet, während die sich öffnete. Die entweichende Druckluft strömte in den Schlauch. Sie hatten erwartet, mit Laserfeuer beschossen zu werden, doch das externe Audio übermittelte nur das ferne Summen der Maschinen. Der Sergeant winkte zwei Leute vor, die sich zu beiden 77 Seiten der Schleuse postierten, damit sie Feuerschutz geben konnten, während die anderen auf das Deck der Station stürmten. Von Decke und Wänden wurde im nächsten Moment ein willkürlicher Laserbeschuss ausgelöst. Chris Boyd und seine Truppe gingen in Deckung. Boyd hörte in seinem Helm die Kommunikation von den anderen Teams und begriff, dass alle Eingänge so präpariert worden waren. Zwei Marines waren sofort tot, zwei weitere lagen im Sterben. Boyd und seine Leute eröffneten das Feuer auf die Waffen und schalteten sie schließlich aus. Der Raum - eine Art Vorraum - war in schwaches rotes Licht getaucht. Chris Boyd wusste, die Zor konnten bei rotem Licht besser sehen als Menschen. Eine kleine Korrektur am Linsenfilter seines Helms schuf Abhilfe. Von der Schleuse abgesehen führten noch zwei Ausgänge aus dem Raum: eine Luke gleich über ihnen, eine andere gegenüber der Schleuse, jedoch im obersten Viertel der Wand eingelassen. An dieser Stelle kam ihm die Wand in einem Winkel von fünfundvierzig Grad entgegen. Eine Leiter nach oben gab es nicht, sondern nur ein paar kleine Griffe, die in scheinbar zufälligen Abständen an Wänden und Decke montiert waren. Auf einmal begriff er. Die Schwerkraft an Bord der Station lag nur knapp unter einem halben g - und für ein Wesen mit Flügeln war es ein Leichtes, diese Ausgänge zu erreichen. Geballtes Feuer hatte das Flaggschiff der Abwehrflotte von A'ane-nu zerstört. So wie allen anderen Schiffe zuvor war auch sein Ende abrupt, geräuschlos und brutal gewesen - ein greller Feuerball, der die Angreifer für einen Moment blendete. Das Kommando ging auf einen anderen Zor in der Flotte über, und die Taktikoffiziere an Bord der Lancaster und der Gagarin beeilten sich, so schnell wie möglich festzustellen, von welchem Schiff nun die Befehle kamen. Minutenlang blieb die Vorgehensweise der Zor unverändert, und die Schiffe behielten die Formation bei, die an einen breiten Kegel erinnerte, während sie weiter auf den Gegner 77
feuerten. Die Flotte war der der imperialen Schiffe erheblich unterlegen, zumal sie in den letzten Stunden Verluste von mehr als einem Drittel hatte hinnehmen müssen. Marais ging davon aus, dass die Zor so wie bei allen früheren Gefechten weiterkämpfen würden, bis die Flotte völlig aufgerieben war. Das würde Marc Hudson genug Zeit geben, um den Stützpunkt einzunehmen. Sobald das geschehen war, saßen alle noch lebenden Zor ohnehin in der Falle. Captain Sal Roberts bewachte den Sprungpunkt, und wenn die Station besetzt worden war, konnten die Zor sich nur noch ergeben oder - was wahrscheinlicher war - den Freitod wählen. Der neue Zor-Commander schien diese Strategie zu durchschauen. Offenbar wurde ihm bewusst, wie wichtig die Basis für seine Feinde war, denn auf einmal befahl er, den Angriff abzubrechen. Es wurden noch einige Schüsse abgefeuert, doch dann beschrieb seine Einheit ein Manöver, das die Besatzungen einer Kraft von mehreren g aussetzte und die Schwerkraftkontrollen der Schiffe hoffnungslos überforderte - für Menschen eine schmerzhafte Erfahrung, für die noch viel leichteren und zerbrechlicheren Zor zweifellos eine Qual. Dann nahmen die Zor-Schiffe Kurs auf die inneren Regionen des Systems und damit auf den Stützpunkt. Die imperialen Commander wurden von diesem Manöver völlig überrascht. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würden die Zor-Schiffe einfach nur schwächer, da sie Energie von ihren Abwehrschilden abzogen, die sie für den Antrieb benötigten. Zwei Schiffe erreichten fast gleichzeitig ein kritisches Absorptionsniveau. Das feindliche Feuer, das sich durch die Hülle fraß, ließ den Maschinenraum in einer gleißenden Explosion zerbersten. Vielleicht gehörte das sogar zur Taktik des Zor-Commanders, da die Explosionen und die damit verbundene Strahlung die Schiffssensoren ihrer Feinde überlasteten, während die anderen Zor-Schiffe ihr Manöver vollzogen, den Kurs änderten und in Richtung Schwerkraftfeld flogen - mit mehreren Sekunden Vorsprung vor den Menschen. 77 Raum für Raum drangen die Marines tiefer in die Station vor, die ihnen surreal, ja, fast schon beklemmend vorkam. Die Wände waren mit wirbelnden Mustern überzogen, die zunächst willkürlich aussahen. Erst bei
näherem Hinsehen wurde eine Geschlossenheit erkennbar, die jedoch zu komplex erschien, als dass man sie begreifen könnte. Es war eine Art Kunst, die aber allem Anschein nach auch einen Hinweis auf Form und Funktion des jeweiligen Raums gab und auch die Position des Raums in Relation zur ganzen Station zeigte. In das von den Zor bevorzugte rote Licht getaucht, sah alles nur noch bizarrer aus. Die Marines rückten nur noch vorsichtig voran. Seit dem Eindringen in die Station hatten sie zwei automatische Fallen ausgelöst. Inzwischen waren sie aber wachsam und achteten auf minimalste Änderungen bei Temperatur und Luftdruck. Gleichzeitig lauschten sie über ihre Helmmikrofone auf jedes Geräusch, das von den Maschinen ausging. Irgendwo auf dieser Station mussten sich Zor aufhalten, doch es konnte Tage dauern, sie aufzuspüren. Bis nicht der letzte Zor gefunden und gefangen genommen oder getötet worden war, stellte die Station keinen sicheren Ort dar. Chris Boyd wollte gar nicht erst darüber nachdenken, wie viele Marines man für eine solche Aufgabe benötigte. »Alles frei, Sarge«, hörte er über den Helmfunk. Hans Loudon, sein zäher alter Corporal, winkte ihm von einer der Türen der großen Kammer zu, in der sie sich gerade befanden. Boyd gab seinen Leuten ein Signal, damit sie die anderen Ausgänge bewachten, dann eilte er zu Loudon. »Was ist...« Er sah in den angrenzenden Raum, der so anders war als die Kammer, in der sie nun standen, dass er erschrak und das Gefühl hatte, im Nichts verschwinden zu müssen, sobald er eintrat. Als Erstes fiel ihm das Licht auf. Dort herrschte nicht der rötliche Schimmer wie überall sonst auf der Station, sondern ein greller Schein, der an eine strahlende zinnoberrote Sonne erinnerte, die dicht über dem Horizont stand, als würde sie gerade unterge 78 hen oder aufgehen. Die Wände waren so gestaltet, dass sie verschwommen erschienen und nahtlos in die Decke übergingen, mit der zusammen sie einen kobaltblauen Himmel bildeten. Es war eine gelungene Illusion von der Art, wie man sie auf dem Erholungsdeck eines jeden imperialen Raumschiffs fand. Dies hier vermittelte jedoch etwas Beunruhigendes, da die Szene nicht von und nicht für Menschen geschaffen worden war. Fast mitten im Raum schwebte ein Tonis, den eine Null-Grav-Platte in seiner Position hielt. Der Torus schien aus Stein gefertigt und wies die gleichen Gravuren auf wie alle Wände auf dieser Station. Er war groß genug, um drei Personen von der Größe eines Menschen oder eines Zor Platz zu bieten. »Geben Sie mir Deckung«, sagte er und winkte zwei Schützen zu sich, die sofort die Waffen vor sich hielten. Boyd bewegte sich langsam weiter, eine Hand ausgestreckt, die andere um den Griff seiner Pistole gelegt. Schritt für Schritt näherte er sich dem Torus und achtete gleichzeitig auf jede noch so minimale Veränderung in seiner Umgebung, die auf eine Falle hinweisen konnte. Nach einer schieren Ewigkeit stand er dann endlich neben dem Torus. Als er sich umdrehte und in die Richtung blickte, aus der er gekommen war, nahm er wahr, wie leicht es war, sich der Illusion eines blauen Himmels und einer fernen Sonne hinzugeben, die wie eingefroren über dem Horizont hing. Später fragte er sich immer wieder, was ihn dazu getrieben hatte - war es wirklich seine Idee gewesen, oder hatte etwas in dem Raum oder der Torus selbst ihn auf diesen Gedanken gebracht? »Ich werde hinaufklettern«, sagte er und hörte einen bestätigenden Laut von Loudon. »Wenn irgendetwas passiert, evakuieren Sie den Raum und formieren sich draußen neu. Verstanden?« »Aye, Sergeant«, erwiderte der Corporal. Die beiden Schützen bewegten leicht ihre Waffen, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn gehört hatten. Dank der geringen Schwerkraft konnte Boyd sich mühelos hochziehen und sich auf den Torus stellen. Dabei fiel ihm auf, dass 78 die Innenseite rau war und völlig anders wirkte als die nach außen gewandte Seite. Im Ring stehend ließ die falsche Sonne, die sich direkt hinter ihm befand, ihn einen langen Schatten werfen. Es gab keine Instrumente und auch nichts anderes, das den Sinn und Zweck des Torus hätte erkennen lassen. Verblüfft verschränkte er die Arme vor der Brust und überlegte. Auf einmal hörte er aus weiter Ferne etwas. Es war aber zu weit entfernt oder zu leise, dass er es deutlich hätte wahrnehmen können. Das Geräusch schien im Torus widerzuhallen und sich durch den ganzen Raum auszubreiten. Boyd sah zu seinen Leuten an der Tür, die nicht erkennen ließen, ob sie ebenfalls etwas gehört hatten. Er zögerte, es laut auszusprechen, da er fürchtete, in dem Geräusch zu ertrinken. Stattdessen lauschte er umso angestrengter.
Es klang wie ein ferner Chor, doch stellte es keine Musik dar. Es enthielt nichts, was klar und deutlich ausgesprochen wurde, mehr eine Art Sprechgesang, gefolgt von einer Verschiebung in Tonhöhe und Akkord. Mal begleiteten die Worte die Melodie, dann wieder war es genau umgekehrt. Der Sprechgesang wirbelte in Ohren und Augen, erjagte durch die Korridore seines Verstands. Musik, Worte und die Illusion von Himmel und Sonne peitschten auf ihn ein. esLi, hörte er, und dann, deutlicher: esLi, Schöpfer, Träger des Großen Schwerts. Wieder sah Boyd zu seinen Leuten, während er gebeugt dastand und zu erkennen versuchte, ob die anderen wohl auch etwas davon wahrnahmen. Noch immer aber wagte er nicht, etwas zu sagen, da er fürchtete, das Geräusch könnte übertönt werden. Er lauschte weiter angestrengt und bemerkte, dass es an Intensität weiter zunahm. Aus dem Tal der verlorenen Seelen und der Niemals Endenden Schlacht, von der Ebene der Schmach rufen wir dich, esLi, esLi, Überbringer der Gerechtigkeit, Bringer der Hellen Schwinge. Bevor er reagieren und fragen konnte, was diese Worte zu bedeuten hatten und wie er sie überhaupt wahrnahm, entstanden 79 Bilder in seinem Kopf und vor seinen Augen. Sie ließen ihn den Raum nur noch am Rande wahrnehmen, bis er weit entfernt und nicht mehr real erschien. Eine orangerote Sonne schien auf ihn herab, und er war von einer Wüste umgeben. Allmählich nahm er es bewusst wahr: Der Flug wurde gewählt... er konnte den Sprechgesang hören, der um die Klauen seines Verstandes kreiste. Der Innere Frieden ist Dein, esLi, und auch der Äußere Frieden. Es gibt keine Wahrheit ohne das Gleichgewicht zwischen beiden. Für Deinen eigenen Zweck hast Du uns geschaffen, um weiterzuleben in Deinem Abbild - und um das Universum nach Deinem Plan zu formen. esLi. es Li. Irgendwo dort draußen, vielleicht auch über oder hinter ihm, nahm er einen anderen, mächtigeren Geist wahr. Er war fremd und doch vertraut, eine starke, führende Kraft, die sich jenseits der Grenzen seiner bewussten Wahrnehmung bewegte, so wie etwas, das man nicht richtig sehen konnte, weil es sich in zu großer Entfernung befand, von dem man trotzdem wusste, dass es dort war. Wir werden an Deinem Kodex festhalten, esLi, fuhren die Stimmen fort, die noch einmal eindringlicher wurden und zum Chor anschwollen. Er stand wie angewurzelt da und klammerte sich an den Seiten der Meditationsscheibe fest, als sei er das Ziel der Töne. Wir werden uns in Deinem Angesicht nicht entehren. Niemand wird leben, der Deinen Weg verspottet oder sich Deinem Plan widersetzt. esTli'ir und esHu'ur, gleich in deinem Angesicht, Diener Deines Willens. esLi, fuhr der Sprechgesang fort. esLi. Er spürte, wie er auf einmal in Bewegung geriet, so wie eine Feder, die aufgezogen und losgelassen wurde. Er hörte sich etwas in ei 79 er Sprache rufen, die nicht die seine war. Seine Pistole hatte er ach oben gerichtet, das eindringliche Bild von esLi stürmte auf ihn ein. Er rannte durch den Raum, in dem niedrigere Schwerkraft herrschte, auf seine überraschten Kameraden zu. Plötzlich kippte der Raum seitwärts weg, begleitet von einem lauten Knall und einem Lichtblitz, der hinter ihm seinen Ursprung hatte. Er fühlte, wie sich ihm der Steinboden näherte, der die Leiche Farbe hatte wie der Sand auf seiner Heimatwelt Zor'a. Er streckte die Krallen aus, um mehr Halt zu finden, aber sie waren schon zu weit unter ihm, um noch etwas zu bewirken. Er schlug mit seinen Flügeln, doch sie schienen ihm nicht dienen zu wollen, außer dass sie für einen Moment die Sonne abhielten. Ein dunkler, schattenhafter Flügel kam näher und näher, bis er nichts anderes mehr sehen konnte. Als der Boden unter ihm erzitterte, fiel er hin und überschlug sich immer und immer wieder, bis er irgendwann das Bewusstsein verlor. 79
9. Kapitel
Der Fühlende erlangt plötzlich seine ganze Kraft, der Innere Frieden fliegt mit weit gestreckten Flügeln von ihm fort: Die Balance ist verloren, Erde ist Himmel und Himmel ist Erde. (Die Kraft des Wahnsinns)
Verzweiflung kauert an einer Seite;
Wahnsinn an der anderen, und doch (Tal der Verlorenen Seelen) muss er seinen Inneren Frieden wieder finden, jedoch ohne Kompass und ohne Führung. hiShte'eYaTur, Der Flug über Berge (aus dem Shthe'e-Kodex, von Lehrmeister Shthe'e HeChri)
Die Ruhe des Hohen Lords wurde von einem weiteren Besorgnis erregenden Traum gestört. Diesmal befand er sich in der Wüste von Nresh't'lu, er war wieder ein Nestling, der sich jenem Ritus widmete, der ihn zum Krieger machen würde. Der mystische Schlaf war über ihn gekommen, der ihn sowohl als Krieger als auch als Fühlenden kennzeichnete. So kamen die meisten Fühlenden um, indem sie von einem vorhersehenden Traum erfasst wurden, wenn sie am wenigsten darauf vorbereitet waren. Wenn Gefahren von der Welt die Ist drohten, während ihr Bewusstsein von der Welt der Träume erfasst war. esLi sah ihm zu, und die Helle Schwinge schwebte über ihm, während er den Inneren Frieden zurückzuerlangen suchte. Gleichzeitig stürmten die Träume weiter auf ihn ein. Es schien, als sei er von Fremden umgeben, die ihn gefasst hatten und ihn in ihr unterirdisches Lager verschleppten. Er spürte, 80 wie die Hitze des Tages' auf seinen Flügeln und auf seinem nach oben gewandten Gesicht von ihm wich, als man ihn in die Tiefen der Welt hinunterbrachte. Von seinem mystischen Traum wie gelähmt, war es ihm nicht möglich, gegen den Äußeren Frieden anzukämpfen oder ihn zu überwinden. Er konnte nichts anderes machen, als durch halb geschlossene Lider zusehen und mit dem inneren Ohr eines Fühlenden lauschen. »Wir können Sie hören, Commodore. Sprechen Sie weiter.« Das Gesicht von Sergei Torrijos tauchte neben dem Pilotendisplay vor Marc Hudson in der Luft auf. Hinter ihm war der Admiral zu sehen, der eine Finstere Miene machte und die Arme vor der Brust verschränkt hatte, als versuche er, aristokratisch zu wirken. »Marc, wie ist Ihre Situation?« »Soweit ich gehört habe, Sir, rücken die Marines erfolgreich gegen mäßigen Widerstand vor. Mindestens zwei Trupps befinden sich nahe dem Bereich, den wir für die Kommandobrücke halten.« »Wie lange werden sie noch brauchen, bis sie dort sind?« »Kann ich nicht sagen, Sir, ich...« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« Pech für Sie, Sergei, hätte er am liebsten geantwortet, hielt sich aber zurück. »Es ist ein hartes Stück Arbeit, Sir. Perez meldet, dass unsere Leute kaum auf Widerstand der Zor stoßen. In erster Linie treffen sie auf automatische und elektronisch gesteuerte Fallen.« »Klingt verdammt nach einer einzigen, großen Falle.« »Tja, Sir, das finde ich auch. Aber jetzt ist es ein bisschen zu spät, um noch etwas anderes zu machen als weiter vorzurücken. Und Vorrücken ist etwas, was Marines gut können.« »Die verbliebenen Zor-Schiffe sind auf dem Weg zu Ihnen, Marc. Sie nähern sich mit hoher Geschwindigkeit dem inneren System. Wir sind ihnen zwar auf den Fersen, aber sie werden deutlich vor uns eintreffen. Werden Sie die Basis bis dahin in der Hand haben?« 80 »Ich verstehe, warum Sie fragen.« Marc kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Wann ist ihre geschätzte Ankunftszeit?« »Mindestens noch zwei Stunden, bis sie in Feuerreichweite sind. Aber Sie sollten schon wesentlich früher mit Raketenbeschuss rechnen.« »Ihre Empfehlung, Commodore?«, fragte er, während er über seine Alternativen nachdachte. Das Pilotendisplay vor ihm zeigte ihm die Szene: mehrere unauffällige Lichtpunkte, die mindestens mit einem Viertel Lichtgeschwindigkeit ins Schwerkraftfeld geschossen kamen. Und bis an die Zähne bewaffnet, hielt er sich vor Augen. »Verteilen Sie Ihr halbes Geschwader, Marc. Legen Sie mit der Biscayne und den anderen Schiffe von der Basis ab. Wir kommen, so schnell wir können. Und lassen Sie sie um Gottes willen nicht in die Nähe dieser Basis, solange deren Abwehrfelder abgeschaltet sind. Wenn die Zor zu nahe kommen, ist das für einige tausend Marines das sichere Todesurteil.« Die Worte hingen in der Luft wie der Nachhall eines Gongs. »Ich möchte den Commodore daran erinnern...«, begann Hudson und setzte der Stille ein Ende. »Für einen Marine gibt es kein sicheres Todesurteil.« Er hielt inne, dann fügte er an: »Mit ein Grund, warum ich kein Marine bin. Aber Scherz beiseite, Sir. Die Marines haben ihren Auftrag und werden ihn ausführen. Außerdem kann ich im Moment nichts tun, um sie da wieder rauszuholen.« Anfangs war es schwierig zu bestimmen, wo der Traum endete und die Realität begann. Ein Teil seines Verstandes beobachtete wie aus weiter Ferne, während er durch nur halb geöffnete Lider die feinen Wirbel der hRni'i nachvollzog, ihren Sinn fand, die Namen von Befehlshabern und Clans in geordneten,
geschwungenen Reihen entzifferte, die an der Oberkante der Wand verliefen, während andere, grobschlächtiger gezeichnete Symbole auf herausragende Sitzstangen hinwiesen und die Richtung angaben, in der die nächste Notfallschleuse gelegen war. 81 Mit einem anderen Teil seines Verstandes kam Chris Boyd dagegen langsam zu Bewusstsein. Die Erkenntnis drang durch, dass er verstand, was er sah, anstatt es nur zu betrachten. Es kostete ihn Mühe, sich zu erinnern, wer er war und wo er sich befand. Es war, als würde er in einem tiefen Ozean schwimmen und wissen, dass das rettende Ufer nur ein paar Kilometer entfernt, aber außerhalb seiner Sichtweite war. Er musste hochgeschreckt sein, da sich drei seiner Leute abrupt zu ihm umdrehten und die Waffen im Anschlag hielten. Er sah sich blinzelnd in dem dunklen Raum um. »Alles in Ordnung, Sarge?«, fragte Hans Loudon. »Was?« Er sah auf und bemerkte, dass sich Loudon durch die kleine Kammer zu ihm begab, in der sich der Trupp nun aufhielt. »Ich... ja... mir geht's gut. Was ist geschehen?« »Keine Ahnung. Vielleicht können Sie mir das erklären.« Loudon stemmte die Hände in die Hüften. Nur ein kleiner Teil seines Gesichts war zu sehen, der Rest verlor sich im Schatten, den sein Helm warf. Seine Miene bewegte sich irgendwo zwischen einem finsteren Blick und einem Grinsen. »Sie sind auf dieses Torus-Dings gestiegen, standen eine Minute lang da, und dann kamen Sie zu uns gerannt, fuchtelten mit den Armen und riefen etwas in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe.« »Eine Sprache? Aber ich spreche doch nur...« Dann fiel es ihm wieder ein. Die Erinnerung traf ihn mit solcher Wucht, als hätte man ihm einen Schlag verpasst. Er hörte die Stimmen, die jetzt nur noch ein schwaches Echo waren, aber weiter nach esLi verlangten, und deren Ruf um den steinernen Ring herum nachhallte. Dann auf einmal wurde ihm klar, welchem Zweck dieser Raum und der Torus darin dienten. esLi - das Echo hallte auch in seinem Kopf nach. Stimmen hatten den Namen gerufen, beschwörend, betend. Aus einem unerklärlichen Grund wusste er, dass esLi die Gottheit der Zor war, und durch irgendeine seiner Handlungen hatte eine Manifestation dieser Gottheit... ihn berührt. Vielleicht zu ihm gesprochen? 81 Einen Moment lang war er selbst ein Zor gewesen, und eine Vision war wie der Schatten eines Flügels hoch über ihm auf ihn gefallen. Etwas war noch davon in ihm verblieben und schien zu schlafen und zu warten. Er sah von Loudon zu den anderen Marines und nahm sie als zwei sich überlagernde Bilder wahr - als eine Gruppe Soldaten, nervös und angespannt, die sich auf feindlichem Territorium bewegten, und gleichzeitig als eine Gruppe na-Zora'i oder esGa'uYal, Soldaten des Lords der Ausgestoßenen. Dies ist der Moment von aLi'e'er'e, dachte er. Du stehst am Seheideweg, und es ist an dir, den Flug zu wählen. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu sehen, und dann hatte er die Marines vor sich. »Was geschah dann?« »Wir haben es zerstört, Sarge.« »Sie...« »Wir haben es hochgejagt, Sarge, und dann sind Sie zusammengebrochen. Ich übernahm das Kommando. Nachdem ich sicher sein konnte, dass mit Ihnen alles stimmte, habe ich uns ein Fleckchen gesucht, an dem wir warten konnten, bis Sie wieder bei Bewusstsein waren.« Boyd sah ihn verblüfft an. Sein Magen rebellierte. »Dieser Ort... das war ein... Schrein. Ein Ort, an dem die Zor beteten.« Loudon wandte sich ihm zu, und Boyd nahm wahr, wie der Mann fragend eine Augenbraue hochzog. »Was Sie nicht sagen, Sarge.« Marcs ungutes Gefühl machte sich immer stärker bemerkbar. Er machte dieses Job schon lange genug, um zu wissen, dass etwas geschehen würde. Die Marines waren fast bis zum Zentrum der Raumstation vorgedrungen, nachdem sie beim Vorrücken durch die äußeren Korridore und Abteilungen geirrt waren. Fast alle Feindbegegnungen hatten sich auf automatische Waffen oder selbstauslösende Fallen beschränkt. Gerade mal ein halbes Dutzend Zor hatte sich blicken lassen. 81 Marc war sich inzwischen so gut wie sicher, dass sie es mit einer Falle zu tun hatten, die groß genug war, um zweitausend Marines zu fassen. Am wahrscheinlichsten war, dass die gesamte Station gesprengt wurde, sobald die imperialen Truppen in alle Bereiche vorgedrungen waren. Nur ein paar Zor-Krieger hatten auf der Basis bleiben müssen, um dies alles vorzubereiten.
Die Biscayne und die anderen Schiffe unter Marcs Kommando hatten sich ein Stück weit von der Station entfernt und erwarteten die Ankunft der verbliebenen feindlichen Schiffe. Für die Marines gab es keine Möglichkeit, den Stützpunkt zu verlassen. Sie waren allein mit einer unbekannten Anzahl von Gegnern, die nach menschlichen Maßstäben hoffnungslos psychopathisch waren. Während er dasaß und die Armlehnen des Pilotensitzes umklammerte, wurden die herannahenden Schiffe auf dem Bugschirm unablässig größer. Marc dankte Gott dafür, dass er kein Marine geworden war. Einst segelte man in Schiffen über die Ozeane, die kaum größer waren als moderne Gigs - aus Holz gebaut, nicht aus Metall, angetrieben vom Wind und durch Muskelkraft. Bis zum Zeitalter der Dampfmaschinen besaßen die Waffen dieser Schiffe weitaus mehr Zerstörungskraft, als sie abzuwehren in der Lage waren. Dadurch waren Gefechte zur See oftmals darauf beschränkt, dem anderen den einen, entscheidenden Treffer zuzufügen. In jenen Tagen stand der Captain an Deck und spürte, wie der Wellengang das Schiff bewegte. Er rief seine Befehle, und er hörte, welche Wirkungen die Waffen erzielten. Seine Intuition sagte ihm, ob er siegen oder untergehen würde. Die Gefahr, auf hoher See zu sterben, war stets groß. Im Weltall war das eine ganz andere Sache. Interne Schwerkraftsysteme glichen von außen einwirkende, destabilisierende Effekte aus, sodass bei einer Breitseite der feindlichen Laser das Schiff sogar um seine eigene Achse gewirbelt werden konnte, ohne dass an Bord auch nur ein Kaffeebecher umgefallen wäre. Wenn 82 jedoch die Abwehrfelder versagten und die geballte Energie bei einem feindlichen Beschuss auf die Schiffshülle traf, anstatt von den sie umgebenden Energiefelder abgeleitet zu werden ... dann sah es nicht mehr so gut aus. Der Captain eines Raumschiffs saß im Pilotensessel und ließ leidenschaftslos den Tod in Mega-Ergs auf den Feind niederregnen, ohne dass auf den Monitoren auch nur der Hauch einer Bewegung zu sehen war. Manchmal versagten die Abwehrfelder, oder die Generatoren fielen aus, dann war alles in einem flüchtigen Augenblick vorüber - eine neue Sonne entstand für kurze Zeit in der Schwärze des Alls und setzte allem Leben an Bord ein jähes und brutales Ende. Man kann den Tod niemals wirklich verstehen, solange man ihn nicht selbst erlebt hat. Und dann ist es zu spät. In den zweihundert Jahren, die die Menschheit nun schon zu den Sternen reiste, war es bei einem Kampf zwischen Menschen nur selten zur völligen Vernichtung einer von beiden Seiten gekommen. Wie bei einem Schachspiel ging es nicht darum, den Widersacher um jeden Preis zu eliminieren. Das Ziel war vielmehr, ihm die Möglichkeit zu nehmen, weiterhin Widerstand zu leisten. Das Vernichtungspotenzial war da, doch ein Menschenleben war so zerbrechlich, dass die oberste Direktive für eine Flotte darin bestand, den Gegner zu überwältigen, nicht ihn auszulöschen. In zwanzig Jahren Karriere konnte es ein fähiger Commander durchaus schaffen, niemals ein feindliches Schiff, eine Basis oder eine andere Einrichtung zu zerstören. Der Gedanke, besser Gefangene zu machen anstatt den Gegner zu eliminieren, bedeutete, dass man mit einer Gewohnheit brechen musste, die tief saß. Das galt auch, als Zor und Menschen zum ersten Mal aneinander gerieten. Die Zor sahen fremdartig aus, und so stellten sich auch ihre Taktiken dar. Ihre Missachtung gegenüber dem Individuum erschien fast schon kaltblütig. Um eine bestimmte Einrichtung der Menschen zu zerstören, ließen sie es immer wieder zu, dass drei oder mehr Schiffe bei einer Verzögerungsaktion vernichtet wurden, um einen tödlichen Treffer landen zu können. Strategen der 82 Menschheit glaubten, Zor-Admiräle seien ungebildet und verzweifelt. Nur Admiral Marais war anderer Ansicht, hatte er sich doch ausgiebig mit der Kultur der Zor beschäftigt. Überbevölkerung hatte zu einer selbstlosen Geisteshaltung geführt, bei der das Individuum hinter der Spezies insgesamt zurücktreten musste, doch das war nur die halbe Wahrheit. Es war eine Einstellung, eine Lebensart, etwas so Grundlegendes und Allumfassendes, dass Menschen es fast unmöglich verstehen konnten. Sergei dachte, er hätte es verstanden, nämlich als Lektion, die er bei diesem Feldzug erteilt bekommen hatte, der mit keinem früheren militärischen Konflikt zu vergleichen gewesen war. Doch jetzt wusste er, dass er einem Irrtum erlegen war. Sein Verstand arbeitete auf die gewohnt distanzierte Weise und analysierte die Situation so ungerührt und logisch, als sei er ein außenstehender Beobachter. Er wusste, seine Handflächen waren nass geschwitzt, doch wollte er die Lancaster und ihre Schwesterschiffe zu einem höheren Tempo antreiben, um die Zor einzuholen, die den Abstand zu ihren Verfolgern immer weiter vergrößerten. Er zerlegte die derzeitige missliche Lage in ihre Bestandteile und zog dabei alle Alternativen und Optionen in Erwägung. Eigentlich war es ganz simpel: Wenn dies nur eine Zwischenstufe war, nicht aber das endgültige Ziel, dann musste er die Einrichtungen der Zor einnehmen, vor allem die im Orbit um den Planeten. Das erforderte ein geschlossenes Vorgehen der Marines, während die Flotte die Zor-Schiffe aufhielt. Alles hing ab
von Marais' Einschätzung, dass die Zor eher versuchen würden, das primäre Ziel - die Flotte - zu vernichten, anstatt sich darum zu kümmern, den imperialen Angreifern das sekundäre Ziel - den Flottenstützpunkt - zu nehmen. Doch Marais hatte sich geirrt. Und dieser Irrtum brachte mit einem Mal einen großen Teil der Angriffstruppen in tödliche Gefahr. Es gab zu viele mögliche Szenarien, die Sergei durchgehen konnte, um zu erkennen, ob man die Truppen würde retten können - zu viele Szenarien, von denen viel zu viele damit endeten, dass der 83 Stützpunkt vernichtet wurde: entweder von den Zor auf der Station, die freiwillig aus dem Leben scheiden würden, um ihr Ziel zu erreichen, oder von den Zor auf den Schiffen, die ihre eigene Station angreifen würden. Es war nicht mehr nötig als ein präzise gezielter Flugkörper, der es an Marc Hudson vorbei schaffte und der die Station genau an der richtigen Stelle traf. Damit würde die Schlacht verloren sein, ganz gleich, welches Schicksal die verbleibenden Zor-Schiffe erwartete. Es war unmöglich, den Feldzug fortzusetzen, wenn man keine Truppen und keinen Stützpunkt mehr besaß. Vermutlich nicht mal Marais würde so uneinsichtig sein und dann noch versuchen, seinen ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen. Hier entschied sich Sieg oder Niederlage. Marais schien die Konsequenzen zu erahnen und wohl auch zu verstehen, was Sergei dachte. Seine Augen waren beharrlich auf den Monitor gerichtet, während er reglos an der Station des Chefingenieurs saß. Die ausgemergelten Gesichter der Marines blickten ihm durch die Helmvisiere entgegen - Männer und Frauen, die in zu kurzer Zeit zu viel Erfahrung gesammelt hatten, die Schultern stets hochgezogen, einen Finger immer am Abzug ihrer Waffe. Chris Boyd, der nach wie vor einer von ihnen war, wandte den Blick ab und betrachtete den kleinen Computer, den er in der Hand hielt. Er zeigte ein dreidimensionales Diagramm der Raumstation, das durch verschiedene Farben die einzelnen Decks kennzeichnete. Teile des Diagramms waren von hellen Linien umgeben, die angaben, welche Fortschritte die Trupps bislang auf der Station gemacht hatten. Seine beste Schätzung war, dass sie noch ein Deck zurückzulegen hatten, um zu dem großen, kreisrunden Kontrollzentrum der Einrichtung zu gelangen. Ein rascher Blick auf die hRni'i bestätigte das, auch wenn er nicht hätte erklären können, wieso er das wusste. Es war leichter, den anderen nichts davon zu sagen, dass er die Schriftzeichen der Zor an den Wänden entziffern konnte. 83 Andere Marine-Gruppen waren über die Station verteilt ähnlich weit vorgedrungen, doch seine Gruppe aus sieben Überlebenden war eindeutig dem Zentrum am nächsten. Loudon kauerte an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden. »Soweit ich das beurteilen kann, Sarge«, sagte er, »dürfte die Decke der Brücke ungefähr hier liegen.« Mit dem Daumen deutete er auf eine Stelle, die etwa die Oberkante des unteren Drittels der Wand markierte. »Was ist darüber?« Er kannte die Antwort bereits, doch es war nicht ratsam, das zu sagen, weil er dann hätte erklären müssen, woher er das wusste. »Ich schätze, da finden sich Lüftungsschächte. Diese elenden Diagramme! Ich kann die Dinger kaum voneinander unterscheiden.« Er richtete sich auf und spähte durch die transparente Öffnung einer schmalen Luke an der gleichen Wand. Boyd betrachtete die Luke, dann sagte er zu Loudon: »Machen Sie sie auf.« Loudon zog seine Pistole und brannte ein Loch ins Schloss, dann stieß er die Luke auf. »Ich bin mir nicht sicher, dass wir da alle reinpassen, Sarge.« »Dann müssen wir eben etwas Gewicht zurücklassen. Verteilen.« Einer der Männer half Loudon durch die Luke, der sich in den engen Schacht zwängte. Ihm folgten zwei weitere Marines, und Boyd bildete die Nachhut, während drei Mann zurückblieben und den Eingang bewachten. Aus der völligen Schwärze des Schachts betrachtet, wirkte das schwache rote Licht der Korridore mit einem Mal sehr hell. Boyd versuchte, sich auf den Boden vor sich zu konzentrieren, um nicht seine Nachtsicht zu ruinieren. Sie kamen nur quälend langsam voran. Irgendwo unter ihnen -wo, war wegen der unbestimmbaren Geräusche kaum zu erahnen - waren die schrillen Stimmen der Zor zu hören. Boyd fragte sich, worüber sie wohl sprachen. Beteten sie zu 83 esLi? Ihn schauderte, er musste an den Schrein denken, und alles, was er inzwischen wusste, sagte ihm, dass sie nicht beteten. Sie hatten sich schon längst auf den Tod vorbereitet. Das verstand er nun - deutlicher, als er es erwartet hätte.
»Sarge«, hörte er Loudons Stimme aus der Ferne. Der Schacht wurde ein Stück vor ihnen breiter, rötliches Licht drang von unten herauf. Die drei warteten auf Boyd, und als er zu ihnen aufschloss, deutete Loudon nach unten. Unter ihnen befand sich die Kontrollbrücke. Boyd bot sich ein fremdartiges Bild, das ihm auf den ersten Blick völlig unverständlich erschien. Elf Zor standen dort in einem relativ symmetrischen Muster angeordnet, jeder hielt ein langes, verziertes Schwert, das durch ein Gitterwerk aus Energie schwach leuchtete. Jeder Zor trug eine andersfarbige Schärpe und hatte eine bestimmte Haltung eingenommen, indem die Flügel mal in die eine, mal in die andere Stellung gebracht, die Krallen ausgestreckt oder an den Körper angelegt waren, der Kopf angehoben oder zur Seite gewandt. Es handelte sich um die ersten Zor, die sein Trupp auf der Station zu Gesicht bekommen hatte, und er hätte einen Jahressold gegeben, dass sie auch die einzigen waren. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, konnten sie eine mystische Funktion ebenso erfüllen wie eine praktische, doch womit er es hier zu tun hatte, entzog sich seiner Kenntnis. Elf Zor. Elf ist eine mystische Zahl, ging es ihm durch den Kopf. Elf Nester, elf Abschnitte an jedem Flügel, elf Heimatsterne. Der Gedanke kam ihm unbewusst, als er von Zor zu Zor blickte, die wie Statuen da unten standen. Dann ging sein Blick zu dem Zor in der Mitte, der eine weinrote Schärpe trug und vor einem Sockel stand. Einen halben Meter darüber schwebte ein kleiner steinerner Ring, ein kleineres Abbild des Rings, dessen Wirkung Boyd zuvor am eigenen Leib erfahren hatte. Es war so, als seien sie bestens auf den Tod vorbereitet, bereit, sich ihm mit persönlicher Ehre zu stellen, auch wenn kein anderer 84 Zor davon Kenntnis nehmen oder ihr Verhalten ehren konnte. Es änderte nichts daran, was sie taten, denn er wusste, es geschah für esLi, der ihnen zusah. Die Zor standen da, schweigsam und reglos, und warteten auf das Unvermeidliche. Noch während Chris Boyd weiter beobachtete, brach die Hölle los. Die Hauptluke wurde aufgesprengt, dann stürmten drei Marines herein, die sofort in Deckung gingen, gleichzeitig aber ihre Gewehre abfeuerten. Ein Zor ging mit lautem Heulen zu Boden, die anderen Verteidiger waren sofort kampfbereit. Etwa neunzig Grad im Uhrzeigersinn von der Hauptluke entfernt wurde ein Loch in das Schott gesprengt, zwei weitere Marines drangen vor. Fast im gleichen Augenblick nahm sich einer der Zor ein neues Ziel vor und feuerte mit äußerster Präzision auf den Marine, dessen Visier zerschmettert wurde. Sein Gesicht explodierte zu einer blutigen Masse, und als er zu Boden sank, war er bereits tot. Loudon schoss auf die Verriegelung der Luke, um sie zu öffnen. Boyd beobachtete weiter, was sich unter ihnen abspielte, fasziniert von dem Tempo, mit dem die Zor sich ein Ziel ums andere vornahmen und einen Marine nach dem anderen fällten, die die Brücke zu stürmen versuchten. Hinter ihren Stationen waren sie bestens positioniert, um Angriffe aus fast jeder Richtung abzuwehren. Den Marines machte das Vorrücken größte Mühe, denn auch wenn die Zor den Menschen körperlich unterlegen waren, besaßen sie um ein Vielfaches bessere Reflexe, die fast genügten, um ihre eigene Unterlegenheit hinsichtlich ihrer Waffenstärke auszugleichen. »Mist«, hörte Boyd Loudon sagen, was ihn aus seinen Gedanken riss. Der Corporal und ein weiterer Mann versuchten, die Luke anzuheben, die an irgendeiner Stelle klemmte. Mit seiner Pistole feuerte er auf den durchsichtigen Teil und ... im gleichen Moment schoss ein Querschläger durch den Schacht, bis der Schuss an den Wänden allmählich an Energie verlor. 84 Boyd warf Loudon einen wütenden Blick zu, da der Mann eigentlich hätte wissen sollen, was er da tat. Wieder versuchte er, die Luke zu öffnen. Der Kampf um die Brücke hatte sich unterdessen zu einem Gefecht unter Scharfschützen entwickelt. Die Zor kauerten hinter ihren Stationen, die als Schutzschilde dienten, während die Marines Wandplatten aus den Gängen vor sich hielten und versuchten, hinter ihnen langsam vorzurücken. Die Zor taten alles, um in Deckung zu bleiben und den Attacken der Menschen aus dem Weg zu gehen. Boyds Blick war längst zu dem Sockel in der Ecke des Raums gewandert. Von den Marines offenbar unbemerkt, hatte der Tonis zu vibrieren begonnen, dann drehte er sich immer schneller um seine eigene Achse.
Wie aus heiterem Himmel verstand Boyd plötzlich, welchen Zweck der Sockel erfüllte, und warum die Zor ihr Leben gaben, um ihn zu verteidigen. Ihm wurde auch klar, warum es auf der Basis nur so wenige Zor gab und warum es nie mehr gewesen waren. Das Ganze war eine riesige Falle, ein Spiel, das bis zum Äußersten gespielt wurde, um die Marines in den Mittelpunkt des Stützpunkts zu locken. Das ungute Gefühl in der Magengrube sorgte dafür, dass Adrenalin ausgeschüttet wurde, und dann half Boyd den beiden, die Luke zu öffnen. Abrupt gab das Metall nach und fiel auf die Brücke. Durch die halbe Schwerkraft wirkte es so, als würde das Teil in Zeitlupe zu Boden sinken, während es durch die Drehbewegung der Station eine leichte Kreisbahn zu beschreiben begann. Der Tonis drehte sich jetzt noch schneller. Ein Querschläger, möglicherweise ein auf den Sockel gerichteter Schuss, verwandelte sich nicht ganz einen Meter vom Ziel entfernt in einen schwachen orangefarbenen Schimmer, der gleich darauf verschwunden war. Schneller, als es irgendjemand - er selbst eingeschlossen -wahrnehmen konnte, hatte Chris Boyd seine Waffe gezogen und 85 auf den Torus gerichtet, um das Feuer zu eröffnen. Die Luft ringsum begann orangerot zu leuchten, glühte dann weißlich-blau, bis das Licht zu grell wurde, als dass man noch hinschauen konnte. Boyd feuerte mit geschlossenen Augen weiter, während das Bariton-Geheul eines Zor über die Helmmikrofone übertragen wurde, der vor Schmerz aufschrie und den Namen der Dunklen Schwinge rief. Die anderen Zor, die von dem Angriff von oben völlig überrascht wurden, starben im nächsten Moment, als die Marines über ihre Schutzschilde sprangen und losfeuerten. Der Sockel und sein Inhalt explodierten. Splitter aus Metall und Stein wirbelten durch den Raum. Erst dann hörte Boyd - taub und blind von Lärm und Licht - auf zu feuern und sank im Luftschacht nieder. Seine Pistole rutschte ihm aus der Hand und schwebte langsam nach unten, bis sie auf dem Deck der Brücke landete und liegen blieb. 85
Zwischenspiel Der Hohe Kämmerer Ptal HeU'ur hatte sich nach Kräften bemüht, das Hohe Nest vom Tumult abzuschirmen, der draußen herrschte. Das Kom-Netz war voll von apokalyptischen Ankündigungen und unheilvollen Vorzeichen. Sogar das Sanktuarium hatte für eine Weile die Pforten geschlossen. Hätte sich der Kämmerer einen Platz vorstellen können, der ruhiger und wenigstens halb so sicher gewesen wäre wie das Hohe Nest in esYen, der Hauptstadt von Zor'a, dann hätte er den Hohen Lord angewiesen, sich umgehend dorthin zu begeben. Doch einen solchen Ort gab es nicht. Makra'a HeU'ur war auf die Heimatwelt des Nests, E'rene'e, zurückgekehrt und hatte Ptal zu sich bestellt. Doch der Hohe Kämmerer hatte nicht auf Lord Makra'as Forderung reagiert und stattdessen entschieden, beim Hohen Lord Sse'e zu bleiben. Ptal war kein hirnloser Beamter, doch es bescherte ihm einen gewissen Inneren Frieden, wenn er sich der Arbeit, die sein Amt mit sich brachte, widmen konnte, als sei nichts geschehen. Nachdem die Meldung von A'anenus Einnahme Zor'a erreicht hatte, ging Ptal früh am Morgen in die Kammer der Einsamkeit, wo er hoffte, sich mit dem Hohen Lord in einer Angelegenheit von geringerer Bedeutung beraten zu können. S'tlin, sein alHyu, setzte ihn davon in Kenntnis, dass der Hohe Lord seit fast zwei Zyklen weder meditiert noch seine Schlafkammer benutzt hatte. Nach einigen Schmeicheleien und schließlich unverhohlenen Drohungen verriet der Diener ihm endlich, dass sich der Hohe Lord in seinem 85 privaten Garten aufhielt. Dieses innere Heiligtum wurde nur selten von anderen betreten, da es der Ort war, an dem Sse'e seinen eigenen Inneren Frieden pflegte. Dennoch fühlte sich Ptal veranlasst hinzugehen, und wenn er nur seiner Sorge um seinen Lord und alten Freund Ausdruck verleihen konnte. Er fand ihn im esTle'e, jenem kreisrunden zentralen Garten, der sich unmittelbar unter einem fast durchsichtigen Deckenfenster befand. Das zinnoberrote Licht der Sonne schien auf die Wände im Südosten und betonte die sorgfältig gehegte Flora sowie den in Gold emaillierten Kreis, der den es Tie 'e umgab. Sse'e stand auf der zentralen Stange, die Augen geschlossen, sein hi'ehya in den ausgestreckten Händen, die Flügel ausgerichtet zur Pose der Unterwerfung unter den Willen von esLi. Unsicher, wie er sich ihm bemerkbar machen sollte, stand Ptal HeU'ur ruhig auf einem der gepflegten Wege, bereit, den ganzen Zyklus lang zu warten, bis der Hohe Lord bereit war, mit ihm zu sprechen. Doch schon einen Moment später öffnete Sse'e die Augen, senkte sein hi'ehya, nachdem er die angemessene Ehrerbietung vollzogen hatte, und steckte es weg. Seine Flügel nahmen eine neutrale Haltung ein, und er
bedeutete Ptal, zu ihm zu kommen. Als der Hohe Kämmerer sich ihm näherte, sah er in den Augen des anderen dessen Ermüdung und Erschöpfung. »Ich bitte achttausendmal um Entschuldigung, dass ich Sie störe, Hoher Lord. Mein Anliegen ist nicht dringlich...« »Es ist nicht von Bedeutung, se Ptal. Kommen Sie her und setzen Sie sich zu mir.« Der Hohe Kämmerer trat näher und nahm auf einer der unteren Sitzstangen Platz. Mit seinen Flügeln beschrieb er eine höfliche Geste, dann teilte er mit seinem alten Freund einen Hand-über Hand-Griff. »Sie brauchen Schlaf, hi Sse'e.« »Das mag sein. Ich war in letzter Zeit nicht so sehr dazu bereit, aber meine... Bemühungen... haben mir wenig eingebracht.« 86 »Dann träumen Sie nicht?« »Nein, ganz im Gegenteil sogar. Der Lord esLi beunruhigt mich mit Träumen, die ich nicht verstehe. Ich sehe durch die Augen eines anderen, Augen, die unser Volk als Fremde zeigen und trotzdem hRni'i lesen können.« »Sie... Sie träumen, Sie sind der Admiral der esGa'uYal?« »Nein, ich glaube nicht.« Sse'e veränderte seine Position und zwinkerte ein paar Mal, als habe er etwas im Auge. »In diesen Träumen bin ich einer der Fremden, aber jemand von niederem Rang, eine Art Soldat. Ich bin bei ihm, er ist bei mir. Er ist nicht mehr als ein Nestling, aber er versteht, dass wir bereits einen Punkt des aLi'e'er'e erreicht... und hinter uns gelassen haben.« Über die Wahl des Fluges zu reden, bescherte dem Hohen Kämmerer einen Schauder. Sse'e spürte dessen Stimmung. »Sind Sie in Sorge, mein alter Freund?« »Ich sorge mich um uns alle, Hoher Lord. Alle Anzeichen...« Er hielt inne und sah sich im Garten um, während er sich den Satz neu zurechtlegte, damit er angemessen erschien. »Wie Sie wissen, hat der Sprecher der Jungen den Fremden eine neue Friedensinitiative vorgeschlagen, wie sie im Rat der Elf vereinbart wurde. Es sieht so aus, als hätten die Fremden das Angebot weder angenommen noch abgelehnt, sondern einfach ignoriert. Der Feldzug wurde fortgesetzt, und es gelang ihnen, Ka'ale'e A'anenu einzunehmen, bevor das Ritual saHu'ue abgeschlossen werden konnte.« »Das hat der Sprecher ganz sicher nicht erwartet.« »Nein, Hoher Lord, das hat er nicht. Sein Verhalten gegenüber meinem Lord des Nests, Makra'a HeU'ur, war nur wenige Achtel von einem Verspotten entfernt, als Lord Makra'a ihm sagte, was dabei herauskommen werde.« »>Nur der Mutige kann Feigheit zugeben<«, zitierte der Hohe Lord. »Ich danke Ihnen für Ihre Charakterisierung. Ich glaube, es ist nur mein Wunsch nach Frieden innerhalb des Rates der Elf, der 86 mich davon abhält, "den Sprecher zur Rede zu stellen, dass er Lord Makra'as Ehre so schmähte, vor allem mit Blick auf den Ausgang.« »Glauben Sie, die Weigerung der Fremden, über einen Frieden zu verhandeln, ist Beweis genug, dass ihr Admiral der Avatar von esHu'ur ist?« »Ich...« Die Flügel des Hohen Kämmerers nahmen die Haltung Ernster Meditation ein. »Darüber müsste ich erst in Ruhe nachdenken, Hoher Lord.« »Entscheiden Sie mit Sorgfalt, se Ptal. Und begehen Sie keinen Fehler. Der Flug führt zu einem Abschluss, nach dem es nicht mehr möglich ist, unser Schicksal zu bestimmen. Es wird dann in den Händen der Dunklen Schwinge liegen - und in den Händen von Lord esLi.« »Sie meinen...« »Wir stehen vor dem gleichen Problem wie der Held Qu'u, als er in den Nachtbergen nach der Hellen Schwinge suchte. Es ist nicht zu übersehen, dass zumindest einige unserer Befehlshaber an der Front diese Wahl ebenfalls wahrgenommen haben. Ich habe Depeschen gesehen, die bereits aHu'sheMe'sen zitieren, das Klagelied vom Gipfel. Nach der Legende wird Lord Qu'u vom ersten Hohen Lord A'alu ausgesandt, um den Grund für die große Seuche herauszufinden, von der das Land heimgesucht wurde. Er schickt ihn auf den Weg und warnt ihn, er habe geträumt, dass seine Reise ihn wieder zur Ebene der Schmach führen könnte, wie es schon zuvor der Fall war, um das gyaryu zu bergen, das Reichsschwert, das die Clans einte und zur Schaffung des Hohen Nests führte.«
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Nach vielen Reisen und Abenteuern stellt Qu'u fest, dass die Helle Schwinge in die Gewalt von esGa'u gelangt ist, dem Lord der Ausgestoßenen, und dass die Dunkle Schwinge sich ungehindert durch die Welt da oben bewegt. esHu'ur ist unantastbar, nicht aufzuhalten und gnadenlos. esHu 'ur bringt Seuchen und Tod über alles in der Welt, was esGa 'u und seine Untergebenen wiederum freut. Schließlich erreicht Qu'u 87 die Ebene der Schmach, und als er die Nachtberge überquert, findet er den Ort, an dem die Helle Schwinge festgehalten wird. Auf dem Höhepunkt des Sturms lernt er eine wichtige Lektion über die Natur der Dunklen Schwinge und der Hellen Schwinge, er singt das Klagelied, und damit ist die Welt eine andere.« »Sie glauben, unsere Situation ist ähnlich?« »Ich wage zu behaupten, dass wir keinen Lord Qu'u haben, und ich diene nicht als Maßstab für A'alu ... aber ja, ich finde, unser Problem ist diesem sehr ähnlich. Wir müssen den Gedanken in Erwägung ziehen, dass es der Wille von esLi ist, esHu'ur aufsteigen zu lassen, damit er sich uns in den Weg stellt. Damit wir wie Qu'u auf dem Höhepunkt des Sturms die richtige Entscheidung treffen. Wenn wir das tun, könnten wir einer so völligen Zerstörung zum Opfer fallen, dass man anschließend nichts mehr über uns wissen wird.« »Woher sollen wir wissen, welches die richtige Entscheidung ist?« »Wenn ich Recht habe, se Ptal, dann wird esHu 'ur es uns durch Zeichen wissen lassen. Wenn ich mich irre, werden wir vielleicht so oder so verdammt sein, weil Lord esLi Sein Gesicht von uns abgewandt hat. Das Klagelied vom Gipfel fordert uns heraus, mein alter Freund. Wir müssen die Helle Schwinge finden, dann wird die Welt eine andere werden.« 87
aHu'sheMe'sen
Das Klagelied vom Gipfel Teil II 10. Kapitel (Start Vid.Aufz. 2311-UNS080861-0923.) TOTALE: Ansicht des L'alChan-Systems. Simulation des imperialen Geschwaders, das am Rand des Systems auf die Verteidigungsflotte trifft. OFF-SPRECHER: »Bei der ersten großen Auseinandersetzung bei L'alChan begegnet das Geschwader unter dem Kommando von Admiral Lord Marais dem Feind. Durch das rechtzeitige Auftauchen der IS Sevastopol gerät ein Zor-Schiff in tödliches Kreuzfeuer.« ÜBERFLUG: L'alChan 4, Bilder von der Zerstörung der Zor-Nester. Szenen von massiven Verwüstungen. OFF-SPRECHER: »Nach dem Angriff der Flotte waren alle Gebäude zerstört, kein Alien hatte überlebt, und die landwirtschaftlichen Kapazitäten des Planeten hatte man komplett neutralisiert.« (Auszug aus der Pressekonferenz der Admiralität, 22. Juni 2311) CAPT. SEAN MORTON (Sprecher der Admiralität): ... erlitten bei diesem Angriff nur minimale Verluste. Die Admiralität betrachtet das als ein besonderes Plus, Mr Tsang. TSANG (Reuters/Masaak): Captain Morton, stimmt es, dass die Verteidiger von L'alChan nicht aufgefordert wurden, sich zu ergeben? MORTON: Nein, Mr Tsang, das stimmt nicht. Die Verteidiger 87 wurden zur Kapitulation aufgefordert, reagierten aber nicht darauf. Nächste Frage... TSANG: Ich bitte um Verzeihung, Captain, aber es gibt Informationen, die besagen, dass die Zor nur zur Kapitulation aufgefordert wurden, als Admiral Marais' Flotte im System eintraf, dass aber beim Einschwenken in den Orbit um den bewohnten Planeten diese Aufforderung nicht wiederholt wurde. MORTON: Die Admiralität hat keine dahingehende Information veröffentlicht, Sir. Es stellt sich aber die Frage, wie oft Ihrer Meinung nach die Aufforderung zur Kapitulation gestellt werden soll, wenn der Feind offensichtlich so störrisch ist. TSANG: Captain Morton, die Zor am Rande des Systems gehörten zum Militär, die auf Planet 4 dagegen waren Zivilisten. Es wird doch da sicher ein Unterschied gemacht...
MORTON: Die Zor haben auch keine solchen Unterscheidungen gemacht, als sie vor sechzig Jahren Alya angriffen. Nächste Frage bitte. Irgendwie gelangte eine Aufnahme mit den Szenen der Verwüstungen auf L'alChan, Sr'chne'e, R'h'chna'a und anderen Welten ins administrative Flottenhauptquartier bei Mothallah. Eine Mikrokapsel, die im Hutband der Uniform eines Kuriers verborgen war, begleitete den Mann auf einem Routinetransport mit streng geheimen, an die Admiralität gerichteten Depeschen. Mit dem Verlassen der Sicherheitszone, in der Marais das Sagen hatte, schwand auch die Gefahr, die auferlegte Schweigepflicht zu verletzen. So war der Kurier in der Lage, die Kapsel direkt einem wichtigen Mitglied der Imperialen Versammlung in die Hände zu spielen, als er die Reparatureinrichtung New Chicago besuchte. Als der Sommer allmählich in den Herbst überging, waren die ersten Bilder vom Ausmaß der Zerstörungen auch auf dem privaten Monitor der Premierministerin in Genf zu sehen. Das Büro war 88 karg eingerichtet, da die meisten Möbelstücke ihres Vorgängers bereits weggeschafft worden waren, ihre eigene Einrichtung aber noch auf sich warten ließ. Die Bilder, die auf dem Schirm zu sehen waren, schienen zu der Leere in dem Büro zu passen. Wenigstens war das neue Kommunikationssystem bereits installiert und funktionstüchtig. Während die Bilder über den Monitor liefen, betätigte die Premierministerin die spezielle rote Taste der Anlage. Am anderen Ende der Welt reagierte man sofort. Sergei wandte sich um und sah Marc Hudson in der Tür zur überfüllten Krankenstation der Gagarin stehen. Er sah mitgenommen und alt aus, die Uniform war so zerknittert, als hätte er darin geschlafen. Der Transporter diente als Lazarett und als Leichenhalle für die Opfer des Kampfs um den Flottenstützpunkt der Zor. Sergei hatte Chan das Kommando über die Lancaster übertragen und einen Kommandoposten auf dem Transporter eingerichtet, um sich ein klares Bild darüber zu verschaffen, wie stark die Flotte tatsächlich war. »Ich melde... Mission erfüllt, Commodore.« »Marc, um Himmels willen, setzen Sie sich. Ich habe den Bericht bereits.« Er ging zu ihm, um ihm zu helfen, doch Marc winkte ab, ging müde zu einer Untersuchungsliege und legte sich der Länge nach hin. »Mein Gott, bin ich todmüde«, flüsterte er, schloss die Augen und faltete die Hände vor der Brust. »Widerspricht zwar jedem Protokoll, Sergei, aber ich möchte nicht vor Ihnen stehend zusammenbrechen. Zerren Sie mich ruhig vor ein Kriegsgericht.« »Ich werde mich hüten.« Sergei kam zu ihm, zog einen Stuhl heran und setzte sich hin. »Aber bleiben Sie wenigstens lange genug wach, um mir zu sagen, was an Bord der Station geschehen ist.« »Das lässt sich nur schwer erklären.« Hudson regte sich nicht, machte nicht einmal die Augen auf. »Fast hätten wir verloren. Die Zor waren im Begriff, die Station zu vernichten - mit irgendeinem ausgeklügelten Zerstörungsmechanismus. Aber ein Marine von 88 der Biscayne, ein Sergeant namens Boyd, hat das Ding mit seiner Pistole unschädlich gemacht. Ich habe keine Ahnung, woher er wusste, dass er darauf feuern musste, aber es war genau das Richtige. Die Techs konnten den Kurs der Station ändern, der jetzt im Einklang mit dem Planeten liegt. Von den Zor-Schiffen konnte die Station da schon nicht mehr angegriffen werden. Zwischen Ihren und meinen Leuten blieb den Zor ohnehin nicht mehr viel Spielraum, aber wenigstens konnten sie nicht ihre eigene Einrichtung abschießen.« »Und der Gefangene?« »Er war einer von einem guten Dutzend Zor, die auf der Station geblieben waren, um sie zu verteidigen. Als diese Selbstzerstörungsvorrichtung hochging, verlor er das Bewusstsein. Die Marines nahmen ihn mit und brachten ihn auf die Biscayne. Er sollte inzwischen auf die Gagarin gebracht...« »Ja, er ist schon hier. Er sitzt gleich nebenan im Isolationstank.« Hudson hob ein Lid und sah Sergei mit einem geröteten Auge an. »Gleich nebenan?« »Wollen Sie ihn sich ansehen?« Er gab einen mürrischen Laut von sich und kniff das Auge zu, setzte sich dann aber auf. »Ja, warum nicht? Ich bin schon so lange auf den Beinen, da machen ein paar Minuten mehr auch nichts aus.« Er folgte Sergei durch eine aufgleitende Tür in den Hauptbereich der Krankenstation, der etwa zur Hälfte belegt war. Ein Teil der Patienten war vom Transporter zur sofortigen Behandlung zum Pulk der Flotte gebracht worden. Als Sergei eintrat, regte sich leiser Jubel, den er mit einem flüchtigen Lächeln kommentierte. Sie gingen durch eine Tür am Ende des Raums in ein etwas größeres Abteil, dessen eine Wand vom Boden bis fast auf Augenhöhe aus Glastahl bestand. Dahinter lag ein bewusstloser Zor auf einem Null-Grav-Kissen.
Sergei vermutete, dass es sich um einen männlichen Vertreter der Spezies handelte, und ein kurzer Blick auf die Behandlungsdaten an der Wand bestätigte das. Der Zor 89 hatte die inneren und die äußeren Augenlider geschlossen, die Flügel angelegt, und der stolze Kopf war leicht nach hinten geneigt. Um seinen Leib trug er eine Uniform, die von einer schmalen karmesinroten Schärpe aus edel aussehendem Stoff gehalten wurde. Rechts an der Hüfte hing ein Schwert, dessen Klinge kunstvoll gearbeitet war. Als Sergei durch das geätzte Glas der Isolationskammer blickte, fiel es ihm schwer, all das zu vergessen, was er über die grausame Brutalität dieser Feinde der Menschheit gehört und selbst erlebt hatte. »Dieser Bastard macht einen verdammt bösartigen Eindruck«, sagte Marc, der eine Hand über seine Augen hielt, um das Licht abzuschirmen. »Sieht so aus, als hätte man ihm seine Waffe gelassen.« »Seine Pistole hat man ihm abgenommen, aber das Schwert... tja, Befehl des Admirals. Er soll es behalten. Es wird chya genannt und bedeutet, dass er ein vollwertiger Krieger ist.« »Da hat wohl jemand seine Hausaufgaben gemacht«, meinte Marc. »Es ist gut, den Feind zu kennen.« Sergei fuhr sich durchs Haar. »Interessanter Gedanke, nicht wahr?« »Was?« Marc sah ihn an. »Was für ein Gedanke?« »Den Feind zu kennen. Seit sechzig Jahren kämpfen wir gegen sie...« Er deutete auf den Zor. »Sie haben unsere Leute getötet, wir haben ihre Leute getötet. Und jetzt sind wir im Begriff, sie alle auszulöschen, und auf einmal beginnen wir, sie zu verstehen. Das ergibt doch keinen Sinn.« »Es ergab einen Sinn, als wir anfingen. Sie waren sich nicht sicher, aber ich schon. Vermutlich hätte ich Ihre Bedenken nicht so leichtfertig verwerfen sollen.« Marc setzte sich auf eine Couch im Raum und stützte sich mit beiden Händen ab. »Bitte um Erlaubnis, das Bewusstsein verlieren zu dürfen, Sir.« Wieder schloss er die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken. »Erlaubnis erteilt.« Sergei drehte sich um und stellte sich wieder vor die Glastahl-Wand. Der Zor war noch nicht aufgewacht, son 89 dem lag weiter so reglos wie ein Holo oder eine Wachsfigur da. Marc Hudson spiegelte sich in der Scheibe. Was wird dieser Zor denken, wenn er hier erwacht?, fragte sich Sergei. Die Kammer war nur schwach beleuchtet und wies den orangeroten Farbton der Heimatwelt der Zor auf. Die Wände waren mit Holo-Abbildungen jener Muster überzogen, die sie in jedem Zor-Nest und auf jeder Raumstation vorgefunden hatten - hRni'i. Die Techniker, die diese Umgebung hergestellt hatten, ließen wahrscheinlich nur zufällige Bilder ablaufen, die für einen Zor ohne Sinn sein würden. Doch auch wenn alles ringsum nur Kauderwelsch war, sollte es beim Gefangenen bewirken, dass er sich ein wenig heimischer fühlte. Der einzige Zor-Krieger in Gefangenschaft würde auch schon so genug unter seiner Isolation leiden. Eine plötzliche Bewegung, die sich im Glastahl widerspiegelte, ließ Sergei aufmerksam werden. Er sah, dass der Admiral soeben den Raum betreten hatte. Ein Blick über die Schulter, dann nickte er Marais zu und deutete auf den leise schnarchenden Marc Hudson auf der Couch. »Wir haben nur nach dem Gefangenen gesehen«, sagte Sergei leise. »Ich kann Ihre Neugier gut verstehen.« Marais sah sich die Behandlungsdaten an, dann warf er auch einen Blick in die Kammer. »Sehr gut«, sagte er nach einer eingehenden Betrachtung des Zor. »Wir haben die Chance, etwas Nützliches von ihm zu erfahren, ehe er sich umbringt.« »Wie bitte, Sir?« »Es könnte die einzige Möglichkeit sein, etwas von ihm zu erfahren, Commodore. Sobald er uns gesagt hat, was wir wissen wollen, werde ich seinem Glauben Respekt erweisen und ihm erlauben, dass er sich das Leben nimmt.« »Dieser Gefangene ist eine Rarität, Admiral«, erwiderte Sergei. »Wir können es uns nicht leisten, dass er...« 89 »Anders geht es nicht.« »Ich verstehe nicht, Admiral.« »Dann wird es mir ein Vergnügen sein, es Ihnen zu erklären.« Marais drehte sich wieder dem Isolationstank zu. Eine Hand legte er so auf die Scheibe, dass es in einem anderen Zusammenhang durchaus wie eine fürsorgliche Geste gewirkt hätte. »Wir verfügen nicht über die erforderlichen Techniken, um ihm gegen seinen Willen Informationen zu entlocken. Lieber würde er sterben.« Er sah Sergei an. »Für die anderen Zor ist er bereits tot. Schlimmer noch, er ist ein idju, entehrt und ausgestoßen, da er nicht starb, als er hätte sterben sollen. Doch so wie seine Befehlshaber wird auch er die Menschheit für die Boten einer übernatürlichen, mys-
tischen Kraft ansehen - die Dunkle Schwinge.« Er hielt sekundenlang inne, als wolle er Sergeis Reaktion auf seine Worte ergründen. Sergei beabsichtigte nicht, irgendeine Emotion erkennen zu lassen, was dieses Thema anging. Er hoffte, dass sein Gesicht keine Regung verriet. »Wenn wir seinen Erwartungen gerecht werden wollen, müssen wir unsere Rolle bis ins kleinste Detail richtig spielen. Für diesen Zor werden wir diese Boten sein. Er wird uns Informationen geben, und dann wird er sterben... durch Freitod, wie es seine Traditionen verlangen. Haben Sie irgendetwas dagegen einzuwenden?« Sergei bemerkte, dass Marc sie beide aufmerksam beobachtete. Seit dem Eintreffen des Admirals hatte er sich nicht bewegt, doch er war auch gar nicht erst eingeschlafen. »Nein, Sir, keine Einwände.« Die Außentür glitt langsam und mit einem leisen Seufzer auf. Ted McMasters ging hindurch und legte die wenigen Stufen bis hinunter aufs Deck zurück. Eine Reihe Männer und Frauen stand in Galauniform Spalier, bereit, zu salutieren und ihm die Hand zu schütteln. Vermutlich hatten sie das Zeug zum Offizier, doch bei der Imperialen Navy zählte nur das Erscheinungsbild, womit die 90 Uniformen erheblich wichtiger wurden als die Menschen, die in ihnen steckten. »Freut mich, dass Sie uns besuchen, Admiral McMasters«, sagte der Mann, der die meisten Auszeichnungen trug, Captain Michael Mbele, Commander der Basis. »Willkommen auf der Pluto-Basis.« »Ich würde Ihnen gern sagen, dass es mich auch freut, Mike.« Sie gaben sich die Hand und gingen über das Deck, gefolgt von den anderen Offizieren. »Aber das ist nicht unbedingt die grüne Lunge des Sol-Systems. Trotzdem...« Sie durchquerten ein Beobachtungsdeck, das den fleckig blauen Pluto zeigte, der sich vom hellen Wirbel des Sagittarius-Arms der Milchstraße abhob. »Trotzdem eine schöne Aussicht.« »Admiral McMasters«, sagte der jüngere Offizier. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie hergekommen sind. Wir hören hier alle möglichen Gerüchte, und wenn ich ehrlich sein soll, würde ich gern wissen, ob sie stimmen oder nicht.« Er blieb stehen, stützte sich auf das Geländer und betrachtete den Pluto. »Vielleicht sollten wir das besser hinter verschlossenen Türen besprechen.« »Wie der Admiral wünscht.« Mbele führte ihn durch ein Labyrinth aus Korridoren, vorbei an einem unbesetzten Empfangstisch in ein großzügiges Büro, das ebenfalls die Aussicht auf den Pluto zu bieten hatte. Er zog die Vorhänge ein Stück weit zu und deutete auf einen Sessel, in dem McMasters Platz nahm. Dann verteilten er und seine Offiziere sich auf zwei Sofas. Mbele lächelte McMasters an. »Ich habe keine Geheimnisse, jedenfalls nicht vor meinen Offizieren, Sir. Und die Pluto-Basis ist so verschwiegen, wie es innerhalb des Sol-Systems nur möglich ist.« McMasters nickte. »Captain Mbele, mein offizieller Grund für meinen Besuch ist eine Besichtigung der Einrichtungen des Systems. Inoffiziell« - er griff in die Innentasche seiner Uniformjacke - »bin ich hier, um Ihnen dies zu übergeben.« Er hielt Mbele ein flaches Päckchen hin, das mit dem elektronischen Siegel der Ad90 miralität versehen war. Mbele berührte es kurz mit dem Daumen, dann öffnete er das Päckchen. Es enthielt einen zusammengefalteten Befehl und ein kleineres, ebenfalls versiegeltes Päckchen. Er faltete das Blatt auseinander und überflog es, dann sah er auf. »Das ist ein General-Alarm, Sir.« »Richtig, und er gilt mit sofortiger Wirkung, sobald Sie alle Vorbereitungen getroffen haben, ihn umzusetzen.« »Darf ich den Admiral fragen, warum...« »Ich rechne damit, dass eine Raumflotte ins Sol-System eindringt.« »Herkunft?« »Ich wünschte, ich wüsste das, Mike. Möglicherweise sind einige Zor-Schiffe der Flotte von Admiral Marais entwischt und befinden sich auf dem Weg hierher. In dem Fall müssen wir so gut vorbereitet sein, dass nicht ein einziges von ihnen bis ins innere System vordringt. Aber... es gibt auch die Möglichkeit, dass Marais selbst zurückkehrt.« Sein Blick wanderte über die karge Oberfläche des Pluto, während er fortfuhr: »Und zwar als unser Feind, Mike. Er reagiert auf keine Nachricht der Admiralität, und er hinterlässt eine Spur der Vernichtung. Vor einigen Wochen schickte ich einen Späher, der letzte Woche Aanenu erreichen sollte. Er hat sich bis jetzt nicht gemeldet. Marais' Feldzug hat unterdessen Züge angenommen, die nichts mehr mit politischen oder militärischen Zielen zu tun haben. Ich bin mir sicher, Sie wissen bereits, was Premier Tolliver und der Abgeordnete Hsien dazu zu sagen hatten.« »Wir hielten das Ganze für Hysterie unter der Zivilbevölkerung, Admiral.«
»Wenn es nur so wäre. Es stimmt übrigens auch, dass die Zor vor Wochen ein Friedensangebot unterbreitet haben und sich von A'anenu zurückziehen wollten, wenn wir das auch machen würden. Admiral Marais hat offenbar den Befehl missachtet, seinen Feldzug so lange ruhen zu lassen, bis über diesen Vorschlag entschieden war.« 91 »Er hat einen Befehl Seiner Imperialen Hoheit missachtet, Admiral? Aber das ist...« »Verrat.« »Sir«, sagte Mbele nur und sah zu Boden, als müsse er erst versuchen, das Gehörte zu verarbeiten. »Bewaffneter Verrat beschreibt es wohl zutreffender. So etwas kommt nicht zum ersten Mal vor, wie Sie sicher auch wissen.« Das Sol-Imperium selbst war dadurch entstanden, dass der umstrittene Admiral Willem McDowell mit seiner Flotte ins Sol-System zurückkehrte und es besetzte. Durch den Akzessionskrieg wurde dieser Verrat schließlich zu einem legitimen Akt, da McDowell gesiegt hatte. »Kurz gesagt: Es gibt Grund zu der Annahme, dass A'anenu ausgelöscht wurde und er nun ohne einen entsprechenden Befehl auf dem Weg zu den Heimatsternen der Zor ist, um einen großen Teil der Spezies zu vernichten. Ich muss zwar gestehen, dass ich diesen Akt nicht als so unerfreulich ansehen würde, aber ich mache mir Sorgen, was er danach vorhaben könnte. Da das politische Klima momentan sehr unruhig ist, reicht die Palette von potenziellen Anhängern bis hin zu potenziellen Attentätern, die Marais am liebsten tot sehen würden. Dass ein Mann solche Macht in seinen Händen hält, ohne bereits auf dem imperialen Thron zu sitzen ... das ist eine gefährliche Sache.« Er sah Mbele lange an. »Mike, Sie zeichnen gegenüber dem Imperator verantwortlich. Jeder Feind, der ins Sol-System eindringt, muss zurückgeschlagen werden, ganz gleich, wer das Kommando hat. Dieser Befehl sowie der Alarmbefehl, den ich Ihnen vorhin gab, haben allerhöchste Priorität. Wenn es Marais' Flotte ist, öffnen Sie den versiegelten Umschlag und handeln Sie entsprechend.« »Aye-aye, Sir«, erwiderte der jüngere Mann nach längerem Schweigen. In seinem Traum war der lange, quälende Zerfall von Ka'ak'e A'anenu, der großen Himmelsfestung, wie ein flehender Schrei, der 91 an esLi gerichtet war und mit dem der Tod von hunderten von na-Zora 'i als Vergeltung für die schreckliche Vernichtung der Basis angeboten wurde. Das Volk war schließlich eine anspruchsvolle Spezies, die die Vergeudung von allem verachtete, was mit so viel Mühe in so langer Zeit gebaut worden war. Vergeudung war schändlich, außer wenn es um das Leben selbst ging. Bei der heiligen Sache von esLi war das Leben ein billiges Gut. Ka'ak'e A'anenu spürte den Schock des ausgelösten saHu'ue, als der gyu 'u von Rrith sich nach ihm ausstreckte und es streichelte. Es riss sich selbst an den langen Speichen auseinander, zerbrach an den Rändern in Fragmente, zerfetzte die naZora '(-Schiffe, die wie Parasiten daran verankert waren. Zu spät wurde ihnen bewusst, dass es ihr eigener Tod war, den sie berührten. Vor seinem geistigen Auge sah Rrith den Triumph jeder Vernichtung, die die Dunkle Schwinge in Schach halten und den Zor den Sieg bringen würde. Durch die Explosion selbst ebenfalls vernichtet, wurde er von sanfter fte‘e-Musik begleitet nach außen gewirbelt. Sein Körper war in zinnoberrotes Licht gehüllt, als er den Äußeren Frieden überwand... und fiel... und fiel... Irgendwie kehrte die Stabilität zu ihm zurück. Halb in den grellen Traum des Fühlenden getaucht, dabei aber so bei Bewusstsein, wie es nur bei einem Fühlenden möglich ist, spürte er das Bett unter seinen angelegten Flügeln und nahm zufällige Gedanken seiner Gefährten aus den benachbarten Kojen wahr, die sich mit seinen eigenen mischten. Indem er sich auf die Krallen des Inneren Friedens konzentrierte, versetzte er sich in einen leichten Schlaf, der sich ganz dicht unter der Grenze zum Wachsein hielt, und dachte über seinen Traum nach. Verdammt, überlegte er. Das war der verrückte Traum. Ob der Doc mir etwas dagegen geben kann?/ In drei Stunden beginnt mein Dienst, ich sollte besser noch etwas Schlaf kriegen./ Der Sarge sagt immer, ein Marine kann überall und jederzeit 91 schlafen, weil er nicht weiß, wann er die nächste Gelegenheit dazu bekommt.../ Rrith war sofort wach und schüttelte heftig den Kopf, als könnte er so die ungewohnten, fremdartigen Gedanken vertreiben. Seine Klaue berührte die Hüfte, wo nach wie vor sein chya hing. Seine Pistole war fort, doch das schien ihn nicht zu überraschen. Ohne sich ansonsten zu bewegen, sah er sich um, erfasste den Raum mit den Augen und seinen anderen Sinnen. Dem Anschein nach befand er sich in einem Nest. Die Kammer, in der er lag, war schwach beleuchtet, die Wände waren mit hRni'i überzogen, die den Rang und den Ruf des Hauses kennzeichneten. Den Zeichen zufolge war er in einem Nest auf S'rchne'e. In der Luft hing etwas Unterschwelliges, vielleicht
ein Geruch, oder aber ein unbestimmbares Geräusch, das ihn misstrauisch werden ließ. Da sich aber sein chya noch an seiner Hüfte befand, wusste er, dass seine Gastherren zumindest die Formalitäten kannten und beachteten. Er setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden, was ein hohl klingendes Geräusch verursachte. Fast im gleichen Moment besann er sich eines Besseren, da er von Schwindel und Übelkeit erfasst wurde. Langsam und unter Mühen brachte er sich unter Kontrolle, indem er sich erneut auf die Krallen des Inneren Friedens konzentrierte. Schließlich begann er klarer zu sehen. Langsam konnte er auch die Bettkante loslassen, an der er sich festgeklammert hatte. Vorsichtig stand er auf und ging durch den Raum. Die Schwerkraft fühlte sich richtig an, doch die Atmosphäre hatte etwas Verkehrtes, Fremdes an sich, und ein schreckliches Unbehagen erfasste ihn. Als er die Wand berührte und die hRni'i zu lesen versuchte, bestätigte sich sein Unbehagen auf schreckliche Weise. Die hRni'i waren lediglich Projektionen, dreidimensionale Holos, keine Gravuren. Sie waren nicht berührbar. S'rchne'e. Natürlich, dachte er. S'rchne'e wurde von esHu'ur zerstört, vor zwei dreiachtel Monden. Und nun hängt er das Emblem 92 seines niedergewalzten Feindes an die Wand, so wie es einer vom Volk machen würde. Dies war kein Nest, doch es war auch nicht die Vorkammer, in der er auf das Urteil von esLi warten sollte, wie man es ihn gelehrt hatte. Er war nicht in die nächste Welt gelangt, aber er lebte und befand sich vermutlich in der Hand der naZora'i. Als er erwacht war, hätte es ihm auffallen müssen, denn unter keinen Umständen wäre es möglich gewesen, die Zerstörung von Ka 'ale'e A'anenu zu überleben. Auf eine ungeahnte Weise hatte er die Zerstörung nicht ausführen können, er war nicht umgekommen, stattdessen war er in die Gefangenschaft des Feindes geraten. So unwahrscheinlich es ihm auch vorgekommen wäre, hätte er doch die Möglichkeit bereitwillig akzeptiert, dass er die Zerstörung der Basis überlebt hatte und zum Volk zurückgekehrt war. Doch wenn die Menschen ihn gefasst hatten, war er mit seiner Mission fast sicher gescheitert. Nun wurden seine Gedanken von denen der Menschen durchdrungen - die Sache, die ein Fühlender am meisten fürchtete -, und er war ein idju, was schlimmer war als der Tod. Er war entehrt, und esLi hatte den Blick von ihm abgewandt. Diese Erkenntnis lähmte Rrith, weil es über alles hinausging, was er sich je hatte vorstellen können. Zudem machte es ihn wütend, so wütend, dass er auf einmal sein chya mitsamt Scheide packte und durch den Raum schleuderte. Es prallte von der Wand ab und landete auf dem Boden, dann hörte er es knurren vielleicht seinetwegen, vielleicht wegen der Behandlung, die er ihm gerade eben zugemutet hatte. Doch das war gleich, denn es gehörte ihm nicht länger. Er wurde von seinen Gefühlen überwältigt, die in ihm aufstiegen, während er noch einmal versuchte, die hRni'i zu lesen. Einige Stunden Schlaf taten jedem gut. Während der Zeit, in der die A'anenu-Station gesichert wurde, waren zwei Geschwader der Fünften Flotte eingetroffen und hatten ihre Loyalität gegenüber Admiral Marais erklärt. Sie brachten Neuigkeiten von draußen 92 mit, die die Flotte und das Imperium betrafen. Sergei hatte sie pflichtbewusst an den Admiral weitergeleitet, der auf die Lancaster zurückkehrte und verlauten ließ, er wolle nicht gestört werden. Diese Neuigkeiten waren aufregend und beunruhigend zugleich. In der Flotte hatte sich längst herumgesprochen, dass Marais suspendiert worden war, und im Imperium kochten die Emotionen hoch. Die Leute stellten sich auf eine von beiden Seiten; sie waren entweder strikt gegen das, was durch den Feldzug angerichtet worden war, und forderten den Kopf des Admirals, während die anderen fest davon überzeugt waren, dass er das Richtige tat. Sergei wusste nicht, wie es geschehen war, nahm sich aber vor, es herauszufinden - auf jeden Fall waren Mitschriften und Aufnahmen des Feldzugs der Opposition in der Imperialen Versammlung zugespielt worden. Der Premierminister war offenbar zum Rücktritt gezwungen worden, und nun gab es ein schreckliches Theater, bei dem die Imperiale Navy im Mittelpunkt stand. Was die Flotte anging, so hatte die Admiralität Marais offiziell zum Gesetzlosen und Verräter erklärt. Dennoch standen viele Commander der Flotte zu seinen Aktionen. Der Standpunkt der Zivilregierung, die hunderte von Parsec entfernt war, hatte eindeutig das Nachsehen. Sergeis Einstellung war klar. Er hatte sich bereits vor A'anenu entschieden, als er sich weigerte, seinen Posten aufzugeben. Diesen Rubikon in seiner Karriere hatte er längst überschritten. Sergei wusste, die Strafe, die Marais erwartete, sollte er je ins Imperium zurückkehren, würde minimal ausfallen im Vergleich zu dem, was ihn selbst erwartete, da er nicht von einem Flagg-Dienstgrad geschützt wurde.
Der Admiral hatte immer noch eine Entscheidung zu treffen, was mit den Neuankömmlingen geschehen sollte. Nachdem Sergei hinsichtlich der Aktivitäten an Bord der Gagarin wieder auf dem Laufenden war, kehrte er aufs Flaggschiff zurück, um Marais über die aktuelle Situation zu unterrichten. 93 Bis auf die Notbeleuchtung war es im Quartier des Admirals dunkel. Er saß im Sessel am Monitor, das Kinn ruhte auf den gefalteten Händen. Captain Stone saß neben dem Durchgang zum Schlafraum und hatte einen tragbaren Reader auf dem Schoß liegen, in dessen fahlem Licht sein Gesicht noch hagerer und knochiger aussah. Stone sah auf, als Sergei hereinkam, sagte aber nichts. Marais blieb unbeweglich auf seinem Platz sitzen, doch Sergei konnte sehen, wie er ihn mit seinen Blicken verfolgte. »Ich möchte Sie über den Stand der Dinge informieren, Sir«, sagte er und blieb vor dem Admiral stehen. Marais sah ihn weiter an, nur seine Augen bewegten sich, betrachteten Sergeis Miene, zuckten zu irgendeinem Detail seiner Uniform, kehrten dann zum Gesicht zurück. »Bitte, nehmen Sie Platz, Commodore.« Stone schaltete den Reader ab und beobachtete interessiert, was sich nun abspielen würde. »Die Lage ist noch ernster, Commodore. Ich habe eine Depesche bekommen, die nach S'rchne'e geschickt und vom dortigen Commander der Garnison an mich weitergeleitet wurde.« Er gab Sergei einen Reader, auf dem ein Kommunique angezeigt war, das das offizielle Siegel der Admiralität trug. Offizielle Übertragung, Priorität 18 16. August 2311 an: Adm Ld Ivan H Marais Befehlshaber an Bord der IS Lancaster von: Adm T McMasters Admiralität HQ Terra Mylord, es ist meine unerfreuliche Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass ich Sie ab dem oben genannten Datum auf ausdrück 93 lichen Befehl Seiner Imperialen Majestät Ihres Kommandos über alle Schiffe und Basen sowie das gesamte Personal und sämtliche Ausrüstung enthebe. Gemäß Allgemeiner Order 23, geändert durch Vorschrift 23:XVI, wird die Verantwortung für die Aufhebung Ihres ursprünglichen Auftrags an Commodore Sergei Torrijos übertragen, bis Ihr Kommando an Ihren rechtmäßig bestimmten Nachfolger übergehen kann. Ferner wird Ihnen auf ausdrücklichen Befehl Seiner Imperialen Hoheit aufgetragen, sich zum nächsten Flottenstützpunkt zu begeben und sich für ein Verfahren vor einem Kriegsgericht zu stellen, das festlegen wird, welche Anklage gegen Sie erhoben wird. Zu den Punkten der Anklage gehören unter anderem: vorsätzliche Verletzung der Imperialen Statuten betreffend das Verhalten gegenüber Zivilpersonen, Weigerung, das Kommando abzugeben, Insubordination, Durchführung von Operationen ohne Rücksprache mit den Vorgesetzten. Die Weigerung, diesem direkten Befehl des Imperators nachzukommen, wird als Hochverrat gegen das Sol-Imperium gewertet und mit dem Tode bestraft. >McMasters< Sergei betrachtete Marais und musste daran denken, wo er dessen Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte: vor vielen Monaten in Ted McMasters Büro auf dem Umschlag seines Buchs. Es war noch immer das gleiche edle Profil - der stolze Ausdruck, das trotzig vorgeschobene Kinn, die dunklen Augen, in denen ein Feuer loderte. Doch dieses Gesicht war nun angespannt und wirkte gealtert, als sei alles überschüssige Fleisch entfernt worden. »Das ist Ihre zweite Gelegenheit, mich des Kommandos zu entheben. Allerdings«, fügte er an und sah zu Stone, »glaube ich nicht, dass Sie das machen werden.« »Mit Verlaub, Admiral, hier geht es um mehr als um Insubordination.« Sergei legte die Depesche vorsichtig auf seine Armlehne. »Das ist Verrat, der gegen den Imperator gerichtet ist.« 93 »Das tut nichts zur Sache.« »Das mag sein, Admiral, doch ich glaube, die Admiralität ist derzeit noch immer in der Lage, einen unangenehmen Ausgang eines Kriegsgerichtsverfahrens zu verhindern. Dass wir A'anenu angriffen, war gegen den Wunsch der Regierung, doch ab jetzt widersetzen wir uns dem Wunsch des Imperators.« »Wenn wir jetzt aufhören, Commodore, ist der Krieg noch immer nicht gewonnen. Wir müssen das bis zum Schluss durchziehen, ob es der Regierung, Admiral McMasters, der Admiralität und dem Imperator nun gefällt oder nicht.« »Wir sind auf dem besten Weg, eine ganze Spezies auszulöschen.« »Wenn die Zor sich nicht ergeben, wird es darauf hinauslaufen.«
Marais saß da und sprach in aller Seelenruhe vom Tod eines ganzen Volks. Es hatte in seinem Buch gestanden, er hatte es in seiner Ansprache an die Flotte und die Offiziere gesagt - und jetzt waren sie nur noch wenige Tage von der Verwirklichung seiner Ziele entfernt. Es würde kein Wunder geschehen, die Zor würden sie nicht zurückschlagen können, und ebenso wenig würden sie sich ergeben. Die Zor würden bis zum bitteren Ende kämpfen, und Marais würde dieses Abschlachten in Szene setzen. Jahrmillionen der Evolution und Jahrtausende der Zivilisation würden verschwinden. Es war ein Verbrechen von unvorstellbaren Dimensionen. »Achtzehn Schiffe sind während der letzten Wache ins System gesprungen. Die Commander wissen, dass Sie nicht mehr das Kommando haben, doch sie wollen Ihnen dennoch folgen. Sie sind der Ansicht, dass Ihre Befehle wichtiger sind als die, die sie von Seiner Imperialen Hoheit bekommen.« »Wer weiß alles, dass man mich zurückgerufen hat?« »Die Gerüchte kursieren überall, Mylord, aber die Neuankömmlinge warten nahe dem Sprungpunkt darauf, welchen Befehl Sie geben.« »Die Flotte wird es erfahren müssen. Ich kann es vor ihr nicht 94 geheim halten, vor allem nicht mit Blick darauf, was noch vor uns liegt.« Sergei sah kurz zu Stone, der pervers lächelte, als gefalle ihm die Situation. »Was geht Ihnen durch den Kopf, Commodore?« »Sir?« »Sie haben eindeutig nicht erwartet, dass sich unsere Situation so entwickeln könnte. Ich dagegen habe spätestens seit S'rchne'e damit gerechnet. Etwas bereitet Ihnen Sorge, Torrijos. Raus mit der Sprache.« »Admiral, wir haben unsere ... Vernichtungskapazität den Zor gründlich genug vorgeführt. Innerhalb weniger Wochen oder Monate können wir jede Siedlung auf dieser Seite der Verwerfung ausradieren. Unser Feind wird trotzdem so hartnäckig sein wie zuvor. Allerdings dürften Sie in der Flotte manche Offiziere finden, denen etwas anderes vorschwebt als die Auslöschung einer kompletten Spezies. Die neu eingetroffenen Captains haben gegen ihre vorgesetzten Offiziere gemeutert, um sich Ihnen anzuschließen. Aber es gibt nur eine logische Erklärung dafür, wenn sie nicht alle freiwillig zusammen mit ihren Leuten ins Gefängnis wandern oder aus einer Luftschleuse gestoßen werden wollen. Sie wollen Sie zum Imperator machen.« Marais lächelte, als er das hörte, während Stone überrascht schien, da er sich vorbeugte, um besser mithören zu können. »Imperator.« Marais stand auf und ging langsam zur automatischen Küche. Er bestellte einen Fruchtsaft, der lautlos in der Ausgabe auftauchte. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, stellte er das Glas auf einem Tresen ab. »Ja, Sir.« »So, so.« Er lehnte sich gegen den Tresen. »So haben wir auch unseren ersten Imperator bekommen. Das hatte ich nicht geplant, und ich plane es auch jetzt nicht. Ich fühle mich immer noch an meinen Eid und meine Befehle gebunden, aber ich kann auch verstehen, warum sie möglicherweise so denken.« 94 »Sie haben keine andere Wahl, als so zu denken, Mylord. Die meisten Offiziere und Besatzungsmitglieder auf diesen Schiffen sind Bürgerliche. Ihnen droht die Hinrichtung, wenn sie ins Imperium zurückkehren, ohne dass eine ... eine ihnen freundlich gesinnte Person auf dem Thron sitzt.« »Wollen Sie damit andeuten, dass ich die moralische Verantwortung für deren Handeln trage?« Marais ging wütend zurück zum Sessel und setzte sich, dann warf er Sergei einen stechenden Blick zu. »Wollen Sie damit sagen, dass ich wegen des übereilten Handelns einiger Captains jetzt die Krone des Imperiums anstreben muss?« »Ich deute nichts in dieser Art an, Admirai. Sie werden tun, was Sie tun müssen. Ich habe mich dazu verpflichtet, Ihre Befehle zu befolgen, weil ich glaube, dass der Sieg über die Zor - so wie wir ihn definiert haben - unsere wichtigste Aufgabe überhaupt ist. Aber ich kann nicht ins Imperium zurückkehren, da ich genau wie Sie direkte Befehle der Admiralität und des Imperators missachtet habe. Philosophisch mögen wir im Vorteil sein, aber unsere rechtliche Grundlage steht auf wackligen Beinen.« »Allgemeine Order 6...« »Bitte, Mylord.« Sergei hob seine Hand. »Mir müssen Sie das nicht sagen. Ich stehe hinter Ihnen, Sir, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass meine Unterstützung von großer Tragweite sein wird. Wie Sie vor einigen Wochen ganz richtig bemerkten, hatte ich die Gelegenheit, die Befehle zu befolgen und Sie Ihres Kommandos zu entheben. Ich habe es nicht getan, und wenn Sie schuldig sind, bin ich es auch. Der Rest der Flotte wäre aus dem Schneider, aber Sie und ich wird man hängen, wenn vor Gericht Ihre Argumente nicht zugelassen werden. Es ist unwahrscheinlich, dass man etwas zu Ihren Gunsten vorbringen wird. Was die Offiziere und
die Besatzungen angeht, die sich Ihnen angeschlossen und ihre direkten Befehle missachtet haben, werden sie am Ende entweder als Helden oder als Verräter dastehen - abhängig davon, wer dann auf dem Thron sitzt.« 95 »Aber das war nie meine Absieht«, wiederholte Marais leise. Er drehte sich zu Stone um, der wortlos das Ganze verfolgt hatte. Sergei hatte den Adjutanten schon fast vergessen - aber nur fast. »Das ist alles Spekulation, bis der Krieg vorüber ist«, sagte Stone ruhig. »Dem muss ich widersprechen«, konterte Sergei. »Es ist jetzt und hier von größter Wichtigkeit, weil der Admiral entscheiden muss, wo seine Verantwortung und auch seine Loyalität wirklich liegen. Ich würde vermuten, dass der größte Teil der Flotte ihm folgen wird, doch die Leute müssen die Wahrheit wissen.« Stone legte den Reader zur Seite. »Commodore Torrijos ist in seinen Ausführungen sehr wortgewandt, Mylord. Aber sein naiver populistischer Appell hat in der Imperialen Navy nichts zu suchen. Ich kann nicht verstehen, wieso er sich von ihnen nicht verabschiedet hat, als er in den Flagg-Dienstgrad aufgestiegen ist. Die Meinung einiger Unzufriedener ...» Er hielt inne und sah zu Sergei.»... ändert nichts daran, dass die Flotte hinter Ihnen steht. Es ist nicht nötig, sich mit anderen Offizieren als dem Seniorstab zu beraten.« Sergei ließ sich von Stones Blicken nicht einschüchtern, suchte aber nach einem Weg, wie er seine Wut auf den Mann sinnvoll nutzen konnte. Dieser Hurensohn wollte mich aus einer Luftschleuse stoßen, hielt er sich vor Augen. »Lassen Sie mich in Ruhe darüber nachdenken. Commodore, wir unterhalten uns später. Stone, Sie können für den Augenblick wegtreten.« Er nahm seinen Reader und reagierte mit einem Kopfnicken, als die beiden Offiziere salutierten. Im Korridor ging Sergei sofort in die andere Richtung davon, blieb aber stehen, als sein Name gerufen wurde. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich meinem Dienstgrad entsprechend anreden«, gab er wütend zurück und wandte sich zu dem Adjutanten um, der an der Tür stehen geblieben war. »Ich bitte um Verzeihung, Commodore Torrijos«, erwiderte Stone voller Ironie. »Wenn wir schon so höflich miteinander umge95 en, möchte ich die Gelegenheit nutzen und Sie warnen, dass Sie it auf sich aufpassen sollten, Sir.« »Das ist das zweite Mal, dass Sie mir drohen, Stone. Vielleicht möchten Sie ja in Ketten gelegt werden.« Stone lachte auf eine Weise, die wie ein Mittelding zwischen einem Gackern und einem Hustenanfall klang. »So was! Ein Populist mit Sinn für Humor. Sie scheinen zu vergessen, mit wem Sie reden.« Mit einem Mal wurde er todernst. »Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Commodore. Admiral Marais weiß genau, was er macht. Seine Methoden und Absichten sind nichts, was Sie in Frage zu stellen haben. Sie sind nur da, um Befehle auszuführen und in militärischen Fragen Ratschläge zu geben. Das ist das Einzige, was Sie zu interessieren hat. Ich muss Ihnen nicht drohen. Warum auch? Merken Sie sich nur eines: Wer versucht, sich dem Admiral und seiner Mission in den Weg zu stellen, wird den Tag verfluchen, an dem er geboren wurde.« Ohne ein weiteres Wort machte Stone auf der Stelle kehrt und ging in die andere Richtung, während Sergei dastand, die Fäuste ballte und vergeblich überlegte, was er erwidern konnte. 95
11.
Kapitel
»Als Erstes«, sagte Marc Hudson und probierte von der Suppe, »brauche ich einen erstklassigen Feuerleitoffizier. Als Zweites brauche ich einen guten Koch.« Er lächelte. »Hey, das schmeckt verdammt gut.« Zustimmende Laute kamen von den anderen an der Tafel. Der private Speiseraum der Biscayne befand sich nahe dem Quartier des Captains, nicht weit entfernt von der Offiziersmesse. Der Raum war groß genug, um acht Gästen ausreichend Platz zu bieten. An diesem Abend waren nur fünf anwesend: Marc Hudson als Gastgeber, Alyne Bell von der Gagarin, Bert Halvorsen von der Mycenae, Tina Li von der Sevastopol, außerdem Sergei. Das Essen war serviert worden, danach hatte Hudson die Offiziersburschen weggeschickt und den Raum auf Sergeis Befehl hin sprachversiegelt. Mit gewissen Einschränkungen genossen sie in diesem Moment so viel Privatsphäre, wie es an Bord eines imperialen Schiffs möglich war. Sergei saß in seinem bequemen Sessel. »Ich danke Ihnen, dass wir bei Ihnen an Bord sein dürfen, Marc. Wie die meisten von Ihnen wissen dürften, sind Sie auf meine Bitte hergekommen. Ich möchte Sie nicht während des ganzen exzellenten Mahls im Unklaren lassen, sondern sofort zum Thema kommen. Vorweg ein paar Formalitäten. Es wäre mir lieb, wenn wir für die Dauer unserer Unterhaltung auf Titel und >Sir< verzichten
könnten und uns stattdessen mit dem Vornamen ansprechen. Mir ist der Gedanke lieber, mit einigen engen Freunden zu reden, anstatt an einer 96 Stabsbesprechung teilzunehmen. In diesem Zusammenhang versichere ich Ihnen auch, dass Sie alle das Privileg der Offiziersmesse genießen. Sagen Sie also, was immer Ihnen durch den Kopf geht.« Er nahm den Suppenlöffel und tauchte ihn gedankenverloren in die dampfende Suppe auf dem Teller vor ihm. »Es gibt eine sehr ernste Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss, und ich ziehe Sie alle ins Vertrauen, weil ich unbedingt Ratschläge hören muss. Erstens: Der Angriff auf A'anenu wurde ausgeführt, obwohl die Admiralität Waffenruhe angeordnet hatte. Offenbar hatten die Zor ein Friedensangebot unterbreitet. Die Regierung befahl der Flotte, bei S'rchne'e zu warten, da ein ziviler Bevollmächtigter dorthin unterwegs war. Der Admiral ignorierte die entsprechende Depesche und berief sich dabei auf die Allgemeine Order 6. Er behauptete, im Kriegsgebiet sei er die einzige Autorität.« »Ich bitte um Verzeihung, Comm... Sergei.« Alyne Bell musste kurz lächeln, als sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. »Wir sind doch hier, weil die Zor gegen einen Friedensvertrag verstoßen haben. Sie haben schon früher Friedensangebote unterbreitet, die wir jedes Mal annahmen. Oder besser gesagt: Die Zivilregierung nahm sie an. Das musste doch auch diesmal eine List sein.« »Da stimme ich zu. Aber das ist noch nicht alles. Der Admiral erklärte, es sei von entscheidender Bedeutung, diesen Befehl zu ignorieren, weil das für das Hohe Nest der Zor ein besonderes Signal sei.« »Die >Dunkle Schwingen, sagte Bert Halvorsen. Als die anderen Offiziere ihn fragend ansahen, machte Bert es sich auf seinem Platz etwas bequemer und schaute Sergei an, der daraufhin nickte. »Vor dem Angriff auf A'anenu ließ Marais einen Stabsbericht zusammenstellen, in dem wir unsere Mutmaßungen äußern sollten, was die Zor wohl als Nächstes machen würden. Wir schlossen aus den Erfahrungen der Vergangenheit, sie würden es uns so schwer wie möglich machen und sich überall verbuddeln. Dann würden wir die Marines losschicken, um sie aus ihren Löchern zu 96 holen. Diese schwachsinnige Idee geht auf mich zurück, wie Sergei weiß, doch Admiral Marais versuchte, das dem armen Uwe Bryant anzuhängen. Marais wollte, dass wir ihm das Ganze vortragen, und als Uwe das zum Teil hinter sich gebracht hatte, fiel ihm der Admiral ins Wort und erzählte uns allen, dass es genau umgekehrt sei. Die Zor würden lieber alle anderen Planeten ungeschützt zurücklassen, um sich auf A'anenu zu konzentrieren.« »Womit er auch Recht hatte«, meinte Tina Li. »Aber nicht ganz. Er sagte, A'anenu sei für ihre Strategie von entscheidender Bedeutung, und sie würden die Basis mit allen verfügbaren Kräften verteidigen. Tatsächlich aber entpuppte sich das Ganze als eine riesige Falle. Fragen Sie Marc.« Hudson nickte. »Sie wollten die Station sprengen und dabei alle unsere Marines und vier bis fünf Schiffe mit in die Luft jagen. Um ein Haar wäre es ihnen auch gelungen.« »Das ist doch verrückt«, warf Tina ein. »Ohne A'anenu hätten... hatten sie doch gar keine Möglichkeit, den Krieg auf dieser Seite der Verwerfung fortzuführen.« »Aber sie hatten ja auch ein Friedensangebot unterbreitet«, sagte Sergei. »Dessen Sinn bestand darin, dass sie ihre Feindseligkeiten einstellen und sich von einigen Welten zurückziehen, wenn wir die Finger von A'anenu lassen. Natürlich hätten sie einen großen Teil ihrer Feuerkraft von dort abgezogen...« »Welche Regierung würde so dumm sein, ein derartig albernes Angebot anzunehmen?«, fragte sie und lehnte sich nach hinten. »Die offensichtliche Antwort?«, gab Marc zurück und sah zu Sergei, als bitte er ihn erst um Erlaubnis. »Wie wäre es mit einer Regierung, die glaubt, dass ihr die Kontrolle über den Krieg entglitten ist? Bedenken Sie, dass die Vernichtung von Welten wie L'alChan und R'h'chna'a durchaus als brutal zu bezeichnen ist -aber nicht brutaler als die Angriffe der Zor in der Vergangenheit. Und trotzdem wird zu Hause von Grausamkeiten und Kriegsverbrechen gesprochen.« »Hysterische Zivilisten, weiter nichts«, hielt Alyne Bell dagegen. 96 »Die Regierung kann jegliches Wissen über Einzelheiten leugnen. Wir siegen, Admiral Marais wird mit einer Parade belohnt, alle halten die Flagge hoch, und in sechs Monaten ist die ganze Aufregung wieder vergessen.« »Glauben Sie wirklich, es wäre so einfach? Dem ist aber nicht so.« Marc lächelte sie an. »Noch ein Glas Wein?« Er schenkte ihr ein und fuhr fort: »Sehen Sie, da ist noch das Problem einer pazifistischen Opposition Akademiker, Xenologen, sogar angehende Politiker. Die Commonwealth-Partei wartet seit Jahrzehnten
darauf, der Dominion-Partei etwas anhängen zu können. Und genau das werden sie machen, auch wenn jeder Bürger des Imperiums durch die Zor einen Verwandten verloren hat. Wir zählen nicht so sehr, aber was wir tun und wie wir es tun, hat Auswirkungen auf das, was sich zu Hause abspielt. Je länger der Krieg andauert und je brutaler die Bilder aus dem Kriegsgebiet werden, umso schlimmer wird es für die Regierung. Nach Pergamum waren sie alle auf unserer Seite. Jetzt, ein paar Monate später, wollen sie, dass Schluss ist. Aber es ist noch nicht Schluss.« Er schenkte sich noch ein Glas Wein ein, dann lehnte er sich zurück, da er gesagt hatte, was er sagen wollte. »Wir sind etwas vom Thema abgekommen«, meinte Bert. »Der wichtigste Punkt ist der Grund für die Entscheidung des Admirals, A'anenu zum nächsten Ziel zu erklären. Im Wesentlichen hat er all unsere logistischen Analysen über Bord geworfen, weil er eine Depesche von Qu'useyAn erhielt. Ein Zor-Commander hatte eine mythologische Allegorie benutzt, um die imperiale Flotte zu beschreiben. Aus irgendeinem Grund standen wir auf einmal nicht mehr völlig außerhalb ihrer Kultur und Religion, sondern waren plötzlich die Bringer der Vernichtung - etwas namens »Dunkle Schwingen Wir - und vor allem der Admiral - waren schlagartig zu etwas Bedeutsamem geworden.« Halvorsen spielte mit seinem Weinglas. »Und deshalb griffen wir A'anenu an.« Marc rieb sich das Kinn. »Das ist verdammt noch mal das Dümmste, was ich je gehört habe.« Er ließ seinen Blick schweifen 97 und grinste dann. »Ich darf ja hoffen, dass das Privileg noch Gültigkeit hat.« »Ja, hat es«, erwiderte Sergei lächelnd. »Hinzu kommt, dass ich mich freue, zwei Dinge bestätigen zu können: Bert hat Recht, und in gewisser Weise Marc auch. Und Marais ebenfalls. Dieser Feldzug hat wirklich das bewirkt, was Bert sagte: Marais ist in den Augen der Zor eine mythische Figur geworden. Sie halten ihn für die Dunkle Schwinge.« »Das ist das Zweitdümmste, was ich je gehört habe«, meinte Marc einen Moment später. »Aber es ist wahr, und Marais glaubt es. Das ist extrem wichtig, weil beim Angriff auf A'anenu etwas geschah... Marais wurde seines Kommandos enthoben.« Einer ließ den Löffel fallen, jemand rutschte mit seinem Stuhl nach hinten. Niemand entgegnete etwas, doch Sergei wusste, dass die anderen vier Offiziere aufmerksam zuhörten. »Ich habe die Depesche gesehen. Sie hat in der Flotte die Runde gemacht, nur hier bei A'anenu wohl noch nicht. Die Schiffe, die jetzt erst eingetroffen sind, wissen aber von Marais' Entmachtung. Deshalb sind sie hier.« »Um ihn zu verhaften?«, fragte Bert. »Um sich ihm anzuschließen«, antwortete Sergei. »Sie haben sich über ihre direkten Befehle hinweggesetzt, um herzukommen. So wie ich auch. Marais hatte mir die Depesche gezeigt und mich wissen lassen, ich sei der Einzige, der den Angriff auf A'anenu noch abwenden könnte, indem ich ihn sofort seines Postens enthebe. Er hat noch nicht entschieden, wann oder wie er dem Rest der Flotte sagen wird, was wir bereits wissen. Marais hat jetzt die Linie zwischen Insubordination und Verrat überschritten. Indem ich Ihnen das erzähle, habe ich das Gleiche gemacht. Zum ersten Mal seit sechzig Jahren haben wir gegen die Zor echte Erfolge erzielt ... und wir haben die Entscheidung in der Hand, ob wir jetzt einfach unsere Chance vergeben oder vom Sol-Imperium als Verräter gebrandmarkt werden.« 97 »Und warum sagen Sie uns das alles?«, wollte Tina Li wissen, nachdem sekundenlang Stille geherrscht hatte. »Sollen wir die Entscheidung für Sie treffen?« »Nein, nicht für mich. Ich habe mich bereits entschieden.« Er wischte sich den Mund ab und legte die Serviette sorgfältig gefaltet auf den Tisch. »Marais hat die ganze Zeit über immer wieder erklärt, dass ein Nachgeben - auch auf Befehl - gegen seine vorrangige Verantwortung verstößt, nämlich die Sicherheit des Solimperiums und insbesondere der Neuen Territorien und anderer Gebiete nahe dem Zor-Territorium zu gewährleisten. Wir beabsichtigen, das umzusetzen, was ihm ursprünglich durch den Imperator persönlich aufgetragen wurde. Der Admiral kann sich nicht durch nunmehr anderslautende Befehle aufhalten lassen, wenn er sein Ziel erreichen will. Ich glaube an ihn, und ich habe mich dazu verpflichtet, ihm bis zum Ende zur Seite zu stehen.« »Die Befehle des Imperators und auch die Allgemeine Order 6 waren nie dazu gedacht, die Auslöschung einer ganzen Spezies zu rechtfertigen«, machte Marc klar. »Vor allem die Order stammt aus einer Zeit, in der ein Commander an der Front nicht jede Woche nachfragen konnte, wie er vorgehen sollte.« »Das stimmt. Philosophisch betrachtet legt der Admiral die Allgemeine Order 6 sehr weit aus. Er wird sagen, dass das Gesetz seinem genauen Wortlaut entsprechend angewandt wird und dass weder die Admiralität noch
sonst jemand die Absicht dieses Gesetzes zu interpretieren hat. Wir befinden uns immer noch in einem Kriegsgebiet, und bestimmte Vorschriften regeln seine Macht, die er hier ausüben kann.« »Wie zum Beispiel Massenhinrichtungen«, fügte Marc Hudson leise an. Sergei warf ihm einen stechenden Blick zu und fragte sich, was diese Bemerkung bedeuten sollte. Hudson sagte aber nichts weiter. »Auf jeden Fall, Tina, habe ich entschieden, dass ich es hinnehmen kann, wie Marais die Regeln auslegt. Ich kann ihn nicht guten Gewissens seines Postens entheben. Wenn er für die Zor wirk 98 lieh die >Dunkle Schwinge« geworden ist, dann würde ich hier die ganze Flotte in Gefahr bringen, wenn ich ihn absetze. Zu Hause mag man das durchaus als Meuterei auslegen, aber damit muss ich leben. Nein, ich will nicht, dass Sie für mich entscheiden, aber Sie sollen für sich entscheiden.« »Und wenn wir entscheiden, dass Marais verrückt geworden ist? Oder dass Sie verrückt geworden sind?«, wollte Bert Halvorsen wissen. »Dann nehme ich an, dass Sie irgendwo hingeschickt werden, wo Sie abwarten, bis es vorüber ist. Aber für die Admiralität sind Sie dann keine Verräter. Wer sich weigert, sich meuternden Offizieren anzuschließen, ist schließlich ein loyaler Offizier.« »Was die Meuterer aber nicht so sehen werden«, gab Marc zu bedenken. »Und wenn die einen ins Vakuum stoßen wollen, fragt man sich schon, ob man überhaupt eine Wahl hat.« Als die Offiziere auf ihre Schiffe zurückkehrten, fasste Marc Sergei am Ellbogen, um ihm zu bedeuten, er solle noch einen Moment warten. Als die drei anderen gegangen waren und Marc sich von der Sprachversiegelung des Raums überzeugt sowie zudem den Zugangskode verändert hatte, sagte er: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.« »Wieso?« »Weil ich vor Monaten Ihre Bedenken nicht ernst genommen habe. Das hier ist nicht das, was wir dachten.« »Das macht nichts. Niemand hätte ahnen können, dass er so etwas vorhaben würde.« Sergei nahm ein Weinglas, hielt es gegen das Licht und stellte es zurück auf den Tisch. »Ist es wirklich das, was er vorhatte? Wir hatten damals über Marais gesprochen, wer er ist, woher er kommt. Er ist ein Gelehrter, und er ist intelligent. Ich kann ihn mir vorstellen, wie er dasitzt und das verdammte Buch schreibt. Aber dieser Feldzug hat eine Dimension angenommen, die in keinem Verhältnis zu den Dingen steht, die er geschrieben hat. Und er ist Admiral geworden. 98 Und die Zor haben begonnen zu glauben, dass er die Dunkle Schwinge ist, ihr Todesengel.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Irgendetwas sehr Seltsames spielt sich hier ab. Mit Ihren Neuigkeiten wird das Bild allmählich klarer. Marais, ein Niemand, steuert die gesamte Flotte in ein moralisches Dilemma: Geben wir den Krieg auf, an den wir inzwischen alle glauben? Oder tun wir, was notwendig ist, und machen ihn dann zum Imperator?« »Das will er nicht«, sagte Sergei. »Mag schon sein, aber ihm bleibt bald keine andere Wahl mehr. Und jedem, der auf einmal kalte Füße bekommt, wird angedroht... wie soll ich das formulieren? ... er könne ja im Vakuum weiteratmen.« »Sie wurden bedroht?« »Noch nicht. Aber Uwe Bryant, nachdem herausgekommen ist, dass er die Überflug-Logbücher von R'h'chna'a Freunden seines verstorbenen Großvaters in der Imperialen Versammlung zugespielt hatte. Ich glaube kaum, dass er sein Zuhause je wiedersehen wird.« »Wer hat die Drohung ausgesprochen?« »Kommen Sie, Sergei, nehmen Sie mich nicht auf den Arm. Sie wissen verdammt gut, wer das was. Die gleiche Person, die auch nichts dagegen hätte, wenn Ihnen etwas zustößt. Die Person, die versucht hat, auf die persönlichen Logbücher der Biscayne zuzugreifen - und vermutlich auch auf alle Logbücher der restlichen Flotte. Passen Sie auf sich auf, Commodore. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Eher würde ich einem Zor vertrauen, bevor ich ihm glaube, dass ersieh an irgendwelche Spielregeln hält.« Sergei musste noch immer einen Bericht fertig stellen. Bevor er die Biscayne verlassen konnte, gab es eine weitere Sache, um die er sich kümmern sollte. Ob es Vorsicht oder durch Marc Hudsons Worte ausgelöste Paranoia war, wusste er nicht - auf jeden Fall wollte er das Gespräch an einem sicheren Ort stattfinden lassen. 98 Hudson hatte diese Möglichkeit offenbar schon in Erwägung gezogen und überließ ihm seinen Arbeitsraum. Nachdem er dem Commodore den Schlüssel für die Sprachversiegelung gegeben hatte, ging er weg. Kaum war Sergei allein, rief er den zur Hälfte fertig gestellten Bericht auf und las ihn durch. Es war eine umfassende Abhandlung über den bisherigen Verlauf des Krieges, zusammengestellt aus seinen persönlichen
Logbüchern und den Berichten seiner Untergebenen. Aber etwas Wesentliches fehlte noch, auch wenn er nicht sagen konnte, was es war. Doch er wusste, wer ihm weiterhelfen konnte. »Sie wollten mich sprechen, Sir?« Er trug seine normale Dienstuniform, doch Sergei schloss daraus, dass der Marine es für wichtiger hielt, schnell zu reagieren, anstatt sich erst noch umzuziehen. Das schien Sergei zu gefallen. Er nickte und deutete auf den Sessel ihm gegenüber. »Danke, dass Sie so schnell reagiert haben, Boyd. Mir ist klar, dass man Sie während der letzten Wachen ziemlich herumgestoßen hat, aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen.« »Ich bin froh, wenn ich helfen kann, Sir«, gab Boyd zurück. Er ging steif zum Sessel, nahm Platz und legte seine Uniformkappe auf den Schoß. Er saß aufrecht da, auch wenn Sergei auffiel, dass er ein klein wenig den Kopf einzuziehen schien. »Vielleicht«, begann Sergei, als er ebenfalls saß, »können Sie mir deutlich machen, was auf der Basis geschah.« »Sir...« Boyd sah ihn ein wenig nervös an. »Ich bin davon überzeugt, Sir, dass meine Vorgesetzten alle Einzelheiten in ihren Berichten zusammengetragen haben... Major Perez vielleicht...« »Ich habe seine Kommentare gelesen, aus denen sich ergibt, dass Ihr Handeln entscheidend dazu beitrug, die Kommandobrücke einzunehmen. Ich möchte, dass Sie mir Ihre Erfahrung mit eigenen Worten beschreiben.« »Mein Trupp war einer von mehreren, die in die Basis vordran 99 gen, Sir. Es gelang uns, einen Raum oberhalb der Kommandobrücke zu erreichen, und ich vernichtete den ... den Selbstzerstörungsmechanismus, indem ich auf ihn schoss. Irgendwann muss ich das Bewusstsein verloren haben, weil ich mich nur daran erinnern kann, dass ich auf der Krankenstation der Gagarin wieder aufwachte, Sir.« »Ist das alles?« »Alles, Sir?« »Ist sonst nichts auf der Basis geschehen, Sergeant? Sie stießen zufällig auf einen Raum über der Brücke? Und Sie hatten das große Glück, auf den Selbstzerstörungsmechanismus zu feuern? Wieso haben Sie ausgerechnet darauf gefeuert? Die Brücke muss doch voll von möglichen Zielen gewesen sein.« »Stimmt, Sir.« Der große Marine straffte ein wenig die Schultern, dann sah er zu Boden. »Ich wusste es einfach.« »Wie meinen Sie das?« »Ich sah es.« »Wo?« »Im Geist eines Zor, Sir.« Sergei sah Boyd lange an, verzog aber keine Miene. »Das müssen Sie mir schon erklären, Sergeant. Am besten beschreiben Sie mir im Detail, was sich auf der Orbitalbasis abspielte.« Es war nicht zu übersehen, dass Boyd etwas wusste, aber von niemandem dazu befragt worden war. Genauso klar war, dass er einen Grund hatte, nicht darüber zu reden, und Sergei glaubte, diesen Grund zu kennen. Boyd atmete tief durch. »Ich werde Ihnen beschreiben, wie ich die Einnahme der Station - Ka'ale'e A'anenu wahrgenommen habe.« Er sprach das Zor-Wort so selbstverständlich aus, dass Sergei ihn fragend ansah, doch der Mann redete bereits weiter. »Die Station war zum größten Teil verlassen. Die Zor hatten überall Fallen installiert. Alle Schleusen waren auf die gleiche Art vorbereitet worden, weshalb jeder Trupp einige Leute verlor, ehe 99 klar wurde, was da lief. Unsere Marschrichtung war uns durch einen Plan von General Harbison von der Gagarin vorgegeben, wie Sie wissen, Sir. Wir hatten einen Karten-Comp, der uns vom Rand durch die Station lotsen sollte, aber wir kamen nur langsam voran. Es war schwierig, sich zu orientieren und Räume von Korridoren zu unterscheiden... deshalb stießen wir auch überhaupt nur auf den Schrein.« »Was für eine Art von Schrein?« »Es war wie eine 3-V-Bühne, Sir. Dort gab es die Holo-Projektion einer Wüstenszene, die bis hin zur orangefarbenen Sonne exakt wiedergegeben war. Die Szene zeigte einen Ort auf Zor'a, nahe...« Er hielt inne, als sei er sich nicht sicher, ob er wusste, was er sagen würde, oder ob er das nur glaubte. »... nahe der Hauptstadt. Das Wichtigste dieses Schreins war allerdings die esLiHe-ShuSa'a.« »Ich frage Sie jetzt nicht, woher Sie das Wort kennen, aber was eine esLiHe...« Sergei musste unwillkürlich lächeln. »Ich versuche wohl besser nicht, es nachzusprechen.«
»Eine esLiHeShuSa 'a ist eine Scheibe, Sir, die für Gebete oder zur Meditation genutzt wird. Die, auf die wir stießen, war groß genug, dass mehrere Zor aufrecht in ihr stehen konnten. Sie war rund einen halben Meter dick und schwebte in einem Null-Grav-Feld in etwa einem Meter Höhe. Überzogen war sie mit hRni'i...« »Das ist mir ein Begriff. Erzählen Sie weiter.« »Warum ich das tat, weiß ich noch immer nicht. Auf jeden Fall stieg ich hinein, und dann geschah etwas. Ich spürte, wie ich in Kontakt trat mit...« Er sah zur Seite, als versuche er, das Gefühl erneut zu empfinden, um sich zu erinnern. Er straffte ein wenig die Schultern und bewegte sie leicht nach hinten, dann kehrten sie in ihre ursprüngliche Position zurück. »... mit einem Wesen. Vielleicht auch mit einer Gruppe von Wesen, die alle den Namen esLi riefen. Dann stürmte etwas in meinen Geist, ich glaubte, ich sei ein Zor. Irgendwie verlor ich das Bewusstsein, mein Trupp zerstörte die esLiHeShuSa'a. Nach einigen 100 sehr sonderbaren Träumen wachte ich auf, und alles war wieder normal. Das heißt ... nicht ganz.« Er setzte sich aufrechter hin, mehr wie ein Marine es tat. »Ich konnte die hRni'i an den Wänden lesen. Ich wusste, was eine esLiHeShuSa 'a ist, und wofür man sie benutzt. Als wir die Kommandobrücke erreichten, konnte ich fühlen, was sich abspielte. Die Fühlenden auf der Brücke versuchten, das Ritual der saHu 'ne, der Selbstzerstörung, zum Abschluss zu bringen. Das esL'en 'YaAr war wie das esLiHeShuSa 'a, nur viel kleiner. Ich erkannte es sofort, und ich merkte, wie einer von ihnen sein gyu'u nach ihm ausstreckte...« »'gyu'u'?« »Ahm... >Klaue des Verstandst ist die beste Übersetzung, die ich Ihnen bieten kann, Sir. Ich sah, wie er sich danach ausstreckte und im Geist den Zerstörungsmechanismus aktivierte. Daraufhin eröffnete ich das Feuer. Er... fühlte es, er war im Geist noch eng damit verbunden, und ich ebenfalls. Ich konnte es zerstören, auch wenn ich seine mentalen Schreie ertragen musste.« Boyd machte die Augen zu und zog die Schultern ein wenig hoch, wobei er die eine Seite etwas höher hielt als die andere. »Sie hörten sein mentales Schreien?« Boyd öffnete die Augen. »Ich kann es noch immer hören, Sir. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen besser beschreiben, Sir.« Sergei griff nach einem Stylus und notierte etwas auf seinem Reader. »Sergeant, ich habe mir Ihre Dienstakte angesehen. So wie es aussieht, haben Sie sehr schlecht abgeschnitten, als Sie auf Ihre Eigenschaften als Fühlender getestet wurden, und Sie zeigten auch nur eine durchschnittliche Begabung für Fremdsprachen. Wie passt das zu den Dingen, die Sie mir soeben beschrieben haben? Ihre Erfahrung müsste Sie zum stärksten Fühlenden machen, den man sich vorstellen kann. Nennen Sie es engstirnig, wenn Sie wollen, aber ich bin verdammt skeptisch.« »Das ist auch Ihr gutes Recht, Sir. Mein Corporal war es auch, und ich musste ihn davon überzeugen, dass es mir gut geht, auch wenn ich in ein fremdes Artefakt gestiegen und danach mit ru 100 dernden Armen umhergelaufen bin, während ich in der Hochsprache Worte geschrien habe. Er dachte, ich hätte mein Hirn in der Luftschleuse zurückgelassen. Aber ich kann jetzt die Hochsprache verstehen, Commodore. Ich kann sie ein wenig lesen. Und ich kann hRni'i lesen. Ich bin nicht mehr derselbe.« Sergei tippte mit dem Stylus auf den Reader und rief eine Datei auf, die in der komplexen Sprache der Zor geschrieben war. Dann hielt er Boyd den Reader hin. »Was stellt das dar?« Boyd nahm den Reader und las. Seine Miene verfinsterte sich, er ließ die Schultern sinken, und schließlich sah er Sergei an. »Das ist eine Übermittlung der Zor, Sir, aber sie liest sich mehr wie ein Gedicht. Ich kann Ihnen die Quelle nicht nennen, aber es geht um eine Konfrontation zwischen einem großen Helden - er wird hier Qu'u genannt - und einer bösen Macht. Nein, keine böse Macht, sondern Finsternis, Zerstörung. Irgendeine Macht. Das Wort lautet esHu'ur, es bedeutet...« Er versuchte, ein Äquivalent zu finden, doch es gelang ihm nicht. »>Die Dunkle Schwinge««, unterbrach Sergei ihn und nahm den Reader an sich, um die Anzeige zu löschen. »Also gut, ich glaube, ich bin bereit, Ihre Geschichte für bare Münze zu nehmen. Wer weiß noch von Ihrer... Ihrer Erfahrung?« »Mein Trupp, Sir. Aber soweit ich weiß, hat es von ihnen niemand weitererzählt. Ich hielt es auch für das Beste, diese Details in meinem Bericht für Lieutenant Hong nicht zu erwähnen.« »Wieso nicht?« Sergei kannte die Antwort längst. »Weil man mir dann ein Zimmer in der Psychiatrie reserviert hätte, Sir. Posttraumatischer Stress. Kampferschöpfung. Das tut der Karriere nicht gut, Commodore.« »Sergeant, Ihnen ist doch wohl klar, dass ich Ihnen das Leben zur Hölle machen könnte, weil Sie den Vorfall nicht gemeldet haben, oder?«
»Als Sie mit Ihren Fragen begannen, Sir«, antwortete Boyd und lehnte sich nach vorn, während er die Arme herunterhängen ließ, »dachte ich mir, dass etwas nicht stimmt. Nach allem, was ich über 101 Sie gehört habe, gab es keinen Grund, Ihnen die Sache zu verheimlichen. Ich dachte nur, Sie würden mir nicht glauben.« »Oh, ich glaube Ihnen.« Sergei griff nach einem rosafarbenen Kristall, den Marc offenbar als Briefbeschwerer benutzte, und spielte damit. »Es ist unmöglich, dass Sie diese Übermittlung zuvor gesehen haben könnten. Nicht mal in der übersetzten Fassung. Es gibt in der Flotte nicht mal ein Dutzend Leute, die den Text lesen können - den Admiral eingerechnet, Sie nicht. Bis gerade eben jedenfalls. Sechzig Jahre lang waren uns die Zor völlig fremd. Ein paar von ihnen - Diplomaten und Gelehrte - haben uns einen Besuch abgestattet, und noch weniger Menschen - der Admiral ist einer von ihnen - haben die Welt der Zor aufgesucht.« Er sah Boyd einige Sekunden lang an. »Und nun reden Sie von einem grundlegend anderen Verständnis. Sie behaupten, Sie hätten die Grenze überschritten bis hin zu einem Punkt, an dem Sie... was geteilt haben? Gedanken? Gefühle? Sie können einen Zor-Text lesen, Sie verstehen ihre Sprache. Körperlich haben Sie sich nicht verändert, aber Sie könnten eine... metaphysische Veränderung durchgemacht haben. Was mich zu einer wichtigen Frage bringt, Boyd. Sind Sie wirklich noch ein Mensch?« »Sir?« Wieder setzte er sich gerade hin. »Ich fürchte, ich verstehe Ihre Frage nicht.« »Sie ist ganz einfach. Sind Sie noch menschlich? Würden Sie sich selbst noch als Mensch bezeichnen?« Boyd erwiderte nichts, sondern wich Sergeis Blick aus. Stattdessen konzentrierte er sich auf eine Darstellung der Neuen Territorien. Die aktuelle Position der Biscayne bei A'anenu jenseits der Grenzen des Imperiums war als kleines blaues Licht markiert, das in der tiefschwarzen Dunkelheit regelmäßig aufblinkte. »Wie lange sind Sie schon Marine, Boyd?« »Seit sieben Jahren, Sir.« Er sah Sergei entschlossen an. »Wie lange davon im aktiven Dienst?« »Vor fünf Jahren kam ich auf die Cambridge, und vor fast drei Jahren erhielt ich einen Posten auf der Biscayne.« 101 »Wie denken Sie über die Zor?« »Die Zor, Sir? Ich...« Das Schnellfeuer aus Fragen hatte Boyd offenbar überrascht. Er hielt inne, betrachtete seine Hände, als könne er dort die Antwort ablesen. »Ich betrachte sie als unsere Feinde, Sir.« »Ganz sicher?« »Ja, Sir, ganz sicher.« »Gut.« Sergei verschränkte die Hände. »Ich will sichergehen, dass Sie - ob Sie nun noch vollkommen menschlich sind oder nicht - sich im Klaren darüber sind, welche Position Sie mit Blick auf unseren Gegner beibehalten müssen. Ihr Wissen wird von großer Bedeutung sein, und ich muss überzeugt sein, dass Ihre Loyalität nicht der falschen Seite gilt.« »Verstehe, Sir.« Sergei stand auf, Boyd tat es ihm einen Sekundenbruchteil später nach. »Kommen Sie mit, Sergeant. Es gibt da jemanden, den Sie kennen lernen sollten.« Mal schlief Rrith, mal machte er Körperübungen. Er war sich nicht sicher, was ihn erwartete, und auch nicht, ob es ihn überhaupt kümmerte. Der Schlaf half, seine Wunden heilen zu lassen, und er nahm ihm viel von seiner Benommenheit. Die Übungen machten ihn hungrig genug, um sich dazu überwinden zu können, die erbärmliche Ersatznahrung zu essen, die von Zeit zu Zeit in seine Zelle gelangte. »Zelle« war auch die richtige Bezeichnung für den Raum, in dem er sich befand. Er wusste seit einer eingehenden Untersuchung dieses Raums, dass es keinen Ausweg gab. Also saß er hier fest, eingesperrt wie ein artha, außer dass sein entehrtes chya in der Ecke lag und leise knurrte. Wenigstens ist das Lieht nicht zu grell, dachte er, als er sich an die blauweiße Beleuchtung erinnerte, die die esGa'uYal bevorzugten. Die Zeit verstrich, aber das Licht blieb immer gleich, sodass es 101 ihm nicht möglich war, sie zu messen. Er konnte nur seine Schlafphasen zählen und schätzen. Als sein erster Besucher eintraf, wusste er nur, dass dies nach dem dritten Aufwachen erfolgt war. Gerade hatte er begonnen, seine Flügel nach dem Schlaf zu glätten, als die Tür zu seiner Zelle sich öffnete und sofort wieder geschlossen wurde, nachdem ein einzelner Mensch eingetreten war. Zorn stieg in ihm auf, der aus jahrelanger Übung entstand. Ein Teil seines Verstands kalkulierte, wie schnell er sein chya erreichen konnte und wie groß seine Chance war, diesen Diener von esGa'u zu töten, bevor ihn
jemand niederstrecken konnte. Eine gewisse Mattheit hielt ihn jedoch davon ab. Stattdessen stand er einfach nur aufrecht da, brachte seine Flügel in die Haltung der Vorsichtigen Annäherung und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin Rrith vom Nest Tl'l'u«, sagte er in der Hochsprache, auch wenn er nicht länger das Recht besaß, sie zu benutzen. »esHHeYar«, erwiderte der Mensch klar und deutlich, wenn auch ein wenig stockend. »Ich weiß, wer Sie sind, se Rrith«, fügte er in einer Sprache an, die Rrith nicht bekannt war, die er zu seiner großen Verwunderung dennoch verstand. »Sie sprechen die Hochsprache?«, fragte Rrith, teils angewidert, teils fasziniert. »Ja. So wie Sie meine Sprache verstehen und sprechen können«, sagte der Mensch. Es stimmte: So barbarisch die Sprache des Menschen auch klang, Rrith konnte alles verstehen. Es war eindeutig ein Phänomen der Fühlenden, dessen er sich aber nicht bewusst gewesen war. »Was ist Ihr Nest und Ihre Herkunft?« »Christopher Boyd«, antwortete der Mensch. »Master Sergeant, Imperial Marines. Ich stamme von Emmaus, Epsilon Eridani 3. Ich unterbrach Ihre Zeremonie saHu'ue an Bord der Ka'ale'e A'anenu, indem ich...« »Ich erinnere mich«, unterbrach Rrith ihn und wandte sich der Wand zu, wo er seine Blicke gedankenverloren über die hRni'i 102 wandern ließ. »Ich nehme an, Sie sind ein Experte, was mein Volk angeht.« »Nein, keineswegs. Jedenfalls nicht bis vor kurzem. Etwas geschah an Bord der Ka'ale'e A'anenu, se Rrith, was ich nicht ganz verstehen. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen.« Rrith ordnete seine Flügel zur Haltung der Beherrschten Verärgerung und wandte sich wieder dem Menschen zu. »Warum sollte ich Ihnen bei irgendetwas helfen, unreiner Diener der Ausgestoßenen?« Der Fluch ließ Chris Boyd für einen Moment zusammenschrecken. Er wusste, Commodore Torrijos beobachtete und belauschte das Gespräch zwischen ihnen beiden. Hatte er wirklich erwartet, ein gefangener Zor würde so ohne weiteres kooperieren, vor allem wenn er so kurz davor gestanden hatte, ein halbes Dutzend imperialer Schiffe und einige tausend Marines auszulöschen? »Ich bin kein Gefolgsmann von esGa'u«, antwortete er nach einer kurzen Pause. »Das würden Sie doch schon längst wissen, wenn es so wäre.« Er sah zu dem Schwert, das widersinnigerweise in einer Ecke auf dem Boden lag. »Mein chya und die Informationen, die es liefern könnte, gehen Sie ganz sicher nichts an«, sagte Rrith, dessen Flügel wieder eine andere Haltung einnahmen. Zu Boyds Überraschung nahm er diese Veränderung als einen Anflug von Neugier wahr, der dem feindseligen Ton der Antwort völlig widersprach. Ich würde zu gern wissen, ob der Commodore das gesehen hat, überlegte Boyd. »Ich muss Ihnen widersprechen, se Rrith. Wir fliegen gemeinsam.« Die Metapher kam ihm über die Lippen, ehe sie ihm überhaupt bewusst war. »Wir fliegen gemeinsam? Pah! Wie sollte das möglich sein? Sie haben keine Flügel, Sie tragen kein chya. Sie sind kein Zor-Krieger, und Sie werden nie sein, was ich einmal war. Wenn Sie kein esGa'uYe sind, dann sind Sie immer noch esHara'e. Grund genug für mich, Sie zu verabscheuen.« 102 Rrith drehte sich ganz von dem Menschen fort, die Flügel zum Mantel der Abwehr arrangiert, die Muskeln angespannt, während er aufmerksam dem nahenden Angriff lauschte. Doch der kam nicht. Wären die Rollen vertauscht gewesen, hätte Rrith wohl jeden angefallen, der ihn so sehr beleidigte. Er wusste nicht, welchen Schluss er daraus ziehen sollte. »Ich sagte Ihnen, ich diene nicht dem Lord der Schmach«, sagte der Mensch schließlich. »Ich bin ein Gefolgsmann von... esHu 'ur.« Rrith wirbelte so schnell herum, dass der Mensch einen Schritt zurückwich. »Sie nehmen sich viel heraus«, fauchte er wütend, hielt aber die Flügel in der Haltung der Ehrerbietung gegenüber esHu'ur. Der Mensch wich nicht weiter nach hinten, als wüsste er um die Bedeutung der Geste. »Ich spreche nur die Wahrheit. Ich werde in der Gegenwart von esLi sprechen, wenn Sie das wünschen, da Er mir die Fähigkeit gab, mit Ihnen zu reden. Ich muss annehmen, dass er es aus einem bestimmten Grund tat.« »Dieser Schwur muss ernst genommen werden.« »Dessen bin ich mir bewusst, se Rrith. Auch wenn Sie das nie akzeptiert haben, stellt ein Schwur bei meinem Volk auch eine ernsthafte Verpflichtung dar. In meiner Truppengattung lautet das Motto: >Für immer treu.< Ich habe jenen Schwur nie verletzt, und ich würde auch diesen nicht verletzen.«
Ein Teil von Boyds Gedanken kreiste um die Frage, was es überhaupt bedeutete, vor esii einen Schwur abzulegen. Ein anderer Teil zeigte Ehrerbietung gegenüber der abstrakten Vorstellung von esii, der seinen Geist berührt hatte, als er in das esLiHeShu-Sa 'a gestiegen war. Während der Zor grübelte, kam Chris zu dem Schluss, es würde ihm wohl nicht schaden, wenn er diesen Schwur ernst nahm. »esHu'ur ist eine gewaltige Kraft«, erwiderte Rrith schließlich. »Wenn er sich wirklich manifestiert haben sollte, warum nimmt er dann nicht die Gestalt von einem des Volks an? Erklären Sie mir das, Flügelloser.« 103 »Ich bin mit Ihrer Kultur nicht vertraut, se Rrith, aber nach allem, was ich gelernt habe, weiß niemand, was esHu 'ur eigentlich ist. Woher wollen Sie es dann wissen? Wenn jemand, der von sich behauptet, die Dunkle Schwinge zu sein, in diesem Moment eintreten würde« - er deutete auf die Tür hinter sich -, »würden Sie das dann wirklich wissen?« »Sie beleidigen mich mit Ihrer Blasphemie«, antwortete Rrith wütend und hob seine Stimme an. »Ich werde nicht länger darüber reden. Ich kann Ihnen nicht befehlen, mich zu verlassen, doch ich wünsche keine weitere Unterhaltung mit Ihnen.« Er hob seine Flügel, damit sie ihn einhüllen konnten - eine Geste, die etwas ganz anderes zu vermitteln schien: Angst und Erwartung. Boyd wusste nicht, ob er den Worten oder der Haltung des Zor glauben sollte. Schließlich ging er zur Tür und klopfte. Der Wachmann öffnete, dann verließ Boyd die Zelle, ohne einen Blick zurückzuwerfen. »Ich kehre jetzt auf das Flaggschiff zurück«, sagte Sergei, als sie nebeneinander durch den Korridor gingen. »Ob es nun erfolgreich war oder nicht - Sie sind unser bester Mann für eine Kommunikation mit dem Gefangenen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie auf die Lancaster versetzt werden. Mir ist klar, dass eine solche Veränderung in Ihrer Routine das Letzte ist, was Sie im Moment brauchen. Aber ich will Sie an Bord haben, damit ich Sie einsetzen kann, wenn es nötig ist. Der Admiral wird Sie sicher auch einiges fragen wollen.« »Aye-aye, Sir.« Sie betraten den Lift, zwei Offiziersanwärter traten zur Seite und salutierten. »Hangar, Deck C«, sagte Sergei, und der Lift fuhr sofort nach unten. »Der Zor schien Ihnen gegenüber recht feindselig, Sergeant, auch wenn er an einer Unterhaltung interessiert zu sein schien. Jedenfalls bis kurz vor Schluss.« »Ja, Sir, das stimmt. Aber... nun irgendwie bin ich nicht so ganz davon überzeugt, dass er auch wirklich das meinte, was er sagte.« 103 »Erklären Sie das.«' »Während des Gesprächs kam es einige Male vor, dass er etwas nicht so sagte, wie er es meinte. Als ich behauptete, ich diene der Dunklen Schwinge, wirkte er beleidigt, aber er gestand sich offensichtlich ein, dass ich womöglich doch die Wahrheit sage. Als er mich am Ende wegschickte, spürte ich etwas... als erwarte er von mir irgendeinen Beweis, dass ich wirklich esHu'ur diene.« »Lift anhalten«, sagte Sergei abrupt, die Kabine stoppte sofort. »Sie spürten das?« »Sir?« »Wollen Sie sagen, der Zor sagt etwas, meint aber das Gegenteil? Wie? Wie wird diese verborgene Bedeutung vermittelt? Woher wussten Sie das?« Boyd sah Sergei verständnislos an. »Nun, ich sah es an der Art, wie er seine Flügel anordnete, Sir.« »Seine Flügel?« Sergei studierte das Gesicht des jungen Marine. »Seine Flügelstellung hat eine Bedeutung?« »Ja, Sir.« Einen Moment lang grübelte Sergei. »Die Flügel. Sie kommunizieren mit ihren Flügeln. Gestensprache. Bei jeder Begegnung mit den Menschen, bei jeder Friedensverhandlung haben sie mit ihrer Stimme und ihren Flügeln gesprochen, darauf möchte ich wetten. Sie können nichts mit unserer Mimik anfangen, und wir verstehen nicht die Stellung ihrer Flügel. Wenn das stimmt ...«Er sah zur Decke der Liftkabine. »Deck dreiundzwanzig«, sagte er, der Lift setzte sich wieder in Bewegung. »Wir werden uns noch einmal mit diesem Zor unterhalten, Sergeant. Und diesmal gibt es ein paar Fragen, die Sie für mich stellen werden.« 103
12. Kapitel (Aus dem Protokoll der Imperialen Versammlung, 16. August 2311) VORSITZENDER: Der Vorsitzende erteilt Mr Hsien das Wort. ABGEORDNETER HSIEN: Herr Vorsitzender, ich bitte um einstimmigen Beschluss für den Antrag, eine Präsentation vornehmen zu können (s. Dokument Anhang 2311 -A231918-17). VORSITZENDER: Wenn es keine Einwände gibt, ist das... PREMIERMINISTERIN: Wird der Abgeordnete eine Frage zulassen?
VORSITZENDER: Wird der Gentleman eine Frage zulassen? ABGEORDNETER HSIEN: Gewiss doch. PREMIERMINISTERIN: Ich danke Mr Hsien für sein Entgegenkommen. Herr Vorsitzender, sollte die Versammlung sich mit dem Dokument des Anhangs beschäftigen, das uns der Abgeordnete freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, wird sich herausstellen, dass es nur wenig darin gibt, was von der öffentlich geäußerten Meinung des Abgeordneten über den Krieg und die Kriegführung abweicht. Ich möchte den Abgeordneten fragen, Herr Vorsitzender, was er damit zu erreichen hofft, wenn er das Dokument noch einmal der Imperialen Versammlung präsentiert. ABGEORDNETER HSIEN: Herr Vorsitzender, ich möchte fragen, ob die Premierministerin ihre Frage vollständig gestellt hat, damit ich darauf antworten kann. 104 PREMIERMINISTERIN: Herr Vorsitzender, ich bin der Ansicht, dass ich meine Frage deutlich gestellt habe. ABGEORDNETER HSIEN: Nun, Herr Vorsitzender, ich habe um eine Präsentation vor der Versammlung gebeten, weil mir vor kurzem eine Information bekannt geworden ist, die auch in der Öffentlichkeit kursiert: nämlich dass unsere Befehlshaber an der Front im Namen des Sol-Imperiums eine Reihe von Kriegsverbrechen begangen haben, die beschämend und... (MEHRERE ABGEORDNETE): Herr Vorsitzender! Wird der Gentleman das zurücknehmen? Hört, hört! Ausreden lassen! (etc.) (Hammer des Vorsitzenden) VORSITZENDER: Ruhe im Saal. Wird der Gentleman das zurücknehmen? ABGEORDNETER HSIEN: Ich werde es nicht zurücknehmen, Herr Vorsitzender, tut mir Leid. (Hammer des Vorsitzenden, weitere Bitten auf Erteilung des Wortes) VORSITZENDER: Die Abgeordneten werden Ruhe bewahren. Der Abgeordnete Hsien hat das Wort, aber er wird ermahnt, seine Bemerkungen diesmal auf das Thema zu konzentrieren, also auf die Fragen von Premierministerin Tolliver zu antworten. ABGEORDNETER HSIEN: Ich entschuldige mich für jegliche Störung, die ich verursacht haben könnte, Herr Vorsitzender. Die Premierministerin will wissen, warum ich die Versammlung weiter mit dieser Angelegenheit befasst sehen möchte. Meine Antwort darauf ist, dass ich diesmal mehr zum Thema zu sagen habe. Ich glaube, die Versammlung vergeudet keine Zeit, wenn sie sich meine Anmerkungen anhört. Außerdem hat meine Partei die notwendige Gebühr für den Antrag bezahlt. Es ist nicht üblich, dass... (Weitere Störungen und Hammer des Vorsitzenden) 104 ABGEORDNETER HSIEN: Es ist nicht üblich, dass die Versammlung einen Antrag verweigert, wenn die Zeit dafür regulär gekauft wurde. Gleichgültig, wie sehr die Regierung die Wahrheit fürchtet - diese Wahrheit wird ohnehin ans Tageslicht kommen. Herr Vorsitzender, ich verschiebe meine Frage auf später. Die Mitglieder der Regierung Seiner Imperialen Majestät Alexander Philip Juliano waren sich durchaus bewusst, was an diesem Nachmittag in der Versammlung ablaufen würde, doch sie konnten es nicht verhindern. Die Nachricht vom Vorgehen der Flotte, die Oppositionsführer Tomas Hsien vorlag, hatte sich längst in der Öffentlichkeit herumgesprochen. Vermutungen und Spekulationen wichen purer Rhetorik und Schmähreden, und nun konnte man nichts anderes mehr machen, als sich zu erheben und sich durchzukämpfen. Es war ein strahlender Herbsttag in Genf. Die Blumenuhr unten am Hafen stand in voller Blüte, die sanften Wellen des Genfer Sees schlugen ans Ufer. Der blaue Himmel über den Alpen erstrahlte wie auf einer Ansichtskarte der Stadt. Dort, wo die Versammlung ihren Sitz hatte, kümmerten sich Gärtner um die Beete und die makellosen Rasenflächen. Im Gebäude dagegen herrschte trotz der Klimaanlage eine Atmosphäre wie kurz vor dem Einsetzen eines Hurrikans. Wenn es einen Mann gab, der diesen Sturm personifizierte, dann war das zumindest aus der Sicht von Julianne Tolliver, der neuen Premierministerin Seiner Majestät - Tomas Hsien, der populistische Oppositionsführer von eigenen Gnaden. Sie hätte ihm gerne das Rederecht verweigert, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Der Imperator hatte sie zu sich bestellt und von ihr verlangt, den Abgeordneten nicht zu Wort kommen zu lassen, doch sie hatte ihm erklären müssen, dass die Versammlung eine Weigerung nicht hinnehmen würde. Er hatte für seine Zeit bezahlt, und er bekam seine Zeit. Sie hatte ihm auch klar gemacht, 104 dass jeder andere, den er an ihre Stelle treten lassen würde, nicht anders handeln konnte als sie. Also durfte Hsien reden. Sie wusste, was er wusste. Er verfügte über mehr Informationen, als bislang an die Medien gelangt waren. Sie hatte ihrerseits Zugriff auf jene Kanäle, die sie über die Aktionen der Flotte auf
dem Laufenden hielten - das vermittelte ihr eine Vorstellung davon, was er womöglich noch alles an die Öffentlichkeit bringen würde. Kurz vor Beginn der Versammlung an diesem Nachmittag hatte sie sich unter vier Augen mit Ted McMasters unterhalten, der zumindest formell Admiral jener Flotte war, die sich in diesem Moment auf dem Weg zu den Heimatwelten der Zor befand, um den tödlichsten Feind der Menschheit vollständig auszulöschen. Die schreckliche Ironie des Ganzen war, dass das Ergebnis dieses Krieges vermutlich das sein würde, was sich die Menschheit seit zwei Generationen am sehnlichsten gewünscht hatte. Doch diese gleiche Menschheit hielt die Maßnahmen, die zu diesem Zweck ergriffen wurden, für unpassend. Es war unmöglich, gleichgültig zu reagieren, und schwer, dabei gelassen zu bleiben. Hsien kehrte während der Mittagspause in den Saal zurück und begann sofort, seine Runden zwischen Freunden und potenziellen Freunden in der Versammlung zu machen. Die Premierministerin, die die Pause nicht für ihr Mittagessen genutzt hatte, saß auf dem Podest und sah zu, wie er von einem Abgeordneten zum nächsten ging. Alle wussten, was in wenigen Minuten geschehen würde. Eine Weile später rief der Vorsitzende die Versammlung zur Ordnung und erteilte Hsien das Wort. Der stand auf und ging langsam zum Sprecherpodium im vorderen Teil des Saals. Nachdem er seine Notizen vor sich ausgebreitet hatte, begann er mit seiner Rede. »Herr Vorsitzender, wie Sie wissen, setze ich mich in dieser Versammlung seit langem für die Völkerrechte ein. Seit Beginn meiner Karriere hielt ich mich von den traditionellen Machtpositio 105 nen fern - aber nicht weil es mir am Vertrauen in meine eigenen Führungsqualitäten mangelt. Auch nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern weil ich glaubte, ich würde den Interessen meiner Wähler und meinem Gewissen am besten dienen, wenn ich diesen Kurs einschlage.« Er hielt kurz inne und warf einen Blick zum Podest, auf dem die Premierministerin und die Mitglieder ihrer Regierung saßen. »Ich nehme an Fachgesprächen teil und arbeite in Komitees hier in der Versammlung mit, aber ich bin kein Vorsitzender, auch kein Parteiführer. Ich bin nur ein Abgeordneter, ein Repräsentant und ein Untertan Seiner Imperialen Majestät. In dieser Funktion spreche ich heute zu Ihnen, schweren Herzens, voller Enttäuschung und Wut über die Handlungsweise dieser Regierung. Seit Beginn meiner politischen Karriere, ja sogar seit Beginn meines Lebens gibt es einen Konflikt zwischen dem Imperium und unseren Todfeinden, den Zor. Der Krieg hat auf beiden Seiten Opfer gefordert. Ich glaube, man kann guten Gewissens sagen, die Menschen haben genug vom Krieg und seinen Auswirkungen. Jeder von uns wurde durch diesen Konflikt auf die eine oder andere Weise berührt, von einem Ende des Imperiums bis zum anderen, vom Zentrum hier bis hin zu den entlegensten Welten in den Neuen Territorien. Daher erscheint es mir als rechtmäßig gewählter Vertreter dieser kriegsmüden Menschen nur vernünftig, dass wir den Feindseligkeiten so schnell wie möglich ein Ende bereiten. Ich weiß...« Er hob abwehrend die Hände, als im Saal Gemurmel aufkam. »... ich weiß, manche Abgeordnete sind nicht so leicht zu einem Friedensschluss zu bewegen, da sie an die Doppelzüngigkeit der Zor und daran denken, mit welcher Hartnäckigkeit sie gegen unsere entlegenen Basen vorgegangen sind. Ihnen sage ich, es ist unsere Pflicht als menschliche Wesen, stets nach Frieden zu streben, selbst wenn wir dafür unseren eigenen Stolz überwinden müssen. Wir sollten bereit sein, über einen Frieden zu sprechen, Herr Vorsitzender, vor allem wenn sich der Feind an uns wendet und da 105 rum bittet, wie es vor fast einem Monat geschah. Wir hatten immer ein offenes Ohr für die Zor. Aber wie viele von Ihnen bereits wissen, hat diese Regierung...« Er deutete auf das Podest. »... diesmal die Ohren verschlossen. Anstatt mit unseren Feinden zu verhandeln und auf deren dringende Bitte nach einem neuen Frieden zu reagieren, sind wir arrogant darüber hinweggegangen. Anstatt Frieden zu schaffen, haben wir begonnen, nur noch mehr Blut zu vergießen. Die Schuld für diese kriegerische Haltung ist vor allem bei dieser Regierung zu suchen, auch unter der Führung der derzeitigen Premierministerin, vor allem aber unter der ihres Amtsvorgängers. Doch viele tragen diese Schuld mit, auch wir hier in der Versammlung, Herr Vorsitzender. Denn wir haben zugelassen, dass es so weit kommen konnte. Ich stehe vor Ihnen und schäme mich, Diener dieses Sol-Imperiums zu sein. Wir alle sollten uns schämen.« Er trank einen Schluck Wasser und ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, als wolle er sehen, welche Wirkung er bislang erzielt hatte. »Es wäre bereits ein trauriger Moment für unser geliebtes Imperium, wenn wir nur zur Kenntnis nehmen müssten, dass unsere Regierung sich weigert, Friedensverhandlungen zu führen, und stattdessen weiter einen mörderischen Feldzug gegen den Feind führt.«
Sein Blick ging zu Julianne Tolliver, die ihre Wut nur mit Mühe beherrschte. Einen Moment lang sah sie ihm in die Augen. »Aber das ist noch längst nicht das Schlimmste, womit wir konfrontiert werden. Denn die Regierung hat alle Versuche blockiert, sich von ihrem barbarischen Kurs abbringen zu lassen. Zivile Ziele werden angegriffen, Gefangene werden nicht gemacht und so weiter und so fort. Doch viel schwerer wiegt, dass diese Regierung sich nicht zu der Tatsache bekennt, dass sie die Kontrolle über die Flotte verloren hat\ Irgendwo jenseits der Neuen Territorien, vielleicht bei A'anenu, vielleicht sogar jenseits der Antares-Verwer 106 fung führt die Imperiale Flotte - entgegen den ausdrücklichen Befehlen Seiner Imperialen Majestät, Herr Vorsitzender - ihre eigene Version dieses Krieges fort. Die Flotte wird in Kürze ein ganzes Volk ausgelöscht haben, damit das Zor-Problem ein für alle Mal gelöst ist. Das Blut, das dann an unseren Händen klebt, werden wir niemals... niemals!... abwaschen können. Wie konnte das geschehen? Wieso sind wir Teil dieser unkontrollierbaren Gewaltakte geworden?« Wieder machte er eine Pause, als müsse er seine Kräfte sammeln. »Heute kommen wir unter dem wachsamen Blick unseres Regenten zusammen, aber wir handeln auch in der Tradition unseres ersten Imperators Willem I.« Er hielt kurz inne, dabei zeigte er auf das Ölgemälde des Gründers dieses Imperiums, der in seiner Admiralsuniform mit Kranz und Zepter glanzvoll aussah. »Der Mann, der vor eineinhalb Jahrhunderten das Sol-Imperium gründete, war unser ursprünglicher Held, unser erster großer imperialer Führer, der uns Gerechtigkeit und Gesetze gab. In einer Zeit voller Konflikte und Unruhen einte er die Menschheit, er machte die Reiserouten im All sicher für den Handel und für private Reisen, und er ermutigte uns, in die Ausweitung der Einflusssphäre der Menschheit zu investieren. Keine hundert Jahre waren nötig, damit Seine Imperiale Hoheit Willem, Gründer des Imperiums und des Imperialen Hauses, vom Sterblichen zur Legende wurde. Ich will nicht seine Größe in Frage stellen«, fügte er rasch an, da sich abermals Gemurmel breitmachte. »Ganz im Gegenteil. Wer kann schon sagen, wo wir heute ohne Imperator Willem wären? Aber wir dürfen eines nicht vergessen.« Er lehnte sich vor und zeigte erneut auf das Porträt. »Bevor Seine Hoheit Willem I. das Imperium gründete, war er Admiral Willem McDowell von der European Space Agency. Als man ihm das Kommando über die Flotte gab, hielt ihn niemand für subversiv oder für einen Verräter, und doch gab man ihm mit diesem Posten auch seine Macht. Die European Space Agency unterstellte ihm 106 ein Geschwader Raumschiffe, mit denen er ins Sol-System vordrang und seine Heimatwelt im Würgegriff hielt, während er seine Bedingungen diktierte. Die Geschichte wird von Siegern geschrieben, Herr Vorsitzender. Das ist eine bestens bekannte Tatsache, die sich durch die ganze Menschheitsgeschichte zieht. Da ihn niemand aufhalten konnte, waren unsere Vorväter gezwungen, auf seine Forderungen einzugehen. So entstand das Imperium. Unsere Imperatoren und die Admiralität haben seitdem immer darauf geachtet, dass sich so etwas nicht wiederholen kann. Dank eines ausgeklügelten Systems hat kein Admiral jemals mit dem Gedanken gespielt, den Thron an sich zu reißen, der von Imperator Willem geschaffen wurde - bis heute.« Es folgte eine weitere Pause {Das ist doch nur eine Showeinlage, damit es dramatischer wirkt, dachte die Premierministerin). Das Gemurmel im Saal war inzwischen einer Grabesstille gewichen. »Admiral Lord Marais, unser heldenhafter Kommandant an der Peripherie, wurde vor sechs Monaten nach dem Zwischenfall von Pergamum zum Befehlshaber der Flotte ernannt, und zwar mit der ausdrücklichen Aufgabe, die Zor zu schlagen. Er wurde durch ein Dokument der Admiralität ermächtigt, das jetzt Teil der öffentlichen Akte ist.« Er wartete kurz, bis die elektronische Darstellung des Dokuments auf den Monitoren der anderen Abgeordneten zu sehen war. »Ich mache dabei vor allem auf die Bedingungen dieser Ernennung aufmerksam: Lord Marais wurde gemäß den Bedingungen der Allgemeinen Order 6 mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattet. Für alle, die mit dieser speziellen, üblen Direktive der Admiralität nicht vertraut sind, möchte ich sie Ihnen kurz erläutern.« Wieder trank er einen Schluck. »Diese Order reicht zurück in die Frühzeit unseres Imperiums. Kommandanten sollten auf dieser Basis Entscheidungen treffen können, ohne permanent mit einem Vorgesetzten Rücksprache nehmen zu müssen. Ich darf daran erin 106 nern, Herr Vorsitzender, dass die Technologie der überlichtschnellen Kommunikation zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Daher gehörte die Allgemeine Order 6 zu den Einsatzbefehlen eines Kommandanten, damit er eine gewisse Handlungsfreiheit bekam. Und dank dieser Order macht unser
Admiral aus diesem Krieg, was ihm gefällt. Dank dieser Order weigert er sich, anderslautende Befehle zu akzeptieren. Er weigert sich, sein Vorgehen zu stoppen, weil er sich auf die Allgemeine Order 6 beruft.« Wegen der zunehmenden Unruhe im Saal musste Hsien die Stimme erheben. »In unserer langen und gewalttätigen Geschichte ist die vollständige Auslöschung einer ganzen Spezies niemals vorgekommen, doch wie es jetzt scheint, ist dieser Akt eine ausgemachte Sache. Wir werden das als den Preis dafür akzeptieren müssen, dass wir ins All vorgestoßen sind. Wovor ich mich fürchte - und davor sollten Sie sich auch furchten -, das ist die Frage, was er als Nächstes machen wird. Die Antwort auf diese Frage finden Sie in unserer Geschichte. Indem wir einem Verrückten, der fähig ist, eine ganze empfindungsfähige Spezies auszulöschen, uneingeschränkte Autorität übertrugen, haben wir vielleicht unser eigenes Schicksal besiegelt.« Er musste immer lauter werden, um den Hammer und die Herr-Vorsitzender-Rufe zu übertönen, mit denen er daran gehindert werden sollte, seine Rede zum Abschluss zu bringen. Irgendwie schaffte er es dann aber doch noch. »Machen Sie sich bereit, meine Damen und Herren, für den Tag, an dem wir das Porträt unseres geliebten Gründers des Imperiums abnehmen werden, um es zu ersetzen durch ein Bild unseres neuen Imperators... Admiral Ivan Hector Charles Marais, Lord Marais.« Das Licht im Konferenzraum des Admirals war mit Rücksicht auf den gefangen genommenen Zor gedämpft, was der Szene etwas ungewollt Melodramatisches verlieh. Sergei hatte für eine Eskorte aus Marines gesorgt, angeführt von Sergeant Boyd, der inzwischen auf die Lancaster versetzt worden war. Er und ein weiterer Mann 107 blieben im Raum, die Waffen im Anschlag, während der Admiral und Captain Stone Platz nahmen. Sergei setzte sich so, dass er den Zor und Sergeant Boyd beobachten konnte, der an der Tür fast direkt hinter dem Gefangenen stand. Falls Stone dem Ganzen mit Misstrauen begegnete, ließ er sich davon nichts anmerken. »Ich heiße Sie auf dem Flaggschiff der Flotte willkommen«, begann Marais, nachdem alle saßen. »Ich bin Lord Marais, Admiral der Flotte.« »Rrith vom Nest Tl'lü«, antwortete der Zor in passablem Standard. »Sie haben mich am Leben gelassen, Lord«, fuhr er ohne weitere Vorrede fort. »Was wollen Sie von mir?« »Nur Informationen.« »Und warum glauben Sie, dass Sie diese Informationen von mir bekommen werden?« »Ganz einfach.« Marais zeigte auf das chya, das locker an Rriths Taille hing. Es war ihm nicht abgenommen worden, steckte aber in seiner Scheide. Auf dem Weg von der Gagarin hierher hatte er die Waffe weder berührt noch angesehen. »Wenn Sie bereit sind, mir bestimmte Informationen zu geben, wird Ihr Leben Ihnen gehören.« Rrith starrte Marais an. »Sie werden mir gestatten, den Äußeren Frieden zu überwinden?« »Ja - wenn Sie das wünschen oder wenn Sie es tun müssen.« »Pah«, raunte Rrith. »Ich kusche nicht so schnell vor einem Diener der Ausgestoßenen.« Seine Flügel hoben sich in eine leicht kreisförmige Position. Sergei blickte zu Boyd, der aber den Kopf schüttelte. »Dennoch erkennen Sie den Admiral als esHu 'ur an«, sagte Sergei ruhig. Stone lehnte sich vor, sein Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck angenommen. Marais ließ keinerlei Regung erkennen, allein seine Augen verrieten, wie überrascht er war. »Sie werden mir mein Leben zurückgeben, wenn ich kooperiere«, wiederholte Rrith. »Und wenn ich das nicht tue?« 107 »Dann werde ich Sie nach diesem Feldzug ins Sol-System mitnehmen, wo Sie in Gefangenschaft bleiben werden, erforderlichenfalls mit Medikamenten ruhig gestellt.« »Der Feldzug ist vorüber, nicht wahr, Lord? Sie haben A'anenu, Sie haben alles bis auf die Heimatsterne. Sie haben mehr erreicht als jeder andere Kommandant der naZora'i zuvor. Was mehr kann es noch für Sie geben?« »Der Feldzug ist vorüber, wenn die Zor kapituliert haben, se Rrith, oder bis es keine Zor mehr gibt.« Rrith verschränkte die Hände. Er ließ die Arme sinken und faltete die Flügel zusammen. »Kein simpler naZora 'e ist in der Lage, die Zor zu vernichten, die von esLi auserkoren wurden.« Boyd sah zur Seite. Nichts an der Flügelstellung enthielt irgendeine verborgene Information. Rrith glaubte, was er sagte. »Ich bin kein »simpler Mensch<, se Rrith«, murmelte Marais. »Ich bin die Dunkle Schwinge, ich bin Ihr Tod.« Sekundenlang sagte der Zor darauf nichts.
»se Admiral«, gab der Fremde vorsichtig zurück. »Wissen Sie, was Sie da sagen? Sie sind ein naZora'i. Wie können Sie behaupten, esHu 'ur zu sein?« »Ich habe den Flug der Dunklen Schwinge gewählt. Es gibt genügend Beweise dafür, dass Ihr Volk mich so sieht. In ihren Depeschen zitieren sie aHu'sheMe'sen, se Rrith. Weder dort noch in der Legende von Qu'u und auch nicht in der gesamten traditionellen Literatur wird esHu'ur genauer beschrieben, nur in äußerst vagen und übertriebenen Begriffen. Ich bin bereit, absolut alles zu tun, was notwendig ist, um diesen Krieg zu beenden, se Rrith ehn Tl'l'u. Und wenn das heißt, dass es keine Nester mehr geben darf, dann wird es eben so sein. Wenn das heißt, dass es niemanden von Ihrem Volk mehr geben darf, dann wird es eben so sein. Schon bald werden wir den Sprung beginnen zu den Heimatsternen Ihres Volks.« Der Zor gab einen Laut von sich, sein Atemholen klang wie ein Japsen, doch sein Gesicht ließ keine Regung erkennen, die 108 einer der Menschen hätte deuten können. Lediglich die Flügel nahmen eine andere Position ein, und als Sergei zu Boyd blickte, nickte der bestätigend. »Wenn wir erfolgreich die Verteidigung niederringen können, dann werden wir fähig sein, diese Welt zu vernichten und mit ihr jeden, der auf ihr lebt. Sehen Sie das nicht auch so?« Rrith sagte nichts, aber Sergei sah, wie sich seine Krallen verkrampften. »Sehen Sie das nicht auch so, se Rrith?« Er reagierte mit einem mürrischen Laut und starrte zu Boden. »Die Fähigkeit, die Zor auszulöschen, macht mich zu esHu'ur, se Rrith. Es ist nicht länger fraglich, ob ich diese Rolle erfüllen kann. Für tausende von Ihrem Volk habe ich das bereits getan, und ich werde es wieder tun, bis En'ZheL'Le - das Hohe Nest -sich bedingungslos ergibt. Kommt es nicht zu einer Kapitulation, dann ist das Leben aller verwirkt, die sich gegen mich stellen.« »Wissen das Ihre Nestlords daheim?« »Auch das ist nicht länger von Bedeutung. Diese Phase liegt lange hinter mir.« Sergei wagte es, wieder zu Boyd zu sehen, doch als er dann seine Aufmerksamkeit zurück auf das Geschehen am Tisch richtete, bemerkte er Stones Blick, der auf ihm ruhte. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn. Stone hatte wahrscheinlich bemerkt, wohin Sergei geschaut hatte. Rrith stand auf, aber nicht abrupt, sondern in einer fließenden, gleitenden Bewegung, und ging in eine Ecke des Raums, während er der Gruppe den Rücken zuwandte. Von Sergeis Position aus war zu erkennen, dass er beide Klauenhände auf sein chya gelegt hatte. Sergei glaubte, von irgendwoher ein schwaches Summen zu hören, das fast zu hoch war, um noch wahrgenommen werden zu können. Es war aber noch deutlich genug, dass Sergei die Zähne zusammenbiss und ihm ein Schauer über den Rücken lief. Weder Stone noch Admiral Marais schienen das zu bemerken, und einen 108 weiteren Blickkontakt mit Boyd wollte er im Moment nicht riskieren. Rrith drehte sich langsam um. Das chya hielt er in seinen Händen, die bronzefarbene Klinge fing das indirekte Licht im Raum ein und leuchtete karmesinrot, als ziehe sich eine Blutspur über seine ganze Länge. Die Klinge summte und begann zu glühen, ein kräftiger roter Schein umgab sie. Die beiden Marines machten einen Schritt nach vorn, doch Sergei hielt sie mit einer knappen Geste zurück. Marais und Stone standen wie erstarrt da. Der Zor warf Sergei einen kurzen Blick zu, dann sah er von links nach rechts. Das rötliche Licht tänzelte auf der Klinge. Rrith hielt die Waffe mit der Spitze nach oben von sich weg, drehte sie blitzschnell um und jagte sie von einem Blitz und einem Knall begleitet in den Deckboden. Dort steckte die Klinge, summte und erstrahlte in ihrem eigenen Licht. »Mein Leben gehört Ihnen, esHu 'um, sagte er, beugte sich über die Klinge und legte seine Flügel wie einen Umhang um sich. Die beiden Captains - beziehungsweise ihre holographischen Abbilder - hatten bereits Platz genommen, als Sergei den Bereitschaftsraum der Lancaster betrat. Sie standen sofort auf und warteten, bis der Commodore sich gesetzt hatte, als würden sie sich tatsächlich alle in einem Raum befinden. Yuri Okome auf der Ikegai und Sharon MacEwan auf der San Martin machten einen unbehaglichen und erschöpften Eindruck, hätten das aber auf Befragen rigoros geleugnet. Während der überwiegende Teil der Flotte noch mit A'anenu zu tun hatte, waren die beiden Frontschiffe zusammen mit einem kleineren Raumfahrzeug zu den benachbarten Zor-Welten geschickt worden, die nach dem Kampf um A'anenu nicht länger beschützt wurden. Sergei hatte ihre Berichte bereits gelesen, um über ihre Erfolge - und ihre Rückschläge auf dem Laufenden zu sein, doch er wollte es von ihnen persönlich bestätigt haben.
109 »Mir ist klar, dass" Sie eben erst in dieses System zurückgekehrt sind, umso mehr weiß ich es zu schätzen, Sie bereits jetzt sprechen zu können«, begann Sergei. »Ihre Berichte haben ich gelesen, aber vielleicht können wir zusammen die wichtigsten Punkte durchgehen.« MacEwan und Okome sahen sich an, als wolle keiner als Erster das Wort ergreifen. Schließlich räusperte sich Okome und legte die Handflächen auf den Tisch. »Unser Befehl lautete, drei Sonnensysteme in einer Entfernung von zwei Sprungtagen aufzusuchen. In allen Fällen war von einer lediglich leichten Verteidigung auszugehen, wahrscheinlich ohne sprungfähige Streitkräfte. Wir sollten die Verteidiger zur Kapitulation auffordern. Sollte die nicht umgehend erfolgen, lautete unser Auftrag, jeden Widerstand zu eliminieren. Die Verteidigung in den Systemen entsprach dem erwarteten Niveau. Einige Abwehrschiffe, eine Hand voll Fighter, einige fest installierte Geschütze. In jedem Fall wurden sie aufgefordert, sich zu ergeben, was aber nicht geschah.« Yuri Okomes narbiges Gesicht schien nur mit Mühe ein flüchtiges Lächeln unterdrücken zu können, das aber nichts mit Belustigung zu tun hatte. »Die Taktik dieser Verteidiger entsprach aber in keiner Weise dem, was wir erwartet hatten. Hätten sie sich mit Händen und Füßen zur Wehr gesetzt, dann wäre das verständlich gewesen - auch der Versuch, unsere Schiffe zu vernichten oder zumindest ihre eigenen Schiffe und ihre Ausrüstung zu zerstören, um zu verhindern, dass wir in deren Besitz gelangen. Nichts dergleichen geschah.« »Sie ließen sich einfach von uns töten«, warf Sharon MacEwan ein. Ihre Miene war geprägt von ... Wut? Enttäuschung? Sergei wusste nicht, wie er den Ausdruck deuten sollte, sah aber, dass MacEwan selbst ebenfalls verwirrt war, was ihre Reaktion anging. »Führen Sie das bitte aus«, sagte Sergei. »Sie haben nicht das Feuer auf uns eröffnet, sie ergaben sich nicht, ihre Schiffe sind ausgewichen. Sie versuchten nicht mal, 109 uns zu rammen. Sie... ließen sich einfach von uns töten. Als hätten sie ihren Tod geplant, und unser Eintreffen hätte ihnen einen guten Vorwand geliefert.« »Sehen Sie das auch so, Yuri?« »Commodore.« Okome lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme. Er zog seine linke Augenbraue hoch, als hätte sie ein Eigenleben entwickelt. »Wie Ihnen bekannt sein dürfte, habe ich einen Bericht über die Reaktion in der Schlacht auf das Durchbrechen von Abwehrfeldern erstellt.« »Standardlektüre für jeden Frontoffizier, Yuri. Fahren Sie fort.« »Aye, Sir.« Okome entspannte sich ein wenig. »Wenn nur wenig Zeit verfügbar ist, um eine Entscheidung zu treffen, gibt es für den Captain eines Schiffs, dessen Abwehrfeld erfolgreich durchbrochen worden ist, nur eine Reaktion, die in mehr als fünfzig Prozent aller Fälle zu einem positiven Ergebnis führt: ein radikaler Kurswechsel. Die Analysen haben ergeben, dass abrupte Manöver oftmals die Feldgeometrie genügend verändern, um eintreffenden Beschuss abzuleiten. In mindestens zwei Fällen haben sich feindliche Schiffe genau entgegen dieser Praxis verhalten. Anstatt den Kurs so zu ändern, dass die Energie abgelenkt wird, gingen diese Schiffe auf einen Kurs, der den Effekt noch verstärkte und unvermeidlich zur Zerstörung führte. Ich habe diese Vorfälle dokumentiert.« Über dem Tisch tauchten Symbole auf, die Logbucheinträge markierten. »Während des Rücksprungs sah ich mir unsere Fluglogbücher etwas genauer an, und ich glaube, ich konnte drei oder vier andere Fälle entdecken, in denen diese Selbstmordmanöver vollzogen wurden, aber keinen Erfolg hatten. Ich kann Captain MacEwan nur beipflichten, ganz zweifellos. Mein Leben lang habe ich gegen die Zor gekämpft und den Feind analysiert, aber was ich in den letzten Tagen erlebt habe, lässt sich keiner bekannten Theorie zuordnen.« »Meine Familie dient seit Jahrhunderten im Militär«, erklärte Sharon MacEwan einen Augenblick später. »Das hier widerspricht 109 all unserer Erfahrung. Das hat es in sechzig Jahren Krieg mit den Zor noch nie gegeben.« »Mich irritiert das Verhalten, weil es keinen Zweck erfüllt.« Okome legte die Finger aneinander. »Wenn Sie so wollen, ist dieser Krieg ein großes, komplexes Brettspiel. Schafft man bestimmte Bedingungen oder bringt man seine Spielfiguren in bestimmte Konfigurationen, kommt es zu Ereignissen, die sich auf den Verlauf des Spiels auswirken. Manchmal ist es notwendig, einen Spielstein zu opfern, um den Feind in eine Falle zu locken oder um ihn von einem Ziel abzulenken, das man selbst will.«
Okome beugte sich vor; sein eindringlicher Blick und seine zusammengezogenen Augenbrauen ließen ihn düster wirken. »Es bewegt sich im Rahmen bekannter Parameter, wenn man davon ausgeht, dass die Zor Spielsteine opfern. Das haben sie schon anderswo getan. Bei A'anenu waren sie kurz davor. Es diente auch einem Zweck, die Orbitalbasis zerstören zu wollen, weil sie uns damit einen Stützpunkt für unsere Truppen genommen hätten. Doch bei drei Begegnungen seit der Einnahme von A'anenu erleben wir Zor-Schiffe, die buchstäblich darauf warten, von uns abgeschossen zu werden. So wie ein Herdentier darauf wartet, von einer fleischfressenden Bestie zerfetzt zu werden. Ich glaube, meine Kollegin« - er deutete auf MacEwan - »ist über diese Handlungsweise so irritiert, weil sie nicht in ihr Bild vom Krieg passt. Ich bin irritiert, weil ich sie einfach nicht verstehen kann.« MacEwan wollte ihrem Gegenüber schon etwas an den Kopf werfen, doch Sergei kam ihr zuvor. »Ich möchte Sie etwas fragen: Wenn Sie glauben, dass sie unbedingt vernichtet werden wollten, warum kapitulierten sie dann nicht einfach?« »Ich glaube, das ist für sie nicht das Gleiche.« Nun war es an MacEwan, ihrem vorgesetzten Offizier einen durchdringenden Blick zuzuwerfen. »Sich ergeben und sich umbringen, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Würden... könnten sie sich ergeben, würden sie von uns erwarten, dass wir Gnade walten lassen. Das würden wir auch machen.« 110 »Das heißt?« »Das heißt, sie würden nicht sterben. Aber es war so, als wollten sie sterben. Als sei das besser, anstatt zu kapitulieren. Nur warum haben sie dann nicht gekämpft?« »Hätte das ihre Zerstörung leichter gemacht? Hätte es auch die Zerstörung der Nester auf der Oberfläche leichter gemacht?« »Wie soll ich das verstehen, Commodore?«, gab MacEwan wütend zurück. »Wollen Sie andeuten, ich wäre meiner Pflicht nicht nachgekommen, Sir?« »Nein, da ziehen Sie den falschen Schluss, Sharon.« Sergei atmete tief durch. »Ich will damit sagen ... ich neige eher zu Yuris Ansicht. Ich weiß Bescheid über die Tradition der MacEwans, über Bannockburn und Bonnie Prince Charlie und alles andere. Ich weiß von Anderson's Star, von Boren, von der Rettung der Bolivar, und auch, wie Sie sich Ihr White Cross verdient haben. Die Kriege gegen die Zor haben genug romantischen Stoff für die Legendenbildung mit sich gebracht, die Dinge, die zu Ihrer Familientradition beitragen. Ich wiederhole, was ich nach L'alChan gesagt habe: Ich werde Ihnen keine Orden für das verleihen, was Sie durchgemacht haben. Es ging nicht um Heldenmut, um Drama oder Legenden. Es ging nur um Zerstörung, brutal, massiv, aber notwendig - zumindest nach Admiral Marais' Vorstellung. Darum geht es in diesem Krieg.« Sergei blickte zur Seite, da er Sharon MacEwans Miene nicht sehen wollte. Seine Worte dürften auf sie kaum Eindruck gemacht haben. »Hat der Commodore noch weitere Fragen?«, fragte sie Sekunden später. Sergei konnte die unterdrückte Wut in ihrer Stimme hören. »Nein, ich glaube nicht. Danke für Ihre Zeit. Weggetreten.« Als Sergei aufblickte, lösten sich gerade die beiden Bilder auf. Okomes Gesicht hatte kurz vor dem Abschalten des Holos einen sonderbaren Ausdruck angenommen - wie der eines Studenten an der Akademie, der sich durch ein Problem kämpfte, nur um auf ein noch schwierigeres Problem zu stoßen. 110 Obwohl das Bild längst verschwunden war, schien ein spöttisches, höfliches Lächeln zurückzubleiben. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht, sagte es. Jetzt siehst du's. Als der Abflug von A'anenu näher rückte, schien sich im ganzen Schiff Aufbruchsstimmung bemerkbar zu machen. Das Ausmaß dessen, was beim nächsten Ziel des Feldzugs geschehen würde, schien außer Sergei niemandem bewusst zu sein. Vielmehr erweckte es den Anschein, die anstehenden Zerstörungen und das zu zerstörende Objekt würden nur noch stärker zur Eile anspornen. Immer mehr Besatzungsmitglieder und Offiziere lasen in Marais' Buch. Als Sergei während einer Wache die Offiziersmesse betrat, hatte man einen Ausdruck ans schwarze Brett gehängt. Es war ein Auszug aus Der totale Sieg: Eines der grundlegendsten Probleme der Menschheit ist zu allen Zeiten der Geschichte die Unfähigkeit - oder die mangelnde Bereitschaft - gewesen, sich mit dem Gedanken der persönlichen Gewalt auseinander zu setzen. Es herrscht der Irrglaube, die Menschheit stehe über dem Hass, und das Individuum sollte dieses Gefühl besser unterdrücken, anstatt sich damit zu beschäftigen. Gewalt war schon Teil des menschlichen Lebens, lange bevor die Menschheit in der Lage war, ihre Geschichte aufzuzeichnen.
Wir können uns nicht länger vor dieser Tatsache verschließen. Es ist unmöglich, sie hinter einer Mauer oder in einem Schrank zu verstecken. Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir sie bändigen und dazu einsetzen, mit ihr das Beste zu erreichen: die Vernichtung der Feinde unserer Spezies, um unser eigenes Überleben zu garantieren. Sergei hätte den Ausdruck am liebsten von der Wand gerissen und seine Offiziere antanzen lassen, um von ihnen zu erfahren, wer das Blatt dort aufgehängt hatte. Es war beleidigend, und es mach 111 te ihn krank. Doch er tat es nicht, obwohl seine Hand bereits danach greifen wollte. Fünfzehn Jahre lang hatte er genau das gemacht, was Marais beschrieb. Er hatte den Hass auf die Zor ausgelebt, der vielleicht in seiner Intensität deren eigenem Hass auf die Menschen entsprach. Nun war die Menschheit kurz davor, diese Bedrohung für immer zu beseitigen, und das bedeutete den Höhepunkt seiner Karriere - ob es ihm gefiel oder nicht. Wie benommen wandte er sich ab, verließ die Messe und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. 111
13. Kapitel
Die Geschichte wird wahrhaftig von den Siegern geschrieben. Manche Historiker haben sogar überlegt, ob es so etwas wie einen objektiven Blickwinkel oder einen objektiven Beobachter überhaupt geben kann. Die menschliche Natur - so sagen sie - macht das unmöglich. Auf eine ähnliche Weise ist die Teilung in gut und böse extrem subjektiv. Je näher der Beobachter der Situation ist, umso schwerer wird es für ihn, seine Wahrnehmung von der absoluten Wahrheit zu unterscheiden. Es ist nicht einmal klar, ob Letztere überhaupt existiert. Mit Feuer und Schwert: Die Geschichte des Konflikts zwischen Menschen und Zor, von Ichiro Kanev (Gleason Publishing, Adrianopel 2310)
Für die Menschheit, die zu spät begriff, was sich hunderte von Lichtjahren entfernt abspielte, war Marais zum Verbrecher geworden, zum Verrückten, der die Fähigkeit besaß, grauenhafte Zerstörungen anzurichten, für die nicht nur er, sondern auch die Menschheit verantwortlich war. Admiral Marais und seine gesetzlose Flotte konnten nicht daran gehindert werden, diese Gräueltat bis zum Ende durchzuziehen. Ebenso gab es keine Möglichkeit, Marais' weitere Vorgehensweise zu kontrollieren. Dem Imperator und der Regierung war die Situation völlig entglitten. Marais war ein Verbrecher, weil er Wort gehalten und gewonnen hatte. Er, der wochenlang in den Medien und überall im Imperium nur bejubelt worden war, wurde auf einmal verächtlich gemacht und von Demagogen beschimpft. Nachdem jedoch alle Vorbereitungen getroffen worden waren, 111 machte sich die Flotte zum Abflug von A'anenu bereit. Die noch verbliebenen Welten der Zor auf dieser Seite der Antares-Verwerfung waren längst alle gesichert. Das Ziel war nicht Zor'a, sondern ein Punkt in den Tiefen des Alls, irgendwo im leeren Teil der Verwerfung selbst, aus dem die Zor-Schiffe gekommen waren, die die Attacke bei Pergamum ausgeführt hatten. Während die Stimmung im Imperium auf dem Siedepunkt angekommen war, bewegte sich die Flotte durch die unwirkliche Nacht des Sprungraums und machte sich bereit, sich ihrer Bestimmung zu stellen. Als die Türglocke ging, sah Sergei von seinem Schreibtisch auf. »Herein.« Stone kam in sein Büro, warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und sprach mit einer Stimme, die kaum einen Hehl aus seinem Zorn machte. »Ich bin gerade auf Sergeant Boyd aufmerksam geworden. Warum wurde ich nicht informiert?« Sergei sah den Adjutanten einige Sekunden lang an. »Sie erstaunen mich immer wieder aufs Neue, Stone«, sagte er ruhig. »Speichellecker wie Sie sind normalerweise peinlich genau, was die Etikette betrifft. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich Ihr vorgesetzter Offizier bin und demzufolge mit einem gewissen Respekt zu behandeln bin.« »Na gut, Sir«, meinte Stone in spöttischem, aber nach wie vor wütenden Tonfall. »Wenn der Commodore nichts dagegen einzuwenden hat, würde ich gern wissen, warum mir gezielt Informationen über Sergeant Boyd vorenthalten wurden.« Gemächlich lehnte sich Sergei in seinem Sessel zurück. »Mir war nicht bewusst, dass Sie sich so sehr für Marines interessieren.« »Zum Teufel mit Ihnen. Das ist kein gewöhnlicher Soldat«, fuhr Stone ihn an und beugte sich über den Tisch. So wütend hatte Sergei ihn noch nie erlebt. »Wenn Sie irgendetwas verschweigen...« Sergei stand so plötzlich auf, dass Stone unwillkürlich einen Schritt nach hinten tat. Der Commodore war mindestens zwanzig 111
Zentimeter größer und gut zwanzig Kilo schwerer. Seine Verärgerung war in diesem Augenblick stärker als jede Bedrohung, die zuvor von Stone ausgegangen war. »Das hier ist nicht der Hof des Imperators«, sagte Sergei schließlich. »Das ist die Lancaster, ein Schiff Seiner Majestät. Ich bin der Captain dieses Schiffs, ich habe den Dienstgrad eines Commodore inne, und ich bin nur gegenüber seiner Lordschaft, dem Admiral, verantwortlich. In den letzten Monaten, die Sie damit verbracht haben, in den Schatten herumzuschleichen, habe ich Ihre herablassende Art, Ihre Beleidigungen und sogar Ihre Drohungen ertragen. Aber jetzt ist Schluss damit, Captain. Haben Sie das verstanden? Es ist Schluss.« »Es ist Ihre Pflicht...«, setzte Stone an, doch es war nicht zu übersehen, dass er nicht länger das Tempo dieser Unterhaltung vorgab. Sergei erlaubte ihm keine Verschnaufpause und fuhr fort: »Sie wollen etwas über Boyd erfahren? Also schön. Ich habe ihn und auch den gefangenen Zor auf dieses Schiff bringen lassen, damit sie dem Admiral zur Verfügung stehen. Wie es scheint, hat Boyd ein gewisses Verständnis für die Sprache der Zor entwickelt, und ich hielt es für angemessen, dass er die Bekanntschaft des Gefangenen macht, um dem Admiral dabei zu helfen, die erforderlichen Informationen zu erhalten. Ich habe aus Sergeant Boyds Befehlen keinen Hehl gemacht, und ich habe Sie auch nicht daran gehindert, den Gefangenen zu besuchen, wenn Boyd bei ihm war. Admiral Marais ist darüber in meinem offiziellen Bericht informiert worden. Ich nehme an, über den Weg ist es dann auch zu Ihnen gelangt. Was zum Teufel wollen Sie noch von mir?« Stone erwiderte nichts, doch in seinen Augen spiegelte sich der blanke Hass wider. »Sie haben sich große Mühe gegeben«, fuhr Sergei fort, »meine Glaubwürdigkeit und meine Loyalität in ein schlechtes Licht zu rücken, wohl auch, indem Sie die Gedanken des Admirals vergifteten. Aber ich habe mein Schicksal in die Hände des Admirals ge 112 legt, und ich gehe davon, dass mich ein Kriegsgericht erwartet, sollte ich jemals ins Imperium zurückkehren. Ihm scheint das als Beweis meiner Loyalität zu genügen. Wenn es Ihnen nicht genügt, dann ist das Ihr Problem. Ich habe dem Admiral meine Berichte zu diesem Thema gegeben. Die Berichte und Aufzeichnungen meiner Untergebenen können Sie sich gern ansehen. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben und es schaffen sollten, sie auf eine zivilisierte Weise zu stellen, dann werde ich sie Ihnen gern beantworten. Und jetzt verschwinden Sie auf der Stelle aus meinem Büro.« Stone schien einen Moment zu lange zu überlegen, dann schließlich salutierte er, ohne einen Hehl aus seinem Hass zu machen, und verließ den Raum. Sergei stand noch sekundenlang einfach nur da und verspürte so etwas wie Euphorie, dass er seinem Ärger und Frust Luft gemacht hatte. Dann auf einmal musste er an das Gefühl denken, als Stone vorgeschlagen hatte, ihn in die Luftschleuse zu stecken. Ihm wurde klar, dass er noch etwas tun musste. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Mylord.« »Nicht der Rede wert, Commodore.« Der Admiral legte seinen Reader zur Seite und deutete auf zwei bequeme Sessel, die in einer Ecke der Suite standen. Sergei folgte ihm und nahm Platz, während Marais in den Raum sagte: »Computer, diesen Raum auf meine Befehl sprachversiegeln. Marais, Admiral Ivan.« »Bestätigt.« »Nun, Torrijos, was haben Sie auf dem Herzen?« »Ich habe eine... eine delikate Sache zu besprechen, Sir. Ich hatte eben eine Auseinandersetzung mit... nein, so hat es eigentlich nicht angefangen... Mylord, ich würde gern von Ihnen etwas über Ihren Adjutanten Captain Stone erfahren.« »Stone?« Marais sah ihn verwundert an, jedoch nicht abweisend oder argwöhnisch. »Er ist ein neugieriger kleiner Kerl, sehr tüchtig, phänomenales Gedächtnis. Er weiß sehr viel, und er arbeitet 112 sehr hart, um mich auf dem Laufenden zu halten, was in der Flotte abläuft.« »Er hält Sie auf dem Laufenden, Sir? Ist das sein Auftrag?« »Unter anderem.« »Gehört dazu auch, dass er in Schiffscomputer eindringt, private Unterhaltungen belauscht und vorgesetzten Offizieren gegenüber Drohungen ausspricht?« Marais beugte sich vor. »Wie bitte?« »Ich habe Beweise dafür, dass er all diese Dinge macht, Sir. Jemand drang in die Computersysteme der Biscayne, der Gagarin und der Lancaster ein - und vermutlich auch in die anderer Schiffe -, und vieles deutet darauf hin, dass Captain Stone dafür verantwortlich ist. Private Unterhaltungen sind abgehört worden, und die Beteiligten wurden anschließend von Stone angesprochen, der ihre Ehre anzweifelte, ihre Leistungen in den Schmutz zog und Treulosigkeit unterstellte. Mindestens vier Offizieren wurde angedroht, sie könnten tödliche Unfälle erleiden.«
Marais wusste darauf nichts zu erwidern. Sergei war kein allumfassender Menschenkenner, doch nach der Körpersprache zu urteilen, hatte der Admiral von diesen Dingen bislang nichts gewusst. »Ich wurde ebenfalls bedroht, Sir.« »Ich wurde ebenfalls bedroht, Sir.« Stone lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Dieser kleine Bastard. Läuft zum Admiral und heult sich bei ihm aus. Das wird ihm noch Leid tun.« Er begann zu überlegen, was er tun konnte. Als er sich in seinem Quartier umsah, kamen ihm gleich mehrere Möglichkeiten in den Sinn, und seine finstere Miene wich schnell einem unangenehmen, bedrohlichen Lächeln. »Das habe ich ihm nicht aufgetragen, Commodore, das versichere ich Ihnen.« Marais schien das Ganze wirklich unangenehm zu sein, 113
und er wirkte besorgt. Sergei hatte nicht gewusst, wie seine Worte ankommen würden. Immerhin wäre es möglich gewesen, dass Ma-rais tatsächlich Stone all diese Dinge befohlen hatte. Sich darüber zu beklagen, war für Sergei ein kalkuliertes Risiko gewesen. In seiner gesamten Dienstzeit hatte er noch nie vernünftig arbeiten können, wenn er seinem vorgesetzten Offizier nicht vertrauen konnte. Sogar damals an Bord der Ponchartrain hatte er gewusst, wo er stand. Nun, in der Isolation des Sprungs, auf dem Weg zu einem brutalen Kampf gegen den Feind der Menschheit -vermutlich ohne eine legale Grundlage, die vor dem Kriegsgericht Berücksichtigung finden konnte -, wurde Sergei bewusst, dass er Marais vertrauen musste. »Ich bin mir sicher, dass Sie das nicht machen würden, Mylord. Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass Ihnen das meiste von dem, was Stone macht, nicht bekannt ist. Es wird deutlich, dass er seine Position missbraucht hat, um in Ihrem Namen zu handeln.« »Warum sagen Sie mir das jetzt?« »Sir, ich bin von Natur aus kein Intrigant. Mich interessiert nur, diesen Krieg zu einen annehmbaren Ende zu bringen, und es ist mir ein Privileg, mit meinem Wissen und meinem Talent dazu beizutragen, dass dies auch gelingt. Ich war bislang bereit, Stones mangelnden Respekt, seine beleidigende Art und sogar seine Drohungen hinzunehmen. Bislang, aber nicht länger.« »Bislang, aber nicht länger.« Stone stand auf und ging zu einem Regal, das aus der Wand hervorragte. Er nahm einen Reader heraus, der ganz gewöhnlich aussah, legte aber seine Hand in einer besonderen Haltung auf die Unterseite. Ein lautes >Klick< war zu hören, dann begann der Reader auf eine eigenartige Weise zu rotieren, als stülpe er sich von innen nach außen. Aus dieser Verwandlung entstand mit einem Mal eine holographische Darstellung, die einen Querschnitt der Lancaster zeigte. Verschiedene Bereiche waren hervorgehoben und blinkten rot, blau oder gelb. 113 Er nahm eine Veränderung an dem Gerät vor, das sich daraufhin auf einen der blinkenden Punkte konzentrierte, der sich im Quartier von Admiral Marais befand. Stone lächelte auf eine Weise, die einem Beobachter das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Doch niemand war da, der Stone hätte beobachten können. »Mylord, ich habe nichts von dem verschwiegen, was sich an Bord der Orbitalbasis von A'anenu abgespielt hat. Ich empfand Sergeant Boyds Schilderung beunruhigend, aber interessant, und ich habe seine Ausführungen in meinem Bericht berücksichtigt. Er und der Gefangene sind zu Ihrer Verfügung an Bord der Lancaster, und ich verfolge keinen heimlichen Plan. Aber vor einer halben Stunde stürmte Stone in mein Büro und unterstellte mir, ich würde ihn im Dunkeln lassen. Nicht Sie, Sir, sondern ihn. Ich fürchte, ich bin an der Grenze dessen angelangt, was ich erdulden kann. Ich warf ihn aus meinem Büro und entschied, dass es an der Zeit ist, Sie über seine Aktivitäten zu informieren. Ich wusste, ich würde von Ihnen gehört werden.« Marais stützte einen Ellbogen auf sein Knie und legte das Kinn in die Hand. »Möchten Sie Anklage gegen Captain Stone erheben?« »Liebend gern, Sir, aber ich muss es nicht. Wenn Sie es wünschen, werde ich um des Friedens willen davon absehen. Aber ich möchte Stones Treiben ein Ende setzen. Ich werde keine weitere Insubordination, kein skrupelloses Verhalten und keine weiteren Drohungen hinnehmen. Beim ersten Verstoß landet er in der Arrestzelle, notfalls lasse ich ihn in Ketten legen, und zwar für die Dauer des Krieges.« »... und zwar für die Dauer des Krieges.« »Sieh an, du drohst mir?«, sagte Stone zu sich. Wieder veränderte er die Einstellungen des Geräts, das darauf noch näher an den blinkenden Punkt heranfuhr. Der Bildschirm zeigte zwei mensch 113
liche Umrisse, die sich ein wenig bewegten. Stone wollte eben eine Taste auf dem Gerät berühren... ... da wurde der Raum auf einmal von grellem Licht erfüllt, das sich in mehrere Streifen von unterschiedlicher Farbe aufspaltete: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett. Es war nur schwer zu sagen, wo ein Streifen verblasste und der nächste begann. Stone musste die Augen zusammenkneifen, um noch irgendetwas im Raum erkennen zu können: seine Hände, die Möbel, das Gerät... »Nein, verdammt«, rief er. »Ich muss...« »HÖR AUF«, sprach eine körperlose Stimme. Der grüne Lichtstreifen leuchtete intensiver, als die Worte durch den Raum hallten. »Aber ich muss Torrijos aus dem Weg räumen«, sagte Stone. »Marais braucht mich, und Torrijos wird im Weg sein.« »NEIN.« Der rote Streifen wurde kräftiger. »WIR WOLLEN NICHT, DASS DIES GESCHIEHT.« »WIR WERDEN ES NICHT VERURSACHEN«, schien der blaue Streifen zu sagen. »WIR HABEN UNS ENTSCHIEDEN, NICHT ZU VERHINDERN, DASS ES GESTOPPT WIRD«, erklärte der violette Streifen. »ES IST ZEIT, DASS DU AUFBRICHST«, fügte der grüne Streifen einen Moment später an. Der verwandelte Reader wurde durchscheinend, dann war er verschwunden, sodass Stone mit leeren Händen dastand. »ANDERE GELEGENHEITEN WERDEN SICH BIETEN.« »Aber...«, setzte Stone zum Reden an. »ES IST ZEIT, DASS DU AUFBRICHST«, wiederholte das grüne Leuchten. Die Lichtstreifen verengten sich, bis sie zusammen vielleicht noch einen Meter breit waren und sich bis zu der Stelle erstreckten, an der Stone stand. Alles andere im Raum war nur noch schwach wahrnehmbar und versank in tiefer Schwärze. Das regenbogenfarbene Licht bildete einen Weg, der gleich unter Stones Füßen begann und sich bis in unendliche Ferne ausdehnte. Ohne sich umzusehen betrat Stone den Weg und machte einen 114 Schritt nach dem anderen, bis der Raum und das Schiff völlig hinter ihm verschwunden waren. »Aus Fairness gegenüber meinem Adjutanten, Torrijos, möchte ich ihn gern mit diesen Vorwürfen konfrontieren. Ich weiß, Sie haben Beweise, die Ihre Aussagen stützen, aber ich glaube, Stone hat das Recht, sich zu verteidigen.« »Ich vertraue auf Ihre Fairness, Sir. Ich...« Die Bootsmannspfeife unterbrach seine Erwiderung. »Wachoffizier ruft den Captain.« »Sie gestatten, Sir?« Marais nickte. »Hier Torrijos.« »Fordyce hier, Captain. Tut mir Leid, wenn ich Sie störe, Sir, aber wir haben soeben eine ungewöhnlich hohe Energieanzeige innerhalb der Offiziersquartiere registriert. Ich habe ein Team losgeschickt, um der Sache nachzugehen.« »Was für eine Energieanzeige? Irgendeine Explosion?« »Nein, Sir. Die Anzeige passt auf nichts, was ich jemals gesehen habe. Commander Wells und die Wissenschaftssektion sind benachrichtigt, aber sie wissen auch noch nichts.« »Wo genau hat sich das abgespielt?« »Augenblick, Captain ...« Fordyce ließ sich von jemandem auf der Brücke informieren. »Das Quartier von Captain Stone, Sir.« Sergei sah Marais an, beide Männer standen gleichzeitig auf. »Ich bin unterwegs, Pam. Truppen in Alarmbereitschaft, Captain Ende.« »Ist das notwendig?«, fragte Marais, als sie zur Tür eilten. »Ich habe ein ungutes Gefühl«, erwiderte Sergei. Stones Quartier war keine Minute von dem des Admirals entfernt. Als Sergei dort eintraf, wartete bereits ein Trupp Marines. Chan Wells kam aus der anderen Richtung angelaufen und brachte Sensorausrüstung mit. Den Raum hatte noch niemand betreten. 114 »Berichten Sie«, sagte Sergei. Chan sah ihn und den Admiral an, dann blickte er zur Tür. »Ich weiß nicht, womit wir es hier zu tun haben, Sir. Irgendetwas ist vorhin geschehen. Es war wie eine Woge in der Struktur des Raums, in etwa so wie in dem Moment, wenn ein Schiff zum Sprung ansetzt.«
»Hm.« Sergei konnte sich nicht erklären, was das bedeuten sollte. Die Lancaster befand sich im Sprung, sie reiste mit Überlichtgeschwindigkeit durch ein dunkles und leeres Kontinuum, in dem sie ganz allein unterwegs war. Die Marines standen unruhig daneben und warteten darauf, dass etwas geschah. Sergei zuckte mit den Schultern und betätigte die Türglocke, aber niemand öffnete. »Machen Sie auf«, sagte er schließlich, dann gingen er, Marais und Chan einen Schritt zurück. Einer der Marines öffnete eine Wandverkleidung und schob eine Kodekarte ein, während der Rest des Trupps sich bereitmachte, das Feuer zu eröffnen, sollte jemand aus dem Raum heraus auf sie schießen. Die Tür glitt zur Seite, die Marines stürmten hinein, die Waffen im Anschlag »Captain?«, sagte einer der Männer, woraufhin Sergei in Stones Quartier trat. Oder besser gesagt: in das, was von Stones Quartier noch übrig geblieben war. Vom Mobiliar und von den persönlichen Gegenständen war nichts mehr zu sehen, stattdessen war der Raum komplett leer. Nur die Notbeleuchtung war eingeschaltet, doch es war gut zu erkennen, dass sich auch an den weißen Wänden nichts mehr befand. Marais folgte Sergei, und Chan begann, den Raum zu scannen, schüttelte aber nach wenigen Augenblicken den Kopf. Der Admiral ging bis zur Mitte der Kabine, blieb stehen und sah sich um, als sei er unentschlossen, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. »Brücke, hier spricht der Captain. Machen Sie Captain Stone ausfindig.« 115 »Aye-aye, Sir.« Die Stimme von Pam Fordyce klang in dem leeren Raum eigenartig hohl. Nach einer kurzen Pause meldete sie sich wieder. »Mit dem internen Scan kann ich ihn nicht entdecken. Er könnte vielleicht irgendwo im Maschinenraum sein. Es ist möglich, dass die Triebwerke seine Lebensanzeigen vor dem Scan abschirmen.« »Riegeln Sie die Sektion ab und lassen Sie sie auf den Kopf stellen. Captain Ende.« Er sah zu Chan. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass er nicht zu finden sein wird.« »Das ist unmöglich, Sir. Er muss an Bord der Lancaster sein, es gibt nichts anderes.« »Wie meinen Sie das, »es gibt nichts anderes Commander?«, warf Marais ein. »So wie ich es sagte, Sir.« Chan machte eine ausholende Geste. »Das Schiff befindet sich im Sprung, Admiral. Unsere Theorie ist, dass es von einer Art Blase umschlossen ist, die sich an entlang einem Vektor von einer spezifizierten Position im Realraum weiterbewegt. Die Länge des Vektors berechnen wir unter Anwendung der bordobjektiven Zeit, die Richtung bestimmen wir durch exakte Ermittlung der Richtung, in die sich das Schiff beim Sprung bewegt. Solange wir im Sprungraum sind, kann zu nichts, was sich außerhalb dieser Blase um die Lancaster befindet, in irgendeiner Weise Kontakt aufgenommen werden. Einige Gelehrte der Sprungphysik glauben, dass die Lancaster für die Dauer des Sprungs das gesamte Universum darstellt. Stone kann das Schiff nicht verlassen haben, weil da nichts sonst ist, wohin er sich begeben könnte. Wenn sich Captain Stone nicht mehr hier an Bord befindet und alle unsere Instrumente richtig arbeiten, dann...« »Dann was?«, fragte Sergei, der dem Gedankengang seines XO folgen wollte, sich aber nicht vorstellen konnte, worauf der hinauswollte. »Dann«, antwortete Chan nach kurzer Pause, »haben sich diese Gelehrten geirrt.« 115 Rrith öffnete seine Augen und tauchte aus seinem meditativen Zustand auf. Boyd, der ein Stück entfernt auf einem Kissen saß, hatte den Blick auf seinen Reader gerichtet. »Der Untergebene des esGa'u ist fort«, sagte Rrith und schloss wieder die Augen. »Was?« Rrith war bereits in seine Trance zurückgekehrt und antwortete nicht mehr auf Chris Boyds Frage. Ohne es bewusst wahrzunehmen, glitt Sse'e in den Schlaf und merkte, wie sich um ihn herum vertraute Traumformen zu scharen begannen. Als sie sich ordneten, brachte er seine geschärfte Wahrnehmung als Fühlender ins Spiel und wurde zum Beobachter des Traums, der von den Handelnden weder gesehen noch anders wahrgenommen wurde. esGa'u war dort - wie so oft in seinen Träumen. Der Lord der Ausgestoßenen ging in seinem verborgenen Labor auf und ab, während Stürme über den Himmel zogen. Hinter esGa'u konnte er die Fenster sehen, die den Blick erlaubten auf die tief hängenden Wolken und den peitschenden Regen, der über das Plateau hin zur Feste des Hexenmeisters getrieben wurde.
Er konnte wie stets lesen, was esGa'u dachte. Kein Wunder, dachte er. Schließlich ist das alles nur ein Traum, der sich nur in deinem Schädel abspielt. Aber war es das wirklich? Kannst du mich nicht hören, Kriecher?, dachte esGa'u und blieb stehen, damit er durch die hohen Fenster den entfesselten Sturm beobachten konnte, während er zu esLi sprach. Kannst du nicht sehen, was ich dir geschaffen habe? Ein hübsches Stück, nicht wahr? Die Treuen folgen dir immer noch, fuhr er fort. Sie warten so verzweifelt auf deine Gunst, sie streiten nicht mehr untereinander. Und doch kommt die Dunkle Schwinge ihnen immer näher. In deinem Namen sind sie so auf ihren Weg aus verdrehter Wahrheit und 116 unangebrachter Ehre konzentriert, dass sie ihre Verdammnis - die ich für sie vorbereitet habe - nicht abwenden können. Sie können sie nur mit offenen Armen empfangen ... esGa'u streckte seine Flügel im Halbkreis aus, sodass sich die Krallen fast berührten. Die Beine hatte er gekreuzt und leicht gebeugt, damit sie die Haltung von esLi'u'eRa, der Loyalität gegenüber esLi, zeigten. Es war eine Geste, die nur als Spott verstanden werden konnte. Es ist so, wie ich es geplant hatte, Lord Kriecher, fuhr esGa'u wieder fort, dessen ewig attraktives Gesicht vor Schadenfreude zur Fratze verzerrt war. Es mag mich zwar zerstören, aber es kann nicht anders, als dich auch zu vernichten. Ohne Anhänger, die dafür sorgen, dass dein Name weiterlebt, wirst du untergehen, ob du dich für einen Gott hältst oder nicht. Und die Dunkle Schwinge kann nicht scheitern, weil dein enger Ehrenkodex dem Volk keinen Erfolg erlaubt. Schon jetzt höre ich die Armeen dessen, der erwartet wird, gegen meine Tore anrennen. Der Träumer hörte Lärm, der von außerhalb des Labors des Hexenmeisters kam, Kampfgeräusche auf einer Treppe. Es ist zu spät, um deinen alten Schwingen noch etwas Neues beizubringen, dachte esGa 'u und wandte seine stolze Miene zum Himmel. Die Dunkle Schwinge kommt zu meiner Tür, esLi, mein alter Feind. esGa 'u, Hexenmeister, Lord der Ausgestoßenen, drehte sich zur Tür, die bestürmt wurde, noch während die letzten Silben über seine Lippen kamen, die an den heulenden Sturm gerichtet waren. Ehe er die Tür öffnen konnte, wurde sie mit solcher Wucht aufgestoßen, dass sie aus den Angeln gerissen wurde und zu Boden schlug. Die Türöffnung dahinter wirkte wie ein klaffendes schwarzes Loch. Durch diese Öffnung trat ein Mensch - der Admiral der Flotte, der Kommandant der Streitmacht der Menschen, die in diesem Moment auf dem Weg zu den Heimatsternen war. Er trug nichts 116 von den Dingen, die man traditionell mit der Dunklen Schwinge in Verbindung brachte - keine karmesinrote Schärpe, kein Medaillon, das den Ungebrochenen Kreis zeigte. Er wirkte sogar völlig anders als in den anderen Träumen. esGa 'u stolperte nach hinten, als der Mensch in sein Labor kam, gefolgt von anderen Träumen und... von einem aus dem Volk. In einer Hand hielt der Mensch einen schlichten weißen Stab, das Symbol für... »Die Helle Schwinge«, sagte der Mensch, der den Stab mit seiner langen Klauenhand umklammert hielt. Er ignorierte esGa'u und wandte sich der Position des Träumers zu. »Es wird Zeit, Lord«, sagte er. »Ich muss mit Ihnen reden.« Mir Ihnen reden. Mit Ihnen reden ... »... mit Ihnen reden. Ich bitte achttausendmal um Verzeihung, Hoher Lord, dass ich Ihre Ruhe störe. Aber Ihr Cousin se Hyos behauptet, es sei dringend.« Der Hohe Lord sah auf seine Füße, die den Torus fast schon krampfartig umschlossen hielten. Er brauchte einen Moment, um auch die letzten Bilder seines Traums zu verdrängen, dann seufzte er. Schließlich stieß er sich ab, breitete die Schwingen aus und flog lange, gelassene Bahnen, wobei seine Flügel im rhythmischem Elfertakt schlugen und er für sich das Ritual des Erwachens rezitierte. »Sagen Sie meinem verehrten Cousin«, sprach Sse'e HeYen schließlich in das Mikrofon der Meditationskammer, »ich gewähre ihm mit Vergnügen seine Bitte. Und«, fügte der Hohe Lord an, als er auf einer Stange landete, die sich gut ein Dutzend Meter unterhalb von esLi's Torus befand, »sagen Sie ihm auch, dass seine Gründe, meine Meditation zu stören, unwichtig sind. Mein ehya wird sein Blut kosten.« »... wie Sie wünschen«, kam als Antwort, dann folgte Schweigen. Der Hohe Lord verharrte auf der Sitzstange und dachte über den 116
soeben erlebten Traum nach. Für manche waren Träume nichts weiter als geistige Übungen, die im Schlaf ausgeführt wurden. Doch es war lange her, dass die Träume des Hohen Lords die Konzentration auf das kollektive Unterbewusstsein richteten, eine Kralle, die nach esLi selbst ausgestreckt wurde. Sse'e HeYen interessierte sich nicht für die Spekulationen über die Wahrheit. Ihm war esLi - oder eine seiner Manifestationen - viele Male in diesen Visionen erschienen, und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Schöpfer nur ein Produkt des Traums eines Fühlenden sein sollte. Es war jedoch gewiss, dass die Träume des Hohen Lords Bedeutung hatten. Es war seit langem als Tatsache akzeptiert, dass die Träume, die immer in Metaphern gehüllt zu sein schienen, interpretiert werden konnten, um der Wahrheit dessen auf den Grund zu gehen, was kommen würde... Es war so, als würde dem Fühlenden, der sie träumte, mit einem Mal ein Blick in die Zukunft gewährt, verbunden mit einem Bild, wie sich die Gegenwart darauf zubewegte. Sse'e überlegte, was seine Vision bedeuten mochte. Einiges davon war klar: esGa 'u war der ewige Feind von esLi. Es war offensichtlich, dass die Ansichten über die Menschheit sie unwiderruflich an diesen Punkt geführt hatten. Doch der Verzicht auf die Verantwortung, diese Seuche mit Namen Mensch auszurotten, konnte das Volk in esLis Augen nur idju machen. Aber die Menschheit war nicht vernichtet worden, sondern sie erhob sich wieder und wieder, und nun hatte sie sogar den legendären es-Hu 'ur hervorgebracht. Es machte das Volk für eine Kapitulation idju, sogar gegenüber esHu'ur. Aber war das Volk nicht längst hi'idju, dass es überhaupt geschlagen werden konnte? War es nicht besser, der Sache nun ein Ende zu setzen und eine ganze Spezies das Todesritual vollziehen zu lassen, anstatt noch länger Schande ertragen zu müssen? Doch ein Mysterium blieb weiterhin ungeklärt. Im Traum hatte esGa 'u von der Vernichtung des Volks durch die Klauen der Dunklen Schwinge gesprochen. Aber der Admiral der Menschen hatte 117 sich selbst als die Helle Schwinge bezeichnet, obwohl sein Handeln ihn eindeutig zur Dunklen Schwinge machte. Konnte es sein, dass er dennoch die Dunkle Schwinge war? Oder dass er sie vielleicht auch war? Die Dunkle Schwinge versprach ein Ende, den ewigen Schlaf der ehrbaren Toten. Die Helle Schwinge dagegen versprach Leben und fortgesetzte Ergebenheit gegenüber esLi, eine Chance auf Wiedergutmachung und Erneuerung. In der Literatur war von der »Verdammung zum Leben« die Rede gewesen. Anstatt das Todesritual zu erlauben, verdammte esli den Helden dazu, weiter unter seinem Dasein zu leiden, weil er zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht einem bedeutenderen Zweck würde dienen können. Für einen Zor war es nicht schwer, sich als idju zu betrachten, doch es war an esLi, darüber zu entscheiden. Vielleicht hatte esLi ihm das im Traum sagen wollen. »Die Nachricht Ihres verehrten Cousins ist komplett«, meldete sich eine Stimme aus dem Lautsprecher. Der Hohe Lord berührte eine Vertiefung an der Wand, ein Bildschirm erwachte zum Leben und zeigte das Gesicht seines Cousins. 117
14. Kapitel (Aus den Aufzeichnungen des Untersuchungsausschusses zur Schlacht von Pergamum, Flottenüberwachungsausschuss der Imperialen Versammlung, 23. April 2311) MITGLIED AVIDRA PRAMURJIAN (Vorsitzende, New Chicago): Bitte beschreiben Sie dem Ausschuss, wie Sie zu dieser Schlussfolgerung gelangten. ERSTER LORD DER ADMIRALITÄT: Gewiss, Vorsitzende. Wenn sich der Ausschuss bitte die Displays ansehen würde... [s. Video-Anhang 2311-PCI4291-12] Eine Analyse der Sprungechos der ursprünglich angreifenden Streitmacht bei Pergamum sowie der als Verstärkung eintreffenden Schiffe deutet auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt hin. Durch die Projektion dieser Vektoren wird - wie Sie sehen können - klar, dass sie zu keiner Zor-Basis auf der dem Imperium zugewandten Seite der Antares-Verwerfung passen. Ebenso stehen sie in keinem Zusammenhang mit einer Position der Innersten Sterne der Zor. Wir haben den Schluss gezogen, dass sie von einem Punkt innerhalb der Verwerfung aus gestartet sein müssen. MITGLIED MIKHAIL SALEH (Denneva): Innerhalb der Verwerfung? Das ist doch unmöglich. ERSTER LORD: Unsere Berechnungen zeigen, dass es zutrifft. Wenn Sie sich dieses Display ansehen... MITGLIED SALEH: Aber die Verwerfung ist leer. Die Admirali 117
tät wird doch sicher nicht hinter dem Rücken des Ausschusses die Gesetze der Sprungphysik geändert haben. [Gelächter] ERSTER LORD: Nein, Abgeordneter Saleh, dazu müssten wir erst die Erlaubnis des Imperators einholen. [Gelächter] Lassen Sie mich etwas klarstellen. Sie kennen das Konzept des Muir-Limits und dessen Wirkung auf die Fähigkeit eines Schiffs, in den Sprung zu gehen... MITGLIED PRAMURJIAN (unterbricht ihn): Erster Lord, gestatten Sie. Vielleicht könnten Sie den Laien in diesem Ausschuss mit einer kurzen Erklärung aushelfen. Mir ist bewusst, dass Sie sich nicht für einen umfassenden Vortrag vorbereitet haben, aber ich bin mir sicher, dass ein grober Abriss eine wertvolle Hilfe wäre. ERSTER LORD: Ich werde mein Bestes tun, Madam Vorsitzende. Das erste Diagramm, das in einem Einführungskurs zur Sprungphysik gezeigt wird, ist die Muir-Limit-Kurve. Sie stellt die Masse der Reichweite dieser Masse gegenüber und zeigt, wie Himmelskörper »Beulen« im Raum erzeugen, sowohl im realen als auch im Überlicht-Kontinuum. MITGLIED SALEH: Erzeugen springende Schiffe nicht eine ähnliche Beule? ERSTER LORD: Ja, das ist richtig, aber das ist nur ein momentanes Phänomen, und sobald das Schiff fort ist, verschwindet die Beule ebenfalls wieder. MITGLIED SALEH: Ich verstehe. ERSTER LORD: Massekonzentrationen stellen eine Gefahr für interstellare Reisen dar, aber ohne Massekonzentrationen wäre ein Sprung unmöglich. Der Grund dafür ist der, dass Springen an sich von Natur aus grundsätzlich probabilistisch ist: Es besteht eine an hundert Prozent grenzende Wahrscheinlichkeit, dass das Ziel erreicht wird - aber nur, wenn das Muir-Limit des Ziels innerhalb eines eng definierten Rahmens liegt. 118 Liegt es zu hoch - also zu tief in einem Schwerkraftfeld, innerhalb eines Sonnensystems oder zu nahe an einer Sonne -oder zu niedrig, zu tief im Raum oder in der Nähe eines kleinen, schwachen Sterns, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Sprungs. Aus diesem Grund ist die Erforschung eines neuen Sonnensystems auch sehr riskant, da die exakten Masseverhältnisse nicht bekannt sind und die Gefahr eines Fehlsprungs wächst. Auf der Grundlage unserer Berechnungen muss sich in der Nähe unserer vermuteten Basis Masse befinden. Das Fehlen leuchtender Sterne und das Vorhandensein von dunkler Materie ist das, was die Antares-Verwerfung ausmacht. Unsere Suche war auf dunkle Sonnen beschränkt - kollabierte Sonnen und Planeten von Sonnengröße, die ihre Energie aufgebraucht haben. MITGLIED SIR EDOUARD KANEV (St. Catherine): Sie meinen so etwas wie ein Schwarzes Loch oder einen Neutronenstern? ERSTER LORD: Nicht exakt, Sir. Schwarze Löcher und Neutronensterne bringen Probleme mit sich. Ein Schwarzes Loch bringt Relativitätsprobleme mit sich, und ein Neutronenstern besitzt eine extrem hohe Schwerkraft. Was wir suchen, ist ein großer Planet oder ein kleiner sterbender Stern mit einer absoluten Größe höher als zehn - von der Helligkeit her etwas, das sich im Tausendstelbereich unserer Sonne bewegt. Wir haben sieben mögliche Kandidaten entdeckt, die über genügend Masse verfügen, um einen Sprung möglich zu machen ... MITGLIED SALEH: Eine Basis in der Verwerfung zu errichten, wäre eine sehr aufwändige Angelegenheit, nicht wahr? Wenn Ihre Schätzungen zutreffen ... dann kamen fast einhundert Zor-Schiffe von der angeblichen Basis nach Pergamum. Eine Basis, die so viele Schiffe versorgen kann - wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum -, müsste ausgesprochen groß sein. 118 ERSTER LORD: Wir haben einige Schätzungen vorbereitet [s. Video-Anhang 2311-PCI4291-19], die Sie auf Ihren Displays sehen können. MITGLIED SUNG LIN (Morgaine): Es wäre auch vor Ort wenig Material vorhanden, das man für den Bau verwenden könnte, richtig? MITGLIED PRAMURJIAN: In diesem Fall würde der Aufwand noch erheblicher sein, da sämtliches Material an diesen Standort transportiert werden müsste. ERSTER LORD: Nicht zu vergessen der zeitliche Aufwand, Abgeordneter. Unsere vorsichtige Schätzung geht davon aus, dass mindestens zehn bis elf Standardjahre notwendig wären, um die Station fertig zu stellen. MITGLIED KANEV: Das liegt um mehrere Jahre vor dem Vertrag von Efal.
ERSTER LORD: Abgeordneter, der Baubeginn muss auch vor dem Vertrag von Las Duhr gelegen haben. Es lässt die Vermutung zu, dass der Angriff auf Pergamum vor Jahren geplant worden sein muss - lange bevor der momentane Krieg überhaupt ein Thema sein konnte. Der Lift summte leise, als er sich nach oben bewegte, und Sergei widmete sich dem Ritual, das er immer durchging, bevor er auf die Brücke kam. Es war wichtig für ihn, ruhig und beherrscht, aber nicht entspannt zu sein. Jahre als Kommandant hatten ihn gelehrt, wie gefährlich es sein konnte, wenn man sich entspannte. So kamen Fehler zustande - und Menschen ums Leben. Er atmete mehrmals tief durch und dachte an den Abschnitt der Flottenvorschriften, den er fünfzehn Jahre zuvor extra für diesen Zweck auswendig gelernt hatte. Nachdem er sich konzentriert und seinen Geist von allem Überflüssigem befreit hatte, zog er an den Manschetten seiner Uniformjacke und wischte eine Fluse von seinem rechten Stiefel. 119 Die Lifttür ging auf, dann betrat er die Brücke der Lancaster. Admiral Marais trug eine weitere Variante der Galauniform und stand an der Station des XO, wo er eine Anzeige betrachtete. Chan Wells hatte den Pilotensitz inne, stand aber auf, als er Sergei sah. »Captain auf der Brücke.« Die Offiziere unterbrachen ihre Arbeit und salutierten, blieben dabei aber sitzen. Chan kam ihm entgegen und übergab ihm den Bericht seiner Wache. »Alle Systeme arbeiten bei hundert Prozent, Sir.« »Wie lange noch bis zum Sprungende?« Chan sah auf die Anzeige über der Maschinenstation. »Zwei Minuten und dreißig Sekunden.« Sergei nahm den Bericht und ging zu seinem Platz. Admiral Marais grüßte er vorschriftsmäßig, weiter jedoch nichts. Zumindest auf der Brücke der Lancaster stand Sergei über ihm. Sein Blick wanderte über das Pilotendisplay, er sah sich die Statusberichte der diensthabenden Offiziere an, die für Navigation, Maschinen und Lebenserhaltung zuständig waren. Er sah von Station zu Station und warf auch Marais einen kurzen Blick zu, der aber wegschaute. Dann betrachtete Sergei den Bugmonitor, der nichts als völlige Schwärze zeigte. Die Lifttür öffnete sich, und Sergei bemerkte, dass Boyd auf die Brücke kam, der mit dieser Umgebung sichtlich nicht vertraut war. Er bedeutete dem Marine, einen Platz am Rand der Brücke einzunehmen, dann konzentrierte er sich wieder auf das Pilotendisplay. »Bitte den Captain um Erlaubnis, den Sprung beenden zu dürfen«, sagte der Steuermann, ohne sich umzudrehen. »Tun Sie das nach eigenem Ermessen, Lieutenant«, erwiderte Sergei. »Eine Minute... ab jetzt«, meldete der Mann. Eine Sirene ertönte überall im Schiff. Die Anspannung wurde stärker, eine erdrückende Stille legte sich über die Brücke, die nur vom permanenten Brummton der Ventilation und dem unterschwelligen Summen der Maschinen aus dem hinteren Teil des Schiffs unterbrochen 119 wurde. Unwillkürlich musste Sergei auf die Uhr sehen, auf der die Sekunden verstrichen. »Abwehrfelder bereit, Schiff gefechtsbereit machen«, sagte er. Es war unmöglich, im Sprung die Verteidigung des Schiffs hochzufahren, sie konnte nur für den Augenblick des Übergangs vorbereitet werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kriegsschiff beim unvorbereiteten Sprung in ein feindliches System angegriffen und zerstört wurde. Die Uhr lief unaufhaltsam bis null. Langsam wechselte der Bugmonitor von Schwarz zu Quecksilber, zog Streifen vom Mittelpunkt in alle Richtungen, bis die sich in die Sterne ringsum verwandelt hatten. Vor dem Hintergrund des hellen Arms der Milchstraße, der von einzelnen Flecken dunkler Materie durchsetzt war, zeigte der Bugmonitor der Lancaster eine riesige metallische Struktur, nur vom Licht der Sterne und Nebel erhellt, das von ihrer Oberfläche reflektiert wurde. Dahinter hing eine gewaltige dunkle Masse in der Leere - der Leichnam eines vor langer Zeit gestorbenen Sterns. »Bericht«, sagte Sergei zu Chan, während er vor sich auf dem Pilotendisplay eine Reihe von Lichtpunkten aufleuchten sah. Im Hintergrund waren die Statusmeldungen der anderen Schiffe zu hören, die ihre Ankunft mitteilten. »Neunzehn Schiffe haben den Sprung beendet, Sir. Alle Einheiten melden, voll funktionsfähig zu sein. Die Basis liegt vierhundert Millionen Kilometer vor uns.« »Und der Feind?« »Wir registrieren etwas mehr als vierzig Schiffe in der unmittelbaren Nähe, Sir.«
»Lancaster an Gagarin. Schicken Sie Ihre Staffeln los, Captain Bell.« »Gagarin bestätigt, Sir«, meldete Lew Cornejo. »Erste Staffel startet in einer Minute.« »Hervorragend.« Sergei sah zu Marais, dann zu Boyd, schließlich konzentrierte er sich wieder auf sein Pilotendisplay. Die Zor 120 schickten einige Schiffe von ihrer Basis aus los. »Öffnen Sie einen Kanal zu allen Schiffen. Hier ist die Lancaster, alle Schiffe ein Viertel Kraft voraus.« Von den übrigen Schiffen kamen bestätigende Meldungen, während Sergei beobachtete, wie die Zor in die typische Keilformation gingen, als sie sich den Eindringlingen näherten. »Öffnen Sie einen Kanal zum Zor-Kommandanten. - Dies ist die Lancaster, das Flaggschiff Seiner Imperialen Majestät. Ich fordere die feindlichen Schiffe auf, sich zu ergeben.« Auf der Brücke wurde es wieder still. Die Mehrheit der imperialen Schiffe war angekommen. Lediglich ein paar Nachzügler materialisierten nahe dem Sprungpunkt. Die Zor reagierten nicht, wechselten jedoch beim Näherkommen in eine ungewöhnliche Formation. »Sevastopol, Indomitable, zum Feuern bereitmachen«, befahl Sergei. Sie befanden sich in der vordersten Reihe und würden als Erste in Feuerreichweite kommen. Im nächsten Moment jedoch drehte sich der Kom-Offizier zu ihm um. »Captain, ich empfange eine Übertragung vom Kommandanten des Zor-Geschwaders. Es scheint aber keinen Sinn zu ergeben.« »Sir«, warf Boyd ein, »ist Ihnen deren Flugformation aufgefallen?« Es war das Erste, was er sagte, seit er auf die Brücke gekommen war. Sergei sah auf den Bugmonitor. Die Schiffe, die als halb beleuchtete Kugeln zu sehen waren, hatten sich ähnlich den Windungen einer Muschel - mit zwei Schiffen an Backbord - übereinander angeordnet. Dann betrachtete er das Pilotendisplay. Die Zor-Formation war nur noch fünfzehn bis dreißig Sekunden davon entfernt, in Feuerreichweite zu gelangen. »Hat es mit ihrer Formation etwas Besonderes auf sich?«, fragte er, ohne den Blick abzuwenden. »Es ist ein... hRni'i, Sir. Das Schriftzeichen steht für »Schicksal, aber in einem sehr tiefen Sinn.« 120 »Erklärung.« »In diesem Zusammenhang, Sir, glaube ich, dass sie sich ergeben wollen. Aber sie erwarten, dass wir dieses Muster erkennen.« »Anne, was übertragen die Zor an uns?« »Der Translator hat Schwierigkeiten damit, Sir. Ich glaube, es ist so etwas wie ein Gedicht. Über einen Gefangenen, einen Helden und... die >Nachtberge<.« Marais hatte den Wortwechsel schweigend mitverfolgt, jetzt aber betrachtete er den Bugmonitor. »Mr Boyd, wie lautet der Name des Schriftzeichens, das die Formation bildet?« »esHu'eyen, Sir. Wenn ich den Admiral auf etwas aufmerksam machen darf - die Zor haben exakt elf Schiffe in Formation geschickt. Nicht mehr und nicht weniger.« »Lieutenant«, erklärte Marais. »Senden Sie Folgendes: Die Schwinge von esHu 'ur ist von esHu 'eyen berührt worden und fordert nun die sofortige Kapitulation dieser Basis und aller Schiffe in diesem System. Wer sich widersetzt, wird in die Acht Winde verstreut werden.« Für den Bruchteil einer Sekunde schien Anne DaNapoli verwirrt zu sein, doch nach einem kurzen Blick zu Sergei, der mit einem knappen Nicken reagierte, übertrug sie diese Nachricht. Fast sofort drehte sie sich wieder um. »Captain, der Zor-Kommandant bittet um Erlaubnis, mit dem... esHu'ur zu sprechen.« Sergei betrachtete das Pilotendisplay. »Fast alle unsere Schiffe sind im System angekommen, Admiral. Das Zor-Kontingent vor uns ist uns unterlegen. Falls es eine Falle sein sollte, können wir mühelos Vergeltung üben.« »Sehr gut.« Marais konzentrierte sich auf den Bildschirm. »Lieutenant, setzen Sie den Zor-Kommandanten bitte davon in Kenntnis, dass der esHu'ur mit ihm sprechen will.« »Vordere Schiffe: kein Feuer eröffnen«, befahl Sergei sofort. »Captain Bell, rufen Sie Ihre Fighter auf meinen Befehl zurück.« Ein 3-V eines Zor entstand auf der Brücke der Lancaster. Seine Uniform war reich verziert, um die Taille trug er eine blaue Schär 120 pe. Ein Teil seiner Umgebung wurde ebenfalls abgebildet, die wie ein geisterhaftes Bild wirkte.
»Mylord esHu'ur, ich bin Hyos m'Har vom Nest HeYen«, sagte der Zor. Da die Lancaster ein Bild der eigenen Brücke übertrug, gingen seine Blicke von einem zum anderen, konzentrierten sich aber schnell auf Marais. Seine Worte wurden vom Schiffscomputer übersetzt und in Standard wiedergegeben, wobei seine eigene Stimme weitgehend beibehalten blieb. »Im Namen des Hohen Nestes bin ich der Befehlshaber über diese Basis.« »Ich bin Ivan Hector Charles Marais, Lord Marais«, erwiderte der Admiral prompt. »Diese Flotte untersteht meinem Kommando.« »Mahrees.« Der Zor versuchte, den Namen nachzusprechen, ging dann aber wieder zum formellen Titel über. »Lord esHu 'ur, ich bin vom Hohen Lord davon in Kenntnis gesetzt worden, dass Sie mit ihm reden wollen.« Marais ließ seinen Blick nicht schweifen, sagte aber: »Lieutenant, überprüfen Sie bitte die Übersetzung der Bemerkung, die der Zor-Kommandant zuletzt gemacht hat.« Anne betätigte einige Tasten an ihrer Konsole. »Die Übersetzung war korrekt, Mylord.« »Ich habe mit dem Hohen Nest keinen Kontakt aufgenommen, se Hyos.« Einen Moment lang hielt er inne, dachte nach und fuhr dann fort: »Auf jeden Fall habe ich von dieser Basis eine völlige, bedingungslose Kapitulation gefordert, und ich fordere sie noch einmal. Deshalb bin ich hier. Gespräche mit dem Hohen Lord können warten.« Sergei sah zu ihm, doch nur in Marais' Augen war eine Spur von Verwirrung zu erkennen. »Sie werden uns diese Station übergeben, sonst werde ich sie zerstören.« Der Zor-Kommandant sagte etwas zu jemandem, der im Holo nicht zu sehen war. Marais und Boyd tauschten einen Blick aus, dann sagte der Marine: »Sie diskutieren darüber, ob Sie wirklich die Dunkle Schwinge sind, Mylord.« Der Admiral nickte und sah, wie der Kommandant die Position seiner Flügel veränderte. 121
»Wenn das der Fall ist, esHu'ur, dann bin ich hier, um diese Kapitulation zu erklären.« Es ging fast zu schnell, um wahr zu sein, doch einen Moment später brach auf der Brücke der Lancaster Jubel aus. Mit einer Geste sorgte Marais dafür, dass sofort wieder Ruhe einkehrte. »Wenn Sie dazu ermächtigt sind, se Hyos, dann werden wir unverzüglich alle Einrichtungen in diesem System unter unsere Kontrolle stellen. Das gilt auch für Ihre Schiffe.« »Einverstanden.« »Die Bedingungen Ihrer Kapitulation werden Sie mit meinem Flottenkommandeur Commodore Torrijos besprechen.« Mit einem Mal schien sich Marais sehr unbehaglich zu fühlen. Nach einem knappen »Sie können übernehmen« an Sergei verließ er die Brücke. Eine der herausragenden Tugenden eines guten Kommandanten ist seine Fähigkeit, sich sofort auf eine veränderte Situation einzustellen. Von verschiedenen Frontschiffen wechselten Mannschaften in Begleitung von Marines auf die Schiffe der Zor, um dort das Kommando zu übernehmen. Nach weniger als einer Stunde kam von der Brücke jedes dieser elf Schiffe die Meldung, man habe die Kontrolle über sie. Diese vereinte Flotte machte sich dann auf den Weg in die inneren Regionen des Systems, während ein Dutzend Schiffe am Sprungpunkt zurückblieben, um sicherzustellen, dass niemand sich als Verräter entpuppte. Vor der Flotte lag eine dreistündige Reise zur Basis, von der die elf Schiffe gekommen waren. Der Ad-miral ließ wissen, er wolle nicht gestört werden, was auf der Brücke zu einiger Konfusion führte. Als sich die imperiale Flotte mitsamt den erbeuteten Zor-Schiffen der Station näherte, kam ihnen ein kleines, unbewaffnetes Raumfahrzeug entgegen, das die Lancaster rief. »Hier ist die Lancaster«, sagte Sergei, als das Bild von Captain Hyos zu materialisieren begann. »Sprechen Sie.« 121 Der Zor-Kommandant sah ihn mit unbewegter Miene vom Bildschirm aus an. Die Flügel hatte er auf dem Rücken zusammengelegt, was Boyd nur mit einem Schulterzucken quittieren konnte, da die Schwingen keine zusätzlichen Informationen vermittelten. »Captain«, begann der Zor. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich vorgehen soll. Es gibt keinen Präzedenzfall für das, was wir zu tun im Begriff sind, aber der Hohe Lord hat mir zu verstehen gegeben, dass esHu'ur nicht beleidigt werden darf, wenn er sich zeigt. Ich befinde mich an Bord der Barkasse, die sich in diesem Augenblick Ihrem Schiff nähert, und ich möchte Ihnen anbieten, Sie hier zu empfangen und die Gastfreundschaft des Hohen Nestes anzunehmen, während wir über die Bedingungen unserer... Kapitulation... reden.« Der Translator hatte Schwierigkeiten mit dem Wort >Kapitulation<, offenbar wegen einiger Assoziationen, die er nicht verstand. »Wäre das für Sie annehmbar?« »Ich werde Ihren Vorschlag dem Admiral unterbreiten. Ich bin mir nicht sicher, was er für annehmbar hält und was nicht. Ich muss gestehen, dass wir so etwas nicht erwartet haben.«
»Die Acht Winde haben uns hierher geweht, Captain. Der Hohe Lord hat geträumt, und wir werden das tun, was esLi wünscht.« Marais nahm das Angebot an, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Schon seit Stones Verschwinden war er wortkarg und distanziert gewesen, doch die jüngsten Ereignisse hatten ihn fast sprachlos werden lassen, als sei ihm die Fähigkeit genommen worden, die Dinge zu verstehen, die sich um ihn herum abspielten. Auf Sergeis Vorschlag hin war eine Ehrengarde der Marines und eine Eskorte aus fünf Senioroffizieren Sergei selbst eingeschlossen - zusammengestellt worden, um den Admiral auf die Barkasse zu begleiten. Zunächst war ein Trupp Marines vorausgeschickt worden, um das Schiff zu sichern und darauf zu achten, dass sie nicht in eine Falle liefen. Der Zor-Kommandant hatte diesen Affront ohne Widerworte hingenommen, und als die Gruppe 122 die Luftschleuse erreichte, war die potenzielle Gefahr eines Hinterhalts nur noch minimal. Die Seabees hatten besondere Sorgfalt walten lassen, um die Verbindung zu sichern, die in aller Eile geschaffen worden war und nun die beiden Luftschleusen miteinander verband. Sie trieben im All zwischen beiden Schiffen, bereit zum sofortigen Eingreifen, sollte es mit dieser Verbindung Schwierigkeiten geben. Schweigend schritten die Offiziere die Ehrengarde der Marines ab, die wieder dem Kommando von Sergeant Boyd unterstand, dann gab Marais dem Bootsmann ein Signal, die Schleuse mit Luft zu füllen. Über das Interkom ertönte ein Militärmarsch, gleichzeitig nahmen die Kompressoren ihre Arbeit auf. Auch wenn es in erster Linie ein zeremonieller Akt war, handelte es sich doch um ein bislang einmaliges Ereignis in der langen Geschichte, die Menschen und Zor verband. Noch nie hatte ein Zor-Schiff sich ergeben oder zugelassen, dass fremde Truppen an Bord kamen. Das bedeutete aber auch, dass man sich an keinem Vorbild orientieren konnte, welche Ehren man einem Zor-Kommandanten zuteil werden ließ, der sich ergeben hatte. Bei genauer Betrachtung gab es bei diesem gesamten Feldzug eigentlich so gut wie nichts, was man als Vorbild hätte heranziehen können. Sergei blickte kurz zu Chris Boyd, der zwar in Habtachtstellung stand und sich nicht regte, aber dennoch mit Blick auf das bevorstehende Zusammentreffen nervös wirkte. Die Kompressoren beendeten mit einem Seufzer ihre Arbeit, die Schleusentüren glitten zur Seite. Dann betraten Sergei, Marais, Marc Hudson, Alyne Bell, Bert Halvorsen und Tina Li sowie die sechs Marines die Schleuse. Mit einem hohlen Geräusch schlossen sich die Türen wieder, während die Kompressoren erneut ansprangen, um den Druck zwischen Schleuse und Tunnel auszugleichen. Das Ganze dauerte nur einige Augenblicke, und die Gruppe konnte in den fünfzig Meter langen Tunnel eintreten, der von hastig 122 aufgehängten Lichterketten schwach beleuchtet wurde. Als sie sich der Schleuse des Zor-Schiffs näherten, öffnete sich diese. Kaum war der Druck zu beiden Seiten des nächsten Schotts ausgeglichen, fuhr die mit hRni'i beschriftete Tür nach oben, sodass die Gruppe das fremde Schiff endlich betreten konnte, dessen Korridor in schwachrotes Licht getaucht war. Ein Zor trat vor, um sie zu begrüßen. Er war ähnlich gekleidet wie der Kommandant der Basis, jedoch war seine Schärpe so karmesinrot wie die, die Rrith trug. Sie identifizierte ihn als einen Fühlenden. An der Taille hing ein edel verziertes chya. »Ich grüße Sie, se esHu 'ur, und alle von Ihrem Nest«, sagte er in fast fehlerfreiem Standard. »Ich bin Kasu'm m'Har vom Nest He-Yen. Fühlen Sie sich auf unserem bescheidenen Schiff wie zu Hause.« Marais reagierte mit einer höflichen Begrüßung und stellte seine Offiziere vor. »Es ist mir eine Ehre«, fuhr der Zor fort, »Sie zum Kommandanten unserer Basis zu eskortieren, se Hyos ehrt m'Har vom Nest He Yen, dessen Bekanntschaft Sie bereits gemacht haben, se Hyos bittet Sie um die Ehre, Sie und Ihre Offiziere an seiner Tafel begrüßen zu können.« Marais erwiderte eine entsprechende Phrase, der Zor wandte sich um und gab seinen Uniformierten einen Befehl. Dann führte er die Gäste durch einen leicht abfallenden Korridor, dessen Wände mit hRni'i überzogen waren, die ein fast erkennbares Muster bildeten. Während sie durch das Schiff gingen, meldete sich auf einmal Sergeis tragbares Kom. Chan ließ ihn wissen, dass keinerlei Probleme aufgetaucht waren. Höfliche Konversation und Galauniformen waren für Sergei kein Grund gewesen, die Doppelzüngigkeit der Zor einfach zu vergessen, ganz gleich, was die Dunkle Schwinge für sie bedeutete. Der Korridor beschrieb eine Biegung und endete vor einer breiten Leiter. Die Zor flogen langsam hinauf auf die nächste Ebene,
123 während die Menschen, denen die geringere Schwerkraft zugute kam, ihnen über die Leiter folgten. Die obere Ebene war noch schwächer beleuchtet. Offenbar war der Korridor aus Höflichkeit gegenüber den menschlichen Eroberern heller erleuchtet gewesen. Zudem schlug ihnen ein eigenartiger feuchter Geruch entgegen. Sie wurden durch eine halbrunde Luke in eine Kammer geführt, vor der zwei Marines Wache standen und sich angesichts der fremden Umgebung besonders unbehaglich zu fühlen schienen. Kasu'u zog sich ohne eine weitere Bemerkung zurück und ließ die Menschen in der Kammer allein. Wäre ihnen die Fremdartigkeit des Zor-Schiffs nicht schon längst bewusst gewesen, hätte das spätestens diese Kammer bewirkt. Sie war ausladend, hatte eine hohe Decke und verfügte über mehrere Ebenen. Gleich links von der Gruppe befand sich in drei Metern Höhe eine Art Sitzstange, während es in der Mitte einen vertieften Bereich gab, in dem Kissen lagen und mehrere flache Tische aufgestellt waren. Der hintere Teil des Raums war zum Teil durch einen großen Torus verdeckt, der von der Decke herabhing. Sergei bemerkte, dass Chris Boyd beim Anblick des Torus schauderte. Er nahm sich vor, später darauf einzugehen, dann bedeutete er den Marines mit einer kurzen Geste, sich im Raum zu verteilen. Ihr Gastgeber kam durch eine schmale Tür auf der rechten Seite herein, sah seine Besucher und legte ein Nachrichten-Pad, das er in der Hand gehalten hatte, auf einen reich verzierten Tisch gleich an der Tür. »esHu'ur«, sagte er. »Ich fühle mich ... geehrt. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« Er redete behutsam, doch es war deutlich zu hören, dass er die Sprache der Menschen weitaus besser beherrschte als Kasu'u, der sie hierher eskortiert hatte. Seine Entscheidung, den Feind in dessen Sprache anzureden, unterstrich die versöhnliche Atmosphäre, von der die gesamten Geschehnisse seit der Ankunft in diesem System geprägt gewesen waren. Er deutete auf die Kissen und nahm selbst auf einer Sitzstange 123 Platz. Vorsichtig schenkte er eine bläuliche Flüssigkeit in edle Kelche, die er dann der Gruppe anbot. »Auf den Erfolg unserer Diskussion«, sagte er. »Dies ist h 'geRu, ein leicht alkoholisches Getränk, das aus einer speziellen, nur auf Zor'a zu findenden Nussart gewonnen wird. Für Menschen besteht keine Gefahr.« Sergei sah zu Marais und dann zu Boyd, der in der Nähe der Tür stand. Boyd nickte, woraufhin Sergei einen kleinen Schluck nahm. Das Getränk schmeckte angenehm nach Mandeln und wies nur einen Hauch von Alkohol auf. Die Karaffe war so gearbeitet, dass sie ihren Inhalt sehr kalt halten konnte, was den Geschmack noch zu verstärken schien. Marais stellte den Kelch auf einem der flachen Tische ab und legte die Hände gefaltet in den Schoß, »se Hyos, es gibt vieles, worüber wir reden müssen. Um die Etikette bei unseren Unterhandlungen zu wahren, muss ich Sie fragen, auf welcher Ebene Sie sich innerhalb der Hierarchie Ihres Volkes befinden. Mit anderen Worten, Sir: Müssen die Unterhandlungen auch noch einmal mit dem Hohen Nest geführt werden?« »Lord esHu 'ur, ich bin vom Nest HeYen, dem Hohen Nest. Lord Sse'e HeYen ist der Nachkomme des älteren Bruders meines Nestvaters, was ihn zu meinem Cousin macht. Mit mir zu verhandeln bedeutet, mit dem Hohen Nest zu verhandeln. Meine Autorität beschränkt sich sonst nur auf diese Basis, doch was den Hohen Lord angeht, hat er mir die Befugnis gegeben, für ihn den Flug zu bestimmen. Unsere Vereinbarungen sind« er deutete auf den Torus hinter ihm - »vor esLi bindend.« Marais holte tief Luft; er schien erleichtert zu sein. Von seinem Eintreffen bis gerade eben hatte der Zor Hyos im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. Nun jedoch galt alles Interesse dem Admiral. »se Hyos«, begann er. »Ich bin bereit, die vollständige Kapitulation aller Einrichtungen dieser Basis anzunehmen. Auch wenn ich nicht dazu verpflichtet bin, die Sicherheit von Personen oder Ein 123 richtung zu garantieren, werde ich genau diese Garantie geben, wenn ich bekomme, was ich will. In gleicher Weise erwarte ich von Ihnen, dass Sie den weiteren Flug bestimmen, um eine ähnliche Kapitulation mit den Innersten Sternen der Zor auszuhandeln. Ich will in dieser Angelegenheit nicht Ihre Ehre beflecken. Ich wünsche lediglich Ihren Beistand, um diesen Krieg auf die Weise beizulegen, auf die wir uns hier einigen werden. Die Alternative für Ihr Volk ist die totale Auslöschung. Es wird dazwischen keinen Kompromiss geben.« Der Zor streckte seine Klauenhand aus, nahm den Kelch vom Tisch und trank einen Schluck, ohne dabei den Blick von Marais zu nehmen. Dann stellte er das Gefäß zurück. »se esHu 'ur, es ist schwierig für das Volk, mit dieser Situation umzugehen, als Individuum ebenso wie als Gruppe. Wir sind ... unsere ganze Kultur basiert auf dem Gedanken, dass unser Lord und Schöpfer esLi das Universum für uns schuf - ausschließlich für uns, für niemanden sonst. Unsere Religion lehrt uns, dass jede andere Intelligenz - sollten wir überhaupt auf sie stoßen - dem Lord der Ausgestoßenen, esGa'uYal, dient...«
Erhielt inne, als Marais nickte und damit andeutete, dass er das Wort und dessen Bedeutung kannte. »Es wäre unsere Pflicht und unser gutes Recht, sie als unwürdig für esLis Kreis des Perfekten Lichts zu betrachten und zu vernichten. Wir wären sogar nichts weiter als die Handlanger von Lord esGa'u, dem Täuscher, wenn wir das nicht tun würden. Niemals hätten wir uns vorstellen können, diese Haltung sei verkehrt. Wir sind in gewisser Weise von esLi Selbst geblendet worden.« Hyos hielt einen Moment lang inne, dann fuhr er fort. »Der Kampf zwischen Ihrem und unserem Volk war stets ein Heiliger Krieg, Lord esHu'ur. Wir hatten geglaubt, esLi erwarte von uns, dass wir Ihr Volk auslöschen und das Universum - unser Universum - von der Verseuchung durch die Menschheit reinigen.« Die anderen Offiziere mussten unwillkürlich nach Luft schnappen, als sie das hörten, während Marais so gelassen blieb, wie es ihm un 124 ter den Umständen möglich war. »Ja, Admiral, Lord esHu'ur. Wir nahmen immer an, wir würden Sie letztlich schon besiegen. Ganz gleich, wie oft ein Krieger im Schatten der Dunklen Schwinge fiel, wir unternahmen einen weiteren Schritt hin zu Ihrer Niederlage. Wir hielten es niemals für möglich, dass eine Zeit kommen könnte, in der Sie über uns siegen würden.« Hyos seufzte, was ihm etwas Menschliches gab und im Widerspruch zu seiner eigenen Fremdartigkeit und der dieser Umgebung stand. »Eine Niederlage wurde vom Volk immer ohne Probleme hingenommen. Eine Niederlage zu verwinden heißt, idju zu sein: So ist es immer gewesen.« »Diesmal sind andere Verhältnisse am Werk, se Hyos.« »Dem muss ich zustimmen, Lord esHu'ur. Wir können eine Niederlage nicht eingestehen, ohne gleichzeitig unsere Entehrung einzugestehen. Doch eine weitere Kralle dieses gleichen Arguments ist die unleugbare Wahrheit, dass es sinnlos ist, sich gegen das Unvermeidliche zur Wehr zu setzen. Ganz gleich, welch persönliche Ehre einer vom Volk besitzt, er weiß, er kann letztlich esHu'ur nicht besiegen. Vor der Dunklen Schwinge gibt es kein Entrinnen, weder jetzt noch später. Lange vor Ihrer Ankunft in dieser Basis wussten wir, wir haben nur zwei Möglichkeiten. Wir könnten uns gegen unsere unvermeidliche Niederlage zur Wehr setzen, oder wir stellen uns der Tatsache, hi'idju zu sein: idju als ganzes Volk.« Auf Marais hatten diese Worte eine sichtlich schockierende Wirkung. Er musste sich zusammenreißen, ehe er fragte: »Und was wäre die Folge dieser Entehrung?« »Diese Entscheidung würde nicht bei mir liegen, Lord esHu'ur. Der Hohe Lord hat ein besseres Verständnis dafür, wozu wir verpflichtet sind. Doch es besteht die Möglichkeit, dass es für diese Situation nur eine ehrbare Lösung gibt... wir würden unser Leben aufgeben.« Marc Hudson beugte sich vor. »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir«, sagte er zu Hyos, dann sah er kurz zu Marais, »und Sie eben 124
falls, Admiral. Aber ich muss das fragen: Wollen Sie damit sagen, Sie würden als Volk geschlossen Selbstmord begehen?« »Wenn es die einzige Lösung wäre, ja.« »Das ist für mich unvorstellbar, Sir. Ich kann einfach nicht glauben, dass eine intelligente Spezies sich lieber umbringt, anstatt ihren Glauben zu ändern. Sie konnten unsere Existenz nicht akzeptieren, und nun können Sie nicht akzeptieren, dass wir Sie besiegt haben. Anstatt mit dem Wissen zu leben, dass Sie geschlagen wurden, wollen Sie lieber allem ein Ende setzen. se Hyos, eine solche Verbohrtheit klingt für mich nicht nach einem Vorsprung in der Evolution.« Der Zor versteifte sich, als er Marc reden hörte. Er verkrampfte die Krallen und konnte nicht verhindern, dass seine Augen die Wut widerspiegelten, die er verspürte. »Es gibt keine andere Wahl, wenn wir zu dem Schluss kommen, dass es sich um die einzige Lösung handelt. Wenn der Hohe Lord es befiehlt... oder wenn esHu'ur es befiehlt... dann wird das Volk seine Existenz beenden.« »Ich würde niemals etwas Derartiges befehlen, se Hyos.« »Und doch haben Sie es durch Ihr Handeln bereits getan, se Admiral. Sie sagen selbst: Wenn wir uns nicht der Dunklen Schwinge ergeben, werden wir ausgelöscht. Wo ist da der Unterschied? Mit der einen Schwinge befehlen Sie, dass wir durch die Krallen Ihrer Diener ausradiert werden, während Sie mit der anderen anordnen, dass wir durch unsere eigenen Mittel und Wege den Äußeren Frieden überwinden. So oder so würden wir am Ende nicht mehr existieren.« Marais wusste darauf nichts zu sagen, daher wartete er einfach, bis der Zor-Kommandant fortfuhr. »Eine Alternative zu unserem Ehrenkodex zu wählen, würde bedeuten, die Struktur unserer gesamten Gesellschaft zu zerstören. So etwas würde unseren Glauben ebenso unterhöhlen wie die Grundlagen unserer
Gesellschaftsordnung. Der Himmel ist der Boden, der Boden ist der Himmel. Es gibt einige im Volk, die viel125 leicht niemals die Schmach einer Niederlage akzeptieren werden. Sie werden womöglich über Generationen hinweg kämpfen und sich zur Wehr setzen, bis sie ausgelöscht sind. Als wir diesen Krieg begannen, sagte man uns, esLi habe sein Antlitz von uns abgewandt und würde uns erst wieder seine Gunst erweisen, wenn wir unseren Feind ausgelöscht haben. Wir glaubten, unser Wille und esLis Gunst würden uns diesen Sieg bringen. Niemand hatte eine Niederlage erwartet, und niemand war bereit, eine solche Niederlage zu akzeptieren. Nun ist diese Niederlage eingetreten, und niemand weiß, ob der völligen Vernichtung nicht der Vorzug zu geben ist vor der Gnade der Ausgestoßenen. Wäre das der Fall, dann wäre es bedeutungslos, ob Sie uns auslöschen oder ob wir das selbst machen. Der Flug ist gewählt: Die Tat wird geschehen.« Marais schien Hyos HeYen einen Moment abschätzig anzusehen, dann erwiderte er: »Kommandant, ich habe einen weiten Weg hinter mir, in körperlichem und jedem anderen Sinn, um diesen Punkt, diese Wahl des Fluges zu erreichen. Wie Captain Hudson bereits sagte, ergibt es keinen Sinn, wenn das Volk entscheidet, den Äußeren Frieden zu überwinden, nur weil es die Schmach nicht akzeptieren kann. Für einige mag das wohl unausweichlich sein, womöglich für jene, die an der Niederlage am schwersten zu tragen haben. Wenn Sie diesen Ausgang wirklich wünschen - und so wie mein Untergebener kann ich keinen Grund erkennen, warum Ihre ganze Spezies das wünschen sollte -, bin ich bereit, Ihnen die Freiheit zu gewähren, das zu tun, was Sie möchten. Wenn das Hohe Nest dieser Kapitulation nicht zustimmt, werde ich Ihr moralisches Dilemma für Sie lösen, ausgenommen jene Zor, die mein Angebot bereits angenommen haben und die damit meinem Schutz unterstehen. Was muss geschehen, bevor ich eine Entscheidung erfahre?« Der Zor änderte die Haltung seiner Flügel, sodass sie sich wie ein Mantel um ihn legten. Er nahm den Kelch und trank einen Schluck h 'geRu. »Es gibt einen Abschnitt im Klagelied vom Gipfel, esHu'ur... 125 Darin ist die Helle Schwinge jenseits der Nachtberge von esGa'u gefangen genommen worden, der hofft, diese Tatsache nutzen zu können, um die Helle Schwinge zu kontrollieren und damit für alle Zeit die Welt zu beherrschen.« Marais nickte, während Hyos ihm die Passage beschrieb. »Aber esli ist zu klug für esGa'u. Er weiß, die Helle und die Dunkle Schwinge sind beide Teil der Welt die Ist, und eine kann ohne die andere nicht existieren. Und obwohl sie Gegensätze sind, bewahrt die Dunkle die Helle Schwinge vor dem Exil, und die Welt ist danach eine andere. Als der große Held Qu'u mit der Gefangennahme der Hellen Schwinge konfrontiert wurde, erkannte er, dass ihm die Macht fehlte, um ihr bei der Flucht zu helfen. Er war nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen. Für einen Helden ist es nicht leicht, sich das Eingeständnis abzuringen, dass aller Mut, alle Standhaftigkeit und Weisheit keinerlei Wirkung zeigen. Qu'u musste seine Machtlosigkeit eingestehen. Es ist sein Klagelied, das der Geschichte den Titel gibt, und sein Klagelied, das wir nun singen müssen.« Hyos hielt kurz inne. »Der Hohe Lord träumte, und in diesem Traum kamen Sie zu ihm und sagten, es sei Zeit, mit ihm zu reden. Ich erhielt den Befehl, dass ich Sie bei Ihrem Eintreffen mit einem Zeichen begrüßen sollte, das Sie erkennen würden, sofern Sie tatsächlich die Dunkle Schwinge sind. Sie haben es erkannt, und ich habe eingestanden, dass mir die Macht fehlt, um mich Ihnen zu widersetzen. Ich bin machtlos, Sie an der Vernichtung des Volks zu hindern. Es ist sinnlos, dass sich das Volk zur Wehr setzt, wenn es der Dunklen Schwinge persönlich gegenübersteht. Und doch könnte uns Lord esLi noch erlösen. Auch wenn ich nichts tun kann, um Sie zu beeinflussen, halte ich es für Ihre Pflicht, dass Sie, esHu'ur, nach Zor'a reisen und mit dem Hohen Lord Sse'e HeYen zusammentreffen. Er wird entscheiden, welchen Weg wir fliegen sollen. Sie sind derjenige, der ihm helfen wird, die Entscheidung zu treffen. Denn nur so kann die Ehre gewahrt werden.« 125
1 5 . Kapitel »Ich glaube, ich begegnete Thomas Stone erstmals im Jahr 2307.« Marais nahm die Karaffe Fruchtsaft aus der Ausgabe der automatische Küche und setzte sich in seinen bevorzugten Sessel. Sergei beugte sich vor und hörte aufmerksam zu, während der Reader des Admirals alles aufzeichnete. »Es war nach dem Bolivar-Zwischenfall. Ich war Stabsoffizier im Grenzgebiet, gehörte zu Admiral DeSaias strategischem Planungsteam. Es gab schon damals einen Angriffsplan für die A'anenu-Basis, müssen Sie wissen. Natürlich wurde durch den Frieden von Efal alles hinfällig. Es ist für mich immer entmutigend, wenn ich daran denke, dass dieser Krieg schon vor langer Zeit hätte geführt und gewonnen werden können.«
»Was Stone angeht, Sir...« »Ja, Stone. Er war erst seit kurzem Offizier, und seine Dienstakte war noch so gut wie leer. Er hatte ein Empfehlungsschreiben vom Commodore der Station bei Mothallah, von einem Adligen namens Willis, außerdem eines von meinem Bruder Stefan, der Befehlshaber der Einrichtungen bei Tuuen ist. Er war zumindest schien er es zu sein - ein Streber, ein Bürgerlicher ohne Verbindung zum Hof und ohne Gönner.« »Von der Sorte gibt es hier viele, Admiral.« Marais sah in sein Glas, als würde sein nächster Satz irgendwo im Fruchtsaft schwimmen. »Ich meinte das nicht herabsetzend, Torrijos. Ich wollte Ihnen damit nur Stone beschreiben. So wie viele Offiziere seiner Art hatte er wenig Einfluss. Er war äußerst 126 zurückhaltend, und seine herausragenden Fähigkeiten machten ihn zum idealen Adjutanten.« »Beispielsweise sein eidetisches Gedächtnis.« »Richtig. Er besaß eine Bestätigung dafür vom New Chicago Institute. Aber das war nicht alles: Als ich zu Admiral DeSaias Stab gehörte, war er mir eine unschätzbare Hilfe. Er schien immer schon zu wissen, was mir durch den Kopf ging, ehe ich es selbst wusste. Als die Friedensverhandlungen in die ernsthafte Phase eintraten, hatte ich ihn bereits zu meinem persönlichen Attache gemacht. Und als ich nach Efal keinen neuen Einsatzbefehl bekam, verschaffte ich ihm das Patent eines Captains.« Der Admiral lächelte, als sei ihm gerade eine Erinnerung in den Sinn gekommen, die er seit langem gesucht hatte. »Wir waren auf Halbsold gesetzt, Offiziere des Militärs ohne Posten. Geld war kein Thema, aber anstatt einfach in den Ruhestand zu gehen und ins Geschäft meiner Familie einzusteigen, entwickelten wir großes Interesse am Konflikt selbst. Ich hatte Jahre zuvor an der Universität viel Zeit mit dem Studium der Zor verbracht. Einige Monate nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags erhielten wir Diplomatenvisa, um die Zor-Welten auf der dem Imperium zugewandten Seite der Antares-Verwerfung zu besuchen. Dort wollten wir uns Schriften der Zor ansehen und die Kultur dieses Volks aus erster Hand kennen lernen. Es war nicht weiter schwierig. Obwohl der Krieg gerade erst vorüber war, empfingen uns die Fremden ausgesprochen zuvorkommend. Ich vermute, sie tolerierten unsere Anwesenheit, weil wir für sie nichts weiter waren als esHara'y, barbarische Diener des Lords der Ausgestoßenen, die nichts sehen und nichts lernen konnten. So wie ich die Zor nun allerdings kennen gelernt habe, könnte es sein, dass sie uns für Avatare von Shrnu'u HeGa'u hielten.« »Shrnu'u HeGa'u?« »Ein legendärer General. Er diente dem Täuscher und wollte sich mit solcher Anstrengung in die Zor-Gesellschaft einschlei 126 chen, dass sein eigenes e'chya sich gegen ihn richtete. Sie müssen erwartet haben, dass wir jeden Augenblick zu Staub zerfielen.« Sergei brauchte einen Moment, diese Information zu verarbeiten, dann stellte er seine nächste Frage: »Wann begannen Sie mit der Arbeit an Ihrem Buch, Sir?« »Das war in etwa zu der Zeit.« Marais stellte das Glas auf den Tisch. »Wir verbrachten vier Monate im Gebiet der Zor, dann kehrten wir nach Mothallah zurück und bedienten uns der dortigen herausragenden Bibliothek. Nach unseren Nachforschungen wurde klar, dass die Zor den Krieg in einem völlig anderen Licht sahen. Nicht als Kampf zwischen Gut und Böse, auch nicht als Dschihad. Es war eine so völlig fremdartige Perspektive, dass wir uns veranlasst fühlten, diese Sichtweise in Worte zu fassen, damit man eine wirkungsvolle Verhaltensweise entwickeln konnte, um den Zor zu begegnen.« Marais atmete tief durch. »Es war so, als würde man die Geschichte von der anderen Seite des 3-V aus betrachten. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Warum sie Ayla angegriffen hatten, was sie dazu antrieb, gegen jeden der Friedensverträge zu verstoßen, welches Schicksal den Vertrag von Efal sehr wahrscheinlich erwartete. Beim Rückblick auf sechs Jahrzehnte Konflikt wurde uns klar, dass wir ihnen zwar immer zugehört, sie aber niemals wirklich richtig verstanden hatten.« »Wir waren nicht in der Lage, ihre Flügelstellung zu lesen.« »Ja, jetzt sind wir klüger. Aber es hatte zuvor nie einen Grund gegeben, darauf zu achten. Die Zor müssen geglaubt haben, wir würden sie ignorieren - was wir letztlich ja auch getan haben. Und so schrieben wir innerhalb von sechs Monaten Der totale Sieg. Vom Ersten Lord der Admiralität erhielt ich deswegen eine schroffe Ermahnung. Wäre ich zu der Zeit im aktiven Dienst gewesen, hätte man mich unehrenhaft entlassen, da ich die Taktiken der Navy in Frage stellte - jedenfalls in aller Öffentlichkeit. Bei einer vertraulichen Besprechung wäre das noch etwas anderes gewesen. Niemand in der Navy, der halbwegs bei Verstand war, glaubte da
127 ran, Efal könnte auch nur eine Spur erfolgreicher sein als alle vorangegangenen Verträge. Das Papier hätte man ebenso gut in eine Luftschleuse werfen können, und das war jedem klar.« Er machte eine nachdenkliche Miene. »Das Buch kam bei einem angesehenen Verleger unter Vertrag und fand weite Verbreitung. Ich räume bereitwillig ein, dass ich selbst Geld dazuschoss, damit das Buch verbreitet wurde. Aber ich hätte nie erwartet, dass es seinen Weg bis hin zum Imperator finden würde. Immerhin hatte ich die Regierung Seiner Majestät der Nachgiebigkeit beschuldigt.« »Aber es wurde dem Imperator zugespielt«, betonte Sergei. »Wenn auch nicht durch Ihr Zutun.« »Nein, Commodore. Es war Stone, der zu der Zeit einige Kontakte am Hof hatte...« »Die er nicht besaß, als Sie ihn kennen lernten.« Marais hielt verdutzt inne. »Ja, das stimmt. Da haben Sie Recht. Aber ich kann mich genau daran erinnern, wie er mir erzählte, er kenne jemanden am Hof, der womöglich Seine Imperiale Majestät auf das Buch aufmerksam machen könnte. Diese Aussicht begeisterte mich, da ein Kommentar des Imperators den Verkauf des Buchs fördern würde. Eine positive Äußerung hätte ich am liebsten gehabt, aber letztlich wäre ich mit jeder Art von Publicity zufrieden gewesen. Meine Familie war... ist auf Oahu sehr bekannt, deshalb wäre die Möglichkeit eines Interviews für mich nichts Ungewöhnliches gewesen, vielleicht bei irgendeinem offiziellen Anlass. Ausgegangen ist das Ganze allerdings völlig anders.« »Das kann man so sagen, Mylord. Mir scheint, Sie haben Captain Stone viel zu verdanken, Sir, wenn ich das so direkt formulieren darf.« »Wie meinen Sie das?« »Fassen Sie das bitte nicht als Beleidigung auf, Mylord. Sie sind heute hier, und Ihr Enthusiasmus hat sich bewährt. Wir führen einen Feldzug, der sich sehr eng an dem orientiert, was Sie in Ihrem Buch beschreiben jenem Buch, das der Auslöser für Ihre Berufung war, ob das Seiner Imperialen Majestät nun gefällt oder 127 nicht. Ihren derzeitiger! Status verdanken Sie zwar nicht Captain Stone, aber seiner Art und Weise, wie er diesen Zustand herbeiführte.« »Nicht Stone schrieb das Buch, sondern ich, Torrijos.« »Aber er half Ihnen, das zu formulieren, was Sie schrieben. Und er sorgte dafür, dass das Buch Imperator Alexander zugespielt wurde.« Wut spiegelte sich in den Augen des Admirals wider. »Er war ein Werkzeug, Commodore, weiter nichts.« »Er verließ mein Schiff während des Sprungs. Während des Sprungs! Ich habe es mit einem Mysterium zu tun: ein Energiefluss und ein physikalisches Phänomen, für das mein Wissenschaftsoffizier und sein ganzer Stab keine Erklärung liefern kann. In dem Moment, in dem ich sein Verhalten und seine Motive in Frage stellen wollte, verschwand er von der Lancaster, obwohl das nach unserem Ermessen absolut unmöglich ist. Vielleicht haben zwanzig Jahre im Dienst der Navy Seiner Majestät mich skeptisch, paranoid oder verrückt werden lassen, vielleicht sehe ich etwas, wo nichts ist. Aber ich kann mich nicht vor der unleugbaren Tatsache verschließen, dass Stone nicht derjenige war, als der er uns erschien. Und das gilt auch für die Motive hinter seinem Handeln. Seine Kabine befand sich nicht an der Schiffshülle, er konnte also nicht durch irgendwelche unglücklichen Umstände ins Nichts gerissen werden. Es gab keinen Hinweis auf eine Explosion oder auf den Kontakt mit Antimaterie. Nicht ein einziges Molekül ist von ihm zurückgeblieben. Kein Joule Energie fehlt.« Sergei schwieg einen Moment, um seine Worte auf Marais wirken zu lassen. »Was immer Stone vorhatte und wie auch immer er ins Gesamtbild passt, eines ist klar: Er war nicht zufällig auf diesem Schiff und bei diesem Feldzug anwesend. Anders gesagt, Admiral - und ich möchte Sie bitten, das nicht als respektlos aufzufassen: Ich glaube, nicht Stone war das Werkzeug, sondern Sie. Ich bin über diese Schlussfolgerung nicht glücklich, Sir. Ich habe den größten Respekt vor Ihnen, und ich glaube fest an das, was 127 wir hier machen. Ich weiß bloß nicht, womit wir es hier zu tun haben.« Marais' Wut war noch nicht völlig verraucht. »Was bedeutet das, Torrijos, falls Sie Recht haben?« Diese Frage hatte Sergei erwartet, dennoch musste er erst einmal tief Luft holen, ehe er antwortete. »Das weiß ich noch nicht so ganz, Admiral. Ich habe versucht, es zu durchdenken. Captain Stone verfügt offenbar über Fähigkeiten und Möglichkeiten, die wir nicht besitzen. Vielleicht wurde Stone von irgendjemandem darauf angesetzt, bei diesem Feldzug mitzumachen, womöglich indem er Sie oder einen anderen wie Sie suchen sollte. Sein Handeln trug dazu bei, dass Sie Admiral wurden. Vielleicht glaubte er an Ihr Talent, Ihren Willen und Ihre ... wie soll ich es nennen? ... Ihre Überzeugung, dass Sie derjenige waren, der diese Aufgabe erledigen konnte.« »Den Krieg zu gewinnen.«
»Mindestens das, Sir. Ich bin meine Begegnungen mit Captain Stone in den letzten Monaten durchgegangen. Ich glaube, er nahm die religiösen Anspielungen des Feindes niemals ernst, außer in einer Hinsicht - nämlich bei der Frage, welche Rolle sie spielten, damit die Flotte die Zor vernichten könnte.« »Er half mir doch, das Buch zu schreiben. Er las die gleichen Texte wie ich.« »Aber ich glaube, er zog andere Schlüsse. Sehen Sie sich doch sein Handeln an: Er versuchte, andere Meinungen unter den Offizieren zum Verstummen zu bringen. Er stellte die Glaubwürdigkeit des gefangenen Zor und die von Sergeant Boyd in Frage. Ich glaube nicht, dass ihm jemals an irgendeiner Art von Verständigung gelegen war. Er drängte nicht auf eine Eroberung, Mylord. Er wollte die Auslöschung der Zor erreichen.« »Wir wussten aber immer, dass diese Möglichkeit bestand.« »Ja, Sir, das ist richtig. Wir nahmen stets an, die Zor zu vernichten, sei unvermeidlich, wenn sie sich nicht mit uns auseinander setzen wollten. Aber so wie ich das sehe, strebte Captain Stone 128 auch gar kein anderes Resultat an. Ich möchte wetten, wenn Stone jetzt hier bei uns wäre, würde er Ihnen empfehlen, die Kapitulation nicht anzunehmen. Er würde sagen, es ist eine Falle.« »Warum sollte er das machen?« »Das wüsste ich auch gern, Admiral. Aber ich frage Sie eines, Admiral: Wenn irgendjemand da draußen will, dass wir für ihn die Zor ausradieren, sollte das nicht Grund genug sein, darüber erst noch einmal in aller Ruhe nachzudenken?« Er zeigte seinen Ausweis dem Wachmann am Empfang, während ein zweiter bei ihm einen Retina-Scan vornahm. Sicherheit wurde hier in Langley groß geschrieben. Kein Wunder, war doch diese Basis so wie der Rest von Callisto, die exklusive Domäne des Imperialen Geheimdienstes. Hierher zu gelangen, war schon schwierig genug, doch der Zugang zu dem weitläufigen Komplex war einem noch kleineren Kreis vorbehalten. Nicht mal ein Dutzend Personen im Imperium war berechtigt, die Tür durchschreiten zu dürfen, die sich unmittelbar vor ihm befand. Die Tatsache, dass er zu diesem Kreis gehörte, und das Wissen, warum er einer jener Privilegierten war eidetisches Gedächtnis, ein überragender analytischer Verstand sowie (das hielt er sich immer wieder amüsiert vor Augen) eine unglaubliche Demut -, gaben ihm stets aufs Neue das Gefühl, dass mit dem Universum noch alles in Ordnung war. Während er dastand und sich identifizieren ließ, verarbeitete sein Verstand kontinuierlich jenen Datenstrom, der langsam aus dem sternförmigen Ohrring in sein rechtes Ohr geflüstert wurde. Ständig auf dem Laufenden zu sein, bedeutete schon die halbe Arbeit. Er achtete darauf, dass er nie ins Hintertreffen geriet. »Scheint alles in Ordnung zu sein, Captain Smith«, sagte der Wachmann und gab ihm seinen Ausweis zurück. Sein momentanes Gesicht sah ihm von dort entgegen: selbstsicher, mit dem Ansatz eines Grinsens. Der Name SMITH, JOHN T., CAPTAIN, IIS stand darunter. 128 Wortlos nahm er den Ausweis an sich und befestigte ihn am Revers, nickte den Wachleuten zu und ging durch die Tür. »Ah, da sind Sie ja, Green.« Die Direktorin und die fünf anderen im Raum beobachteten ihn aufmerksam, wie er sich ihnen näherte. Es war ein großes Konferenzzimmer, nur schwach beleuchtet, im Hintergrund eine halbkreisförmige Aussicht auf den Jupiter. Der Anblick konnte ihn jedes Mal aufs Neue verzaubern, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Ihm war vor langer Zeit klar geworden, dass 3-V niemals dem Spektakel gerecht werden konnte, das er draußen geboten bekam - die Stürme, die über die Oberfläche dieses gigantischen Planeten jagten, der mysteriöse rote Fleck, die tanzenden Monde, die um diese Welt wirbelten. Man konnte sich beim Zusehen rasch verlieren. Aber nur für einen Moment. Er nickte und seine Miene zeigte etwas, was als freundliches Lächeln für die Direktorin - eine ältere Frau von zierlicher Statur -durchgehen mochte. Er setzte sich auf den einzigen freien Platz, einen Sessel mit hoher Rückenlehne. Auf der Tischplatte gleich vor ihm war ein grünes kreisförmiges Muster in die Oberfläche eingearbeitet worden. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug«, fügte die Frau an und schob ihm einen Reader zu, den er lächelnd entgegennahm. Nach einem kurzen Nicken sah er zu den anderen Anwesenden: Red, ein ernst dreinblickender, dunkelhäutiger Mann mit gepflegtem, kurz geschnittenen Bart; Yellow, ein adretter Weißer mit einer Narbe über dem linken Auge, die ihn stets so aussehen ließ, als blicke er perplex drein; Blue, eine orientalische Frau mit klaren Augen und einer Körperhaltung, die an eine jagende, zum Sprung bereite Katze
erinnerte; Orange, eine nachdenklich aussehende Frau mit olivefarbener Haut; außerdem Violet, ein großer, dunkelhäutiger Mann, dessen bloßer Blick etwas Bedrohliches besaß. Und dann natürlich die Direktorin. 129 Was fiir eine Gruppe, dachte er. »Ich möchte Ihnen allen danken, dass Sie so kurzfristig herkommen konnten«, begann die ältere Frau, nachdem er sich hingesetzt hatte. »Normalerweise ist ein persönliches Treffen dieser Gruppe nicht zweckdienlich und vielleicht auch gar nicht möglich, doch angesichts des momentanen Klimas...« Sie ließ den Satz unvollendet und machte eine wegwerfende Handbewegung. Smith sah, dass hinter ihr auf dem Jupiter in der oberen Atmosphäre ein heftiger Sturm wirbelte, und fragte sich prompt, ob sie das für ihre Präsentation so arrangiert hatte. »Da wir nun alle hier sind, möchte ich sicherstellen, dass jeder von uns auf dem gleichen Informationsstand ist. Orange, vielleicht könnten Sie das ja zusammenfassen.« »Mit Vergnügen, Direktorin«, erwiderte die Frau und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Wie Sie alle wissen, haben die Zor vor einigen Wochen ein Friedensangebot unterbreitet, so wie es früher auch schon geschah. Mothallah empfing die Nachricht auf einer Frequenz, die solchen Übermittlungen vorbehalten ist, und leitete sie an unseren Botschafter weiter. Seine Imperiale Hoheit wurde pflichtgemäß von dem Angebot in Kenntnis gesetzt. Die Bedingungen waren simpel gehalten: Die Zor erklärten sich bereit, ihren Flottenstützpunkt im Orbit um A'anenu zu verlegen, wenn die imperiale Flotte sich von dieser Welt fern hält. Das hätte es unseren Leuten unmöglich gemacht, für eine wirkungsvolle militärische Präsenz auf dieser Seite der Antares-Verwerfung zu sorgen.« Sie holte kurz Luft. »Der Imperator vermutete Verrat auf Seiten der Aliens, erklärte sich aber einverstanden, seiner Flotte zu befehlen, das Feuer einzustellen, bis sich bestätigen ließ, dass das Hohe Nest der Zor tatsächlich bereit war, diesen Schritt zu unternehmen. Er schickte einen bevollmächtigten Botschafter los« sie unterbrach sich und lächelte flüchtig, als wolle sie andeuten, sie wisse etwas, was den anderen im Raum nicht bekannt war -, »damit der die Bestätigung einholte. Die zu der Zeit aktuellste Informa 129 tion der Admiralität besagte, die Flotte befinde sich bei der Zor-Welt S'rchne'e, also wurde der Gesandte dorthin geschickt. Als er dort eintraf, war die Flotte bereits weiter vorgestoßen und weigerte sich, ihm die notwendigen Transponderkodes und andere Informationen zu übermitteln, die für ihn von Bedeutung waren, damit er sich auf den Weg ins Kriegsgebiet machen konnte. Es gibt Hinweise darauf, dass der Befehl, die Waffen schweigen zu lassen, von Admiral Marais' Flaggschiff empfangen wurde, allerdings befand sich die Flotte zu der Zeit bereits bei A'anenu. Es gibt keine Bestätigung für den Empfang. Da diese Information fehlt, können wir nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass Lord Marais sich über die Befehle der Admiralität oder die Anordnungen des Imperators hinweggesetzt hat. Alle Indizien deuten allerdings darauf hin, dass es so ist eine Tatsache, die in St. Louis und natürlich erst recht auf Oahu für Bestürzung gesorgt hat.« Orange sah von einem zum anderen. »Die Tolliver-Regierung hat versucht, diese Information den Medien vorzuenthalten und vor der Opposition zu verheimlichen, hier insbesondere vor dem Abgeordneten Hsien.« Sie lächelte Yellow an, der ihr gegenübersaß. »Natürlich haben wir dafür gesorgt, dass es kein Geheimnis bleibt. Unsere Entscheidung hat eine Reihe von Problemen nach sich gezogen, aber ich bin mir sicher, meine Kollegen werden sich ihrer zu gegebener Zeit annehmen. Was das Kriegsgebiet angeht, hat Marais' Missachtung der Befehle der Admiralität es ihm erlaubt, die A'anenu-Basis einzunehmen. Die Zor versuchten, die Station zu zerstören, hatten damit aber keinen Erfolg. A'anenu ist damit mehr oder weniger unbeschädigt dem Imperium in die Hände gefallen. Als zusätzliches Plus konnte man offenbar einen Zor gefangen nehmen, der sich nun an Bord der Lancaster befindet.« Daraufhin regte sich unter den anderen im Raum leises Gemurmel. Smith verzog keine Miene, doch seine Gedanken überschlugen sich bereits, da er über die Folgen dieser Enthüllung nachdachte. 129 »Gibt es einen Bericht über diesen Gefangenen?«, wollte die Direktorin wissen. Blue beugte sich leicht nach vorn und nickte. »Gut, dann fahren Sie fort, Orange.« »Eine weitere nicht absehbare Folge dieser Aktion ist ein Wandel in der Einstellung von Admiral Marais. Es wurde bereits berichtet, dass er eine messianische Haltung eingenommen hat, was seine Rolle in diesem Krieg betrifft. In einer Stabsbesprechung, von der wir ein komplettes Protokoll vorliegen haben« - sie gab eine Referenznummer ein, die auf den Readern der anderen erschien -, »hat er strategische und politische Entscheidungen getroffen, die auf seiner Interpretation jener Rolle basieren, die die Zor ihm zuschreiben. Er scheint nun zu glauben, eine Art mythischer Bringer der Vernichtung zu sein. Diese bemerkenswerte Einstellung passt sehr gut zur Persönlichkeit des Admirals. Wenn er diesen Feldzug überlebt, kann ich mir gut
vorstellen, dass er den imperialen Thron für sich beanspruchen wird. Die jüngsten Ereignisse untermauern diese Ansicht nur weiter, die hier bereits erklärt wurde.« »Wo befindet sich die Flotte jetzt?«, wollte Red wissen, der gedankenverloren über seinen Bart strich. »Irgendwo zwischen A'anenu und E'rene'e«, antwortete Orange. »Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Der größte Teil der Flotte hat A'anenu verlassen, vermutliches Ziel ist ein Flottenstützpunkt der Zor in der Verwerfung. Nach deren Zerstörung wird E'rene'e bei den Innersten Sternen der Zor das nächste Ziel sein. Auf der Grundlage der jüngsten Erfahrungen ist es möglich, dass die Aliens sich diesmal gar nicht zur Wehr setzen.« »Erklären Sie das bitte näher«, unterbrach die Direktorin und tippte mit dem Stylus auf den Tisch. »Verschiedene Aufzeichnungen liegen vor, die alle den Gedanken wecken, dass die Zor seit der Einnahme von A'anenu sich nicht mehr gegen ihre eigene Vernichtung zur Wehr setzen. Ein Bericht von Captain Okome und Captain MacEwan gibt das zu erkennen.« Der Text wurde auf die Reader überspielt. 130 Sie lehnte sich nach hinten und legte die Hände in den Schoß. »Aber trotz aller mythologischen Anspielungen gibt es keine analytische Basis, die den Schluss zulässt, dass die Zor irgendetwas anderes tun, als wir es von ihnen gewohnt sind. Sie werden sich nicht ergeben, also wird Marais sie vernichten.« »Was meldet unser Agent vor Ort?« »Ah.« Orange sah zur Direktorin, woraufhin die ältere Frau fast unmerklich nickte. »Wir waren leider gezwungen, unseren besten Agenten aus dem Kriegsgebiet abzuziehen. Es gab Hinweise darauf, dass seine Tarnung auffliegen würde.« »Unsere Augen und Ohren ...«, begann Red mit einem Anflug von Verärgerung in der Stimme. »Sind verloren«, unterbrach die Direktorin und hob leicht die linke Hand. »Wir werden uns auf unsere Nase verlassen müssen. Ist Ihr Bericht damit abgeschlossen?« »Ja, Direktorin.« »Yellow, schildern Sie bitte die Situation in der Versammlung.« »Gewiss, Direktorin.« Yellow veränderte seine Sitzhaltung. »Wir haben in den letzten Monaten eng mit dem Bereich der Commonwealth-Partei zusammengearbeitet, der für die Informationsbeschaffung zuständig ist. Die Opposition hat gewisse Vorteile gegenüber der Regierung, insbesondere weil sie sich überall im Imperium mit lokalen Organisationen zusammenschließen kann, während kein Mitglied der Regierung dort gesehen werden will. In mancher Hinsicht lassen sie sich dadurch auch viel einfacher infiltrieren, vor allem in den unterrepräsentierten Gebieten des Imperiums wie zum Beispiel in den Neuen Territorien. Die Anwesenheit von Stefan Ewing in der Imperialen Versammlung ist sogar zu einem wichtigen Faktor für die Opposition geworden. Er spricht genau die richtigen Dinge aus, was die Aktionen von Marais' Flotte betrifft, da er sagt, dass jede Gegenmaßnahme der Zor die Neuen Territorien am härtesten treffen würde. Kurz nach seiner Wahl begann er damit, dem Abgeordneten Hsien Informationen über die Geschehnisse im Kriegsgebiet zuzuspielen. Wir haben seine Be 130 mühungen nach Kräften-unterstützt«, fügte Yellow lächelnd an, wodurch die Narbe sein linkes Auge schläfrig dreinblicken ließ. »Hsien schreibt ihm seine Reden«, murrte Violet. »Die Wähler scheinen mit seinem Verhalten in der Schlacht von Pergamum kein Problem zu haben«, warf die Direktorin ein. »Seine Verbindungen zum Hof bewahren ihn vor allem, was schlimmer wäre als ein ehrenvoller Abschied aus dem aktiven Dienst«, fügte Violet an. »Wir hätten es mit Marais eigentlich gut erwischen sollen.« »Das war auch der Fall gewesen«, erwiderte die Direktorin. »Nach Efal hatte er keinen aktiven Posten inne. Wenn wir DeSaia und Bryant nicht verloren hätten, und wenn McMasters nicht verwundet worden wäre... wenn das Wörtchen >wenn< nicht wäre...« »Jedenfalls«, setzte Yellow seine Ausführungen fort, »haben sich Pazifisten aller Lager gegen die Brutalität dieses Kriegs ausgesprochen, angefangen beim ersten Angriff auf L'alChan vor Monaten. Hsien hat seine Rolle als populistischer Außenseiter maximal ausgereizt, denn er hat sich den stillschweigenden oder den ausdrücklichen Rückhalt von pazifistischen Gruppen ebenso gesichert wie den von Amnesty Interstellar oder des Roten Kreuzes. Mit Greens Hilfe« - er nickte Smith zu - »wurde der Imperator auf Hsiens wachsende Popularität aufmerksam, und er lud ihn Ende des Sommers an den imperialen Hof ein. Die Regierung trat kurz darauf zurück, der Premierminister gab sein Amt auf. Seine Nachfolgerin hat zwar ebenfalls die neuerlichen Attacken von Hsien und anderen Führern der Commonwealth-Partei ertragen müssen, aber sie konnte erfolgreich alle Versuche der Opposition abwehren, Neuwahlen anzusetzen.«
»Welche Beweise hat Hsien in der Hand?«, wollte die Direktorin wissen. »Aufnahmen von L'alChan und S'rchne'e, außerdem einen offiziellen Bericht über drei Systeme, die von der Ikegai und der San Martin neutralisiert wurden. Dabei handelt es sich um das Material, das bereits den Schluss nahe legt, dass die Zor nicht länger 131 kämpfen wollen.« Red war verantwortlich für die Verteilung der Geheiminformationen, und da der Agent nicht länger in der Flotte tätig war, konnte er nur wenig berichten. »Diese Informationen hält er aber zurück«, sagte die Direktorin. »Jedenfalls kamen sie nicht zur Sprache, als er vor der Versammlung auftrat.« »Das stimmt«, warf Yellow ein. »Hsiens Rede sorgte für so viel Unruhe, dass der Vorsitzende die Sitzung vertagen musste. Allerdings war die Richtung eine andere, als wir erwartet hatten. Ewing war so wie andere davon ausgegangen - zumal es ihm zugesichert worden war -, dass die Brutalitäten im Kriegsgebiet das Thema sein würden. Stattdessen konzentrierte sich Hsien auf das, was er für Marais' langfristiges Ziel hält: die Übernahme des imperialen Throns.« »Er verglich ihn mit Admiral McDowell«, sagte Violet leise, aber deutlich vernehmbar. »Er war kurz davor, die Gründung des Imperiums mehr oder weniger als... rechtswidrig zu bezeichnen.« Womit er auch Recht hat, dachte Green, sprach seine Meinung aber nicht aus. »Marais wurde seines Postens enthoben«, warf Red ein. »Gebracht hat es allerdings nichts. Wie es scheint, steht die Flotte im Kriegsgebiet loyal zu ihm, was auch für einen Teil der Reserve gilt.« »Weiß Hsien davon?« »Er wird es wissen, sobald Sie es wünschen, Direktorin«, erwiderte Yellow lächelnd. »Das wäre nicht ratsam«, warf Violet ein. »Hsien geht davon aus, dass Marais allein handelt oder allenfalls ein paar Offiziere auf seiner Seite hat. Er denkt auch, dass gewisse Elemente in der Navy, die >bei klarem Verstand sind<, sich ihm in den Weg stellen werden, sollte er den Thron für sich beanspruchen wollen. Er soll das ruhig weiter glauben.« Violet legte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich in seinem Sessel nach hinten. Seine Stimme hatte einen Tonfall angenommen, der sogar Smith eine Gänsehaut 131 bescherte. »Wenn Marais" es versucht und scheitert, dann hat Hsien womöglich die Gelegenheit, Premierminister zu werden. Er soll sich auch weiter der Agency gegenüber verpflichtet fühlen.« »Das ist bereits der Fall«, wandte Yellow ein. »Ein gutes Argument«, sagte die Direktorin. »Haben Sie sonst noch etwas zu berichten, Yellow?« »Nein, Direktorin. Die Situation in der Versammlung stellt sich insgesamt so wie erwartet dar. Seit Green von dem Treffen des Premierministers mit Admiral McMasters berichtete, war für uns klar, dass die Regierung die Situation längst nicht mehr im Griff hat, das vor der Opposition aber um jeden Preis verheimlichen will. Die Premierministerin überlegt, den Imperator zu bitten, die Versammlung zu verschieben. Nach allem, was ich weiß, wird er dem wohl zustimmen. Momentan ist die Situation verfahren.« »Sehr gut. Blue, können Sie etwas über den gefangen genommenen Zor berichten?« »Ja, Direktorin«, antwortete Blue. Sie berührte ihren Reader, dann erwachten auch die Monitore der anderen zum Leben und zeigten einen kurzen 3-V-Clip eines uniformierten Zor, der in einer schwach beleuchteten Kammer auf und ab geht. »Das ist der Zor Rrith, der während des Angriffs auf Aanenu gefangen genommen werden konnte. Momentan befindet er sich auf dem Flaggschiff. Er trägt die karmesinrote Schärpe eines Fühlenden, ist aber dem Anschein nach keinem formalen Test unterzogen worden. Er ist sich seiner momentanen Umgebung bewusst. Sie werden feststellen, dass die Wissenschaftsabteilung der Gagarin recht grobschlächtig versucht hat, ein Zor-Nest zu simulieren. Außerdem...« Wieder berührte sie den Reader, um ein Standbild zu erhalten. »Ausschnitt 340 zu 90, sechsfache Vergrößerung.« Der Bildschirm fuhr an den gewünschten Bereich heran, bis zu sehen war, dass in einer Ecke des Raums ein Objekt lag: ein Schwert, das in einer Scheide steckte. »Außerdem zeigt diese Szene, dass er seine zeremonielle Waffe, das chya, anscheinend achtlos weggeworfen hat...« 131 »Man hat ihm seine Waffe gelassen?«, meldete sich Red ungläubig zu Wort. »Diese Narren! Er könnte sich jederzeit das Leben nehmen!« »Nach allem, was wir über die Zor-Gesellschaft wissen, dürfte sich dieser Alien nun als idju betrachten, als ehrlos«, erwiderte Blue, deren Stimme erkennen ließ, dass sie sich nur mit Mühe beherrschte. »Da er dem Feind lebend in die Hände gefallen ist, anstatt im Kampf zu sterben, hat er das Recht verloren, sich das Leben zu nehmen. Deshalb hat er sein chya achtlos weggeworfen. Allerdings wurde Rrith nach der Entstehung
dieser Aufnahmen gesehen, wie er sein chya wieder trug. Admiral Marais persönlich traf die Entscheidung, dem Gefangenen das Schwert zu belassen. Offenbar wollte er dem Zor einen gewissen Status einräumen.« »Absurd«, meinte Red, behielt aber jeden weiteren Kommentar für sich, als er den Blick der Direktorin sah, den sie ihm zuwarf. »Trotz dieser Erkenntnis«, führ Blue fort, »verhielt sich der Zor feindselig und unkooperativ. Kurz nach Entstehung dieser Aufnahmen wurde er von einem Marine von der Biscayne besucht. Rrith griff ihn zwar nicht an, aber die Unterhaltung war unergiebig.« »Ein Marine?«, fragte die Direktorin. »Warum sollte ein Marine den gefangenen Zor besuchen?« »Das weiß ich leider nicht, Direktorin. Unser Agent erfuhr erst anschließend von diesem Besuch, es war ihm nicht möglich, davon einen Mitschnitt zu erhalten. Irgendwelche technischen Probleme an Bord der Gagarin, soweit ich weiß. Aber sowohl der Marine als auch der Gefangene wurden später auf die Lancaster verlegt. Der Admiral hat sich dann mit dem Zor unterhalten.« »Wie ging dieses Zusammentreffen aus?« »Auch hier, Direktorin, mangelt es mir... uns an Daten zum Geschehen, da unser Agent nicht länger vor Ort ist. Wir wissen lediglich, dass der Gefangene nach dem Gespräch immer noch sein chya trug. Womöglich hat Marais ihm also tatsächlich irgendeinen Status zugestanden.« 132 »Wir brauchen mehr Informationen über diese Angelegenheit. Blue, versuchen Sie, so viel wie möglich über den Gefangenen und diesen Marine in Erfahrung zu bringen.« Die Direktorin warf einen kurzen Blick auf den Reader. »Gut ... Green, bringen Sie uns bitte auf den neuesten Stand der Dinge auf Oahu.« »Mit Vergnügen, Direktorin«, erwiderte Smith. »Wie Sie alle wissen, hat unser Imperator nur selten einmal den Wunsch erkennen lassen, die Regierung in dem Maß zu kontrollieren, wie es bei seinem Vater der Fall gewesen war. Er interessiert sich mehr fürs Reiten und für seine dreihundert Jahre alten Antiquitäten, anstatt sich um den Verlauf des Krieges zu kümmern.« »Was auch sein Privileg ist«, merkte Violet beiläufig an. Smith sah nur kurz zu seinem Kollegen. »Dennoch bleibt er von den Auswirkungen nicht verschont. Als der imperiale Hof erstmals von L'alChan erfuhr, entschieden wir, wie wir vorgehen wollten. Der Premierminister sollte Admiral McMasters die Gelegenheit geben, eine Beförderung zum Admiral der Flotte anzunehmen. Es gab guten Grund, dem von uns erstellten Profil zu vertrauen: Demnach hätte McMasters als Karrieremensch sofort die Gelegenheit nutzen müssen, einen Emporkömmling zu ersetzen, der nur wegen seiner adligen Herkunft diesen Posten erhalten hatte. Der Premierminister konnte McMasters aber nicht überzeugen, der das Angebot rundweg ablehnte. Er prophezeite zudem - zutreffend, wie ich anmerken möchte -, dass Marais genau das in die Tat umsetzen würde, was er in seinem Buch geschrieben hatte.« »Diese Gefahr bestand immer«, warf Red ein. »Das wussten wir schon, als das Buch an Seine Imperiale Hoheit weitergeleitet wurde.« »Ja, natürlich«, erwiderte Smith. »Aber es war nicht die wahrscheinlichste Entwicklung. Bei jeder Operation haben wir es mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Es ist immer möglich, dass eine Person nicht so reagiert, wie wir es vorhersagen. Außerdem kann stets etwas Unvorhersehbares eintreten, was unsere Absichten zunichte 132 macht. Tatsache ist jedenfalls, dass sich der Imperator mehr und mehr zurückzieht, je mehr Informationen über den Krieg an die Öffentlichkeit gelangen. Dass er seinen langjährigen Schoßhund und Premierminister feuern musste, war für ihn durchaus ein Schock. Die neue Premierministerin ist nicht so entgegenkommend, aber sie hält dem Beschuss aus der Versammlung besser stand. Er überlässt es ihr, die Prügel einzustecken, während er sich seinen Standuhren widmet und stundenlang am Strand entlangreitet.« »Er hat aber den Oppositionsführer empfangen«, gab Orange leise zu bedenken. Nach ihrer Präsentation hatte sie die gesamte Diskussion schweigend, aber aufmerksam verfolgt. Jetzt beugte sie sich vor. »Und dieses Treffen zog die Entlassung des Premierministers nach sich. Das deutet doch eindeutig daraufhin, dass er Interesse am Geschehen zeigt.« »Was spielte sich bei diesem Treffen ab?«, fragte Yellow, ehe Smith auf die letzte Äußerung eingehen konnte. Lächelnd meinte er: »Unser großer Populist ist ein ganz anderer Mensch, wenn er nicht vor der Versammlung steht, sondern vor dem Imperator. Bedenken Sie bitte, dass sich die Audienz lange vor dem Tag abspielte, an dem er predigte, Marais werde nach dem Thron greifen. Hsien agierte da noch verstärkt als Vertreter seiner Partei und seines eigenen Ehrgeizes. Er bot sich an, Premierminister in einer Minderheitsregierung zu werden und Neuwahlen auszurufen, sobald der Imperator das wollte. Er bot auch an, sich hinter den Krieg zu stellen, wenn Marais auf der Stelle zurückgepfiffen und ein Frieden mit den Zor ausgehandelt wurde. In beiden
Punkten musste er eine Abfuhr einstecken, da die positiven Medienberichte über den Krieg deutlich im Vordergrund standen, während sich nur ein kleiner Teil der Medien mit den Kriegsverbrechen befasste. Hsien schlug dann vor, der damalige Premier sollte die Verantwortung für jegliches Fehlverhalten der Flotte übernehmen, und riet dem Imperator, seine langjährige politische Rivalin Julianne Tolliver solle als neue Premierministerin die nächste Regierung bilden.« 133 »Hsien schlug vor...«, platzte es aus Red heraus, doch die Direktorin hob eine Hand, damit er schwieg. »Natürlich hat er das gemacht«, sagte sie. »So unangenehm ihm das auch gewesen sein mag, war es für ihn auf jeden Fall politisch von Vorteil. Tolliver kann mehr einstecken, und Hsiens Ruf als Außenseiter bleibt gewahrt.« »Es sei denn, dieses Arrangement wird öffentlich bekannt«, wandte Orange ein. »Richtig«, stimmte die Direktorin zu. »Fahren Sie bitte fort, Green.« »Danke, Direktorin. Der Imperator akzeptierte Hsiens dritten Vorschlag, wie Sie alle wissen. Es ist nicht klar, ob er Hsiens wahre Absichten durchschaute. Als der Abgeordnete letzten Monat seine Rede hielt und Marais unterstellte, es auf den Thron abgesehen zu haben, war der Imperator außer sich vor Wut. Er bestellte Hsien zu sich an den Hof auf Oahu, damit er ihm eine Erklärung lieferte, doch da hatte der bereits das System verlassen und war zu einer Reise aufgebrochen. Also stand Seine Imperiale Hoheit wie ein begossener Pudel da: Sein Premierminister war ins Kreuzfeuer geraten, ein Admiral widersetzte sich seinen Befehlen, und die Versammlung war nicht in der Lage, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Kein Wunder, dass er so viel Zeit damit verbringt, das politische Geschehen zu ignorieren.« »Wir haben zu dieser Situation beigetragen«, merkte Violet leise an. »Das ist nicht die Situation, die von uns angestrebt wurde«, erwiderte Smith rasch. »Wir hatten etwas völlig anderes erwartet...« »Das ändert aber nichts daran«, unterbrach Violet ihn, »dass wir für Seine Imperiale Hoheit eine tiefe Grube gegraben haben. Es erscheint mir nur gerecht, wenn wir ihm nun auch heraushelfen.« »Wenn es im Interesse der Agency ist«, meinte Blue kühl. »Wir haben es hier nicht mit irgendeinem zweitrangigen Politiker zu tun«, mahnte Smith. »Er ist der Imperator, und ich wäre 133 Ihnen dankbar, wenn Sie das nicht vergessen würden. Unsere Loyalität gilt...« »... dem Imperium.« »Und dem Imperator. Oder haben Sie Ihren Eid vergessen? Ich nicht. Wir haben eine verzwickte Situation geschaffen, weil Marais mit unserer Hilfe zum Admiral ernannt wurde. Ich schlage vor, wir lösen das Problem Seiner Imperialen Majestät auf die schnellstmögliche und direkteste Art.« »Und die wäre?«, fragte die Direktorin, obwohl alle am Tisch die Antwort kannten oder zumindest ahnten. »Operation Tattoo«, antwortete Violet prompt. »Wie Sie wissen, Violet, ist für Maßnahmen gegen eine Person, die so sehr in der Öffentlichkeit steht wie Admiral Marais, die unmittelbare Zustimmung des Imperators notwendig«, sagte die Direktorin nachdenklich. »Wir sollten uns hüten, das selbst in die Hand nehmen zu wollen. Damit hängt auch die Frage zusammen, welche Auswirkung das auf die Kriegführung hat.« »Es wird wohl kaum ungeschehen machen können, was er bislang angerichtet hat«, meinte Violet spöttisch. »Auf dieser Seite der Antares-Verwerfung gibt es keinen Flottenstützpunkt und keine Siedlung der Zor mehr, er hat A'anenu eingenommen, er hat sogar einen Zor festnehmen können. Der Feind hat einmal ein Friedensangebot unterbreitet, und ich bin mir sicher, man wird ein zweites Angebot nachlegen...« »Die Aliens haben Marais mythische Dimensionen verliehen...« »Ach, kommen Sie, Direktorin. Das nehmen Sie doch nicht wirklich ernst! Das ist irgendwelcher Unfug. Hokuspokus, Handleserei - oder besser gesagt: Krallenleserei. Einen Mann aus dem Spiel zu nehmen, wird keinen Unterschied machen. Was die andere Sache angeht, Direktorin, empfinde ich es als ein wenig unerfreulich, dass Sie sich vor etwas so Simplem wie einem Attentat scheuen, vor allem wenn es den Schutz des Imperators betrifft. Sie waren bereit und fähig, die Agency in einer Operation zu leiten, in der es darum ging, Admiral Marais das Kommando über die Flot 133 te zu geben, damit er etliche Welten verwüstet und Millionen Zor tötet und gleichzeitig zehntausende Menschenleben aufs Spiel setzt...« »Das kann man wohl kaum vergleichen...« »Wirklich nicht? Bitte ersparen Sie mir diesen Anflug von Moral, Direktorin. Man kann es sehr wohl vergleichen. Wenn wir Marais benötigt haben, um das Imperium nach Pergamum auf den rechten Weg zu
bringen, dann müssen wir uns keine Vorwürfe machen. Wenn wir ihn jetzt nicht mehr gebrauchen können, dann entledigen wir uns seiner. So einfach ist das.« Die Direktorin war sichtlich wütend und brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln und weiterreden zu können. »Ihre Argumente entbehren nicht einer gewissen Logik, Violet. Ich werde darüber nachdenken. Möchte sonst noch jemand etwas zu diesem Punkt sagen?« Niemand schien sich äußern zu wollen. »Gut. Derzeit besteht für uns wohl keine akute Notwendigkeit, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Wenn der Imperator die Operation Tattoo anordnen möchte, dann werden wir sie ausführen. Wenn Marais fähig und daran interessiert ist, Imperator zu werden, dann braucht er einen Geheimdienst. Wie stets werden wir in der Lage sein, unsere Interessen zu schützen und zu wahren. Für den Moment muss jeder von uns weitere Informationen zusammentragen. Das Treffen ist damit beendet.« Die sechs Agenten standen auf und verließen ihre Plätze. Violet sprach kein Wort mit seinen Kollegen oder mit der Direktorin, sondern eilte geradewegs zur Tür. »Red, Green, Sie beide bleiben bitte noch einen Moment hier«, sagte die Direktorin, als die anderen Violet folgen wollten. Smith sah seinen Kollegen an und blieb neben seinem Sessel stehen, bis die anderen gegangen waren und die Tür hinter ihnen zufiel. »Diesen soeben erlebten Ausbruch hatte ich bereits erwartet. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir Violet nicht länger vertrauen können, da er womöglich nicht mehr im Interesse der Agen 134 cy handelt. Red, Sie stellen sicher, dass er ab sofort keinen Zugang mehr zur Agency hat. Green, Sie kümmern sich um das leibliche Wohlergehen des Imperators und der Premierministerin Tolliver. Notfalls offenbaren Sie den beiden gegenüber - aber nur ihnen gegenüber - Ihre Verbindung zur Agency und Ihren Status. Alles verstanden?« Sie sah die beiden Männer an, die bestätigend nickten. »Gut, dann zurück an die Arbeit.« Die zwei Agenten verließen den Raum. Keiner von ihnen ließ ein Wort über ihren neuen Auftrag verlauten. Hinter ihnen zog ein Sturm über die fleckige Oberfläche des Jupiter. 134
1 6 . Kapitel
In der Ebene der Schmach können die verlorenen Seelen nicht ihr Gesichtheben. (Trauer der Hssa} Nur der wahre Held (Ehre gegenüber esLi) kann den Blick zum Himmel wenden. Klagelied vom Gipfel
Ptal HeU'ur kam noch zeitig aus dem Laubengang hervor, um eine Szene zu verhindern, dennoch war ihm sofort klar, dass er mitten in Schwierigkeiten hineinflog. Makra'a, der Nestlord von HeU'ur, stand nahe dem Eingang und redete aufgebracht. Seine Flügel hatte er in die Stellung des Extremen Affronts gebracht, und es sah ganz so aus, als würde er jeden Moment sein chya gegen S'tlin, den alHyu des Hohen Lords, richten. S'tlin, ein Diener von mittlerem Alter und schmächtiger Statur, stand respektvoll da und schwieg, war aber so positioniert, dass Makra'a ihn nicht passieren konnte, ohne Gewalt anzuwenden. Ptal konnte sich fast denken, warum die Acht Winde Makra'a hergeführt hatten. Auch wenn er sich dem Nestlord jetzt lieber nicht gestellt hätte, blieb ihm gar keine andere Wahl. »esLiHeYar, Mylord«, sagte er, während er sich ihm rasch näherte. »Ich grüße Sie, ha Makra'a, und willkommen zurück in es Yen.« S'tlin ging zur Seite, während sich der Hohe Kämmerer vor dem wütenden Makra'a HeU'ur aufbaute. Der Nestlord senkte seine Flügel, um seinen größeren Respekt 134 vor dem Neuankömmling zu bekunden, gleichzeitig wurde seine Stimme leiser, »se Ptal. Sie sehen gut aus dafür, dass Sie so weit von der freundlichen Sonne über E'rene'e entfernt sind.« Es war eine eindeutige Anspielung darauf, dass er nicht nach Hause gekommen war. »Manchmal sind unsere Pflichten stärker als unsere Wünsche«, antwortete Ptal. »ha Makra'a, kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?« »Ich möchte mit dem Hohen Lord sprechen.« »Ich bitte achttausendmal um Verzeihung, Mylord«, erwiderte Ptal. »Ich glaube, heute Nachmittag empfangt hi Sse'e keine Besucher.« »Mich wird er empfangen.« »Ich glaube Ihnen, dass Ihr Anliegen dringend ist, Mylord, aber als ich bei ihm war, bat er mich, niemanden zu ihm vorzulassen. Vielleicht hat se S'tlin das Ihnen ja bereits erklärt.«
»Ich bin kein L7e-Cousin von irgendeiner entlegenen Welt, der sich einfach wieder fortschicken lässt, se Ptal. Es ist schon unangenehm genug, welchen Spott niederer Lords man über sich ergehen lassen muss, wenn diese vor mir von den Plänen und Wünschen des Hohen Lords erfahren, obwohl meine Dienstzeit so viele Jahre umfasst. Ich kann nicht so ohne weiteres die Beleidigung hinnehmen, von einem alHyu weggeschickt zu werden, selbst wenn es sich um den alHyu des Hohen Lords persönlich handelt.« »Ich bin davon überzeugt, dass se S'tlin es nicht als Beleidigung gemeint hat.« »Es ist bereits Beleidigung genug, hier draußen mit Ihnen diskutieren zu müssen, se Ptal«, erwiderte der Nestlord mit ruhiger Stimme, während seine Flügel in die Haltung der Getroffenen Ehre gingen. »Sie werden den Hohen Lord in meinem Namen stören, und ich werde so lange hier draußen warten.« »ha Makra'a, ich...« »Ich werde das nicht mit Ihnen diskutieren. Ich habe mein Nest im Angesicht des Schattens von esHu'ur verlassen, um den Hohen 135 Lord aufzusuchen. Jedes Vierundsechzigstel eines Mondes, das ich auf Zor'a verbringe, ist ein Vierundsechzigste] zu viel. Sie werden ihm sagen, dass ich hier bin und ihn sprechen möchte. Wenn er sich nicht mit mir treffen will, dann werde ich seine Antwort mit zurück nach E'rene'e nehmen. Gehen Sie und sagen Sie es ihm.« Ptal HeU'ur dachte einen Moment lang über Makra'as Erklärung nach und überlegte, ob er sich trotzdem weiter weigern sollte. »Nun gut«, sagte er, als einige Augenblicke verstrichen waren. »Warten Sie hier, ha Makra'a«, fügte er an und deutete auf den Eingang zur Laube. Ptal erwartete, den Hohen Lord dort anzutreffen, wo er ihn ein paar Minuten zuvor zurückgelassen hatte, nämlich mitten im esTle'e, in seine Meditation vertieft. Stattdessen stand er vornübergebeugt da und betrachtete interessiert das Wachstum einiger bunter Sträucher, die rings um den Mittelpunkt des Gartens gepflanzt waren. Sein hi'chya trug er an der Seite, und er sah auf, als sich Ptal und S'tlin näherten. »hi Sse'e«, begann Ptal, »ich wollte Sie eigentlich nicht stören...« »Aber«, unterbrach der Hohe Lord ihn, richtete sich auf und rückte seine Flügel in eine Haltung, die Freundlichkeit vermittelte, »jemand sehr Wichtiges muss mich unbedingt sprechen und will deshalb meine Ruhe und Meditation stören.« Ptal wollte etwas dazu sagen, doch der Hohe Lord hob eine Hand. »Ein Nestlord, würde ich annehmen... vielleicht... Makra'a?« »Ein Traum, hi Sse'e?« »esli schickt mir nicht oft Träume, in denen es um Makra'a geht«, erwiderte der Hohe Lord und hob leicht amüsiert die Flügel. »Nein, ich habe die Unruhe draußen wahrgenommen, und als Sie so schnell zurückkehrten, wurde mir klar, dass es nur wenige gibt, die Sie entgegen meiner ausdrücklichen Anweisung dazu bringen können, mich zu stören.« »Ich bitte achttausendmal um Verzeihung«, antwortete Ptal und 135 senkte den Blick. Seine Flügel gingen in eine entschuldigende Haltung. »Wenn der Hohe Lord glaubt, meine Verantwortung sei durch meine Blutsverwandtschaft mit ha Makra'a beeinträchtigt, dann werde ich meinen Posten aufgeben und...« »Bei esLis Kreis des Lichts! Nicht!« Sse'e trat vor und packte Ptals Unterarme mit seinen Klauen. Seine Flügel nahmen die Haltung der Kameradschaft ein. »In diesen sorgenvollen Zeiten, mein guter Freund, kann ich mir niemanden sonst vorstellen, der so loyal und so gut mit mir fliegen könnte.« Er ließ ihn los und sah kurz zu S'tlin. »Haben Sie von Ihrem Sohn gehört, se S'tlin?« »Von meinem Sohn, Hoher Lord?« S'tlin schien verblüfft, ja fast schon peinlich berührt, dass er während der Unterhaltung der beiden etwas gefragt wurde. »Ja, das habe ich, hi Sse'e. S'reth hat die erste Erfahrungsprüfung mit großem Geschick absolviert, er gehört jetzt zu den Studenten im Sanktuarium.« »Exzellent, wirklich exzellent. S'reths Begabung als Fühlender hat sich erst in der jüngsten Zeit bemerkbar gemacht«, sagte der Hohe Lord zu Ptal, der ebenfalls über den abrupten Wechsel des Gesprächsthemas irritiert war. »Wir haben so viele Fühlende verloren, die in ihrer Kunst so großartig waren, da tut es gut, dass esLi uns Nachfolger gewährt.« Er wandte sich wieder Ptal zu und ließ seine Flügel kreisen. »Nun sollten wir überlegen, was se Makra'a möchte.« Er gab S'tlin ein Zeichen, woraufhin der einen Schritt nach hinten machte, eine ehrerbietige Flügelposition einnahm und dann in die Lüfte aufstieg, um in einen anderen Teil des Gartens zu fliegen. »Ich kann nur mutmaßen, Hoher Lord«, sagte Ptal nach einer Weile. »Er möchte wissen, was aus seiner... aus unserer Welt wird, da die Ankunft von esHu 'ur unmittelbar bevorsteht.«
»Das ist anzunehmen. Aber das steht in direktem Zusammenhang mit seinen Erwartungen.« Der Hohe Lord begann, durch den Garten zu schlendern, während Ptal immer an seiner Seite blieb. »Wenn esHu'ur vorhat, seine Welt zu vernichten, so wie er es be 136 fürchtet, dann hat er allen Grund zur Furcht. In Anbetracht dessen, was Makra'a nun weiß, kann man mit Blick auf den Verlauf dieses Krieges kaum etwas anderes erwarten. Und soweit ich das beurteilen kann, se Ptal, könnte die Dunkle Schwinge das wirklich machen. Ich kann nur zu esLi beten, dass sein Verlangen nach Blut gestillt ist.« »Geben Ihre Träume darauf irgendeinen Hinweis?« »Ja, das tun sie, se Ptal, das tun sie tatsächlich. Das ist auch der Grund, warum ich so ruhig durch meinen Garten wandeln kann, während Lord Makra'a draußen voller Ungeduld wartet. Er weiß nicht, was sich bei Ka'ale'e Hu'ueru, der Feste der Dunkelheit, zugetragen hat. Er weiß nicht, welche Zeichen gegeben und erkannt wurden. Er weiß nicht, dass sich HaSameru dort esHu 'ur ergeben hat. Und es gibt noch andere Dinge, die er nicht weiß.« Der Hohe Lord blieb stehen und bückte sich, um den Stiel einer blauen Blumen mit zahlreichen Blütenblättern zwischen zwei Krallen zu nehmen und sie vorsichtig zu drehen, als bewundere er ihre Zartheit. »Auch wenn sie gut verborgen ist, schwebt doch der Schatten der Schwinge des Täuschers erkennbar über dieser ganzen Angelegenheit.« »Die Menschen...« »Die Menschen sind in diesem Spiel die Kinder«, unterbrach der Hohe Lord. »Kinder!« Er sah aus seiner gebückten Haltung hoch in Ptals Gesicht. »Sie sind natürlich naZora'i, und sie sind nicht unsere Nestbrüder. Aber sie sind weder esGa'uYal noch esHara'y. Sie sind nicht der Feind.« Sein Kopf sank noch ein Stück tiefer, damit er das Aroma der Blume riechen konnte. »Es bleibt abzuwarten, ob sie das jemals waren.« »Hoher Lord...?« Ptal war nicht in der Lage, sofort etwas darauf zu erwidern. Hätte ein anderer als der Hohe Lord derartige Worte gesprochen, wären sie ein Beweis für Verrat oder gar für Wahnsinn gewesen. »Irgendwo - einen sehr weiten Flug vom Goldenen Kreis von esLi entfernt - befindet sich der wahre Feind des Volks.« Diesmal 136 sah er Ptal nicht an, doch seine Flügel hoben sich ein wenig und nahmen eine Pose der Ehrerbietung ein. Der Hohe Kämmerer bemerkte, wie sich Sse'es Krallen fester um den Stiel der Blume schlossen, die er nach wie vor betrachtete. »Es sind nicht die menschlichen naZora'i, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen, se Ptal. Sie wurden manipuliert, so wie wir auch. esLi hat das deutlich gemacht, indem er uns in die Krallen von es-Hu 'u r gespielt hat. Vielleicht haben wir von esHu 'ur noch mehr zu befürchten, doch unser wahrer Feind ist unbekannt. Er dient dem Lord der Schmach. Er ist nahe, mein alter Freund. Er ist ganz nahe.« Mit einer blitzschnellen Bewegung, der das Auge fast nicht folgen konnte, durchtrennten die Krallen den Stiel. »Und wir werden ihn aufhalten«, fügte er leise an, die Flügel in der Haltung der Ehrerbietung gegenüber esLi, während die Krallen in ihre Hüllen zurückglitten. Einen Moment lang blieb die Blüte, wo sie war, als sei nichts passiert. Erst dann verlor sie ihren Halt und fiel in den feinen Kies auf dem Boden. Im Garten herrschte fast völlige Ruhe, wenn man vom gelegentlichen Aufwallen des fernen Lärms aus der Halle der Ehrfurcht dahinter absah. »Nun«, erklärte der Hohe Lord, »werden wir uns anhören, was Makra'a HeU'ur uns zu sagen hat.« Die Brücke der Lancaster befand sich auf dem höchsten Punkt der abgeflachten Sphäre, die das vordere Ende des Schiffs bildete. Am untersten Punkt war der Hangar für die Shuttles untergebracht, von dem aus die kleinen Schiffe starteten. Unmittelbar darüber befand sich das Beobachtungsdeck, das sich über die gesamte Peripherie der Sphäre erstreckte und einen Rundumblick ermöglichte. Bei Gefechten wurde dieses Deck aus Sicherheitsgründen geschlossen, und während sich das Schiff im Sprung befand, war der Blick nach draußen nicht möglich. Wenn das Deck benutzt werden konnte, wurde es von der Crew der Lancaster in den dienstfreien Zeiten aufgesucht, da es eine Abwechslung zu den Quartieren und 136 Abteilungen des Schiffs bot. Gefechtsoffiziere begaben sich nicht dorthin, da sie ihre Offiziersmesse hatten. Sergei brauchte eine solche Zuflucht ebenfalls nicht, denn mit seinem Dienstgrad ging das Privileg einher, über Privaträume, ein Arbeitszimmer und einen Bereitschaftsraum zu verfügen. Doch nirgendwo gab es diesen Panoramablick, und es gefiel ihm, sich unter die Mannschaft zu mischen.
Jetzt, da die Flotte immer noch an der Zor-Station in der Verwerfung vor Anker lag und der nächste Schritt noch nicht entschieden war, nahm er sich die Zeit, das Beobachtungsdeck aufzusuchen, wo er einen Eindruck von der Stimmung unter seinen Leuten gewinnen wollte. Auf dem Deck war relativ viel los. Als er eintrat, standen die Crewmitglieder, die der Tür am nächsten saßen, prompt auf und salutierten, und einen Moment später taten die anderen auf dem Deck es ihnen nach. Er erwiderte die Begrüßung und bedeutete seinen Leuten, sich wieder zu setzen, dann ging er auf der erhöhten Plattform entlang, die um das Deck herum verlief, und betrachtete die Sterne. Nach wenigen Augenblicken kehrte wieder Normalität ein, die unterbrochenen Gespräche wurden fortgesetzt, Gläser klimperten, und die Geräusche der Spiele, die irgendwo auf dem Deck gespielt wurden, setzten wieder ein. »Was führt Sie denn hierher, Bruce?«, fragte Sergei, als er eine vertraute Gestalt erblickte, die sich gegen das äußere Geländer lehnte. Major Bruce Wei drehte sich zu seinem vorgesetzten Offizier um, salutierte und lächelte ihm zu. »Ich bewundere nur die Aussicht, Skip.« Er deutete über seine Schulter nach draußen. »Die Gagarin macht sich bereit für den Wachwechsel.« »Das sollten wir uns ansehen.« Sergei kam zum Geländer und sah in die Richtung, in die Wei zeigte. Der Fensterbereich direkt vor ihnen war auf eine stärkere Vergrößerung eingestellt. Der große Transporter kam langsam ins Blickfeld. Sergei sah eine Welle aus winzigen Punkten, die in einem perfekten Muster das Flug 137 deck verließen, Richtung Steuerbord schwenkten und dann in einen langen, gemächlichen Orbit um die Gagarin gingen. »Wenn ich mich nicht irre, Skipper, sind Sie doch früher eins von diesen Dingern geflogen, oder?«, fragte Wei, ohne den Blick abzuwenden. »Ja, als ich jünger und noch viel unvernünftiger war.« Sein Sicherheitschef musste grinsen, als er das hörte. »Das ist lange her, und ich hatte verdammtes Glück, dass ich es überlebt habe.« »Den Job würde ich nicht mal für den zehnfachen Sold annehmen.« »Heute muss ich das auch sagen. Aber als ich neunzehn war... Einen Aerospace Fighter zu fliegen, kann man mit nichts vergleichen, Bruce. Sie sehen das ganze Universum, als wäre es zum Greifen nah. Sie haben alles unter Kontrolle - die Geschwindigkeit, die Richtung, die Entfernung. Und Ihr Finger liegt auf dem Feuerknopf.« »Und wenn Sie nahe genug an den Waffen des Feindes sind, verwandeln die Sie in Plasma.« »Also hält man sich von ihnen fern. Man fliegt nicht außerhalb der Reichweite seines Flügelmanns, man unternimmt auch keine Solo-Einlagen. Gefechte sind natürlich das Schlimmste, aber genau damit verbringt ein Fighter-Pilot die meiste Zeit.« Er deutete auf einen der wenigen Leuchtkäfer. »Man fliegt in einer Formation, man beobachtet den Radar, man meldet sich alle fünfzehn bis dreißig Minuten. Da hat man viel Zeit zum Nachdenken.« Er stützte sich auf das Geländer. »Möchte wissen, worüber der da draußen nachdenkt.« »Über den Krieg, würde ich sagen, Skip.« »Und was?« »Oh, nichts Tiefschürfendes oder Philosophisches, glaube ich. Er denkt über das nach, was jedem Soldaten durch den Kopf geht, wenn das Thema aufkommt: Wann werde ich mein Zuhause wiedersehen?« »Zuhause.« Sergei richtete sich auf, und mit einem Mal fühlte er 137 sich einsam ... nein, er fühlte sich eher allein. »Von zu Hause sind wir weit weg, nicht wahr?« »Wir werden uns bestimmt sogar erst noch weiter entfernen, ehe wir wieder näher kommen«, erwiderte Wei und verschränkte die Arme vor der Brust. »Eine andere Wahl haben wir ja wohl nicht.« »Wie denkt die Crew darüber?« »Ich bin mir sicher, wenn Sie die Leute fragen, werden alle voller Überzeugung hinter Ihnen stehen, Skip. Und auch hinter dem Admiral.« »Das ist nur das, was sie sagen werden. Aber wie denken sie darüber?« »Ich bin da nicht wirklich eingeweiht.« Bruce Wei verzog bei seiner Antwort nicht eine Miene. Er wusste es ganz genau, aber er würde es Sergei nicht sagen. »Wissen Sie«, meinte Sergei nach einer kurzen Pause, »ich halte Sie immer noch für den besten Pokerspieler der Flotte.« »Ich widerspreche meinem vorgesetzten Offizier nur ungern«, gab Bruce zurück und ließ den Hauch eines Lächelns erkennen, »aber ich glaube, für dieses Mal muss ich den Titel abgeben.« »Tatsächlich?«
»Der Admiral ist der allerbeste Pokerspieler der Flotte«, fuhr Bruce fort. »Ich habe immer gesagt, ich kann am Augenzwinkern ablesen, ob jemand blufft oder nicht. Aber bei ihm habe ich absolut keine Ahnung, was er vorhat.« Jetzt verstehe ich, dachte Sergei. »Ich glaube, ich kann darüber nicht mit Ihnen reden, Bruce, und das wissen Sie auch.« »Natürlich, Skipper.« Er sah wieder nach draußen. »Und Sie wissen, dass ich keine Fragen stellen würde, aber... man hört dies und jenes.« »Dies und jenes?« »Da kursiert das Gerücht«, sagte Bruce so leise, dass ihn außer Sergei niemand hören konnte, »der Admiral sei gar nicht mehr Admiral, dass er es aber so bald keinen wissen lassen will. Und es heißt, dass während des Sprungs etwas sehr Seltsames passiert 138 sein soll. Chan will nicht darüber reden, also muss etwas Wahres dran sein. Andere sagen, der Admiral habe sich einen neuen Titel zugelegt, womöglich um den zu ersetzen, den er eigentlich nicht mehr benutzen sollte. Ein Titel, den die Zor ihm gegeben haben.« »Gerüchte«, erwiderte Sergei. Sein Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet, während er versuchte, teilnahmslos dreinzublicken, obwohl sein Sicherheitschef ihm Dinge erzählte, von denen er wusste, dass sie stimmten. »Wissen Sie, Skip, man kann sich kaum vorstellen, dass Sie in zwanzig Jahren nie richtig gelernt haben, wie man Poker spielt. Wenn Sie mich entschuldigen würden«, sagte er und salutierte, »aber meine Arbeit ruft.« Sergei reagierte mit einem knappen Gruß und sah dem Mann nach. Die Flotte lag über der Station vor Anker, die die Zor Ka'ale'e Hu'ueru nannten, die Feste der Dunkelheit. Das Kontingent der Menschen war noch weiter angewachsen, achtzehn Schiffe hatten sich nach der Einnahme von A'anenu eingefunden. Es war nicht lange möglich gewesen, die Gerüchte an ihrer Ausbreitung zu hindern. Schließlich wusste jeder, dass Marais abgesetzt worden war, auch wenn es weiter inoffiziell blieb. Noch immer herrschte Funkstille. Auch wenn die Admiralität richtig getippt hätte, wo die Flotte zu finden war, verfügte sie über keine Schiffe, die sie hätte herschicken können. Rrith durfte sich auf Anordnung von Admiral Marais auf der Lancaster frei bewegen, lediglich der Maschinenraum, das Hangardeck und die Brücke waren für ihn tabu. Er war unbewaffnet, wenn man von seinem chya absah, und er wurde ständig eskortiert. Auch wenn er machen konnte, was er wollte, verbrachte er die meiste Zeit auf dem Beobachtungsdeck, wo er die Sterne betrachtete, unnahbar wirkte und von allen in Ruhe gelassen wurde. Drei Standardtage nach der Kapitulation von Hu'ueru vor der Dunklen Schwinge wurden Gyu'ur HeYen, der Kommandant der 138 HaSameru, und seine Offiziere auf das Flaggschiff eingeladen. Es war mehr eine höfliche Geste unter Soldaten als ein Staatsbesuch, und der Admiral entschuldigte sich, dass er an der Zusammenkunft nicht teilnehmen konnte. Um das Treffen noch etwas inoffizieller wirken zu lassen, ließ Sergei die Einladung von Chan überbringen, der die Zor im Namen der Offiziersmesse der Lancaster einlud. »Wir bewegen uns seit A'anenu in einem Vakuum«, hatte er zu Chan gesagt. »Das ist eine Gelegenheit für uns, wirklich etwas über die Zor zu erfahren.« »Einen feindlichen Commander an den Tisch der Offiziersmesse einzuladen ... so etwas hat es noch nie gegeben«, hatte Chan eingewandt. »Dafür ist die Offiziersmesse nicht gedacht.« »Es ist eine höfliche Geste«, beharrte Sergei. »Bislang war noch nie ein Zor an Bord eines imperialen Schiffs gewesen. Aber die Zor sind nicht zwangsläufig immer noch unsere Feinde, und ... « Fast hätte er gesagt: ... und wir sind längst kein imperiales Schiff mehr. »Ich befehle Ihnen das nicht, Chan, ich bitte Sie darum. Falls der Krieg jetzt vorüber ist, dann haben die Offiziere der Lancaster nun als Erste die Chance, unsere neuen Freunde zu verstehen.« Chan seufzte, als stelle er sich den Kampf vor, der ihn erwartete, wenn er das den anderen Offizieren eröffnete. »Also gut, Sir. Sollte ich sonst noch jemanden einladen?« »Sergeant Boyd«, antwortete er. »Ich weiß, das ist ebenfalls ungewöhnlich, aber wir werden ihn brauchen.« »Und der Gefangene?« »Fragen Sie Boyd, aber ich vermute, die Antwort lautet nein. Und solange ich nichts anderes sage, wird der Gefangene während des Besuchs nicht erwähnt.«
Er hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen. Boyd hatte bei Rrith einen großen Bogen um das Thema gemacht, dann aber erkannt, dass der Status des Zor noch immer idju war, auch wenn er sich Admiral Marais in dessen Rolle als Dunkle Schwinge untergeordnet hatte. Er würde nicht mit den Zor-Offizieren an einem 139 Tisch sitzen können, ganz gleich, wie sehr er auch unter seinesgleichen sein wollte. Auf die Minute genau landete der Zor-Shuttle auf dem Hangardeck der Lancaster. Die helle Beleuchtung hatte man mit Rücksicht auf die Gäste gedämpft, und sie entsprach nun dem von ihnen bevorzugten roten Spektrum. Die Schwerkraft an Bord war auf einen Mittelwert zwischen den gewohnten 0,6 g der Zor und dem Standard von 1 g reduziert worden. Nachdem die Luke geöffnet worden war, glitten drei Zor langsam hinab, bis sie in einer Dreiecksformation auf dem Deck gelandet waren. Sergei stand allein vor ihnen, um sie zu begrüßen, während die Schiffsglocke fünfzehnmal schlug. »Captain«, sagte Sergei zu dem Zor, der zuvorderst stand und der der Kommandant der HaSameru war. »Willkommen an Bord der Lancaster, esLiHeYar.« Lass mich das bloß richtig ausgesprochen haben, dachte er flehentlich. »haKarai'i esHu'uSha'methesen«, erwiderte Gyu'ur HeYen. Als Sergei den Kopf ein wenig senkte, überlegte er, was der Zor wohl zu ihm gesagt hatte. »Es freut mich, willkommen zu sein auf dem Schiff eines Gefolgsmanns von esHu'ur, Commodore. Sie ehren mich, indem Sie mich in der Hochsprache angeredet haben.« »Sie ehren uns mit Ihrer Gegenwart.« Sergei deutete auf den Ausgang. »Meine Offiziere erwarten uns in der Offiziersmesse.« »Ich habe gehört«, sagte der Zor, während er und seine zwei Begleiter - die er bislang nicht vorgestellt hatte ihm folgten, »dass Ihre Offiziere diese Einladung ausgesprochen haben.« Er bewegte ein wenig die Flügel, während er das sagte. »Eine Tradition in unserer Navy.« Sie gelangten in einen in rotes Licht getauchten Korridor, der auf Sergeis Befehl für die Dauer des Aufenthalts der Gäste von niemandem sonst benutzt werden durfte, und folgten seinem Verlauf. »Der XO - mein unmittelbarer Stellvertreter - steht der Offiziersmesse vor; er hat das Recht, jeden einzuladen, den er einladen möchte. Es ist nicht ganz so formell wie im Speisezimmer des Captains.« Er lächelte, war sich aber 139 nicht sicher, ob der Zor diese Anspielung verstand. »Sie haben sich sogar dazu durchgerungen, mich einzuladen.« Chaos, dachte Gyu'ur, während er neben dem naZora '/-Commander herging. Ein Untergebener steht der Messe vor und kann seinen Vorgesetzten davon ausschließen, an der Tafel Platz zu nehmen? »Wie außergewöhnlich«, sagte er und spreizte seine Flügel in die Position der Höflichen Geringschätzung. Ihm war klar, dass der Mensch diese Geste nicht verstand. »Wir waren unschlüssig, wie wir einen Dialog zwischen unseren Völkern beginnen sollen, darum hielten wir etwas Informelles für die beste Lösung.« »Ich verstehe. Wer wird bei dieser... Zusammenkunft zugegen sein?« »Einige meiner Offiziere, dazu einige geladene Gäste.« »Und... esHu 'ur?« Er blieb stehen, während seine Flügelstellung wie von selbst in den Mantel der Hochachtung gegenüber esHu 'ur wechselte. Die Bewegung kam aber so unerwartet, dass der Mensch beinahe mit Gyu'ur zusammengestoßen wäre. »Wie bitte?«, fragte Sergei hastig. »Wird esHu 'ur auch anwesend sein?« »Der Admiral ist verhindert«, sagte Sergei, der zu erkennen versuchte, ob Marais' Fehlen für die Zor in irgendeiner Weise einer Beleidigung gleichkam. »Ah.« Der Zor ging weiter, und Sergei schloss gleich wieder zu ihm auf. Es kam ihm vor, als sei ihm die Kontrolle über die Unterhaltung entglitten. »Hätten Sie lieber noch einmal mit ihm gesprochen?« »Das verstehen Sie falsch, Commodore. Mit Lord esHu'ur zu reden, ist für meine Offiziere und mich keine Voraussetzung für ein gemeinsames Essen. Aber wäre er anwesend, dann würden wir...« Der Zor schien nach den richtigen Worten zu suchen, also sprang Sergei ein: »... die Flügel anders stellen müssen?« Abermals blieb der Zor abrupt stehen und sah zu seinen beiden 139
Begleitern. Er weiß davon? ging es ihm durch den Kopf, während er seine Flügel in der Haltung des Erhabenen Verstehens hielt. Es war ein Moment der Erkenntnis, ein sSurch'a, ein Sprung nach vorn im Verständnis. Jahrzehntelang hatten die Menschen sich in den Verhandlungen wie blinde artha benommen, als sei ihnen die Bedeutung der Flügelhaltung für die Hochsprache nie bewusst gewesen. Dementsprechend hatten sie auch nie darauf reagiert, sondern ihre unmögliche Vielfalt an Gesichtsausdrücken zur Schau gestellt, die nur mit Mühe zu durchschauen waren. Einige Gelehrte behaupteten zwar, sich ausgiebig mit ihnen beschäftigt zu haben, dennoch war es unmöglich, eine klare, einheitliche Linie auszumachen. Was wollte der Mensch sagen? Dass er die Flügelelemente der Hochsprache lesen konnte? Oder dass die Menschen das immer schon gekonnt, aber bewusst ignoriert hatten? Es war ein Pfad, den er im Moment lieber nicht fliegen wollte. »Ihre Wortwahl ist höchst zutreffend, Commodore«, sagte er schließlich und unterstrich seine Bemerkung mit der Pose der Beunruhigten Erwartung. Sergei brachte die Gruppe zum Lift, sie fuhren schweigend hinauf zu den mittleren Decks des Schiffs, dann ging es weiter durch einen gleichfalls geräumten Korridor bis zur Tür der Offiziersmesse. Entsprechend der Tradition der Offiziersmesse nahm er seine Uniformmütze ab und betätigte den Summer. Auf der anderen Seite erwartete sie ein Junioroffizier in Galauniform, mit dem er der Form halber einen Salut wechselte. Stühle wurden gerückt, als die anderen Offiziere im Raum in Habtachtstellung gingen. Die Zor folgten Sergei dichtauf, der am Platz rechts neben Chan Wells und damit am Kopf der Tafel stehen blieb. Sein XO stand da, den kleinen Hammer in der Hand, und wartete, bis die Gäste sich bei ihm befanden. »Mr President«, sagte Sergei zu Chan, »es ist mir eine Freude, Ihnen Gyu'ur m'Har ehn HeYen vorzustellen, den Captain der Ha140 Samern, und seine Offiziere. Captain«, wandte er sieh dann an Hyos, »der Präsident der Offiziersmesse, Commander Chan Wells.« Chan deutete mit dem Hammer auf die freien Plätze nahe dem Kopfende des Tischs, und die Zor begaben sich dorthin. Gyu'ur war von dieser Sitzordnung zunächst irritiert und fand es etwas befremdlich, dass die Menschen entschieden hatten, die Zor von den anderen im Raum gesondert zu platzieren. Instinktiv hielt er nach möglichen Ausgängen Ausschau, und er hörte, wie sein ehya ihm leise etwas zuraunte. Alle Blicke schienen auf ihn gerichtet zu sein, während die Männer dastanden. Dann wurde ihm bewusst, dass sie offensichtlich auf ein paar Worte von ihm warteten. »Ich ... entschuldige mich im Voraus für jede Nachlässigkeit oder ehrlose Handlung, die meinen Kameraden und mir bei diesem Besuch unterlaufen könnte, se President«, sagte er zu Chan. »Erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Offiziere vorstelle ... mein hochrangigster Fühlender und geehrter Cousin, Kasu'u m'Har ehn HeYen« er deutete auf den Zor mit der karmesinroten Schärpe, der links von ihm stand -, »und mein Erster Navigator, Mres m'Chi'i ehn HeYen.« Sein Blick ging zu dem anderen Zor am Tisch. Chan sah in die Runde. »Meine Freunde und Kameraden, es ist üblich, dass zu Beginn eines Dinners in der Offiziersmesse ein Toast ausgesprochen wird auf den Imperator und das Sol-Imperium. Angesichts dieser doch recht ungewöhnlichen Umstände möchte ich - sofern unsere Gäste das für angemessen halten -einen Toast auf den Imperator und auf den Hohen Lord des Volks aussprechen. Mögen sie beide Erfolg haben.« Hyos senkte den Kopf ein wenig. »Auf den Imperator und den Hohen Lord«, erwiderten alle Menschen, hoben ihre Gläser und tranken. Einen Moment später hoben auch die drei Zor ihre Gläser, sagten den gleichen Trinkspruch auf und tranken. Chan klopfte mit seinem Hammer leicht auf den Tisch, dann 140 nahmen alle Platz. Die Zor setzten sich vorsichtig hin, während die Stühle begannen, sich an ihre Körperkonturen anzupassen. Offiziersanwärter kamen herein und servierten den ersten Gang. »Wir haben eine kleine, aber muntere Gruppe versammelt, um gemeinsam mit Ihnen zu essen«, sagte Chan zum Zor-Captain. »Unseren Kommandanten kennen Sie ja schon. Jeder der Offiziere vertritt eine der Abteilungen an Bord. Lieutenant Pam Fordyce gehört zur Waffenabteilung, Ensign Pete Elway ist ein Offizier aus dem Maschinenraum, Lieutenant Keith Danner repräsentiert die Kom-Abteilung, und Ensign Zhu Di gehört zur Navigation. Ich selbst bin nicht nur der Stellvertreter des Captains, sondern auch der ranghöchste Wissenschaftsoffizier.« Er deutete auf das Ende des Tischs, auf den Mann, der zwischen Elway und dem Zor-Ingenieur saß. »Außerdem freue ich mich, Ihnen Master Sergeant Christopher Boyd vorstellen zu können.«
»Karai'i esMeLie'e«, sagte Boyd. Seien Sie willkommen, geehrter Gast. Zu hören, dass ein Soldat seine Sprache fließend beherrschte, traf Gyu'ur völlig unvorbereitet. Er veränderte die Position seiner Flügel, um zu zeigen, wie überrascht er war, so sehr sogar, dass es an einen Affront grenzte. Allerdings schien ihn der Stuhl daran zu hindern, die Geste ganz zu beschreiben. »Sie sprechen, als wären Sie der Hochsprache würdig, naZora 7«, erwiderte er in eben jener Hochsprache. Der menschliche Kommandant verzog minimal das Gesicht, aber wie üblich war es ihm nicht möglich, die Veränderung in der Mimik zu verstehen. »Ich bin nur ein Nestling, der Respekt vor Sprachen hat, ha Captain«, antwortete der Marine langsam und wieder in der Hochsprache. Den anderen am Tisch schien das aus irgendeinem Grund unbehaglich zu sein. »Ich kann die Hochsprache aber viel besser verstehen - und sehen -, als dass ich sie selbst sprechen kann«, fuhr er in Standard fort. »Ist das für jemanden wie Sie eine übliche Fähigkeit?« 141 »Nein.« Der andere veränderte den Gesichtsausdruck. Gyu'ur spürte... was war das? Verlegenheit? Ein knappes Signal, das ihm Kasu'u mit einer Flügelbewegung gab, bestätigte seinen Eindruck. »Ich muss gestehen, dass sich in mir eine Verwandlung vollzogen hat.« »Ich verstehe nicht.« Der Soldat machte den Mund auf, um zu einer Antwort anzusetzen, wurde aber prompt unterbrochen. Sergei hatte das Gefühl, dass ihm die Kontrolle abermals entglitt, und verfluchte im Geiste den Sergeant. »Stimmt etwas nicht, Captain?«, fragte er hastig, war sich aber im gleichen Moment bewusst, wie albern er sich anhören musste. »Ich bin froh«, erwiderte der Zor langsam, »dass Sie jemanden eingeladen haben, der mit unserer Sprache vertraut ist. Das wird sich sicher als sehr nützlich erweisen. Vielleicht können Sie oder Ihr Stellvertreter uns ein wenig über die Tradition eines Dinners in der Offiziersmesse erzählen.« Sergei lächelte und versuchte, Gelassenheit auszustrahlen, dann sah er zu Chan. »Es ist eine alte Tradition, jedenfalls nach unseren Maßstäben«, erklärte Chan. »Vor mehr als sechs Jahrhunderten, als sich unsere großen Reisen auf Schiffen zur See abspielten, waren die Quartiere so eng, dass nur der Captain eine eigene Kabine hatte. Genau genommen wurde ihm so viel Privatsphäre zugestanden, wie er sich nur wünschen konnte - ein eigenes Quartier, ein Bereich an Deck, der nur für ihn bestimmt war, ein Kartenraum, ein Brückenhaus. Junioroffiziere dagegen verfügten nur über wenige Dinge, die sie von der Mannschaft unterschieden. Das Problem war dabei, dass diese Offiziere bestimmte Kenntnisse erlernen mussten, um eines Tages ein eigenes Kommando zu übernehmen - Navigation, Buchhaltung und so weiter. Da es nicht für jeden Offizier genug Raum gab, um in einer eigenen Kabine zu studieren, wurde ein Gemeinschaftsraum für sie bereitgestellt. Es dauerte nicht lange, 141 dann nahmen die Offiziere dort auch ihre Mahlzeiten ein, und es entwickelte sich eine gewisse Kameradschaft.« »Wie bitte?«, fragte Gyu'ur. »e 'djuye«, erklärte Boyd. »Ah, ich verstehe«, antwortete Hyos. »Fahren Sie bitte fort.« »Die Offiziersmesse dient natürlich noch einem anderen Zweck.« Chan nahm einen Löffel Suppe. »Auf den damaligen Segelschiffen war das Wort des Captains Gesetz. Was gut oder schlecht, richtig oder falsch war - er entschied über alles, was an Bord geschah. Er war dabei auch Richter über Leben und Tod. An Deck durfte niemand streiten oder widersprechen. Aber in der Offiziersmesse konnte jeder Offizier seine Meinung frei äußern, auch wenn er damit dem Captain widersprach. Auf einem gut geführten Schiff war es sogar möglich, dem Captain gegenüber Kritik zu äußern, wenn er es gestattete. Das ist das sogenannte >Privileg der Offiziersmesse«; es erlaubt einem Captain, sich hinter verschlossener Tür die Meinung seiner Offiziere anzuhören, ohne die Disziplin zu gefährden.« »Und dies hier ist ein... ein gut geführtes Schiff?« Chan lächelte und sah zu Sergei. »Sir?« »Es ist das beste der Flotte.« Nach der Suppe gab es Gemüse. Gyu'ur hatte sich vorgenommen, aus Höflichkeit gegenüber seinen Gastgebern von jedem Gang etwas zu essen. Zu seiner Überraschung schmeckte ihm der Salat ausgezeichnet. »Wäre es unverschämt, Fragen über Sie und über Ihr Schiff zu stellen?«, wollte die Frau wissen. Sie hieß... Fordyce. Und sie war ... Kom-Offizier? Nein, Waffenabteilung, korrigierte er sich. »Keineswegs.« Hyos sah zu seinem Ersten Navigator, »se Mres, würden Sie bitte unseren Gastgebern etwas über die HaSameru erzählen?«
»Wie der Captain wünscht«, gab Mres steif in der Sprache der naZora 'i zurück, während er seine Flügel rollte, um seinen Wider142 Hen kundzutun. Die Geste entging dem Marine offenbar nicht, der ihm gegenübersaß. »Unseres ist das vierte Schiff, dem die Ehre zuteil wird, diesen Namen zu tragen, der mit >Krieger bei Sonnenaufgang« übersetzt wird. Es ist vier Achtel und fünf Zyklen alt -etwas weniger als dreißig Jahre Ihrer Zeitrechnung.« »Also ein recht altes Schiff«, meinte Fordyce. »Nach unseren Maßstäben ist es noch immer recht neu«, erklärte der Navigator. »Auch wenn sein Design aus der Zeit vor... vor dem ersten Kontakt des Volks mit Ihrer Spezies stammt.« »Bei unseren Schiffen schafft es ein Design nur selten auf mehr als zehn Jahre«, warf der menschliche Captain ein. »Unsere neuesten Schiffe wurden in den letzten fünf Jahren entwickelt und gebaut. Die Lancaster ist sozusagen eine Art Anachronismus, da sie auch nach fünfundzwanzig Jahren immer noch im Dienst ist.« »Da kommt sie ganz nach unserem Captain«, sagte Chan Wells, woraufhin die anderen Offiziere amüsierte Laute von sich gaben. Sie ... lachten, und das ganz offensichtlich auf Kosten von Commodore Torrijos. Gyu'ur versteifte sich, da er sich unwillkürlich fragte, welche Reaktion dieses beleidigende Verhalten nach sich ziehen würde. Der Captain schien davon jedoch keinerlei Notiz zu nehmen, sondern konzentrierte sich wieder auf den verblüfften Gyu'ur. »Wie sieht es mit Ihnen aus, Captain?« Bemerkenswert, dachte er. »Da mein Status derzeit nicht klar definiert ist, sehe ich nichts Ehrloses darin, über meine Herkunft zu sprechen. Ich weiß nicht, wie viel davon Sie verstehen werden«, fugte er an und sah zu Sergeant Boyd. »Wir sind vom Hohen Nest, HeYen, von I7e m'Har auf Ri'ier'e in den Innersten Sternen der Zor.« »Dann stammen Sie also gar von Zor'a?«, fragte Fordyce. Gerade wollte er seine Flügel in eine Position bringen, die Sarkasmus oder sogar Herablassung signalisiert hätte, doch er besann sich, dass der Marine mit am Tisch saß. »Nein, se Lieutenant. We 142 niger als ein Vierundsechzigstel des Nestes HeYen lebt tatsächlich auf der Heimatwelt. Das gilt auch für die zehn anderen Nester und erst recht für die Jungen, die Nestbrüder der anderen Nester, die nach dem Zusammenschluss entstanden.« Er hielt inne, um zu sehen, ob seine Erläuterungen verstanden worden waren. »Ich selbst habe die Ehre, ein Nachfahre der m'Har-Linie auf Ri'ier'e zu sein, ein ehrbarer Clan, vor vielen Fünfzwölfern Ihrer Zeit gegründet, als unsere Welt zum ersten Mal besiedelt wurde. Vor fast dreitausend Jahren«, sagte er, nachdem er sein vertrautes Achter-System auf das ihm fremde Zehner-System umgerechnet hatte. Einige am Tisch holten hörbar Luft, die drei vom Volk versteiften sich. Mres' Hand wanderte zu seinem chya, doch Gyu'ur bedeutete ihm, Ruhe zu bewahren. »Ich bitte achttausendmal um Verzeihung«, sagte er. »Aber habe ich irgendetwas Unangebrachtes gesagt?« »Sagten Sie ... dreitausend?«, hörte er den Mann fragen, der Danner hieß. Der Korn-Offizier. Gyu'ur ging seine Berechnung noch einmal rasch durch, obwohl ihm nicht klar war, worauf die Frage abzielte. »Fünf Fünfzwölfer, sieben Vierundsechziger, drei Achten und sechs Zyklen, seit Gane'e HeYen das Klippennest auf dem m'Har-Plateau auf Ri'ier'e baute. Das sind dreitausendundachtdreißig Zyklen für das Volk oder ungefähr Zweitausendsiebenhundertund ... fünfundneunzig Ihrer Standardjahre.« Keiner der Menschen sprach ein Wort. »Habe ich Sie beleidigt?«, fragte der Zor-Captain schließlich. »Vor zweitausendachthundert Jahren«, erwiderte Danner wie benommen, »verehrte die am höchsten entwickelte Zivilisation auf unserer Heimatwelt immer noch die Sonne und den Mond, glaubte, die Erde sei eine Scheibe, und trug Kämpfe mit Bronzewaffen aus. Zur gleichen Zeit gründete Ihr Vorfahr eine Siedlung auf einem anderen Planeten.« 142 »Das ist korrekt«, antwortete der Zor. »Unser Vorstoß ins Weltall fand noch fast tausend Jahre früher statt.« »Außergewöhnlich«, flüsterte Danner. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.« »Vielleicht wollten Sie uns verblüffen«, meinte Sergei lächelnd. »Wenn das der Fall ist, dann ist es Ihnen gelungen.« »Ich wollte nur Tatsachen erklären. Ri'ier'e wurde so wie die anderen zehn Systeme der Innersten Sterne ursprünglich von Schiffen erreicht, die mit Unterlichtgeschwindigkeit reisten. Es dauerte fast zwei Fünfzwölfer unserer Zyklen, bevor wir die Fähigkeit zum Springen entwickelten.« »Zu der Zeit«, gab Danner zurück, »wurde Rom gerade von Alarich geplündert.« Die anderen Offiziere stimmten in sein Lachen ein.
Gyu'ur hob ein wenig amüsiert die Flügel, als ihm klarwurde, dass die Menschen wirklich auf das Äußerste erstaunt waren. Kasu'u zeigte durch eine Geste an, dass die Gastgeber sich ein wenig entspannten und über sich selbst zu lachen schienen. Das war ein wirklich fremder Gedanke. »Unsere Kultur ist älter und in mancher Hinsicht leidenschaftlicher als die Ihre«, sagte er, als der Salat abgeräumt und durch das Hauptgericht ersetzt wurde, zu dem irgendeine Art von Fleisch gehörte. »Und doch war Ihr kämpferisches Geschick unserem stets ebenbürtig oder sogar überlegen. Als sich unsere Spezies zum ersten Mal begegneten, waren unsere Kräfte in etwa gleichwertig, obwohl wir zehnmal länger das All bereist hatten. Wir hatten ein identisches Niveau erreicht, aber mit zwei höchst unterschiedlichen Geschwindigkeiten.« Er legte seine Klauenhände zu beiden Seiten des Tellers auf den Tisch und erklärte: »Zwei Flüsse. Einer fließt schnell von den Bergen kommend ins Meer, ein anderer bahnt sich gemächlich und geduldig seinen Weg, bis er sein Ziel erreicht hat. Und doch gehen beide im Ozean auf, der keinen Unterschied macht.« 143 Die naZora'i hörten ihm gebannt zu, wie ihm auffiel. »Unsere Spezies ist der geduldige Fluss. Wir haben eine andere Richtung eingeschlagen, wenn die Träume des Hohen Lords das von uns verlangten. Unser Tempo hat sich beschleunigt, wenn esLi es von uns forderte, aber insgesamt haben wir die sanfteren Wege gewählt. Verglichen damit sind Sie der schnell fließende Strom. Sie stürzen sich kurz entschlossen von Berghängen, Sie graben neue Flussbetten in den Grund. Sie reisen so schnell durch das Land, dass Sie von ihm kaum Notiz nehmen können. In der Zeit, in der der geduldige Fluss zehn Meter zurücklegt, ist der schnelle Fluss bereits hundert Meter weiter. Und doch wartet auf beide dasselbe Ende.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit anderen Worten: Sie haben sich erst lange nach dem Volk auf den Weg gemacht, und doch haben Sie uns bereits eingeholt, wenn nicht sogar überholt. Damit sind wir mit dem Jüngsten Tag konfrontiert, den esLi Selbst bestimmt hat.« »Anpassen oder das Nachsehen haben?«, fragte der menschliche Kommandant. »Nein, ha Commodore, so einfach ist das nicht. Als geduldiger Strom mag es unsere Bestimmung sein, in den Ozean zu münden ... und damit kein anderes Ziel mehr zu haben.« Sergei erinnerte sich an die Worte des Kommandanten der Basis. »Wenn der Hohe Lord es befiehlt... oder wenn esHu'ur es befiehlt ... dann wird das Volk der Zor aufhören zu existieren.« Er musste an Marc Hudsons Bemerkung denken, dass sich das nicht nach einem Vorsprung in der Evolution anhöre. »esHu 'ur- der Admiral - respektiert Ihr Volk viel zu sehr, um so etwas zu befehlen«, sagte Sergei. »Ich halte ihn für fähig, das Ende Ihres Volks anzuordnen, aber er verspürt kein solches Verlangen.« »Der Hohe Lord wird... muss das tun, was esLi befiehlt«, erklärte Gyu'ur. »Der Hohe Lord hat vom Admiral geträumt, und er ist bereit, sich dessen Bitte um ein Gespräch zu öffnen.« 143 »Die Bitte des Adm'irals?« »So habe ich es verstanden, ha Commodore. Es wurde im Traum übermittelt, dass Ihr Admiral um ein Treffen mit hi Sse'e gebeten hat.« »Welchem Zweck soll dieses Treffen dienen?« »Das weiß ich derzeit nicht.« »Captain.« Sergei legte die Hände gefaltet auf den Tisch und beugte sich vor, während der Zor ein wenig zurückwich. »Sie haben Ihr Leben lang gegen mein Volk gekämpft. Ich habe mein ganzes Leben als Offizier des Militärs das Ziel verfolgt, so viele Zor wie möglich zu vernichten. Wir haben eindeutig einen Punkt erreicht und auch bereits hinter uns gelassen, nach dem keine Umkehr mehr möglich ist.« »Ein aLi'e'er'e«, sagte Hyos. »Die Wahl des Fluges.« »Wir befinden uns jetzt auf einem anderen Flug, Captain«, erwiderte Sergei. »Die Welt ist jetzt eine andere. Nach sechzig Jahren Feindschaft ist es durchaus möglich, dass wir Freunde werden. Nichts kann uns daran hindern ...« »Bis auf esLi«, betonte der Zor-Captain. Die Flügelpaare aller drei Zor nahmen die Haltung der Ehrerbietung gegenüber esLi ein, während die Stühle Mühe hatten, sich der Veränderung anzupassen. »Werden Ihre Nestlords den Frieden wählen?«, fügte Gyu'ur an. »Sie und ich, wir sind Personen des Militärs. Wir können uns auf eine veränderte Situation einstellen. Wir können sogar eine andere Richtung akzeptieren. Aber wir entscheiden nicht selbst, sondern führen lediglich aus, was uns aufgetragen wurde. Was der Hohe Lord oder der Imperator - oder Lord esHu 'ur - befiehlt, führen wir aus. Alles andere wäre - ganz gleich, was wir persönlich möchten - ein Verrat an unserem Eid, den wir gegenüber unserem Herrn geleistet haben. Ich finde Sie interessant und nehme gern die Gastfreundschaft an, die mir in Ihrer Offiziersmesse geboten wird. Doch wenn der
144 Hohe Lord des Volks, hi Sse'e HeYen, auf einmal hereinkommen und mir befehlen würde, Sie zu töten, dann würde ich das tun -mit meiner Pistole, meinem chya oder notfalls auch mit bloßen Krallen, wenn ich keine andere Waffe hätte. Es gibt keine Alternativen, es gibt nur die Pflicht.« Nach einer kurzen Pause fügte er an: »Und ich bin mir sicher, Sie würden es an meiner Stelle nicht anders machen.« Eine düstere Stille legte sich über die Offiziersmesse. Nach dem Hauptgericht wurde das Dessert serviert. Dazu gab es Kaffee -Royal Kona, die Sorte, die auch der Imperator trank -, während sich die Gespräche auf Small Talk und Unverfängliches beschränkten. Die Zor beantworteten allgemein gehaltene Fragen, während sie gezielten Fragen auswichen. Die Menschen im Raum wunderten sich derweil über das, was sie zu hören bekommen hatten. Nach einem letzten Toast brachen die drei Zor schließlich wieder auf. Die Offiziere und Sergeant Boyd begleiteten die Gruppe aufs Hangardeck. »Wir sind Ihnen für die Einladung sehr dankbar«, sagte Gyu'ur, als sie vor dem Shuttle standen. Die Schwerkraft auf dem Hangardeck war auf die für Zor üblichen 0,6 g reduziert worden, was die Schultern und Flügel der Aliens weniger geduckt erscheinen ließ. Zugleich waren ihre Bewegungen fließender und eleganter. »Bei meinem Volk gibt es eine Redewendung: >Mögen wir uns in esLis Goldenem Kreis wiedersehen^« »Ich hoffe, es wird schon früher geschehen, Captain Gyu'ur«, erwiderte Sergei. »Das Leben ist im Fluss, und es kommt den Sterblichen nicht zu, dessen Ende zu kennen. Dennoch hoffe auch ich, dass es einen weiteren Flug geben wird, dass der geduldige Fluss noch ein Stück seines Weges vor sich hat.« »esLiHeYan, sagte Sergei und gab seinen Offizieren ein Zeichen, die in Habtachtstellung gingen und salutierten. Die Zor stellten ihre Flügel alle in die gleiche Position. »Mögen 368 Sie zum Licht fliegen«, erwiderte Hyos und neigte den Kopf. Dann machten alle drei einen Schritt nach hinten und flogen zur Luftschleuse des Shuttles empor, die sich öffnete, um sie passieren zu lassen. 369
17. Kapitel Mit beträchtlichem Vorsprung vor der Flotte der naZora'i machte ein einzelnes, schnelles Schiff den Sprung in Richtung Heimatsterne. Während der Schlacht um A'anenu war es am Sprungpunkt mit seiner Fracht entkommen: den Überresten einer einzelnen älteren Person, vornehm gekleidet, ein antikes, reich verziertes Schwert auf der Brust. Auf das Schiff wurde zwar gefeuert, doch es war ausreichend geschützt, um keinen Schaden davonzutragen. Abgesehen davon hatten die menschlichen Kommandanten in dem Moment andere Sorgen. Hätten sie allerdings um die Bedeutung dieses Schiffs gewusst, wären sie wohl daran interessiert gewesen, es in ihre Gewalt zu bekommen oder es zu vernichten. Vielleicht hätten sie auf ihre undurchschaubare Art sogar noch irgendetwas viel Ungewöhnlicheres unternommen. Jegliche Spekulation war jedoch müßig, denn das Schiff konnte mit seiner wichtigen Fracht in den Sprung entkommen, als würde anGa'e'ren, die Schleichende Finsternis, nach ihm greifen und es umgeben wollen, wie es mit Qu'u auf der Ebene der Schmach geschehen war. Es wäre wohl eine passende Ironie des Schicksals, sollte ausgerechnet dieses eine Schiff auf Translicht-Geschwindigkeit gehen und niemals wieder auftauchen. Doch sechs Stunden später und damit exakt im Takt mit dem Chronometer des Navigators, tauchte das Schiff im Normalraum wieder auf und befand sich an jenem Sprungpunkt des Heimatsystems, der der Verwerfung am nächsten war. Sofort wurde es auf 144 dem Weg nach Hause von einer Eskorte ins Schwerkraftfeld begleitet. Die Tür zum Bereitschaftsraum glitt zur Seite, und als Sergei aufblickte, sah er Chan Wells eintreten, der sich ein Päd unter den Arm geklemmt hatte. »Sie sind früh dran«, sagte Sergei, schob sein eigenes Pad zur Seite und lehnte sich zurück. »Was gibt es?« »Ich habe mich mit der Anomalie beschäftigt, die wir registrierten, als wir uns auf dem Sprung in die Verwerfung befanden«, antwortete Chan und nahm rechts vom Commodore Platz. »Ich habe alle Logbücher
gründlich analysiert, die zurückgehen bis zu unserem ersten Sprung aus dem Sol-System heraus, um herauszufinden, ob es irgendein Muster oder einen Zusammenhang gibt.« »Das ist eine beträchtliche Datenmenge.« »Es wird Sie sicher freuen, wenn ich Ihnen sage, dass ich mir vom Bordcomputer bei der Analyse habe helfen lassen«, erwiderte Chan lächelnd. Auch Sergei musste lächeln, weil diese Äußerung einer der seltenen Fälle war, in denen sein XO seinen Sinn für Humor durchscheinen ließ. »Ich darf annehmen, Sie sind fündig geworden.« »Ja.« Er berührte das Päd, und ein 3-V-Diagramm nahm über dem Tisch des Bereitschaftsraums Gestalt an. »Das ist das Energiemuster der Anomalie, sowohl nach der Restucci- als auch nach der Muir-Verteilung. Es weist nicht nur eine ungewöhnliche Stärke auf, seine Struktur unterscheidet sich auch von allem, was wir jemals gesehen haben. Dieser Tatsache waren wir uns aber schon in den ersten Minuten nach dem tatsächlichen Auftreten bewusst, sodass die umfassende Analyse nur wenige neue Erkenntnisse bringen konnte. Allerdings habe ich dieses Muster als Vorlage genommen, um die Logbücher der Lancaster zu durchsuchen. Dabei stieß ich auf mindestens ein Dutzend ähnlicher Wellen. Sie waren allesamt deutlich schwächer, aber messbar. Ich kann Ihnen die exakten Zeitangaben zu jedem Vorkommnis geben, aber ich kann 145 keinen Zusammenhang zwischen diesen Energieanstiegen und dem jeweiligen Geschehen erkennen.« »Warum haben wir das nicht schon zuvor bemerkt?« »Die meisten dieser Wellen waren so schwach, dass sie keinen Verdacht erregten, nicht mal beim sonst so peinlich genau arbeitenden Ingenieursstab. Drei weitere ereigneten sich im Zuge von Anomalien bei den Schiffssystemen - Energieanstiege oder kleinere Ausfälle -, denen sie vermutlich zugeschrieben wurden. Zweimal tauchten sie auf, als die Lancaster in den Gefechtsmodus gegangen war, und wurden schlicht übersehen.« »Gab es diese Auffälligkeiten bereits, bevor Admiral Marais und Captain Stone an Bord kamen?« »Nein, Sir. Die erste Veränderung trat fast genau in dem Moment auf, als Admiral Marais bei L'alChan seine Ansprache an das Geschwader beendete.« »Und seit Captain Stones Verschwinden?« »Nur einmal, Sir.« Auf Chans Befehl hin wurde das Diagramm durch ein anderes ersetzt, das ein gleichermaßen ungewöhnliches Energiemuster zeigte. »Diese Anomalie wurde aufgezeichnet, kurz nachdem die Raumstation in der Verwerfung kapitulierte. Sie unterscheidet sich ganz erheblich von den anderen, und wenn Sie genau hinsehen, fällt auf, dass sie fast genau ein Spiegelbild jener Anomalie darstellt, die uns als erste aufgefallen war.« Er legte das andere Diagramm darüber und zeigte, wie gut die beiden sich zusammenfügten. »Ich hätte es fast nicht bemerkt«, fügte er an. Sergei verarbeitete alles Gehörte, erst dann fragte er: »Schlussfolgerung?« »Bei so wenigen Daten ist das schwer zu sagen. Captain Stones eigentlich völlig unmögliches Verschwinden und das Auftreten dieser Anomalien ab dem Moment, als er an Bord kam, lässt einen Zusammenhang vermuten. Ich weiß aber nicht, was es zu bedeuten hat, abgesehen davon, dass Captain Stone wahrscheinlich nicht das war, was er zu sein schien. Für die letzte Anomalie habe ich allerdings überhaupt keine Erklärung, weil sie nicht mehr mit 145 Captain Stone in Verbindung gebracht werden kann. Ich habe meine Untersuchung vor über zwei Tagen abgeschlossen und in meiner Freizeit immer wieder überlegt, was diese Fakten bedeuten könnten. Auf gut Glück habe ich die Analyse der Logbücher ausgeweitet auf alle Energietransmissionen zu den jeweiligen Zeitpunkten, Waffenfeuer und Kommunikation eingeschlossen, da ich es für möglich hielt, dass diese Anomalien von einem Punkt außerhalb des Schiffs auf die Lancaster einwirkten oder aber vom Schiff aus auf diesen Punkt gerichtet waren.« »Hört sich so an, als seien Sie fündig geworden.« Chan berührte sein Pad, die Diagramme verschwanden. »Captain, ich bin nicht eingeweiht in die Geheimhaltungsstufen dieser Mission. Es ist also möglich, dass ich lediglich auf etwas gestoßen bin, was auf einen Befehl von Ihnen oder Admiral Marais zurückgeht. In diesem Fall werde ich die Untersuchung einstellen und alle Aufzeichnungen...« »Raus mit der Sprache. Was haben Sie herausgefunden?«, fiel Sergei Chan ins Wort, bevor der noch mehr sagen konnte. Auf dem Gesicht seines XO zeichnete sich eine gewisse Erleichterung ab. »Ich kam auf den Gedanken, dass es sich um irgendeine Kommunikationsform zwischen Captain Stone und einem Unbekannten handelte, der mit uns unbekannter Technologie arbeitet, da einige der Anomalien auftraten, während wir uns im Sprung
befanden. Ich vermutete einen Zusammenhang zwischen den Mustern der Energietransmissionen und den Anomalien, der uns etwas über den Ausgangs- oder Empfangspunkt der Übertragungen sagen könnte.« »Und? Gab es diesen Zusammenhang?« »Leider nicht. Aber dabei stieß ich auf eine ganz andere Gruppe von Transmissionen, die sich alle ereigneten, als wir uns im Normalraum befanden, und die alle auf einer extrem hohen Frequenz ausgestrahlt wurden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Nachrichten geheim bleiben sollten. Man kann sie eigentlich nur entdecken, wenn man die Schiffslogbücher unverhältnismäßig gründ 146 lieh durchsucht oder wenn man durch einen dummen Zufall darauf stößt.« »Sie sprachen von >Nachrichten<.« »Ja, Sir. Sie waren alle verschlüsselt, doch nachdem ich sie erst einmal entdeckt hatte, war es nicht weiter schwierig, an den Inhalt zu gelangen. Es geht um sehr brisante Informationen: das Ziel der Flotte, die Anweisungen für die Schiffe, Kopien der Einsatzbefehle des Admirals. Sie alle waren an eine Person oder einen Ort namens >Orange< gerichtet. Ich zog die Möglichkeit in Erwägung, Sie könnten von diesen Nachrichten wissen. Allerdings kam ich zu der Ansicht, dass es wichtiger wäre, Ihnen von ihrer Existenz zu berichten, anstatt mit Blick auf die möglichen Konsequenzen meiner Entdeckung zu schweigen. Diese Frequenz ist üblicherweise der Kommunikation des Imperialen Geheimdienstes vorbehalten.« Sergei ließ sich durch den Kopf gehen, was er soeben von seinem XO erfahren hatte. Es kam einem Schock gleich, als ihm bewusst wurde, dass sich womöglich ein Agent auf seinem Schiff aufgehalten und unbemerkt Informationen aus dem Kriegsgebiet zurück nach Hause geschickt hatte. »Werden diese Nachrichten noch immer abgeschickt?« »Die letzte Nachricht ging kurz nach der Einnahme von A'ane-nu raus, seitdem habe ich nichts mehr finden können... auch nicht auf den anderen Kanälen.« »Würden Sie sagen, dass unser werter Captain Stone der Absender war? Immerhin verschwand er, kurz nachdem wir Aanenu hinter uns gelassen hatten.« »Möglich wäre es, aber beweisen lässt es sich nicht. Es ist auch möglich, dass sich derjenige immer noch an Bord befindet, vielleicht auch auf einem anderen Schiff der Flotte, und nach wie vor Mitteilungen an >Orange< rausschickt.« »Verdammt!« Wütend fuhr sich Sergei durchs Haar. »Als hätten wir nicht schon genug andere Sorgen. Jetzt müssen wir uns auch noch mit der Möglichkeit befassen, dass es sich bei irgendeinem hohen Offizier um einen elenden Spion handelt.« Soldaten im ak146 tiven Dienst und Geheimdienstleute hatten sich noch nie ausstehen können, dafür waren sie sich gegenseitig viel zu oft in die Quere gekommen. »Also gut, Chan. Was würden Sie empfehlen?« »Ich habe bereits die Vorkehrung getroffen, den Bereitschaftsraum vor unerwünschten Mithörern zu sichern, ehe ich herkam. Es ist daher zwar nicht absolut sicher, aber immerhin wahrscheinlich, dass unser Spion noch nichts von unserer Entdeckung weiß, sollte er sich überhaupt noch an Bord befinden. Ich würde daher zum momentanen Zeitpunkt gar nichts unternehmen, sondern erst mal nur die Ohren offen halten, ob es weiter Transmissionen gibt.« »Gut, machen Sie das, Chan. Und zu niemandem ein Wort, klar?« »Klar, Commodore.« Die orangerote Sonne von E'rene'e brannte heiß vom Vormittagshimmel herab, doch Makra'a HeU'ur schien das nichts auszumachen. Seine gleichmäßigen Flügelschläge im Elfertakt standen im Einklang mit den übrigen Bildern und Geräuschen des ausladenden Dschungels, über den sie flogen. Ptal mühte sich, mit seinem älteren Cousin mitzuhalten. Der Hohe Kämmerer gestand sich ein, dass ihm jetzt ein großes Glas egeneh und eine bequeme Sitzstange sowie eine kühle Brise am liebsten gewesen wäre, um den Schweiß zu vertreiben, der ihm aus jeder Pore zu dringen schien. Nach jedem Fünfzwölftel einer Sonne sagte er sich (ein wenig widerwillig), er müsse einfach mehr Sport treiben, ob nun Krieg herrschte oder nicht. Aber er gab keinen Laut von sich und verriet sich auch nicht durch eine entsprechende Flügelstellung, durch die Makra'a erfahren hätte, wie erschöpft er war. Wenn der alte artha das kann, dann kann ich es erst recht, dachte er. Sie hatten hiL'le HeU'ur nach einer raschen Mahlzeit und einem 146 kurzen Blick auf die Aufgaben des Nestes für den Tag verlassen. Makra'a war nachdenklich und mürrisch gewesen, seit von esYen die Nachricht von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des esHu'ur am Rand der
Innersten Sterne der Zor gekommen war. Beim Rat der Elf am Abend zuvor war der Lord des Nests so wütend gewesen, dass Ptal sich gefragt hatte, ob der Patriarch sich in dieser Sache gegen des Willen des Hohen Lords stellen würde. Hätte er das getan, hätte er sich damit selbst idju gemacht - zusammen mit allen des Nestes HeU'ur, die ihm gefolgt wären. Wenigstens war dieser Wahnsinn ausgestanden. An diesem Morgen - die Sonne war kaum über den Horizont gestiegen - hatte Makra'a Ptal erklärt, er wolle einen Ausflug unternehmen. Er hatte Ptal eingeladen - nun, es war eigentlich mehr ein Befehl als eine Einladung, dachte Ptal -, ihn zu begleiten. Makra'as Flügelhaltung ließ sofort erkennen, dass weder offizieller noch persönlicher Protest den Nestlord von seiner Absicht würde abbringen können. Also waren sie von der Klippe von L'le gestartet und flogen über den vielfarbigen und blühenden Dschungel, während vor ihnen die Sommersonne von E'rene'e aufging. Ptals Geduld und Durchhaltevermögen waren fast an ihren Grenzen angelangt, als Makra'a seine Flughöhe senkte und auf eine Lichtung im Dschungel zusteuerte, die vielleicht vierundsechzig Flügel breit war. Ptal folgte dem Nestlord dankbar zu diesem Ziel. Die Lichtung war fast perfekt kreisrund, als hätten Bäume und Unterholz einen Pakt geschlossen, nur außerhalb dieses gedachten Kreises zu wachsen. In der Mitte befand sich ein grauer Stein, dessen Oberfläche von Wind und Wetter glatt geschliffen worden war und der sich im Zentrum zu einer achteckigen Plattform erhob. Er war völlig schmucklos, aber Ptals Begabung als Fühlender ließ ihn auch die schwächste Prägung von dem Stein wahrnehmen. Sein chya gab ein deutliches, aber unverständliches Summen von sich. Die Luftfeuchtigkeit war sehr hoch, sodass die Luft ringsum flimmerte. In esYen - und in fast allen anderen Städten auf Zor'a 147 - wurde das Klima künstlich kontrolliert, weshalb Ptal die Feuchtigkeit als umso unangenehmer empfand. Makra'a ließ sich nicht anmerken, ob ihm die Schwüle behagte oder nicht. Wortlos flog er dicht über die Plattform und landete. Seine Flügel brachte er in die Haltung der Ehrerbietung gegenüber den Vorfahren, dann stand er minutenlang völlig reglos da. Schließlich wandte er sich zu Ptal um und sprach zum ersten Mal an diesem Vormittag mit ihm, seit sie L'le verlassen hatten. »Diesen Ort gibt es seit mehr als dreitausend Zyklen, se Ptal. Wissen Sie, was er darstellt?« »Ich würde sagen, das ist der Stein des Gedenkens, ha Makra'a. Wenn es so ist, dann fühle ich mich geehrt, mich in seiner Gegenwart befinden zu können.« »Normalerweise ist dieser Ort« - Makra'a deutete auf die Lichtung, als könne er sie mit einem einzigen Ausholen seiner Flügel einnehmen - »den Nestlords und dem Hohen Lord vorbehalten. Hier wird das le'chya einem neuen Nestlord übergeben.« Er machte ein paar Schritte fort von Ptal, ihm den Rücken zugewandt. »Vor mehr als dreitausend Zyklen landete Kanu'u HeU'ur genau an dieser Stelle. Obwohl das Gelände und das Klima so feindselig waren, nahm er sich vor, hier sein Nest anzusiedeln und hier zu bleiben, damit der Widerstand gegen diese Bedingungen unsere Stärke sein würde und damit wir keinen Rückzieher mehr machten, wenn wir erst einmal entschieden hatten, welchen Pfad wir fliegen wollten.« Makra'a drehte sich um und hielt irgendetwas in der Hand. »Die Geschichte des Nestes HeU'ur sagt, dass er eine Bodenprobe von Zor'a mitgebracht hatte.« Er öffnete die Klauenhand und gab den Blick frei auf eine kleine Plastikphiole. »Hier an dieser Stelle öffnete er die Bodenprobe und verteilte sie mit seinen Krallen im Boden, während er das Motto unseres Nestes sprach: se'e Mar de'sen. >Hier bleibe ich.«« Mit einer Krallenspitze schlitzte er die Phiole auf, die Erde rieselte heraus und sammelte sich vor seinen Klauenfüßen. 147 Ptal kannte die Geschichte des Nestes bestens, doch er wusste auch, dass der Nestlord etwas Bestimmtes ausdrücken wollte. Er glaubte sogar zu wissen, was es war, doch er äußerte sich nicht, sondern brachte seine Flügel in die Pose der Höflichen Annäherung und wartete ab. »Wir sind seit dreitausend Zyklen hier, Cousin. Mehr als hundert Generationen - von Kanu'u bis hin zu mir. Diese Welt steckt mir im Blut. Wir HeU'ur haben oft gesagt, was unserer Welt an freundlichem Klima mangelt, das macht sie mit einem schwierigen Terrain wieder wett. Es gibt wenig, um E'rene'e unseren anderen Nestern schmackhaft zu machen: Brutale Stürme reißen einem die Flügel von den Schultern, es gibt feindselige wandernde Wälder, extreme Hitze und extreme Kälte in einem Maß, das unsere schwächeren Cousins unerträglich finden. Und doch haben einige der größten Krieger unserer Legenden hier ihr Handwerk gelernt. Unser Nest wird für seine Zähigkeit und Standfestigkeit bewundert. Unseren Ruf verdanken wir zu großen Teilen unserer Welt. Und nun...« Makra'as Flügel schienen aus der stolzen Haltung herabzusinken, als wollten sie zeigen, dass sie doch nur die Flügel eines alten Patriarchen waren.
»Und nun erwarten Sie, dass ich das alles für eine Bande flügelloser artha aufgebe, weil sie uns im Gefecht geschlagen und unsere arme, feige hsth-Fliege erschreckt haben, die sich als Hoher Lord ausgibt und deren vorhersehende Träume uns notfalls so lange im Kreis fliegen lassen würden, bis wir erschöpft zusammenbrechen.« Während er sprach, hob er wieder die Flügel, um seine Wut zu unterstreichen. Ptals chya schien zu knurren, als er zuhörte. »Ich bin noch immer Diener des Hohen Lords«, erwiderte er einen Moment später. »Und bei den Acht Winden, Sie sind auch immer noch ein Mitglied des Nestes HeU'ur.« »Verlangen Sie nicht von mir, meine Loyalität zu überdenken, ha Makra'a.« »Pah! Ich werde das nicht von Ihnen verlangen, se Ptal. Ich bin 148 mir durchaus bewusst, wo Ihre Loyalität liegt, und mir ist nicht nach einer Konfrontation, um Sie zum Umdenken zu bewegen. esLi Selbst weiß, dass es nichts bringen würde. Ich sprach mit dem Hohen Lord persönlich und konnte meine Verärgerung kaum im Zaum halten.« »Was in esLis Namen wollen Sie von mir, ha Makra'a? Sie sagen, Sie fordern nicht meine Loyalität, aber gleichzeitig beleidigen Sie den Hohen Lord. Ein Sonnenachtel lang fliegen Sie mit mir zu einem historischen Wahrzeichen, um die HeU'ur zu preisen und meine Loyalität gegenüber dem Hohen Nest in Frage zu stellen. Das sind Dinge, die mir längst klar sind: Sie sorgen sich um Ihr Land und Ihr Volk, und Sie wollen nicht den Wünschen des Hohen Lords folgen, die naZora'i zu empfangen...« »Die esGa'uYal«, unterbrach Makra'a ihn. »Die naZora'ü, wiederholte Ptal. »Was genau wollen Sie von mir?« »Ehrlich gesagt«, antwortete Makra'a und ließ wieder die Flügel sinken. »Ehrlich gesagt, se Ptal, ich weiß es nicht. Dieser Krieg gegen die Fremden dauert nun schon mein ganzes Leben lang. Der Vater des jetzigen Hohen Lords hatte diesen Flug gewählt, weil Lord esLi es ihm so auftrug. Lord esLi sagte ihm, das Volk könne nicht verlieren, wenn es nur standhaft genug ist. Das Volk ist tatsächlich standhaft - nicht nur die HeU'ur, sondern das ganze Volk. Wie konnten wir da verlieren? Wie ist das möglich? Ist das Ganze nicht vielleicht nur ein weiterer Trick des Täuschers, der uns in die Irre führen will? Wir haben schon zuvor Frieden mit den Menschen geschlossen, also können wir es wieder machen, damit wir unsere Kräfte sammeln können.« »Diesmal wird der Feind keinen Friedensvorschlag akzeptieren, ha Makra'a. Das wissen Sie, und das weiß auch der Rat der Elf. Sogar der Sprecher erkennt, dass Ka'ak'e A'anenu unsere letzte Chance gewesen ist, die Menschen doch noch zurückzuschlagen. Irgendwie wurde das vereitelt, und die Menschen hatten dadurch die Möglichkeit, einen Fühlenden gefangen zu nehmen.« 148 Makra'a versteifte sich. »Zu welchem Nest gehört diese idju-Kreatur?« »Zum Hohen Nest, ha Makra'a. Der Hohe Lord ist nicht in der Lage - oder nicht gewillt -, den Status des Gefangenen zu beurteilen. Der Verräter ist mit einer Delegation nach esYen eingeladen, wenn die Flotte der Menschen eintrifft.« »Das ist verrückt! Wenn dieser Verräter auch nur einen Fuß auf meine Welt setzt, reiße ich ihm notfalls mit bloßen Händen den Kopf ab!« »Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Gefangene nach E'rene'e kommt, ha Makra'a. Da er formal dem Schutz von hi Sse'e unterstellt sein wird, würde es Sie idju machen, wenn Sie ihn töten.« »Noch verrückter! Ein Verräter wird beschützt, und ein rechtmäßiger Akt ist verboten. Die Innersten Sterne werden den es-Ga'uYal... ich bitte achttausendmal um Verzeihung, den naZora'i ... überantwortet, und wir erlauben, dass ein gerechter Krieg durch einen ungerechten Frieden beendet wird. Ich könnte ebenso gut ins Sanktuarium gehen und mich von der Welt zurückziehen, anstatt weiter Lord des Nests zu sein.« »Ist es wirklich so schwer zu akzeptieren, dass wir ein aLi'e'er'e erreicht und passiert haben?« »Ich kann die Zeichen nicht lesen, se Ptal, deshalb ist es so schwer. Es gibt viele im Volk, die dem Wort des Hohen Lords in dieser Sache glauben und folgen werden. Als Lord des Nests kann ich das aber nicht so fraglos hinnehmen. Und ich gebe zu, ich habe Schwierigkeiten damit. Ob er nun von esLis machtvollen Krallen geführt wird oder nicht, hi Sse'e ist immer noch sterblich und damit fehlbar. Vielleicht hat esGa'u ihn längst zu einem der Hssa gemacht, die für alle Zeiten im Tal der Verlorenen Seelen bleiben müssen, nicht einmal in der Lage, den Blick zur Feste seines Peinigers zu heben.« Er sah Ptal an. »Wenn es einen Grund gibt, Sie hierher zu bringen, geehrter Cousin, dann ist es der, Ihnen - am Stein des Gedenkens, dem Herzen unserer geliebten Welt - zu sagen, dass ich nicht 148
gegen den Wunsch meines Hohen Lords handeln werde. Nicht einmal dann, wenn er uns der Ebene der Schmach ausliefert. Dennoch ist es für mich schwierig und vielleicht sogar unmöglich, dieses aLi'e'er'e zu akzeptieren. Ich bin vielleicht nicht der Einzige im Volk, für den das schwierig ist. Bevor wir auf einem anderen Flug sind, wird der Hohe Lord viele andere überzeugen müssen, die erheblich weniger gefügig sein werden als der Nestlord von HeU'ur. Ich habe es Ihnen gesagt, nun ist es Ihre Pflicht, es hi Sse'e zu sagen.« Ohne ein weiteres Wort und nach einer nur knappen ehrerbietigen Geste dem Stein gegenüber, stieg Makra'a in die Lüfte auf. Ptal folgte ihm einen Moment später und fühlte durch die Direktheit des Nestlords der HeU'ur eine noch größere Last auf seinen Schultern. Marc Hudsons Abbild saß Sergei an dessen Tisch im Bereitschaftsraum gegenüber. Der andere Captain war entspannt, hatte es sich in seinem Sessel bequem gemacht und die Hände gefaltet in den Schoß gelegt. Ein langsam sich drehendes 3-V-Bild des Planeten schwebte gut einen halben Meter über dem Tisch. »... und da ich so viel Freizeit hatte, habe ich von meiner wissenschaftlichen Sektion eine topographische Bestandsaufnahme des Sonnensystems durchführen lassen. Das ist ja die wahre Hölle! Zunächst die Sonne: Sie ist vom Typ K, benimmt sich aber nicht wie ein Typ K der Hauptreihe. Sie hat eine photosphärische Hülle, die unregelmäßig fragmentiert zu sein scheint und für alle Arten von Sonneneruptionen sorgt. Das wiederum zieht elektromagnetische Unregelmäßigkeiten in der Planetenatmosphäre nach sich, was die Nachrichtenübermittlung schwierig und zeitweise vermutlich sogar unmöglich macht. Der Planet selbst ist auch kein Vergnügen. Seine Größe liegt bei einem Dreiviertel der Erde, aber es fehlen Schwermetalle, sodass die Schwerkraft niedrig genug ist, damit die Zor fliegen können. Die Rotationszeit liegt bei knapp unter sechzehn Stunden. Insgesamt ist das etwas schneller als 149 Standard, was zu Stürmen hoch oben in der Atmosphäre und Coriolis-Effekten führt, vor allem in großen Höhen und nahe dem Äquator. Innerhalb von nicht ganz fünf Standardtagen zählten wir neun Orkane und bestimmt ein Dutzend Stürme, die fast Orkanstärke hatten. Die mittlere Temperatur in der gemäßigten Zone liegt bei über dreißig Grad Celsius, am Äquator ist sie nicht mehr zu ertragen. Unsere Untersuchungen ergaben auch, dass das Flachland extrem fruchtbar ist, fast schon aggressiv...« »>Aggressiv< fruchtbar?« »Ja, wir haben weite Gebiete Flachland gescannt und dabei mehrere Stellen gefunden, die hohe Konzentrationen an Metallen und Kunststoffen aufweisen - eindeutige Hinweise auf Zivilisation. Aber der Überflug zeigte nur Wald und Dschungel. Mein XO folgert daraus, dass es sich um Siedlungen handeln muss, die sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnten, vom Dschungel überwuchert zu werden. Angesichts der Tatsache, dass die Klimabedingungen Kommunikation und Transport erschweren, verwundert es nicht, dass die meisten Siedlungen in gebirgigen Regionen anzutreffen sind.« »Was ist mit Industrie und Landwirtschaft?« »Ich habe da ein paar Informationen von unseren orbitalen Scans, aber solange wir dort nicht landen, wird mir der Zugriff auf die Datenbanken der Welt verweigert.« »Haben Sie ihnen gesagt...« »Ja, ich habe gesagt, dass mich der böse schwarze Mann schickt.« Marc grinste schief. »Ich habe den Namen des Admirals und seinen offiziellen Zor-Titel genannt, aber der Kämmerer des Nests HeUür, der ranghöchste Bürokrat, der mit mir reden wollte, ließ mich unmissverständlich wissen, wohin ich mir mein Anliegen schieben solle.« Sergei musste unwillkürlich ebenfalls grinsen. »Die Reaktion der Einheimischen überrascht mich nicht wirklich, denn nach dem, was unser Gast Sergeant Boyd erzählt hat, gilt dieses Nest als unversöhnlich und stur...« 149 »Störrisch.« »Rrith wird mit diesem Wort wohl nicht vertraut sein, aber ich schätze, es passt. Solange sie keine Fighter oder Schiffe gegen Ihr Schiff losschicken, können diese Daten warten.« »Alyne Bell lässt die ganze Zeit über zwei Patrouillen kreisen, und das wissen sie. Es scheint keine große Gefahr zu drohen, dass sie uns angreifen. Aber bei diesen Mistkerlen weiß man das nie so sicher. Wir sind nach wie vor in Gefechtsbereitschaft und haben der Inflexible und der Sevastopol empfohlen, genauso zu verfahren.« »Betrachten Sie es als Befehl«, sagte Sergei. »Jetzt aber...« Die Tür zum Bereitschaftsraum glitt auf, Admiral Marais trat ein. Sergei stand auf, und auch Marcs Holo erhob sich. Marais bedeutete den beiden, sich wieder zu setzen. »Kommando zurück. Gibt es etwas zu berichten, Commodore?«
»Captain Hudson bringt mich gerade auf den neuesten Stand, Sir«, sagte Sergei. Marais setzte sich zu ihm und betrachtete den Globus, der sich langsam über dem Tisch drehte. »Es scheint alles ruhig zu sein, im All ebenso wie auf dem Planeten, Admiral. Seit unserer Ankunft ist niemand ins System gekommen.« »Hervorragend. Wenn es weiter nichts gibt, Captain Hudson, können Sie wegtreten.« »Sir«, entgegnete Hudson, nickte kurz und verschwand. Der Globus löste sich auf, und mit einem Mal wirkte der Raum sonderbar leer. Lange Zeit sagte Marais kein Wort. Er saß da, die Hände gefaltet, und schien in Gedanken versunken. Schließlich stand er auf und ging um den Tisch herum, blieb an einer Wand stehen und betrachtete die große Projektionskarte der Neuen Territorien und der Verwerfung. »Wir haben viel erreicht, nicht wahr, Commodore?« »Ja, Sir.« »Die Vorstellung, dass dieser Krieg vorüber ist, bereitet mir Schwierigkeiten. Ich vermute, es geht Ihnen nicht anders. In man 150 eher Hinsicht dürfte es für mich aber noch schwieriger sein, da ich mir - mithilfe von außen - eingeredet hatte, der Krieg könne nur auf eine Weise beendet werden, aber nicht so. In wenigen Stunden werden wir die Kapitulation der Flotte des Hohen Nests aushandeln, und das war es dann.« »Ich glaube, so einfach ist das nicht, Sir.« »Nein, das stimmt.« Marais drehte sich zu Sergei um, verschränkte die Arme vor der Brust und machte eine so ernste Miene, als posiere er für das Cover-Holo seines Buchs. »Nein, wir haben uns über die Beschränkungen hinweggesetzt, die die Admiralität und die Regierung Seiner Majestät uns auferlegen wollten. Das haben sogar die Zor bemerkt. Nach A'anenu machten sie sich gar nicht erst die Mühe, weitere Friedensverhandlungen anzustreben, da sie begriffen haben, wer hier wirklich das Sagen hat. Was wir hier getan haben, bringt die Regierung in eine unangenehme Position.« »Es bringt aber auch uns in eine unangenehme Position, Sir.« Sergei dachte einen Moment lang nach, dann fügte er an: »Tausende von Soldaten und Crewmitgliedern müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, ihren Eid gegenüber dem Imperator verletzt zu haben. Sie sehen nur einen Weg, wie sie wieder heimkehren können.« »Ich habe es nicht auf den Thron des Imperators abgesehen, Torrijos. Nicht jetzt und auch nicht später.« »Und was wollen Sie machen, Sir? Selbst wenn die imperiale Regierung bereit wäre, Sie in einen Agrokomplex auf Tuuen in den Ruhestand zu schicken, damit Sie dort für den Rest Ihres Lebens Memos diktieren und kühle Drinks zur Hand haben, werden viele Leute im Regen stehen gelassen, wenn Sie sich so entscheiden. Die Gesellschaft hat kein Herz für Verräter, auch wenn sie etwas Ehrbares geleistet haben.« »Ich bin nicht für die Kurzsichtigkeit des Imperators verantwortlich.« »Nein, Sir«, sagte Sergei und atmete tief durch. »Aber Sie sind für die Leute verantwortlich, die Ihrem Kommando unterstehen. 150 Anders als Sie, Admiral, werden sie nicht einfach untertauchen können.« Marais setzte sich wieder zu ihm an den Tisch und sah Sergei lange an. »Das ist im Moment alles irrelevant. Was wir hier inmitten der Heimatsterne der Zor in den nächsten Tagen machen, ein ganzes Universum weit von Oahu entfernt, wird gewaltige Auswirkungen auf die Zukunft des Imperiums haben. Wir müssen uns auf die Gegenwart konzentrieren, bevor wir uns der Zukunft widmen.« »Bei allem Respekt, Sir, aber die Männer und Frauen unter Ihrem Kommando müssen wissen, dass Sie sie nicht im Stich lassen werden.« Er versuchte, dem stechenden Blick des Admirals etwas Angemessenes entgegenzusetzen. »Ich finde, sie sollten vor Abschluss dieses Unternehmens wissen, was Sie vorhaben.« Marais schwieg eine Weile, als denke er angestrengt über eine Antwort nach. »Was würden Sie denn empfehlen?« »Ich muss wissen, was Sie vorhaben. Wenn die Zor sich ergeben, werden Sie dann in Ihrer Rolle als Dunkle Schwinge einen Vertrag mit ihnen schließen?« »Sicher. Alles spricht dafür, dass sie sich dann auch daran halten werden.« »Ich glaube, sie werden alle Bedingungen akzeptieren, die Sie ihnen momentan stellen. Die Chancen stehen also gut, dass die Kämpfe vorüber sind. Sollten sie sich dennoch zur Gegenwehr entschließen, dann besitzen wir genug Feuerkraft, um sie zu vernichten. So oder so stellen sie keine Bedrohung mehr für uns dar. Aber was ist, wenn sie sich entschließen, ihrer Existenz als Spezies ein Ende zu setzen, wie es Hyos HeYen in der Verwerfung angedeutet hat? Was werden wir dann tun?« »Tun?« Marais lehnte sich zurück. »Was können wir dann überhaupt tun?« Nach kurzem Schweigen sah er zur Wandkarte. »Ich könnte mir vorstellen, dass wir sie gewähren lassen.«
Der Gedanke an einen Massenselbstmord von diesen Dimensionen ließ es ihm kalt den Rücken hinunterlaufen, darum redete Sergei rasch weiter: »Wenn es keine Zor mehr gibt, dann hat die 151 Menschheit keinen Feind mehr. Damit wäre die Arbeit der Flotte getan. Und dann? Zurück ins Imperium?« »Ich hatte immer auf eine Rückkehr gehofft. Das Ende des Krieges könnte für die Admiralität und den Imperator durchaus Grund genug sein, über kleine Meinungsverschiedenheiten hinwegzusehen und...« »Ich muss Ihnen widersprechen, Admiral. Meuterei geht wohl kaum als kleine Meinungsverschiedenheit durch. Und selbst wenn dieser Krieg einen Helden hervorbringt, wird es für viele andere keine Siegesparade geben. Indem ich mich für diese Mission entschied und mir klar machte, wie wichtig es ist, sie bis zum Ende durchzuziehen, habe ich alles geopfert, was ich je als meine Karriere angesehen habe. Der Imperator würde mir nicht mal ein Aircar anvertrauen, nachdem ich Ihnen gegen seinen ausdrücklichen Befehl gefolgt bin.« »Bereuen Sie Ihre Entscheidung?« »Natürlich nicht, Sir. Aber selbst wenn, würde es doch jetzt nichts mehr ausmachen, oder? Für Offiziere wie Alyne Bell, Marc Hudson, Yuri Okome und mich war das hier wichtiger als die Navy-Karriere. Es war wichtiger, weil wir sonst die beste Gelegenheit vertan hätten, die Zor zu besiegen, nur weil ein paar hundert Lichtjahre entfernt einige Leute kein Blut sehen und ihren Auftrag nicht richtig erledigen können. Vor eineinhalb Jahrhunderten überzeugte eine Gruppe von Offizieren, die uns ganz ähnlich war, einen anderen Admiral davon, dass die heimische Regierung korrupt und nicht in der Lage war, die Ausweitung des Territoriums der Menschheit im All zu steuern. Diese Offiziere trafen die Entscheidung, ihre Loyalität einem anderen Mann zu erklären. Niemand hat Ihnen bislang eine Krone auf einem Samtkissen präsentiert, aber Sie können sich der Loyalität all dieser Menschen gewiss sein. Das bedeutet, sie wollen Sie als denjenigen sehen, der die Richtung vorgibt. Wohin Sie diese Leute auch führen wollen, sie werden Ihnen folgen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Aus genau diesem Grund 151 ist es so wichtig, dass Sie ihnen Ihre Absichten erklären. Nicht nur mir, damit ich Ihnen einen Rat geben kann, sondern der ganzen Flotte. Ich glaube, jeder da draußen hat eine solche Erklärung verdient.« »Also gut«, gab der Admiral zurück. »Informieren Sie alle Commander, dass ich in zwei Wachen eine Ansprache an die gesamte Flotte halten werde. Ich brauche eine Weile, um meine Gedanken zu ordnen. Sie alle sollen ihre Erklärung bekommen.« Er faltete die Hände. »Und dann werden wir diese Sache zum Abschluss bringen.« Eyeh HeNa'a, Sprecher der Jungen, nahm den kleinen Becher egeneh entgegen, den der Hohe Lord ihm hinhielt, bekundete angemessen seine Ehrerbietung und nippte an dem Getränk. Ihm gegenüber saß Sse'e HeYen, die Flügel in der Position der Ehrerbietung gegenüber esLi, und trank aus seinem eigenen Becher. Das Schweigen hielt an. Privataudienzen mit dem Hohen Lord liefen in jüngster Zeit ungewöhnlich ab. Eyeh konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals mit hi Sse'e gesprochen hatte, ohne dass mindestens ha Ptal anwesend war. Dass die Audienz zudem in der Kammer der Einsamkeit stattfand, dem Ort, an den sich der Hohe Lord zur Meditation zurückzog, machte das Ganze noch bemerkenswerter. In der Hauptstadt herrschte Unruhe. Jeder Nestlord hatte darauf bestanden, mit dem Hohen Lord zu reden, doch alle Anfragen wurden abgelehnt. Der Rat der Elf war sogar ohne den Hohen Lord und ohne den Hohen Kämmerer zusammengekommen, konnte sich aber ohne die Ratschläge und ohne das Einverständnis ihres Führers nicht darauf einigen, was überhaupt getan werden sollte - vom Wie ganz zu schweigen. Und dann auf einmal erhielt Eyeh eine Einladung vom Hohen Lord persönlich. Es fiel ihm schwer, eine Haltung einzunehmen, die seine Besorgnis und Anspannung nicht verriet, doch die Flügel seines Gegenübers ließen keine derartigen Emotionen erkennen. 151 »Ich hatte in den letzten Tagen eine Reihe von Träumen, se Eyeh«, sagte der Hohe Lord schließlich. »Ich möchte sie gern mit Ihnen teilen.« »Ich fühle mich geehrt, Hoher Lord.« »Vielleicht werden Sie sich nicht mehr so geehrt fühlen, wenn ich fertig bin«, meinte Sse'e, der seine Flügel amüsiert ein Stück anhob. »Trotzdem werde ich Ihre Meinung achten. Für das Volk ist dies eine schwierige Zeit, das muss ich Ihnen sicher nicht erst sagen. Dennoch werden wir soeben und auch in der allernächsten Zeit Zeuge des größten Wandels, den unser Volk jemals erfahren hat. Während wir hier in der Kammer der Einsamkeit sitzen und unseren egeneh trinken, verhandeln se Ptal und se Makra'a mit es-Hu'ur über das Schicksal von E'rene'e. Sie werden kapitulieren, auch wenn Makra'a dies widerstrebt. Sie können keinen
anderen Pfad fliegen. Dann wird sich esHu'ur nach Shanu'un und Bas'a begeben und schließlich hierher nach Zor'a kommen.« »Das haben Sie geträumt, hi Sse'e?« »Zum Teil, jüngerer Bruder. Zum Teil habe ich es auch als die logischen nächsten Schritte abgeleitet. esHu'ur wird nach esYen kommen, zusammen mit seinem Gefolge und seinem Gefangenen ...« »Dem iflju-Fühlenden, der bei A'anenu gefangen genommen wurde? Sie würden dieser Kreatur gestatten, in Ihre Nähe zu kommen?« »Meine Träume sagen mir, dass ich es machen werde. Sie sollten nicht so besorgt darüber sein, se Eyeh. Sie müssen wissen, dass die Bezeichnung idju keine besondere Bedeutung mehr hat.« Eyeh sagte nichts, hob aber verwirrt die Flügel. »Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass wir hi'idju sind jüngerer Bruder.« Eyeh schwieg weiter, während er die Worte des Hohen Lords zu verstehen begann, idju war die persönliche Schmach - die Verletzung des Inneren oder des Äußeren Friedens, hi'idju hatte er dagegen noch nie gehört. Begleitet wurde es von einer Flügelhal 152 tung, die ihm ebenfalls unbekannt war und die er in Verbindung mit diesem Wort auch nicht erwartet hätte. »hi'idju«, wiederholte er, als wolle er testen, wie das Wort klang. »Nur so kann das Volk den Ausgang des Krieges akzeptieren, se Eyeh. Wir müssen hinnehmen, dass wir als gesamte Spezies idju sind. Nur so können wir auch dem Ur'ta leHssa entkommen. Wir müssen akzeptieren, dass Lord esLi uns aus einem bestimmten Grund die Dunkle Schwinge in der Verkleidung eines naZora'i geschickt hat. Wenn Er gewollt hätte, dass das Volk ausgelöscht wird, würde Er uns keine Ausflucht erlauben. Doch dieser Admi-ral, dieser Avatar der Dunklen Schwinge, bringt uns nicht den Tod unserer Spezies, sondern er verdammt uns zum Leben. Unser Zerstörer wird nun unser Erlöser sein. Aus diesem Grund schuf ich keinen neuen Gyaryu'har, als se Kale'e vor einem halben Mond bei A'anenu den Äußeren Frieden überwand. Aus diesem Grund habe ich die Anweisung gegeben, dass se Ptal und se Makra'a es-Hu'ur bei seinen Forderungen unterstützen. Aus diesem Grund wird esHu 'ur selbst nach es Yen kommen. Er wird erhalten, was er als Tribut wünscht. Er wird auch das gyaryu erhalten, das Reichsschwert, mit dem er uns auf einen neuen Flug führen wird.« »Ein naZora'i soll uns führen?«, fragte Eyeh ungläubig. »Es geht nicht anders, kleiner Bruder. Wir wählten diesen Flug zur Zeit meines Großvaters. Wir haben diesen Ausgang geschaffen oder zu seiner Schaffung beigetragen. esLi sagt, dass dieser naZora 7-Admiral weise ist und entscheidet, wie es enden soll.« Nachdem er dem Sprecher Mut zugesprochen und ihm weitere Details aus seinen Wahrnehmungen und Träumen berichtet hatte, ließ Sse'e seine Flügel ein wenig hängen und senkte seine Stimme, womit er eine gewisse Ermüdung eingestand. Ohne dazu angewiesen worden zu sein, zog sich Eyeh zurück und ließ den Hohen Lord allein in seiner Kammer der Einsamkeit zurück. Die Träume des Hohen Lords waren die Wegweiser, nach denen der Flug des Volks gewählt wurde. So war es immer gewesen. Jahrelanges Training als Fühlender und ein Studium der Epen, Legen 152 den und Geschichten bereiteten einen zukünftigen Hohen Lord darauf vor, den vorhersehenden Träumen manchmal verblüffende Auslegungen folgen zu lassen. esLi gab dem Hohen Lord nicht immer mit Worten zu verstehen, was er wollte. Manchmal wurde Sein Wille in Symbolen vermittelt. Sse'e fand, dass er sein Bestes gegeben hatte, die Offenbarungen auszulegen und sie Eyeh und den anderen zu vermitteln. Seinen letzten und aktuellsten Traum hatte er sogar vor Eyeh verheimlicht. Nachdem sich vor seinen träumenden Augen Szenen von großer Tragweite abgespielt hatten, war ihm eine letzte Vision gekommen. Sie ereignete sich in seiner Kammer der Einsamkeit, doch er war da nur der Beobachter. Eine Vision seiner selbst - oder eher eine jüngere Darstellung, die in ihrem Erscheinungsbild etwas anders war und mehr an eine ältere Version seiner Söhne E'er oder Dra'a erinnerte - saß auf der obersten Stange der Kammer und wirkte wie in Meditation versunken. Dann beschrieb die Gestalt eine tiefe Verbeugung vor esLi und stieg von der Stange auf, um gemächlich zu kreisen und langsam an Höhe zu verlieren. Doch ein Dutzend Spannweiten über dem Boden versteifte die Gestalt auf einmal die Flügel, sodass sie nicht länger der Krümmung der Wand folgte, sondern geradewegs darauf zuhielt. Wie so oft in seinen Träumen gehorchte ihm seine Stimme nicht, sodass er nur entsetzt zusehen konnte, wie die Gestalt mit dem Kopf voran gegen die Wand prallte und dann in die Tiefe stürzte. Das leblose Gesicht und die geknickten Flügel lösten bei ihm ein nie gekanntes Gefühl aus, das ihn mehr entsetzte, als er es mit Worten oder irgendeiner Flügelhaltung hätte ausdrücken können.
In diesem leblosen Bild sah er naGa'sse - die Blindheit des Fühlenden. Sogar im Tod war die Miene des Fühlenden gefasst, da sein hsi direkt in esLis Goldenen Kreis überwechselte. Dieses schreckliche Bild, diese Überwindung des Äußeren Friedens, drückte die größte Angst eines Fühlenden aus: dass esLis großartige Gabe ihn verlassen würde, solange das hsi noch in seinem Körper war, sodass er gedankenblind sein würde. 153 Wenn das einem Fühlenden widerfuhr, war es schmerzhaft. Wenn es einem Hohen Lord widerfuhr, war es verheerend. Dieser Traum war ihm bereits zweimal erschienen, und jedes Mal war die Szene gleich abgelaufen. Die Botschaft dahinter konnte er nicht erkennen, es sei denn, das Bild zeigte einfach nur die Zukunft. Es hatte etwas Ironisches: Das Volk befand sich im Zustand der größten Verzweiflung, und er konnte einen neuen Pfad der Hoffnung und des Wandels sehen, der sie vom Ur'ta leHssa wegführte. Gleichzeitig war da das düstere Vorzeichen, das den Tod des Hohen Lords zeigte, erblindet und vom Inneren Frieden Lord esLis getrennt. Er riet sich selbst, geduldig zu sein. esLi wird dich früh genug verstehen lassen, sagte ihm seine innere Stimme. Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Es kam ihm wie ein belangloser Beruhigungsversuch vor, doch es war alles, was er hatte. 153
18. Kapitel [Beginn Videoaufzeichnung 210811-0 143 502] [Off-Sprecher:] »Commodore Sir Kenneth Tamori, der Sprecher der Admiralität, gab um 1310 CT eine Erklärung ab, als Reaktion auf Gerüchte, die von einer feindlichen Flotte sprechen. >Dieses Gerücht entbehrt jeder Grundlage«, erklärte Commodore Tamori. Entgegen dem Material, das im Netz veröffentlicht wurde, sind die Positionen aller feindlichen Waffen und Tonnagen auf dieser Seite der Antares-Verwerfung genau bekannt. Die Flotte im Kriegsgebiet hat die Zor-Flotte geschlagen und alle feindlichen Basen eingenommen, darunter auch die zentrale Basis bei A'anenu. Ebenfalls eingenommen wurde die Basis, von der aus vor sechs Monaten der Angriff auf Pergamum gestartet wurde. Die Zor sind nicht länger in der Lage, im imperialen Raum irgendeinen Angriff auszuführen.« Commodore Tamoris Erklärung wurde von einer Reihe von Videoaufzeichnungen begleitet, die die Niederlagen der Zor zeigen, darunter auch A'anenu. Die Admiralität weigerte sich, auf Fragen von Netz-Reportern einzugehen.« [beigefügte Videoaufzeichnungen: 210811-0 143 511, 210811-0 143 514, 210811-0143 519, 210811-0143 523] [Beginn Videoaufzeichnung 210811-0 143 503] Ein Sprecher der Commonwealth-Partei weist Commodore Tamoris' Aussage als bewusste Irreführung zurück. »Die Admiralität weiß nichts über den Ablauf des Feldzugs im Kriegsgebiet, und auch nichts über den Aufenthaltsort von Admiral Marais' Flotte. Sie könnte sich in der Verwerfung befinden, bei den Heimatsternen der Zor, 153 möglicherweise aber auch auf dem Weg ins Sol-System, um den Thron an sich zu reißen.« Vom imperialen Hof gab es zu diesem Vorwurf keinen Kommentar. »Bogey" nahe Sprungpunkt Nummer drei, Skip.« Sharon MacEwan, Captain der 5a« Martin, sah vom Ingenieursbericht auf, den sie mit ihrem Chief durchging. »Haben Sie eine Bestätigung?« »Von der Ikegai, Skip. Sie ist am nächsten dran.« Mitch Sanders, der während dieser Wache den Posten des Navigators innehatte, betrachtete das Pilotendisplay. »Die Sarasota und Piraeus sind danach die nächsten, sie drehen bereits zum Abfangen bei.« »Die Ikegai ruft uns, Skip«, meldete ihr Kom-Offizier. »Bestätigen Sie, Mitch. Jack«, rief sie dann dem Mann am Kommunikationspult zu. »Bringen Sie die beiden aus der Schusslinie, lassen Sie das Schiff gefechtsbereit machen.« Sie setzte sich. »Stellen Sie die Ikegai jetzt durch.« Der Gefechtsalarm ertönte überall im Schiff, während nahe dem Pilotendisplay Yuri Okomes Bild erschien. »Ich habe eine Mindestenergie-Lösung berechnet, um den Eindringling abzufangen, Sharon.« »Haben Sie ihn identifiziert?« »Camerom, sagte Mitch Sanders leise. »Das Schiff wird als die IS Cameron identifiziert«, meldete Yuri und sah kurz zum Steuermann. Mit einem Mal war er ganz auf seine Station konzentriert, während Sharon sich zwingen musste, nicht zu lächeln. Okome fuhr unterdessen fort: »Ein leicht bewaffnetes Patrouillenschiff. Scheint keine Gefahr darzustellen.«
»Reagiert es auf unsere Rufe?« »Ja, und als Antwort bekomme ich die Bitte, man möchte mit dem ranghöchsten Offizier hier bei A'anenu reden.« Okomes Stimme war emotionslos, doch sein narbiges Gesicht zeigte eine Spur " Bogey feindlicher Jäger 154 von Verärgerung. »Ich habe sie informiert, die Bitte sei weitergeleitet, und ich warte auf meine Befehle.« »Kurs und Geschwindigkeit der Cameron?« Okome nannte einen Kurs, der das Schiff ins Schwerkraftfeld bringen würde. »Hohe Geschwindigkeit, die aber rasch abnimmt.« »Gut. Befehlen Sie dem Schiff zu stoppen. Feuern Sie notfalls vor den Bug...« Sharon bemerkte den Anflug eines Lächelns auf Yuri Okomes Gesicht. Er würde schon einen Weg finden, um das Schiff zu »stoppen«. »Und lassen Sie sie da draußen erst mal schmoren. Ich gebe den beiden anderen Schiffen den gleichen Befehl. Die anderen sollen sich fern halten. Sie wollen den befehlshabenden Offizier sprechen. Gut, dann sollen sie ein Beiboot zur Orbitalbasis schicken. Ich treffe mich mit ihnen auf der San Martin in ...« - sie sah zu Mitch Sanders, der zwei Finger hochhielt -»... etwa zwei Stunden. Ach, und Yuri. Falls sie abhauen wollen, halten Sie sie davon ab. Wenn sie nur hier sind, um sich umzusehen, dann werden sie länger bleiben als beabsichtigt.« »Verstanden, Okome Ende.« »Gute Arbeit, Mitch«, sagte sie zu ihrem Navigator, als Okomes Bild verschwand. »Gehen Sie auf Kurs zur Orbitalbasis im Asteroidengürtel, aber schön langsam. Wir haben es nicht eilig.« »Bereit«, sagte er einen Moment später. »Alle ein Drittel Kraft voraus«, wies Sharon an und lehnte sich im Pilotensitz zurück. Sie rief aus dem Computer der San Martin ab, was über die Cameron bekannt war. Wie Yuri gesagt hatte, handelte es sich um ein leicht bewaffnetes Patrouillenschiff. Üblicherweise wurde es als Kurier in den Neuen Territorien eingesetzt, aber es war nie an die Front gekommen. Der Kommandant war ein gewisser Captain Carlos Hsien. Wer zum Teufel ist dieser Carlos Hsien?, fragte sie sich. Der Name kommt mir bekannt vor. Das ist schon ein mutiger Zug, vor allem zu diesem Zeitpunkt. Im Imperium herrscht Unruhe, weil der Admiral nicht länger die Befehle befolgt, die man ihm erteilt. 154 Jeder, der sich auf seine Seite geschlagen hat, dürfte inzwischen längst hier sein. Alle, die ihm nicht zu den Innersten Sternen folgen oder A'anenu beschützen wollten, haben den Sprung nach Hause angetreten. Die Cameron dürfte wohl kaum ein später Überläufer sein. Aber was will sie dann? Sie waren vor einer Woche hier angekommen, nachdem sie den Sprung von der Zor-Basis in der Verwerfung unternommen hatten. Der Admiral war mit einem abgespeckten Geschwader unter Führung der Lancaster zu den Innersten Welten der Zor aufgebrochen, während ein Kontingent bei der Basis in der Verwerfung zurückblieb. Eine weitere Gruppe mit der San Martin als Flaggschiff war nach A'anenu zurückgekehrt, um den Heimweg der Flotte zu sichern. Gut ein Viertel der Schiffe, die am Angriff auf die Basis teilgenommen hatten, waren nicht bereit gewesen, weiter unter Marais' Kommando zu bleiben. Ihnen war gestattet worden, ins imperiale Territorium zurückzukehren. Von Marais war das eine ungewöhnlich riskante Entscheidung, doch nur so ließ sich sicherstellen, dass alle Verbliebenen voll hinter der Sache des Admirals standen - der Abschluss des Krieges zu seinen Bedingungen. Die Kommunikation, die hier bei A'anenu zusammenlief, ließ erkennen, dass niemand wirklich wusste, was los war. Es kursierte sogar das Gerücht, die Zor-Flotte sei Marais entkommen und habe Kurs auf das imperiale Territorium genommen, um Mothallah, New Chicago oder eine andere dicht besiedelte Welt anzugreifen. Selbst wenn jemand gewusst hätte, was hier vor sich ging, wäre es wohl jedem schwer gefallen, das auch zu glauben. Während die Diplomaten und Politiker im Imperium gereizt debattierten, was als Nächstes geschehen sollte, war Admiral Marais auf dem Weg nach Zor'a, um die Kapitulation - oder den Massenselbstmord -des größten Feindes zu überwachen, dem die Menschheit je begegnet war. Es war so gut wie unmöglich, so etwas zu glauben. 154 Die San Martin erreichte die verlassene Basis im Asteroidengürtel nach weniger als zwei Stunden und wartete bereits auf die Ankunft des Shuttles der Cameron. Sie übernahm dessen Navigation und steuerte das Beiboot in den Shuttlehangar. Sharon gab Anweisung, die Passagiere in einen Konferenzraum auf dem Ma-
schinendeck zu bringen. Wer immer sie waren und was sie auch von ihr wollten, sie wollte diese Besucher so weit wie möglich von der Brücke fern halten. Kaum war der Shuttle an Bord, begab sie sich zum Konferenzraum. Ihr XO und Cousin ersten Grades Sean MacEwan wartete dort mit Claude Symmes, dem Major der San Martin. Der Mann, der längst ein Veteran war, hatte den größten Teil seiner Karriere an Bord von Raumschiffen verbracht. Yuri Okomes Holo-Bild war ebenfalls anwesend und »saß« am anderen Ende des Konferenztischs. »Berichten Sie«, sagte sie und nahm am Kopfende Platz. »Die Cameron hat sich nicht von der Stelle bewegt, seit wir ihr befohlen haben zu stoppen«, sagte Yuri. »Sie haben jeden Befehl exakt befolgt. Ihr Chief vom Hangardeck sagte mir, es würden drei Gäste auf Sie warten zwei Offiziere und ein Zivilist.« »Ein Zivilist? Wer ist es?« »Ich glaube, es gibt ein Standbild von dem Moment, als sie ausgestiegen sind.« Yuri deutete auf Sharons Päd. Sie berührte eine Taste, dann entstand an der Wand gleich neben ihr ein 3-V-Bild. »Hsien«, sagte sie leise. »Kein Wunder, dass mir der Name bekannt vorkam. Das ist Tomas Hsien, der Führer der Commonwealth-Partei. Was will der denn hier?« »Das werden wir gleich erfahren.« Sharon schaltete Hsiens Bild ab, als die Türglocke ging. »Herein«, rief sie, dann glitt die Tür auf. Zwei Flottenoffiziere traten ein, salutierten und gingen dann einen Schritt zur Seite. Eine vornehm gekleidete dritte Person kam in den Konferenzraum. Der Mann strahlte Autorität aus, während er mit einem einzi 155 gen Blick den Raum und alle Anwesenden zu erfassen schien. Ihm war anzusehen, dass er mit den beengenden Verhältnissen an Bord eines Frontschiffs nicht vertraut war, aber er fühlte sich auch nicht unbehaglich. Sharon gegenüber deutete er eine knappe Verbeugung an, den anderen im Raum nickte er zu. Die beiden Offiziere, die ihn begleitet hatten, schienen vergessen zu sein. »Sie müssen Captain MacEwan sein«, sagte Hsien. »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin...« »Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach Sharon ihn. »Nehmen Sie bitte Platz, Abgeordneter.« »Danke.« Er setzte sich nahe dem Kopfende des Tischs hin. »Darf ich vorstellen? Captain Carlos Hsien und Lieutenant Julian Kwamee von der Cameron.« Sharon warf den beiden nur einen kurzen Blick zu, dann begaben diese sich ans entlegene Ende des Tischs. Ihr war klar, dass die beiden nur zur Show mitgekommen waren. »Sie sind ein beträchtliches Risiko eingegangen, Abgeordneter«, sagte sie, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Hsien gerichtet hatte. »Das hier ist Kriegsgebiet. Sie hätten in tausend Stücke zerschossen werden können, als Sie hier einfach aufgetaucht sind.« »Ich war bereit, dieses Risiko einzugehen.« »Dann müssen Sie etwas Wichtiges von uns wollen.« »Ich will nur Informationen zusammentragen. Ich komme mit leeren Händen, Captain. Kein Friedensvertrag, keine offizielle Vertretung der Regierung, keine Befehle für den Admiral... auch wenn wohl nichts davon überhaupt noch irgendeine Bedeutung hätte. Wo ist der Admiral eigentlich? Ich hatte gehofft, mit ihm reden zu können.« Mit ihm, aber nicht mit irgendeinem Lakai, schien er eigentlich zu sagen. »Der Admiral ist nicht hier.« »Das mag zwar eine wahre Aussage sein, aber sie beantwortet nicht meine Frage.« Sharon warf Yuri einen kurzen Blick zu und sah dann wieder zu Hsien. Einige Schiffe mussten inzwischen in imperiales Gebiet zu 155 rückgekehrt sein. Damit war allgemein bekannt, wie der Kampf um A'anenu ausgegangen war. »Der Admiral ist auf dem Weg zu den Innersten Sternen der Zor. Sie haben kapituliert, Sir. Der Krieg ist beendet, und Admiral Marais hat gewonnen.« »Das ist eine sehr allgemeine Aussage, Captain. Die Entscheidung darüber, wann der Krieg beendet oder sogar gewonnen ist, liegt ganz sicher nicht beim Admiral.« »Bei wem liegt sie dann?« »Ich würde sagen, dass die Imperiale Versammlung« - Hsien legte eine Hand auf seine Brust - »diejenige Institution ist, die darüber zu entscheiden hat.« »Die Imperiale Versammlung war bereit, ein Friedensangebot anzunehmen, das uns um den Sieg gebracht hätte, Sir. Ich würde sagen, der Versammlung fehlt es am Verständnis für die Situation, und sie ist in keiner
Weise qualifiziert, sich damit zu befassen. Aber wir schweifen ab. Wenn Sie nicht in einer offiziellen Funktion hergekommen sind, warum sind Sie dann hier?« »Ich vertrete nur mich selbst und das Volk von...« »Ersparen Sie uns Ihren bestens bekannten Populismus, Abgeordneter«, warf Okome ruhig ein. »Wir sind hier nicht in der Imperialen Versammlung, Sir. Ich vermute, der einzige Wert Ihrer politischen Position besteht darin, dass wir Ihnen zuhören.« »Na gut.« Hsiens Anflug eines Lächelns wich einem ernsten Ausdruck. »Dann werde ich es Ihnen sagen. Der Imperator hat die Imperiale Versammlung aufgelöst. Es kursieren Gerüchte aller Art, aber es gibt zu wenige Informationen, um irgendetwas davon zu bestätigen oder zu dementieren. Ich will wissen, was los ist.« »Was ist denn mit Ihrem Spion passiert?«, fragte Okome. Hsiens Blick zeigte, dass ihn die Frage völlig unerwartet traf, doch schon im nächsten Moment stellte er wieder eine gelassene Miene zur Schau. »Meine Informationsquellen sind nicht besser als die der anderen. Ich will Ihnen nichts vormachen, Captain. Ich bin nicht mu 156 tiger als andere, ich bin nur entschlossener. Ganz gleich, wie dieser Krieg ausgeht, es wird nach wie vor ein Sol-Imperium geben. Es bleibt nur abzuwarten, wer der Imperator sein wird.« »Sir, ich...« »Jetzt versuchen Sie zu verschleiern, Captain.« Er legte die Hände gefaltet auf den Tisch. Sie waren manikürt und weich - es waren die Hände eines Politikers, denen nie etwas Schlimmeres widerfahren war, als sich an einem Blatt Papier zu schneiden. »Lassen Sie uns die Frage zurückstellen, ob der Krieg nun beendet ist oder nicht. Vor sechs Monaten hätte es niemand für möglich gehalten, dass Admiral Marais tun würde, was er getan hat. Mir ist klar, dass dieses Handeln Konsequenzen nach sich ziehen wird, die weit über das bloße militärische Resultat hinausgehen. Die Machtverhältnisse im Imperium werden sich verschieben, abhängig davon, wie der nächste Schritt des Admirals aussieht. Ich möchte genau das wissen: Wie sieht sein nächster Schritt aus? Deshalb bin ich hier. Ich will meinen Verdacht bestätigt sehen, dass es angesichts der Umstände für Admiral Marais keine andere Lösung gibt, als den Thron für sich zu beanspruchen.« »Ich weiß es nicht, Abgeordneter. Ich bin nicht überzeugt.« »Dann sind Sie ausgesprochen dumm. Sie entstammen einer Familie mit einer langen Tradition im Militärdienst, Begriffe wie >Meuterei< oder >Verrat< sollten Ihnen fremd sein. Aber neun von zehn Menschen im Sol-Imperium halten sie für eine Verräterin. Sie haben vorsätzlich die direkten Befehle Seiner Imperialen Majestät missachtet und stattdessen die Befehle eines meuternden Admirals befolgt. Weder Absicht noch Motivation oder das Resultat können daran etwas ändern. Der Imperator hat bereits sein Urteil gefällt.« Er sah sie eindringlich an. »Es gibt nur eine Möglichkeit für Sie, ins Sol-Imperium zurückzukehren und nicht als Kriminelle behandelt zu werden. Sie müssen im Dienst des neuen Imperators zurückkommen. Sie, Captain Okome und jeder andere Offizier und jeder einfache Soldat in dieser ganzen verdammten Flotte von 156 Meuterern muss diese Sache bis zum Ende durchziehen, und das heißt für Sie, Admiral Marais als den neuen Imperator nach Oahu zu bringen.« Sharon MacEwan wusste, wie wenig Marais am Thron interessiert war, doch sie verstand auch, worauf Hsien hinauswollte. Es war für den momentanen Imperator nicht möglich, die Vorwürfe gegen Marais oder gegen die Offiziere fallen zu lassen, die sich ihm angeschlossen hatten. Marais hatte etwas begonnen, was Konsequenzen nach sich zog, die nicht ignoriert werden durften. »Und welchen Nutzen ziehen Sie aus dem Ganzen?« »Selbst wenn um den Thron gekämpft werden sollte, wird die Imperiale Versammlung irgendwann wieder einberufen werden. Ich gehe davon aus, auch dann ein Mitglied dieser Versammlung zu sein.« »Indem Sie sich jetzt auf die Seite von Admiral Marais stellen.« »Indem ich sicherstelle«, gab Hsien zurück und wählte seine Worte mit Bedacht, »dass sich der Admiral seiner Optionen gewiss ist, sollte er den Thron anstreben, und indem ich ihm in einer kritischen Phase gewichtige Unterstützung anbiete - für einen gewissen Preis.« »Woher wollen Sie wissen, dass er annehmen wird?« »Das weiß ich nicht, weil ich noch nicht mit ihm gesprochen habe. Ich bin mir nicht sicher, wie seine Antwort ausfallen wird. Aber Admiral Marais hat im Imperium viele Anhänger. Wenn er vollbracht hat, was Sie sagen, dann ist eine Gefahr beseitigt, die uns zwei Generationen lang verfolgt hat. Ich glaube, es dürfte nicht viele Menschen geben, die dem Krieg nachweinen.« »Und was passiert, wenn der Admiral Ihr... >großzügiges< Angebot ablehnt?«
Wieder zeigte sich ein Lächeln auf Hsiens attraktivem Gesicht. »Dann werde ich ihn als den Verräter brandmarken, der er ist, und den Imperator gegen einen Usurpator unterstützen, der ein ganzes Volk auslöschen will.« »Verstehe. Und wenn ich Sie einfach hier auf der San Martin in 157 die Arrestzelle stecke und vergesse, dass Sie da sind? Oder wenn ich Sie ohne Druckanzug in die Luftschleuse schicke?« Als sie die zweite Alternative nannte, war ihm für einen Moment ein Hauch von Angst anzusehen, dann antwortete er rasch: »Wenn ich in sieben Tagen keine entsprechende anderslautende Anweisung gegeben habe, wird eine vorab aufgezeichnete Ansprache gesendet werden, in der ich den Menschen des Sol-Imperiums von meinem heldenhaften Bemühen berichte, Marais hier bei A'anenu zur Vernunft zu bringen, damit er sich ergibt und diesem schrecklichen Krieg ein Ende setzt. Natürlich werde ich auch daraufhinweisen, dass ich meine Anstrengungen mit meinem Leben bezahlt habe. Damit wird Admiral Marais sich bei seinen zukünftigen Untertanen sicher sehr beliebt machen.« »Ich verstehe.« »Selbstverständlich würde ich diese Reise viel lieber überleben. Als ich mich auf den Weg hierher begab, machte ich mir natürlich keine Illusionen darüber, dass eine Flotte, die wehrlose Welten wie L'alChan auslöscht, auch nicht vor ein paar Menschenleben zurückschreckt.« Nach kurzem Schweigen fügte er an: »Ich glaube, wir haben uns gegenseitig alles gesagt, was es zu sagen gibt. Ich würde mich jetzt gern mit dem Admiral treffen.« »Wie ich Ihnen bereits sagte, er ist nicht hier.« »Ich nehme an, Sie können Kontakt mit ihm aufnehmen. Ich werde abwarten, entweder auf der Cameron oder in Ihrer Arrestzelle, wenn Ihnen das lieber ist.« Sie wandte sich zu Major Symmes um, der das Gespräch schweigend verfolgt hatte. »Schaffen Sie ihn von meinem Schiff.« Symmes erhob sich und deutete eine leichte Verbeugung gegenüber Hsien an. »Wenn ich Sie bitten darf, Abgeordneter.« Der musste nicht erst überredet werden, sondern verließ zusammen mit seinen beiden Offizieren den Konferenzraum. »Und?«, fragte sie ihren XO, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. 157
»Er ist ein aalglatter Dreckskerl«, meinte Sean und rieb sich seinen gepflegten Bart. »Wir können weder ja noch nein sagen, und selbst wenn der Admiral ihn empfangt, gibt es keine Garantie, dass Hsien auch das macht, was er sagt.« »Wahrscheinlich wusste er auch, dass Marais nicht hier ist«, warf Okome ein. »Und warum dann dieses Schauspiel?«, wunderte sich Sean. »Warum macht er sich die Mühe, auf die San Martin zu kommen und seine Position zu erläutern? Das hätte er sich doch für Admiral Marais aufheben können.« »Er wusste, er musste erst uns überzeugen, damit wir seine Nachricht an den Admiral weiterleiten«, entgegnete Sharon. »Ihm war es offenbar wichtig, uns zu überreden, anstatt sich direkt an den Admiral zu wenden. Es war dumm von mir, ihm zu sagen, wo Marais ist. Vermutlich hat er das nicht gewusst.« »Die Information hilft ihm aber auch nicht weiter«, warf Yuri ein. »Stimmt. Also gut, Gentlemen. Irgendwelche Vorschläge, was wir machen sollen?« »Wir müssen mit dem Admiral Kontakt aufnehmen«, sagte Sean. »Der Zeitrahmen ist zu knapp, da bleibt uns keine andere Wahl.« »Sean hat Recht«, bestätigte Yuri. »Allerdings wird die Cameron keine Mühe haben, unsere Kommunikation abzuhören. Wir müssen ein Schiff losschicken.« »Da schwebt Ihnen sicher schon eines vor.« »Wenn wir die Ikegai von A'anenu abziehen, hat das keine schwerwiegenden Konsequenzen. Ich habe das Gespräch mitverfolgt, und so wie Sie bin ich einer der Offiziere, die das ursprüngliche Geschwader des Admiráis bildeten. Das heißt, ich genieße sein Vertrauen. Ein Eskortschiff kann die Strecke in relativ kurzer Zeit zurücklegen.« »Außerdem wären Sie lieber dort als hier.« »Ich nenne nur logische Argumente zugunsten der Ikegai, Sha 157 ron. Persönliche Vorlieben spielen bei dieser Entscheidung keine Rolle, zumal Sie entscheiden müssen.« Er lächelte flüchtig, als habe er soeben an der Akademie eine Vorlesung gehalten. Sie wusste, er hatte in allen Punkten Recht.
»Also gut. Ich werde den Befehl vorbereiten. Planen Sie so, dass Sie in acht Stunden aufbrechen können... nein, besser in vier. Der Admiral sollte so viel Zeit wie möglich haben, um seine Entscheidung zu treffen.« »Aye-aye«, erwiderte Okome, dann löste sich sein Bild auf. »Ich glaube«, sagte Sharon zu ihrem Cousin, »darum sind die MacEwans immer Soldaten geblieben und nie in die Politik gegangen. Bei uns besteht stets die Gefahr, dass wir nach einem Knüppel greifen und jemandem den Schädel einschlagen. Das macht sich aber besser, wenn man einen legitimen Feind vor sich hat.« Die Reise zur Oberfläche von Zor'a war ereignislos verlaufen, doch erst nach der Landung wurde dem Admiral und seinem Gefolge wirklich bewusst, wie fremdartig diese Welt war. Die zinnoberrote Sonne von Antares sorgte für eine solche Hitze, dass es einem den Atem verschlug. Dazu kam die drückende, feuchte Luft, und die geringere Schwerkraft sorgte dafür, dass den Menschen ein wenig schwindlig war. Eine Gruppe Zor erwartete sie an der Gangway des Shuttles, während andere umherflogen und ihre Waffen zur Schau stellten. Marais ging voran, den Blick stur geradeaus, gefolgt von Sergei, Alyne Bell, Marc Hudson, Tina Li, dem zwischenzeitlich zu ihnen gestoßenen Yuri Okome, Rrith sowie einem Trupp Marines in Galauniform, der von Chris Boyd angeführt wurde. Die Offiziere mussten sich darauf konzentrieren, die Landebahn zu erreichen, während sich Rrith wie in einem Traum bewegte. Boyd war darum bemüht, nicht von den Bildern und Eindrücken überwältigt zu werden, die für ihn vertraut und gleichzeitig doch neu waren. 158 Als sie die Gangway verlassen hatten, kam ihnen einer der Zor aus dem Empfangskomitee entgegen. »Ich bin Dres HeShri, Meister des Sanktuariums. Ich bin der höchste Lehrer der jungen Fühlenden, wenn sich ihre Begabung zum ersten Mal zeigt. Ich war auch der Lehrer Ihres... Gastes.« »se Rrith hat lobend von Ihnen gesprochen, se Dres«, erwiderte Marais. »Ich hoffe, ich bekomme Gelegenheit, das Sanktuarium zu besuchen.« »esLi führt Sie«, erwiderte Dres ein wenig rätselhaft. Marais stellte seine Offiziere vor, dann stieg die Gruppe erleichtert in zwei Aircars, die für die Menschen und ihre Eskorte bereitgestellt worden waren. Als sich die Wagen in die Lüfte erhoben und über es Yen flogen, bekamen Marais und die anderen die Gelegenheit, einen Blick auf die Metropole zu werfen. Hinter ihnen fiel der weitläufige Raumflughafen zurück, als sie sich dem komplexen Stadtzentrum näherten. Wolkenkratzer streckten sich in den Himmel, auf allen Ebenen waren die Außenwände mit Sitzstangen überzogen, die in schwindelerregender Höhe durch schmale Flugbrücken miteinander verbunden waren. Dazwischen fanden sich breite steinerne Bögen und sonderbar geformte Megalithen. Alle waren sie mit hRni'i überzogen. Der untersten Ebene schien in dieser Stadt kaum Bedeutung zuzukommen, da esYen - die Hauptstadt der Zor-Hegemonie - auf jeder beliebigen Ebene zugänglich war... zumindest für jeden, der fliegen konnte. Beim Überflug konnten sie etliche Zor ausmachen, doch keiner von ihnen kam den Aircars zu nahe. Schließlich landeten sie auf einer Plattform, die mehrere Etagen über dem Grund gelegen war. Die Menschen fühlten sich ein wenig unsicher, als sie ausstiegen, da die Plattform nicht mit einem Geländer gesichert war und es jenseits des Randes sicher dreißig Meter in die Tiefe ging. Durch einen achteckigen Bogen gelangten sie auf die obere Ebene einer großen Empfangshalle. Eine schmale Treppe - eigentlich nur eine Reihe von Stangen, die im Abstand von gut einem Meter schräg untereinander angebracht waren 158 führte in den unteren Bereich der Halle, der mit Marmor ausgelegt war. »Jesus«, flüsterte Marc Hudson, als sich die Gruppe nach unten begab. Die Halle war fast hundert Meter breit und reichte ungefähr sechzig Meter in die Höhe. Überall waren Zor zu sehen - manche bewaffnet mit Steinschleudern oder Strahlenwaffen, alle jedoch im Besitz ihrer zeremoniellen chyas -, die die Gruppe stumm beobachteten. Sergei hatte das Gefühl, dass ihm von Mezzaninen und Balkonen sowie von den Sitzstangen ringsum an den Wänden tausende von Augenpaaren nachsahen. Aus der Ferne war eine leiser Glockenschlag zu hören, der wie ein Flüstern im Wind wirkte. Das alles war so fremd und deshalb auch so beängstigend. Dreihundert Jahre Reisen durch das Weltall hatten den Horizont der Menschheit erweitert, doch eine so völlig fremde Umgebung, wie es Yen sie ihnen bot, kam selbst für die stärkste Psyche einem Anschlag gleich, der zur Folge hatte, dass sie sich vor den Eindrücken zu verschließen versuchte. Über sechzig Jahre erbitterter Kriegführung unterstrichen dieses Gefühl, und Sergei musste sich zwingen, nicht eine Waffe zu ziehen, nur um sich sicherer zu fühlen.
Er fragte sich, was wohl ein Zor dachte, der ihn sah, der einem der Eroberer ins Gesicht schaute. Einige der Zor, die sie stumm beobachteten, wurden zum ersten Mal mit der Personifizierung dessen konfrontiert, was den Tod ihrer ganzen Spezies bedeuten mochte. Nur wenige waren auf der Basis und auf E'rene'e mit den Menschen zusammengetroffen, während die Mehrheit den Feind so wenig kannte, wie dies auch umgekehrt der Fall war. Doch als Sergei sich vorsichtig umsah, schlug ihm von der Menge kein unterdrückter Zorn entgegen. Auf der anderen Seite mochte es aber auch so sein, dass die Zeichen für Hass und Wut von den Menschen bloß nicht wahrgenommen wurden, weil sie zu subtil waren. Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, wandte sich der 159 Kämmerer Ptal HeU'ur Marais zu. Seine Miene war so wie seine Flügelhaltung für die Menschen undurchschaubar, dennoch war klar, dass er auch zu den schweigenden Zor ringsum sprach. Er breitete die Flügel aus und verbeugte sich vor dem Admiral, sein Gefolge tat es ihm gleich. Dres HeShri deutete auf den Zor, der auf sie wartete, und sagte leise zu Marais: »Der Hohe Kämmerer des Hohen Nestes.« »esHu 'ur«, sagte der Kämmerer. »Ich bin Ptal HeU'ur, Kämmerer des Hohen Lords. Ich heiße Ihre Rückkehr zum Hohen Nest willkommen.« »Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Marais. »Lord Marais, wenn Sie mir folgen würden. Ich werde Sie in den Garten begleiten, wo der Hohe Lord sie empfangen wird.« Er wandte sich um und ging los, ohne sich zu vergewissern, ob die Menschen ihm überhaupt folgten. Der Weg führte durch einen Torbogen und dann einen langen, von der Sonne beschienenen Laubengang entlang. Die vom Admiral angeführte Gruppe folgte ihm. Der Korridor endete vor einem breiten Torbogen. Ptal HeU'ur bedeutete ihnen, sie sollten eintreten. Marais zögerte nicht und ging zielstrebig weiter. Sergeis erster Eindruck des Gartens war der eines gigantischen Vogel- oder Gewächshauses. Eine Decke war nicht zu erkennen, womöglich gab es sie auch gar nicht. Stattdessen hing der vertraute kobaltblaue Himmel über diesem ordentlich arrangierten Regenwald. Die Zor-Eskorte folgte ihnen nicht in den Garten, woraufhin die Gruppe auf einer kleinen Lichtung abwartend stehen blieb. Sergei, der sich in seiner Galauniform unbehaglich fühlte, bemerkte plötzlich eine Pflanze, die ihn an eine Sonnenblume erinnerte und die sich nach ihm auszustrecken begann und an seinem Uniformärmel schnupperte. Als erfahrener Commander wusste Sergei, dass es im Universum eine Fülle von Lebensformen gab, von denen die meisten den Menschen Schaden zufügen konnten. Er versuchte, auf Abstand zu der Pflanze zu gehen, die inzwi 159 sehen ein besonderes Interesse an der Uniformmütze entwickelt hatte, die er unter dem Arm geklemmt hielt. Eine Reihe spitzer Zähne war aus dem Staubblatt der Blume hervorgetreten und zerrte nun am Rand der Mütze, um sie Sergei zu entreißen. Mit der rechten Hand griff er bereits nach seiner Waffe, doch bevor er weiter etwas unternehmen konnte, rief ein Zor: »Sr'can'u !« Sofort ließ die Pflanze los, zog sich schnell zurück und wackelte auf ihrem Stängel hin und her. Einen Augenblick später tauchte ein hagerer Zor auf dem gewundenen Weg vor ihnen auf und ging auf die Pflanze zu. Zärtlich strich er über den Stiel, griff in eine Tasche seines cremefarbenen Gewands und holte ein paar rötliche Beeren heraus, die er eine nach der anderen an die Pflanze verfütterte. Dabei redete er in der Hochsprache leise auf das Gewächs ein. Schließlich drehte er sich zu den erschrockenen Menschen um und verbeugte sich leicht. »Guten Tag«, sagte er. »Sie sind Admiral Marais.« Der Admiral nickte. »Ja, Sir.« »Es ist mir eine Freude, Sie endlich auf Zor'a begrüßen zu können, Admiral. Ich bin Sse'e HeYen, der Hohe Lord.« Mit seinen Krallen strich er über die Pflanze. »Ich entschuldige mich für das, was Ihrer Mütze zugestoßen ist«, sagte er zu Sergei. »Sr'can'u ist sehr neugierig und Fremden gegenüber sehr unhöflich.« »Es ist ja nichts passiert, Sir«, erwiderte Sergei und betrachtete die Zahnabdrücke, die die Pflanze in einer seiner besten Uniformmützen hinterlassen hatte. »Entschuldigen Sie, aber ist Sr'can'u eine Art Haustier?« »Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie damit meinen. Er ist ein intelligentes Wesen, ein Symbiont... ein Wächter in diesem Garten. Er ist recht freundlich, wenn man ihm klar macht, was er darf und was nicht.«
Seine Flügel veränderten ein wenig ihre Position, er sprach zwei weitere Worte zu der Pflanze, erst dann ließ er ihren Stiel los. 160 »Lassen Sie mich Ihnen eine Erfrischung anbieten«, sagte er und führte die Gruppe durch den Garten zu einer größeren Lichtung mit flachen Hockern und Sitzstangen. Auf einem kleinen Tisch standen Metallbecher und ein Krug. Die Menschen nahmen auf den Hockern Platz, Rrith blieb in ihrer Nähe stehen, während der Hohe Lord h 'geRu einschenkte, jenen Likör, der der Gruppe schon zuvor angeboten worden war. »Bitte, Cousin«, sagte der Hohe Lord zu Rrith, während er die Flügel ein wenig anhob, und deutete auf eine freie Sitzstange. »Schließen Sie sich unseren Gefährten an, um anzustoßen auf ... Was soll es sein, Lord?« »Das überlasse ich gern Ihnen, hi Sse'e«, antwortete Marais. »Aber es sollte ein Hoch auf Lord esLi enthalten.« »Dann auf esLi«, erklärte Sse'e und hielt Rrith einen Becher hin. »esLiHeYar.« Langsam tranken sie den Likör. »Ich selbst bevorzuge egeneh«, sagte Sse'e schließlich. »Es ist so etwas wie ein ... erlesener Geschmack? Sie haben viel erreicht, Admiral. Ich hoffe, es hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet, hierher ins Hohe Nest zu kommen.« »Ganz im Gegenteil, Lord, es ist ein Privileg und eine Ehre.« »Beides gilt erst recht für mich, Admiral. In der kurzen Zeit, in der Sie gegen das Volk Krieg geführt haben, hat sich die Einstellung von Feindseligkeit zu Bewunderung gewandelt, und nun stehen wir mit verbundenen Flügeln auf einem Vorsprung und warten darauf, dass die Acht Winde uns in den Abgrund wehen.« Einen Moment lang hielt er inne. »Ihnen ist sicherlich bekannt, dass das Volk lange vor Ihnen das All bereiste, auch wenn wir erst vor recht kurzer Zeit begonnen haben, die Sterne jenseits unseres Territoriums zu erforschen. So wie alles andere, was wir leisteten, haben auch unsere Erkundungen unseren Glauben an unseren Platz im Universum und an unsere Beziehung zu Lord esLi gestärkt. Vor sechzig Jahren Ihrer Zeit änderte sich das schlagartig. Die Präsenz der Menschen, ja, allein schon ihre Existenz 160 stellte eine Bedrohung für das Volk dar. Nicht nur, was unsere Lebensart anging, sondern vor allem, was den Glauben betraf, der uns einte. Nach dieser Entdeckung hatte mein Vater, der nun eins ist mit esLi, einen Traum. In ihm erschien esLi, der Sein Gesicht abgewandt hatte, und sagte unserem Hohen Lord, die Plage mit Namen Menschheit müsse ausgelöscht werden, sonst würden wir alle idju sein. Sie müssen nur unseren Cousin hier fragen, was es heißt, idju zu sein, se Rrith, ich bin mir sicher, es ist Ihnen unangenehm, hier in meinem Garten zu sein, während Ihr Status in Frage steht.« Rrith antwortete nicht sofort, doch der Hohe Lord schien geduldig zu warten. Schließlich sagte er leise: »Ich denke nicht, dass mein Status in Frage steht, Hoher Lord. Als es mir nicht gelang, das saHu 'ue zu aktivieren, wurde mein Status eindeutig.« »Da widerspreche ich Ihnen«, gab der Hohe Lord zurück. »Ihr Status unterscheidet sich nicht von meinem oder dem des ganzen Volks in genau diesem Augenblick.« »hi Sse'e ...?« Rrith stellte seine Flügel in eine ungewöhnliche Position. »>Eine einzelne Träne wird vom Ozean verschluckt««, zitierte der Hohe Lord. »Das Volk hat sich einer schrecklichen Konfrontation stellen müssen, die durch das Einschreiten des Admirals ausgelöst wurde. Wir sind hi'idju, mein junger Cousin. Wir sind als Volk entehrt. So wie du sieht sich auch der Rest des Volks mit der Gewissheit konfrontiert, dass alles, wofür sie gekämpft haben, dass jedes Ziel, das wir mit dem Krieg gegen die naZora'i verfolgt haben, zu Staub zermahlen wurde.« Der Hohe Lord wandte sich Marais zu: »Für einen vom Volk ist idju schlimmer als der Tod. Es ist die Verdammung zum unerträglichsten Leben, das man sich vorstellen kann. Wir haben immer geglaubt, die Gunst von esLi nur zurückgewinnen zu können, indem wir gegen Sie kämpfen und Sie vernichten. esLis Gunst wiederzuerlangen war für uns das Wichtigste überhaupt. Immerhin hatte esLi Selbst es uns aufgetragen. Und doch haben wir versagt. 160 Nun sind wir hi'idju - nach unserem eigenen Urteil. Wie jeder weiß« - der Hohe Lord warf Rrith einen vielsagenden Blick zu »gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit, um esLis Gunst zurückzuerlangen: die Selbstzerstörung.« »Das würde ich niemals verlangen«, sagte Marais leise. »Es ist nicht an Ihnen, das zu verlangen, und es ist nicht an uns, das von Ihnen zu erwarten, Admiral.« Diesen Titel schien er vorsätzlich zu verwenden, anstatt ihn esHu'ur zu nennen. Der Hohe Lord fuhr kurz seine Krallen aus, als müsse er Wut oder vielleicht Frustration unterdrücken. »Als Sie die Führung über Ihre Flotte
übernahmen, war dies ein aLi'e'er'e: die Wahl der Fluges. Wären Sie einer vom Volk, dann würden wir natürlich rückblickend -sagen, dass der Lord des Hellen Kreises Sie zu dieser Position geführt hat. Als Sie Ihre Vorgehensweise wählten und nicht davor zurückschreckten, das zu tun, was wir für zu geschmacklos, zu unangenehm für die Menschen hielten, war dies auch ein aLi'e'er'e. Aus Gründen, die wir nicht kennen, ließ esLi es in seiner Weisheit zu, dass sich dieses Ereignis zutragen konnte.« Er deutete auf Chris Boyd, der überrascht dreinblickte, als das Gespräch auf ihn kam: »Als Ihr junger Soldat das esLiHeShuSa'a benutzte und einen Moment lang seinen Geist mit meinem verschmelzen ließ, war dies auch ein aLi'e'er'e, das zwar nicht von Ihnen beabsichtigt war, was uns aber durch einen Zufall ein entscheidendes Mittel für ein gegenseitiges Verstehen bescherte. Und zu der Zeit, als Sie auf der Brücke Ihres Flaggschiffs standen und sich vor Ihnen Ka'ale'e Hu'ueru in der leeren Klaue des Alls befand, die Sie die Verwerfung nennen, da hätten Sie diejenigen vernichten können, die Sie als die Dunkle Schwinge anerkannten, als esHu'ur. Sie taten es aber nicht, und das war das wichtigste aLi'e'er'e von allen. War es nicht mein Cousin, der Ihnen sagte, das Volk werde sich selbst auslöschen, wenn esLi das so will oder wenn esHu'ur es ihm befiehlt?« »Ja, hi Sse'e. Und ich erwiderte darauf, ich würde so etwas niemals befehlen.« 161 »Sie haben Wort gehalten. Ihr Handeln zeigte Mitgefühl und Gnade. Doch das sind keine Eigenschaften von esHu'ur, dem Zerstörer. Waren Sie nicht besorgt, Ihre Behauptung, die Dunkle Schwinge zu sein, könnte in dem Moment zum Scheitern verurteilt sein?« Marais schwieg lange, als müsse er seine Worte erst mit Bedacht wählen. »Ich sprach damals die Wahrheit, Hoher Lord, so wie ich es hoffentlich jetzt auch tue. Wenn ich derjenige bin, der zu sein ich behaupte, muss ich dies dann bis zu seinem logischen und schrecklichen Ende führen? Wollen Sie das damit sagen? Werden Sie mich nur als die Dunkle Schwinge akzeptieren, wenn Sie für mich sterben müssen? Ich bin nicht nach Zor'a gekommen, um einer Hinrichtung oder einem Massenselbstmord beizuwohnen. Es muss doch sicherlich noch einen anderen Weg geben.« Irgendwo im Garten stieß ein Vogel einen fröhlichen Pfiff aus. Der Hohe Lord hielt inne und legte den Kopf schräg, lauschte aufmerksam, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Menschen. »In unserer Literatur und Kultur gibt es eine feste Tradition, die sich »Verdammung zum Leben« nennt. Als jemand, der in unseren Traditionen bewandert ist, wird Ihnen dies sicher bekannt sein. Auch für diejenigen, die idju sind, gibt es die Möglichkeit der Wiedergutmachung, wenn Lord esLi es will. Da esLi viel weiser ist als wir und Seine Gründe den Sterblichen nicht immer bekannt sind, befiehlt Er manchmal einem vom Volk, sich nicht zu vernichten, damit er für einen höheren Zweck weiterleben kann. Admiral, ich glaube, dass alle vom Volk genau auf diese Weise gerufen worden sind, auch wenn ich den Grund dafür noch nicht kenne.« »Woher wissen Sie das?« »Vor einem Bruchteil eines Mondes hatte ich einen Traum, in dem Sie und Ihre Begleiter eine wichtige Rolle spielten. Sogar mein Cousin se Rrith war anwesend.« Er drehte sich zu Rrith um, als wolle er etwas zu ihm sagen, fuhr dann aber an Marais gewandt fort: »Admiral, Ihr Traumbild sprach zu mir und sagte mir, wir müssen uns treffen und etwas bespre 161 chen. Ich glaube, esLi sprach durch Sie zu mir, da Er Sie als eine traditionelle Figur in unserem Glauben zeigte.« »Die Dunkle Schwinge«, sagte Marais. »Nein, Admiral. Dieses Gespräch würde völlig anders verlaufen, wenn das der Fall wäre. In meinem Traum waren Sie nicht die Dunkle Schwinge, sondern die Helle Schwinge, die Leben gibt und die den Verstand öffnet. Darum glaube ich, dass Sie und Ihre Flotte nicht als Zerstörer hergekommen sind, sondern um Leben zu geben. esLi hat die Zor zum Leben verdammt, und nun sind sie bereit, Ihnen zu folgen, der Hellen Schwinge, die ihren Verstand öffnen und ihr Leben verändern wird.« Marais war sprachlos; er wirkte fast so, als seien diese Worte wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Abrupt stand er auf, sah erst seine Offiziere, dann Chris Boyd, Rrith und schließlich den Hohen Lord an. »Lord Sse'e, ich ...« Er fuhr sich durch sein silbergraues Haar. »Ich weiß nicht...» »Bedenken Sie eines, Admiral.« Der Hohe Lord veränderte ein wenig seine Position auf der Sitzstange und spreizte die Flügel, um die Balance zu wahren, dann legte er die Klauenhände in den Schoß. »Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, an dem sich die jeweilige Geschichte unserer beiden Spezies kreuzt. Dies ist so wie alle anderen Situationen, die ich Ihnen beschrieb, ein aWe'er'e, die Wahl des Fluges. Als wir Ihrer Spezies zum ersten Mal begegneten, wurden wir von dem Glauben angetrieben, wir müssten sie auslöschen, weil Lord esLi es uns gesagt hatte. Es stand nicht im Widerspruch zu dem, was wir schon immer geglaubt hatten und was ein fester Teil unserer Kultur war. Es stand im Einklang mit der Gewalttätigkeit unserer Kultur
und mit der Art, wie wir schon immer unseren Äußeren und Inneren Frieden erreicht hatten. Ich bin jedoch zu dieser Ansicht gelangt: Da Sie die Fähigkeit besitzen, uns zu vernichten - es aber nicht getan haben -, arbeiten auch Sie im Sinne von esLi, dessen Absicht es war, dass wir von Ihnen besiegt werden und Ihrer Gnade ausgelie 162 fert sind. Nun ist für uns der Zeitpunkt gekommen, unseren Blick auf das Universum weiter zu fassen. Sie als die Helle Schwinge werden uns dazu bringen und uns helfen zu überleben, damit wir esLi auf die Art und Weise dienen, die Er für uns vorgesehen hat.« »Und was genau bedeutet das, hi Sse'e?« Marais sah den Hohen Lord eindringlich an. »Was ist, wenn in fünfzig Jahren ein anderer Hoher Lord beschließt, dass wieder die Zeit gekommen ist, um Krieg gegen die Menschheit zu führen?« »Warum sollten wir das wieder versuchen, Admiral? Der Gedanke ist müßig. Zweifellos werden die Menschen dieser Zeit uns dann nicht verschonen. Wir glaubten immer, die Menschheit sei nicht zu dem fähig, was Sie getan haben. Diesen Fehler werden wir niemals wiederholen. Um das sicherzustellen, habe ich beschlossen, Ihnen etwas zu überreichen, das Ihre Position jedem im Volk klar macht.« Der Hohe Lord stand auf und ging dorthin, wo Sergei und Marc Hudson schweigend standen. Hinter ihnen auf einer erhöhten Plattform stand ein schmales, langes Metallbehältnis, das mit hRni'i überzogen war. Sse'e nahm die Kiste und brachte sie zu Marais. Weder Rrith noch Chris Boyd konnten verhindern, hörbar nach Luft zu schnappen. Beide mussten wissen, was nun kam. Marais öffnete den komplizierten Verschluss und klappte das Behältnis auf. In ihm lag ein Schwert, das in einer kunstvoll verzierten Scheide steckte und unübersehbar eine größere Bedeutung besaß als das ehya des Hohen Lords. Die Menschen im Garten konnten die Macht spüren, die dieses Schwert ausstrahlte, da die Atmosphäre mit einem Mal wie elektrisch aufgeladen war. Rrith stand wie angewurzelt da, unfähig, den Blick vom Schwert abzuwenden. »Dies ist das gyaryu, das Reichsschwert«, sagte der Hohe Lord und bedeutete Marais, es aus dem Behältnis zu nehmen. »Eine Tradition des Volks besagt, dass Lord esLi in der Zeit der sich Bekriegenden Nester den großen Helden Quü in die Ebene der Schmach 162 schickte, damit er das Schwert aus der Feste von esGa 'u, dem Täuscher, zurückholte. Nach Qu'us Tod wurde das Schwert dem Krieger anvertraut, den esLi als seinen neuen Träger auserkoren hatte - nicht dem Größten, nicht dem Stärksten, auch niemandem, der es falsch führen würde. Der Krieger, der es führt, wird Gyaryu'har genannt, und er ist derjenige, der das Versprechen der Hellen Schwinge personifiziert - der Erlöser des Volkes. Sie werden der Gyaryu 'har sein, Admiral, denn esLi hat Sie auserkoren.« »Ich... ich muss erst darüber nachdenken...« »Dann soll es so sein«, antwortete Sse'e. »Aber wenn Sie diese Rolle annehmen, diese wundervolle Last, dann wird der Krieg zwischen Ihrem Volk und meinem für alle Zeit vorüber sein.« Der Hohe Lord hielt Marais eine Klauenhand hin. Marais ergriff die Klaue des Hohen Lords. »Kommen Sie, Admiral«, sagte Sse'e HeYen. »Ihr Volk wartet.« Als Reaktion auf die Türglocke hörte Sergei die Stimme des Admirals. »Herein.« Die Tür öffnete sich, und er trat ein. Admiral Marais saß auf einem Behelfsstuhl, der versuchte, sich an ihn anzupassen. Neben ihm auf einem kunstvollen Gestell lag das gyaryu, das Reichsschwert der Zor. Stuhl und Gestell befanden sich auf der obersten Stufe einer breiten Treppe, die nach nirgendwo führte, was auf gewisse Weise für den ganzen Raum zutraf, den die Zor ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Er setzte sich aus einer Vielzahl von Plattformen zusammen, die alle so angeordnet waren, dass sie im Raum mal nach oben, mal nach unten führten. Auf einigen von ihnen standen Möbel, zum Beispiel breite Sitzstangen und Hocker, während andere völlig leer waren. An einer Wand hing eine steinerne Scheibe mitten in der Luft, die Platz genug bot, damit ein Zor dort aufrecht stehen konnte. Die Wand dahinter wies einen schwachen Orangeton auf, womöglich um die Morgenröte von Antares anzudeuten. 162 »Sie wollten mich sprechen, Sir.« »Ja.« Marais deutete auf einen Platz ihm gegenüber, woraufhin sich Sergei einen Weg durch den Raum bahnte, um zum Admiral zu gelangen. Als er saß, legte er seine Uniformmütze auf einen Tisch gleich neben sich.
»Etwas zu trinken?« »Nein, danke, Sir.« »Commodore«, begann er dann. »Ich brauche dringend einen Rat.« »Ich werde gerne tun, was ich kann, Sir.« »Der Hohe Lord hat mich vor ein Dilemma gestellt.« Marais sah Sergei mit einer Mischung aus Sorge und Überraschung an. »Als wir hierher nach Zor'a kamen, da war das Kriegsende eine Selbstverständlichkeit. Die Zor sahen sich einer überlegenen Streitmacht gegenüber, und sie hatten der Flotte und vor allem mir mythische Bedeutung zugeschrieben. Wir standen kurz davor, die Zor auszulöschen oder sie dazu zu bringen, sich selbst zu vernichten. Doch aus dieser bemerkenswerten Entwicklung entstand auf einmal etwas völlig Unerwartetes. Anstatt nur wählen zu können, die Zor auszulöschen oder einen Massenselbstmord mitzuerleben, hat der Hohe Lord mir dies gegeben.« Er zeigte auf das gyaryu. »Es ist ein Zeichen für ihren Glauben an eine neue Richtung für das Volk, für ein neues Verständnis zwischen ihnen und unserer Spezies. Doch es ist mehr als nur das. Viel mehr sogar.« Ein sonderbarer Ausdruck legte sich über Marais' Miene, als er diese Worte sprach. »Ich bin mir nicht sicher, dass ich Sie verstehe, Sir.« »Es ist keineswegs klar, ob überhaupt irgendein Mensch das wirklich verstehen kann. Ich muss es aber versuchen. Ich muss es versuchen. Die Zor haben mir ein Artefakt von großer symbolischer Bedeutung übergeben, aber es steckt mehr dahinter. Sie haben mir ein Symbol gegeben, das mich vor dem Volk legitimiert, damit es aus dem Gefängnis der Schmach entkommen kann, in das es sich mit meiner Hilfe manövriert hat. Wenn ich das gyaryu 163 akzeptiere, dann werden die Zor akzeptieren, dass der Krieg für alle Zeit vorüber ist. Wenn ich es nicht akzeptiere, werden die Zor erneut als Volk mit einer kollektiven Schande konfrontiert - als hi'idju. Aus diesem Dilemma führt womöglich nur ein Weg heraus. Wenn ich das gyaryu ablehne, werden die Zor wahrscheinlich als Spezies aufhören zu existieren, weil sie entweder ihrem Leben ein Ende setzen oder aber den Krieg weiterführen.« »Wäre das die einzig mögliche Konsequenz, Mylord«, sagte Sergei, »dann würden Sie das Schwert ganz einfach annehmen.« »Sehr richtig. Denn das ist nicht alles. Sie haben gehört, was der Hohe Lord über den Gyaryu'har sagte - was er macht, was er ist. Ich würde die Helle Schwinge repräsentieren, den Erleuchter von esLis Pfad.« »Ich weiß nicht, ob mir die Bedeutung der Hellen Schwinge klar ist, Sir. Wenn esLi das Prinzip des Guten ist, und wenn esGa 'u das Böse verkörpert, welche Rolle spielen dann die Helle und die Dunkle Schwinge?« »So wie alles in der Kosmologie der Zor ist das schwierig zu erklären. Die Zor kennen nicht nur zwei, sondern vier bedeutende Mächte - ich weiß nicht, ob man sie als Gottheiten bezeichnen kann -, die alle am enLi'hiRe teilhaben, dem Flug des Volks. An oberster Stelle steht esLi, der Bringer des Lebens, der Lord des Goldenen Kreises. esLi verkörpert Perfektion und die Harmonie von Innerem und Äußerem Frieden. Er ist das Wesen, mit dem die Zor am Ende eins werden wollen. Fühlende Zor sagen, dass ein Großteil des hsi eines Zor, seine Lebensenergie, mit dem Tod ein Teil von esLi wird.« »Ein Überwesen, wenn man so will.« »Ja, genau, esli ist die Verschmelzung der Lebensenergie aller Verstorbenen des Volks, und damit ist er die Quelle der Kraft, der Inspiration und der Präkognition. Der Hohe Lord soll durch vorhersehende Träume von esLi geführt werden. Am anderen Ende des Spektrums findet sich esGa'u, der Täuscher. Er wird als genialer Hexenmeister dargestellt, einer von denen, die sich weigerten, 163 den Verlust zu akzeptieren, der mit der Vereinigung mit esLi einherging.« »Satan.« »Das ist zwar ein Anthropomorphismus, aber es ist eine passende Parallele. Auf jeden Fall beschlossen er und seine Anhänger -die esGa'uYal, ein Begriff, mit dem sie oft unsere Spezies bezeichnen -, Ausgestoßene zu werden. Die Rolle des Täuschers besteht darin, esLi zu trotzen und hsi zu stehlen, die esLi nur noch stärker machen könnten.« »Sie sprachen von vier Mächten.« »Richtig. Zu beiden Seiten dieser Achse gibt es je ein Wesen, esTli'ir und esHu'ur, die Helle und die Dunkle Schwinge. Während esLi und esGa'u die aktiven Mächte von Gut und Böse zu personifizieren scheinen, sind die Helle und die Dunkle Schwinge Symbole für nichtpersonifizierte Mächte, etwa wie ein Sturm oder eine Ernte. Sie sind weder gut noch böse, aber sie sind so eng miteinander verbunden, dass weder esLi noch esGa'u dauerhaft etwas gegen sie ausrichten kann.« »Glauben sie deshalb, Sie könnten sie vernichten, obwohl esLi -wie ich vermute - allmächtig ist?«
»Nach allem, was ich weiß, ist es genau so. esLi kann einen Hurrikan nicht verhindern, und er kann auch nichts gegen die Zerstörung ausrichten, die esHu 'ur mit sich bringt. Aber esGa 'u kann keine verheerende Seuche verursachen, und er kann auch nicht die Erleuchtung für den richtigen Weg geben, was wiederum esTli'ir kann. In den Legenden der Zor gelingt es esGa'u sogar, die Helle Schwinge für eine Weile gefangen zu nehmen, doch dann muss er feststellen, dass die Dunkle zur Hellen Schwinge und umgekehrt geworden ist, sodass seine Ebene der Schmach entsprechend leidet, während die Welt hier oben in Sicherheit ist. In einem der alten Texte über die vier Mächte werden diese mit den Körperteilen eines Zor verglichen. esLi ist dabei der Kopf, esGa'u stellt die Füße dar, während esHu'ur und esTli'ir die Flügel bilden. esLi und esGa 'u ziehen in entgegengesetzte Richtungen, während die 164 beiden Flügel schlagen. Ein disziplinierter Zor wahrt das fest im Zentrum.« Sergei dachte einen Moment lang über Marais' Erläuterungen nach, dann entgegnete er: »Was soll das bedeuten, dass Sie die Helle und die Dunkle Schwinge zugleich sind? Was hat das zu sagen?« »Ich vermute, es ergibt durchaus einen Sinn.« Marais beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und nahm damit eine für einen Admiral gänzlich unpassende Pose ein, eine Art Anti-zazen. »Wenn die Helle und die Dunkle Schwinge so eng miteinander verbunden sind, wäre es nur logisch, sie als ein und dasselbe Individuum darzustellen. Es wirft auf jeden Fall ein ganz anderes Licht darauf, wie die Zor die Menschheit und mich sehen. Und es stellt unsere momentane Beziehung zum Sol-Imperium ganz anders dar.« »Verzeihen Sie, Admiral, aber das ist mir nicht klar. Wir haben beide von Okome gehört, was der Abgeordnete Hsien gegenüber Captain MacEwan gesagt hat. Mit Blick auf die Meinung im Imperium über uns ist es wohl kaum von Bedeutung, wie wir zu den Zor stehen. Wenn überhaupt, dann haben wir aus den Zor nach Meinung der Mehrheit nur noch unversöhnlichere Feinde gemacht.« »Okome sagte auch, Hsien erwarte von mir den Anspruch auf den Thron und wolle mir dabei im Gegenzug für gewisse Zugeständnisse den Rücken stärken. Doch wenn ich das mache, dann legitimiere ich den Krieg lediglich, aber ich würde ihn nicht rechtfertigen. Hier bietet sich die Gelegenheit zu einem Durchbruch.« Er sah Sergei unvermittelt an. »Wir haben die Gelegenheit, uns gegenseitig zu verstehen. Das hat es sechzig Jahre lang nicht gegeben. Wir haben dicht vor dem Abgrund gestanden, aber wir konnten uns wieder von ihm entfernen. Ein Staatsstreich gegen den Imperator würde auf lange Sicht nur den Eindruck erwecken, dass ich den Konsequenzen meiner Meuterei und meines Verrats aus dem Weg gehen wollte. Zumindest für die Zor wäre damit klar, 164 dass wir nicht im Namen der Menschheit als Spezies gehandelt haben. Für einen zukünftigen Imperator wäre es möglich, den Konflikt wieder aufflackern zu lassen, vielleicht sogar in den gleichen Dimensionen wie bei diesem Feldzug. Wenn hi Sse'es Überzeugung stimmt, dann müssen Menschen und Zor enger zusammenrücken, um einen gemeinsamen Feind zu schlagen. Meine eigenen Erfahrungen stützen diese Überzeugung.« »Mylord, ich muss Sie darauf hinweisen, dass auf die Männer und Frauen dieser Flotte nach wie vor gravierende Konsequenzen warten, wenn Sie sich einfach in den Hintergrund zurückziehen.« »Ich bin mir dessen bewusst, Commodore.« Er stand auf und ging zu einem hohen Balkon, von dem aus man die Empfangshalle des Hohen Nestes überblicken konnte. Auf halber Strecke wandte er sich um, als studiere er eine dramatische Geste ein. »Es ist nicht meine Absicht, mich einfach zurückzuziehen. Ich glaube, es gibt einen Ausweg aus dieser Sackgasse, der alles bewahren kann, was wir erreicht haben, und der den Weg zu einer Freundschaft zwischen unseren beiden Spezies ebnet. Und der die Ehre aller Beteiligten wahrt, sogar die unseres neuen Freundes Hsien.« »Ich möchte zu gern hören, wie dieser Ausweg aussieht, Sir.« Mehr als dreißig Parsec entfernt lehnte sich Tomas Hsien an Bord der IS Cameron in seinem Sessel zurück und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen. Für ihn und auch für die Abgeordneten, die ihn hierher nach Aanenu geschickt hatten, war es offensichtlich, dass es für Marais nur einen Ausweg gab: Er musste zurückkehren und den Thron beanspruchen, so wie es Willem McDowell fast zweihundert Jahre zuvor gemacht hatte. Aber trotz der militärischen Schlagkraft war auch McDowell auf die Unterstützung durch die Vollversammlung der UN angewiesen gewesen, um eine Mehrheit der Menschen auf seine Seite zu ziehen, Imperator zu werden und ein noch schlimmeres Blutbad zu verhindern. Dieser zukünftige Imperator würde ebenfalls Hilfe benötigen, davon war Hsien überzeugt. Und wenn er dann endlich seinen aris 164
tokratischen Hintern auf den Thron gehievt hatte, würde er Beratung benötigen - von der Art, mit der Hsien ihn nur zu gern versorgen würde. Hsien lächelte einem Buddha gleich und schloss die Augen, während er sich vorstellte, wie das neue Gesicht des Sol-Imperiums aussehen würde. 165
19. Kapitel Sprung-Scanaufzeichnung, 10/01/2311, 1927 Standard: Dreiundvierzig Schiffe an der Sternenbasis Kensington eingetroffen. Vierunddreißig Schiffe mit imperialer Identifizierung [Ident-Signaturen beigefügt]. Sprung-Scanaufzeichnung, 10/02/2311, 1134 Standard: Dreiundvierzig Schiffe von der Sternenbasis Kensington abgeflogen. Sprung-Scanaufzeichnung, 10/04/2311, 1103 Standard: Dreiundvierzig Schiffe an der Sternenbasis Cor Caroli eingetroffen. Vierunddreißig Schiffe mit imperialer Identifizierung [Ident-Signaturen beigefügt]. Sprung-Scanaufzeichnung, 10/04/2311, 2256 Standard: Dreiundvierzig Schiffe von der Sternenbasis Cor Caroli abgeflogen. Die Alarmsirene ertönte unüberhörbar auf allen Schiffen, sie hallte durch die Korridore, in den Lagerräumen und den Hangars sowie über das Interkom. Piloten griffen sich ihre Anzüge und rannten zum Cockpit, Raumschiffe gingen auf Alarmstufe Rot und schwenkten in lange vorausberechnete Orbits, Shuttle- und Beibootbesatzungen liefen zu ihren Fahrzeugen und machten sich bereit, auf Befehl zu starten. Die Flugkontrolle war einen Moment lang überlastet, doch die Präzision, die den Besatzungen im Verlauf von monatelangen Übungen eingeimpft worden war, machte deren Arbeit fast schon überflüssig. 165 Michael Mbele war an Bord des Raumschiffs Charlemagne, als die Sirene losging. Die »Charlie«, wie das Schiff von seinen Offizieren und der Crew genannt wurde, war auf einem routinemäßigen Patrouillenflug zwischen der Pluto-Basis und Sprungpunkt Nummer sechs des Sol-Systems unterwegs gewesen, der bei der momentanen Position dem eisigen äußersten Planeten am nächsten war. Mbele hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, hier am Rand des Systems alle seinem Kommando unterstellten Einheiten zu besuchen. Als die Schiffe endlich auftauchten, sagte er sich, dass er davon ausgegangen war, in diesem Moment an seinem Schreibtisch zu sitzen und irgendein verdammtes Memo zu schreiben. Jetzt stand er auf der Brücke und sah mit an, wie an allen Stationen hektische Aktivität ausbrach. Noch gab es keinen visuellen Kontakt zu den Eindringlingen, doch auf dem Pilotendisplay sah Mbele gut zwei Dutzend Lichtpunkte, die noch eine halbe Million Kilometer entfernt waren. Die Transponderkodes ließen erkennen, dass sie sehr schnell flogen, mindestens halbe Lichtgeschwindigkeit, und dass ihr Kurs direkt ins Schwerkraftfeld des Sol-Systems führte. Während er das Display beobachtete, tauchten weitere Lichtpunkte auf. Halbe Lichtgeschwindigkeit bedeutete, dass sie einen langen Sprung hinter sich hatten. Nach der Länge des Sprungs und nach der Anzahl der Schiffe zu urteilen, musste es Marais' Flotte sein. Der alte Drecksack von McMasters hatte tatsächlich Recht gehabt: Marais kehrte ins Sol-System zurück, vermutlich um den Thron des Imperators für sich zu beanspruchen. Es war perfektes Timing. Die imperialen Wachen hatten bereits einem halben Dutzend Angriffe von Terroristen auf Oahu und andere imperiale Einrichtungen getrotzt; die Versammlung war längst aufgelöst, ihre Mitglieder hatte man nach Hause geschickt. Der zivile Verkehr war fast zum Stillstand gekommen, während Demonstranten, die gegen das Verhalten der Regierung protestierten, in Gruppen durch die Städte zogen und mal für Marais, mal für den Imperator und mal für sonst wen den Strick forderten. 165 Totaler Irrsinn - und das alles nur wegen eines Mannes, der eigentlich nur sein angekündigtes Versprechen in die Tat umgesetzt hatte! Und jetzt war er zurück, der Zerstörer einer ganzen empfindungsfähigen Spezies, und er hatte seine Flotte mitgebracht. Er war zurück, um die Macht an sich zu reißen. Mbele griff in seine Uniformjacke und zog ein Päckchen hervor. Mit dem rechten Daumen öffnete er die Versiegelung, dann zog er ein Blatt Papier heraus, einen echten Briefbogen der Admiralität: seine Befehle für den Fall, dass das Unvermeidliche eintrat. Das Päckchen war nie weiter als fünf Meter von ihm entfernt gewesen, seit McMasters es ihm vor einem Monat gegeben hatte. Der Befehl war knapp, aber präzise formuliert. »Chan, Bericht.« »Kurzstrecken-Scans zeigen bislang sechsunddreißig eingetroffene Schiffe an, Commodore, darunter alle neun Zor-Schiffe. Die Verteidigungsflotte ist losgeschickt worden und befindet sich auf Abfangkurs.« »Wer hat das Kommando?«
Chan berührte eine Tastatur neben der Station des XO. »Ein Captain Mbele befehligt die Pluto-Basis, Sir.« »Michael Mbele?« »Richtig, Commodore.« Der Admiral hatte sich bislang schweigend im hinteren Teil der Brücke aufgehalten und der Unterhaltung zugehört. Nun beugte er sich vor und fragte: »Kennen Sie ihn?« »Er war als Offiziersanwärter auf der Gustav Adolf, Admiral.« Sergei drehte sich mit seinem Sitz um, damit er Marais ansehen konnte. »Er ist ein guter Offizier.« »Schießwütig?« »Nein, Sir, ganz im Gegenteil. Sehr ausgeglichen. Ich weiß, dass Admiral McMasters immer sehr wohlwollend von ihm gesprochen hat. Sein Posten dort spricht für sich.« »Das ist wohl wahr.« Marais kniff die Augen zusammen und sah 166 auf das Pilotendisplay, das anzeigte, dass die Schiffe auf Abfangkurs sich näherten. »Ihre Befehle, Admiral?« »Öffnen Sie einen Kanal zu diesem Captain Mbele. Alle ein Viertel Kraft voraus.« »Aye-aye, Sir.« Der Kommunikationsoffizier der Charlie drehte sich abrupt um. »Die Lancaster ruft uns, Captain«, meldete er und wartete auf Mbeles Reaktion. »Annehmen, Ensign.« »Bild kommt jetzt, Sir.« Nahe dem Pilotendisplay der Charlie nahm ein 3-V-Bild Gestalt an, das den Ausschnitt einer anderen Brücke zeigte. »Hier spricht Captain Michael Mbele, Befehlshaber der...« Auf einmal hielt er inne. »Commodore Torrijos.« »Hallo, Michael.« »Commodore Torrijos, Ihre Flotte gilt als geächtet. Es ist meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie nach imperialem Kriegsrecht unter Arrest stehen. Machen Sie sich bereit, zu stoppen und uns an Bord kommen zu lassen.« Mbele erwartete nicht allen Ernstes, dass man seine Anordnung befolgen würde. Immerhin war die Flotte seit nunmehr drei Monaten geächtet und hatte hunderte von Lichtjahren zurückgelegt, um nun den imperialen Thron an sich zu reißen. Es war aber seine Pflicht, diese Aufforderung offiziell zu übermitteln. »Wir werden nicht über unseren Status und über Ihr Recht diskutieren, diese Forderungen zu stellen. Allerdings werden wir zu diesem Zeitpunkt nicht gestatten, dass irgendjemand an Bord kommt.« »Dann muss ich leider...« »Verdammt noch mal, nicht so schnell!«, fiel Sergei Mbele ins Wort. »Wir werden uns bereit erklären, in einen engen Orbit zum nächsten Sprungpunkt einzuschwenken, und nicht ins Schwer 166 kraftfeld fliegen, wenn Sie einen vernünftigen Abstand zu uns wahren.« »Sie haben kein Recht, irgendwelche Forderungen zu stellen.« »Das mag stimmen, Michael. Aber wir haben genug Feuerkraft, um Forderungen zu stellen. Und wir werden alles tun, was notwendig ist, um Sie daran zu hindern, irgendwelche Schiffe unserer Flotte zu betreten. Und nun habe ich eine Bitte an Sie.« »Eine Bitte?« »Admiral Marais möchte mit Admiral McMasters über den Auftrag unserer Flotte und der unserer Verbündeten reden.« »»Verbündete«?« Mbele sah auf das Pilotendisplay, das einige Dutzend Lichtpunkte in dichter Formation zeigte. Mindestens fünfzehn von ihnen waren als feindliche Schiffe gekennzeichnet. »Wer...?« »Einige Schiffe der Zor haben uns begleitet.« »Die Zor? Verbündete?« »Ja, richtig. Der Krieg ist aus, Michael. Und jetzt geben Sie mir McMasters.« Das Observatorium im Orbit um Pluto war in aller Eile evakuiert worden. Die zwei Dutzend Astronomen, die dort arbeiteten, waren innerhalb von zwei Stunden nach Eintreffen der geächteten Flotte von einem Militärtransporter abgeholt worden. Nun befand sich dort nur noch ein halbes Dutzend Marines, von denen Ted McMasters wusste, er konnte ihnen vertrauen. Es war keine Nebensächlichkeit, die auf ihn wartete, verlangte doch seine Loyalität gegenüber dem Imperator, dass er nicht in die Gewalt eines Mannes geriet, der zum Staatsfeind erklärt worden war. Hinzu kam, dass er einen ausgeprägten Überlebensinstinkt besaß. Jemand, der eine empfindungsfähige Spezies komplett ausgelöscht hatte, würde nicht davor zurückschrecken, auch ihn ins All zu stoßen. Von der Brücke der Station aus konnte McMasters die Barkasse des Admirals sehen, die sich zum Andocken bereitmachte. Sie war 166
unbewaffnet, wie Marais und Mbele es vereinbart hatten. Außerdem war die Flotte auch auf Abstand geblieben. Welches Spiel trieb Marais da bloß? Er hatte die Macht auf seiner Seite, das halbe Sol-System stand unter Kriegsrecht oder demonstrierte gegen den Imperator. McMasters umfasste das Geländer vor dem Sichtfenster und betrachtete seine Hände. Die Schwielen und Brandnarben waren ein wenig verblasst, seit er sich seiner Schreibtischarbeit widmete, doch die Adern und Muskeln traten unverändert deutlich hervor. Über dreißig Jahre hinweg hatte er sich Schritt für Schritt bis zu einem Flaggoffizier hochgearbeitet, und darauf war er stolz. Er besaß die Narben und den Lebenslauf, der seine Ergebenheit gegenüber dem Imperium bewies. Er hatte ohne Zögern oder Zaudern gegen den Feind gekämpft. Dennoch schien es ihm unbegreiflich, dass Marais die Zor hatte besiegen können. Unbegreiflich war für ihn und sicher auch für die meisten seiner Mitbürger - aber auch die Art und Weise, wie die Flotte vorgegangen war. Die Bilder von den Zor-Welten entlang der Grenze hatten ihm schwer zu schaffen gemacht. Dabei störte ihn weniger die kühle Effizienz, mit der man vorgegangen war. Viel schlimmer waren die brutalen Zerstörungen, die jeder, der so etwas nicht gewohnt war, mit blankem Entsetzen aufnehmen musste. Der Feldzug war mit Perfektion durchgeführt worden. Niemand hätte mehr verlangen können als das, was geleistet worden war. McMasters spürte eine leichte Erschütterung durchs Deck laufen, als die Barkasse an der Station andockte. Aber wer hätte überhaupt einen solchen Feldzug verlangt? Die Antwort kam ihm fast sofort in den Sinn. Nur ein Verrückter könnte so etwas verlangen, dachte er. Nur jemand, dessen Verstand von Hass aufgezehrt ist, dessen Entschlossenheit sieh jeglicher Vernunft entzog, da er nur von einem einzigen Wunsch angetrieben wurde - und der seine Ziele bislang nur zum Teil erreicht hatte. 167 Von diesem Gedanken aufgebracht und erschreckt zugleich, wandte sich Ted McMasters vom Geländer ab. Es war Zeit, sich dem Admiral der geächteten Flotte zu stellen. Die Schleusenluke öffnete sich mit einem leisen Seufzer. Zwei Marines kamen heraus und gingen zu beiden Seiten der Tür in Stellung, dann tauschten sie lange Blicke mit McMasters' Marines auf der Stationsbrücke aus. Ihnen folgte Admiral Marais, der eine gewöhnliche Uniform gewählt hatte, dafür aber eine Klinge in einer umso ungewöhnlicheren Scheide trug. Aus einem unerklärlichen Grund war McMasters' Aufmerksamkeit sofort auf diese Waffe gerichtet. Marais kam auf ihn zu und salutierte knapp. »Also schön«, sagte McMasters. »Ich bin hier. Was wollen Sie von mir?« »Ich hielt es für das Beste, wenn wir unmittelbar miteinander reden«, erwiderte Marais, ging weiter zur Reling und betrachtete die Sterne auf eine Weise, als hätte er sie noch nie gesehen. »Es gibt nichts, was Sie nicht auch schon Mbele hätten sagen können.« »Tatsächlich«, gab Marais zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Verdammt, ja! Tatsächlich! Was haben Sie vor, Admiral?« McMasters Stimme hatte einen ärgerlichen, fast sarkastischen Beiklang, als er das Wort »Admiral« aussprach. »Oder lassen Sie es mich direkter formulieren: Warum sind Sie hergekommen?« »Die Antwort dürfte Sie überraschen.« »Mich kann gar nichts mehr überraschen, Marais. Nicht mal bewaffneter Widerstand gegen den Imperator.« »Oh, aber darum geht es überhaupt nicht.« Marais drehte sich zu ihm um, doch statt des erwarteten Gesichtsausdrucks, der Hass oder Wahnsinn erkennen lassen würde, sah der Admiral ihn auf eine väterliche, sanftmütige Weise an. »Sie sollen wissen, McMasters, dass ich aus dem besten aller Gründe zurückgekehrt bin: um mich zu verteidigen.« 167 »Und wie?« »Auf die ganz altmodische Art. Vor einem Kriegsgericht, das mich und alle meine Offiziere meiner Meinung nach von allen Vorwürfen freisprechen wird, wir hätten ein Fehlverhalten bei der Umsetzung des erteilten Befehls zu verantworten, die Zor zu besiegen und ihnen die Fähigkeit zu nehmen, das Imperium je wieder anzugreifen. Ich habe meinen Befehl ausgeführt, McMasters. Der Krieg ist vorüber, mein Auftrag ist erfüllt.« McMasters sah zu den beiden Marines an der Schleusentür und dann wieder zu Marais. »Haben Sie den Verstand verloren?« McMasters sprach leise, als würde er Marais gegenüber eine beiläufige Bemerkung machen. »Ist Ihnen eigentlich klar, was Ihnen vorgeworfen wird? Sie sollten schon jetzt tot sein.
Insubordination ist nur der Anfang, Verrat ist noch lange nicht das Schlimmste. Die Auslöschung einer Spezies...«Ihm fehlten die Worte, um das auszudrücken, was ihm durch den Kopf ging. »Darum geht es nicht, sondern um die Befehle, die mir der Imperator persönlich erteilt hat.« Marais griff in seine Uniformjacke und zog ein Päckchen heraus, das die königsblauen Insignien aus Schwert und Sonne zeigte. »Diese Befehle besagen klar und deutlich, dass meine Mission mir im Kriegsgebiet sämtliche Autorität gibt, solange die Notsituation andauert. Und sie ermächtigen mich, alle aus meiner Sicht notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um meine Aufgabe zu erledigen. Ich beharre darauf, dass ich in keiner Weise das in mich gesetzte Vertrauen enttäuscht habe. Nichts lief den Buchstaben dieses Befehls zuwider. Das ist die Grundlage, auf der mich die Imperiale Navy von allen Vorwürfen freisprechen soll.« »Und was habe ich mit diesem Irrsinn zu tun?« »Ganz einfach, McMasters. Als hochrangiger Senioroffizier der Imperialen Navy werden Sie alle erforderlichen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass ich ein gerechtes und dem globalen Recht entsprechendes Urteil bekomme.« 168 »Und wenn ich mich weigere?« »Das halte ich für unwahrscheinlich. Sie werden respektiert und sind ehrlich, und Sie würden einem anderen Offizier nicht ein gerechtes Verfahren verweigern.« »Gerecht?« McMasters stellte sich zu Marais ans Geländer. »Sie wissen gar nicht, was Sie da vorschlagen. Ihnen ist auch nicht klar, was sich hier abgespielt hat, nachdem Sie jede Kommunikation abgebrochen und Zor-Welten jenseits des Randes unseres Imperiums zerstört haben. Es wäre besser gewesen, wenn Sie gar nicht zurückgekehrt wären.« Marais sah McMasters lange an und unterbrach den Blickkontakt erst, als er sagte: »Ich hatte einen Auftrag auszuführen, den mir der Imperator persönlich erteilt hatte. Ich habe diesen Auftrag erfüllt, während hier und anderswo Politiker und Schwächlinge versuchten, mich daran zu hindern. Die Zor sind nicht ausgelöscht worden, und endlich leben wir in Frieden mit ihnen. Ich sollte das wissen, immerhin bin ich jetzt ein Teil ihres Hohen Nestes.« »Was?« Marais wandte sich an einen der Marines, die ihn begleitet hatten. »Würden Sie se Rrith bitten, zu mir zu kommen?« Der Mann nickte, salutierte und verließ die Brücke. »Die Zor sind ein stolzes Volk, McMasters. Es war für sie fast unmöglich zu akzeptieren, dass sie den Menschen unterlegen waren. Die Folge unseres Sieges hätte ein Massenselbstmord der gesamten Spezies sein können. Doch der Hohe Lord hat mir erklärt, es gebe ein höheres Ziel, dem die Zor dienen werden, das aber vielleicht Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte in der Zukunft liegt. Der Hohe Lord ist eine starker Fühlender, der über enorme seherische Fähigkeiten verfügt. Ich glaube, er hat Recht, wenn er sagt, die Begabungen und der Charakter der Zor werde uns in der Zukunft von Nutzen sein, und es sei besser für uns, sie zum Freund anstatt zum Feind zu haben. Was wir geschafft haben, ist niemandem vor uns gelungen. Wir haben die Zor als Freunde gewonnen.« Marais umfasste das Geländer und sah hinaus in die Schwärze 168 des Alls. Lange Zeit schwieg er, als wäge er ab, in welche Richtung er das Gespräch lenken wollte. »Auf unsere eigene Weise haben wir diesen Kampf genauso engstirnig geführt wie die Zor. Für sie war es ein Krieg, der vollständig auf der Angst vor allem Fremden basierte. Frühere Befehlshaberhatten mit halbherzigen Maßnahmen und unbegründetem Vertrauen versucht, die Kluft zu überwinden, die diese Angst zwischen uns hatte entstehen lassen. Meine Taktik mag manchen abgestoßen haben, doch sie hat ihr Ziel erreicht: das Ende aller Feindseligkeiten zwischen Zor und Menschen - und zwar für alle Zeit. Aber es ist möglich, dass dies Konsequenzen einer ganz anderen Dimension nach sich zieht. Das Universum ist nicht leer. Wir könnten auf andere Spezies treffen, die vielleicht wesentlich stärker sind als wir und die auf meine Taktik ebenso wenig eingehen wollen wie auf die friedfertige Politik der Vergangenheit. Vielleicht werden dann die Fähigkeiten unserer beiden Spezies gemeinsam bessere Wirkung erzielen.« »Augenblick mal«, warf McMasters ein. »Wollen Sie mir erzählen, Sie glauben, dass da draußen« - er zeigte auf Pluto und der Arm der Galaxis dahinter - »ein kosmischer Buhmann herumgeistert, der uns unser Essen wegnehmen will und der uns dazu veranlasst, eine Spezies um Hilfe zu bitten, die wir sechzig Jahre lang hartnäckig bekämpft haben? Und das alles nur, weil einer von ihnen das gesehen haben will? Wenn Sie Ihre gesamte Verteidigung vor dem Kriegsgericht auf diesem Hirngespinst aufbauen wollen, landen Sie so schnell
in der Gummizelle, dass Sie nicht mehr wissen, wo vorn und hinten ist. Und ich werde sogar die Einweisung unterschreiben.« »Ich gebe zu, dass es verrückt klingt. Aber ich glaube, ich habe bereits konkrete Hinweise darauf, dass es potenzielle Feinde gibt, die wir bloß noch nicht entdeckt haben.« »Ach ja?« »Sie erinnern sich an meinen Adjutanten, Captain Stone?« »Ja. Was ist mit ihm?« 169 »Er...« »Verzeihung, Admiral«, fiel ihm der Marine ins Wort, der nun von einem Zor in zeremoniellem Gewand und mit weißer Schärpe begleitet wurde. McMasters drehte sich abrupt um und stutzte. »Admiral McMasters«, sagte Sergei, »darf ich Ihnen den Gesandten des Hohen Lords vorstellen, se Rrith ehn TTl'u?« Imperator Alexander Philip Juliano drückte wütend den Ringfinger auf das Pad, woraufhin der große Bildschirm wieder trüb wurde. Er war eigentlich mehr frustriert als verärgert. Seine Regentschaft war nicht einfach verlaufen, und sie war nicht das, was er erwartet hatte, als ihm vor acht Jahren wie aus heiterem Himmel die Regentschaft aufgebürdet worden war. Damals, als sein Vater, Imperator John, plötzlich bei einem hitzigen Streit mit einem seiner Minister den Folgen eines schweren Herzinfarkts erlegen war, hatte er alles noch für leicht und einfach gehalten. Um die Angelegenheit hatte man viel Aufhebens gemacht. Irgendwann im Verlauf der Zeremonie, bei der die Würde des Imperators von seinem verstorbenen Vater auf ihn übertragen worden war, hatte Alexander veranlasst, dass dieser Narr von einem Minister auf Dauer als imperialer Botschafter auf Tolman's World versetzt wurde, einen kalten und einsamen Ort, der so weit vom Hof entfernt lag, wie die Menschheit überhaupt ins All vorgedrungen war. So wie bei diesem Vorfall waren Alexander die Machtwerkzeuge förmlich zugeflogen. Sein Vater hatte ihn gut erzogen. Die Manipulation der Imperialen Versammlung, die großen Konzerne und die vielen verfügbaren Propagandainstrumente hatten ihn freundlich und gerecht erscheinen lassen und ihn fest in seiner Machtposition verankert. Angesichts der Größe des Imperiums war es keine leichte Aufgabe gewesen. Er hatte alles richtig gemacht, bis auf eine Ausnahme. Aber die... Er stand auf und betrachtete den mit Samt bezogenen Thron, 169 der auf dem kleinen Podest stand. Der Audienzsaal war leer und zum Teil in Dunkelheit getaucht. Minister und Höflinge hatte er weggeschickt und dabei genau das Maß an Grobheit walten lassen, das sie alle seiner Ansicht nach verdienten. Eine leichte Brise spielte mit dem Vorhang, Alexander ging ans Fenster und sah hinaus in die Nacht, die vom Mond erhellt wurde. Er hörte die Wellen, die gegen die Klippen von Diamond Head schlugen, während ihn der Gleichschritt der Stiefel auf dem Platz unter ihm an die Wachen erinnerte, die ihn in seinem abgelegenen imperialen Palast vor dem eigenen Volk beschützten. Du musst dir einen klaren Kopf bewahren, ermahnte er sich. Die Kontrolle über die Flotte war einem Verrückten in die Hände gefallen, der eine fremde Spezies fast ausgelöscht hatte. Für einen Moment war vergessen, dass diese Spezies zwei Generationen lang versucht hatte, die Menschheit zu vernichten. Vergessen war auch, dass manche Berater und Minister Marais' Sieg durchaus für einen großen Triumph hielten. Für die meisten Menschen jedoch war es ein Akt von unvergleichlicher Brutalität. Dass Marais ihn in die Tat umsetzen konnte, ließ nur einen Schluss zu: Der Imperator befürwortete diese Vorgehensweise. Und wenn man es genau nahm, dann hatte er ihm ja sogar den Befehl dafür erteilt. Aus Marais dem Schlächter war Alexander der Schlächter geworden. 0 Gott! Alexander stellte sich vor, wie eine Geschichtsstunde in ferner Zukunft aussehen würde ... »Heute nehmen wir die schlimmsten Massenmörder der Menschheitsgeschichte durch: Dschingis Khan, Iwan der Schreckliche, Adolf Hitler, Josef Stalin, Hwa Chiang, Alexander der Schlächter...« Dabei war es doch wirklich nicht seine Schuld. Vielmehr hatte sich Marais abgesetzt und konnte nicht aufgehalten werden, jedenfalls nicht vom Sol-System aus. Er hatte keineswegs den Willen des Imperators in die Tat umgesetzt. Er war ein Verräter, weiter nichts. 169 Aber dieses Eingeständnis würde bedeuten, eingestehen zu müssen, dass ein Kommandeur, der das volle Vertrauen des imperialen Throns genossen hatte, hingegangen war, um das zu tun, was ihm beliebte. So etwas
war einfach undenkbar. Dieser Verlust an Autorität des Imperators würde nur zu Chaos führen und das Ende des Imperiums bedeuten. Vom Ende des Imperators ganz zu schweigen. »Sire?« Alexander wirbelte herum und sah einen Eindringling in seinem leeren Audienzsaal. Es war seine neue Premierministerin, die aus dem Schatten in den Mondschein trat. »Es ist beunruhigend, wenn Sie sich so anschleichen, Julianne«, erwiderte er. »Außerdem möchte ich im Moment allein sein.« Julianne Tolliver, die imperiale Premierministerin, warf dem Imperator einen finsteren Blick zu. »Das ist jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt dafür, Euer Majestät. In weniger als sechsunddreißig Stunden wird Marais in der Admiralität in St. Louis eintreffen, und keine vierundzwanzig Stunden später wird das Gerichtsverfahren gegen ihn beginnen.« »Das ist mir scheißegal.« »Euer Majestät hat eine verdammt unpassende Einstellung dazu.« Alexander kniff die Augen ein wenig zusammen. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Und was glauben Sie, wen Sie vor sich haben?« »Im Moment bin ich Ihre Premierministerin, Sire. Ich weiß, ich habe den Imperator des Sol-Imperiums vor mir. Aber wenn Euer Majestät nicht bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen, die mit dieser herausragenden Position einhergeht, kann ich Eurer Majestät versichern, dass Sie bald einen neuen Premierminister brauchen. Sie selbst haben mir gesagt, ich würde Redefreiheit genießen, um...« »Ja, schon gut, Madam Premierministerin«, seufzte Alexander. »Was muss ich unterzeichnen?« »Noch nichts.« Julianne ging zum Fenster und warf einen Blick 170 auf den Hof, als beobachte sie aufmerksam die Umgebung. »Marais hat um ein Kriegsgericht gebeten, Sire. Ich habe kein Vertrauen in die Absichten dieses Mannes. Er muss der Ansicht sein, in allen Anklagepunkten freigesprochen zu werden. Immerhin werden Militärs über ihn urteilen.« »Und?« »Moralische Aspekte werden dabei keine große Rolle spielen, Sire.« »Der Mann hat Befehle missachtet, Julianne. Er hat bewusst den direkten Befehl ignoriert, die Kampfhandlungen einzustellen. Er ist einem imperialen Gesandten aus dem Weg gegangen, der zum gleichen Zweck losgeschickt worden war. Er hat eigenmächtig einen Vertrag mit einer fremden Spezies geschlossen...« »Er ist mit einer militärischen Streitmacht ins Sol-System zurückgekehrt«, unterbrach sie ihn. »Wer weiß, ob er sie einsetzt, wenn er für schuldig befunden wird?« »Was denken Sie, was wir machen sollen?« Er wandte sich vom Fenster ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr Imperator wartet auf einen Ratschlag.« »Operation Tattoo ist immer noch möglich, Sire.« »Es ist eine barbarische Alternative.« »Auch angesichts dessen, was geschehen ist? Was sollte nach all diesem Blutvergießen ein toter Mann mehr noch ausmachen?« »Er ist der Anführer der Zor.« »Das nehme ich ihm so wenig ab wie Sie, Sire. Wir haben die Heimatwelten der Zor in unserer Gewalt. Das ist die gesamte Macht, die wir benötigen, um sie zu beherrschen, nicht irgendeinen mystischen Humbug. Vor dem Kriegsgericht käme er damit sowieso nicht durch.« Alexander überlegte einen Moment lang, dann seufzte er tief. »Also gut, Julianne. Operation Tattoo hat meinen Segen.« Sie lächelte, ihr Gesicht wurde zur Hälfte vom Mond beschienen, die andere lag im Schatten. »Mit Verlaub, Sire.« 170
20. Kapitel »Violet ist verschwunden.« Die Direktorin des Imperialen Geheimdienstes sah vom Reader auf. Das gesprenkelte Antlitz des Jupiters hinter ihr war von Wirbelstürmen überzogen, während das Gesicht der älteren Frau im Vergleich dazu ruhig und gelassen wirkte. Sie bedeutete Smith, in dem Sessel Platz zu nehmen, vor dem sich das grüne Emblem befand. »Ja, ich weiß. Setzen Sie sich bitte, Green.« Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Päd. Smith nahm Platz und zeigte sich geduldig, indem er zusah, wie die Atmosphäre des Planeten langsam weiterwanderte. Schließlich blickte die Frau wieder auf.
»Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie wissen, dann kann ich die Details ergänzen.« »Violet hatte seinen »Ruhestand« akzeptiert, wie Sie wissen. Er war in die Winnipeg-Arkologie gezogen, wo er sich meines Wissens dem Studien der Antike widmete. Er hat die übrige Zeit für umfangreiche Recherchen genutzt, und er war meistens für sich allein. Vor zweieinhalb Standardtagen besuchte er eine Vorlesung an der Winnipeg University, die sich mit dem Feldzug von Xerxes gegen die Griechen befasste. Wie üblich wurde er auf seiner Reise von einer Mitarbeiterin meiner Abteilung überwacht - sie war sogar mit ihm im Hörsaal -, doch am Ende der Vorlesung war Violet verschwunden. Seitdem ist er auch nicht in sein Apartment zurückgekehrt, und eine Überprüfung der Transitsysteme, die aus Winnipeg hinausführen, ergab ebenfalls nichts. Er besitzt kein 171 Privatfahrzeug, und niemand, auf den seine Beschreibung passen würde, hat ein Fahrzeug gemietet oder erworben.« »Vielleicht hat ein Familienmitglied das für ihn erledigt.« »Violet hat auf dem Planeten keine Familie, Direktorin. Wir haben alle seine Gespräche überwacht, die er mit Teilnehmern außerhalb des Planeten geführt hat...« »Wenn er irgendeine verborgene Absicht verfolgt hat, wird er gewusst haben, dass Sie das machen würden. Weiter?« »Wir haben ihn sehr genau beobachtet, Direktorin, wie Sie es angeordnet haben«, fuhr Smith fort und versuchte, seine Verärgerung im Zaum zu halten. »Er wurde als Verdächtiger der höchsten Kategorie behandelt, als potenzieller Staatsfeind.« Die Frau faltete die Hände und sah Smith mit finsterer Miene an. »Wenn Sie ihn so genau beobachtet haben, wie kann er Ihnen dann entkommen sein?« »Das... kann ich nicht mit Gewissheit sagen.« Smith überlegte einen Moment, dann fügte er an: »Violet war seit vielen Jahren Mitglied des Inneren Sicherheitskreises, Direktorin, länger als jeder andere von uns, mich eingeschlossen. Ich kann nur annehmen, dass irgendein Mitglied des ihm zugewiesenen Kommandos übergelaufen ist und ihm bei der Flucht geholfen hat.« »Hatten Sie sich nicht gegen diese Möglichkeit abgesichert?« »Direktorin, ich versichere Ihnen, alles Machbare wurde getan, um die Integrität der diesem Fall zugeteilten Agenten sicherzustellen. Kein Mitglied des Teams hatte zuvor jemals mit Violet zusammengearbeitet. Ihre Psychoprofile gaben keinen Hinweis darauf, dass sie zu Violets recht extremen politischen Ansichten neigen könnten. Doch bis zu dem Moment, da Violet aus der Inneren Sicherheit ausgeschlossen wurde, hatte er Zugriff auf alle Unterlagen, Dokumente und Techniken, die sich in unserem Besitz befinden. Er muss Ihre Entscheidung vorausgeahnt haben und kann die unterschiedlichsten Vorbereitungen getroffen haben. Es ist uns nicht möglich gewesen, alle vorherzusehen. Ich vermute, eine davon wird in diesem Augenblick in die Tat umgesetzt.« 171 D er Direktorin schien diese Schlussfolgerung nicht zu gefallen. Doch sie musste bereits vor ein paar Minuten selbst darauf gekommen sein. Violet war ein erfahrenes Mitglied des Inneren Sicherheitskreises, ein Fuchs unter Füchsen. Und nun war er irgendwo unterwegs - als Fuchs unter Schafen. »Was glauben Sie, was er als Nächstes machen wird?« »Ich kann nur mutmaßen, Direktorin, aber ich glaube, er wird versuchen, Admiral Marais umzubringen.« Es war kurz vor Sonnenaufgang. Die Dunkelheit, die den Himmel und den Boden einhüllte, wich nur widerstrebend vor dem kommenden Morgen zurück, ein Schauspiel, das sich jeden Morgen wiederholte. Die Erde machte sich bereit für die Metamorphose, die sie Tag für Tag vollzog. Vom Fenster aus konnte Sergei den gesamten Flottenraumhafen überblicken, der wie üblich ein Tummelplatz von Aktivitäten aller Art war, da Shuttles im Minutentakt in den Himmel aufstiegen. Dahinter lag die ausladende Metropole St. Louis, die wie ein Diadem aus Licht und Finsternis erschien. Wie nicht anders erwartet, hatte er kaum schlafen können. Und nun, während hundert Meter unter ihm die Megalopolis allmählich zum Leben erwachte, war es für Schlaf zu spät geworden. So wie ein Passagier eines Copters nach einem stundenlangen Flug immer noch das Gefühl hatte, er sei in Bewegung, hatte Sergei Schwierigkeiten damit, sich auf den scheinbar erstarrten Augenblick zu konzentrieren, als der sich die Gegenwart darstellte. Die Ereignisse hatten sich in einem enormen Tempo überschlagen, doch seine Ausbildung als Gefechtsoffizier hatte es ihm ermöglicht, sich immer wieder anzupassen und darauf zu reagieren.
Nicht mal zweiundsiebzig Stunden waren vergangen, seit die Flotte den Sprung beendet hatte. Es wurden umfassende Gespräche mit Ted McMasters geführt, dann mit dem Ersten Lord der Admiralität und der neuen Premierministerin sowie schließlich mit dem Militärgouverneur des Distrikts St. Louis. Von acht imperialen Schiffen eskortiert, waren sechs Schiffe stellvertretend für Ma 172 rais' Flotte ins Schwerkraftfeld geflogen, wobei alle Waffenschächte geschlossen und sämtliche Abwehrfelder gesenkt worden waren. Angeführt von der Lancaster hatten sie den Asteroidengürtel durchquert, den Mars-Orbit gekreuzt und schließlich auf halber Strecke zwischen Erde und Mars gestoppt. Es waren eigenartige Stunden gewesen, befremdlicher und erschreckender als jeder beliebige Moment des Feldzugs. Es herrschte völlige Funkstille, wenn man von den automatischen Funksignalen für die Navigation absah. Möglicherweise diente das ausschließlich einem psychologischen Effekt, in jedem Fall zeigte es Wirkung. Sogar Marais, der beim Gespräch mit Ted McMasters auf der Pluto-Basis wieder zu seiner früheren Gelassenheit zurückgefunden hatte, machte einen nervösen Eindruck. Sehr eigenartig, überlegte Sergei, während die letzten Echos der Glocke allmählich verhallten. Die Zor, die kurz vor der Auslöschung gestanden hatten, empfingen Marais und dessen Flotte als Helden und als würdige Eroberer. Für Marais war es keine Kleinigkeit gewesen, das gyaryu und damit alles zu akzeptieren, was damit einherging. Er hatte sich mit einem völlig unerwarteten Ende dieses Krieges und einer ganz neuen Perspektive anfreunden müssen. Sich einem Kriegsgericht zu stellen, anstatt den Thron an sich zu reißen, schien allerdings auch viel besser zu Marais' Ehrgefühl zu passen. Für die Zor waren sie Helden, obwohl sie ihnen mit diesem Krieg Tod und Verderben gebracht hatten. Doch die Menschen, für die all dieses Blut vergossen worden war, sahen in ihnen Ausgestoßene und Gesetzlose, für die es nur Begriffe wie Schurken, Monster und Barbaren gab. Am Raumhafen war die Menge eineinhalb Kilometer vom Landeplatz des Shuttles entfernt gewesen, doch sogar auf diese Entfernung war erkennbar, dass die Polizei den Bereich hatte abriegeln müssen. Die Beschimpfungen aus der Menge und die düstere Stimmung, die ihnen entgegenschlug, ließen keinen Zweifel daran, was die Öffentlichkeit von Marais hielt. 172 Im 3-V hatte Sergei das wiederholt bestätigt gefunden, während er auf dem Stockwerk in seinem Raum saß, das man für ihn und seine Gefolgschaft in aller Eile leer geräumt hatte. Marines, die unter dem persönlichen Kommando von McMasters standen und dazu angehalten waren, mit den Heimkehrern kein Wort zu wechseln, »beschützten« sie vor dem Zorn der Menge, die auch um diese Zeit noch an den Toren zum Raumhafen versammelt war. Die Türglocke riss Sergei aus seinen Gedanken; er stand auf und ging zur Tür, während er sich fragte, wer so unverschämt sein konnte, um 0500 zu klingeln. Draußen stand Rrith, der sich nachlässig sein Gewand übergeworfen hatte. »se Commodore«, sagte er und neigte respektvoll den Kopf. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber ich hörte, dass Sie wach sind, und ich fragte mich, ob Sie vielleicht Gesellschaft brauchen könnten.« »Natürlich. Kommen Sie rein.« Der Marine vor Sergeis Tür hielt Abstand und hatte sein Gewehr gesenkt, aber entsichert. Sergei ignorierte den Mann und ging zur Seite, damit Rrith eintreten konnte, dann warf er die Tür hinter sich zu. »Ich hatte einfach nur dagesessen und nachgedacht.« »Sie können nicht einschlafen?« »Ja, das ist richtig«, erwiderte Sergei und ließ sich in den bequemen Sessel fallen, der nahe dem offenen Fenster stand. Rrith hockte auf einem flachen Stuhl am Bett. »Sind Sie wegen irgendetwas beunruhigt, se Rrith?« »Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass dies eine heikle Situation ist, se Commodore.« »Sergei.« »se Sergei.« Rrith bewegte ein wenig die Flügel unter seinem Gewand, als wolle er ein Gefühl vermitteln, das Sergei nicht verstand. »Es gibt Schwierigkeiten zwischen esHu'ur und seinem Vorgesetzten, dem Hohen Lord der Menschen. Ich muss gestehen, ich verstehe es nicht ganz. Es geht eindeutig um uns Zor, aber ich bin mir nicht sicher, was es ist. Will der Hohe Lord der Menschen weiter Krieg führen?« 172 »So einfach ist es nicht. Der Imperator möchte ...« Sergei hielt inne und überlegte, wie er es am besten formulieren sollte. »Der Imperator wollte nicht, dass es ausging, wie es geschehen ist.« »Aber ich verstehe nicht warum, se Sergei«, erwiderte Rrith mit verwirrtem Tonfall. »Sie haben den Krieg gewonnen. Wollte der Imperator, dass Sie verlieren?«
»Er hat nicht die Invasion der Heimatsterne der Zor angeordnet, und er war nach A'anenu bereit, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.« »Das hätte nichts bewirkt. Wir hätten den Admiral nicht als es-Hu'ur anerkannt, und wir wären von esLi dazu angehalten worden, wieder die Menschen anzugreifen.« Rrith lehnte sich ein wenig nach hinten, eine Hälfte seines Gesichts wurde vom heller werdenden Himmel beschienen, die andere lag im Schatten. »Ich habe das Buch des Admirals gelesen, und er hatte vollkommen Recht mit seiner Ansicht, der Krieg müsse nach Zor'a getragen werden. Sagten Sie mir nicht, der Imperator habe das Buch ebenfalls gelesen, ehe er ha Marais dazu ermächtigte, uns anzugreifen?« »Ja, das ist richtig. Das Buch überzeugte ihn, Admiral Marais diesen Auftrag zu erteilen. Aber er hatte nicht erwartet, dass Marais seinen Auftrag genau in der Form ausführen würde, die er beschrieben hatte. Er hielt die Ausführungen in dem Buch für Rhetorik, und ich hatte nicht anders darüber gedacht.« Sergei stützte den Kopf in die Hände und seufzte. »Rhetorik? Ich weiß nicht, ob ich das verstehe. Hat der Imperator geglaubt, der Admiral würde lügen, was seine Absichten anging?« »Nein, er hielt es einfach nur für überzogen. Unser Militär wird von den politischen Machenschaften des imperialen Hofs beeinflusst, und die Freunde, die Lord Marais am Hof hat, schafften es, den Imperator davon zu überzeugen, dass eine solche Entscheidung politisch angebracht sein würde.« »Politisch angebracht«?« 173 »Wäre Lord Marais im Kampf unterlegen, dann härte der Imperator sofort jemanden zur Hand gehabt, dem er die Schuld geben konnte. Bei einem Sieg von Marais wäre Seine Hoheit der strahlende Gewinner gewesen, da er einen erfolgreichen Admiral ausgewählt hatte. Für Marais bestand dann die Möglichkeit, sich aus dem Militär zurückzuziehen und Premierminister zu werden, um die Früchte seines Siegs zu ernten.« »Das erscheint mir alles sehr doppelzüngig, wenn ich das so sagen darf, se Sergei.« »Die Politik ist eine doppelzüngige Kunst, se Rrith«, gab Sergei zurück und sah zum Himmel, der im Osten immer blasser wurde. »Wenn man überlegt, dass unser Admiral heute nicht als Verlierer, sondern als Sieger vor Gericht treten wird, und dass diejenigen, für die er gekämpft hat, nun seine Feinde sind, während die, gegen die er losgezogen ist, jetzt zu seinen Freunden zählen...« »Und wie wird dieses... Gericht entscheiden?« Sergei stand auf und ging zum Fenster, durch das die ersten Echos des Morgens in den Raum getragen wurden. »Lord Marais ist ein Mann mit sehr hohen moralischen Ansprüchen, vor allem wenn es um die geht, die er an sich selbst stellt. Er glaubt wirklich, dass man ihn von allen Anklagen freisprechen wird.« Er wandte sich zu dem Zor um. »Er glaubt, die Gerechtigkeit wird siegen. Und er glaubt, man wird erkennen, dass wir nur taten, was nötig war.« »Glauben Sie, es wird so günstig für ihn ausgehen?« Die Sonne schob sich langsam über den Horizont, um die allmählich erwachende Stadt zu begrüßen. »Nein«, antwortete Sergei nach langem Schweigen. »Es geht nicht darum, ob wir richtig oder falsch gehandelt haben. Die Öffentlichkeit muss beschwichtigt werden, das Militär will sich von dem distanzieren, was wir getan haben - was wir tun mussten. Und deshalb werden sie ihn zerquetschen. In gewisser Hinsicht bleibt ihnen auch gar keine andere Wahl.« Hinter ihm stieg die Sonne höher und warf lange Schatten. 173 Drei Schläge mit dem Hammer sorgten im Gerichtssaal für Ruhe. Admiral McMasters nahm auf seinem Stuhl Platz, zu jeder Seite einen Flagg-Commodore. Auch die anderen setzten sich hin. »Ruhe im Saal. Wir sind hier auf Geheiß des Imperators Alexander Philip Juliano - lange möge er regieren - in seiner Funktion als Oberbefehlshaber aller bewaffneten Streitkräfte des Imperiums zusammengekommen. Dies entspricht Artikel 5 des Militärgesetzbuchs. Commander Sir Joseph Aronoff ist von der Admiralität bestimmt worden, um die Anklagevertretung im Namen des Sol-Imperiums zu übernehmen. Hat die Verteidigung Einwände gegen Commander Aronoff?« Captain Lynne Russ, die als Marais' Anwältin auftrat, erhob sich und nickte McMasters zu. »Keine Einwände, Sir.« »Commander«, sagte McMasters an den Anklagevertreter gerichtet. Aronoff, ein kantiger, hagerer Mann mittleren Alters, stand auf und ging zum Podest, das nahe dem breiten Tisch des Tribunals platziert war.
»Die Anklage ist bereit, im Fall Imperiale Navy gegen Ivan Hector Charles Marais, Lord Marais, Admiral, der hier im Saal anwesend ist, das Verfahren zu führen«, begann er. »In einer vorgerichtlichen Zusammenkunft mit Captain Russ wurde über die Zusammensetzung des Gerichts, die Anwälte und Schriftführer Einigkeit darüber erzielt, dass die Interessen des Imperiums und der Anklage zur beiderseitigen Zufriedenheit gewahrt sind.« »Das Gericht ist zusammengetreten«, verkündete McMasters. »Alle Mitglieder des Gerichts werden nun vereidigt.« Die Anwälte, Marais und die Reporter sowie das Tribunal standen auf. McMasters hob die rechte Hand, Aronoff tat es ihm nach. »Commander Sir Joseph Aronoff, schwören Sie, Ihre Aufgaben als Mitglied dieses Gerichts gewissenhaft zu erfüllen und in allen Punkten, die mit diesem Fall in Zusammenhang stehen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ergründen werden?« 174 »Ich schwöre, Sir«, erwiderte Aronoff ernst. McMasters ließ auch Captain Russ und die beiden anderen Mitglieder des Tribunals vereidigen. Dann trat Aronoff vor das Tribunal und hob seine Hand. »Admiral McMasters«, sagte er. »Schwören Sie, dass Sie Ihre Aufgaben als Mitglied dieses Gerichts gewissenhaft erfüllen werden? Dass Sie unparteiisch verhandeln auf der Grundlage der Beweise, Ihres Gewissens und der Gesetze, die für Kriegsgerichtsverfahren gelten, sowie des Kriegsrechts? Dass Sie nicht die Stimme oder die Meinung eines einzelnen Mitglieds dieses Gerichts enthüllen, weder bei einer Anfechtung noch bei der Urteilsfindung, es sei denn, dies wird im Rahmen der Gesetze erforderlich, so wahr Ihnen Gott helfe?« »So wahr mir Gott helfe«, wiederholte McMasters und atmete tief durch, während Aronoff auf seinen Platz zurückkehrte. »Dieses Gericht ist nun zusammengetreten. Wenn ihre Anwesenheit nicht aus anderen Gründen erforderlich ist, werden alle Personen, die damit zu rechnen haben, als Zeugen im Fall Imperiale Navy gegen Ivan Hector Charles Marais, Admiral Lord Marals aufgerufen zu werden, nun den Gerichtssaal verlassen.« Marc und Sergei standen auf und verließen mit ein paar anderen den Saal, die in den Reihen hinter Aronoff gesessen hatten. »Commander«, sagte McMasters, »Sie können jetzt die Anklage verlesen.« Wieder stand Aronoff auf, stellte sich aufrecht hin und schaute nur hin und wieder auf die Tafel, die vor ihm auf dem Tisch lag. Dazwischen streiften seine Blicke durch den fast leeren Gerichtssaal, blieben mal an dem einen, mal an einem anderen Anwesenden hängen, wanderten dann aber gleich wieder weiter, während er redete. »Dem Angeklagten wird vorgeworfen, gegen das Militärgesetz verstoßen zu haben. Diese äußerst schwerwiegenden Vorwürfe werden vorgebracht vom Ersten Lord der Admiralität im Namen Seiner Imperialen Hoheit in seiner Funktion als Oberbefehlshaber 174 aller bewaffneten Streitkräfte des Imperiums. Es sollte angemerkt werden, dass der Beschuldigte von sich aus die Bitte geäußert hat, vor ein Kriegsgericht zu treten, weil er offiziell von den Vorwürfen freigesprochen werden will, die sein Handeln als Admiral der Flotte im jüngsten Konflikt mit den Zor betreffen.« Aronoffs kühler Blick ruhte für einen Moment auf McMasters. »Wenn Sie gestatten, Sir, möchte ich als Anklagevertreter die Mahnung des Kriegsgerichtsrats zum Ausdruck bringen, dass diese Tatsache keine Auswirkung haben darf auf die Urteilsfindung des Tribunals... ganz gleich, zu wessen Gunsten.« Nach einer angemessenen Pause fuhr Aronoff fort: »Anklagepunkt eins, Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 92, »Missachtung eines Befehls oder einer Vorschrift«, sowie Artikel 90, »Missachtung eines vorgesetzten bevollmächtigten Offiziers«. Admiral Lord Marais erhielt einen rechtmäßigen Befehl, der am 8. August 2311 vom Ersten Lord der Admiralität im Namen der Regierung Seiner Imperialen Majestät erteilt wurde und der besagte, er solle keine weiteren Kampfhandlungen gegen den Feind mehr vornehmen und stattdessen zur Pergamum-Raumbasis zurückkehren. Er ignorierte bewusst diesen Befehl und behandelte ihn mit der gleichen Verachtung wie alle nachfolgenden Befehle.« Aronoff hielt kurz inne. »Anklagepunkt zwei, Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 104 Abschnitt D, »Unterstützung des Feindes: Kommunikation, Korrespondenz und Umgang mit dem Feind«. Um den 23. September 2311 herum führte Admiral Lord Marais private und vorschriftswidrige Verhandlungen mit einer feindlichen Macht, die durch den Alien Sse'e HeYen vertreten wurde, der den Titel des Hohen Lords der Zor trägt. Der Angeklagte schloss mit besagter feindlicher und angriffslustiger Spezies einen Vertrag, womit er das Vorrecht der Regierung Seiner Majestät unterhöhlte.«
Er sah zu Marais, der im grellen Phosphorlicht des Gerichtssaals blass und matt aussah. Der Blick des Angeklagten war auf einen Reader vor sich gerichtet, auf dem er sich Notizen machte. 175 »Anklagepunkt drei, Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 99 Abschnitt C, ungebührliches Verhalten im Angesicht des Feindes: Gefährdung der Sicherheit eines Kommandos durch Ungehorsam, Nachlässigkeit oder absichtliches ungebührliches Verhalten«. Admiral Lord Marais hat durch eine Fortsetzung des Feldzugs nach der Ausgabe des zuvor genannten Befehls vom 8. August die Sicherheit seines eigenen Kommandos ebenso in Gefahr gebracht wie die des Sol-Imperiums, da er einem Feind gegenüberstand, über dessen Schlagkraft und Fähigkeiten nichts bekannt war.« Abermals schwieg Aronoff kurz, dann fuhr er fort: »Anklagepunkt vier, Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 93, »Grausamkeit und Misshandlung des ihm unterstellten Personals«. Während der Durchführung des Feldzugs gegen die Zor plante und befahl Admirai Lord Marais Handlungen, die die Auslöschung einer Spezies zum Ziel hatten. Diese Aktionen waren extrem grausam und brutal und stehen im Widerspruch zu den Verhaltensstandards, die von den Menschen und der Tradition festgelegt worden sind. Außerdem stehen sie im Widerspruch zu den Kriegsgesetzen, da sie die Rechte von Zivilisten und nicht an Kampfhandlungen Beteiligten berühren. Zudem stehen sie im Widerspruch zum üblichen Verhalten eines Kommandeurs in einem Kriegsgebiet gegenüber Zivilisten und nicht an Kampfhandlungen Beteiligten.« Als Aronoff nach diesem Punkt erneut zum Reden ansetzte, sah Marais überrascht auf. »Anklagepunkt fünf, Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 133, »Ungebührliches Verhalten eines Offiziers und Gentleman«.« Die Anklagepunkte waren der Verteidigung vor Prozessbeginn in schriftlicher Form vorgelegt worden, auch wenn die Anklagevertretung sich das Recht vorbehielt, jederzeit weitere Anklagepunkte hinzuzufügen. Natürlich waren Letztere anfechtbar. Lediglich Artikel 133 war nicht anfechtbar. Ungebührliches Verhalten war etwas, das die Mitglieder des Gerichts nur subjektiv entscheiden konnten. Es war kein Geheimnis, dass es sich um einen schwammigen Artikel handelte, auf den ein 175 Anklagevertreter dann zurückgriff, wenn er der Ansicht war, das Gericht auf seiner Seite zu haben, aber nicht genügend Beweise in der Hand hatte, um in den anderen Anklagepunkten eine Verurteilung zu erwirken. »Admiral Lord Marais hat sich in seinen Methoden, seinen Aussagen und seinem Handeln von einer Seite gezeigt, die sein Ansehen als Offizier kompromittieren. Sein Verhalten macht ihn untauglich, als Offizier in den Streitkräften Seiner Majestät zu dienen.« Marais und Aronoff warfen sich einen Moment lang stechende Blicke zu, während der Anklagevertreter durchatmete. »Außerdem«, fügte Aronoff an, »hat er die moralische Grundhaltung der gesamten Menschheit falsch repräsentiert. Sein Verhalten und seine brutale Vorgehensweise in diesem Krieg haben eine fremde Spezies zu Recht zu unserem unversöhnlichen Feind gemacht. Diese Situation hat sich niemand gewünscht - ausgenommen vielleicht der Angeklagte -, aber sie lässt sich nun nicht mehr ungeschehen machen.« »Captain Russ«, sagte McMasters in die erdrückende Stille. »Wie plädiert Ihr Mandant?« Russ und Marais erhoben sich gemeinsam. »Sir, der Angeklagte Admiral Lord Marais bekennt sich schuldig in den Anklagepunkten eins bis vier. Er beharrt jedoch darauf, dass die vom Anklagevertreter vorgebrachten Punkte nicht genügen, um ihn auf der Grundlage dieser Anklagen zu verurteilen. Der Angeklagte erklärt außerdem, dass Anklagepunkt fünf, der nicht zu den ursprünglichen Anklagepunkten gehörte, die in der diesem Verfahren vorangegangenen Anhörung zur Sprache gekommen sind, eine Anschuldigung darstellt, für die es keinerlei Beweise gibt. Er plädiert daher auf unschuldig hinsichtlich der Anklage als auch jeglicher weiterer Punkte, die der Anklagevertreter vorlegen wird.« McMasters sah zu Aronoff, während Marais und seine Anwältin sich wieder hinsetzten. »Commander, Sie können fortfahren.« 175 »Danke, Sir.« Er berührte den Reader, der vor ihm lag, und als er den Saal durchquerte, wurde die Beleuchtung gedämpft. Auf einem Wandschirm war eine Kopie eines Befehls der Admiralität zu sehen. »Mit Erlaubnis der Verteidigung«, begann er und sah zu Russ, »lege ich die folgende Depesche als Beweisstück eins vor.« Russ nickte. »Dieser Befehl«, fuhr er fort, »wurde am 8. August 2311 vom Hauptquartier der Admiralität abgeschickt. Gerichtet war er an den Angeklagten. Der Befehl trägt die Unterschrift und das Siegel des Ersten Lords der Admiralität und besagt unter anderem, dass die Flotte keine weiteren Aktionen gegen die Zor unternehmen
und stattdessen zur Pergamum-Raumbasis zurückkehren soll, um auf die Ankunft eines bevollmächtigten Unterhändlers zu warten. Der Kom-Kode trägt das automatische Empfangssignal der IS Lancas-ter, des Flaggschiffs der Flotte. Die Anklage ruft als Zeugen Lieutenant Jan DeClerc auf, Kommunikationsoffizier der Lancaster.« Der Gerichtsdiener öffnete die Tür und rief Lieutenant DeClerc auf. Ein junger Mann in Galauniform kam herein, ging bis zum Richtertisch und salutierte. Während Aronoff ihn vereidigte, sah er zu Admiral Marais, der mit einem knappen Lächeln reagierte. »Nennen Sie Ihren vollen Namen, Dienstgrad, Organisation und Station.« »Lieutenant Jan Michel DeClerc, Kommunikationsoffizier der Mittleren Wache an Bord der IS Lancaster, Sir.« »Haben Sie unter dem Angeklagten gedient?« »Ich hatte die Ehre, Sir.« »Hatten Sie am 8. August 2311 Dienst, Lieutenant?« »Ja, Sir.« »Beschreiben Sie dem Gericht bitte, was sich abgespielt hat.« »Die Flotte schloss den Zor-Flottenstützpunkt bei A'anenu ein, Sir. Captain Hudsons Geschwader befand sich im Schwerkraftfeld, andere Teile unserer Streitmacht waren mit der feindlichen Flotte befasst. Wir erhielten eine Nachricht, die den Prioritätskode der Admiralität trug...« 176
»Entschuldigen Sie bitte, Lieutenant. Betrachten Sie die Mitteilung, die als Beweisstück vorgelegt worden ist. Handelt es sich um die Nachricht, die Sie erhielten?« »Ja, Sir. Ich habe mich zum Zeitpunkt des Eingangs nicht mit dem Inhalt beschäftigt, wohl aber nach dem Gefecht.« »Übergaben Sie diese Nachricht an Admiral Marais?« »Ich informierte ihn über den Erhalt der Nachricht, Sir.« »Wie war seine Reaktion?« »Er befahl mir, die Nachricht zu speichern.« »Informierten Sie ihn über den Absender und die Prioritätsstufe?« »Ja, Sir.« »Was erwiderte er? Sagen Sie es ruhig mit Ihren eigenen Worten.« »Er... er befahl mir, die Nachricht zu speichern, Sir. Er sagte, die Nachricht würde ihn nicht mal dann interessieren, wenn sie den persönlichen Kode des Allmächtigen tragen würde, Sir.« »Gab er Ihnen zu diesem Punkt weitere Befehle?« »Ja, er befahl mir, alle weiteren eingehenden Nachrichten anzunehmen, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen. Ich sollte Funkstille wahren.« »Danke, Lieutenant«, sagte Aronoff und kehrte zu seinem Platz zurück. Captain Russ erhob sich. »Sir, ich möchte ein Beweisstück vorlegen und danach Lieutenant DeClerc eine Frage stellen.« »Einverstanden.« Russ drückte eine Taste an ihrem Reader. Auf dem Wandschirm war nun ein anderes Dokument zu sehen, das das imperiale Siegel trug. »Das folgende Dokument wird von der Verteidigung als Beweisstück zwei vorgelegt: Spezielle Order 17 für das Jahr 2311, Titel: »Ermächtigung des Admirals der Flotte«. Es datiert vom 1. März 2311, ist an den Angeklagten adressiert und liest sich wie folgt: »Durch die uns verliehene Macht als Oberbefehlshaber der impe 176 rialen bewaffneten Streitkräfte und durch die Bestimmungen der Allgemeinen Order 6 werden Sie hiermit ermächtigt, das Oberkommando über die Imperiale Flotte zu übernehmen und den Feind zu bekämpfen. Sie werden dazu autorisiert, für die Dauer der derzeitigen Notsituation jedwede Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um die Sicherheit Ihres Kommandos und die des Imperiums zu gewährleisten.«« Sie sah kurz zu Aronoff, der nur mit den Schultern zuckte. Vor dem Zeugenstand blieb sie stehen. »Lieutenant, Sie erklärten, Ihnen wurde der Befehl erteilt, eine Nachricht zu ignorieren, die von außerhalb des A'anenu-Systems stammte, und Funkstille zu wahren. Würden Sie bitte die Dienstvorschrift zur Funkstille erklären, wie Sie sie verstehen?« »Der befehlshabende Offizier kann jederzeit Funkstille anordnen, Captain, wenn er glaubt, dass eine Missachtung der Funkstille die Mission gefährden könnte. Allgemeine Order 33 behandelt diesen Punkt.« »Ich danke Ihnen für die fachmännische Aussage, Lieutenant« »Der Zeuge ist entlassen«, sagte McMasters, woraufhin DeClerc salutierte und den Saal verließ. »Sir«, wandte sich Russ an das Gericht. »Der Angeklagte ist der Ansicht, dass die unterstellte Pflichtverletzung durch eine falsche Darstellung seiner Verantwortlichkeit zustande kommt, die durch Spezielle Order 17, Allgemeine Order 6 hinsichtlich der absoluten Autorität eines befehlshabenden Offiziers
in einem Kriegsgebiet und Allgemeine Order 33 festgelegt ist. Admiral Marais war im Recht, als er die Annahme der eingehenden Nachricht verweigerte, und er war auch nicht verpflichtet, die Nachricht zur Kenntnis zu nehmen oder den in ihr übermittelten Befehl zu befolgen - weder zu diesem noch einem späteren Zeitpunkt. Zu der Zeit, als er sich mit dem Inhalt der Nachricht beschäftigen konnte, war die A'anenu-Basis bereits eingenommen. Jeder Generalbevollmächtigte würde unter solchen Bedingungen mit eindeutig überholten Informationen arbeiten.« 177 Aronoff sah abrupt hoch und stand auf. »Einspruch, Sir. Der Angeklagte hat einen rechtmäßigen Befehl seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Ersten Lords der Admiralität, ignoriert.« »Captain Russ?«, gab McMasters zurück. »Nach den Vorgaben der Allgemeinen Order 6 hatte der Angeklagte im Kriegsgebiet keinen unmittelbaren Vorgesetzten. Wie bereits ausgeführt, hatte der Angeklagte zu dem Zeitpunkt, an dem er den Befehl von der Admiralität lesen konnte, allen Grund zu der Annahme, dass dieser Befehl nicht länger relevant ist. Abgesehen davon konnte ohnehin keine gegenteilige Anweisung seinen ursprünglichen Befehl widerrufen. Spezielle Order 17 verlieh ihm ausdrücklich die größtmögliche Autorität für die Dauer der Notsituation. Wenn der Anklagevertreter oder das Gericht eine Definition hören möchte, was eine militärische Notsituation ausmacht, werde ich gern aus dem entsprechenden Absatz des Militärgesetzbuchs zitieren.« »Sir«, warf Aronoff ein. »Es ist klar, was mit dieser Order beabsichtigt wird. Der Vorfall, der das Recht auf einen Widerruf regelt, ist bekannt und...« »Die Absicht steht hier nicht zur Diskussion«, unterbrach Russ ihn. »Darüber hinaus scheint der Anklagevertreter nicht zu erkennen, dass sich die Spezielle Order 17 grundlegend von den zuvor dokumentierten Befehlen unterscheidet. Der Angeklagte war in vollem Umfang ermächtigt, alles zu tun, was er für notwendig hielt. Der außergewöhnliche Erfolg, mit dem er seinen Auftrag ausgeführt hat, ist ein Beweis dafür, wie klug es vom Imperator war, ihn auszuwählen.« McMasters sah von Russ zu Aronoff und dann kurz zu Marais. »Einspruch abgelehnt, Commander«, sagte er schließlich. »Captain Russ darf ihr Argument weiter vertreten.« Mit finsterer Miene verließ Admiral Marais das Gebäude. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, in dessen Verlauf weder Sergei noch Marc in den Zeugenstand gerufen worden waren, 177 um für oder gegen ihn auszusagen. Den größten Teil des Tages hatten sie in einem unbequemen Salon verbracht, der so wirkte, als sei er bewusst so gestaltet worden, dass er ein hohes Maß an Angst erzeugte. Auch wenn ihm später klar wurde, dass die Ereignisse, die nun folgten, in Wahrheit nur Sekunden dauerten, kam es Sergei dennoch so vor, als sei alles in Zeitlupe geschehen. Marais kam soeben zusammen mit Captain Russ die Treppe herunter, als auf einmal ein Wirbel aus Licht und Lärm über sie hereinbrach. Ein Copter kam dicht über das Gebäude gejagt und feuerte seine Waffen ab, deren Geschosse in einem wilden Stakkato vor dem Bauwerk einschlugen. Sergei machte instinktiv einen Satz, stieß Marais zu Boden und warf sich über ihn. Irgendwie verfehlten ihn alle Geschosse, während er Admiral Marais mit seinem Körper schützte. Als der Copter in aller Eile wieder aufstieg, bemerkte er Lynne Russ, die auf dem Fußweg lag und ihren Arm festhielt. Sirenen heulten los, und Sergei sah einige MPs, die mit schussbereiten Waffen in ihre Richtung gelaufen kamen. Marc Hudson lag der Länge nach auf dem gepflegten Rasen und hielt die Hände an seine Brust gepresst, während sich der Stoff seiner Uniform mit Blut vollsaugte. Die Augen hatte er geschlossen. Der Copter verschwand in der Ferne, wurde aber bereits von Abfangjägern verfolgt. »Corporal«, rief Sergei dem hochrangigsten der MPs zu und stand auf. »Riegeln Sie sofort das Gelände ab. Niemand darf sich dem Gebäude auf weniger als hundert Meter nähern.« Er half erst Captain Russ und dann Marais hoch, schließlich kümmerte er sich um Hudson. Marc blinzelte Sergei an, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Ich glaube ... mich hat's erwischt, Sergei.« Auf einmal lächelte er. »Mann, das hört sich... ziemlich bescheuert an... nicht wahr?« »Nicht reden.« Sergei sah zum Himmel und fragte sich, ob noch weitere Copter auf dem Weg waren. »Können Sie laufen?« »Na, dafür... hab ich doch... meine Beine... oder nicht?« Lang 177 sam wollte er sich aufrichten, sackte aber sofort wieder zusammen. Fast schon neugierig nahm er die Hand von seiner Brust und betrachtete das Blut, das den Uniformstoff durchdrungen hatte. Dann verlor er das Bewusstsein, als gerade die Mitglieder des Kriegsgerichtstribunals aus dem Gebäude kamen. Ted McMasters ließ seine Aktentasche fallen und rannte zu Sergei, der neben Hudson kauerte.
»Helfen Sie mir, ihn nach drinnen zu schaffen, Admiral«, sagte er zu McMasters, dann hoben die beiden Männer den Verletzten hoch und trugen ihn rasch die Treppen hinauf. Vom Fenster des leeren Büros des Kriegsgerichtsrats sah Sergei hinaus auf den Rasen. MPs und Sicherheitsleute waren ausgeschwärmt, in der Nähe stand ein Copter. Hudson, der noch immer bewusstlos war, lag auf einem großen Holztisch. Ein junger Lieutenant vom Personal der Basis hatte die Erstversorgung des Verletzten übernommen, aber es war klar, dass sich schnellstens ein Arzt um ihn kümmern musste. Sergei drehte sich zu McMasters um, der soeben ein Telefonat beendet hatte. »Schon irgendwas über den Copter?« McMasters seufzte. »Er hat den Luftraum der Basis verlassen. Wie in Gottes Namen kann ein Copter am helllichten Tag bis hierher vordringen, ohne dass er abgefangen...« »Das ist doch wohl klar«, unterbrach Marais ihn, der im Halbschatten in einem Ledersessel saß. »Er hatte eine Erlaubnis.« »Wollen Sie etwa andeuten...«, begann McMasters, doch Marais ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen. »Andeuten will ich gar nichts, Admiral McMasters. Ich muss auch gar nichts andeuten. Dieses Gerichtsverfahren findet unter strengster Geheimhaltung auf der Westmoreland Air Force Base statt, mitten in Iowa, hunderte von Kilometern von unseren Quartieren entfernt. Gesichert wird diese Basis vom besten Sicherheitspersonal, über das die Admiralität verfügt. Aber ein einzelner Cop 178 ter kann uns angreifen und entkommt dann auch noch seinen Verfolgern. Wenn ich mich nicht irre, werden Sie mir sicher nicht sagen können, wo dieser Copter im Augenblick ist. Ist das eine zufriedenstellende Zusammenfassung der Fakten, Admiral?« Marais verkniff sich nur mit Mühe jeglichen Spott in seiner Stimme. »Admiral, Sie deuten an ...« Marais stand auf und kam aus der Ecke auf ihn zu. »Ist das eine zufriedenstellende Zusammenfassung der Fakten, Admiral?« McMasters ballte die Fäuste. »Ja, Sir.« »Dann kann ich daraus folgern, Admiral«, fuhr er fort und baute sich ein Stück entfernt vor McMasters auf, »dass dieser Anschlag auf mein Leben und das meiner Offiziere durch die Mitarbeit einer Person aus der Admiralität oder der Regierung Seiner Majestät zustande kam. Da ich weiß, dass Sie ein ehrbarer Mann sind, vermute ich, Letzteres ist der Fall.« »Sie reden hier von der Imperialen Regierung, Admiral. Sie greifen den Imperator persönlich an.« »Wenn ich mich nicht irre«, gab Marais ruhig zurück, »dann hat die Regierung - und damit der Imperator soeben versucht, mich auf diesem Rasen dort zu töten. Ich bin mir durchaus der öffentlichen Meinung bewusst, was meine Flotte und dieses Verfahren angeht. Ich bin weiterhin bereit, mich und mein Handeln auf dem Gerichtsweg zu verteidigen. Aber ich werde alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um mein Leben« - und er deutete auf Hudson - »und das meiner Offiziere zu beschützen.« »Soll heißen?« »Das soll heißen, Admiral, dass dieses Verfahren an Bord der Lancaster fortgesetzt wird.« »Das kann ich nicht...« »Das Verfahren wird dort fortgesetzt, oder es endet jetzt und hier.« Er wandte sich Sergei zu. »Commodore, lassen Sie bitte von Ihrem Schiff einen Shuttle herkommen.« Sergei sah von Marais zu McMasters. »Der Imperator muss davon in Kenntnis gesetzt werden«, erwiderte McMasters schließlich. 178 »Nur zu.« Sergei zog ein Kom aus seiner Uniformjacke und drückte eine Taste. »Wells hier.« »Chan, hier spricht der Captain«, sagte Sergei. »Schicken Sie einen Shuttle mit einem kompletten Trupp Marines her, und Dr. Clarke soll auch mitkommen. Wir haben hier einen Verletzten.« »Aye-aye, Commodore.« »Dieses Thema ist jetzt abgehakt, Admiral«, erklärte Marais. »Wenn der Shuttle eintrifft, werden meine Offiziere und ich an Bord gehen. Wenn Sie das Verfahren fortsetzen wollen, wissen Sie, wo das Gericht mich finden kann.« Der Agent wartete im Nachtclub in einem Alkoven gleich unter der archaischen Wanduhr aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Die Musik und das fieberhafte Treiben um ihn herum konnte er recht mühelos ausblenden. Für die Person, mit der er sich heute Abend hier treffen sollte, würde das vermutlich viel schwieriger sein. Der Gedanke an die Verwirrung dieser anderen Person sorgte dafür, dass er sich in der
unruhigen Atmosphäre des Nachtclubs gleich viel wohler fühlte. Das anstehende Gespräch würde er so viel mehr genießen können. Gedankenverloren strich er über die Narbe oberhalb seines linken Auges. Es war eine unwillkürliche Geste, doch sobald sie ihm bewusst wurde - so wie in diesem Moment -, dachte er daran, wie er zu dieser Narbe gekommen war: durch eine Klinge, blitzschnell geführt von einem Alien, der ihn in kleine Stücke hatte schneiden wollen. Es war ein Alien gewesen, den er mit Genuss getötet hatte, auch wenn er kaum etwas davon hatte sehen können. Die breit gefächerte Salve aus der automatischen Waffe hatte den Zor auf jeden Fall getötet, und genau das zählte. Sein Hass auf die Zor hatte in diesem Erlebnis seinen Ursprung. Angesichts der Art und Weise, wie er mit Aliens zu tun hatte, war eine solche Einstellung auch kaum ein Wunder. Mit Blick auf die 179 an Konflikten reiche Geschichte der beiden Spezies war nicht mal eine Entschuldigung nötig gewesen. Auch wenn überall im Imperium protestiert wurde, weil Admiral Marais und seine abtrünnige Flotte so grausam vorgegangen waren, würde es ihn nicht überraschen, wenn die Stimmung genauso einhellig umschlug, sobald der Admiral zu dem Schluss kam, den Imperator zu stürzen und seinen Platz einzunehmen. Schließlich gibt es doch nichts, was mehr gelobt wird als ein Sieg, dachte er. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als eine vertraute Gestalt die Tanzfläche zu überqueren versuchte. Einen Moment später gab ihm ein Beobachter, der strategisch gut platziert war, ein Zeichen. Mit dieser Pflichtverletzung werde ich mich später befassen, überlegte er und sammelte sich, um seinen Besucher zu empfangen. Die Person näherte sich so langsam dem Alkoven, als überlege sie noch bis zur letzten Sekunde, die Verabredung vielleicht doch platzen zu lassen. Der Agent deutete auf einen freien Platz ihm gegenüber. »Machen Sie es sich bequem, Sir«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« »Ich glaube nicht.« Tomas Hsien, Mitglied der Imperialen Versammlung, sah sich um wie eine Katze auf der Jagd, die feststellen wollte, ob Rivalen in ihrem Revier unterwegs waren. Wie der Agent erwartet hatte, fühlte sich Hsien in dieser Umgebung sehr unbehaglich. Allerdings gelang es ihm, das zumindest für ungeübte Beobachter recht gut zu überspielen. Der Agent war froh, dass er zu den geübten Beobachtern zählte. »Es muss doch irgendeinen abgeschiedeneren Ort geben, an dem wir uns hätten treffen können«, sagte Hsien schließlich und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, der sich eben an seine Konturen anpasste. »Natürlich gibt es den, Abgeordneter«, erwiderte der Agent und fuhr wieder mit einem Finger über seine Narbe. Hsien schien der 179 Geste zu folgen und wirkte ein wenig irritiert. »Aber das hätte Argwohn geweckt. So dagegen wird man es als ein Treffen eines Mitglieds der Imperialen Versammlung mit einem potenziellen Gönner abtun.« Der Agent hob sein Glas und berührte etwas darunter, woraufhin der Lärm nachließ und auch die grellen Lichter der Tanzfläche an Intensität zu verlieren schienen. »Ah, schon besser.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen noch irgendetwas berichten kann, was Sie nicht sowieso längst wissen. Ich habe von Ihren Augen und Ohren keine Spur gefunden, allerdings habe ich gehört, dass das Flottenkommando von einem Agenten wusste.« »Ich bin überzeugt, dass man ihn erfolgreich aus dem Weg geräumt hat. Aber das kümmert mich im Moment nicht. Ich will mehr über Ihr Treffen mit dem Admiral erfahren.« »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als das, was ich bereits berichtet habe.« »Tun Sie's für mich.« Hsien kniff die Augen ein wenig zusammen. »Warum sind Sie so sehr daran interessiert? Er schien sich weder für meine Macht noch für meine Verbindungen zu interessieren. Dafür hatte er mir ohne Umschweife erzählt, was er vorhat. Nach allem, was ich bislang zu sehen bekommen habe, setzt er sein Vorhaben Punkt für Punkt um.« »Jemand wollte ihn heute umbringen«, sagte der Agent. »Was?« »Ein Copter griff den Admiral und Mitglieder des Kriegsgerichts an. Es gab Opfer, aber Marais ist unverletzt. Er nimmt an, die Agency steckt dahinter - mit oder ohne Wissen des Imperators.« »Und? Stecken Sie dahinter?«, fragte Hsien ruhig. Der Agent wollte seiner Wut Ausdruck verleihen, überlegte es sich dann aber anders. »Natürlich nicht. Wenn wir seinen Tod wollten, dann wäre er längst tot. Mit diesem Angriff hatten wir nichts zu tun.« »Aber Sie wollen wissen, wer ... Augenblick mal. Sie denken doch nicht...« 179
»Nein, ich denke nicht, dass Sie etwas damit zu tun hatten. In Ihrem Lager gibt es einige Leute, die dazu willens wären, und sogar ein paar, die dazu fähig sein könnten. Aber Sie würden nicht davon profitieren, wenn Sie Marais zum Märtyrer machen. Aus einem ganz ähnlichen Grund haben wir ebenfalls kein Verlangen, ihn jetzt und auf eine solche Weise zu ermorden. Aber irgendjemand oder irgendeine Gruppe hat genau das versucht. Deshalb frage ich Sie, Abgeordneter: Was ist da draußen geschehen? Was hat Marais Ihnen erzählt?« »Ich habe Ihnen bereits gesagt...« »Dann sagen Sie es mir noch einmal.« »Also gut...« Die Lifttüren glitten zur Seite und gaben die Sicht frei auf das Aussichtsdeck der Gagarin, das einen Rundumblick auf die nächste Umgebung des gewaltigen Transporters erlaubte. Ein aufmerksamer Betrachter konnte einen kränklich wirkenden rosaroten Lichtpunkt ausmachen, der den näher gelegenen Gasriesen darstellte, sowie die orangegelbe Sonne von A'anenu. Das viel beeindruckendere Bild war jedoch das von abertausenden von Sternen. Überall wurde der schwarze Himmel vom Licht ferner Sonnen durchbrochen, die einzige Ausnahme bildete ein breiter Streifen, der sich wie ein bösartiger schwarzer Striemen durch das Sternenfeld zog: die Verwerfung, die Grenze, hinter der sich die Innersten Sterne der Zor befanden. Bis auf zwei Marines am Lift und einen Mann, der mit dem Rücken zu Hsien in einem Sessel saß und die Verwerfung betrachtete, war das Deck leer. Hsien ging zu ihm hinüber, fühlte sich aber beim Anblick dieses beeindruckenden Panoramas klein und unbedeutend. »Abgeordneter«, sagte Marais, drehte sich in seinem Sessel um und deutete auf einen Platz. Er trug ein Schwert, das in einer kunstvoll verzierten Scheide steckte. »Admiral«, erwiderte Hsien und setzte sich. 180 »anGa'e'ren«, sagte der Admiral und deutete auf die Verwerfung, die auf dieser Seite des Aussichtsdecks den größten Teil des Ausblicks für sich beanspruchte. »Die Schleichende Finsternis. Die Zor glauben, die Verwerfung sei das Zuhause der Diener des Täuschers. Sie glauben, sie wachse langsam und strebe danach, alles Licht zu schlucken.« »Wie drollig.« »Sie sind ein höchst interessanter Mensch, Mr Hsien«, meinte Marais, legte einen Arm auf die Lehne und verschränkte die Finger. »Ich hätte nicht gedacht, dass irgendein Mitglied der Imperialen Versammlung so bereitwillig für nichts weiter als ein politisches Manöver sein Leben aufs Spiel setzt.« »Ich hoffe, es ist mehr als nur das, Mylord.« »Ich denke, Sie werden enttäuscht sein.« Marais sah wieder zur Verwerfung. »Sie wissen nicht viel über die Zor, nicht wahr, Mr Hsien? Sie haben Ihr Leben als Politiker damit verbracht, in Genf Reden zu schwingen, aber Sie haben eigentlich gar keine Ahnung, was die Zor angeht.« »Ich weiß, dass sie uns auslöschen wollen. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein, den man kennen sollte.« »Aber den Grund kennen Sie nicht.« Es war eher eine Aussage, weniger eine Frage, die nach Hsiens Meinung ein Köder war, damit er sich dagegen zur Wehr setzte. Er sprang nicht darauf an, sondern wartete, dass der Admiral fortfuhr. Nach einer Weile sagte Marais: »Sie wollten uns auslöschen, weil unsere bloße Existenz für sie ein Affront war. Wir haben sie beleidigt, indem wir einfach da waren.« »Mir ist nicht entgangen, dass Sie die Vergangenheitsform benutzen.« »Die Situation hat sich geändert.« Marais stand auf und entfernte sich ein paar Schritte, während eine Hand auf dem Heft seines Schwerts ruhte. »Alles hat sich geändert, und wir müssen uns ebenfalls ändern.« »Ich kann nur schwer glauben, dass die Zor ihre Xenophobie 180 über Bord geworfen haben. Laut Ihrem Buch besteht ihre einzige Alternative im Kampf bis zum bitteren Ende. Geändert haben wir uns, nicht die Zor, indem wir auf ihr Niveau gesunken sind. Zumindest gilt das für diejenigen, die diesen Feldzug geführt haben.« »Das finden Sie abstoßend.« »Natürlich! Ich kann nicht behaupten, ich würde die Zor lieben. Aber die Auslöschung einer ganzen Spezies empfinde ich als widerlich. Sie nicht?« »Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass es mir nicht anders geht? Überlegen Sie doch mal, Abgeordneter. Ich bin derjenige, gegen den Sie im Parlament gewettert haben. Sie haben mir Grausamkeiten, Meuterei und Verrat unterstellt, und zuletzt haben Sie behauptet, ich wolle den Thron auf Oahu besteigen. Und doch sind Sie jetzt hier, über hundert Parsec von zu Hause entfernt, weil Sie... was? Was wollen Sie
überhaupt hier? Verbrüderung mit dem Monster, das Sie vernichten möchten? Sehr doppelzüngig, Abgeordneter. Sehr opportunistisch, Abgeordneter. Das empfinde ich als widerlich.« »Ihre Rhetorik beeindruckt mich, Mylord. Sie hätten einen guten Politiker abgegeben.« »Ich sollte Sie für diese Bemerkung ins Vakuum stoßen«, raunte Marais. Seine wütende Miene nahm mit einem Mal etwas sanftere Züge an. »Aber verraten Sie mir lieber etwas anderes: Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erkläre, dass der Krieg vorüber ist?« Hsien hatte einen Augenblick lang das Gefühl, ein eisiger Hauch wehe über das Aussichtsdeck. Die Sterne wirkten plötzlich erheblich weiter entfernt, die Verwerfung schien größer und bedrohlicher. Marais verzog keine Miene. »Dann haben Sie es also getan.« Hsien sah wieder auf das Schwert, doch Marais sagte nichts dazu. »Ich war auf Zor'a«, sagte er stattdessen. »Aber wir haben die Zor nicht ausgelöscht. Vielmehr hat sich etwas Außergewöhnliches zugetragen. Die Zor haben ihre Sichtweise des Universums 181 grundlegend geändert. So grundlegend, dass es nicht nötig ist, den Feldzug gegen sie fortzusetzen. Der Krieg ist vorüber, wir haben gewonnen. Aber wir mussten sie nicht vernichten. Und besser noch: Die Zor hielten es nicht länger für nötig, sich selbst das Leben zu nehmen. Wir haben aus Feinden Verbündete gemacht.« »Verbündete? Sind Sie verrückt?« »Wir können uns auf die Brücke begeben und einen Blick auf das Pilotendisplay werfen, wenn Sie möchten. Momentan sind in diesem System einundzwanzig Zor-Schiffe anwesend. Einige von ihnen werden mich ins Sol-System begleiten.« Unzählige Möglichkeiten und ihre Folgen jagten durch Hsiens Kopf, während er über Marais' Worte nachdachte. Er zweifelte nicht daran, dass der Mann die Wahrheit sprach. Dass sich Zor-Schiffe im System aufhielten, hatte man bereits auf der Cameron festgestellt, ehe er auf den Flottentransporter gekommen war. Die Zor jedoch als Verbündete zu betrachten, das überstieg in diesem Augenblick seine Auffassungsgabe genauso wie der Gedanke, sie ins Sol-System zu bringen. Eine selbstmörderische Zor-Crew konnte mit einem einzigen Schiff Verheerendes anrichten, indem sie es über Buenos Aires, London oder Genf abstürzen ließ... oder auf Oahu... »... und dann sagte er mir, er habe nicht die Absicht, Imperator zu werden«, sagte Hsien schließlich, während er seinen Blick über das Gedränge im Club schweifen ließ. »Er sagte, er kommt zurück, um in einem ordentlichen Gerichtsverfahren alle Vorwürfe gegen ihn zu widerlegen. Er erklärte mir, die Zor hätten ihm irgendeinen Posten in ihrer Regierung gegeben, den eines Fürsprechers oder so etwas. Ich vermute, das Schwert hat etwas damit zu tun. Ich könnte mir vorstellen, dass sich ein Militärgericht dafür nicht sonderlich interessieren wird.« »Und was glauben Sie?« Hsien antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich seufzend zurück und rieb sich die Stirn. »Ich glaube, unser Admiral Marais ist 181 gerissener und unbarmherziger als seinerzeit Admiral Willem McDowell. Einiges spricht dafür, dass das Gerichtsverfahren nur Augenwischerei ist. Erst danach wird wirklich etwas geschehen. Entweder wird er freigesprochen und kann tun und lassen, was er möchte, oder man verurteilt ihn, und er wird das Urteil nicht anerkennen. Er ist nicht auf den Kopf gefallen«, fügte er an. Der Agent verzog keine Miene. »Gehen Sie davon aus, dass er der nächste Imperator wird?« »Tja...« Hsien stand auf und verbeugte sich mit einem Anflug von Ironie. »Das hängt doch eigentlich ganz von Ihnen ab, nicht wahr?« »Abgeordneter...« »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Hsien schien darauf bedacht, möglichst schnell wieder auf Abstand zu dem Agenten zu gehen. Gemächlich entfernte er sich, verfolgt von den wachsamen, aber verborgenen Blicken der Beobachter, die der Agent auf ihn angesetzt hatte. Der Imperator liebte seine kleinen Anachronismen. Es war eines der Privilegien seines Amtes, sich mit Dingen beschäftigen zu dürfen und zu können, die längst aus der Mode gekommen oder die technologisch völlig veraltet waren. Er sammelte alte 2-V-Ge-räte und -Aufnahmen - ecwfe Filme, nicht bloß Videos. Er segelte in den ruhigen Gewässern vor Waikiki, ohne sich von einem Außenbordmotor antreiben zu lassen. Er ritt auf seinem Pferd am Strand entlang, der zu seinem imperialen Anwesen gehörte. Hierbei konnte er sich entspannen, wenn von allen Seiten Stress auf ihn einstürmte. Außerdem entstand für ihn auf diese Weise eine spirituelle Verbindung zu früheren Imperatoren, wenn er an den Wellen entlangritt und sein Umhang hinter ihm im Wind wallte.
An diesem Nachmittag fühlte er sich besonders unbehaglich. Er machte sein Pferd an einer Klippe fest und wartete, während sich ein privater Skimmer langsam dem flachen Wasser näherte. Gelenkt wurde er von einem unscheinbaren Mann in legerer Klei 182 dung, der sieh durch nichts von tausend anderen Freizeitkapitänen vor den Küsten von Hawaii unterschied. Der einzige Punkt, der Misstrauen wecken konnte, war die Tatsache, dass er sich dem imperialen Anwesen nähern durfte. Alexander wartete geduldig, während auf den Klippen hinter ihm zwei Scharfschützen bereitstanden, um auf ein Zeichen von ihm das Feuer zu eröffnen. Der Zivilist ließ den Skimmer auf den Strand gleiten, dann schaltete er das Gravfeld ab. Langsam sank das Wasserfahrzeug nach unten, der Mann stieg aus und kam auf den Imperator zu. Vor ihm blieb er stehen und vollführte eine Verbeugung, die das Minimum dessen zu sein schien, was er an Ehrerbietung zu zeigen hatte. »Eure Majestät hat mich herbestellt«, sagte er. »Verdammt richtig«, erwiderte Alexander und wurde ein wenig lauter. »Was zum Teufel...« Er hielt inne, da ihm bewusst wurde, dass seine Stimme über den leeren Stand getragen wurde. Etwas leiser sprach er weiter, wobei er den Mann verärgert ansah. »Was zum Teufel sollte dieser völlig inkompetente Attentatsversuch?« »Eure Majestät scheint keine hohe Meinung vom Imperialen Geheimdienst zu haben, wenn ich das so sagen darf, Sire.« »Sie haben mir keinen Grund geliefert, eine bessere Meinung zu bekommen. Aufgrund Ihrer Pfuscherei haben sich Marais und seine Spießgesellen in den Orbit zurückgezogen. Das Tribunal ist ihm da oben praktisch ausgeliefert! Was...« Der andere Mann hob eine Hand. »Verzeihen Sie, Sire, wenn ich Sie unterbreche, aber wir haben keinen Attentatsversuch auf ihn unternommen. Wir wissen selbst nicht, wer den Anschlag verübt hat. Wir...« »Die Premierministerin informierte mich, dass der Copter gestoppt werden konnte. Haben Sie...« »Wir haben den Copter gründlich untersucht, Eure Hoheit. Es stimmt, dass er im Namen der Agency von der Offutt Base angefordert worden war, aber nachdem die Abfangjäger ihn gezwun 182 gen hatten, im nördlichen Missouri zu landen, konnten wir weder im noch rund um das Fahrzeug irgendetwas finden. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass er nicht einen einzigen Kilometer zurückgelegt hat, seit er Offutt verlassen hatte.« »Das ist völlig unmöglich«, gab der Imperator zurück. »Die Black Box wird zeigen, dass er benutzt wurde.« Er sah an dem Mann vorbei hinaus aufs Meer und war für einen Moment lang von irgendetwas abgelenkt. »Die Beweise ... oder ihr Fehlen ... machen eines klar, Sire. Jemand hat versucht, Marais zu töten, und er hat dabei seine Spuren so gut verwischt, dass die Agency ihn bislang nicht aufspüren konnte.« »Und derjenige, der den Copter angefordert hat?« Der Geheimdienstmann lächelte geheimnisvoll. »Das gibt uns die meisten Rätsel auf, Sire. Der Offizier, der den Copter anforderte, ist ein Mann, der seit dem jüngsten Feldzug gegen die Zor als vermisst gilt. Sein Name ist... Captain Thomas Stone.« 182
21. Kapitel
Dem Angeklagten [vor einem Kriegsgericht] soll zu den folgenden Zwecken gestattet werden, eine Verlegung des Verhandlungsorts zu beantragen: - um ein gerechtes und unvoreingenommenes Verfahren zu garantieren: - um dem Ort näher zu sein, der von entscheidender Bedeutung bei der Beweisführung ist; - um unter außergewöhnlichen Umständen die Sicherheit der Mitglieder des Gerichts, der Mitarbeiter des Gerichts oder des Angeklagten zu garantieren. Militärgesetzbuch, Artikel 28 (d/2)
Die Barkasse landete auf dem Hangardeck. Die internen Systeme wurden an die Energieversorgung der Lancaster angeschlossen, ohne dass es zu einem spürbaren Abfall in der Leistung kam. Ted McMasters stand auf, griff nach seiner Aktentasche und sah, dass James Aronoff das Gleiche tat. »Mir gefällt das überhaupt nicht, Sir.« Aronoff stellte seine Tasche auf den nun freien Sitz und zog seine Uniformjacke zurecht. »Das ist höchst vorschriftswidrig.« »Wir haben es aber auch nicht mit einer normalen Situation zu tun, Commander.« »So sehe ich das nicht, Admiral. Auch mein Vorgesetzter teilt Ihre Meinung nicht. Ein Kriegsgericht ist ein Kriegsgericht, und das...« »Das Gericht hat gegenüber dem Angeklagten eine gewisse Verantwortung, und wir waren nachlässig.«
Aronoff griff wieder nach seiner Tasche. »Es ist etwas vorgefallen, was sich der Kontrolle des Gerichts entzog.« 183 »Jemand hat versucht, ihn umzubringen. Und uns gleich mit. Sie eingeschlossen. Die Schüsse, die die Verteidigerin Russ trafen, hätten auch Sie erwischen können. Seien Sie doch realistisch, Aronoff. Wie sollte Marais sonst reagieren? Der Crew der Lancaster kann er offenbar vertrauen.« »Das sind ja auch alles Verräter, so wie er«, schnaubte Aronoff. »Zumindest so lange, bis die Verteidigung das Gegenteil beweist. Ich muss Sie wohl daran erinnern, Admiral, dass diese Leute nicht gezögert haben, im großen Stil zu morden. Wir sind auf diesem Schiff nicht in Sicherheit.« McMasters atmete tief durch, dann erst erwiderte er: »Admiral Marais gab mir sein Wort...« »Das ist nichts wert.« »Er gab mir sein Wort, verdammt noch mal«, fuhr McMasters fort, der seine Verärgerung nur mit Mühe unterdrücken konnte, »und das ist sehr wohl einiges wert, Commander, und zwar so lange, bis Sie mir das Gegenteil beweisen. Der Admiral ist ein Offizier, und er ist ein Gentleman. Ich muss Sie wohl daran erinnern, dass er in diesem Augenblick nach wie vor ein Admiral der Navy Seiner Imperialen Majestät ist. Er gab mir sein Wort, dass wir angemessen empfangen werden und nach Abschluss dieser Gespräche wieder abreisen können. Ich habe sein Wort akzeptiert, und ich respektiere es.« »Ohne jeden noch so leisen Zweifel?« Aronoff stellte sich dichter vor McMasters und versuchte, dessen Miene zu deuten. »Ohne Angst um Ihr Leben? Admiral Marais könnte auf einmal seine Meinung ändern und beschließen, dass er doch auf der Seite der Zor steht oder dass er Imperator werden möchte. Dann wären wir auf der Lancaster von Verrätern umgeben, und mit einem Mal wären wir im Weg. Macht Ihnen so etwas keine Sorgen, Admiral?« McMasters ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ja, natürlich macht mir so etwas Sorgen. Aber die Fortsetzung dieses Verfahrens liegt in meiner Hand, und es gibt wahrscheinlich ein paar Millio 183 nen Menschen, die ihm an den Kragen wollen. Aber solange ich hier das Sagen habe, wird niemand ihn lynchen. Ich werde meiner Pflicht nachkommen und dafür sorgen, dass er ein gerechtes und gründliches Verfahren bekommt.« Während er sich abwandte und zur Luftschleuse der Barkasse ging, fügte er an: »Ich habe einen Job zu erledigen, und genau dafür bin ich hergekommen, Commander. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das Gleiche machen.« Aronoff blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. »Ich bin in meinem Bereitschaftsraum, falls Sie mich brauchen, Captain Smith«, sagte der junge Captain schließlich, salutierte und ging über die Rollbahn zu einer Gruppe von Gebäuden am Rand des Geländes. Smith setzte sich in den Pilotensitz des Copters und sah dem Mann nach, bis er davon überzeugt war, dass der aufdringliche junge Mann seine Aufmerksamkeit anderen Dingen gewidmet hatte. Es war schwierig gewesen, den Captain dazu zu bewegen, ihn endlich allein zu lassen. Doch wenn er es genau überlegte, wurde ihm bewusst, dass es mindestens genauso schwierig gewesen war, überhaupt so weit vorzudringen. Die Admiralität wollte niemanden - nicht mal den Imperialen Geheimdienst - an den Copter heranlassen, der Marais angegriffen hatte. Aber dieser Widerstand hatte nicht genügt, um sich gegen einen Befehl mit dem offiziellen Siegel des Imperators zu behaupten. Sie hatten ihn auf die Basis und an das Fahrzeug herangelassen, dabei aber immer wieder betont, sie hätten es Millimeter für Millimeter abgesucht, aber nichts finden können. Er hatte ihre Beteuerungen mit einem Lächeln ignoriert. Dann endlich war auch der Letzte von ihnen gegangen, sodass er mit seiner Untersuchung anfangen konnte. Zweifellos war irgendwo im Cockpit eine Spycam versteckt. Sollen sie ruhig spionieren, dachte er. 183 Er öffnete seine kleine Reisetasche und holte ein Gerät heraus, das mit einem tragbaren Sensor Ähnlichkeit aufwies. Im Labor des Geheimdienstes war es so umgebaut worden, dass es Dinge wahrnehmen konnte, die normalerweise unentdeckt blieben. Nachdem er es auf den Boden des Cockpits gestellt hatte, nahm er die Verkleidung der Instrumententafel ab. So wie fast jedes Luftfahrzeug besaß auch dieser Copter eine Black Box, die Richtung, Strecke und Geschwindigkeit jeder Flugbewegung aufzeichnete. Sobald sich an einem der Faktoren etwas änderte, wurden die neuen Informationen an die Black Box übertragen. Unter normalen Umständen war es unmöglich, Veränderungen vorzunehmen, ohne dass man eine Spur hinterließ. Ein Team hatte den Copter mitsamt Black Box untersucht und nichts gefunden. Aber die Tatsache, dass er laut den aufgezeichneten Daten vor dem
Angriff auf Marais nicht von der Stelle bewegt worden sein sollte, war Beweis genug, dass etwas nicht stimmen konnte. Es gab Mittel und Wege, die Daten einer Black Box zu verändern. Einige dieser Methoden waren extrem schwer nachzuweisen; mit einem halben Dutzend von ihnen war die Agency vertraut. Smith nahm die Frontplatte ab und entfernte die Verkleidung aus geformtem Kunststoff, um das Flugkontroll-Pad freizulegen. Der versiegelte Flugrecorder war gleich unter der Lenksäule installiert. Er löste ihn aus der Halterung und begutachtete ihn von allen Seiten. Die Siegel waren unversehrt, es gab keine Kratzspuren oder Beulen, die auf eine mechanische Manipulation hätten schließen lassen. Das überraschte ihn aber auch nicht weiter, denn am einfachsten war es, die Daten auf elektronischem Weg zu verändern. Doch selbst dann gab es Hinweise auf die Manipulation, die seine Ausrüstung schnell finden würde. Hoffe ich zumindest, dachte er. Er bewegte den Sensorstab langsam über die Box. Auf einmal musste er an Violet denken, jenen großen dunkelhäutigen Mann mit den markanten Gesichtszügen und dem schläfrigen Blick. Violet war seit vielen Jahren Mitglied im innersten Kreis der 184 Agency, und vermutlich hatte er es arrangiert, dass dieser Captain Stone Marais angriff. Es passte alles genau zu seinem Stil: ein listiger Plan, alle Spuren verwischt, dafür eine offensichtliche, fast schon schlampige Ausführung. Nein, korrigierte er sich. Nicht nur >fast schon<, sondern tatsächlich schlampig. Zu viele Dinge konnten schief gehen, aber seinetwegen würde es jetzt umso schwieriger werden, sollte der Imperator die Operation Tattoo befehlen. Er verwarf den Gedanken. Dass es einem Mitglied des innersten Kreises an Loyalität gegenüber der Agency mangelte, war an sich bereits beängstigend. Aber eine miserabel ausgeführte Operation machte alles nur noch schlimmer. Er konzentrierte sich auf die Arbeit, die vor ihm lag, und tastete sorgfältig die Black Box von allen Seiten ab. »Na, das ist ja interessant«, sagte er leise, als er fertig war. Vor ihm in der Luft hing ein 3-V-Diagramm, das ein Energiemuster von einer Art zeigte, die ihm völlig fremd war. Mit dem Drücken einiger Tasten veränderte er die Struktur des Diagramms und ging die verschiedenen Anzeigemöglichkeiten durch, um ein Bild zu bekommen, das für ihn einen Sinn ergab. Was er sah, passte zu keinem jemals aufgezeichneten Energiemuster, zudem schien es sich ständig zu verändern, als reagiere es auf irgendeine Unterschwingung, die er nicht feststellen konnte. So wie das Abwehrfeld eines Raumschiffs, überlegte er. Spontan ließ er die Struktur nach der Restucci-Verteilung anzeigen, eine mathematische Darstellung, die benutzt wurde, um scheinbar zufällige Veränderungen in den Feldern eines Raumschiffs festzustellen. Sofort veränderte sich das Bild in eine Art Kegel, dessen Spitze auf die Oberseite der Black Box konzentriert war. Der Kegel stand genau oberhalb der Stelle, an der sich die Elektronik des Recorders befinden musste. Smith lehnte sich zurück und legte den Sensorstab zur Seite. Das Team war vielleicht nicht auf dieses Muster gestoßen oder hatte es als Fehlfunktion der Ausrüstung abgetan. Natürlich konnte es auch sein, dass sie wussten, was sie erwartete, und einfach da 184 rüber hinweggingen. Wenn Violet sie auf seine Seite gebracht hatte. Wieder drehten sich seine Gedanken um Violet. Er musste gewusst haben, dass er isoliert werden würde. Er hatte sicher lange im Voraus Vorkehrungen getroffen, damit er auch weiterhin auf die Ressourcen der Agency würde zugreifen können. Stone wäre ihm als Agent sicher hilfreich gewesen. Er war der Adjutant des Admirals ...jedenfalls war er das bis zu seinem Verschwinden gewesen... Smith berührte das Kontroll-Pad und rief Stones Personalakte auf. Als sie auftauchte und das Energiemuster verschwand, beugte sich Smith so rasch nach vorn, dass er mit der Stirn gegen die Verkleidung stieß. »Februar 2307«, sagte er leise vor sich hin. Violet war Mitglied des innersten Kreises gewesen seit... September 2306? Oktober 2306? Es passte fast schon zu perfekt. Violet wird Mitglied des innersten Kreises des Imperialen Geheimdienstes. Er bringt Stone ins Spiel. Der hat genau die richtigen Empfehlungen in der Tasche. Bei Mothallah wird er Marais vorgestellt... Was geschah dann?, fragte er sich stumm und rieb sich die Stirn. Hat Violet die Kontrolle verloren? Hat Stone einen Fehler gemacht und musste verschwinden - nur um hier wieder aufzutauchen und seinen Auftrag doch noch zu erledigen? Oder hatte Violet von Anfang an vorgehabt, Marais zu einer ernsthaften Bedrohung für den Thron aufzubauen? Sollte der Angriff vielleicht fehlschlagen und lediglich das Verfahren stören?
Sein Blick kehrte zurück zu dem Energiemuster. Er wusste noch immer nicht, was er damit anfangen sollte, also ließ er seine Gedanken weiter schweifen. Was ist mit Stone? Denk nach, verdammt noch mal. Das muss doch irgendeinen Sinn ergeben! Ein Flottenoffizier - zudem noch einer, der Adjutant des Admirals ist - verschwindet während eines Feldzugs. Es gibt keine Be 185 stätigung seines Todes, nicht mal eine Vermisstenmeldung... und keinen Hinweis darauf, dass die Lancaster von irgendetwas getroffen wurde, als er noch an Bord war. Er war bei der Einnahme der A'anenu-Basis anwesend, aber bei der Kapitulation der Basis in der Verwerfung war er wie vom All verschluckt. Er konnte nicht während des Sprungs verschwunden sein, also musste er bei A'ane-nu das Schiff verlassen haben. Irgendwie war er dann von dort heimgekehrt, um Violets Auftrag auszuführen und Admiral Marais zu töten. Oder auch nicht. Wenn er der Adjutant war, warum nutzte er dann nicht die erstbeste Gelegenheit, um den Admiral umzubringen? Wollte Violet, dass Marais erst die Zor vernichtete? Aber das hatte er gar nicht gemacht. Sicherlich hatte Violet nicht die Absicht gehabt, dass es so ablief, wie es gelaufen war. Aber wie war Stone von A'anenu zurückgekommen? Er brauchte einen Komplizen! Hsien! Er hatte den Bericht über Hsiens kleinen Ausflug nach A'anenu gelesen, bevor Marais von den Innersten Sternen der Zor zurückgekehrt war. Er kannte die Schilderung des Abgeordneten, was sein Treffen mit dem Admiral an Bord der Gagarin anging. Auf den ersten Blick passte alles zusammen, was Hsien da beschrieb. Dennoch hatte Smith es ihm nicht abnehmen können, weil er das Gefühl hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn Hsien mit - oder wohl eher für - Violet arbeitete, dann gab es einen guten Grund für ihn, nach A'anenu zu reisen: Er sollte Stone abholen. Irgendetwas musste geschehen sein, das es Stone nicht erlaubt hatte, länger an Bord der Lancaster zu bleiben. Wenn Hsien es geschafft hatte, jemanden mit einer so hohen Sicherheitseinstufung wie Stone zurückzubringen, dann standen Violet auch ohne die Zugehörigkeit zum innersten Kreis der Agency gewisse Wege zur Verfügung. Er rief die Logbücher der Lancaster auf, die der Agent von 185 Orange hatte übermitteln können, bevor es erforderlich geworden war, ihn abzuziehen. Irgendwo musste es doch einen Hinweis darauf geben, warum Stone das Flaggschiff verlassen hatte. Zwanzig Minuten später fragte er sich, ob seine Schlussfolgerungen womöglich auf Sand gebaut waren. Nach allem, was er an Daten zusammentragen konnte, war Stone noch lange nach der Einnahme von A'anenu auf der Lancaster gewesen. Ohne Zugriff auf die restlichen Logbücher war es nicht möglich, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Er konnte überhaupt keine Verbindung zwischen den einzelnen Personen herstellen, solange er nicht wusste, was geschehen war. Außerdem war da immer noch die Sache mit dem Energiefeld. Der Flugschreiber war auf eine Weise manipuliert worden, die er nicht identifizieren konnte. Dies war das Einzige, was er mit Stone in Zusammenhang bringen konnte, und vielleicht würde er so auch Violet auf die Spur kommen. Wenn seine Vermutungen zutrafen, musste Violet auf Ausrüstung zugreifen, die ein solches Feld erzeugen konnte, und damit... Moment mal, unterbrach er seine Überlegung. Wenn er etwas besitzt, das ein solches Feld erzeugt, wie groß sind dann die Chancen, dass er dieses Gerät nicht nur einmal benutzt hat? Und wie groß sind die Chancen, dass das weltweite Datennetz in der Lage ist, eine weitere Ausstrahlung dieser Art zu finden? Vielleicht macht er sich ja nicht mal die Mühe, es abzuschirmen! Ein paar Minuten später hatte Smith die Antwort auf seine Fragen. Der Bugmonitor zeigte die Erde, wie sie zum Teil in Schatten getaucht war. Sergei saß im Pilotensitz und ging vorgeblich die Wochenberichte der Abteilungen durch, die auf dem Betrachter angezeigt wurden, den er auf dem Schoß liegen hatte. Die Berichte konnten kaum sein Interesse fesseln, wenn er daran denken musste, was sich ein paar Decks unter ihm abspielte. McMasters und der Anklagevertreter waren an Bord des Schiffs gekommen, ob 185 wohl der Erste Lord der Admiralität einen sehr behutsam formulierten Protest eingelegt hatte. Marais seinerseits hatte die Lancaster und fünf weitere Schiffe zum L-5-Punkt zwischen Erde und Mond beordert. Die Verteidigungsflotte des Sol-Systems war hoffnungslos unterlegen, dennoch würde ein einzelner, gut
gezielter Flugkörper genügen, um den Rumpf der Lancaster aufzureißen und Marais und die anderen ins Vakuum zu befördern. Ein Teil seiner Gedanken drehte sich immer wieder um Marc Hudson, der sich in der Krankenstation der Lancaster von seinen Schusswunden erholte. Auch wenn er zu schwer verletzt war, um sich zu bewegen, hatte sich Hudson von einer äußerst lebhaften Seite gezeigt, als Sergei ihn eine Stunde zuvor besucht hatte. Hudson war verärgert, dass er in einem unbequemen Krankenbett halb aufrecht sitzen musste. »Anweisung des Doktors, Commodore. Aber ich darf nicht aufstehen und salutieren, wenn Sie den Raum betreten.« »Ist auch nicht nötig.« Sergei zog sich einen Stuhl heran und fragte: »Wie geht's Ihnen, alter Soldat?« »Weitestgehend intakt. Nichts, was ich mir nicht selbst schon mal beim Basteln in der Werkstatt zugefügt hätte.« Er begann zu lachen, doch auf halber Strecke wurde daraus ein Hustenanfall. Als der vorüber war, fügte Marc an: »Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich froh sein, dass ich noch lebe. Verdammt noch mal! Da machen wir uns auf den Weg zu den Zor, um sie praktisch auszuradieren, gehen dabei das Risiko ein, von ihnen ins Vakuum geblasen zu werden, und dann kommen wir nach Hause und werden von unseren eigenen Leuten abgeknallt.« »Nicht von unseren eigenen, würde ich sagen.« Marcs Miene verfinsterte sich. »Wie meinen Sie das?« »Die Abfangjäger der Basis haben den Copter zur Landung gezwungen, aber keinen Piloten gefunden. Es gab nicht mal einen Beleg dafür, dass er in den Luftraum von Westmoreland eingedrungen war.« »Und woher kam er?« 186 »Offutt. Der Quartiermeister von Offutt hatte eine Anfrage für einen Copter erhalten, von einem gewissen Captain Thomas Stone.« Sergei bemerkte Hudsons erstaunten Ausdruck. Hudson war einer der wenigen, den er in Stones Verschwinden zwischen A'ane-nu und der Basis in der Verwerfung eingeweiht hatte. »Soll das ein Witz sein?« »Wenn ja, weiß ich nicht, von wem er kommen könnte. Nur ein paar Leute wissen, dass Stone verschwunden ist, und noch weniger wissen etwas über die Umstände. Da wir mit der Admiralität keine Daten austauschen, weiß man dort womöglich nicht mal etwas von seinem Verschwinden. Klingt doch nach Geheimdienst, oder?« »Allerdings.« Hudson versuchte vergeblich, seine Position im Bett zu verändern. Sergei hielt seinen Arm fest, woraufhin sich der Captain ein wenig zu entspannen schien. »Danach klingt es allerdings. Auf jeden Fall ist die Erklärung leichter als die Alternative.« »Die wäre...« »Dass es wirklich Stone war. Vielleicht lauert der Typ, der einfach mitten im Sprung von der Lancaster fortspazierte, irgendwo da draußen und wartet auf seine nächste Gelegenheit, den Admiral umzubringen« - er deutete auf den Brustverband -, »und jeden, der ihm dabei im Weg steht.« Und so saß Sergei jetzt wieder im Pilotensitz und kam sich klein und hilflos vor, überlegte, wie wohl die Befragung verlief, und fragte sich, ob sie von irgendwem da draußen beobachtet wurden. McMasters nippte an seinem Becher mit heißem Kaffee, dann stellte er ihn vor sich hin und faltete die Hände. »Admiral Marais«, sagte er und warf einen Seitenblick zum mürrisch dreinblickenden Aronoff. »Mir ist die Situation bewusst, in der wir uns befinden, aber ich kann nicht das Gericht hier auf Ihr Flaggschiff verlegen.« »Ich vertraue den Sicherheitsvorkehrungen von Commodore Torrijos«, erwiderte Marais. »Aber Ihren vertraue ich nicht.« 186 »Ich verstehe Ihre Haltung, Mylord.« McMasters griff erneut nach seinem Becher, stellte ihn aber gleich wieder hin. »Ich bitte Sie aber, auch meine Position zu verstehen. Sie haben entschieden, diesen... Disput... vor einem Kriegsgericht zu klären. Damit haben Sie einige Leute gegen sich aufgebracht, die Ihren Tod wollen. Wie es scheint, will jemand nicht, dass dieser Prozess bis zu seinem Ende durchgeführt wird. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand - ob Einzeltäter oder Verschwörer, ob aus zivilen oder militärischen Kreisen - dieses Gericht davon abhält, seine Arbeit zu machen. Ihre Sicherheit ist mir wichtig, aber Sie müssen auch verstehen, dass ich nicht einmal den Hauch eines Anscheins erwecken darf, ich könnte parteiisch sein. Eine Verlegung des Verfahrens auf die Lancaster muss einfach den Eindruck der Einflussnahme erwecken. Das würde dem Zweck des Verfahrens vollständig zuwiderlaufen.« »Was schlagen Sie vor?« »Eine Verlegung an einen für beide Seiten akzeptablen Ort, an dem Ihre persönliche Sicherheit garantiert ist.« »Die war mir zuvor auch schon garantiert worden«, gab Marais knapp zurück
McMasters wollte darauf etwas erwidern, doch Aronoff kam ihm zuvor. »Das Militärgesetzbuch verlangt nicht, dass dem Angeklagten dieses oder irgendein anderes Zugeständnis gemacht wird, Sir. Admiral Marais hat zwei Möglichkeiten. Entweder er akzeptiert die Vorgehensweise des Gerichts, und dazu gehört auch der Ort der Verhandlung, oder er lehnt ab und verabschiedet sich von seinem Wunsch, von den Vorwürfen freigesprochen zu werden. Ich bin mir sicher, dass der Kriegsgerichtsrat diesen Versuch eines ... Entgegenkommens ... nicht günstig beurteilen wird.« Er sprach es aus wie ein Schimpfwort. Wie er zu Marais stand, war nicht schwer zu erraten. »Die Meinung des Kriegsgerichtsrats interessiert mich nicht«, konterte Marais. »Er trifft nicht die Entscheidung.« »Ich glaube, es ist nicht nötig, Ultimaten zu stellen, Comman 187 der«, sagte McMasters und trank einen Schluck Kaffee. »Und ich glaube, wir können uns nicht einfach so über Formvorschriften hinwegsetzen, Admiral. Wären Sie der Captain eines Schutzschiffes, dem man vorwirft, die Flugrouten anderer Raumfahrzeuge gekreuzt zu haben, dann wäre dieses Verfahren schnell aus der Welt. Niemand würde versuchen, Sie umzubringen, und es wäre nicht nötig, über die Sicherheit des Verhandlungsortes zu diskutieren. So aber gibt es nur wenige Alternativen. Das Verfahren kann nicht auf einem Schiff stattfinden, das unter Ihrem Kommando steht. Jede nur einfach gesicherte Basis auf der Erde könnte einem Attentat ausgesetzt sein, wie wir es eben erst erlebt haben. Beim nächsten Mal ist der potenzielle Attentäter womöglich deutlich zielsicherer. Ich bevorzuge einen Ort, der sicher ist und zu dem nicht viele Personen Zutritt haben. Daher schlage ich die Mondbasis Grimaldi vor.« »Anstelle von Mare Imbrium«, sagte Marais. Mare Imbrium war der Standort der ursprünglichen Mondbasis, die Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts von der UN erbaut worden war. Im Lauf der Jahre war die Bevölkerungszahl bis auf mehrere Millionen angestiegen, die Basis reichte längst bis tief ins Innere des Mondes. Sie hatte sich auch auf der Oberfläche ausgebreitet, sodass man sie von der Erde mit bloßem Auge sehen konnte. »Grimaldi hat eingeschränkten Zugang. Sie ist an der Tag-und-Nacht-Grenze gelegen und damit abseits der Anflugrouten für Passagier- und Frachtschiffe. Es wäre nicht zu übersehen, wenn sich jemand über Land oder aus dem All nähern würde.« »Was ist mit der Lancaster? Erlauben Sie, dass sie in den Mondorbit einschwenkt?« »Nein«, rief Aronoff. »Das Büro des Kriegsgerichtsrats wird unter solch bedrohlichen Bedingungen nicht arbeiten. Wir erheben Einspruch.« McMasters sah von Marais zu Aronoff und starrte dann einen Moment lang in seine Kaffeetasse, als lege er sich die richtigen Worte zurecht. »Der Commander hat Recht. Weder die Lancaster 187 noch ein anderes Ihrer Schiffe wird sich über den L-5-Punkt zwischen Erde und Mond hinaus der Station nähern. Sie können aber einen kleinen Trupp Ihrer eigenen Marines der Autorität des Basiskommandanten unterstellen.« »Das ist gegen jede Vorschrift!«, begann Aronoff, aber McMasters winkte prompt ab. »Ich genehmige es unter der Voraussetzung, dass sie nur für Ihren persönlichen Schutz bestimmt sind«, fügte McMasters an, woraufhin Marais nickte. »Wenn Sie mit Grimaldi einverstanden sind, werde ich das Gericht informieren. Wir könnten dann in vierundzwanzig Stunden die Verhandlung fortsetzen.« »Ich bin einverstanden«, sagte Marais sofort. »Ich werde das mit dem Kriegsgerichtsrat besprechen müssen«, warf Aronoff ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Reaktion ausfallen wird.« Sagen Sie ihm, er hat keine Wahl, rief McMasters ihm im Geiste nach. Überhaupt keine Wahl! Dank des Zugriffs auf die Ressourcen der Agency war es für Smith nicht weiter schwierig, den Punkt festzustellen, an dem das ungewöhnliche Energiefeld aufgezeichnet worden war. Registriert hatte man es in der Hilton Head Arkologie vor der Ostküste von Nordamerika, keine vierundzwanzig Stunden nach dem Attentat auf Admiral Marais. Für einen misstrauischen Mann wie Smith war das viel zu offensichtlich, als dass es ein Zufall hätte sein können. Es wies direkt auf Violet hin, als wäre auf einem der beiden zweihundert Stockwerke hohen Gebäude ein Warnlicht angegangen. Smith war sich ziemlich sicher, dass es zwar unbedeutend, aber auch bezeichnend war, vor allem wenn - wie er vermutete - Violet nicht glaubte, die Agency könne den Zusammenhang entdeckt haben. Smith war nicht gewillt, den ehemaligen Agenten aus dem innersten Kreis vorzuwarnen. Schließlich war er zu der Entscheidung gelangt, selbst nach Hilton Head reisen zu müssen, anstatt
188 ein Team der Agency zu schicken oder eine Einheit der lokalen oder militärischen Behörden anzufordern. Ein Dutzend Vorgehensweisen hatte er sich zurechtgelegt, und immer wieder waren Zweifel am Erfolg aufgekommen, sobald er überlegte, wie er an Violets Stelle von einem bevorstehenden Zugriff Wind bekommen und sich absetzen würde. Es würde ein Leichtes sein, in der Anonymität der extrem mobilen Gesellschaft der Erde unterzutauchen. Er selbst war der Einzige, dem er vertrauen konnte. Er hatte zwar eine Nachricht an die Direktorin auf Callisto geschickt, in der er Ort und Zeitpunkt des Signals benannte, doch davon abgesehen, war er ganz auf sich gestellt. Mit einer anderen ID und leicht verändertem Aussehen betrat ein zivil gekleideter Smith ein kommerzielles Flugzeug mit Ziel Megalopolis Raleigh-Durham. Für zwei Stunden verlor er sich in den neuesten 3-V, auch wenn ihm der Flug viel länger vorkam. In den Nachrichten wurde vor allem über das Verfahren und über den Krieg berichtet: Leuchtende pastellfarbene Karten zeigten, welche Gebiete Marais' Flotte erobert hatte, dazwischen ein paar Schnipsel, die das Innere des Hohen Nestes der Zor zeigten und die irgendwie an die Öffentlichkeit gelangt waren - ich weiß genau, wie es dazu gekommen ist, dachte er -, außerdem Interviews mit führenden Mitgliedern der Versammlung, von denen einige voller Abscheu über Admiral Marais sprachen, während andere aus ihrer Freude über den erfolgreich geführten Krieg keinen Hehl machten. So fangt es an, sagte er sich. Und im Handumdrehen sind wir aus dem Schneider. Man muss nur den Admiral verteufeln, sich seinen Erfolg aber zunutze machen. Ihr elenden Bastarde, rief er dem 3-V-Schirm stumm zu, wo gerade ein Analytiker damit beschäftigt war, die möglichen Alternativen für die Regierung aufzulisten, falls der Krieg wirklich vorüber war. Falls der Krieg vorüber war... Und falls die Operation Tattoo die gewünschte Wirkung zeigte... 188 Und falls nicht irgendein starrsinniger Captain auf die Idee kam, St. Louis oder Genf oder Buenos Aires als Geisel zu nehmen und einen anderen zum Imperator zu machen. Smith war erleichtert, als der Flug nach R-D endlich vorüber war. Er war nur mit einer kleinen Tasche voller Ausrüstung unterwegs, sodass er schnell den Weg vom Flugzeug zu einem Mietfahrzeug zurücklegen konnte. Wenige Minuten später flog er bereits zur Küste, wo die sechs Gebäude weit in den Himmel aufragten, die die vor der Küste gelegene, ausladende Arkologie bildeten. Als die Hilton Head Arkologie Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts erbaut wurde, hatten sie noch einen Teil der Küste von Carolina überspannt, der aufgrund von Umweltschäden nicht länger benutzt werden konnte. Seitdem war das Land längst überspült, sodass die riesigen, untereinander verbundenen Wolkenkratzer, in denen etliche Millionen Menschen lebten, nun auf dem leuchtend blauen Wasser des Atlantiks zu schwimmen schienen. Die Arkologie hatte sich an diese veränderten Umstände angepasst und sie sogar in einen Vorteil verändert: Es herrschte eine gewisse Abgeschiedenheit, da ebenerdig nur eine Straße nach Hilton Head führte, die eine Strecke von mehr als einem Kilometer überbrücken musste. Die Sonne, die hinter Smith unterging, tauchte die Arkologie in einen farbenprächtigen Glanz. Zehntausende Solarreflektoren blendeten ihn und trieben die Polarisierung der Windschutzscheibe seines Mietfahrzeugs zu Höchstleistungen an. Auch wenn er nicht davon ausging, etwas Nützliches zu entdecken, ermittelte er die Adresse, von der aus das Signal gesendet worden war: eines der im südlichsten Gebäude zur Westseite weisendes Apartment. Die Fenster des Bauwerks spiegelten alle die untergehende Sonne wider. Alle... bis auf eines. Neugierig geworden passte er die Einstellung der Windschutzscheibe an, um den Ausschnitt zu vergrößern. Eine rasche Berech 188 nung seines Portable ergab, dass sich diese Abweichung exakt auf der Etage befand, auf der das von ihm gesuchte Apartment gelegen war. Das grelle Licht störte seine Sicht, aber einen Moment später begriff er. Jedes Apartment war von der Decke bis zum Boden verglast, das Glas selbst konnte in einigen Abschnitten polarisiert werden. Doch ganz gleich, ob es transparent oder undurchsichtig eingestellt war, die gesamte Außenseite bildete einen Sonnenkollektor, was die blendende Helligkeit der nach Westen weisenden Fassade erklärte. Dass eines der Fenster die Sonne nicht reflektierte, musste einen Ausfall der Polarisierung bedeuten ... oder vielleicht etwas Schlimmeres.
Er überschlug den Abstand zwischen dem fraglichen Fenster und der See, deren Wellen gegen die massiven Säulen schlug, auf denen das Gebäude stand. Während er diese Information noch verarbeitete, steuerte er mit seinem Fahrzeug einen Landeplatz in einem Parkhaus im unteren Bereich an. Smith versuchte, gelassen und unscheinbar zu wirken, während er mit seiner Tasche in der Hand in den 115. Stock hinauffuhr und sich immer abenteuerlichere Szenarien ausmalte, was ihn wohl dort oben erwarten würde. Er stieg als Einziger auf dieser Etage aus, wartete, bis die Lifttüren sich wieder geschlossen hatten, dann ging er nach links und folgte dem Korridor bis zu dem Apartment, aus dem das Signal gekommen sein musste. Er brauchte einige Minuten, ehe er die richtige Tür gefunden hatte, da die Arkologie mit ihren untereinander verbundenen Gängen und Korridoren einem Kaninchenbau glich. In einer Hand hielt er seine Tasche, im Ärmel der anderen war eine kleine Pistole verborgen. Er klingelte, doch es war nichts zu hören, nicht einmal die Türglocke. Nach kurzem Zögern und sorgfältigem Abwägen, welche Fallen auf ihn warten mochten, strich er mit den Fingern leicht am Spalt zwischen Tür und Rahmen entlang. Es war unwahrscheinlich, dass eine so schwache Berührung irgendetwas bewirken würde. 189 Schließlich holte er aus der Reisetasche eine kleine Disk hervor und legte sie auf das elektronische Schloss. Nach einer kurzen Justierung zeigte die Disk grünes Licht an. Er drückte auf einen Stift und machte einen Schritt nach hinten. Während die Tür in die Wand zurückglitt, ließ er die Pistole aus dem Ärmel in seine Hand rutschen... »Heilige Scheiße«, fluchte Smith, als er in die untergehende Sonne blickte, die 115 Stockwerke über dem Atlantik ungehindert in das Apartment schien. Von der Glasscheibe war nichts mehr zu sehen. Agenten wurden darauf trainiert, mit einer Fülle von unterschiedlichen Situationen zurechtzukommen, und sie schafften es nie sehr weit nach oben, wenn sie unter Phobien litten, die ihre Einsatzfähigkeit hemmten. Höhenangst, Angst vor dem Fliegen oder der Dunkelheit waren die Dinge, die ansonsten viel versprechende Anwärter scheitern ließen. Smith war von keiner dieser Ängste betroffen. Seine persönlichen Eigenschaften und sein Psy-cho-Profil waren stets beispielhaft gewesen. Bei seiner Arbeit für die Agency hatte er alle nur erdenklichen Bedingungen erlebt, und mit seiner Umgebung war es nie zu nennenswerten Problemen gekommen. Dennoch erforderte es besonderen Mut, in das leere Apartment einzutreten, das zum Meer hin offen war, und die Korridortür hinter sich zu schließen. Der Wind war eisig kalt und jagte mit einem unheimlichen Stöhnen durch den Raum, was die Szene nur noch bizarrer wirken ließ. Das Apartment war leer. Nicht im Sinne eines leer geräumten Zimmers, in dem Steckdosen und andere Anschlüsse an den Wänden und auf dem Boden darauf warteten, vom nächsten Mieter benutzt zu werden. Es war völlig leer. An der Decke, an den Wänden und auf dem Boden gab es nichts mehr. Es war so, als hätte jemand den Raum komplett ausgelöscht und an seiner Stelle ein Loch zurückgelassen. Smith berührte eine Wand und fühlte eine derartige Glätte, die 189 praktisch keinen Reibungswiderstand bot. Er bückte sich und holte den Sensor aus seiner Tasche, richtete den Stab langsam vor sich aus und machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Ihm kam es vor, als würde die orangegelbe Sonne ihn durch das Loch in der Wand anstarren, wo sich zuvor das Fenster befunden hatte. Nach ein paar Schritten stand er in der Mitte des Raums, weiter ging er nicht an die Öffnung heran. Der Sensorstab registrierte fast sofort die Energieausstrahlung. Er hängte sich den Detektor über die Schulter und ging - den Sensorstab in der einen, die Pistole in der anderen Hand - durch eine Tür in den Nebenraum, der vielleicht als Schlafzimmer gedient hatte. Dort fand er auch den Leichnam. Seine erste Reaktion war ein purer Reflex. Er ließ den Stab fallen, ging in die Hocke und richtete die Pistole auf die Gestalt von menschlicher Größe und Form, die quer auf dem leeren Boden lag und in orangefarbene Sonnenstrahlen getaucht war. Mehrere Sekunden lang verharrte er in dieser Haltung, bis er davon überzeugt war, dass die Gestalt sich nicht mehr regen würde. Genau genommen war nicht einmal klar, ob sie jemals dazu in der Lage gewesen war. Er konnte nicht mal mit Sicherheit sagen, was er da vor sich hatte. Das Ding hatte menschliche Form: Torso, Beine, Arme, Kopf. Aber es schien keine Kleidung zu tragen, und es waren keinerlei Gesichtszüge zu erkennen. Arme und Beine schienen aus Knochen zu bestehen, über die eine rötlich-graue Masse geschmiert war. Die Brust hatte eine Struktur, die der eines Brustkorbs ähnelte, doch sie war halb unter den inneren Organen verborgen, die so bloßgelegt worden waren, dass Smith sich zwingen musste, sich nicht zu übergeben. Was den Kopf anging ...
er sah aus, als hätte jemand die Schädeldecke entfernt und den Inhalt geteilt, um zu sehen, was sich darunter befand. Wenn es ein Mensch gewesen war, dann war er jetzt eindeutig tot. Nachdem Smith sich mit ein paar tiefen Atemzügen wieder gesammelt hatte, fühlte ersieh in der Lage, den Sensorstab aufzu 190 heben und rasch eine Analyse vorzunehmen. Die bestätigte, dass er etwas Organisches und Menschliches vor sich hatte. Während er in dem leeren Raum kauerte und auf eine perverse Weise von diesem grässlichen Etwas fasziniert war, das da vor ihm lag, wurde ihm auf einmal bewusst, was er da eigentlich sah. Knochen! Bei der rötlich-grauen Masse auf ihnen handelte es sich vermutlich um Knochenmark. So wie beim Schädel und der Hirnmasse befand es sich zuoberst. Das Innerste des Körpers befand sich außen. Obwohl er nur raten konnte, wusste er doch, dass er richtig lag: Das war ein menschlicher Körper, dessen Innerstes nach außen gestülpt worden war! Irgendwo inmitten der Masse aus Fleisch, Knochen und Organen befanden sich die Gesichtszüge des Opfers. Smith war mit keiner Technik vertraut - und er kannte mehr technologische Neuerungen als die meisten anderen Mitglieder der Agency -, die so etwas bewerkstelligen konnte. Es musste irgendwie mit diesen seltsamen Energiefluktuationen zusammenhängen - und das wiederum hieß, dass es etwas mit Violet zu tun hatte. Er wusste, Violet war genau der Typ Mensch, der eine derart blutige Visitenkarte hinterließ, wenn er mit jemandem fertig war. Was wiederum bedeutete, dass... ... dies vermutlich der mysteriöse Captain Stone war, der Marais hatte umbringen sollen. Weder die Agency noch sonst jemand konnte Stone verhören und Violet auf die Schliche kommen. Blieb nur die Frage nach der Methode. Wie war das bewerkstelligt worden? Und wer hatte das getan? Was für eine Art von Person macht so etwas?, fragte er sich. Augenblicke später jagte ein kräftiges Signal auf einer gut gesicherten Frequenz durchs All. Sein Ziel war das Hauptquartier der Agency auf Callisto. 190
22. Kapitel Die langen Schatten des ewigen Sonnenuntergangs beherrschten die Landschaft des Grimaldi-Kraters. Während auf der Erde Tag und Nacht wechselten, blieb hier die Position der Sonne unverändert und sorgte für eine erstarrte Landschaft, während ihre Strahlen die Militärbasis permanent mit Energie versorgten. Die Grimaldi-Basis war um 2120 errichtet worden, ein halbes Jahrhundert vor der riesigen, überwiegend zivil genutzten Anlage im Mare Imbrium. Sie war eine von einem halben Dutzend Einrichtungen, die für Ausbildung in geringer Schwerkraft, Übungen und Forschungszwecke benutzt worden waren. Alle übrigen Basen waren mit der Zeit geschlossen worden, weil die Ausrüstung veraltet war, weil sich ihre eigentliche Aufgabe erledigt hatte oder die Budgets gekürzt wurden. Grimaldi hatte sich hartnäckig behaupten können. Die Struktur war ursprünglich die eines Sterns gewesen, in der Mitte eine zentrale Halle, von der in mehrere Richtungen breite Trakte abgingen. Mit der Zeit hatte man die freien Flächen zwischen den »Strahlen« des Sterns bebaut, wodurch sich das anfangs ordentliche Design zu einem unübersichtlichen Wirrwarr entwickelt hatte. Die kreisrunde Halle mit den hohen transparenten Wänden, die den Blick freigaben auf die Mondlandschaft und den Himmel, war trotz allem immer noch der Mittelpunkt des Komplexes. Alle Wege schienen dorthin zu führen, und die Bewohner von Grimaldi sowie die berühmten - oder auch die berüchtigten - Gäste durchquerten sie regelmäßig. 190 Sergei und die anderen am Prozess Beteiligten waren im südöstlichen Flügel in den Gästezimmern untergebracht, die schon seit langem nicht mehr benutzt worden waren. Der Quartiermeister hatte sich schroff für den Mangel an Annehmlichkeiten entschuldigt - und dann sein Personal auf Trab gebracht, damit 3-V installiert und defekte Lampen sowie verstopfte Luftfilter ausgetauscht wurden. Das Ganze erschien Sergei eher wie ein Gefängnis mit minimalen Sicherheitsvorkehrungen, und vermutlich war das auch McMasters' Absicht gewesen, als er die Basis als Alternative zur Lancaster vorschlug. Um sich von diesem Gefühl zu befreien, unternahm Sergei gleich nach der Ankunft einen ausgedehnten Spaziergang, der ihn in die kreisrunde Halle führte, die er menschenleer antraf. Form und Funktion hatten bei ihrem Entwurf zweifellos eine gleichrangige Rolle gespielt. Der Boden, der nicht aus Metall, schlichten Platten oder Kunststoff bestand, sondern aus Marmorfliesen - vermutlich
Mondgestein -, bildete ein großes Mosaik, das eine stilisierte Erde in Blau und Weiß mit zwei umlaufenden Olivenzweigen darstellte, deren Stiele sich an der Unterseite berührten. Das Bild war so wie die nicht farbigen Fliesen deutlich abgenutzt - das Ergebnis unzähliger Füße, die über diesen Boden geschritten waren. »United Nations«, sagte eine Stimme, während er in Gedanken verloren dastand. Er drehte sich um und sah Alyne Bell. »Wie bitte?« »Das Emblem.« Sie trat zu ihm. »Der Fußboden. Das ist das alte Emblem der UN.« Mit der Stiefelspitze zeigte sie darauf. »Aufgelöst von...« »Willem McDowell, ich weiß.« Sergei sah den Captain der Gagarin an. »Unser erster Imperator, der der Ehre von Politikern und Bürokraten nicht vertraute.« »Glauben Sie, Admiral Marais vertraut ihnen?« Sergei lächelte. »Ich kann mich erinnern, dass ich Ihnen mal 191 eine ganz ähnliche Frage über den Admiral gestellt habe. Welche Antwort erwarten Sie, Alyne?« »Ich überspringe die offensichtlichste Frage, nämlich die, was Sie glauben, dass in diesem Verfahren passieren wird. Was werden Sie tun, wenn das Verfahren vorüber ist?« »Ich erwarte nicht, dass ich dann noch der Kommandant der Lancaster sein werde.« »Und ich werde sicher nicht mehr die Gagarin befehligen. Und auch kein anderes Schiff. Meine Karriere ist wahrscheinlich beendet.« »Zumindest, was die Imperiale Navy angeht. Ich vermute, der Admiral wird in jedem Fall das Sol-Imperium verlassen und wohl nach Zor'a zurückkehren.« »Wenn er nicht zuvor einem Attentat zum Opfer fällt.« Er sah hinauf zur transparenten Decke der Halle, die den Blick freigab auf den sternenübersäten Himmel. »Ja, wenn er nicht zuvor einem Attentat zum Opfer fällt. Ich schätze, ich werde ihn begleiten, wenn er damit einverstanden ist.« »Sie wollen nach Zor'a gehen?« Sergei lächelte halbherzig. »Ich glaube, im Sol-System werde ich nicht sehr beliebt sein. Ja, ich würde nach Zor'a gehen. Und wenn Gras über diese Angelegenheit hier gewachsen ist, kehre ich vielleicht als Besucher zurück.« »Sie haben Ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet, die Zor zu vernichten, und jetzt wollen Sie bei ihnen leben.« »Admiral Marais hat der Menschheit den größten Sieg aller Zeiten beschert, ohne dafür die Zor auslöschen zu müssen. Und als Belohnung wird er zum Schurken abgestempelt und zum Ziel von Mordanschlägen gemacht. Die anderen werden allen Ruhm einstecken, Alyne. Diese Heuchler in der Imperialen Versammlung, der Imperator auf Oahu. In hundert Jahren werden sie der Menschheit den größten Sieg geschenkt haben, nicht Admiral Marais. Und das alles nur, weil er keinen Verrat begehen will. Weil er nicht den Imperator stürzen will. Wir alle, die wir wissen, dass er das 191 Richtige tut, werden deshalb ins Exil geschickt, wenn wir Glück haben. Wir waren zu mutig, um feige zu sein.« »Sie zeichnen ein ziemlich zynisches Bild, Sir.« »Können Sie es mir verübeln?« »Nein«, räumte sie ein. »Nein, das kann ich nicht.« Sie schaute hinauf zu den Sternen und betrachtete die Konstellationen, die ihr irgendwie fremd und ungewohnt erschienen. In der imperialen medizinischen Einrichtung in Dakar herrschten strengste Sicherheitsvorkehrungen. Eine erschöpfte Forensikerin verließ den OP-Saal, während Captain Smith dastand und versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Jeder Teil dieses Körpers war von innen nach außen gekehrt worden, jedes Organ, jeder Knochen, alle Nerven, Muskeln und Adern wurden umgestülpt. Vermutlich trat der Tod sofort ein, aber garantieren kann ich das nicht. Wenn nicht, dann...« Sie betrachtete ihre Hände, die noch immer in den Einweghandschuhen steckten, die mit dem Leichnam in Berührung gekommen waren. »Konnten Sie den Toten identifizieren?« »Wir haben die Röntgenbilder der Zähne verglichen«, erklärte die Ärztin. »Es war nicht ganz einfach, da der Kiefer ebenfalls von innen nach außen gedreht worden war. Nachdem wir aber einen Weg gefunden hatten, die ursprüngliche Position der Zähne zu errechnen, konnten wir ihn auch identifizieren.« Sie nahm einen tragbaren Reader von ihrem Gürtel und reichte ihn Smith.
Der nahm ihn und betrachtete erst die forensischen Daten, dann die entsprechende Identifizierung: eine Personalakte des Imperialen Geheimdienstes. Violet. Der Schock war so heftig, dass er fast den Reader hätte fallen lassen. Dass der Tote der Mann war, den er hinter allem vermutet hatte, war eine Erkenntnis, die ihn völlig unvorbereitet traf. Smith dachte an den entsetzlich zugerichteten Leichnam, erinnerte sich 192 daran, wie er in diesem Hochhausapartment auf ihn gestoßen war. Wenn er sich die Größe des Toten vor Augen hielt, dann passte sie zu Violets Statur. »Ich sollte so was eigentlich nicht sagen«, meinte die Ärztin, als Smith ihr den Reader zurückgab. »Aber ich möchte zu gern den Dreckskerl von Special Ops in die Finger bekommen, der sich diesen Trick ausgedacht hat.« »Es war keiner von uns.« »Aber...« »Sie haben ganz Recht: Sie sollten so was eigentlich nicht sagen.« Smith war weder willens noch fähig, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging fort. »Ich möchte die Verteidigung, die Anklagevertretung und alle anderen Mitglieder dieses Gerichts bitten, die recht ungewöhnlichen Umstände dieses Prozesses zur Kenntnis zu nehmen, ehe wir mit dem Verfahren beginnen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, was die Bedeutung dieses Verfahrens angeht, und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es absolut erforderlich ist, die Wahrheit herauszufinden und Gerechtigkeit walten zu lassen.« McMasters ordnete mehrere Ausdrucke vor sich auf dem Tisch, dann faltete er die Hände. »Commander Aronoff, Sie dürfen fortfahren und die endgültigen Anschuldigungen gegen den Angeklagten vortragen.« Aronoff erhob sich. Er wirkte nicht mehr ganz so abgebrüht wie im Gerichtssaal auf der Erde. Der Attentatsversuch und die anschließenden Ereignisse hatten ihm ganz offensichtlich zu schaffen gemacht genauso wie die Zustimmung des Kriegsgerichtsrats, den Gerichtsort nach Grimaldi zu verlegen. Doch wie es aussah, war dadurch nicht das Feuer erloschen, das seit dem ersten Tag des Verfahrens in seinen Augen loderte. Wenn es nach ihm ging, ließ sich der Fall völlig aus dem Zusammenhang herauslösen und allein nach dem Militärgesetzbuch verhandeln - seiner Bibel. 192 Das machte ihn zum perfekten Anklagevertreter in diesem Fall, sowohl aus der Sicht der Verteidigung als auch aus der Perspektive der Admiralität. »Anklagepunkt vier«, begann er, »betrifft die vorgeworfene Verletzung von Artikel 93 des Militärgesetzes, der die Misshandlung von Gefangenen oder anderen in Haft befindlichen Personen behandelt. Dieser Artikel ist weit gefasst, regelt aber ein bestimmtes Verhalten gegenüber Untergebenen sowie gegenüber nicht an Kampfhandlungen Beteiligten und Zivilisten. Letztere sind in diesem Fall die Betroffenen. Die Navy vertritt die Ansicht, dass die Handlungen des Angeklagten gegenüber Zivilisten und nicht an Kampfhandlungen Beteiligten in krasser Weise gegen diesen Artikel verstoßen haben und eine geistige Haltung demonstrieren, die nicht nur alle Vorschriften verletzt, sondern auch der Tradition der Menschheit zuwiderläuft, nach der menschliches Leben heilig ist. Die Anklage wird nun als Beweisstück vier eine Videoaufzeichnung des Flottentransporters Gagarin vorlegen, die nach der Zerstörung der Zor-Basis und des Außenpostens auf S'rchne'e aufgenommen wurde. Wenn Sie gestatten«, sagte Aronoff. »Captain Russ?« »Keine Einwände, Sir.« Aronoff gab einem Adjutanten ein Zeichen, der daraufhin das Licht dämpfte. Der Bildschirm wurde eingeschaltet und zeigte die Luftaufnahmen, die als Teil der offiziellen Aufzeichnungen der Flotte gemacht worden waren. Aronoff und die Mitglieder des Tribunals sahen versteinert zu. Marais hatte den Blick abgewandt und schien sich auf einen Haarriss in der Tischplatte vor ihm zu konzentrieren. Die Logbuch-Aufzeichnung erzielte die gleiche eindringliche Wirkung wie die Tat selbst. Das Ausmaß der Zerstörung wurde offensichtlich. Die Kriege gegen die Zor waren stets blutig und brutal gewesen, aber sie wurden immer in den einsamen und sterilen Regionen zwischen den Welten ausgetragen. Niemals zuvor war die Zivilbevölkerung der Zor das Ziel gewesen. 192
Die Bilder aus dem Inneren der Nester mit den Geburts- und Aufzuchtkammern des gefährlichsten Gegners in der Geschichte der Menschheit verfehlten bei den Mitgliedern des Gerichts nicht ihre Wirkung. Einige Ausschnitte dieser Aufzeichnungen waren bereits an die Öffentlichkeit gelangt, doch die Wirkung des kompletten Über-flugs war ungleich stärker. Als das Licht wieder anging, sahen selbst die Mitglieder des Tribunals blass und entsetzt aus. »Der Angeklagte«, setzte Aronoff ein, als die letzten Bilder auf dem Schirm noch nicht erloschen waren, »hat erklärt, diese Maßnahmen seien notwendig gewesen, um einen dauerhaften Frieden mit den Zor zu erreichen. Er behauptet sogar, die Zor hätten ihn inzwischen zu einem ihrer Führer gemacht. Es ist die Überzeugung der Navy, dass diese brutalen Akte aus den Zor, die nicht kapituliert haben, in Wahrheit noch viel erbittertere Feinde machen werden. Indem er die Auslöschung einer ganzen Spezies in Kauf nehmen wollte, hat er sich als Vertreter der Menschheit - auf jene Stufe der Gewalt hinabbegeben, die uns an den Zor so abstößt.« Aronoff deutete auf den nunmehr blanken Bildschirm: »Diese und andere Grausamkeiten sind genauso bösartig wie die Angriffe auf Alya, Chandler oder Pergamum. Wir müssen uns bei ihrem Anblick schämen, wenn man bedenkt, dass ein menschliches Wesen so gegen wehrlose Zivilpersonen vorgegangen ist. Diese Vergehen sind ein Beweis für eine nicht hinnehmbare Verletzung des Artikels 93.« McMasters wandte sich Captain Russ zu. »Die Verteidigung kann sich jetzt zu den Vorwürfen äußern.« Langsam stand Lynne Russ auf, den verbundenen Arm hielt sie ein wenig schief. »Die Verteidigung«, begann sie, »möchte die zwei Bestandteile trennen, aus denen die Anklagevertretung ihr Argument zusammengesetzt hat. Der erste Bestandteil ist der Vorwurf, der Angeklagte habe nicht die Autorität besessen, derartige Akte zu begehen, wodurch eine Beziehung zu Artikel 93 hergestellt wür 193 de. Der zweite Bestandteil ist die Behauptung, solche Akte würden die Zor nur weiter entfremden und sie zu unerbittlichen Feinden der Menschen machen. Dieser Vorwurf steht mit dem Militärgesetz in keinerlei Zusammenhang. Die Verteidigung weist diesen Gedanken als offenkundig falsch von der Hand. Die Haltung der Zor zu S'rchne'e und anderen Schauplätzen ist eindeutig. Es handelt sich um ein Kriegsgebiet, und die Zor unternahmen keinen Versuch, ihr Personal zurückzuholen. Stattdessen ließen sie ihr eigenes Volk in der Schusslinie. Diese Zor waren keine unschuldigen Opfer, sondern Angehörige einer fremden Macht, deren bloße Existenz eine Gefahr für die Menschheit darstellte. Es ist schlicht dumm, einen besonderen Status für die Zivilisten auf den Zor-Welten zu postulieren, die beim jüngsten Feldzug eingenommen wurden. Die Anklagevertretung hat selbst eingeräumt, dass die Zor unseren Zivilisten auch keinen besonderen Status beimaßen, als sie vor sechzig Jahren Alya angriffen.« Ohne Pause fuhr Russ fort: »Darüber hinaus ergibt sich aus der Verpflichtung des Angeklagten, die Sicherheit seines Kommandos zu gewährleisten, sowie aus der Allgemeinen Order 6, die ihm uneingeschränkte Autorität im Kriegsgebiet einräumt, dass er jedes Recht hatte, diese Handlungen auszuführen, die die Anklagevertretung als so abscheulich empfindet und in denen sie einen Widerspruch zur langen, angeblich idyllischen Menschheitsgeschichte sieht. Kurz gesagt: Die Verteidigung behauptet, dass der Vorwurf der Misshandlung hier nicht zum Zuge kommen und dem Angeklagten nicht zur Last gelegt werden kann, da er dazu befugt war, im Kriegsgebiet alle Maßnahmen zu ergreifen, um sein Kommando vor potenziellen feindlichen Akten zu beschützen.« Sie beugte sich ein wenig vor und ließ ihren Blick über das Tribunal wandern. »Die Anklagevertretung will ihre Vorwürfe außerdem auf die Punkte Barbarei und Unmenschlichkeit stützen. Die Verteidigung entgegnet auf dieses Argument, dass wir Menschen als Spezies keine pazifistische Tradition vorweisen können. Im Vergleich mit den Zor sind wir Menschen sogar eine außerge 193 wohnlich gewalttätige Spezies. Das Argument der Anklagevertretung scheint nicht darauf abzuzielen, dass die Handlungen des Angeklagten brutal sind. So etwas ist eindeutig Teil der Kriegführung, es ist untrennbar damit verbunden. Was der Ankläger vielmehr für so verabscheuenswürdig hält, ist die Tatsache, dass diese Gewaltakte nicht im Rahmen eines problemlos hinnehmbaren Kontextes stattfanden - eines Kontextes, den der Ankläger, das Tribunal und auch der Rest der Menschheit leichter schlucken könnten. Diese Art von Urteil täuscht über die Wahrheit hinweg, die diesem außergewöhnlich erbittert geführten Konflikt innewohnt - nämlich über die Tatsache, dass die als >brutal< und »barbarisch« bezeichneten Taktiken zum Erfolg führten. Ein Kommandant nach dem anderen traute sich nicht, den entscheidenden Schritt im Kampf gegen die Zor zu unternehmen und sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ein Diplomat nach dem anderen machte ihnen Zugeständnisse...« »Dieses Gericht ist kein Forum, in dem Kritik an der Außenpolitik geübt werden kann«, unterbrach Aronoff sie und sprang auf. »Wenn Captain Russ aus dem Verfahren eine Diskussionsrunde über die
Regierungspolitik machen möchte, sollte sie das über 3-V tun, aber sie soll einem Militärgericht doch bitte fernbleiben.« »Ich verstehe«, konterte Russ. »Sie haben das Recht, dem Gericht einen Vortrag über Moral und Sitten zu halten. Sobald aber das Fundament dieser Argumente in Frage gestellt wird, dann wird den Gegenargumenten die Berechtigung abgesprochen.« »Hier geht es nicht um Sitten, sondern um...« »Ruhe im Saal!«, warf McMasters lautstark ein und sorgte mit seinem Hammer dafür, dass sofort bedrückendes Schweigen eintrat. »Anklage und Verteidigung werden hiermit ermahnt, ihre Äußerungen an den Vorsitzenden des Gerichts zu richten. Commander Aronoff, haben Sie einen Einspruch anzumelden?« »In der Tat, Sir.« Aronoff schien sich wieder gefasst zu haben, tauschte aber einen wütenden Blick mit Russ aus. »Die Argumen 194 tationslinie der Verteidigung schweift ganz erheblich von den Anklagepunkten ab, die von diesem Gericht behandelt werden sollen.« »Das Gericht möge doch bitte zur Kenntnis nehmen«, konterte Russ, »dass die Anklagevertretung keine Probleme damit hatte, bei ihren Argumenten das Thema Moral in den Vordergrund zu stellen.« »Beide Parteien werden sich darauf beschränken, die für diesen Fall maßgeblichen Fakten zu behandeln«, ermahnte McMasters sie und wandte sich kurz Aronoff zu. »Setzen Sie sich wieder, Commander. Captain Russ, fahren Sie fort, aber schweifen Sie nicht vom Thema ab.« »Ja, Sir.« Sie straffte die Schultern. »Der Angeklagte vertritt die Ansicht, dass eine moralische Bewertung der vom Imperator sanktionierten Handlungen unzulässig ist. Artikel 110, der die Verantwortung eines Offiziers gegenüber den ihm unterstellten Schiffen regelt, ist strikt zu befolgen, damit eine feindliche Partei keine Bedrohung darstellen kann. In Verbindung mit der Autorität, die dem Angeklagten als Admiral der Flotte übertragen wurde, ist der Vorwurf gegen ihn komplett unhaltbar.« Nach einem letzten wütenden Blick in Aronoffs Richtung nahm sie Platz. Auf der Konsole von Premierministerin Tolliver leuchtete das Signal für eine eingehende private Nachricht auf, als sie soeben Landwirtschaftsbeihilfen mit einem unterwürfigen Mitglied der Versammlung besprach, um für die Zusammenkunft des Parlaments in der nächsten Woche gewappnet zu sein. Angesichts der Priorität der Nachricht und des Absenders - sie stammte von der Direktorin des Imperialen Geheimdienstes auf Callisto - musste sie annehmen, dass es sich um ein erheblich wichtigeres Thema handelte. Sie bat den Abgeordneten um eine Unterbrechung. Nachdem sie den Kanal gesichert hatte, ließ sie die aufgezeichnete Nachricht ablaufen, die nur aus einem kurzen Text bestand: »Tattoo verschoben. Eingriff von unbekannter Seite verhindert Er 194 ledigung der Aufgabe. Videoaufzeichnung beigefügt. Ende der Nachricht* Tolliver war außer sich vor Wut, widerstand aber dem Impuls, auf der Stelle die Direktorin anzurufen, um die Frau ihres Postens zu entheben. Die linke Hand war zur Faust geballt, als sie auf eine Taste schlug, um sich die beigefügte Aufzeichnung anzusehen. Es war ein forensischer Bericht, der die Ergebnisse einer in der streng gesicherten medizinischen Einrichtung von Dakar vorgenommenen Autopsie zeigte... Smith hatte Dakar mit dem ersten Airbus verlassen und war in Orly in einen Mondshuttle umgestiegen. Seine Reise wäre wohl ein paar Stunden kürzer ausgefallen, hätte er sich mit einem privaten Fahrzeug direkt nach Grimaldi bringen lassen, doch er wollte nicht, dass irgendjemand vorgewarnt war. Die Ereignisse der letzten zwölf Stunden - angefangen bei der Entdeckung in Offutt bis hin zur Enthüllung in Dakar - hatten bei ihm Zweifel an der weiteren Vorgehensweise aufkommen lassen. Violet war eindeutig tot, doch wie er ums Leben gekommen war, ging über Smiths Vorstellungsvermögen hinaus. Laut den Informationen aus dem Datennetz der Agency hielt sich Hsien seit Tagen in seinem Haus in Bayern auf, nachdem er sich mit einem Agenten des innersten Kreises getroffen hatte. Falls er eine Rolle bei diesen Vorkommnissen spielte, war er zumindest nicht aktiv an Violets Tötung beteiligt gewesen. Damit blieb nur ein Verdächtiger übrig, der zugleich seine einzige Spur darstellte: der mysteriöse Captain Stone, der vor viereinhalb Jahren urplötzlich zu existieren begonnen hatte, kaum dass Violet in den innersten Kreis der Agency berufen worden war. Smith kam auf der Erde nicht mehr weiter, aber vielleicht würde ihm Admiral Marais auf dem Mond weiterhelfen können. Im Mare Imbrium angekommen, machte sich Smith seine Sicherheitseinstufung zunutze, um ein Bodenfahrzeug mit Chauffeur zu bekommen, damit er die zweistündige Fahrt nach Grimal 194
di zurücklegen konnte. Ein Shuttle wäre sicher schneller, aber viel auffälliger gewesen. Wenn bislang noch niemand auf ihn aufmerksam geworden war, konnte er auch weiterhin auf das Überraschungselement hoffen. Weniger als einen Kilometer von der Grimaldi-Basis entfernt, wurde das Fahrzeug von einem Trupp Marines angehalten und gründlich durchsucht. Zwei der Männer trugen das Abzeichen der Lancaster, was Smith natürlich sofort auffiel. Einer der Marines übernahm den Platz des Fahrers und brachte das Fahrzeug von einer Eskorte begleitet zur Anlage, wo Smith dann aussteigen durfte. »Bogey auf fünfzehn Grad Steuerbord«, meldete der Steuermann der Charlemagne. Der Captain der Charlie nahm sofort auf dem Pilotensitz Platz. »Identifizieren«, befahl er, »und auf den Schirm.« »Es sendet kein ID-Signal«, erwiderte der Steuermann. »Und sein Profil passt auf kein Schiff in unserer Datenbank.« Er nahm einige Einstellungen an seiner Konsole vor. »Es müsste jetzt in Sichtweite sein.« Auf dem Schirm war ein verschwommener vielfarbiger Streifen zu sehen, nicht größer als das kleinste bekannte Raumschiff. Seine Zusammensetzung war nicht zu bestimmen, aber es war eindeutig mehr ein Energiephänomen als ein Komet. In jedem Fall bewegte es sich mit fast drei Viertel Lichtgeschwindigkeit, was für einen Kometen oder ein so kleines Raumfahrzeug schlicht unmöglich war. »Was zum Teufel ...?«, rief der Captain der Charlemagne aus. »Verdammt, Lieutenant, gehen Sie sofort auf Abfangkurs. Wollen wir doch mal sehen, was wir da haben.« »Aye-aye...«, begann der Lieutenant, doch fast im gleichen Moment änderte das Energiefeld seine Richtung ein Manöver, das in dieser abrupten Form einen ungeheuren Energieaufwand bedeuten musste. Sekunden später war das Feld schon außer Reichweite und be 195 wegte sich mit einer Geschwindigkeit fort, die weder die Charlie noch irgendein anderes Schiff hätte erreichen können. Als Marais und Lynne Russ die kreisrunde Halle erreichten, näherte sich Smith zügig den beiden. »Admiral, kann ich Sie kurz sprechen?« Marais sah ihn argwöhnisch an und betrachtete vor allem Smiths Uniform. »Kennen wir uns, Captain...« »Smith, Sir. Nein, ich glaube, wir sind uns noch nie begegnet.« Er zog sein ID aus der Jackentasche und zeigte es Marais. »Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen.« »Captain Smith, ich bin sehr erschöpft, ich muss mich auf meinen Prozess konzentrieren. Kann das nicht warten?« Er wollte sich abwenden. »Ich glaube nicht, Sir. Es geht um Captain Stone.« Sofort wurde Marais hellhörig. Er sah wieder Smith an, diesmal jedoch mit einem stechenden, fordernden Blick. Nach kurzer Pause entgegnete er: »Was ist mit ihm?« »Vielleicht könnten wir das unter vier Augen...«, begann Smith und sah zu Russ, die sich über die Störung zu ärgern schien. »Also gut. Kommen Sie um...« - er sah auf seine Uhr - »1830 in mein Quartier. Das ist in einer halben Stunde. Ist das schnell genug für Sie, Captain?« Ohne auf eine Antwort zu warten, salutierte Marais knapp, durchquerte die Halle und verschwand in einem der Korridore. Smith erwiderte den Salut und sah dem Mann nach. Als er die Türglocke zu Marais' Quartier betätigte, glitt die Tür sofort auf. Marais war nicht allein. Seine Verteidigerin Lynne Russ saß an einem Schreibtisch in einer Ecke des Raums, während der Admiral und Commodore Torrijos sich in zwei Sesseln niedergelassen hatten. Er betrat die Suite, salutierte wieder und ging zu dem freien Sessel, auf den Marais zeigte. »Meine Anwältin ist anwesend, Captain Smith«, erklärte er mit 195 einer kurzen Geste zu Captain Russ. »Ich werde keine Fragen beantworten, die ihrer Ansicht nach aufgrund meines gegenwärtigen Status unangebracht sein könnten. Ich habe außerdem Commodore Torrijos gebeten, ebenfalls anwesend zu sein. Seine Erkenntnisse dürften für Sie von Wert sein. Also: Warum sind Sie hier?« Der letzte Satz hatte keinen höflichen, sondern einen förmlichen, steifen Beigeschmack. Er schien in Wahrheit zu lauten: Warum vergeuden Sie meine Zeit? »Ich weiß, dass Captain Stone Ihr Adjutant war, Sir, unter anderem auch beim jüngsten Feldzug gegen die Zor, jedenfalls die meiste Zeit über.« »Das ist zutreffend.« »Soweit mir bekannt ist, war er während des Feldzugs an Bord der Lancaster, aber irgendwann vor dem Erreichen von Zor'a verließ er das Schiff. Vielleicht bei Aanenu?«
Marais und Torrijos sahen sich kurz an, doch Smith konnte nicht deuten, was die beiden ausgetauscht haben mochten. »Er verließ die Lancaster, Captain.« »Haben Sie ihn fortgeschickt, oder ging er aus eigenem Antrieb?« »Er... ging aus eigenem Antrieb«, erwiderte Marais, der sich in seiner Haut aber nicht so ganz wohl zu fühlen schien. »Wann war das?« Marais zögerte und sah wieder zu Torrijos, der ebenfalls nicht mit der Sprache herausrücken wollte, schließlich aber antwortete: »Er verließ das Schiff auf dem Weg zur Zor-Basis in der Verwerfung.« »Ich verstehe nicht recht...« »Ich verstehe es ja selbst nicht«, fiel Torrijos ihm ins Wort. »Er verließ die Lancaster irgendwann, als sich das Schiff zwischen A'anenu und der Basis in der Verwerfung befand.« »Er verließ das Schiff, als es sich im Sprung befand?« »Mir ist klar, dass das unglaublich klingt, Captain, aber er hat genau das gemacht.« 196 »Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich bin bereit, Ihnen das zu glauben, Sir. Sie sagen, er verließ das Schiff. Können Sie mir etwas Näheres dazu sagen?« Torrijos sah kurz zu Marais, als würde er um dessen Erlaubnis bitten. Der Admiral reagierte mit einem fast nicht wahrnehmbaren, knappen Schulterzucken. »Ich befand mich in einer Besprechung mit dem Admiral, als es geschah. Die Brücke meldete eine ungewöhnliche Energiefluktuation.« Smith zuckte innerlich zusammen, als er das hörte, schaffte es aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Wir gingen zu seinem Quartier, weil die Fluktuation dort ihren Ursprung hatte, aber es war leer.« »Leer?« »Alles war fort. Stone, seine persönlichen Dinge, alle Ausrüstung, sämtliche Möbelstücke. Im Grunde waren von seiner Kabine nur noch die Wände, die Decke und der Boden vorhanden. Chan -mein XO - meldete, dass mindestens ein Millimeter der Wandoberflächen verschwunden war.« Smiths Gedanken überschlugen sich, da er versuchte, diese neuen Informationen in einen Zusammenhang mit dem zu bringen, was er herausgefunden hatte. Torrijos Beschreibung passte genau auf das Apartment in Hilton Head... nur dass es auf der Lancaster keinen Toten gegeben hatte. Offenbar hatte er sich doch irgendetwas anmerken lassen, denn Marais sah ihn wieder eindringlich an. »Was ist los, Captain?« »Commodore Torrijos«, erwiderte Smith, »haben Sie eine Logbuch-Aufzeichnung der Energiefluktuation?« »Auf der Lancaster. Ich kann Sie ihnen übermitteln lassen.« Smith nahm seinen Reader vom Gürtel und stellte ihn auf den flachen Tisch vor der Sitzgruppe. Er rief seine eigene Aufzeichnung des Musters aus dem Copter und aus dem Apartment auf, beide tauchten im nächsten Moment über dem Gerät auf und drehten und veränderten sich langsam. »Sieht aus, als wären Sie mir zuvorgekommen«, meinte Torrijos. »Nein, Commodore.« Smith ließ die Bilder erstarren. »Diese Mus 196 ter wurden innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden aufgezeichnet, weit entfernt von der Antares-Verwerfung. Das erste stammt aus dem Copter, der vor einigen Tagen das Attentat auf das Kriegsgericht verübte, das zweite habe ich in einem Hochhausapartment an der Atlantikküste aufgezeichnet.« Er schilderte alles, was er an Fakten zusammengetragen hatte, und ließ auch nicht den Toten in Carolina aus. Allerdings achtete er darauf, Violets Identität aus dem Spiel zu halten und auch nichts über seine eigenen Vermutungen zu sagen. »Das heißt«, sagte Marais, als Smith geendet hatte, »Stone ist immer noch irgendwo da draußen unterwegs und in der Lage...« Sein Satz blieb unvollendet. »... Menschen von innen nach außen zu kehren. Und Raumschiffe zu verlassen, die sich im Sprung befinden. Er will offenbar jemanden töten, der mit dem Kriegsgericht zu tun hat, und dieser Jemand dürften Sie sein, Sir.« Marais dachte lange über diese Worte nach, dann sah er zu Smith. »Nehmen wir an, Ihre Beweise sind schlüssig, und Ihre Folgerungen treffen zu, Captain, was, glauben Sie, wird als Nächstes passieren? Und was wollen Sie dagegen unternehmen?« »Ich gehe davon aus, dass Stone einen weiteren Attentatsversuch unternehmen wird«, antwortete Smith. »Ich will ihn daran hindern.« »Tatsächlich.« Marais stand auf und entfernte sich einige Schritte, dann drehte er sich abrupt um. »Sie wollen, dass wir den Köder für Sie spielen.«
»So würde ich es nicht unbedingt formulieren, Sir...« »Sie vielleicht nicht, aber ich. Lassen Sie mich überlegen, Captain Smith. Ihre Agency« - er sprach das Wort voller Verachtung aus - »will diesen Stone zu fassen bekommen, herausfinden, für wen er arbeitet, sich vielleicht sogar seine Technologie aneignen. Und wenn ich dabei versehentlich von innen nach außen gestülpt werde, dann wäre das wirklich Pech für mich. Ist es nicht so, Smith? Ist das nicht genau das, was Ihre Agency vorhat?« 197 »Ich glaube, Sie schreiben uns mehr Boshaftigkeit zu, als wir verdient haben, Sir.« Smith legte die Hände in den Schoß und atmete tief durch. »Bedenken Sie bitte eines, Admiral: Irgendwo da draußen lauert jemand, der Dinge tun kann, die wir für unmöglich gehalten haben, und er hat einen Plan. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wann und wo er zuschlagen wird, aber wir können versuchen, vorbereitet zu sein. Natürlich sind Sie in Gefahr, Sir. Das bin ich auch. Das gilt sogar für diese gesamte Einrichtung. Aber das ist so oder so der Fall, ganz gleich, ob die Agency aktiv wird oder nicht. Er kommt nicht her, um die Agency anzugreifen, sondern er kommt Ihretwegen her. Und wir müssen davon ausgehen, dass er so viele Anläufe unternehmen wird, bis er damit Erfolg hat. Ich weiß nicht, wie und warum er es macht, Sir, aber das könnte unsere einzige Chance sein, es herauszufinden.« Marais lehnte sich zurück und wirkte mit einem Mal müde. Er blickte zwischen Torrijos und Smith hin und her. »Also gut, Smith. Was soll ich machen?« 197
23. Kapitel
Nur der, der mit dem Schrecken des Krieges wirklich vertraut ist, kann erkennen, wie der Krieg vorteilhaft fortgeführt werden kann. Sun Tzu, Die Kunst des Krieges, 11:7
Lieutenant Pam Fordyce hatte das Kommando über die Lancaster, als die astrographische Station ein Objekt meldete, das sich mit hoher Geschwindigkeit dem inneren System näherte. »Di, was ist das für ein Ding?« »Unbekannt, Lieutenant.« Ensign Zhu Di arbeitete hektisch an den Kontrollen des Steuerpults. »Die Matrix ist die irgendeiner Form von Energie...« Er nannte eine Zahl, die etwas höher lag als der jährliche Energieausstoß der Sonne. »Es bewegt sich fast mit drei Viertel Lichtgeschwindigkeit und kreuzt unsere Bahn in etwa ... drei Minuten.« »Handelt es sich um ein Raumfahrzeug?« »Unbekannt.« »Kom, rufen Sie Commander Wells auf die Brücke und stellen Sie eine Verbindung zum Mare Imbrium her.« »Wir sind von den Kommunikationswegen im Sol-System abgeschnitten, Pam«, meldete sich Keith Danner von der Kom-Station. »Auf unsere Anfragen wird niemand antworten, solange er nicht den ausdrücklichen Befehl dazu erhält.« »Können wir wenigstens irgendetwas empfangen?« 197 »Es wurde Funkstille angeordnet, aber...« Keith nahm verschiedene Einstellungen an seiner Station vor, winkte einen Untergebenen zu sich, damit der ihn ablöste, und ging hinüber zum Pilotensitz. »So wie es aussieht«, sagte er und deutete auf das 3-D-Pilotendisplay, »haben sich einige Leute bereits an die Verfolgung begeben.« »Zwei Minuten dreißig«, meldete Di Zhu, als Chan Wells die Brücke betrat und einen vorläufigen Statusbericht erhielt. »Woher kommt es?«, wollte er wissen. Pam übergab ihm die Brücke und postierte sich an der anderen Seite des Pilotensitzes. »Nach den wenigen Informationen, die wir zusammentragen konnten, haben weder das Ganymed-Observatorium noch die Titan-Basis beobachtet, wie das Objekt ins System eindrang. Jodreil Bank nahm es ein paar Sekunden nach uns wahr. Es ist so, als wäre es einfach... na ja, aufgetaucht.« »Das ist unmöglich«, gab Pam zurück. »Schiffe können nicht einfach so auftauchen.« »Dann bleibt mir nur der Schluss, Lieutenant«, sagte Chan mit einem Seitenblick zu seinem Waffenoffizier, »dass es sich beim fraglichen Objekt nicht um ein Raumschiff handelt. Was passiert, wenn unsere Abwehrfelder von dieser Energie getroffen werden?« »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Commander«, antwortete Pam. »Einen Teil der Energie werden wir wahrscheinlich absorbieren können. Wenn sie genügend zerstreut werden kann, wird sie einfach wieder abgestrahlt werden. Aber wenn sie so konzentriert ist, dass sie unsere Felder überlädt...«
»Dann würde sie die Lancaster mühelos zerstören«, führte Keith den Satz zu Ende. »Und mit ihr die ganze Besatzung.« »Wir haben drei Möglichkeiten.« Chan rutschte auf seinem Platz umher, bis er bequemer saß. »Wir können versuchen, das unbekannte Objekt zu zerstören, womit wir auch die möglichen Konsequenzen tragen müssten. Wir können abwarten, um zu sehen, was geschieht. Oder wir gehen ihm aus dem Weg.« Chan sah auf den Schirm, der fast völlig von dem aufblitzenden 198 Energiefeld ausgefüllt wurde. »Haben Sie den Kurs dieses Dings errechnet, Lieutenant?« »Es wird in weniger als zwei Minuten den Mond erreichen, Commander. Zielpunkt Terminator.« »Grimaldi.« »So gut wie sicher, Commander.« »Wir müssen sie warnen. Keith, rufen Sie Grimaldi. Sagen Sie ihnen, was das auf sie zukommt, falls sie es nicht schon längst wissen.« Das Objekt zog an ihnen vorbei, ein verwischter bunter Streifen, der umso langsamer wurde, je näher er dem Mond kam. Smith stand im hinteren Teil des Raums, in dem die Verhandlung stattfand, und sah dem Anklagevertreter zu, wie er sich erhob und seine Notizen ordnete. Von Marais, Torrijos, Captain Russ, Aronoff und Admiral McMasters abgesehen kannte niemand hier seine Identität. Und es schien auch niemanden zu interessieren, dass einer der Gerichtsdiener ausgetauscht worden war. Was dieser Morgen bringen würde, wusste er nicht. Marais war nach anfänglichem Protest doch noch bereit gewesen, Smith zu helfen und für ihn praktisch den Köder zu spielen, um denjenigen aus der Reserve zu locken, der es auf sein Leben abgesehen hatte. Smiths Aufgabe war es, eben dieses Attentat zu verhindern. Der sonst so unerschütterliche Admiral schien abgelenkt und in Gedanken verloren zu sein, die anderen machten einen nervösen Eindruck auf ihn. Schließlich erteilte McMasters Aronoff das Wort. »Der fünfte und letzte Anklagepunkt in diesem Kriegsgerichtsverfahren ist der des ungebührlichen Verhaltens eines Offiziers und Gentleman.« Aronoff beugte sich vor, die große schlanke Gestalt weit über den Tisch gelehnt, die Hände ausgebreitet, um sich abzustützen. »Dies ist der schwierigste Anklagepunkt von allen, Mitglieder des Tribunals. Es ist ein Punkt, der große Subjektivität impliziert und umfassende Kenntnisse der Ideale erfordert, die sich 198 sowohl in den Vorschriften des Militärdienstes niederschlagen als auch in dem Geist, von dem er beseelt ist. Es geht dabei nicht so sehr um die Frage, ob eine Handlung im Rahmen des Militärgesetzes legal ist oder nicht, sondern ob die Imperiale Navy sich die Bürde auflasten will, ein solches Handeln gutzuheißen. Die Navy hat sich in diesem Fall zu einer Anklage entschlossen, weil die Art und Weise, wie der jüngste Feldzug zur Unterwerfung der Zor geführt wurde, eine beinah überwältigende Abscheu ausgelöst hat. Es bliebe ein Schandfleck auf der Ehre der Navy, würden wir diese Taten gutheißen. Ein Krieg, der unehrenhaft geführt und gewonnen wird, ist schlimmer als ein Krieg, den man ehrenvoll verliert. Es ist Aufgabe der Verteidigung, diese Ansicht zu widerlegen, falls sie das kann.« »Ich bin bereit, mich dieser Herausforderung zu stellen«, gab Lynne Russ zurück. »Oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass der Angeklagte dazu bereit ist. Die Verteidigung ruft Captain Marc Hudson in den Zeugenstand.« Smith verließ den Saal, holte Marc Hudson und half ihm in den Zeugenstand. Hudson war blass und wirkte erschöpft, doch er rang sich ein ironisches Grinsen ab, als er die Reihe passierte, in der Marais saß. Nachdem er vereidigt worden war, bedeutete McMasters ihm, er könne sich während der Befragung hinsetzen. »Nennen Sie bitte Namen und Dienstgrad«, forderte Russ ihn auf. »Captain Marcus Abrams Hudson«, erwiderte er. »In welcher Beziehung stehen Sie zum Angeklagten?« »Ich hatte das Vergnügen, von April an unter ihm auf dem Raumschiff Biscayne zu dienen. Ich nahm an Kampfhandlungen der Flotte teil und leitete zudem die Angriff auf R'h'chna'a und A'anenu.« »Haben Sie öfter mit dem Angeklagten gesprochen?« »Ja, Captain.« »Beschreiben Sie dem Gericht Ihren Eindruck von der Haltung des Angeklagten. Wie benahm er sich gegenüber Ihnen und den Leuten, die ihm unterstellt waren?« 198 »Er hat mich stets mit dem Respekt behandelt, der meinem Dienstgrad angemessen ist. Das gleiche Verhalten habe ich auch gegenüber anderen Offizieren beobachtet.«
»Neigte er zu häufigen Wutausbrüchen? Wurde er leicht zornig? Hatte er Schaum vor dem Mund oder...« »Einspruch, Sir«, mischte sich Aronoff ein, der aus seiner Verärgerung keinen Hehl machen konnte. »Die Verteidigung macht aus der Zeugenbefragung eine Komödie.« »Stattgegeben. Captain, Sie werden Ihre Fragen mit dem nötigen Ernst stellen.« »Sir, jetzt muss ich Einspruch einlegen. Der Anklagevertreter hat während des ganzen Verfahrens immer wieder versucht, den Angeklagten nicht bloß als einen Mann hinzustellen, der die Regeln verletzt hat, sondern als ein Monster, als einen Verrückten, der nichts anderes kennt als Mordlust. Ich möchte feststellen, ob der Angeklagte irgendwelche offensichtlichen Anzeichen erkennen ließ, die das untermauern können.« »Einspruch«, wiederholte Aronoff prompt. »Der Zeuge ist kein Experte auf diesem Gebiet, um ein sachlich fundiertes Urteil abzugeben.« »Stattgegeben.« »Ich ziehe die Frage zurück«, sagte Russ nur und sah zu Aronoff, der vor Wut kochte, dann fuhr sie fort: »Captain Hudson, Sie haben an einem Feldzug gegen die Zor teilgenommen, der extrem zerstörerische Wirkung hatte, der Zivilisten das Leben kostete und der - den Behauptungen der Anklagevertretung zufolge in dieser Form nicht von der Admiralität abgesegnet worden war. Seit wie vielen Jahren dienen Sie in der Navy?« »Seit dem letzten Januar sind es sechsundzwanzig Standardjahre.« »Würden Sie sagen, dass Sie durchaus ein Experte hinsichtlich militärischer Strategien und Taktiken sind, wenn Sie bedenken, wie lange Sie bereits der Krone dienen?« Sie warf Aronoff einen wütenden Blick zu, den der prompt erwiderte. 199 »Ja, das würde ich so sagen.« »Wie beurteilen Sie das Verhalten von Admiral Marais als Befehlshaber der Flotte während des letzten Feldzugs? Hat er seine Pflichten ordentlich erfüllt?« »Er hat den Krieg gewonnen, Captain.« »Einspruch«, sagte Aronoff. »Der Zeuge kann nicht ex officio reden. Diese Entscheidung liegt bei der Krone.« »Admiral«, konterte Russ aufgebracht. »Der Zeuge beantwortet eine Frage. Die Aussage, dass der Angeklagte den Krieg gewonnen hat, stellt eine Bewertung seiner militärischen Leistung dar. Die Aussage ist daher zulässig.« »Einspruch abgewiesen. Die Verteidigung kann fortfahren.« »Ich möchte das Gericht daran erinnern«, warf Aronoff ein und stand auf, »dass diese Entscheidung es dem Zeugen erlaubt, in eine Rhetorik zu verfallen, die die Sache des Angeklagten beeinflussen könnte, ohne dass es sich um Beweise handelt.« »Möchte die Anklagevertretung eine förmliche Beschwerde einlegen?«, fragte McMasters und wandte sich Aronoff zu. Aronoff antwortete nicht sofort, da er erst nach den richtigen Worten zu suchen schien. Auf einmal ging das Licht im Konferenzraum aus. Das konstante Summen der Lebenserhaltungssysteme, an das jeder hier so gewöhnt war, dass man es nicht mehr bewusst wahrnahm, verstummte im gleichen Moment. Einen Augenblick später schaltete sich die schwache, gelbliche Notbeleuchtung ein, die zwar den Tisch der Verteidigung und eine Wand in Licht tauchte, den übrigen Teil des Raums aber nicht erhellte. Marais stand auf und griff nach der Stelle an seinem Gürtel, an der sich sonst seine Waffe befand. Smith stand in völliger Finsternis und zog seine Pistole. »Was zum Teufel ist denn hier los?«, rief McMasters, als inmitten des Raums auf einmal ein helles buntes Licht entstand. »Vielleicht kann ich das beantworten, Admiral.« Marais sah langsam auf und betrachtete den Mann, der dort auf einmal Gestalt angenommen hatte. 199 Er wirkte noch immer so, wie Marais ihn von der letzten Begegnung in Erinnerung hatte: blass und so hager wie ein Skelett, das Gesicht zu einer Miene verzogen, die sich irgendwo zwischen einem ärgerlichen Ausdruck und einem spöttischen Grinsen bewegte. In der Hand hielt er etwas, das einer Pistole ähnlich sah, aber eindeutig fremder Herkunft war. Die Waffe war auf Marais' Brust gerichtet. »Na schön, Stone«, sagte Marais schließlich. »Dann geben Sie die Antwort.«
Ein paar Sekunden lang äußerte sich Stone nicht, sondern sah sich im Raum um. Zwei Marines, Sergei, Marc Hudson, die drei Mitglieder des Tribunals, Marais, Captain Russ und Aronoff standen oder saßen da, als wären sie Teil eines Gemäldes. »Ich bin hier, mein lieber Admiral«, erwiderte er dann, »um Sie zu töten.« »Einen Augenblick mal ...«, protestierte McMasters und stand auf. Stone richtete die fremdartige Pistole auf ihn, und der Mann erstarrte mitten in seiner Bewegung. »Die Waffe bewirkt die ungewöhnlichsten Effekte«, sagte Stone. »Wenn Sie möchten, werde ich Ihnen die Effekte nur zu gern vorführen.« »Das ist nicht nötig.« Marais ließ die Arme sinken, McMasters ebenfalls. »Ich nehme an, Sie werden jetzt endlich erklären, welches Spiel Sie spielen.« »Selbstverständlich.« Stone lächelte flüchtig, und Marais wirkte mit einem Mal unbedeutend und klein. »Das Problem, Admiral, besteht darin, dass Sie es versäumt haben, Ihre Rolle so zu spielen, wie es ursprünglich für Sie vorgesehen war. Sie hatten die beste Gelegenheit, die sich ein Mensch wünschen konnte: die Gelegenheit, eine feindliche Spezies restlos auszulöschen und dabei die Überlegenheit Ihrer eigenen Spezies zu demonstrieren. Doch im letzten Moment weigerten Sie sich, dieser Spezies den Todesstoß zu versetzen. Das war eine fatale Schwäche, Admiral, eine Schwäche, die der Menschheit in ihrer gesamten Geschichte immer zu 200 schaffen machte. Die Menschen sind zu gewalttätig, um zivilisiert zu sein, aber zugleich auch zu zivilisiert, um gewalttätig zu sein. Das wird noch einmal ihr Untergang sein. Nachdem Sie nun nicht das Notwendige getan haben, ist klar, dass Sie nicht weiterleben dürfen. Wenn die Menschen die Zor nicht auslöschen, werden die Zor zweifellos die Menschheit vernichten. Die Tötung ihrer so kostbaren »Dunklen Schwinge<« - er verzog spöttisch den Mund -»wird schon dafür sorgen.« »Aber es war nicht nötig...«, setzte Marais an. »Natürlich war es nötig, Sie Narr«, unterbrach Stone ihn. »Was glauben Sie denn, wofür das alles gut sein sollte?« »Sagen Sie es mir«, forderte McMasters ihn auf. »Wozu sollte es gut sein?« »Dies ist ein Konflikt zwischen verschiedenen Spezies. Meine Auftraggeber waren der Ansicht, es sei am besten, dass die Menschen die Zor auslöschen, deren Evolutionschancen durch ihre fanatische Voreingenommenheit deutlich geringer sind als die ihrer viel anpassungsfähigeren menschlichen Widersacher. Mit meiner Hilfe schrieb Admiral Marais ein Buch, das die einzig mögliche Lösung für dieses Dilemma beschrieb, in die sich die Menschheit manövriert hatte: die Vernichtung der Zor, indem man sie unter den gleichen Bedingungen bekämpft, wie sie es mit den Menschen gemacht haben. Den Rest kennen Sie: Marais führte diesen Plan bis zum entscheidenden Punkt aus, an dem er sich von dem mystischen Unsinn einwickeln ließ, den die Zor für Religion halten, anstatt sie auszuradieren.« »Mystischer...«, warf Marais ein, doch Stone ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ihr werter Admiral«, sagte er an McMasters gerichtet, »begann sogar zu glauben, er sei der »Zerstörer«, dessen Kommen ihre Mythen angekündigt hatten. Dieser alberne Messias-Komplex ließ ihn innehalten, als er die Zor hätte abschlachten sollen. Die Menschheit hat den Beweis erbracht, dass sie zur Vorherrschaft über andere unfähig ist.« 200 »Indem wir Gnade walten ließen?«, fragte Marais »Wann haben Sie denn zuvor Gnade walten lassen? Bei S'rchne'e? Bei A'anenu? Nicht mal diese jämmerliche Kreatur, die Sie auf dem Flottenstützpunkt gefangen nahmen, dieser Zor namens Rrith, wollte etwas von Ihrer so wundervollen Gnade wissen.« »Wir haben die Chance, unsere Differenzen beizul...« »Selbst das wird nur so lange halten, wie Sie leben, Marais. Menschen und Zor können nicht Seite an Seite leben. Es ist so vorbestimmt.« »Was ist noch vorbestimmt?«, wollte Marais wissen. »Wie haben Sie Menschen und Zor noch in Ihrem Spiel benutzt?« »Leider«, gab Stone mit einem Lächeln auf den Lippen zurück, »werden Sie das nie erfahren.« Seine Finger schlossen sich um den Abzug der Waffe. »Leben Sie wohl, Admiral Marais.« In diesem Moment riss Stone den Kopf herum, als er eine Gestalt sah, die sich ihm aus den Schatten heraus näherte. Marais ließ sich zu Boden fallen, und Stone richtete seine Waffe sofort auf den Agenten. Beide Waffen wurden gleichzeitig abgefeuert ...
Ein bunter Lichtstrahl schoss aus Stones Waffe hervor und hüllte Smith ein, während Stone zu Boden fiel. Sein rechter Arm und ein großer Teil seiner rechten Körperhälfte war von Smiths Schuss verdampft worden. Smiths Körper wand sich und zuckte im Griff entsetzlicher Energien, während er der Länge nach hinfiel. Ein Röcheln kam noch über seine Lippen, dann fand auch dieser Laut ein jähes, brutales Ende. Es gab einen lauten Knall und einen Lichtblitz, als die unbekannte Waffe auf dem Metallboden in tausend Stücke zerplatzte. Gestank nach Blut und verkohltem Fleisch breitete sich im Raum aus. Sse'e HeYen kauerte im esTk'e des Hohen Lords in nachdenklicher Haltung, die Flügel in einer unterwürfigen Pose gegenüber esLi angeordnet. Im Geiste stand er an einer Brüstung des Sanktuariums, 201 zwei Flugtage von es Yen entfernt. Dres HeShri, Meister des Sanktuariums, befand sich dicht neben ihm. »Der Diener von esGa'u wurde zerstört«, sagte der Hohe Lord plötzlich. »hi Sse'e«, fragte der Meister, die Flügel in der Pose der Hochachtung gegenüber dem Hohen Lord. »Ja, mein alter Freund?« »Warum hat der esGa'uYe nicht den Gyaryu'har vernichtet? Sicher hätte das e'chya...« »Stolz«, antwortete der Hohe Lord. »Der Diener des Täuschers war seiner Sache so sicher, die Wünsche von Lord esLi durchkreuzen zu können, dass er es nicht sofort tat. Er wurde aufgehalten, so wie es in der Vergangenheit schon der Fall war. Dennoch bin ich mir sicher, dass er es wieder versuchen wird.« »Wir müssen bereit sein«, sagte Dres HeShri und ließ seine Flügel die Haltung der Nahenden Gefahr einnehmen. »Das ist wohl wahr«, stimmte der Hohe Lord ihm zu. Unerwartet wehte ein kalter Wind über die hohen Türme des Sanktuariums vor dem geistigen Auge des Hohen Lords. Beide Zor legten die Flügel so um sich, dass sie sie wie Mäntel schützten. Das Verfahren wurde erst zwölf Stunden später fortgesetzt. Der Agent Smith war tot, sein Körper war auf eine grässliche Weise entstellt worden - so als hätte jemand sein Innerstes nach außen gestülpt. Stones Leichnam dagegen sah aus wie der eines ganz normalen Menschen. Das Gericht wurde erneut verlegt, diesmal in einen noch stärker bewachten Bereich des Komplexes. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, falls weitere Angriffe erfolgen sollten. »Wenn das Gericht einverstanden ist, möchte ich mich jetzt gerne äußern«, erklärte Marais, nachdem die Verhandlung wieder aufgenommen worden war. »Danach werde ich bereit sein, das Urteil des Gerichts anzunehmen.« »Falls ein Mitglied dieses Verfahrens eine Verschiebung wünscht 201 ...« McMasters sah von Russ zu Aronoff, weiter zu Marais und dann zu den anderen Richtern. »Gut.« Er schaute wieder Aronoff an. »Wünscht die Anklagevertretung...« »Wenn der Angeklagte einverstanden ist, sich als Zeuge zu seiner eigenen Sache vereidigen zu lassen, hat die Navy keine Einwände gegen eine Aussage.« »Admiral, schwören Sie, dass alles, was Sie sagen werden, der Wahrheit entspricht, so wahr Ihnen Gott helfe?« »Ich schwöre, Sir.« »Gut«, erwiderte McMasters und faltete die Hände. »Sie können anfangen.« Marais erhob sich und ging langsam bis in die Mitte des Gerichtssaals, die Hände hielt er auf dem Rücken. »Wir sind Zeuge geworden, wie ein bizarrer Plan offenbar wurde. Ich glaube, dieser Plan verfolgte als oberstes Ziel die Vernichtung der Zor als Spezies. Ich sollte das Mittel zu ihrer Zerstörung werden. Die Menschheit ist in der Lage, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mancher mag zwar argumentieren, wir würden dabei das verlieren, was uns überhaupt erst menschlich macht, doch es fällt vor allem uns Militärs zu, dass wir begreifen: Wir könnten und würden es tun, sollte das Überleben unserer Spezies davon abhängen. Ohne die Beschränkungen, die durch eine »Standardprozedur« auferlegt werden, und ohne »traditionelle Moral«, die wie Handfesseln wirkt, machte ich mir eine Aufgabe zu Eigen, die genau dieses Ziel hätte erreichen können.« Für einen Moment hielt er inne. »Ich tat es aus einem einzigen Grund: Ich glaubte, es wäre der einzige Weg, um die Menschheit von der Geißel eines ewigen Kriegs mit den Zor zu befreien. Ich betone, dass ich das Recht und den Auftrag dazu hatte. Meine erfahrene Verteidigerin hat im Lauf dieses Verfahrens immer wieder dieses Recht und den Auftrag betont. Mir war dabei nie wichtig, ob es mich zum Schurken oder zum Helden machen würde. Ich ging davon aus, dass es Leute gibt, die mich zu stoppen versuchen würden, wenn ich erst einmal begonnen hatte, mein Vorhaben zu
202 verwirklichen. Indem ich meine Befehle auf die Ihnen bekannte Art ausführte und indem ich loyale Offiziere um mich hatte, machte ich derartige Versuche von vornherein unmöglich. Ich ging auch davon aus, dass die Zor sich mit allem gegen mich stellen würden, was sie aufzubieten hatten. Ich wusste, es könnte ihre vollständige Auslöschung bedeuten.« Nach ein paar Sekunden des Schweigens fuhr er fort: »Doch dann geschah dort draußen etwas. Anstatt sich mir bis zum bitteren Ende zu widersetzen, sahen die Zor diesen Konflikt auf einmal in einem größeren Zusammenhang. Sie identifizierten mich als eine Figur ihrer Mythologie, als die Dunkle Schwinge, den Bringer der Zerstörung. Mein Adjutant Captain Stone hatte dafür gesorgt, dass wir bis an den Rand des Abgrunds gelangten. Erst vor ein paar Stunden tat er diesen Aspekt unseres Konflikts als »mystischen Unsinn< ab. Für ihn war es nichts weiter als ein Versuch der Zor, sich selbst die Niederlage zu erklären. Niemals zuvor hatten wir sie in eine solche Situation gebracht. Und doch ist dieser »mystische Unsinn< die Essenz unserer - meiner - Position im Verhältnis zu den Zor. Als jemand, der fähig und auch willens war, die Zor als Spezies auszulöschen, stellte ich tatsächlich die Verkörperung der Dunklen Schwinge dar. Ich war und bin fähig, sie zu vernichten. Nach menschlichen Moralvorstellungen« - er spie das Wort fast aus - »bin ich ein Ungeheuer, aber nach der Moral der Zor bin ich eine Art Held.« Sekundenlang ruhte der Blick auf seinen Füßen. »Das Wichtigste an diesem Krieg ist aber nicht, was wir den Zor angetan haben, sondern was wir ihnen hätten antun können. Indem ich ihre Weltanschauung zerstörte, brachte ich sie zu einer völlig anderen Schlussfolgerung - dass ich ihnen eine neue Richtung für ihre Gesellschaft gab, deren spirituelle Basis in Trümmern lag. Die Zor nennen das ein a'Li'er'e: die Wahl des Fluges. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass ich für sie nicht nur die Dunkle Schwinge, sondern auch die Helle Schwinge bin.« Er berührte kurz das Heft des Schwerts, das vor Captain Russ auf dem Tisch lag, und sah in die Ferne. 202 »Ich gebe zu, dass ich Nester der Zor zerstören ließ. Ich gebe zu, ich ließ ihre Krieger töten. Ich gebe zu, dass ich ihre Welten dem Erdboden gleichmachte. Doch als die Zor diesen Flug wählten, war es nicht länger erforderlich, sie zu vernichten. Das haben sie anerkannt, indem sie mir dieses Schwert gaben und mich Gya-ryu 'har nannten. Die Pläne, die Captain Stone und seine mysteriösen Auftraggeber verfolgten, ändern daran nichts. Sie warnen uns höchstens, dass es noch andere, potenziell übermächtige Beteiligte in diesem Konflikt gibt. Vor diesem Hintergrund ist eine Aussöhnung zwischen Zor und Menschen von noch größerer Tragweite. Wer weiß, was da draußen in der unbekannten Schwärze des Alls lauert, jenseits der Grenzen, zu denen wir bisher mit unseren besten Schiffen vordringen können?« Sergei traf Admiral Marais in der Aussichtslounge an, die sich über die Nordseite der Grimaldi-Basis erstreckte. Von ihr aus überblickte man eine flache Ebene, eine Einöde, übersät mit Felsbrocken unterschiedlichster Größe, die im grellen Sonnenschein lange, tiefe Schatten warfen. Darüber war am Himmel die halbe Erde zu sehen, über Afrika zogen sich einige Wolkenbänder. Zwei Marines hielten respektvoll Abstand, folgten Marais aber überallhin, seit vor über zwölf Stunden Stone den Anschlag auf sein Leben verübt hatte. Es widerstrebte Sergei fast schon, Marais zu stören, doch er wusste, eine andere Gelegenheit würde sich nicht bieten, da das Gericht in gut einer Stunde wieder zusammenkam. Als er sich räusperte, drehte sich Marais zu ihm um. Seine erschöpfte Miene nahm einen Ausdruck an, der vielleicht ein Lächeln sein sollte. Sergei salutierte, doch Marais hielt ihm einfach die Hand hin, die er ergriff. »Schon eine beeindruckende Aussicht«, sagte der Admiral und deutete auf die Mondlandschaft. »Ja, Sir.« Sergei lehnte sich auf das Geländer und sammelte seine Gedanken. »Sir, es gibt da etwas, das Sie wissen sollten.« »Wirklich?« 202 »Ja, Admiral. Wir... ich will sagen, eine Reihe von Offizieren, die unter Ihnen dienten, möchten klarstellen, dass sie unverändert zu Ihnen stehen, Sir. Die meisten von uns - und dazu zähle ich mich auch - können sich mit dem Gedanken an eine Rückkehr in den Dienst der Navy oder an einen Wechsel ins Privatleben nicht so recht anfreunden. Daher haben wir uns gefragt, welche Zukunftspläne Sie verfolgen.« »Zukunftspläne?« Marais zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust. »Darüber wird wohl das Gericht entscheiden, oder finden Sie nicht? Sie könnten auf die Idee kommen, mich zu erschießen.« »Selbst wenn sie so entscheiden sollten, Sir, nehme ich nicht an, dass Sie das zulassen werden.« »Ich glaube, weder das Hohe Nest noch meine loyalen Offiziere würden das zulassen. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass ich freigesprochen werde.«
»Was zu massiven Unruhen führen würde.« »Allerdings.« Marais stützte sich ebenfalls auf dem Geländer ab; das von der Landschaft reflektierte Licht schien ihm ins Gesicht. »Vermutlich wird es irgendein Mittelweg sein, der wohl mit dem Gang ins Exil verbunden sein dürfte - freiwillig oder unfreiwillig. In diesem Fall werde ich zum Hohen Nest zurückkehren und in der Funktion dienen, die hi Sse'e mir zugewiesen hat.« »Admiral...« Sergei drehte sich zu ihm um. »Mylord, ich glaube, einige von uns würden Sie gern begleiten. Sofern Sie das möchten.« Marais schien über das Eingeständnis überrascht zu sein. »Ich würde es begrüßen, aber ich fürchte, es wäre ein Exil auf Lebenszeit. Sind Sie bereit, das zu akzeptieren? Sie würden damit alle Brücken hinter sich...« »Wir sind uns der Konsequenzen bewusst, Mylord. Für einige von uns ist die Karriere bereits beendet, für einige andere wird sie in einer Sackgasse enden. Wir wussten, worauf wir uns einließen, als wir Ihnen folgten, und wir wissen es auch jetzt.« 203 »Ich verstehe.« Marais sah ihn mit einer Mischung aus Trauer und Wut an. »Wissen Sie«, sagte er schließlich, »als ich mich für diesen Weg entschied, hatte ich eine gute Vorstellung davon, wie die Anklage lauten würde. Ich ging von Untreue und Ungehorsam aus. Ich verspottete die Autorität des Imperators, und ich missachtete ohne jeden Zweifel die eigentliche Absicht meiner Befehle, um diesen Krieg zu gewinnen. Aber als man mir vorwarf, Artikel 133 verletzt zu haben, da wurde mir klar, dass der Ausgang des Verfahrens völlig bedeutungslos war. Sowohl das Militär als auch die Zivilregierung werden die Früchte dieses Sieges ernten, gleichzeitig aber die Hände in Unschuld waschen, um keine Verantwortung tragen zu müssen. Es war sogar für mich eine unerfreuliche Aufgabe. Ich bin nicht so herzlos, wie mancher vielleicht gedacht hat.« Sergei wollte protestieren, doch Marais hob die Hand. Sein stolzes Gesicht wirkte mit einem Mal müde und alt. »Ich hätte wissen sollen, dass es so enden würde. Dass die Menschen mich zum Schurken stempeln würden, obwohl ich für sie den größten Sieg aller Zeiten errungen habe. Das ist Charakterschwäche, weiter nichts. Die Zor kennen keine solche Schwäche. Sie machten mich zu ihrem Gyaryu'har.« »Admiral, ich...« »Torrijos... Sergei... Sie haben dem Imperium gut gedient, und Sie haben mir gut gedient. Ich wünschte, der Imperator würde Sie so belohnen, wie Sie es verdient haben. Aber wenn Ihnen das auch versagt wird, dann würde ich mich freuen, Sie an meiner Seite zu wissen.« Sergei sah zur Seite, und sein Blick fiel auf das imperiale Wappen - Schwert und Sonne -, das über der Tür angebracht war. Der Respekt vor diesem Emblem und allem, wofür es stand, saß tief, und wenn irgendwo die imperiale Hymne gespielt wurde, hatte er sofort einen Kloß im Hals. Doch das kam ihm jetzt alles bedeutungslos vor. Das Imperium - sein Imperium - hatte Marais verraten, wenn es so etwas zuließ. 203 »Ich gehe mit Ihnen, Sir«, sagte er zu guter Letzt und hielt dem Admiral die Hand hin. Nach einem kurzen Moment nahm Marais die Hand und drückte sie fest. Das Gericht trat zur Abendwache wieder zusammen, während die Hawaiianischen Inseln von der Nacht in den Tag überwechselten. Die Mitglieder des Tribunals standen in ihren Galauniformen vor dem Tisch, auf dem eine gebundene Ausgabe der Bibel sowie der weiße Amtsstab lagen, der auf die Autorität McMasters' hinwies, im Namen des Imperiums über die Anklagen zu entscheiden. Aronoff, der zur gleichen Zeit wie Marais mit seinem Gefolge den Raum betrat, begab sich auf das gegenüberliegende Podium. Marais ging in der Mitte des Gerichtssaals in Habtachtstellung. Neben ihm befand sich seine Verteidigerin. Sergei und Marc Hudson standen ein Stück weit hinter ihm. »Admiral Ivan Hector Charles Marais, Lord Marais, das Gericht hat sich die Aussagen Ihrer Anwältin und die des Anklagevertreters, Commander Aronoff, angehört. Gibt es noch irgendwelche weiteren Beweise oder Informationen, die vorgelegt werden sollen, bevor dieses Gericht sein Urteil spricht?« »Nein, Sir«, erwiderte Marais. »Commander Aronoff, gibt es noch irgendwelche weiteren Beweise, die vorgelegt werden sollen, bevor dieses Gericht sein Urteil spricht?« »Nein, Sir.« »Gut. Commander, Sie wiederholen die Tatbestände, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden.« Aronoff sah auf die vor ihm liegende Tafel. »Erstens: Verletzung von Artikel 92, »Missachtung eines Befehls oder einer Vorschrift«, sowie von Artikel 90, »Missachtung eines vorgesetzten bevollmächtigten Offiziers«. Zweitens: Verletzung von Artikel 104 Abschnitt D, »Unterstützung des Feindes: Kommunikation, Korres-
pondenz und Umgang mit dem Feind«. Drittens: Verletzung von Artikel 99 Abschnitt C, »Ungebührliches Verhalten im Angesicht 204 des Feindes: Gefährdung der Sicherheit eines Kommandos durch Ungehorsam, Nachlässigkeit oder absichtliches ungebührliches Verhalten«. Viertens: Verletzung des Militärgesetzes, Artikel 93, »Grausamkeit und Misshandlung des ihm unterstellten Personals«. Fünftens: Verletzung von Artikel 133, »Ungebührliches Verhalten eines Offiziers und Gentleman«.« »Der Angeklagte plädiert in allen Anklagepunkten auf »nicht schuldig«. Möchte der Angeklagte seine Aussage ändern, bevor dieses Gericht sein Urteil fällt?« »Nein, Sir.« »Das Gericht wird nun das Urteil verkünden«, erklärte McMasters. »Insofern, dass der Angeklagte durch die Allgemeine Order 6 und die Spezielle Order 17 dazu ermächtigt war, einen Feldzug gegen die Zor zu führen und dabei alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Anwendung kommen zu lassen, und insofern, dass diese Befehle den Angeklagten dazu ermächtigten, im Kriegsgebiet mit uneingeschränkter Autorität zu agieren, ist das Gericht dazu angehalten, den Angeklagten von den Anklagepunkten eins bis vier freizusprechen. Die Art dieses Verfahrens und die Begleitumstände sowie die ursprünglichen Gründe für dessen Einleitung erschwerten jedoch die Urteilsfindung hinsichtlich des fünften Anklagepunkts.« McMasters sah zu Marais, dann blickte er wieder auf seinen Tisch. »Das Gericht kann hier nicht nur die rechtlichen Fragen behandeln, sondern muss sich auch der Aufgabe widmen, die Mittel abzulehnen oder gutzuheißen, mit denen das Militär die Ziele erreicht, die ihm von der Zivilregierung vorgegeben werden. Womöglich waren die von Ihnen ergriffenen Maßnahmen gerechtfertigt, Admiral. Wenn Verzweiflung herrscht, muss man auch heilige Kühe schlachten können. Wenn der Menschheit keine andere Wahl blieb, als die brutalen Akte zu verüben, die Sie vor Gericht zugegeben haben, dann haben Sie rechtmäßig und im Rahmen der Ihnen verliehenen Autorität gehandelt. Das ist jedoch keine Ent 204 schuldigung für das, was Sie getan haben. Wir sind eine Rasse, die zur Gewalt neigt. Wir sind in einen todbringenden Krieg verwickelt. Aber unser Berufsethos kann nicht einfach nach Lust und Laune über Bord geworfen werden. Sie sind diesen Weg gegangen, oder wie Sie selbst es formulieren: Sie haben diesen Flug gewählt. Also müssen Sie auch die Konsequenzen tragen. Das Gericht befindet Sie daher im fünften Anklagepunkt für schuldig und verurteilt Sie, mit sofortiger Wirkung das Imperium zu verlassen. Nur eine Begnadigung durch Seine Imperiale Majestät kann den Gang ins Exil unwirksam machen.« McMasters griff nach dem Hammer. »Entschuldigen Sie, Sir«, meldete sich Sergei zu Wort, trat vor und zog einen Datenkristall aus der Tasche. »Ich möchte diese Dokumente offiziell zu den Akten dieses Verfahrens nehmen lassen.« Er legte den Kristall vor McMasters auf den Tisch, der ihn neugierig ansah. »Wäre der Commodore auch so freundlich, uns zu erklären, welche Dokumente sich darauf befinden?« »Selbstverständlich, Sir.« Dann holte er mehrere Blätter aus der Tasche und legte sie dazu. »Der Kristall enthält meinen Abschied sowie den von dreiundsechzig Offizieren unter meinem Kommando, die während des jüngsten Feldzugs unter Lord Admiral Marais gedient haben. Unter den gegebenen Umständen können wir nicht guten Gewissens weiterhin im Dienst Seiner Imperialen Majestät stehen.« »Sergei...« »Unser Entschluss steht fest, Sir. Ich bitte darum, diese Entscheidung zu den Gerichtsakten zu nehmen.« McMasters sah seinen alten Kameraden lange an. Ein Teil von ihm wollte widersprechen, um das Ganze hinauszuzögern, ehe es unumkehrbar wurde. Doch ein anderer Teil von ihm wusste, es war bereits viel zu spät dafür. Er griff nach dem Hammer und schlug auf den Tisch. »Dieses Verfahren«, erklärte er ruhig, »ist beendet.« 204 Die neun Schiffe, die die Flotte der Zor bildeten, näherten sich der Sprungpunkt-Markierung. Die eskortierenden Schiffe fielen bereits zurück, und von der Pluto-Basis waren die fremden Raumfahrzeuge kaum noch auszumachen. Ted McMasters stand reglos da. Er war nicht allein auf dem Aussichtsdeck, doch keiner der Anwesenden wagte es, sich dem Admiral zu nähern und damit die eigene Karriere in Gefahr zu bringen. Er fragte sich, ob es wohl anders hätte laufen können, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Es war durchaus möglich, dass der Krieg, der ihn zeit seines Lebens begleitet hatte, durch die Bemühungen eines einzelnen Mannes beendet worden war.
Doch er bezweifelte, dass es so war. Das Militär hatte Ted McMasters zu einem pragmatischen und pessimistischen Mann gemacht, und Konflikte ließen sich nicht einfach so beilegen, wie es den Anschein hatte. Selbst wenn es zu einer dauerhaften Versöhnung mit den Zor kommen sollte, war da immer noch die unbekannte Bedrohung, die von Stone und seinen unbekannten Auftraggebern ins Spiel gebracht worden war. Irgendwo da draußen - er ließ seinen Blick über den Sternenhimmel schweifen - lauerte eine Gefahr, die größer war als die von den Zor ausgegangene. Die Menschheit würde immer auf der Hut sein müssen. Stone war gescheitert, aber wahrscheinlich war er nicht der einzige Handlanger dieser mysteriösen Hintermänner gewesen. Die verwischten Konturen der Zor-Schiffe wurden zu langen Streifen, dann verschwanden die neun Schiffe die ersten ihrer Art, die das Sol-System besucht hatten - in der Schwärze des Sprungraums. Auch wenn McMasters es in diesem Moment nicht wusste - keiner der Menschen, die die Zor begleiteten, würde jemals ins Imperium zurückkehren. Mancher würde wohl sagen, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte. 205
Epilog Nach nicht einmal sechs Monaten hatten sich die Imperiale Regierung und das Hohe Nest der Zor auf einen Friedensvertrag geeinigt, auch wenn von allen Seiten Proteste kamen. Julianne Tollivers Mehrheit in der Versammlung schwand, noch bevor in Genf alle Bäume ihr Laub abgeworfen hatten. Die Commonwealth-Partei unter der Führung des Abgeordneten Tomas Hsien erzwang ein Misstrauensvotum, lange bevor der Versammlung ein Entwurf des Friedensvertrags zur Begutachtung vorgelegt wurde. Aus den anschließenden Wahlen ging die Dominion-Partei zum ersten Mal in fast einhundert Jahren als Verlierer hervor, und Imperator Alexander sah sich gezwungen, Hsien zum neuen Premierminister zu ernennen. Die sterblichen Überreste von Captain Stone wurden zusammen mit dem verwandelten Leichnam von Captain Smith dem Imperialen Geheimdienst übergeben. Eine Untersuchung der Leichname ergab ebenso wie eine Analyse der wenigen Bruchstücke von Stones bizarrer Waffe keinerlei Hinweis auf die Hintermänner, ihre Motive oder ihre Herkunft. Von den beiden Toten abgesehen, gab es keinen Beweis dafür, dass überhaupt irgendetwas vorgefallen war. Niemand zeigte sich überrascht, dass die Agency aus allen offiziellen Aufzeichnungen jeden Hinweis auf diese Geschehnisse löschte. Trotz seiner heftigen Schmähungen des vorangegangenen Krieges und dringenden Warnungen über ein Wiederaufleben der Feindseligkeiten sowie der Bedrohung, die von Admiral Marais 205 ausging, unterzeichnete Premierminister Hsien den Vertrag von E'rene'e am 12. Februar 2312, ein Jahr nach dem Angriff auf Pergamum. Damit war das letzte Kapitel im Kampf zwischen der Menschheit und den Zor abgeschlossen. Später an diesem Tag war Hsien damit beschäftigt, anstehende Gesetzesänderungen durchzuarbeiten, die in der Versammlung diskutiert werden mussten, als auf einmal die Türglocke ging. »Ich habe doch gesagt, ich will nicht gestört werden«, zischte er und sah auf. Ein Besucher betrat das neu eingerichtete Büro und zog die Tür hinter sich zu. Der Mann war ein Weißer, trug aber weder eine Uniform noch irgendwelche Abzeichen. Vielmehr ließ sein unauffälliger Anzug ihn so wirken wie einen jener Geschäftsleute, denen man in der Großen Passage zu Dutzenden begegnete. Lediglich die Narbe über dem linken Auge verlieh seinem Gesicht einen etwas verdutzten Ausdruck. Hsien glaubte, den Mann schon einmal gesehen zu haben, konnte ihn jedoch nicht einordnen. »Wer zum Teufel sind Sie denn?« »Mein lieber Premierminister«, sagte der Mann. »Mein Name ist Smith.« Er hielt Hsien eine ID-Marke hin, die ihn als Agenten des Imperialen Geheimdienstes auswies. »Man hat mich geschickt, um mit Ihnen gewisse Angelegenheiten zu besprechen.« »Ich habe jetzt keine Zeit.« Der Agent gab einen Laut von sich, der leicht entrüstet klang. Dann zog er sich einen Sessel heran und setzte sich gegenüber von Hsien an den Schreibtisch. Der neue Premierminister war sichtlich verärgert, seine Hand wanderte zur Konsole seines Readers. »Mr Hsien, ich glaube, Sie sollten Ihre Termine verlegen.« »Warum sollte ich mich überhaupt mit Ihnen abgeben? Wenn ich die Hilfe Ihrer Agency benötige, werde ich den Direktor anrufen. Sie haben sich schon viel zu oft in Regierungsangelegenheiten eingemischt, aber jetzt ist damit Schluss.«
»Mr Hsien«, wiederholte der Agent in einem Tonfall, als würde er einen ungezogenen Schuljungen tadeln. »Nach der langen und lohnenswerten Beziehung zwischen unserer Organisation und Ih
206 nen wollen Sie sich auf einmal auf das hohe Ross setzen?« Er musste sich zwingen, nicht lauthals zu lachen. »Mir ist klar, dass Ihnen das nicht gefällt. Sie alle« - er meinte eindeutig die ganze Agency - »sind von dem Verlangen erfüllt, Ereignisse und Menschen so zu manipulieren, wie es Ihnen gefällt. Nun... lassen Sie sich gesagt sein, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Ich werde mich von Ihnen nicht manipulieren lassen.« »Ach ja?« Der Agent wurde wieder ernst. »Sie scheinen da zu vergessen, Premierminister, dass Sie vor sechs Monaten nach A'anenu gereist sind, um Admiral Marais Ihre Unterstützung anzubieten. Jenem Admiral Marais, den Sie seit kurzem Tag für Tag in der Versammlung als den Teufel in Person darstellen. Sie möchten doch sicher nicht, dass das herauskommt, oder etwa?« Hsien lief rot an. »Das ist Erpressung, Sie Bastard«, sagte er leise. »Die Agency betrachtet es mehr als eine Art... Versicherung, Premierminister«, erwiderte der Agent gelassen. »Sind Sie nun bereit, einige Dinge zu besprechen?« Hsien entgegnete darauf nichts, doch sein Schweigen war Zustimmung genug. »Gut«, fügte Smith an und grinste wieder schief. »Ich glaube, wir beide werden gut miteinander auskommen.« Der Traumzustand setzte langsam ein, während er meditierte. Innerer und Äußerer Frieden harmonierten miteinander. Er befreite seinen Geist von allen bewussten Gedanken. Er wusste, etwas erwartete ihn, doch er war sich nicht sicher, was es sein mochte. Draußen vor den hohen Fenstern von esGa 'MS Festung auf der Ebene der Schmach tobte ein Sturm. Der Lord der Ausgestoßenen würde sich nicht umdrehen, um Sse'e HeYen anzusehen, doch er sprach zu ihm, indem er sich an die Mauern seiner Feste richtete und womöglich den ewigen Sturm betrachtete. »Du hast meine Pläne vereitelt«, sagte esGa'u. »Die Dunkle Schwinge hat dich nicht angenommen, die Helle Schwinge steht dir bei. Der Stolz deiner Vorväter« - esGa 'u hob einen Flügel in 206 einer verächtlichen Geste - »wurde mit Füßen getreten und in alle Acht Winde verstreut, Hoher Lord, weil du zugelassen hast, dass ein Fremder euch besiegt. Glaub nicht, dass ihr voneinander lernen könnt, ehe die Finsternis kommt. Glaub nicht, dass es eine Brücke gibt, die euch mit ihrer Fremdartigkeit verbinden kann. Frieden mit diesen Menschen zu schließen, wird euch nur schwächen.« esGa 'u schien das Wort Menschen förmlich auszuspucken, als bereite es ihm Schmerzen. »Es gibt eine Macht, die größer ist als ihr, und keiner von euch kann sie besiegen. Solange du lebst, werde ich dich nicht noch einmal warnen, Sse'e HeYen. Es ist hiermit geschehen.« Der Traumzustand schmolz dahin, als Sse'e HeYen merkte, wie er in seinen Körper zurückkehrte. Der letzte Blick, den er auf esGa 'u werfen konnte, beunruhigte ihn zutiefst, denn der Lord der Ausgestoßenen hatte sich umgewandt und sah ihn an. Viele Stockwerke tiefer schreckte Chris Boyd schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Das kam immer seltener vor, da der Meister des Sanktuariums ihm beibrachte, wie er seine Begabung kontrollieren konnte. Dennoch wusste er, dass sein Geist manchmal im Schlaf nach dem Geist von anderen suchte und deren Träume teilte. Er stand aus dem Bett auf und fühlte sich ein wenig unsicher auf den Beinen, während er in der fast völligen Dunkelheit die Umrisse seines reich verzierten Schlafzimmers ausmachte. Langsam ging er zum Waschbecken und machte das Licht an. Mit einem Handtuch wischte er sich Gesicht und Hände trocken. Die Traumbilder verfolgten ihn noch immer, als er in den Spiegel sah und mit müden Augen sein Gesicht betrachtete. Er wusste, er hatte soeben einen vorhersehenden Traum mit dem Hohen Lord geteilt. Was ihn vor allem erschreckte, war die Gewissheit, dass es sich um einen solchen Traum handelte. Er würde am Morgen mit Lord Sse'e darüber reden müssen, aber er rechnete nicht mehr damit, in dieser Nacht noch Schlaf zu finden. 206 Während er ins Wohnzimmer ging, um sich ein Buch auszusuchen, damit er die Zeit totschlagen konnte, dachte er immer wieder an das letzte Bild in diesem Traum: Es war esGa'u, der legendäre teufelsgleiche Lord der Ausgestoßenen, der ihn über die Schulter hinweg ansah. Sein Gesicht zeigte die erstarrten Züge von ... Captain Thomas Stone. 206
Coda Das Sol-Imperium hat seinen Frieden bekommen. Der Preis für das Ende eines zwei Generationen währenden Konflikts ist mehr als die Tatsache, dass der Kommandeur ins Exil geschickt wurde, ganz gleich, was
Politiker in ihren gesalbten Reden von sich geben und was uninformierte Zivilisten analysieren. Die Menschheit muss diesen Sieg begreifen, wenn sie mit den Zor in Frieden leben will, und sie muss akzeptieren, dass es keinen Grund gibt, irgendwann wieder einen Konflikt zu beginnen. In gewisser Weise hat sich gar nichts geändert. Sun Tzu schrieb, nur wer mit dem Schrecken des Kriegs vertraut sei, könne ihn erfolgreich fortführen. Sechzig Jahre lang haben Generäle, Diplomaten und Politiker sich von einem unnatürlichen und völlig überflüssigen Verhaltenskodex beeinflussen lassen. Wir haben diesen Kodex von Anfang an außer Acht gelassen. Sie haben den Konflikt nie aus dem Blickwinkel des Feindes betrachtet. Wir entschieden uns für einen anderen Weg. Sie haben nie gekämpft, um zu siegen, weil sie nicht das tun konnten, was getan werden musste. Wir haben genau das getan, und wir hätten auch dann gewonnen, wenn die Zor dem Krieg nicht vorzeitig ein Ende gesetzt hätten. Die Befehlshaber dieses jüngsten Konflikts ins Exil zu schicken, befreit die Menschheit nicht von der Verantwortung für die Verluste des Feindes. Egal, welche Hand das Schwert geführt hat, das Blut klebt an jedermanns Hand. Es ändert nichts, wenn man davor 207 die Augen verschließt. Und es ändert auch nichts, wenn man diejenigen fortschickt, die jenes Schwert geführt haben. Die Brücke vom Konflikt zum Frieden ist aus Sicht der Zor längst geschlagen. Es gibt nichts mehr, wofür man kämpfen müsste ... ... Von meinem Wohnzimmer aus kann ich die Stadt es Yen überschauen, die Hauptstadt einer Welt, die ihre Bewohner vor Jahrtausenden ins All vorstießen ließ. Sie ist die Heimat des Hohen Nestes und des Hohen Lords. In den drei Jahren seit dem Vertrag von E'rene'e ist sie das Zuhause für zwei Spezies geworden. Die Menschen stellen hier eine winzige Minderheit dar, aber sie werden akzeptiert: nicht als Eindringlinge, nicht als Fremde, erst recht nicht als Eroberer. Die Menschen werden als Volk akzeptiert. Für die Zor stellt das eine grundlegende Veränderung ihrer Weltanschauung dar. Wir lernen, uns gegenseitig zu verstehen. Das ist von größter Bedeutung, und zwar nicht nur für unser Wohlergehen und unseren Komfort, sondern als Grundlage für die Zukunft, wenn aus dem Unbekannten andere Herausforderungen auf uns zukommen. Unsere Stärke besteht darin, dass wir nun zwei Sichtweisen haben, nicht nur eine: die der Zor und die unsere. Unsere Schwäche ist die, dass wir so lange benötigt haben, um diese Stufe zu erreichen, und dass es so viele Opfer gekostet hat. Der jüngste Krieg hat keine unüberwindbaren Hürden zwischen unseren Spezies entstehen lassen, vielmehr hat er diese Hürden überwunden. Ich empfinde keine Freude, wenn ich daran denke, was getan werden musste, um dem Krieg Frieden folgen zu lassen. Ich verherrliche nicht die Zerstörungen, die Gewalt, die Toten. Würde ich lieber ins Imperium zurückkehren, anstatt im Exil zu bleiben, zusammen mit den Soldaten, die die Mittel akzeptierten, die nötig waren, um unser Ziel zu erreichen? Ja, natürlich würde ich das. Doch ich bedauere nicht diese Mittel, weil das Ergebnis so wichtig ist: ein dauerhafter Frieden zwischen Zor und Menschen, der es uns erlaubt, unsere Ressourcen für Wichtigeres einzusetzen als für 207 die gegenseitige Vernichtung. Das ist die Lektion, die wir aus diesem schrecklichen Krieg lernen müssen. Ich glaube, die Geschichte wird uns zeigen, dass es einfach keinen anderen Weg gab. Ein Brief aus dem Exil, Ivan Hector Charles Marais (saLi'a'a Press, esYen 2315) Lesen Sie weiter in: Walter H. Hunt: Der dunkle Pfad 207