Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska · Volker Weiß (Hrsg.) Die Dynamik der europäischen Rechten
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Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska · Volker Weiß (Hrsg.) Die Dynamik der europäischen Rechten
Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska Volker Weiß (Hrsg.)
Die Dynamik der europäischen Rechten Geschichte, Kontinuitäten und Wandel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17191-3
Inhalt
Grußwort Die extreme Rechte in Europa: Zwischen ideologischem Widerspruch und temporärem Bündnis
9 11
Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
I
Nationalismus als Aufldärungsbruch?
Von der Gegenaufldärung zu Faschismus und Nazismus Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts
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Zeev Sternhell
Nationalistische Rassisten
41
Ulrich Bielefeld
11 Strukturen und Ideologien in Osteuropa "Die Märtyrer sind die Magyaren" Der Holocaust in Ungarn aus der Sicht des Hauses des Terrors in Budapest und die Ethnisierung der Erinnerung in Ungarn Magdalena Marsovszky
55
Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten
75
Tomasz Konicz
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken im Elitendiskurs des postsowjetischen Russlands Eine spektralanalytische Interpretation der antiwestlichen Wende in der Putin'schen Außenpolitik Andreas Umland
89
6
Inhalt
III Strukturen und Ideologien in Westeuropa Die radikale Rechte in Europa heute Profile und Trends in West und Ost
111
kfzchaelkfznkenbe~
Taktische Zivilisierung der extremen Rechten in Deutschland und Großbritannien Andreas Klärner
133
Inwieweit ist ein Vergleich der rechtskonservativen Kräfte Frankreichs und der Schweiz möglich? Gi/bert Casasus
151
IV Grenzüberschreitende Semantiken: Antisemitismus, Antiziganismus und Antiamerkanismus Amerika als Zerrspiegel der Moderne Kritische Theorietraditionen im 20. Jahrhundert kfzchael Werz
165
Ist der Antisemitismus eine Ideologie? Einige klärende Bemerkungen Detlev Claussen
175
Brückenschlag: Die antisemitische Verbrüderung der europäischen Rechtsextremen Klaus Holz
187
"Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türken, Israelis raus aus Palästina" Ethnopluralismus und sein Verhältnis zum Antisemitismus Claudia Globisch Das Reich und der Islam Kontinuitäten und Wandel aus historischer Perspektive Volker Weiß
203
227
Inhalt
Vergessener Krieg: Der Rassenmord an den Roma und seine Leugnung im Nachkriegsdeutschland Wolfgang Wippermann
7
245
V Ein neuer Faschismusbegriff? Faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft Sieben Thesen Axel Schildt Der Faschismusbegriff in Osteuropa nach 1945 Ein geschichtsphilosophisch angeleiteter Erklänmgsversuch Agnieszka Pufelska
267
281
Rechtsextremismusforschung in Europa: "From new consensus to new wave?"
295
Roger Griffin
Autorinnen und Autoren
315
Grußwort
Es ist mir eine ganz besondere Freude, zum zehnjährigen Bestehen des Villigster Forschungsforums den Band zur Tagung "Ressentiment und Erinnerung: Europas radikale Rechte und der Zweite Weltkrieg" vorliegen zu sehen. Als das Villigster Forschungsforum im Herbst 2000 gegründet wurde, war das Ziel die Förderung der Wissenschaft und Forschung zur Bedeutung und Wirkung von Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus. Bereits im Juli 2009, als die Tagung im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand, war es schön zu sehen, dass dieses Vorhaben Früchte getragen hat. Der lebendige Austausch unter den Forschern und das große Interesse von Publikum und Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch an der Lesung von Edgar Hilsenrath, haben die Tagung zu einem vollen Erfolg werden lassen. Gegründet wurde das Villigster Forschungsforum im September 2000 von Promovierenden des Evangelischen Studienwerks, die sich mit der Erforschung von Holocaust und Genozid beschäftigen. Im November 2003 konstituierte sich das Forum als Verein. Der Verein ist interdisziplinär ausgerichtet und interessiert sich für ein breites Themenspektrum. Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie sind ebenso vertreten wie Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft und Soziologie. Das Forschungsforum arbeitet eng mit dem Evangelischen Studienwerk e.v. Villigst zusammen und strebt die überregionale und internationale Zusammenarbeit mit Personen und Einrichtungen an, die an gleichen Themen arbeiten. Der Verein freut sich jederzeit über neue Mitglieder. Im Namen des Villigster Forschungsforums möchte ich Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß herzlich danken, dass sie die Tagung und den vorliegenden Dokumentationsband ermöglicht haben. Dank gilt auch der AIfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Fondation pour la Memoire de la Shoah, der ZEIT-Stiftung und der Stiftung Evangelische Begabtenförderung (STEB), ohne die die Tagung nicht hätte stattfinden können. Silke Nowak Vorsitzende des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.v.
Die extreme Rechte in Europa: Zwischen ideologischem Widerspruch und temporärem Bündnis Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
In den letzten Jahren waren auf europäischer Ebene mehrere Ereignisse für die politische Situation der äußersten Rechten bezeichnend: zunächst die Gründung der ersten extrem rechten Europafraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) im Europäischen Parlament im September 2007 und ihre anschließende Auflösung zwei Monate später. Als politisches Sammlungsprojekt, an dem alle maßgeblichen nationalistischen Parteien beteiligt waren, zeugte ITS von einem gemeinsamen Willen zur europäischen Kooperation. Ihr Zerfall, dem ein Streit zwischen ihren italienischen und den rumänischen Vertretern aufgrund von Übergriffen auf Rumänen in Italien vorausging, zeigte die bruchige Basis der Kooperation auf. Dennoch nahm mit ITS eine europäisch agierende extreme Rechte seit langer Zeit wieder deutliche Konturen an. Bei den Europawahlen im Juni 2009 konnten extrem rechte Parteien zwar in einzelnen Ländern wie beispielsweise Ungarn teils gravierende Erfolge verbuchen, eine Sammlung auf gesamteuropäischer Ebene gelang jedoch nicht. Nach der konstituierenden Sitzung des Europäischen Parlaments am 14. Juli 2009 in Strasbourg blieben die meisten Abgeordneten extrem rechter Parteien fraktionslos, einige wenige kamen in den etablierten konservativen und europaskeptischen Fraktionen unter. Den nächsten Anlauf zur Vernetzung auf der institutionellen Ebene des Europaparlaments stellte im Oktober 2009 die Gründung einer Allianz der Europäischen Nationalen Bewegungen (AENB) in Budapest dar. Diese verfügt mit nur acht Abgeordneten aus Großbritannien (BNP), Frankreich (FN) und Ungarn (Jobbik) allerdings nicht über die notwendige Zahl an Mitgliedern, um innerhalb des Europäischen Parlaments einen eigenen Fraktionsstatus beanspruchen zu können. Die weitere Entwicklung wird zu beobachten sein. In den angeführten transnationalen Sammlungsversuchen der extremen Rechten treten bereits verschiedene Aspekte zutage, die im vorliegenden Sammelband untersucht werden; die national unterschiedlichen, oft historisch bedingten Traditionen der extremen Rechten in den verschiedenen europäischen Ländern, ihre daraus resultierende transnationale Vernetzungsfähigkeit und schließlich die Grenzen der Dynamik. C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
Anlässlieh der 70. Wiederkehr des Beginns des Zweiten Weltkrieges 2009 lud das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.V. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa, Israel und den USA dazu ein, die Entwicklung der verschiedenen extremen rechten Parteien und Organisationen vornehmlich in Europa zu diskutieren. Ziel der Tagung "Europas radikale Rechte und der Zweite Weltkrieg", die vom 8.-10. Juli 2009 in Greifswald stattfand, war es, die Herausforderungen des globalen Zeitalters in der Forschung über die extreme Rechte zu reflektieren. Es galt, das Verhältnis von Wechsel und Kontinuität rechtsextremer Ideologie unter den veränderten Bedingungen politischer Organisation und Kommunikation im 21. Jahrhundert im transnationalen und historischen Vergleich zu systematisieren. Dabei sollten die unterschiedlichen Strukturen und Semantiken einer Analyse unterzogen und verglichen werden. Denn hinsichtlich der Genese der zeitgenössischen extremen Rechten in Europa besteht in der Wissenschaft dringender Diskussionsbedarf. Die Tagung widmete sich daher dem Versuch, die historische Tradierung der Entwicklung mit den heutigen Bedingungen rechter Politik ins Verhältnis zu setzen. So legt der Umstand, dass heute in allen am Zweiten Weltkrieg beteiligten Nationen rechtsextreme Strukturen bestehen, eine Untersuchung darüber nahe, wie diese Ideologie in die jeweils unterschiedlichen nationalen Nachkriegsidentitäten und Gedenkkulturen eingebunden wird. Vor allem stellt sich die Frage nach dem Umgang mit diesem Erbe in jenen Ländern, die unter der deutschen Besatzung gelitten haben, weshalb in diesem Kontext ein besonderes Augenmerk Osteuropa gilt. Diese Frage stellt sich auch für das Verhältnis der extremen Rechten zur Geschichte der Shoah und zum Antisemitismus. Diesbezüglich haben die Vorträge und Diskussionen auf der Tagung Folgendes gezeigt: Aufgrund ihres konsensbildenden Charakters stellen Antisemitismus und Holocaust-Leugnung heute in der extremen Rechten ein zentrales Kommunikationsscharnier zwischen ost- und westeuropäischen sowie amerikanischen Rechtsextremen bis hin zum Islamismus dar. Im vorliegenden Sammelband, der die einzelnen Beiträge der Tagung vereint, eröffnet Zeev Sternhell die Diskussion mit einer Rekonstruktion des chauvinistischen und faschistischen Denkens von der Aufklärung bis zur Gegenwart und rahmt damit die folgenden, verschiedenen Länder-, Ideologie- und Semantikstudien aus ideengeschichtlicher Perspektive. Der Umstand, dass Sternhell vor allem das nachrevolutionäre Frankreich als ideengeschichtliche Wiege des europäischen Faschismus ausmacht, rückt eine transnationale Perspektive von Anbeginn in den Mittelpunkt dieses Buches. Während Sternhell den Nationalismus generell als Aufklärungsbruch begreift, differenziert Ulrich Bielefeld in seinem Beitrag zwischen den unterschiedlichen Konstituierungen der Nation - von der notwendigen Selbst-
Die extreme Rechte in Europa
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thematisierung bis hin zur Fiktion. Ihm zufolge bildet vor allem ein expansiver Nationalismus gepaart mit Rassismus das konstitutive Element der extremen Rechten. Diesem ersten Teil des Bandes "Nationalismus als Autklärungsbruch" folgt die Zustandsbeschreibung der heutigen radikalen Rechten, wozu auch die Frage gehört, welches Potential Renationalisierungsprozesse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung bergen. Daher finden sich im zweiten Teil des Bandes die Situation und Entwicklung der extremen Rechten in Osteuropa beleuchtet. Die Schwierigkeiten demokratischen Wandels im Verein mit Wirtschaftskrise und Nationalismus führten in den ehemals sozialistischen Gesellschaften Osteuropas zum Erstarken der äußersten Rechten. Den Höhepunkt der Entwicklung, bezogen auf Roma-Verfolgung und Antisemitismus, die Wahlerfolge der Jobbik-Bewegung sowie die Präsenz einer paramilitärischen Organisation, stellt derzeit sicherlich Ungarn dar, das von Magdalena Marsovszky ausführlich untersucht wird. Die Problematik der polnischen Rechten wiederum, die sich aus historischen Gründen deutlich gegen das Weltbild der einstigen nationalsozialistischen Besatzer abgrenzen und den polnischen Widerstand gegen die Deutschen in ihr Geschichtsbild integrieren muss, referiert Tomasz Konicz. Aus dem Widerspruch zwischen dem nicht zu leugnenden Leid der polnischen Juden während des Holocausts und dem eigenen, oft katholisch fundierten Antisemitismus rettet sich die polnische Rechte schließlich durch die Identifikation der Juden mit dem kommunistischen Regime. Ähnlich wie in Ungarn mündet dies, wie die Beiträge zeigen, in eine "Opferkonkurrenz" und in die Gleichsetzung der kommunistischen Herrschaft mit dem Terror der deutschen Besatzungszeit. Andreas Umlands darauf folgende Analyse der russischen und ukrainischen Rechten beleuchtet die Organisation eines "eurasischen Bündnisses", mit dem sich vor allem europäische und russische rechte Theoretiker im Kampf gegen "westliche Dekadenz" und "Liberalismus" zu verbünden suchen. Ein dritter Teil des Bandes, "Strukturen und Ideologien in Westeuropa", ist dann den Entwicklungen der extremen Rechten in den westlichen Staaten zwischen Geschichtsrevisionismus, Rassismus und Wohlstandschauvinismus gewidmet, wobei Michael Minkenberg diesen und den vorangehenden Teil mit einem methodischen Vergleich der rechten Strömungen in Ost- und Westeuropa verbindet. Andreas Klärner untersucht in seinem Beitrag mit Deutschland und Großbritannien zwei westeuropäische Länder, die große Unterschiede in ihrer Geschichte und den politischen Systemen aufweisen. Diesem Vergleich zufolge schadet die offene Bezugnahme aufden Nationalsozialismus, wie ihn etwa die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) und deren neonazistisches Umfeld betreiben, eher den politischen Erfolgen, während ein nach außen gemäßigt erscheinender
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Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
Kurs der British National party (BNP) zwei Sitze im Europaparlament eintrug. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Gilbert Casasus in seiner Gegenüberstellung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit dem französischen Front National (FN). In diesen Fällen haben vor allem modeme Themen, wie etwa die ausgeprägte Europafeindlichkeit und die Einwanderungspolitik, deutlich Vorrang vor historischer Nostalgie. Ein vierter Teil betrachtet "Grenzüberschreitende Semantiken: Antisemitismus, Antiziganismus und Antiamerikanismus" der europäischen Rechten, um der Frage nachzugehen, ob die europäische und globale Vernetzung auch eine Angleichung der ehemals national unterschiedlichen Weltanschauungen zur Folge hat oder gerade zur Herausbildung partikularistischer Inhalte beiträgt. Resultat ist, dass sich zentrale Semantiken - Antisemitismus, "Ethnopluralismus", Antiamerikanismus und Antiziganismus - zwar europäisiert und globalisiert haben, dabei aber auf partikularen (nationalistischen) Weltbildern beruhen. Dies fiihrt zur Herausbildung von Phänomenen wie der Europäisierung des Anti-EU-Diskurses oder der Globalisierung des Anti-Globalisierungsdiskurses. Die Beiträge in diesem Teil versuchen, die ideologischen beziehungsweise semantischen Bestandteile aus sehr unterschiedlichen Perspektiven greifbar zu machen. Michael Werz und Detlev Claussen fassen die Ideologien des Antiamerikanismus beziehungsweise Antisemitismus als gesellschaftlich allgemeines Phänomen. Dabei zeichnet sich bei Claussen ein tiefer Dissens zur wissenssoziologischen Analyse des Antisemitismus ab, die Klaus Holz mit seinem Beitrag zum nationalen Antisemitismus leistet. Daran anschließend rücken die Besonderheiten verschiedener rechter Strömungen in den Fokus: Claudia Globisch analysiert das gegenwärtige Verhältnis von Antisemitismus und Ethnopluralismus und Volker Weiß geht den historischen Bedingungen für die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der deutschen Neonazi-Szene zum islamischen Fundamentalismus nach. Der von Wolfgang Wipperrnann thematisierte Skandal der Nicht-Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma weist schließlich auf die problematische Präsenz ehemaliger NS-Parteigänger in öffentlichen Institutionen von Wissenschaft und Verwaltung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hin sowie auf die Persistenz insbesondere antiziganistischer Vorurteile. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht daher nicht eine rechte Bewegung, sondern die Organe einer demokratischen Gesellschaft. Der durch die Politikwissenschaft eingefiihrte Begriff des "Rechtsextremismus" hat sich in der Forschung trotz Kritik sowie der Problematik der - empirischen Ergebnissen entgegenstehenden - Konstruktion einer "weißen" demokratischen Mitte weit verbreitet. Der Begriff des "Extremismus" vermag aber gerade deshalb, wie in den Beiträgen deutlich wird, das Phänomen nur begrenzt zu fas-
Die extreme Rechte in Europa
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sen und findet im vorliegenden Band auch kaum Verwendung. An seine Stelle treten unterschiedliche Alternativen zur Binnendifferenzierung: Rechtsradikalismus, radikale Rechte, extreme Rechte sowie eine Unterscheidung hinsichtlich der Bestimmung der ideologischen Bestandteile und historischen Bezugspunkte ihrer jeweiligen Vertreter. Aufgrund dieser terminologischen Problematik schließt der Band im letzten Teil mit der Diskussion "Ein neuer Faschismusbegriff7". Axel Schildt und Agnieszka Pufelska gehen der Verwendung dieses Begriffs aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven nach, ehe Roger Griffin die Debatte mit einem Plädoyer für einen generischen Faschismusbegriff schließt. Der Band soll damit auch dazu anregen, den Begriffdes Faschismus als eine theoretische Klammer einer von Spannungen und Widersprüchen durchzogenen europäischen extremen Rechten zu überprüfen. Denn die erneute Reorganisation und Sammlung dieser Kräfte ist ein Hinweis, dass die Epoche des Faschismus in Europa keineswegs 1945 zu Ende ging. Trotz seiner thematischen Binnengliederung ist der Sammelband letztlich pragmatisch auf die Beschreibung von beobachtbaren Einzelfällen und Entwicklungen ausgerichtet. Die Autorinnen und Autoren nähern sich diesen aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven. Hierbei wurde keine stilistische Homogenität angestrebt. Manche der Tagungsbeiträge sind bewusst essayistisch oder polemisch verfasst, um das behandelte Thema pointiert darzustellen und eine weitere Diskussion anzuregen. Für die hier vertretenen Perspektiven sowie etwaige Fehler und Unterlassungen tragen einzig die Autorinnen und Autoren die Verantwortung. 1 Die Herausgeberinnen und der Herausgeber möchten sich vornehmlich bei allen Beitragenden sowie bei Alexandra Ganser, Karin Höpker und Nancy Scharpffbedanken, die die Übersetzung und sprachliche Überarbeitung mit großem Engagement übernommen haben. Berlin, Hamburg, Leipzig im Juli 2010
Bei substantivischen Ausdrücken, die auf Personen verweisen, wird in den Beiträgen meistens die männliche Schreibweise beibehalten. Das berechtigte Anliegen, Frauen sprachlich gleichberechtigt zu repräsentieren, indem man dem Ausdruck eine weibliche Form gibt, wurde hier wegen der besseren Lesbarkeit nicht immer eingehalten.
I
Nationalismus als Aufklärungsbruch?
Von der Gegenaufldärung zu Faschismus und Nazismus Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts!
Zeev Sternhell
1. Die zwei Gesichter der Moderne
Während das 18. Jahrhundert im Allgemeinen als Kernzeitalter der rationalistischen Modeme wahrgenommen wird, war es auch die Wiege einer zweiten, auffallend anderen Modeme. Tatsächlich entbrannte im europäischen Geistesleben just in jenem Moment, als das rationalistische Denken seinen Zenith zu erreichen schien, eine umfangreiche Revolte gegen die fundamentalen Einsichten der Aufklärung. Diese Revolte, die etwa zwei Jahrhunderte dauerte, richtete sich vor allem gegen die Franzosen oder genauer die franko-kantianische Aufklärung, zielte aber auch auf die britische Aufklärung von Locke bis Hume und Bentham. Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Zeitalter des Kalten Krieges war die Konfrontation zwischen diesen beiden Versionen der Modeme eines der herausragendsten und dauerhaftesten Merkmale unserer Welt. Nach dem 5. Jahrhundert v.ehr. in Athen war das Zeitalter der Aufklärung die zweite große Ära des politischen Denkens, in der die modemen Vorstellungen von Geschichte, Politik und Kultur entstanden. Die Aufklärung war zuallererst eine politische Bewegung: "Ich hatte gesehen, daß alles völlig von der Staatskunst abhing und daß jegliches Volk, wie man es auch anstellen wollte, niemals etwas anderes sein würde als das, wozu die Natur seiner Regierung es machte", meinte Rousseau (1907: 533), "und so schien sich mir denn jene große Frage nach der besten Staatsform auf den Satz zu beschränken: wie muss die Regierung beschaffen sein, welche geeignet ist, das tugendhafteste, erleuchtetste, weiseste, kurz, das im weitesten Sinne des Wortes beste Volk zu bilden?" Im 18. Jahrhundert war politische Macht zur Grundlage von Macht an sich geworden; Rousseau verstand seine Zeit, wenn er meinte, dass die politische Freiheit die Grundlage aller anderen Freiheiten sei, und genau deswegen war er so einflussreich. David Hume und andere Denker der britischen Aufklärung stimmten Rousseau zu (Rume 1994: 186).
Der folgende Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt (Anm. der Herausgeber/-innen).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zeev Sternhell
Außer Rousseau, Kant, Locke und Hume gab es unter den politischen Denkern der Aufklärung wenige Philosophen im engeren Sinn. Andererseits gab es sehr viele große Köpfe, die dem Bösen unablässig entgegenstanden und mit aller Kraft ihre Ideen vorantreiben wollten. Es war die Zeit des Universalgelehrten, verkörpert durch Voltaire, den Nietzsche als exemplarischen Freigeist sah. Alle "philosophes" - in jenem Sinne, den diese Bezeichnung im 18. Jahrhundert bekam betrachteten Politik als das einzige Mittel, mit dem das Leben verändert werden konnte. Nie zuvor war die Welt der Zukunft in einer solchen Intensität diskutiert worden: Die Politik war zur Angelegenheit jedes Einzelnen geworden. Der Terminus Aufklärung, wie ich ihn benutze, bezeichnet eine Tradition, eine politische Kultur. Er steht nicht nur für das rationalistische Denken des 18. Jahrhunderts; aufklärerisches Denken gab es zu allen Zeiten und überalL Dies gilt auch für die Tradition der Gegenaufklärung (siehe Sternhell 2010). Es ist kein Zufall, dass der Begriffder "Gegen-Aufklärung" höchstwahrscheinlich von Nietzsche geprägt wurde und in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert allgemein gebräuchlich war (vgl. Wokler 2003: vii, 26).2 Nietzsche verwendete den Begriff, um das Denken Schopenhauers und Wagners zu charakterisieren, denn in dieser Wortschöpfung spiegelt sich nicht nur sein Verständnis der geistigen Strömungen seiner Zeit wider, sondern auch die Tatsache, dass es die "Nietzsche-Jahre" waren, in denen die Gegenaufklärung Gewicht bekam und zu einer veritablen geistigen Sturzflut wurde. Es war jene Zeit, in der die antirationalistische und antiuniversalistische Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts, weiterentwickelt im 19. Jahrhundert, in den Straßen ankam - auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft abgestimmt, die sich in wenigen Jahrzehnten verändert hatte wie nie zuvor. Nie hatte die Welt Veränderungen in einer solchen Geschwindigkeit erlebt wie in den 30 oder 40 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Im Englischen gab es den Begriffder Gegenaufklärung, des "counter-enlightenment", schon mindestens 10-15 Jahre, bevor er von Isaiah Berlin benutzt wurde, obgleich dieser glaubte, er hätte ihn möglicherweise selbst erdacht. Er wurde im Weiteren von William Barrett benutzt, einem zu seiner Zeit weithin bekannten amerikanischen Philosophieprofessor und Herausgeber der Partisan Review. Barrett war einer der ersten amerikanischen Gelehrten, der seinen Landsleuten den Existentialismus näher brachte: "Existentialism is the Counter-Enlightenment come at last 10 philosophical expression" (Barrett 1962: 274). Es ist nicht überraschend, dass das Nietzsche'sche Konzept der Gegenaufklärung just in einem Buch über 2
Bei Nietzsche heißt es: ,,Es giebt kürzere und längere Bogen in der Culturentwicklung. Der Höhe der Aufklärung entspricht die Höhe der Gegen-Aufklärung in Schopenhauer und Wagner" (Nietzsche 1999: 382).
Von der Gegenaufk1ärung zu Faschismus und Nazismus
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den Existentialismus auftauchte; es war zweifelsohne Berlins angeborenes Talent zur Popularisierung einfacher Formeln, das dem Begriff"Counter-Enlightenment" in der englischsprachigen Welt Akzeptanz brachte. Dass es den Begriff im Französischen nie gab, lag vielleicht zum Teil daran, dass "Gegenaufklärung" dort schlichtweg als "Reaktion auf die Philosophie der Aufklärung" übersetzt wurde. Den Übersetzern ins Französische war nicht bewusst, dass Nietzsche vielmehr ein analytisches Konzept entworfen hatte, das zur Bestimmung eines zivilisatorischen Phänomens von größter Wichtigkeit war. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass es keines Geringeren als Nietzsche bedurfte, um ein solches Konzept hervorzubringen. So wie die Aufklärung war auch die Gegenaufklärung eine politische Bewegung; ihr Angriffbegann schon vor der Französischen Revolution und keineswegs in Verbindung damit. Im letzten Viertel jenes großen Jahrhunderts fand eine Umwertung der Werte statt, die tief gehende und fortdauernde Implikationen mit sich brachte und deren volle Bedeutung erst ein Jahrhundert später wahrgenommen wurde. Burke und Herder, und vor ihnen Vico, lancierten einen Kampf gegen die französische Aufklärung, den Rationalismus, gegen Descartes und Rousseau, lange bevor die Bastille gestürmt wurde. Zwischen Vicos "Principi di Scienza Nuova" in seiner Endfassung von 1744 und dem Fall des Ancien Regime lag ein halbes Jahrhundert; auch Burke äußerte seine erste Kritik 40 Jahre vor der Erklärung der Menschenrechte und Herder, der trotz seiner Opposition zur französischen Aufklärung den Fall der autoritären Monarchie in Frankreich begeistert begrüßte, zeigte seine Ablehnung der von den "philosophes" verkörperten Prinzipien. 1769 war das Jahr, in dem Herder nach Frankreich reiste und aus Paris sein "Journal meiner Reise im Jahr 1769" mitbrachte, die Grundlage seiner Kritik an Frankreich, der französischen Aufklärung und der französischen Kultur im Allgemeinen. Innerhalb der Aufklärung gab es viele, teils widersprüchliche Strömungen; die Aufklärung war keine einheitliche theoretische Struktur, sondern eine geistige Tradition mit unmittelbaren und praktischen Zielen. Aber trotz der vielen Unterschiede hatten die Denker der französischen Aufklärung und ihr Hauptverbündeter Kant gewisse Prinzipien gemeinsam, die das Herzstück der intellektuellen Revolution des 18. Jahrhunderts bildeten. Ohne Angst, die komplexen Realitäten der Zeit von der Wende zum 18. Jahrhundert - den Streit zwischen den "ancients" und den "modemes" in Frankreich, die Glorreiche Revolution mit ihrem Theoretiker Locke - bis hin zum heutigen Tage vielleicht zu entstellen, kann man sagen, dass es in beiden Geistestraditionen eine Logik und Kohärenz gibt. Kohärenz soll jedoch nicht Uniformität bedeuten. Diese Betrachtungen über zwei Jahrhunderte der europäischen Geistesgeschichte, die uns bis zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts bringen,
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Zeev Sternhell
sind gleichzeitig Betrachtungen über die Kultur unserer Zeit. Sie setzen sich mit den Risiken auseinander, mit denen eine gesamte Zivilisation konfrontiert sein könnte, wenn diese die Auffassung, dass es universelle Werte gibt, zurückweist und die Autonomie des Individuums durch verschiedene kommunitaristische Werte ersetzt. Es sind Betrachtungen über die Geschichte der Gegenwart und es ist ein Nachdenken über unsere Zukunft. Wie die Menschen der Aufklärung halten es die meisten von uns für ganz natürlich, dass sich der Mensch weigern sollte, das Urteil dessen, was existiert, einfach hinzunehmen. Wie sie sind wir überzeugt, dass wir die Fähigkeit besitzen, die Welt zu verändern, und dass wir das Recht haben, Gerechtigkeit und Glück zu fordern. Besser als sie wissen wir, ein Jahrhundert an Erfahrung mit demokratischer Praxis reicher, dass Freiheit ohne Gleichheit und ohne Gerechtigkeit nicht überleben kann. Negative Freiheit kann die Freiheit der Menschen nicht wahren: Freiheit bedeutet eben viel mehr als bloße Abwesenheit von Einmischung. Wirtschaftliche Sicherheit, bessere Bildung, eine verbesserte Gesundheitsvorsorge sind nicht nur Vorbedingungen der Freiheit, sind nicht einfach das Resultat eines Kompromisses zwischen Freiheit und Gleichheit: Sie sind konstitutive Elemente der Freiheit selbst und damit der Demokratie.
2. Ein ideengeschichtlicher Abriss An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Abstecher machen und pro domo ein paar Worte des Lobes der Ideengeschichte sagen. Die Ideengeschichte untersucht über einen langen Zeitraum die Struktur von Gedankensystemen, deren Logik und Einfluss. Sie besteht nicht aus einer Reihenfolge abstrakter und isolierter Konzepte, ebenso wenig wie aus einer Abfolge von in chronologischer Reihenfolge aufgestellten "tableaux". Außerdem ist es nicht ungewöhnlich für einen Denker, eine Theorie zu entwickeln, deren Ziel und Bedeutung, und nicht nur deren Langzeitfolgen, weit über ihn hinausgehen; und es passiert oft, dass bestimmte Aspekte eines Gedankensystems ein Leben außerhalb des Ganzen entwickeln. Man ist daher bemüht, wie Tocqueville gesagt hätte, die "idees meres" zu enthüllen, die im Werk eines einzelnen Denkers auffindbar sind oder in einer politischen Bewegung oder sogar innerhalb einer bestimmten Zeit, und ihre konkrete und unmittelbare politische Bedeutung aufzuzeigen, trotz der möglicherweise fehlenden vollständigen Beschreibung aller Elemente einer bestehenden politischen Situation. Mit anderen Worten glauben Ideenhistoriker, dass jede geistige Bewegung als konkrete historische Realität und als in Beziehung zu einem bestehenden geschichtlichen Prozess angesehen werden muss und dass die Beziehungen zwischen Ideengeschichte, Politik und Kultur direkt verlaufen. Keine andere Disziplin kann so klar die
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Kontinuitäten einer Tradition nachzeichnen - die Herkunft und Laufbahn von Ideen, die oft eigenwillig, immer aber faszinierend sind. Keine andere Disziplin kann die Bedeutung gedanklicher Konstrukte besser erfassen wie auch die Kräfte, die die Werte einer Zivilisation erschüttern: die Übersetzung von Veränderungsprozessen in Politik. Außerdem zeigt die Ideengeschichte, dass Gedankenkonstrukte eine ihnen eigene Macht haben und dass das, was in der Welt der Ideen geschieht, bald sozial und politisch bedeutsam wird. Das wirft natürlich die Frage nach dem Wesen der intimen Verbindungen von philosophischer Reflexion, historischer Forschung, literarischer Produktion und Politik auf. All diese Fragen wurden zum ersten Mal im 18. Jahrhundert gestellt, als die franko-kantianischeAutklärung und die englischen und schottischen Aufklärungslinien die intellektuelle Revolution der rationalistischen Modeme hervorbrachten, die all das ansprach, was die Menschen eint: ihren Zustand als rationale Individuen mit natürlichen Rechten. Dieser rationalistischen Modeme entgegen lag die Anziehungskraft der anderen Modeme im Ansprechen von allem, was die Menschen trennt: Geschichte, Kultur, Sprache. Die umstrittene Koexistenz dieser zwei Modemen ist eine der großen Konstanten der zweieinhalb Jahrhunderte zwischen unserer Welt und jener Mitte des 18. Jahrhunderts. Es ist natürlich schwierig, absoluteAnfangspunkte in der Geschichte nachzuzeichnen (vgl. Blumenberg 1999: 534). Und dennoch: Sollte man dem Moment, in dem der Feldzug gegen die Aufklärung begann, ein exaktes Datum geben müssen, wäre es wahrscheinlich der Sommer 1774, als der junge Herder innerhalb von drei Wochen ,,Auch eine Philosophie der Geschichte" schrieb (für ausführliche Abhandlungen zu Herder vgl. Sternhell 2010). Der Titel war eine Kriegserklärung an Voltaire, der gerade erst den Begriff der Geschichtsphilosophie erschaffen hatte. In diesem Pamphlet, das in all seinen Facetten außergewöhnlich war, zeigte Herder die breiten Entwicklungslinien einer anderen Modeme auf. Burke war ihm zwar in seinem Kampf gegen den Rationalismus und vor allem gegen Rousseau zuvorgekommen, den er 1757 lanciert hatte (zwei Jahre nach der Veröffentlichung des "Discours sur l'Inegalitt~"), aber er wurde erst 30 Jahre später anlässlich seiner "Reflections on the Revolution in France" bekannt und diskutiert. Herder ist eine ikonische Figur voller Widersprüche und kann auf verschiedene Arten gelesen werden; er ist nicht die einzige Figur dieser Art. Sein Werk kann als Episode im deutschen Unabhängigkeitskrieg gesehen werden, aber sein im Wesentlichen germanischer und antifranzösischer Feldzug für kulturelle Autarkie erlangte sofort allgemeine Bedeutung. In Wahrheit gibt es mehr als einen Herder: Es gibt einen deterministischen, nationalistischen, kommunitaristischen, antirationalen und relativistischen Herder - einen, dessenthalben Treitschke, Barres,
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Zeev Sternhell
Maurras und Spengler die logische Folge sind -, einen christlich-humanistischen Herder und letztlich einen Herder, der ein Postmoderner und Dekonstruktivist vor der Zeit war. Dies ist der Herder, der die Gedankenwelt eines seiner augenfälligsten Bewunderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansprach: Isaiah Berlin. Herder kann als Stammvater eines unschuldigen, apolitischen kulturellen Nationalismus gesehen werden, als einer, der zur Befreiung unterdrückter Kulturen einschließlich seiner eigenen aufrief, der sich dem französischen Kulturimperialismus entgegenstellte und der die Populärliteratur entdeckte und bekannt machte; oder er kann als Philosoph einer geschlossenen, organischen Vision der nationalen Gemeinschaft par excellence gesehen werden, durchdrungen von kulturellem und ethnischem Determinismus oder sogar Rassismus. In diesem Lichte betrachtet war er trotz der christlich-humanistischen Seite, die er am Ende seines Lebens in den "Briefen zur Beförderung der Humanität" und eigentlich auch schon immer gezeigt hatte, derjenige, welcher die Menschheit in eine unendliche Anzahl ethnischer und kultureller Partikularismen dekonstruierte, von denen jeder seine eigene Wahrheit hatte. Herder proklamierte die Nichtigkeit des Individuums, bestritt das Vernunftpotenzial in den menschlichen Beziehungen und entschied sich letztlich - zerrissen zwischen christlichem Ökumenismus und ethnischen und kulturellen Partikularismen - fiir eine Schöpfung, die in ihrer Art einzigartig war: die kulturelle, historische, linguistische, mit anderen Worten nationale Gemeinschaft. "Bildung und Fortbildung einer Nation ist nie anders, als ein Werk des Schicksals, Resultat tausend mitwirkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben" (Herder 1827: 111). Die Menschen sind nur "Schatten auf Erden", die ,jetzt nur vorüber und durch die Welt herlaufen" (ebd.: 32). Das war Herders Reaktion auf den Individualismus, der sich im Westen seit dem Ende des Mittelalters entwickelt hatte. Das erklärt seine Gegnerschaft zur Renaissance, die er als mediterrane Reaktion auf das nordische Mittelalter verstand, die Antike imitierend und ebenfalls individualistisch. Er verteidigte den durch die christliche Tradition repräsentierten gemeinsamen Glauben gegen den kritischen Geist. Er setzte Geschichte und Verstand in einen Gegensatz; seine originellste Erfindung war jedoch der Kult um den Nationalcharakter. Dieser war viel mehr als eine Defensivreaktion gegen die französische geistige Invasion. Vor allen Dingen zeigte er eine Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit - einer kollektiven Seele, welche die als "Wilde" bekannten Völker noch besaßen und die uns die rationalistische Zivilisation weggenommen hat - und begründete einen generellen Relativismus. Es ist unleugbar, dass Herder mit seiner Theorie des Nationalcharakters Kultur und Geist auf etwas zu reduzieren tendierte, das von Geografie, Biologie, Ethnizität und Umwelt bestimmt
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war. Die Entwicklung der Menschheit insgesamt ersetzte er durch eine Pluralität nationaler Entwicklungen, von denen jede einem fatalen Kreislauf von Wachstum und Verfall unterworfen war. Herders Vision von Nationalcharakteren endete damit, dass sie alle Nationen gegeneinander positionierte. Voltaire hatte behauptet, dass Sprache einfach ein Instrument war und dass eine Nation nicht durch ihre Sprache definiert werden konnte. Für Herder war das Gegenteil der Fall: Sprache war Ausdruck des Nationalcharakters. Sein Nationalismus teilte die Welt in eine Vielzahl von Vaterländern, die Geschichte in eine Reihe isolierter nationaler Schicksale, sodass dieser Nationalismus zu einem Kultur trennenden Faktor wurde, der einzigartig in Europa war. Tatsache ist, dass sein Nationalismus zuerst den Rationalismus zertrümmerte und dann seine Unvereinbarkeit mit dem Christentum demonstrierte. Herder trennte die Menschen mehr, als dass er sie zusammen brachte. In seiner Zeit war er der größte Spalter Europas. Er war lutheranischer Pastor und der erste, der Laborbeweise dafür erbringen zu schien, dass ein kultureller, ethnischer Nationalismus kaum mit universellen Werten koexistieren konnte. Niemand trug mehr zur Balkanisierung Europas bei als Herder. Mir ist bewusst, dass das, was ich als Balkanisierung definiere, auch Pluralismus genannt werden kann, aber der Preis bleibt der gleiche.
3. Von der Aufklärung zur Gegenaufklärung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Rationalismus versus kultureller Relativismus Man sieht also entgegen einer anderen akzeptierten Vorstellung, dass es nicht die Französische Revolution war, die die Einheit Europas zerstörte, indem sie Nationalitäten aufbaute. Nationalismus entstand nicht aus der Französischen Revolution, wie Renan glaubte und nach ihm noch bis jetzt die Mehrheit des kultivierten Europas, sondern im Gegenteil aus der Reaktion gegen das französische 18. Jahrhundert. Mit der Definition von "Nation", die Diderot und d' Alernbert im 44. Band der "Encyclopedie" (1765, Band 11: 36) liefern: "people, qui habite une certain etendue de pays, renfermee dans de certaines limites", wurde der Staatsbürger geboren. Offensichtlich war diese politische und juridische Konzeption der Nation keine Analyse der historischen und soziologischen Wirklichkeit, sondern repräsentiert den heldenhaften Versuch der Aufklärer, die Widrigkeiten der Geschichte zu überwinden und einmal mehr die Gültigkeit des Kant'schen "sapere aude" zu beteuern - möglicherweise der berühmteste Ruf nach der Autonomie des Individuums, auf dessen Basis die Französische Revolution die Sklaven und Juden befreien und die Idee freier Bürger mit gleichen Rechten entwickeln würde. Diese aufgeklärte Vision von Kollektivität in der "Encyclopedie" überlebte die
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ersten Jahre der Französischen Revolution nicht. In der post-Napoleon'schen Ära entsprach diese ultrarationalistische und ultraindividualistische Definition von Nation nicht länger den emotionalen und geistigen Bedürfnissen der Europäer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Grund war Michelets "Le Peuple" ein so außerordentlich Herder'sches Buch und Herder für Renan "einer der feinsten Genies der Neuzeit", größer als Kant, Hegel oder Fichte (zitiert nach Richard 1996: 57; Tronchon 1928: 217; ein gutes Beispiel für die hier erwähnte Tendenz ist der exzellente Aufsatz von Dumas 1972). Indem man die Erblinie von Herder zu Michelet, Renan, Taine und Barres verfolgt, dem wahrscheinlich größten Herderianer unter den französischen Intellektuellen an der Wende zum 20. Jahrhundert, kann man nicht nur den antiaufklärerischen Ausbruch am Beginn des letzten Jahrhunderts verstehen, sondern auch ein Phänomen, das auf den ersten Blick eigenartig erscheinen mag: Um 1900 hatten der deutsche Nationalismus insgesamt und der französische radikale Nationalismus - nicht der gesamte französische Nationalismus, sondern seine radikale Entwicklungsrichtung - im Wesentlichen den selben Punkt erreicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts repräsentierten Thomas Carlyle, Ernest Renan und Hippolyte Taine nach Herder, Burke de Maistre und vielen anderen Nebenfiguren aus der Zeit der Französischen Revolution die zweite Welle antiaufklärerischen Denkens. Taine übertrug die Herder'sche Idee der totalen Abhängigkeit des Individuums von seiner Kultur, seiner Geschichte und Ethnizität in eine Formel, die bald weithin akzeptiert wurde: Der Mensch ist von seiner Rasse, seiner Umwelt und seinem "Moment in der Zeit" ("la race, le milieu et le moment") bestimmt. Taine war eine der Schlüsselfiguren des 19. Jahrhunderts: Nietzsehe hielt ihn für den größten lebenden Historiker und Mosca wie auch zu großen Teilen Pareto übernahmen seine Vision der Französischen Revolution als kulturellem Desaster, das vom totalen Zusammenbruch der herrschenden Eliten ausgelöst wurde. Auf der Grundlage von Taines Werk und indem sie es als Fallbeispiel nahmen, entwarfen die italienischen Soziologen und Politikwissenschaftler, in vielerlei Hinsicht die indirekten Begründer der Sozialwissenschaften - ich sage indirekt, weil die tatsächlichen Begründer Montesquieu und Tocqueville waren -, ihre eigene allgemeine Theorie der Eliten. Gleichzeitig machten die französischen und italienischen Nationalisten an der Wende zum 20. Jahrhundert Taines kulturellen und rassischen Determinismus zum Kernstück ihrer Systeme. Alle diese Autoren teilten das Gefühl, an einem Krieg zum Erhalt einer gesamten Zivilisation teilzunehmen. Herder und Burke traten der philosophischen Flut der Aufklärung entgegen: Erstens griffen sie Rationalismus und Deismus an und zweitens die liberale Tradition, die auf Locke zurückging. Carlyle rebellierte
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gegen ein England zweier Grundrechtskataloge (Bills ofRights), die das Land auf den Weg in Richtung Demokratie brachten; Renan und Taine wollten ihr Land zusammen mit der gesamten westlichen Zivilisation vor dem Triumph der Demokratie im Frankreich der Dritten Republik retten. Die dritte Welle zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Sorel, Maurras, BaITl~s, Croce und Spengler setzte ihre Gedanken fort. Croce applaudierte dem Aufstieg des Faschismus als Totengräber des verachteten Jahrhunderts ebenso wie Spengler zum Fall der Weimarer Republik, diesem ausländischen Import, beitrug. Maurras sah die Niederlage Frankreichs 1940 als lange erwartete Gelegenheit, die französische Aufklärung und die Prinzipien der Französischen Revolution und der Dritten Republik zu begraben. Sehr häufig wurde das volle Ausmaß des Einflusses der Denker, die ganz oder teilweise dieser Schule angehörten, erst einige Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Hauptwerke offenkundig. Jedoch erfreute sich jeder Denker dieser Kategorie eines beachtlichen unmittelbaren Erfolgs. Von Burke bis Meinecke und einschließlich Taine, Renan, Carlyle, Maurras, Barres, Croce und Spengler war jeder der Schriftsteller, mit denen wir uns hier beschäftigen, ein erfolgreicher Autor oder sogar Kopf einer Schule. Für sie alle war der Rationalismus die Quelle des Bösen: Er führte zur Utopie, zu der höchst schädlichen Vorstellung, dass der Mensch die Dinge ändern könne; er tötete den Instinkt und die vitalen Kräfte; er zerstörte die beinahe fleischliche Verbindung zwischen den Mitgliedern einer ethnischen Gemeinschaft und ließ die Menschen in einer unwirklichen Welt der Staatsbürgerschaft leben. So proklamierte ein verallgemeinerter Nationalismus als universelle Wahrheit, dass es keine universelle Wahrheit gebe. Alles, was von der Wahrheit übrig blieb, war eine Pluralität nationaler Wahrheiten. Zur Zeit der Dreyfus-Afflire sprachen die französischen Nationalisten von einer französischen Wahrheit und einer deutschen oder jüdischen Wahrheit, einer französischen Justiz und einer jüdischen Justiz. Treitschke und später Spengler teilten diese Ansichten - und das ist nur logisch, denn wenn alles einem historischen und kulturellen Relativismus unterworfen ist, wenn die Vernunft unfahig ist, Wirklichkeiten zu erfassen, und nur die Intuition dies kann, können universelle Werte augenscheinlich nicht länger überleben. 1936, wahrscheinlich nicht der beste Moment, um die Tradition der Aufklärung zu verunglimpfen, brachte Meinecke sodann ein außergewöhnliches Buch über den "Historismus" heraus: "Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung" (Meinecke 1959: 2). Das war die mächtigste Drohung gegen die Aufklärung und Meinecke lag absolut richtig damit, in Herder den geistigen Vater des Historismus und infolgedessen des Relativismus und
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Nationalismus zu sehen. Dieses Buch war tatsächlich eine Antwort auf Cassirers großartige "Philosophy of Enlightenment". Wie immer im Falle solch umfassender Konzepte gab es verschiedene Arten des Historismus, die entweder nationalspezifisch waren oder sich graduell voneinander unterschieden. All diese Varianten des Historismus hatten jedoch eine gemeinsame Basis: Über den positiven Wert, dem man der Geschichte als menschlichem Fortschritt in seiner unmittelbaren Gegenwart zuschrieb, und über die Rehabilitation von Geschichte hinausgehend war man grundsätzlich gegen Naturrecht, Intellektualismus und Rationalismus. Das Ergebnis war, dass der Historismus die Vorstellung einer gemeinsamen menschlichen Natur zertrümmerte, einer universellen Vernunft, welche zu einem universellen Naturrecht führte, indem dieses Denken als leer, abstrakt und vor allem heuchlerisch empfunden wurde. Aus Meineckes Sicht war das die Spezifik deutscher Kultur, ihr wichtigster Beitrag zur westlichen Kultur und Grundlage des großen Unterschieds zwischen der geistigen und politischen Entwicklung Deutschlands und Frankreichs seit der Französischen Revolution. Meinecke hatte keinen Zweifel, dass der deutsche Historizismus "die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge" darstellte (ebd.: 4; zum Historismus und dessen Kontext siehe Beisers 1992: 3033, 37; Iggers 1983: 124-228). Meinecke übemahm das Konzept und die Idee des Historismus von Ernst Troeltsch, der in seinem Werk "Deutscher Geist und Westeuropa", 1925 publiziert, den westlichen Geist als Glauben an natürlich Rechte, an die Einheit der Menschheit und an universelle Werte definierte. Dahingegen wurde der deutsche Geist durch seine pluralistische Konzeption von Geschichte bestimmt, als Blüte nationaler Individualitäten ohne gemeinsames Kriterium (Rouche 1940: 583). Jedoch war der Historismus nicht auf Deutschland beschränkt. Er war ein europäisches Phänomen, dessen Einfluss von höchster Bedeutung war, denn der wahre Sinn des Historismus und seine Funktion lag darin, den Unterschied zwischen der rationalistischen Modeme und ihrer Antithese zu beschreiben: Meinecke und Troe1tsch sprechen vom Unterschied zwischen Deutschland und dem Westen, aber tatsächlich war es die Kluft zwischen der Modeme der Aufklärung und der antirationalistischen Modeme, um die es ging; und Deutschland hatte keine Monopolstellung in diesem ,,Kampf der Kulturen". Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich dieser hartnäckige Widerstand gegen die Prinzipien des westlichen Rationalismus in verschiedene, manchmal entgegengesetzte Richtungen und hatte viele und manchmal unerwartete Auswirkungen. Faschismus und Nazismus, die beiden Hauptspeerspitzen des Krieges gegen die Aufklärung, waren Kulminationspunkte, aber um diese herum gab es noch viel mildere Ausprägungen, die eine grund-
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legende Dimension der Kulturkrise ausmachten, die Europa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste. Die bedeutendsten unter den deutschen rechten Intellektuellen, wie Meinecke, Spengler, Jünger oder Gadamer, verachteten den Nazismus - jedoch auf eine höchst ambivalente Art. Beispielhaft lässt sich dies zeigen: Im Mai 1941 hielt Gadamer einen brillanten Vortrag am Deutschen Institut in Paris, das Thema war Herder. Das Institut, geleitet von Karl Epting, Spezialist für kulturelle Nazi-Propaganda in Frankreich, widmete sich der Aufgabe, jenen Franzosen Deutschland näher zu bringen, die offen im Verständnis und für eine Zusammenarbeit waren. Sein Bestreben aber ging darüber hinaus: Nicht nur wollte er die Größe der deutschen Kultur zeigen, sondern auch ihre intrinsische Überlegenheit gegenüber der französischen. Dem Publikum gegenüber, das dieses Zentrum für Nazi-Propaganda aufsuchte, feierte Gadamer, damals Professor an der Universität Leipzig, Herder als den "Entdecker der geschichtlichen Welt", der in seinem "Journal meiner Reise im Jahr 1769", in Gadamers Augen ein Meisterwerk, die Idee zu einer Universalgeschichte der Zivilisation, einer Universalgeschichte der "Bildung der Welt", hatte (Gadamer 1942: 6ff.). Er zeigte, dass der Sieg Deutschlands der Sieg deutscher Werte und des deutschen Nationalcharakters war. Um kundzutun, dass diese Studie nichts an Gültigkeit eingebüßt hatte, wurde der Text auf Initiative des Autors 1967 neu gedruckt. Es ist keineswegs Zufall, dass Gadamer in Meineckes Fußstapfen trat und dass beide, wie Heidegger, Position gegen Cassirer bezogen, der seit der Machtübernahme der Nazis in Oxford war, während sie selbst sich auf die eine oder andere Weise in den Dienst des neuen Regimes stellten. Wie Meinecke war Gadamer kein Nazi-Sympathisant, aber er konnte nicht umhin, der französischen Öffentlichkeit, die sich unter dem Hakenkreuz versammelt hatte, die einzige Frage zu stellen, die damals wichtig war: Worin lag die wahre historische Bedeutung des deutschen Sieges? Dieser Vortrag, trotz oder vielleicht eher wegen der außergewöhnlichen Umstände, unter denen er gehalten wurde, ist genauso wichtig für das Verständnis Gadamers und der deutschen Intellektuellen seiner Zeit wie für das Verständnis des Herder'schen Einflusses. Gadamer hatte sich Herders Kritik an der französischen Aufklärung, am Rationalismus und an den Menschenrechten vollkommen angeeignet. Herder folgend dachte Gadamer, wie Meinecke einige Jahre zuvor, über alles nach, was die französische und deutsche Kultur voneinander unterschied, alles, was Deutschland einzigartig und folglich überlegen machte. Gadamer war nicht der einzige dieser Zeit, der jene rühmte, denen die Geschichte Recht zu geben schien. Bertrand de Jouvenel, ein bekannter Liberaler der Nachkriegszeit, in den 1930er Jahren jedoch faschistischer Intellektueller, schrieb 1941 ,,Apres la
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defaite", das sofort mit "Nach der Niederlage" wortwörtlich ins Deutsche übersetzt wurde. Ernst Jünger, mit einem brandneuen Eisernen Kreuz geehrt, das er während des französischen Feldzugs 1940 bekommen hatte, ging zu jener Zeit in den Pariser Salons ein und aus. Von Künstlern und Schriftstellern aufgenommen war er das Symbol für den Sieg eines Wertesystems über ein anderes. Renan hatte es schon 1870 gesagt; 1940 dann, mit einer ganzen Truppe strenger Autklärungskritiker, die an der Vichy-Revolution teilnahm, war man zu jenem Punkt zurückgekehrt, an dem manjust nach dem ersten großen deutschen Sieg über Frankreich 70 Jahre zuvor gewesen war: Für alle diese Leute war der Sieg in dieser Auseinandersetzung zwischen den Kulturen auf der Seite der gegenautklärerischen Kräfte und Ideen. Sieg, der richtige Einsatz von Kraft, war das Kriterium für moralische und intellektuelle Überlegenheit. Ich insistiere auf diesen Fragen, weil ich denke, dass es unmöglich ist, die Zerstörung der Freiheit, den Niedergang von Liberalismus und Demokratie zuerst in Italien, dann in Deutschland und Spanien und letztlich in Frankreich 1940, ganz zu schweigen von all den brutalen osteuropäischen nationalistischen Diktaturen, als sämtlich voneinander getrennte Ereignisse zu erklären. Anders gesagt: Das Desaster, das Europa ereilte, kann nicht nur durch den psychologischen Schock infolge der menschlichen und materiellen Verluste des Ersten Weltkrieges ausgelöst worden sein. Ich unterschätze hier nicht dessen Wichtigkeit; der Krieg brachte zweifellos die Bedingungen hervor, die Ideologien, die lange Jahre hindurch heranreifen durften, um zur politischen Kraft zu werden, aber er stellte diese Ideologien nicht her. Faschismus und Nazismus waren nicht nur Ergebnisse psychologischer Frustrationen, eines militärischen Desasters, von Arbeitslosigkeit und Inflation oder der sowjetischen Revolution. Sie waren keine Zufalle; sie waren entgegen Croces Ansicht keine Klammer in der Geschichte unserer Zeit. Das bedeutet nicht, dass der lange Feldzug gegen die Aufklärung notwendigerweise in Faschismus resultieren musste, aber gleichzeitig hätte er schwerlich zu einer Stärkung demokratischen Bewusstseins führen können. Zum Beispiel ist es nicht unangemessen zu denken, dass Croces Motto "gegen das 18. Jahrhundert", seine 20 oder 25 Jahre der Revolte gegen die Demokratie, sein Relativismus - die Vorstellung, dass Politik eine Sache und Philosophie und moralisches Gewissen eine ganz andere wären - mit seiner unverhüllten Segnung faschistischer Gewalt und seiner Unterstützung Mussolinis in den ersten Jahren nach dessen Machtergreifung zu tun hatten. Wie Carlyle, jener andere große Feind des 18. Jahrhunderts, für den Demokratie"a self-cancelling business" war (Carlyle 1899: 158), definierte Croce Demokratie als "Nichtigkeit" ("le m~ant"). Dass er unversöhnlich gegen Demokratie war, basierte auf seiner Kritik an einem humanitären "Vorurteil", und seine historische Vision
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wurde von der Vorstellung dominiert: ,,[L]ife is a struggle and a pitiless struggle" (vgL Zunino 1996). Wenige waren überrascht, als Senator Croce, der wichtigste italienische Denker seit Vico, bei der entscheidenden Vertrauensfrage, die im italienischen Parlament nach der Ennordung Matteottis gestellt wurde, seine Hand für die Mussolini-Regierung hob. Faschismus hatte seiner Ansicht nach eine historische Funktion zu erfiUlen: jene, der Gefahr von Demokratie und Sozialismus ein Ende zu bereiten. Meistens bevorzugt man es, sich an den zweiten Croce zu erinnern, den Autor des Manifests der antifaschistischen Intellektuellen und einen der Väter des liberaldemokratischen Wiederaufl.ebens nach dem Krieg. Die meisten Leute bevorzugen es, die ersten beiden Dekaden aus Croces Karriere auf genau die gleiche Weise auszuklammern, wie er es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatte, den Faschismus aus der italienischen Vergangenheit verschwinden zu machen. Faschismus und Nazismus, die ich als zwei verwandte, jedoch gleichzeitig auch sehr verschiedene Phänomene sehe - eine Frage, die immer noch hitzig debattiert wird -, waren ein Ergebnis (unter vielen möglichen) der Revolte gegen die Demokratie, gegen Gesellschaft und Nation als Aggregat von Individuen. Bestimmte Fonnen des Antirationalismus und Antiegalitarismus entwickelten sich und florierten lange nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in unsere Zeit hinein, aber in einem anderen Kontext schlugen sie offensichtlich in eine andere Richtung (ein jüngeres Beispiel ist Gray 2000, er setzt Isaiah Berlins Gedankengang fort). Die Anziehungskraft der von der revolutionären Rechten zu Beginn des letzten Jahrhunderts angebotenen Lösungen war so viel größer, weil Ende des 19. Jahrhunderts die Ablehnung der Aufklärung wahrlich katastrophale Dimensionen annahm und einen Großteil des kulturellen Europas hinwegfegte. Es war die Ablehnung der Aufklärung, den Bedingungen der Massengesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert angepasst, welche die faschistische Ideologie hervorbrachte. Bevor er zur politischen Kraft wurde, war der Faschismus ein kulturelles Phänomen. Überall in Europa ging die kulturelle Rebellion der politischen voraus und war ihre wesentliche Bedingung. Faschismus war nicht nur auch ein kulturelles Phänomen, sondern primär ein kulturelles (vgl. Sternhell et al. 1995). Dies ist der Grund, warum der Faschismus eine Massenbewegung werden konnte und gleichzeitig ein elitäres intellektuelles Phänomen, das einige der fortschrittlichsten Elemente der Avantgarde der Zeit in seinen Bann zog. Der Krieg ennöglichte also, dass die kulturelle Revolte in politische Begriffe übersetzt wurde, aber er erschuf nicht den Faschismus als solchen. Der Krieg schaffte günstige Bedingungen: Er stattete die intellektuelle Revolte nach einer langen Inkubationszeit mit der Gelegenheit und den Mitteln aus, zur politischen Kraft zu werden, aber die Basis für den Aufstieg des Faschismus ist nicht in den Krisen zu finden, die auf 1918 folg-
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ten, sondern im Kampfgegen die ideologische Modeme, das heißt gegen die französische und Kant'sche Tradition der Aufklärung.
4. Zur Aufklärung wider die Gegenaufklärung Ich möchte nun ein paar Worte über ein verwandtes wichtiges Thema sagen, das in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurde, dessen jüngster Ausgangspunkt jedoch in den 1950er Jahren liegt. In jenen Jahren des Nachdenkens über das europäische 20. Jahrhundert war die Versuchung groß, die Wurzel des Übels in den geistigen Ursprüngen der modemen Welt zu suchen. Plötzlich war es die rationalistische Modeme selbst, die hinterfragt wurde: Auf diesem Weg gelangte man zur Französischen Revolution. Es wäre die Frage zu untersuchen, ob die Französische Revolution eine religiöse Explosion war, vorbereitet von Visionären und ausgeführt von Fanatikern, die, nicht weniger gläubig als die Menschen des Mittelalters, auf der Suche nach ewigen Wahrheiten und dem Paradies auf Erden waren. Die Idee, dass die Revolution einen grundlegend religiösen Charakter hatte, ist alles andere als originell. Seit den ersten Jahren der Revolution - von de Maistre vorangetrieben und aufgenommen von Tocqueville - entwickelte sich diese Idee im Kleid einer positivistischen historischen Fragestellung durch Hippolyte Taine. Sie wurde in den Vereinigten Staaten in den 1930ern von Carl Becker übernommen und war 20 Jahre danach das führende Konzept der totalitären Schule. Als der Kalte Krieg aufseinem Höhepunkt war, kursierte die Idee, dass der Utopismus der Aufklärung die sowjetische Revolution, den Stalinismus und den Gulag geboren hatte. Adorno und Horkheimer ihrerseits sahen eine Verbindung zwischen Aufklärung und Nazismus. Wie wir wissen, wurde dieser Angriff in unserer Zeit in anderer Form fortgesetzt. Für Jacques Derrida beispielsweise, der dieses Argument gegen Husserl verwandt hat, ist es immer nur ein Schritt von jeder Art Humanismus zu Rassismus, Kolonialismus und Eurozentrismus. Tatsächlich beinhaltet jeder Humanismus ihm zufolge eine Ausschlusshaltung (vgl. Renaut 1999: 45). Tocqueville, der nicht gerade die Seele eines Sansculotte besaß, hatte auf diese Art von Argument in einem Brief an Gobineau bereits ein Jahr vor der Publikation der ersten beiden Bände der "Essai sur l'inegalite des races humaines" 1853 geantwortet. Buffon, sagte Tocqueville, glaubte wie die Menschen des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, dass die Menschheit "est donc d'une seule espece et les varietes humaines sont produites par trois causes secondaires et exterieures: le climat, la nourriture et la maniere de vivre" (Tocqueville 1959: 197). Die Einheit der Menschheit basierte auf der Idee des Naturrechts. Auch Hannah Arendt begriffden enormen Schaden, der durch die systematischen Angriffe auf die Men-
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schenrechte und die Französische Revolution verursacht werden konnte. Sie wusste nur zu gut, dass Burke - "the rights of Englishmen" auf der Basis einer "entailed inheritance" den Menschenrechten entgegensetzend, indem er die Idee des Erbes auf das Wesen der Freiheit übertrug - dazu beigetragen hatte, die englische nationalistische Ideologie zu formulieren und ihr einen eigenartigen Anstrich rassischer Sentiments zu geben. In der Tat übernahm Burke das mittelalterliche Konzept von Freiheit als Aneignung von Privilegien, die auf die gleiche Art vererbt werden wie Adelstitel und Land. Ohne die Privilegien einer sozialen Klasse anzutasten, so Arendt, versuchte Burke, diese Privilegien auf die Gesamtheit der Engländer auszuweiten. Die Engländer wurden auf diese Weise zu einer Art Universaladel (Arendt 1966: 176). In Wirklichkeit ist Burkes Beitrag zur Nationalisierung der Massen bei weitem unterbewertet und er verdient einen Platz neben Herder als einer der geistigen Begründer des Nationalismus. Arendt verdanken wir jedoch auch einen jener fundamentalen perspektivischen Fehler, die noch heute den Horizont verdunkeln. Sie kehrte zum Konzept der "rights of Englishmen" zurück, aber in diesem Fall mit einem Wortlaut, der uns in mehr als einer Hinsicht interessiert (ebd.: 299): "The pragmatic soumlness ofBurke's concept seems 10 be beyond doubt in tbe light of our rnanifold experience. Not only did loss ofnational rights in all instances entail the loss ofhuman rights; the restoration of human rights, as tbe recent exarnple of the State ofIsrael proves, has been achieved so far through tbe res1oration or the establishment of national rights (...). The world fouml nothing sacred in tbe abstract nakedness ofbeing human."
Arendt ging hier noch einen Schritt weiter. Ihrer Meinung nach fürchtete bereits Burke, dass das Prinzip natürlicher, unveräußerlicher oder in anderen Worten abstrakter Rechte - "the right of the pure savage" - die zivilisierten Völker auf den Zustand der "Wilden" reduzieren würde. Weil nur die "Wilden" nichts außer ihrer Menschlichkeit besäßen, klammerten sich die Menschen an ihre Nationalität (ebd.: 300): ,,Burke's arguments therefore gain an added significance ifwe look only at the general human condition of those who have been forced out of all political communities. Regardless of treatment, independent of liberties or oppression, justice or injustice, they have lost all those parts of the world and all those aspects of human existence which are the result of our common labor, the outcome ofthe human artifice."
Nachdem sie ihre realen Rechte verloren hatten, konnten diese Menschen als nicht-menschliche Wesen behandelt werden. Wenn Arendt meint, die Erfahrung des 20. Jahrhunderts lehrt uns, dass der Schutz einer bestehenden nationalen Gemeinschaft immer eine effektivere Garantie für den Menschen darstellt als dessen
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Eigenschaft, Mensch zu sein, hat sie zweifelsohne Recht. Aber die Juden wurden nicht vernichtet, weil sie, nachdem sie ihrer politischen Rechte entledigt worden waren, nur noch die "abstract nakedness ofbeing human" hatten, sondern genau deshalb, weil die Nazis ihnen die Eigenschaft, Mensch zu sein, schlichtweg in Abrede stellten. Europäische Juden wurden durch die Französische Revolution aufgrund ihrer abstrakten natürlichen Rechte emanzipiert und wegen ihrer sehr konkreten Eigenschaft als Mitglieder einer wohl definierten Gemeinschaft exterminiert - in Übereinstimmung mit den Vererbungsprinzipien, die von der Gegenautklärung als einzige Quelle von Würde und Sicherheit, als einzige Definitionsfonn mit existentieller Gültigkeit betrachtet wurden. Anders ausgedrückt: Ob Sohn oder Enkelsohn eines Juden, war der Jude kein Opfer der abstrakten Natur seiner Menschlichkeit, sondern der sehr konkreten Beschaffenheit seiner Erbanlagen. Es gab keinen Platz für die Juden in einer Welt, in der im Laufe des langen Kampfes gegen das emanzipatorische Werk der Autklärung die Vorstellung einer menschlichen Natur, die alle Menschen zu allen Zeiten gemeinsam hatten, also die Idee natürlicher Rechte, die für alle Zeiten galten - eine Idee, die aus der Antike und dem Frühchristentum zu uns kam -, verschwunden war. Dass der Krieg gegen die Aufklärung auch die konkrete Fonn eines Krieges gegen die Juden annahm, war im 20. Jahrhundert wenig überraschend, aus dem einfachen Grund, dass seit dem Ende des Ancien RZgime das Schicksal der Juden mit dem Schicksal der offenen Gesellschaft auf Grundlage der Werte der Aufklärung verknüpft war. Natürlich kann man sagen, dass bestimmte Aspekte in Arendts Werk, wie bei Adorno und Horkheimer und anderen Denkern der totalitären Schule, einfach veraltet sind und dass es da nichts gibt, worum ein Aufheben gemacht werden müsste. Dies könnte der Fall sein, wenn die intellektuelle Produktion der 1950er nicht auch der Boden wäre, aus dem in den letzten 15 oder 20 Jahren die schlimmsten Verirrungen geschossen sind. Von einem Autoren hört man, dass Hitler "an intelligent thinker within the Enlightenment tradition" war (Birken 1995, zitiert in Liedman 1997: 7); von einem anderen lernt man zwei Jahre später, dass die Aufklärung nicht nur für Auschwitz und den Gulag den Grundstein legte, sondern auch für die Desaster von Ruanda und Osttimor (Bauman 1997: 39). Die Denker der Autklärung können natürlich immer einer großen Schwäche beschuldigt werden, einer außerordentlichen Schwäche: dass sie nämlich die Denker der Autklärung waren. Ihnen wäre niemals in den Sinn gekommen, dass der Ausschluss einer historischen und politischen Gemeinschaft zur Folge haben könnte, dass der Mensch seine Menschlichkeit verliert. Sicher schützt eine nationale, kulturelle oder religiöse Gemeinschaft noch heute das Individuum besser als jedes andere Kollektiv, aber es ist auch die nationale, kulturelle und religiöse
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Gemeinschaft, die ihn am einfachsten seine Menschlichkeit verlieren lässt. Im 20. Jahrhundert wurden die monströsesten Verbrechen in ihrem Namen begangen, das darf nicht vergessen werden.
5. Faschismus als extremer Ausdruck der Gegenaufklärung Zum Schluss möchte ich noch auf die freundschaftliche und höchst bedeutsame Korrespondenz zwischen Ernst Nolte und Franl;ois Furet eingehen (Furet 2004). Noltes großes Ziel war die gesamte deutsche Geschichtsphilosophie von Herder und Fichte bis Meinecke, nämlich der Deutschen Selbstvertrauen und ihren Glauben an die eigene Geschichte wiederherzustellen. Nach den Nazis bedeutete dies, das europäische Desaster nicht durch den langen Krieg gegen die franko-kantianische Aufklärung zu erklären, sondern durch die Jahre 1914 und 1917. Nach N01te waren es nicht die zwei Jahrhunderte des Blut-und-Boden-Kults und des Kults um die deutsche Besonderheit gegenüber dem dekadenten Westen; es war nicht die Ablehnung des Rationalismus, des Naturrechts und universeller Werte, es waren nicht diese rebellischen Ausbrüche gegen Demokratie und Menschenrechte, die den Niedergang der Weimarer Republik verursachten, sondern das Exempel Lenins. Indem man im Nazismus eine Widerspiegelung des Kommunismus und eine legitime Antwort auf die Bolschewikengefahr sah und indem man ihn von seinen ideologischen und kulturellen Wurzeln abtrennte wie auch die Rolle des Führers übertrieben betonte, konnte der Nazismus aus der nationalen Geschichte praktisch herausgeschnitten werden. Hier kommt Franl;ois Furet ins Bild. In diesem wichtigen Punkt stimmt Furet Nolte zu: Furets Behauptung, wonach Mussolini, der wie Lenin aus dem ultrarevolutionärem Sozialismus kam, diesen etwa leichter imitieren konnte, um ihn zu bekämpfen, entspricht nicht der ideologischen und politischen Realität und hält einer Überprüfung nicht stand (ebd.: 2; ftir meine Kritik an Nolte vgL Sternhell 2002). In den Jahren vor dem Krieg entwickelten sich Mussolinis Gedanken im Rahmen des SoreI'schen revolutionären Syndikalismus, dessen Besonderheit es war, dass er Kapitalismus und Profitgedanken als grundlegende Motivationskraft wirtschaftlichen Handeins anerkannte; aber seine Gefolgschaft lehnte, den Lehren ihres Meisters folgend, den intellektuellen Gehalt der Aufklärung und damit die Demokratie ab. Die Sorel'schen Syndikalisten, deren offizieller Führer Mussolini im August 1914 wurde, unterstützt von der Masse an Nationalisten und Futuristen, die in jedem Falle den Marxismus verabscheuten, boten weder eine Alternative zum Kapitalismus an noch suchten sie danach. Das war fundamental ftir ihr Denken. Ungleich der Bolschewiken glaubten sie nicht, dass der Kapitalismus die Ursache allen Übels war, welches von der Bour-
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geoisie oder der Sozialdemokratie, die dem Erbe liberaler Werte verpflichtet und in der Aufklärung verwurzelt waren, repräsentiert wurde. Dies allein genügt, um zu zeigen, dass Mussolini kein Schüler Lenins hätte sein können, und es erklärt, warum er entgegen Furets Behauptung 1912 mit dem Marxismus brach und sich dann der Aufgabe widmete, die Köpfe und die Waffen auf eine nationale, kulturelle und moralische, nicht aber eine soziale Revolution vorzubereiten. Nicht nur, dass Mussolini Lenin nicht imitierte, seine Revolution an der Spitze, die weder die Wirtschaft noch die soziale Struktur angriff, war das Gegenstück zu jener der Bolschewiken genauso wie der Weg seiner von allen sozialen Eliten unterstützten Machtübernahme, die fortschreitende Errichtung der Diktatur über Jahre, die Funktion der Partei und das Wesen des italienischen Regimes. Zweifellos war Deutschland nicht im höheren Maße prädestiniert, den Nazismus hervorzubringen, als Italien den Faschismus. Die Gegenaufklärung war ein paneuropäisches Phänomen und die Aufklärungstradition wurde in Frankreich genauso angegriffen wie in diesen Ländern. Aber es gab zwei große Unterschiede in Frankreich: Frankreich hatte seit dem 18. Jahrhundert zwei gegensätzliche politische Traditionen hervorgebracht und die Tradition der Gegenaufklärung wurde dort von jener der Menschrechte in Schach gehalten, während in Deutschland von Herder bis Spengler und Meinecke und in Italien von Vico bis Croce die Tradition der Aufklärung es nicht schaffte, sich zu behaupten, und im Wesentlichen sekundär war. Um auszubrechen, brauchte das antiaufldärerische Potenzial nur günstige Bedingungen. Frankreich, das 1918 gesiegt hatte, entkam diesem Desaster, aber nach seiner Niederlage 1940 gewann die Gegenautklärung die Oberhand. Die älteste Demokratie des europäischen Kontinents brach zusammen und machte Platz für eine Diktatur, die nicht wesentlich anders war als jene in Italien. So gelangte am Beginn des 20. Jahrhunderts ein umfassender Feldzug gegen das Wesen der westlichen rationalistischen und universalistischen Tradition zur Reife. Der Faschismus war ein extremer Ausdruck der Tradition der Gegenaufklärung; Nazismus war ein totaler Angriff gegen die Menschheit. Hier erkennt man die Bedeutung, die die Ablehnung universeller Werte und des Humanismus, dem Eckpfeiler autklärerischen Denkens, für eine ganze Zivilisation haben kann. Zum ersten Mal stattete sich Europa mit Regimes und politischen Bewegungen aus, deren Ziel nicht weniger war als die Zerstörung der Kultur der Autklärung, ihrer Prinzipien und ihrer intellektuellen und politischen Strukturen. Und an dieser Stelle gelangen wir zurück zum Grundproblem des Streits zwischen den "ancients" und den "modemes", zu Lockes Gesellschaftsvertrag, Kants autonomem Individuum und, um ein Nietzsche'sches Idiom zu verwenden, dem ,,man according to Rousseau". Die Prinzipien, die diese Denker formuliert haben,
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waren universell und gaben den Menschen das Recht, sich im Einklang mit ihren Bedürfnissen und ihrer Vorstellung eines politischen Ideals eine andere Welt als ihre eigene zu schaffen. Worin auch immer die Unterschiede zwischen den großen Denkern der Aufklärung bestanden haben mögen, der gemeinsame Nenner ihrer jeweiligen Ansichten war ihre Zurückweisung des Bestehenden. Die Kultur der Aufklärung war eine kritische Kultur und sah keine Ordnung als legitim an, nur weil sie bestand. Keine bestehende Ordnung ist legitim, wenn sie ungerecht ist. Gerechtigkeit und Glück sind legitime Werte und valide Ziele politischen Handelns und sollten nicht als Subversion der Freiheit gesehen werden, denn soziale Gerechtigkeit und Freiheit sind keine konzeptuellen Gegensätze. Der Mensch ist fähig voranzuschreiten, solange er auf die Vernunft baut. Es war nicht der "belief in a universal truth", der die Massaker des 20. Jahrhunderts verursachte; es war nicht das Streben, aus der bestehenden Ordnung auszubrechen, oder die Idee des Rechts auf Glückseligkeit, das sie motivierte, sondern im Gegenteil ein Ausbruch an Irrationalität, die Zerstörung der Vorstellung von der Einheit der Menschen und ein absolutes Vertrauen in die Fähigkeit der politischen Macht, die Gesellschaft zu gestalten. Dies waren genaujene Übel, gegen die die Autklärung kämpfte, und die Aufklärung, wie Spengler und Sorel richtigerweise, jedoch in verunglimpfender Weise feststellten, existierte zu jeder Zeit. Der Fortschritt mag nicht kontinuierlich sein, die Geschichte mag in Zickzack-Bewegungen voranschreiten, aber das bedeutet nicht, dass man sich auf den Zufall verlassen muss, dass man sich dem Regime der Stunde unterwerfen und soziale Übel akzeptieren muss, als ob sie natürliche Phänomene wären und nicht Resultat eines Verzichts auf die Vernunft.
6. Ende des Utopismus Dies bringt uns schließlich zur Frage, die allen Formen der Ablehnung der Aufklärung zugrunde liegt, von der moderatesten bis zur extremsten. Ist die Welt, in der wir leben, die einzig mögliche, weil sie die einzige ist, die existiert? Wenn Furet es auf sich nimmt, Nolte mit solcher Entschlossenheit zu verteidigen, dann tut er dies deshalb, weil er den Nutzen von Noltes Werk darin liegend sieht, dass es die Vorstellung untermauert, wonach der Ursprung der alles zersetzenden Krankheit in der Modeme nicht im Partikularismus von Blut und Boden, sondern in der Allgemeingültigkeit des Marx'schen "Utopismus" zu finden ist. Der Fall des Kommunismus bedeutete nicht nur das Ende der Geschichte des Kommunismus, sondern eben auch des "Utopismus" oder, in anderen Worten, der Idee der Aufklärung, nämlich dass eine andere Welt als die unsere denkbar und erstrebenswert ist. Die Lektion, die Furet aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zieht, ist, dass "die Vor-
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stellung von einer anderen Gesellschaft praktisch undenkbar geworden ist und in der Welt von heute diesbezüglich im übrigen niemand auch nur ansatzweise ein neues Konzept entwirft" (Furet 1996: 625, Hervorhebung im Original). Der Begriff "Illusion" im Titel seines Werks ist für Furet fundamental: Der Glaube in die Möglichkeit der Existenz eines anderen Systems als dem unseren ist selbst eine Illusion. Es ist schwer zu verstehen, aufwelchen methodologischen Prämissen diese Abkehr von der Vernunft basiert - in einer Welt, die sich in den letzten 100 Jahren tief greifender verändert hat als in jeder anderen Ära der Geschichte der Neuzeit. In Zeiten von Frieden, Glück und Wohlstand hat die Negation der Grundwerte der Aufklärung keine unmittelbaren Konsequenzen. Die reine Idee eines Korpus an Wahrheiten, die dem menschlichen Verstehen zugänglich sind, zu verachten oder die Gültigkeit universeller Werte zu verhöhnen, hat keine unmittelbaren Implikationen für den Alltag, solange dies auf der Ebene geistiger Spekulationen bleibt. Aber in schwierigen Zeiten, wenn die Verteidigung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten zur praktischen Frage wird, die unmittelbare Antworten und große Opfer verlangt, wird der Preis ihrer Verunglimpfung unmittelbar sichtbar. In den 1920ern und 1930ern in Italien und Deutschland und bedeutsamer noch in Frankreich im Sommer 1940 brachen die Prinzipien der Demokratie wie ein Kartenhaus zusammen. Vergessen wir nicht, dass in den drei großen westeuropäischen Ländern die Demokratie bei weitem nicht von einem Staatsstreich zerstört, sondern von der moderaten, liberalen oder konservativen Rechten einem Diktator ausgeliefert wurde. In dieser Hinsicht ist Croce eine emblematische Figur: Am Vorabend der Einladung, die Mussolini vom König erhalten hatte, um eine Regierung zu bilden, und nachdem der frühere liberale Premierminister Salandra sich zum "honorary fascist" erklärt hatte, verkündete der größte italienische Intellektuelle seit Vico, dass der Faschismus mit dem Liberalismus alles in allem kompatibel wäre (Payne 1995: 107; vgl. dazu auch Sternhell 1999). Petain wurde durch eine parlamentarische Abstimmung zum Diktator - im Schatten eines schrecklichen militärischen Desasters -, aber die Niederlage als solche muss nicht notwendigerweise als Niederlage des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution betrachtet werden. Sie selbst war nicht der Grund für eine nationale Revolution, die in sechs Monaten eineinhalb Jahrhunderte französischer Geschichte ausradieren und Rassengesetze beinhalten würde. Dies zeigt uns, dass keine Gesellschaft, ganz gleich, welche Geschichte sie hat und welchen Beitrag sie zur Geschichte als Geschichte der Freiheit - wie der zweite Croce gesagt hätte - geleistet hat, gegen die Kräfte der Zerstörung immun ist, die heute wie gestern einen integralen Teil unserer Kultur ausmachen. Deswegen muss man die große Fragilität von Prinzipien und Traditionen berücksichtigen, welche uns gewöhnlich als in der Natur der
Von der Gegenaufklärung zu Faschismus und Nazismus
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Dinge liegend erscheinen, und damit auch die große Unsicherheit der jüdischen Lage impliziert. Das europäische Desaster war möglich, weil zu viele Menschen in Europa zu lange und zutiefst von der moralischen und geistigen Unterlegenheit der von der Aufklärung ausgehenden rationalistischen, universalistischen und humanistischen Kultur überzeugt waren.
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Nationalistische Rassisten Ulrich Biele/eld
Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob die Neue Rechte, die Rechtsextremen oder Rechtsradikalen von heute, Nationalsozialisten seien oder in welchem Verhältnis sie zum Nationalsozialismus stehen. Man könnte darauf antworten, dass sie sich zumindest anstrengen würden, dem Vorbild gerecht zu werden; dass es auf die konkreten Segmente ankomme, die man sich anschaut; aber natürlich könnte man auch fragen, was unter "Nationalsozialist sein" zu verstehen ist. Beobachter der Szene können einem dann genauer erzählen, wie sie sich strukturiert, wie radikale, nationalsozialistische Kader sich zu eher "angepassten" Gruppierungen stellen, Jung zu Alt, Zentrum zu Peripherie, aber auch, welche Bedeutung Ideologie, Weltanschauung, ja, auch Theorie für die Bewegung haben (Klämer 2008; KlämerlKohlstruck 2006). Was, so kann man fragen, bedeutet es, heute in Deutschland Nationalsozialist zu sein? Die Antwort kann man auf zwei Ebenen suchen. Einmal lässt sich das Heute betonen. Es kann etwa beschrieben werden, wie auf der ideologischen Ebene der Rassismus von einem biologischen in einen differentialistischen umgeformt wird (inklusive dem möglichen Rückweg); es können die für die Gemeinschaft der ,,Kameraden" wichtigen Differenzgewinne zu den "Normalen", die immer wieder neu inszeniert werden müssen, betont werden, ebenso wie eine Modernisierung durch Rückgriffe auf ein neues Vokabular des "Protestes" vollzogen werden kann. Es können aber auch lokal und regional differierende Formen von Ausschluss oder Anerkennung, die einige von ihnen erneut finden, ohne sich jedoch politisch tatsächlich etablieren zu können, beobachtet werden. All diese möglichen Differenzierungen ändern nichts daran, dass die radikalen Rechten mit einiger Berechtigung kurz als Nationalisten und Rassisten bezeichnet werden können und von vielen so angesehen werden. Nationalistische Rassisten wäre dann eine prägnante Bezeichnung, die auch die Verbindung zum historischen Nationalsozialismus in einer kurzen Formel herstellen würde. Als politisch alltägliche und einigermaßen präzise Etikettierungsformel würde das durchaus hinreichen. Die radikale Rechte als Nationalisten zu bezeichnen, wäre hingegen unzureichend. Dann müsste zumindest immer von extremem Nationalismus (Lepsius 1966) gesprochen werden, denn Nationalismen C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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als überhebliche Selbstfeier der Nation, ihr schon von Ernest Renan konstatiertes Angebertum, das wir bei jeder oder jedem Einzelnen als nur schwer erträglich empfinden würden, ihr Selbstbild des, obwohl gerade erst entstanden, dennoch aber Schon-immer-dagewesen-Seins und ihre Attitüde, dass nur ihr die Zukunft gehöre, die Vereinnahmung von Vergangenheit und Zukunft also, bilden Grundcharakteristika der variationenreichen europäischen Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts, des Westens wie des Restes (Kohn 1950) in kultur-, staats- und ethnonationalistischen Versionen und ihren Überschneidungen.
1. Zur Realisierung einer Fiktion: Nation, Volk, Rasse Der Nationalsozialismus schloss an die Eigenschaften der Nationalismen an, blieb aber keineswegs dabei stehen, diese "nur" ins Extrem umzuformen. Er feierte sich, zur Macht gekommen, in endlosen Ritualen und Totenfeiern selbst, verlängerte seine Zeit ins kurze 1000-jährige Reich und behielt alle schlechten Eigenschaften des Nationalismus bei. Gleichzeitig aber löste er die Grundlagen der Existenz des Nationalstaates auf. Mit der Ausdehnung in den Raum hob er die Begrenzung der Nation auf ein Territorium auf, mit dem Begriff des Volkes als Rasse, als rassistisch verstandener, das heißt vorsozialer und vorpolitischer, Volksgemeinschaft behauptete er die immer schon vorausgesetzte Existenz einer Gruppe, die doch erst unter Aufkündigung der moralischen Grundlagen herzustellen, zu produzieren, zu erzeugen war (Bielefeld 2003). In diesem Prozess der Herstellung löste der Nationalsozialismus das Gebiet der Nation in den unbegrenzten Raum auf, in dem sich schließlich die Einheiten der Armee tatsächlich verlieren sollten, und er begrenzte die Zugehörigkeit auf rassische, immer also rassistische Angehörigkeit. Die ins Unendliche des Raumes und ins Unauffindbare der Rasse und damit ins Beliebige der Definition und Herstellung verlagerte Nation sollte in Niederlage und Gewalt schließlich tatsächlich untergehen. Denn Nation ist aufs Territorium beschränkte Selbstherrschaft des rechtlich konstituierten, faktisch aber "unauffindbaren Volkes" (Rosanvallon 1998), nicht aber räumlich und rechtlich unbegrenzte Herrschaft selbsternannter Vertreter einer fiktiven Herrenrasse. 1 Unauffindbar und unendlich suchte sich das beliebige "Volk der Rasse" in der Volksgemeinschaft als ihrer scheinbaren Konkretisierung zu realisieren (Wildt 2007). Kann sich das "Volk der Nation" schließlich rechtlich setzen und im ProDer Faschismus hingegen, folgt man Zeev Sternhell, fasst die Natinn als organische Einheit, gründet sie auf Gemeinschaftsgeist, predigt einen Kult der Gewalt und des Antirationalismus und huldigt dem Aktivismus (siehe Sternhell et al. 1999). All diese Elemente sind im Nationalsozialismus enthalten. Sie radikalisieren sich durch die beschriebenen Aufhebungen.
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zess einer Demokratisierung der Demokratie Einheit durch Mehrheit bestimmen, setzt sich das "Volk der Rasse" als vorpolitische und vorsoziale Einheit. Im Prozess ihrer Realisierung folgt die Differenzierung der Volksgemeinschaft dabei dem allgemeinen Schema der Differenz. Sich zu unterscheiden bedeutet, sich von den anerkannten anderen abzusetzen, solchen, die sich auf einer geteilten Grundlage unterscheiden lassen; ein anderes Volk, eine andere Nation. Es heißt zugleich, sich von den anderen als den ganz Anderen, als denen, mit denen es keinerlei Gemeinsamkeit gibt, zu unterscheiden. Der Nationalsozialismus hierarchisierte noch die erste Form der Unterscheidung in wertvolle und weniger wertvolle andere. Diejenigen aber, die unter die zweite Gruppe subsumiert und zu ganz Anderen gemacht wurden, sollten nicht nur aus den Augen, das heißt hier also aus den Gemeinden, Städten und Regionen und dem Land, sondern sie sollten aus der Welt verschwinden. Die an dieser Stelle für diesen Zweck unlimitierte Gewalt hatte die Funktion, das nur Fiktive zu realisieren. Die Stelle des ganz Anderen konnte durchaus unterschiedlich besetzt werden. Es wurden Angehörige, die nicht richtig geraten, "entartet" oder "krank" waren und die früh und rastlos unter den eingebildeten Gesunden gesucht wurden, da sie von innen heraus das Eigene gefährdeten, deren Nähe also als besondere Perfidie gelten konnte, im Rahmen der Euthanasie getötet. Der Volkskörper musste gesund erhalten bleiben. Die Ausgestoßenen waren Andere. Auch die ,,zigeuner" konnten an diese Stelle gesetzt werden. Exemplarisch aber standen die Juden der in der Rasse aufgelösten Nation für das Prinzip des Anderen. Sie verkörperten das Andere selbst, jedes Andere, sei es des Volkes, der Kultur, der Nation, des Menschen, der Substanz, der Kunst, des Sozialen. Daher ist die Beschreibung des typisierten Juden durch Zygmunt Bauman als "Schleimiges", als "universelle Viskosität" so treffend. Denn es ist gerade die "Multi-Dimensionalität der jüdischen Unschärfe" (Bauman 1992), die sie so besonders geeignet machte, die Position des großgeschriebenen Anderen zu besetzen, sodass ihnen gegenüber mehr und mehr alle moralischen Verhaltenstandards ausgesetzt werden konnten. Man konnte ihre Synagogen, Läden und Häuser anzünden, sie brandmarken und kennzeichnen, entwürdigen und enteignen und schließlich töten. Es ist die Realisierung einer Fiktion, die gegen jede Wirklichkeit der sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenz von Gruppen und Menschen durchgesetzt wurde. Das die nationale Gesellschaft konstituierende Volk muss sich rechtlich konstituieren, es findet "seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit (...) unvermindert wieder" (Kant 1973). Es ist die Differenz von empirischem Volk, dem Volk der Unfreiheit bei Kant, und seiner notwendigen rechtlichen Konstitution, die sichtbar wird. Nicht das gegebene Volk ist frei, sondern das durch die Herrschaft des Rechts gesetzte Volk. Nation bezieht sich aufdie Selbstbestimmung des
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Volkes, kann diese aber nur rechtlich begründen. Die Nation ist keine Gruppe und sie muss sich dennoch aus sich selbst begründen. Die Nation ist nicht der Staat, aber sie muss sich dennoch auf ihn beziehen, um sich verwirklichen zu können. Das Volk konstituiert sich rechtlich, aber um sich gegen die Formen der "natürlichen" Herrschaft der Stärkeren, der Mächtigen und der Reichen zu behaupten, muss es sich selbst voraussetzen, um sich immer wieder auf sich selbst beziehen zu können: Wir sind das Volk. Es realisiert sich aber nur von Zeit zu Zeit, zu historischen Gelegenheiten, in Momenten, auf die man sich dann in großen Erzählungen beziehen kann. In der demokratischen Bestimmung der Gesellschaft steckt die unauflösbare Ambivalenz der Selbstbestimmung. Das Volk kann nicht selbst herrschen. Der Nationalsozialismus ist unter anderem der Versuch, die strukturelle Ambivalenz des modemen Nationalstaates zu tilgen. Die unterschiedlichen Pole sollen faktisch zur Deckung gebracht werden. Das nicht existierende Volk der Unfreiheit (Kants empirisches Volk) wird an die Stelle der Herrschaft gesetzt. Anders formuliert: Das Volk wird als frei behauptet, da es herrsche. Die Ausnahmeform der Identität wird so zur allgemeinen gemacht. Die getilgte Unterscheidung radikalisiert die anderen schon genannten Unterscheidungen. Das an die Stelle der Herrschaft gesetzte, als gegeben behauptete Volk aber gibt es nicht. In einer ersten identitären Konstruktion aber repräsentieren Partei und Führer das Volk nicht mehr, sie sind es beziehungsweise wird behauptet, dass sie es sind. In einer zweiten muss schließlich das Volk gemacht, hergestellt werden. Die Realität wird der als real behaupteten Fiktion angepasst, das ,,reale" Volk des Rechts als "bloß" rechtliches etikettiert.2 Die Realisierung des Fiktiven geschieht in der gewaltförrnigen Auflösung der beschriebenen ambivalenten Struktur des Nationalen und in der Konstitution der Volksgemeinschaft als Einverständnis- und Unterwerfungsgemeinschaft (Bielefeld 2003).
2. Die Realisierung von"Volksgemeinschaft" in der Nachkriegszeit 1945 waren nicht nur Städte, sondern war die Welt des NS-Staates in Schutt und Asche gelegt. Die Schornsteine der Vernichtungslager - angesichts der kommenden Niederlage umso heftiger angefeuert - hörten aufzu rauchen. Nichts war mehr wie zuvor, wie vor 1941,1939 oder auch vor 1933, wo immer das Datum gesetzt wird; und doch war nicht plötzlich alles anders geworden. Es brauchte lange, bis der offensichtliche Zivilisationsbruch in seinen vielen Dimensionen anerkannt 2
Noch der Begriff des "politischen Volkes" von Hans Freyer distanziert sich nicht von dieser Vorstellung, sondern bringt sie auf den Punkt: Das "politische" Volk ist das zu realisierende "organische" (siehe Bielefeld 2005).
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werden konnte; zu verständlich schienen Reaktionen der Derealisierung: nicht des Geschehenen, sondern des Gemachten, des Angerichteten. Noch das pathetisch herausgestrichene SchweigenlBeschweigen konnte als besondere Leistung der nun - im Moment der tatsächlichen Zerstörung des Nationalstaates, der Gesellschaft und unabweisbarer Schuld - realisierten Volksgemeinschaft gewertet werden. Schuld konnte in einem intellektuellen Entwurf der frühen Bundesrepublik als übernommene und aufrecht getragene, nicht als tätig erworbene stilisiert werden. Nur erduldetes Leid stand dann der aktiven, schweigend aufrecht getragenen Schuld gegenüber (dieser Vorschlag zum Umgang mit der Schuld nach 1945 findet sich bei Hans Freyer, hierzu ausführlicher Bielefe1d 2006). Sollten, so schrieb es Hitler in "Mein Kampf', die einfachen nationalsozialistischen Männer lernen, bei Recht und Unrecht zu schweigen, so war die neue Haltung die des Schweigens - bei Schuld und Unschuld. Der Zivilisationsbruch brachte außer Schuld weitgehende Zerstörung. Der Nationalsozialismus hatte den Nationalstaat schon durch Entgrenzung aufgelöst, nun waren Städte und Lebensgrundlagen, Moral und Gesellschaft zerstört. Zwar kontinuierten sich einige Praktiken, Institutionen und auch Einstellungen und mit ihnen ihre Träger, aber es gab einen kaum beobachteten, paradoxen und perversen Effekt - um nicht zu sagen: Erfolg - der todbringenden Praxis der Herstellung der Volksgemeinschaft. Nie zuvor gab es ein "deutsches Volk", das tatsächlich so ,,rein" war wie in den kurzen und manchmal auch längeren Jahren nach 1945 und 1949. In aller Kürze und so prägnant wie möglich formuliert: Die Volksgemeinschaft realisierte sich in der Niederlage als nun tatsächlich weitgehend homogene deutsche Bevölkerung. In der schließlich geschlossenen Gesellschaft der sozialistischen DDR konnte diese Homogenität aufrechterhalten werden; in der Bundesrepublik Deutschland wurde sie zum bestimmenden Bild, zum Selbstverständnis, das noch dann aufrechterhalten wurde, als die Gesellschaft sich beginnend in den 1960er Jahren längst verändert hatte. Trotz des Chaos von Niederlage, Zerstörung, Besatzung als Befreiung, aber auch von Flucht und Vertreibung war man nun mehr "unter sich", als dies je zuvor der Fall gewesen war und als es unter Bedingungen moderner, demokratischer Gesellschaft vorstellbar ist. Was man den Morgenthau-Plänen unterstellte, Deutschland zu einer vormodernen (hier: agrarischen) Gesellschaft machen zu wollen, hatte man tatsächlich auf einer anderen Ebene schon erreicht. Deutschland war nun erstmals eine ethnisch homogene Gesellschaft. Die Fiktion der Homogenität als Grundlage des Politischen schien in einer Situation verwirklicht, als die Möglichkeit zur Politik nicht mehr vorhanden war. Staat und Gesellschaft waren aufgelöst, Staatlichkeit und Souveränität verloren; die Gesellschaft war eine Gesellschaft der
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Überlebenden und des Überlebens geworden. Die Leute suchten ihre Orte, die sie zum Teil nicht mehr fanden, und mussten sich neue schaffen. Man entledigte sich der alten Uniformen (Leggewie 1998). Das Volk war wieder zum empirischen Volk geworden, homogen, aber ohne rechtlich konstituiert zu sein, das heißt ohne Souveränität und orientiert am Leben als Überleben. Die Gemeinschaft der Aufgelösten wurde als "Stamm" imaginiert, der nun kolonisiert wurde (thematisiert etwa im Karnevalsschlager von 1948: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien").3 Die alten Zeiten sind vorbei und andere, Diplomaten, machen nun die Politik. Die "Eingeborenen", die niemand vorher kannte, haben "Mägdelein"; sie sind trotz allem keine Menschenfresser, küssen (besser) und haben Kultur. 4 Es wird eine Kontinuität sichtbar, die trotz des Verlustes staatlicher Souveränität, kollektiver Anerkennung und individueller Glaubwürdigkeit in der Zusammenbruchs- (Niethammer 1983) und Übergangsgesellschaft (Gerhardt 2005) die neue Realität gut beschreibt. Man nimmt sich nun tatsächlich als "empirisches Volk" wahr, als ein homogenes, nun schicksalhaft vereintes Volk ohne Staat, das in den Urzustand versetzt ist, weil es die politische, rechtliche und moralische Konstituierung verloren hat. Der teilweise dramatischen Unordnung und Zusammenhanglosigkeit der Zusammenbruchsgesellschaft, die sich ja erst im Nachhinein als Übergang zu erkennen gibt und sich zwischen die nationalsozialistische und die neuen Gesellschaften schiebt, stand eine unwahrscheinliche Homogenität als Folge von Vernichtungspolitik und Krieg gegenüber. Flüchtlinge gehörten zur neuen, nun realisierten Gemeinschaft des empirischen Volkes. "Dass die sich hier breit machten, das Geschirr anstießen und das Klo nicht in Ordnung hielten, hatte mit, Volksgemeinschaft' zu tun", so beschreibt Walter Kempowski (2006) die Situation mit den ersten Flüchtlingen, die in den westlicher gelegenen Städten, Dörfern und Häusern unterkamen. Konflikte, auch solche, die mit "Kulturkonflikten", zumindest mit Problemen, die als solche beschrieben und empfunden wurden, zu tun hatten, gab es auch in der Folgezeit. Aber welche praktischen Probleme mit der Integration der Flüchtlinge auch auftauchten, sie hatten mit "Volksgemeinschaft" zu tun. Es waren die realen Folgen des Versuchs, eine Fiktion zu verwirklichen. Auch daher waren die Integrationsanstrengungen groß und letztlich erfolgreich. 3 4
Der Wortlaut des Textes ist zu finden unter http://www.lyrlcs.de/songtextJkarlberbuer/ trizonesiensong_43c35.html (letzter Zugriff am 24.4.2010). Der Wahl-Kölner Kabarettist Konrad Beikircher hat 1996 eine kammennusikalische, leise, mit Klavier- und Streicherarrangement arbeitende Fassung veröffentlicht (zu finden auf der CD 360 Grad von 1996, Verlag Bouvier Literaturbühne). Die Veränderung des Arrangements macht eindringlich deutlich, worum es bei dieser Selbstthematisierung ging. Ein kurzer Versuch des Mitklatschens aus dem Publikum verstummt sofort.
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Nach Krieg, Niederlage und Vernichtungspolitik, nach dem Chaos der Übergangsgesellschaft als einer des Zusammenbruchs und des Neustarts, die faktisch und symbolisch mit dem Sozialdarwinismus des Schwarzmarktes und mit der großen Zahl freigesetzter Bevölkerungsgruppen, die auf dem Weg waren und manchmal nicht wussten, wohin dieser ging, zusammenfiel, gab es schließlich auf dem Gebiet der gerade gegründeten Bundesrepublik praktisch keine Fremden, Minderheiten und andere mehr. Sehr wohl aber gab es soziale Ausgrenzung von Neuankömmlingen, unterschiedlichste lokale Mischungen von Insidern und Outsidern, die in manchen ländlichen Gebieten und kleineren Städten fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Aber sie alle, fast alle, gehörten dazu, zum engen oder weiten Begriffdes als gemeinsam Definierten. Der jüdische Bevölkerungsanteil betrug nur noch 0,1 Prozent (Angabe für den 13.9.1950). Die Zahl der Ausländer innerhalb und außerhalb der Lager war auf einen Bevölkerungsanteil von nur noch 1,1 Prozent gesunken (Angaben für den 1.10.1950) und sollte bis zum 1.1.1955 weiter auf0,9 Prozent zurückgehen. In der schließlich geschlossenen Gesellschaft der DDR konnte eine vergleichbare Homogenität weitgehend aufrechterhalten werden. Für den 31.8.1950 werden 0,02 Prozent Israeliten angegeben, Angaben zu Ausländern finden sich nicht, da nicht nach dem Inländer-/Ausländerkriterium differenziert wurde. Allerdings stammten, bezogen auf den Gebietsstand von 1937, fluchtbedingt 7,2 Prozent der Bevölkerung aus dem Ausland. Insgesamt aber hatte ein Viertel der Bevölkerung einen Flüchtlingshintergrund. Sozialpolitik, Umverteilung von Wohnraum und Bodenreform stellten eine frühe Integrationspolitik dar, die früher als in der Bundesrepublik begann. Eine Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) wurde gegründet und schon 1950 wurde das Umsiedlergesetz erlassen. Deutsche Umsiedler sollten keine gesonderte Gruppe darstellen. Sie wurden schließlich dennoch überproportional zu "Republiksflüchtlingen" (das Thema der Speziallager kann ich hier nicht weiter berühren, verdient aber eine eigene Betrachtung, wie zum Beispiel bei Greiner 2010). Die Ungeordnetheit der Zusammenbruchs- als Übergangsgesellschaft und Homogenität widersprechen sich nicht. Letztere wurde zur Grundlage einer schließlich fast als erstarrt erscheinenden Gesellschaft der ,,kleinen Habe" und des, falls vorhanden, Rückzugs in die Familien und Kirchen der 1950er Jahre. Der Kulturkampf hatte ein Ende, das Selbstbild des homogenen Volkes mündete in die formierte Gesellschaft, die sich selbst als ,,nicht mehr von sozialen Kämpfen geschüttelt und von kulturellen Konflikten zerrissen" beschrieb. 5 Im Folgenden werfe ich
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So sollte schließlich Bundeskanzler Ludwig Erhard die formierte Gesellschaft auf dem XIII. enD-Parteitag im März 1965 in Düsseldorfbeschreiben (Archiv der Gegenwart 1965: 11776).
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einen kurzen Blick darauf, wie die entstandene homogene Gesellschaft mit NichtZugehörigkeit umging.
3. Nicht-Zugehörigkeit Eine Gruppe Nicht-Zugehöriger, die sich auf dem ehemaligen Territorium des Deutschen Reiches aufhielten, waren die sechs bis sieben Millionen "displaced persons", Überlebende der Lager, befreite Häftlinge, ehemalige Zwangsarbeiter. Ein Teil von ihnen wohnte weiter in zunächst 63 als exterritorial definierten Lagern, die meisten warteten aufAusreisemöglichkeiten. Sie waren eine Übergangserscheinung, Transferpopulation, die allerdings immer wieder zum Thema wurde, häufig als "Sicherheitsproblem" etikettiert. Schon 1953 sollte das letzte jüdische Flüchtlingslager in der US-Zone aufgelöst werden: Föhrenwald, das heutige Waldram (bei Wolfratshausen). Seit 1946, so ein zeitgenössischer Spiegel-Bericht aus dem Jahr 1953, sei es zu "Massenauswanderungen" aus den Lagern gekommen. Von einigen 1000 Bewohnern waren vor allem 350 Tbc-Kranke mit ihren Familien, Alte und chronisch Kranke zurückgeblieben: "die letzten Reste von Hitlers großen Morden" (,,Rückkehr nach Föhrenwald" in Der Spiegel vom 3.6.1953; zu Föhrenwald vgl. auch Ander et al. 2005). Ende 1952/Anfang 1953 - der exterritoriale Charakter der Lager war aufgelöst - kam es zu einer aus heutiger Perspektive bizarren Situation. Im Dezember 1952 "näherten sich 200 illegale jüdische Flüchtlinge dem Lager" (ebd.: Der Spiegel vom 3.6.1953). Im Juni 1953 zählte man 371 "illegale" Rückkehrer, die, so der Kommentar, den Härten des Aufbaus in Israel entkommen wollten; weitere 600 seien im ,,Anmarsch", weitere ,,3000 bis 4000 Flüchtlinge" würden sich, so wurde vermutet, in Italien, Österreich, Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern darauf vorbereiten, nach Föhrenwald zu kommen. Tatsächlich stieg die Zahl der damals von deutscher Seite als heimatlose Ausländer (Der Spiegel spricht von "heimatlosen Rückwanderern") bezeichneten Personen leicht an: von 1600 auf 1986 Personen. In einem Bericht zur Lage zitiert Oberländer aus der Schweizer Jüdischen Zeitung: "Föhrenwald ist kein Barackenlager, sondern ein Städtchen mit freier Möglichkeit für alle Berufe. Die deutsche Regierung zahlt jedem Insassen 100 Mark, der Joint leistet Beiträge; Miete, Heizung und Elektrisch sind umsonst, medizinische Hilfe ist gratis. Die Rückkehrer erhalten vom ersten Tag an gleiche Leistungen (...)" (ebd.). Durch solche Hinweise, so Oberländer, werde das oberbayerische Lager zum Sammelpunkt heimatloser Rückwanderer. Illegale Zuwanderung, als jüdisch initiiert dargestellt, sollte gestoppt werden. Ab 1956 wurden schließlich vor allem kinderreiche Heimatvertriebene angesie-
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delt, 1957 wurde das Lager als solches aufgelöst. Die wenigen übrig gebliebenen Bewohner hatten nicht die Möglichkeit, eines der Häuser zu kaufen. Es wurden ihnen Sozialwohnungen in Großstädten, vor allem in München und Frankfurt, angeboten. "Adolf-Hitler-Platz", "Independence Platz", "Kolpingplatz": An der sukzessiven Namensgebung des Dorfplatzes verdeutlicht sich die Geschichte des Ortes. Heimatlose Zugehörige ersetzten die heimatlosen Nicht-Zugehörigen im nun nach Waldram umbenannten Ort (vgl. Gay 2001; Schoeps 2001; Jacobmeier 1983; Brenner 1995; KönigsederlWetze1l994). Zugehörigkeit konnte weiter auch nach offenkundig rassischen Mustern gedacht und praktiziert werden. Erste schwarze Kinder wurden schon 1945 geboren (39 von insgesamt 2132 unehelichen Kindern von Besatzungsangehörigen). Die meisten Besatzungskinder wurden 1946 geboren: 21.117, darunter 1504 schwarze. 1955 war schließlich wieder das Niveau von 1945 erreicht (41 schwarze Kinder), deren Gesamtzahl sich im Laufe von zehn Jahren (1945-1955) auf 4681 Kinder belief (die Zahlen entstammen Lemke Muniz de Faria 2002: 202; vgl. auch Fehrenbach 2005). Erneut ist es nicht die Zahl, sondern die Existenz, die problematisiert wurde. Die Möglichkeit der Exklusion über die Ausländerdefinition stand in diesem Fall nicht zur Verfügung. Im Sommer 1949 wird folgendes Problem, zu dem es in Gießen gekommen war, geschildert: "Es hat sich nämlich die Praxis herausgebildet, Kinderwagen mit Mischlingsbabies einfach auf den Marktplatz zu stellen, wenn die schwarzen Soldatenväter nach den Staaten zurückgedampft sind" (aus dem Beitrag ,,Hafen der Hoffnung für kleine Negerlein" in Der Spiegel vom 14.7.1949). Die allgemeine Not, die oft nicht einmal vorhandene ,,kleine Habe" diente zur Erklärung des Phänomens. Aber nicht Säuglinge, sondern schwarze Säuglinge wurden einem ungewissen Schicksal überlassen. An der Bereitschaft aber, die eigenen Kinder gerade in Notsituationen zu versorgen, kann abgelesen werden, wer im buchstäblichen Sinn durchgefüttert werden soll und wer nicht. Die Babys wurden zudem zum Objekt einer spezifischen Fürsorge. Sie wurden als ein Problem für die Waisenhäuser dargestellt, da "über die Negerbabies" (ebd.) gelacht wurde. Ein Verein kümmerte sich nicht nur um ihre Versorgung, sondern auch um die Gewährleistung einer speziellen Sozialisation. Ziel war es, ein eigenes Heim für die schwarzen Kinder zur Verfügung zu stellen, um sie vor Diskriminierung zu schützen, um sie gleichsam "artgerecht" erziehen zu können und um für sie möglichst schwarze Adoptionsfamilien in den USA zu finden; die Verhinderung von "Rassenvermischung" als Fürsorge.
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4. Selbstthematisierung nach der deutschen Wiedervereinigung Die Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland könnten ergänzt werden durch solche aus der DDR. Auch hier gab es kleine Gruppen, etwa um 1300 Griechen. Die Fremden, ob sie zu "Freunden" wurden oder nicht, aber muss man suchen, so etwa auch eine weitere Gruppe von 100 schwarzen Kindern. Die im Lande waren, auch die so genannten Vertragsarbeiter, sollten unter sich bleiben. Wir finden so zunächst zwei Staaten mit einer weitgehend ethnisch homogenen Bevölkerungsstruktur, die keineswegs typisch ist für Nationalstaaten, sondern die Folge eines Herstellungsprozesses. Die DDR, die sich eine republikanische Verfassung gab und ein antirassistisches Selbstbild vertrat, blieb ein homogenes Land. Die Bundesrepublik, die an einem ethnonationalen Zugehörigkeitsrecht festhielt und eine ethnokulturelle Selbstthematisierung ausbildete, veränderte jedoch ihre Struktur. Sie wird zum Einwanderungsland, ohne ihre Rechtsstruktur und ihre Selbstthematisierung umzustellen; die DDR wurde zu einem homogenen Staat des Volkes als Klasse, der sich selbst als fortschrittlich, antinationalistisch und republikanisch darstellte. In beiden Fällen klaffte eine Lücke zwischen Selbstthematisierung und der tatsächlichen Struktur und dem Leben der Gesellschaft, jeweils jedoch im genau umgekehrten Sinn. Die Vereinigung beider Staaten schloss die Möglichkeit ein, aufdieser Grundlage erneut einen Zusammenschluss von Struktur und Selbstthematisierung zu versuchen. Die in der DDR vorhandene Struktur musste dann mit der ethnokulturellen Selbstthematisierung der Bundesrepublik verbunden werden, um auf dieser Grundlage die erneute Herstellung von Homogenität zu fordern. Das Volk sollte dann zum Volk gemacht, das rechtliche erneut vom empirischen ersetzt werden. Diese Chance suchten die nationalistischen Rassisten zu nutzen. Nicht zum ersten Mal brannten Flüchtlingsheime, aber es kam zum ersten Mal zum Flächenbrand, zu einer nationalistisch-rassistischen Meute (Rostock-Lichtenhagen) und zur expliziten Forderung, Reinheit wieder praktisch herzustellen. Man konnte sich dazu institutionell berechtigt fühlen (Bielefeld 1993), verkannte aber die strukturelle Kraft einer europäisierten demokratischen Gesellschaft, die Teilnahme und Teilhabe von kollektiver Identität getrennt hat. Faktisch wurde das Staatsbürgerschaftsrecht umgestellt, vom ius sanguinis zu einem allerdings restriktiven republikanischem Recht umgeformt. Nun entsprach die (Bevölkerungs-)Struktur der Gesellschaft auch dem Recht der Gesellschaft. Die nationalistisch-rassistische Ideologie konnte und kann so weder an eine gesellschaftliche Realität anknüpfen noch kann sie eine Form der Selbstthematisierung anbieten, die angemessen auf diese Wirklichkeit reagiert.
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Das ist nicht das Ende einer nationalsozialistischen Rechten. Vielmehr kann hierin gerade eine Erklärung ihrer ideologischen Radikalisierung gesehen werden. Wenn die Suche nach Akzeptanz, etwa indem die Selbstdarstellung nach außen die Gewaltfönnigkeit zurücknimmt oder man sich ideologisch kulturalistischer gibt, als man ist, scheitert, dann kann die Strategie der Konfrontation mit den so genannten Systemparteien und -kräften radikalisiert werden. Zumindest gibt es dann möglicherweise interne Zusarnmenhaltsgewinne, lokale Erfolge und imaginäre Herrschaftsgewinne. Im kleinen Reich des Größenwahns aber herrscht der gleiche Wille zur gewaltsamen Realisierung der vorgestellten Welt der Herrenrasse. Dann müssen von Zeit zu Zeit Aufmärsche durchgeführt werden, um sich selbst der Existenz zu vergewissern; immer wieder muss auch die Gewaltbereitschaft faktisch durch Angriffe auf andere bestätigt werden. Und schließlich kann man doch noch an die Möglichkeit des Erfolgs glauben. Empfinden nicht doch viele, dass es zu viele Fremde gibt? Lassen sich die Fremden nicht doch im Gefühl vieler zu ganz Anderen transfonnieren? Kann man nicht doch mit neuen Partnern die alten Feinde wieder an die Stelle rücken, wo sie vermeintlich hingehören? Gibt es nicht doch noch immer die jüdische Gefahr - an der Börse und in Israel? Werden nicht doch die "Protokolle" wieder aktuell? Derzeit lassen sich so keine stabilen (Wähler-)Gruppen überzeugen. Gewinne sind lokal, regional und zeitlich wenig stabiL Aber es gibt sie, die nationalistischen Rassisten, die ihre Anschlussmöglichkeiten noch nicht gefunden haben.
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Strukturen und Ideologien in Osteuropa
"Die Märtyrer sind die Magyaren" Der Holocaust in Ungarn aus der Sicht des Hauses des Terrors in Budapest und die Ethnisierung der Erinnerung in Ungarn
Magdalena Marsovszky
Über das Museum Haus des Terrors in Budapest sind seit seiner Eröffnung im Jahre 2002 zahlreiche Publikationen erschienen (vgl. zum Beispiel Marsovszky 2002; Seewann/Kovacs 2006; Ungväry 2006; Halpert 2007). In der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur beginnt sich langsam ein Konsens darüber zu entwickeln, dass seine Konzeption nicht der wünschenswerten reflexiven Gedächtnispolitik: der ungarischen Gesellschaft dient. Im vorliegenden Beitrag gehe ich einen Schritt weiter und konzentriere mich auf die Frage, warum die Konzeption der ständigen Ausstellung des Hauses des Terrors strukturell als antisemitisch bestimmt werden kann beziehungsweise warum sie den Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft nährt. Das Haus des Terrors wurde 2002 mit dem Anspruch eröffnet, den Besuchern sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Diktatur durch eine interaktive Vermittlung aufzuzeigen. Doch durch den ,,nationalen Blick" und den ,,methodologischen Nationalismus" (Beck 2004: 39), die dieAusstellungskonzeption bestimmen und übrigens auch große Teile der Wissenschaft in Ungarn beherrschen, wird die "ethnische Schließung" (Salzborn 2004) der Gesellschaft und die damit vollzogene Verwandlung in eine Volkstumsgemeinschaft gefdrdert, die aufgrund ihres Homogenitätsideals Ausgrenzungstendenzen verstärkt.
1. Ethnisierung der Erinnerung Die ethnische Schließung der Gesellschaft und die damit vollzogene Verwandlung in eine "geschlossene Gesellschaft" geschieht vor allem durch die "Ethnisierung der Erinnerung" (Seewann/Kovacs 2006: 193)1, die auch die Konzeption Der durch Seewann und Kovacs geprägte Begriff ,,Ethnifizierung der nationalen Erinnerung" ist nicht nur im Hinblick auf die Konzeption des Hauses des Terrors, sondern auch hinsichtlich eines Großteils der kulturellen Konzeptionen, ja auch für die Struktur der Kulturpolitik Ungarns von großer Wichtigkeit (vgL auch Marsovszky 2006a). Was jedoch genau darunter zu verstehen ist, wird leider nicht ausreichend erklärt.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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des Hauses widerspiegelt. In ihr wird das ungarische nationale Opfernarrativ in den Vordergrund gestellt. Der nationale Opfennythos ist ein wichtiger Baustein des in Ungarn vorherrschenden ethnisch-völkischen Denkens und hängt stark mit dem Phänomen zusammen, das man "Kulturpessimismus" nennt (zum völkischen Denken in Ungarn vgl. Marsovszky 2006b). Beide sind wichtige Bestandteile von Strukturen, die den Antisemitismus fördern (vgl. Salzborn 2006; Stern 1986). In beiden erleben wir eine letztendlich antisemitisch implementierte Identifizierung mit der magyarischen Nation (wobei hier Nation im völkisch-ethnischen Sinne Abstammungsgemeinschaft meint). Der Kulturpessimismus entspringt dem Gefühl der Angst vor dem Verlust altüberkommener Traditionen und Glauben und traditioneller sozialer Bindungen infolge von Modernisierung und Reformen sowie aus einer psychisch determinierten Wahrnehmung, nämlich einer vermeintlichen peripheren Lage (vgl. den Begriff der "in-between peripherality" von Tötösy de Zepetnek 2002: 8). Man fürchtet den Verlust der ,,nationalen Einheit" und letztendlich den "Tod der Nation", sieht sich als Opfer der Modernisierung, der europäischen Integration und des westlichen Liberalismus und meint, dass das, was die Kommunisten zwischen 1945 und 1990 nicht zerstörten, jetzt endgültig von den Liberalen vollbracht werde. Opfermythos meint aber auch die Abwehr von Schuld und Erinnerung sowie die Projektion von Verbrechen auf "Andere", "Fremde" und letztendlich stellvertretend dafür auf "Juden". Mit dem nationalen Opfermythos wird versucht, die in der eigenen Schuld zum Ausdruck kommende Täterschaft zu leugnen. Es ist nichts anderes als eine Schuldumkehr, mit der die Verfolger ihre Angst, als Kollektivtäter beschuldigt zu werden, auf die Verfolgten projizieren. In der Forschung wird die Umkehr der Täter-Opfer-Relation als typische Erscheinungsform des Antisemitismus betrachtet (vgl. zum Beispiel Haury 2002: 115ff.).
2. Täter-Opfer-Umkehr, antikommunistischer und antiliberaler Antisemitismus Klaus Holz bezeichnet die Täter-Opfer-Umkehr als "demokratischen Antisemitismus" (Holz 2005: 56; vgl. auch ders. in diesem Band), weil sie weniger dem "radikalen Rand" einer Gesellschaft zuzuordnen sei als vielmehr der "demokratischen", politischen Mitte, die die so genannte "Vergangenheitsbewältigung" oft durch die Täter-Opfer-Umkehr zu vollziehen versucht. Der demokratische Antisemitismus bezeichnet dabei keinen eigenen Typus des Antisemitismus, sondern ,,nur die ungefähre Eingrenzung eines Phänomens". Holz unterscheidet drei Haupttypen der Täter-Opfer-Umkehr: Zum ersten gehört der bereits erwähnte Opfermythos, des-
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sen Virulenz auf der Leiderfahrung des eigenen, ethnisch gedachten Volkes beruht und durch die Schuldabwehr motiviert wird. In der zweiten Variante wird zwar die historische Tatsache des Holocausts nicht geleugnet, dafür aber die Zeitdimension betont und die ständig wiederkehrende "Dauerrepräsentation" von Schande und deren Instrumentalisierung kritisiert. Profiteure dieser "Instrumentalisierung" der Schande seien nach dieser antisemitischen Variante letztendlich die Juden, die so sogar einen illegitimen Schaden aus der Shoah ziehen würden. In der dritten Variante wird den Tätern ein Teil ihrer Schuld abgesprochen, während die Opfer nicht mehr als gänzlich unschuldig betrachtet werden. Typisch fiir die Konstruktion des ,jüdischen Täters" ist es einerseits, die Juden mit den Nationalsozialisten zu vergleichen beziehungsweise jüdische Handlungen als nazistische darzustellen. Die Konstruktion des ,jüdischen Nazis" ist typisch fiir diese Sichtweise. Typisch ist aber andererseits auch, dass die Juden mit den Kommunisten verglichen beziehungsweise kommunistische Handlungen als jüdische dargestellt werden. Dies ist der so genannte antikommunistische Antisemitismus, dessen Grundlage der "Mythos vom jüdischen Kommunismus" ist (Gerrits 2009). Dabei wird das Schreckgespenst des ,jüdischen Bolschewismus" immer mit historischen Fakten "angereichert". Meistens kommen in den Begründungen Stichworte wie "Russische Revolution", "Räterepublik" sowie "bolschewistische Akteure" oder Namen wie Trotzki, Bela Kun oder aber der ungarische Stalin, Mlityäs Räkosi, vor. Damit wird die Weltrevolution zur ,jüdischen Revolution" und sowjetische Kommunisten und Juden werden stillschweigend zu Synonymen erklärt. Dieses Argumentationsmuster gehört zur traditionellen judenfeindlichen Demagogie, die letztlich in den Holocaust führte (vgl Benz 2004a: 45, 46). In Ungarn spielt die Täter-Opfer-Umkehr nicht nur in der so genannten Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise in der Erinnerungspolitik eine enorme Rolle, sondern auch und vor allem im gesamten politischen Leben. Man könnte sogar behaupten, dass selbst der Sieg der völkischen Parteien bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010, den ich nach Fritz Stern (1986) als ,,konservative Revolution" oder "völkische Wende" bezeichne, zum großen Teil auf dem Prinzip der soeben beschriebenen Täter-Opfer-Umkehr basiert, mit dessen Hilfe sich "die (völkisch gedachte) Nation", vertreten durch die völkischen Parteien FideszBürgerliche Union (Fidesz-MPSZ) und die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP), seit Mai 2010 an der Regierung, sowie die rechtsradikale Partei Jobbik, momentan in der parlamentarischen Opposition, vom vermeintlichen "Joch" der Güdischen) Postkommunisten und der Güdischen) Liberalen zu befreien meint. Der antikommunistische Antisemitismus kam zum Beispiel in einem Film der jetzigen Regierungspartei Fidesz in der Wahlkampagne zu den Parlaments-
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wahlen 2010 in den folgenden Sätzen eines Regisseurs zum Ausdruck (vgL "Mär csak harom nap", deutsch: "Nur noch drei Tage", Veranstaltung zur :finalen Wahlkampagne von Fidesz in der Syma-Halle, in HirTV vom 8.4.2010): ,,Die magyarische Staatlichkeit ist eintausendeinhundert Jahre alt. Die ungarische Linke ist einhundert Jahre alt. Am 11. April wählen wir! Stephan der Heilige oder Bela Kun, das ist hier die Frage! Ich meine: Am 11. April wird Stephan der Heilige das Land von Bela Kun und seinen Nachfolgern zurückerobern."
Im antikommunistischen Antisemitismus Ungarns ist zu beobachten, dass nicht nur Bolschewiki und sowjetische Kommunisten sowie Juden zu Synonymen erklärt werden, sondern sogar "deren Nachfolger", die heutigen Russen. Wenn Viktor Orbän - noch als Oppositionsführer im Januar 2007 - sagt, "wir wollen nicht die lustigste Baracke von Gazprom sein", dann hat dieser Satz eine für jedermann in Ungarn verstehbare antisemitische Konnotation (vgl. den Beitrag "Orbän: Nem akarunk a Gazprom legvidamabb barakkja lenni" in MT! vom 3.1.2007).2 Zum antikommunistischen Antisemitismus gesellt sich in Ungarn eine weitere Variante, die man nach dem gleichen Muster antiliberalen Antisemitismus nennen könnte. Ungarns Antisemiten sind sich darin einig, dass die größte Gefahr für Europa der (östliche) Bolschewismus einerseits und der (westliche) Liberalismus andererseits sind, welche von den "Juden" erfunden worden seien. Sie meinen, dass das, was die Kommunisten (im Realsozialismus) nicht hätten kaputt machen können, in den letzten 20 Jahren von den Liberalen vollbracht worden wäre. Beide, sowohl die kommunistische als auch die liberale Denkweise beziehungsweise das Denken in den Kategorien der liberalen Demokratie, werden als ,jüdische Unterwanderung" der Volksgemeinschaft aufgefasst. In der ungarischen Variante der Täter-Opfer-Umkehr ist vor allem der genannte Opfermythos bedeutend, wenn also die (völkisch gedachte) Nation permanent und ohne jede Selbstreflexion als das Opfer historischer Ereignisse dargestellt wird. Die antisemitische Konstruktion des ,jüdischen Täters" wird sowohl auf die Nationalsozialisten, hier vor allem auf Hitler, übertragen als auch auf die Kommunisten und auf die Liberalen, aber in einem viel geringeren Maße aufErstere als auf die Letzteren. Der antikommunistische und der antiliberale Antisemitismus schlugen sich in Ungarn in den letzten Jahren einerseits in der Aggression und in Angriffen gegenüber ,,kommunistischen" beziehungsweise "liberalen" Denkmälern oder Büsten nieder. So wurde in Budapest sowohl das sowjetische Denkmal des Öfteren beschädigt (Marsovszky 2010) als auch die Büste des britischen Politikers Sir Winston Churchill immer wieder mit roter Farbe besprüht und 2
Unter http://index.hu/politikalbelfold/ovdem9525/.
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mit einem Davidstern beschmiert (vgl. den Beitrag "Churchill vörös arccal varja a költsegverest" in Nepszabadsag vom 22.4.2009).3 Andererseits äußerte sich der Hass gegen die so genannten Kommunisten und Liberalen in den letzten Jahren immer wieder in konkreten Anschlägen gegen sozialistische und liberale Politiker (Marsovszky 2009). An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass also der Antisemitismus in Ungarn auf keinen Fall im engeren Sinne als Judenhass zu verstehen ist. Dass der Antisemitismus nicht allein "die Abneigung gegen Juden" bedeutet, wissen wir spätestens seit Adorno und Horkheimer (dies. 1988; Benz 2001: 129). Der heutige Antisemitismus in Ungarn ist viel eher eine Abneigung gegen symbolische "Juden", gegen "Fremde an sich", und zielt daher eher gegen Politiker und medienpräsente Personen, hier vor allem gegen sozialistische und liberale, die man nicht mag, und weniger gegen Juden im Allgemeinen. Der Antisemitismus kann in diesem Sinne auch als Zeichen einer Weltanschauung (Holz 2001) oder ,,Alltagsreligion" (Claussen 2000: 18) betrachtet werden, in der die Abneigung gegen Juden mit einer Abneigung gegen alle "Anderen" verbunden ist, denen man vorwirft, keine "echten" Zugehörigen der völkisch gedachten Nation zu sein. "Fremde" können so zum Beispiel neben Minderheiten auch demokratische Einrichtungen, die demokratisch gewählte Regierung, ja selbst die Europäische Union sein. Ein gutes Beispiel dafiir, dass die ehemalige demokratisch gewählte sozialliberale Regierung fiir eine "verjudete Regierung" oder ZOG (Zionistic Occupied Government; siehe Grumke 2009: 10) gehalten wurde, ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck eines Kommunalpolitikers im Jahr 2009, der das ungarische Parlament "die Synagoge am Kossuthplatz" nannte, die ausgeräuchert werden solle. Als der Politiker gefragt wurde, wie er das meint, sagte er, "na ja, im alltäglichen Gebrauch würde man das Parlament so nennen" (vgl. "Rajka varos önkormänyzati kepviselöje pogromra buzdit. Abol zsinag6gakat füstölnek, ort nacizmus van" in MT! vom 22.2.2009).4 Im völkischen kollektiven Narrativ beinhaltet der Opfermythos, dass die Magyaren eine moralisch saubere Nation seien, welche zwar Terror erleiden musste, die jedoch im Grunde nicht daran teilgenommen habe und auch vom Holocaust unbefleckt geblieben sei. 3 4
Deutsch: "ChurehilI wartet mit rotem Gesicht auf den Haushaltsbeschluss" (unter http://www. nol.hu/lrult/lap-20090422-20090422-31). Deutsch: "Der Kommunalabgeordnete der Stadt Rajka ruft zum Pogrom auf. Dort, wo man Synagogen ausräuchert, gibt es Nazismus" in: A Wesley Janos Lelk6szkepzö Föiskola es a Magyarorszagi Evangeliumi Testverközösseg közlemenye (Mitteilung der Hochschule für Theologie Janos Wesley und der Evangelischen Brudergemeinschaft Ungarns, Original Textservice MTI, Ungarische Nachrichtenagentur, unter http://ots.mti.hu/print.asp?view=2&newsid=54313).
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3. Die Schuldumkehr in der Konzeption des Hauses des Terrors Die Konzeption des Hauses des Terrors ist derart aufgebaut, dass das ungarische Volk als hilfloses und unschuldiges Opfer "fremder Mächte" dargestellt wird. Die Täter sind demnach nicht oder kaum im eigenen Volk zu suchen, sondern ausschließlich oder vor allem bei den ,,Anderen", den "Fremden" oder höchstens bei den "inneren Fremden", das heißt bei den "Kollaborateuren der Fremden" im eigenen Land. Das sind einerseits die ungarischen "Faschisten" oder "Nazis". Die Begriffe Faschist oder Nazi gehören heute zu den schlimmsten Schimpfwörtern überhaupt, wobei diejenigen, die als "nationaler Sozialist" oder "national und sozial" bezeichnet werden, vielfach damit einverstanden sind. Andererseits sind die Täter eben die "Bolschewiki" und die "Kommunisten", wobei diese Begriffe ebenfalls zu den gängigen Schimpfwörtern in Ungarn gehören. Entsprechend dem Mechanismus der Verdrängung wird die Geschichte des Hauses exakt erst ab Oktober 1944, mit dem Putsch und der Machtübernahme durch die Pfeilkreuzier (die ungarischen Nazis), gezeigt. Nicht einmal erwähnt werden die Hinweise auf den Prozess der beiden vorausgegangenen Jahrzehnte unter dem christlich-nationalen Reichsverweser Horthy (1920-44), in dem die antisemitische und völkische Atmosphäre die Verabschiedung der Judengesetze erst ermöglichte und den Weg zur Herrschaft der Pfeilkreuzier in Ungarn ebnete. Über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen steht im Begleitmateriallediglich, dass Ungarn nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Vertrag von Trianon (1920) von den Siegermächten um zwei Drittel seines Territoriums gebracht wurde. Infolge der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg und des darauf folgenden ,,Bolschewik-Putsches" sei das Land in eine ,,hoffnungslose Lage" geraten. Hier entsteht also der Eindruck, dass der ,,Bolschewik-Putsch" als Ursache am Anfang des langen und mörderischen Prozesses zum Holocaust hin stehe. Weiter steht geschrieben, dass das politisch isolierte und militärisch entwaffnete Land somit, "umgeben von feindlichen Ländern, zum kleinsten und schwächsten Land Mitteleuropas geworden [sei], das in den Mittelpunkt seiner Politik fortan den Kampf um die territoriale Revision und die Wiederherstellung des historischen Ungarns mit friedlichen Mitteln" gestellt habe. Ab den 1930er Jahren sei Ungarn dann ins Kreuzfeuer der immer aggressiveren Politik Nazi-Deutschlands einerseits und der machtpolitisch erneut erstarkenden Sowjetunion andererseits geraten (Begleitmaterial "Kettös megszallas", deutsch: "Doppelte Belagerung"). Historisch richtig und mit der nötigen Selbstreflexion ausgestattet hätte aber das Begleitmaterial die zitierten Sätze folgendermaßen formulieren müssen: Nach dem Friedensvertrag von Trianon (1920) wurde nach und nach die Revision der Grenzen von 1914 die wichtigste Frage der Politik, der Kultur und des alltäglichen Lebens und der
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Revanchismus die Leitideologie des ungarischen nationalen Sozialismus (Ränki 1999). Mit der Konzeption der Verteidigung der ,,reinrassigen Kultur" verstärkte sich der Antisemitismus in der politischen Kultur Ungarns, was zum Beispiel im Sommer 1944 in der - mit dem deutschen Vorgehen vergleichbar gründlichen, bürokratischen - Konsequenz jene destruktive Dynamik ermöglichte, die in kurzer Zeit zur Deportation von beinahe einer halben Million ungarischer Juden führte (vgl. Aly/Gerlach 2002: 429). In der Ausstellung findet man zwar auch konkrete Aussagen, die historisch nicht haltbar sind (vgl. Ungväry 2006: 211ff.) und die man ganz konkret widerlegen kann. Um jedoch die Konzeption als strukturell antisemitisch zu bestimmen, ist es meines Erachtens wichtiger, ihre Insinuierungen in Worte zu fassen, aus denen der Großteil der Ausstellung besteht. Eine wichtige insinuierte Aussage ist zum Beispiel die, dass Ungarn bis zur quasi schlagartigen Belagerung durch Hitler-Deutschland ein demokratisches Land gewesen sei. Im Text des Begleitmaterials (,,Kettös megszallas") steht dazu: ,,Bis zur Belagerung durch die Nazis im Jahre 1944 stand an der Spitze Ungarns eine durch Wahlen legitimierte Regierung und ein Parlament, und es waren oppositionelle Parteien tätig, deren Abgeordnete im Parlament vertreten waren. Trotz der kriegsbedingten Einschränkungen war die Pressefreiheit gewährleistet. Die ungarischen Bürger lebten besser und freier als ihre Nachbarn. Nach dem 19. März bekam aber das Land einen Vorgeschmack dessen, was passiert wäre, hätten die Nazis gewonnen."
In dieser Passage ist vor allem wichtig, was verschwiegen wird, nämlich die bereits erwähnten innergesellschaftlichen Strukturen als Voraussetzung für den Holocaust. Hier wird der eindeutige Versuch unternommen, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, nämlich die Horthy-Ära, zu rehabilitieren und "reinzuwaschen", was aber notwendigerweise voraussetzt, dass man sich auch vom Holocaust säubert (Braharn 2001; Shafir 2005).
3.1 Parallelisierung von Gulag und Auschwitz, Relativierung des Holocausts Genau diese Bestrebung wird aus der weiteren Konzeption des Hauses ersichtlich. Diese suggeriert nämlich die Gleichrangigkeit des Nazi- und des kommunistischen Regimes, was die Parallelisierung von Gulag und Auschwitz, aber gleichzeitig die moralische Relativierung des Holocausts bedeutet (vgl. Krausz 2000).
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Abbildung 1: Darstellung auf der Internetseite des Hauses des Terrors
Quelle: www.terrorhaza.hu
Der Eindruck einer gewollten Gleichsetzung zwischen dem Nazi- und dem kommunistischen Regime ereilt den Besucher bereits vor dem Eingang. In der breiten, schwarz gestrichenen Granitklinge, die als hauchdünn erscheinende Verlängerung des Dachsimses wie ein Passepartout hinausragt, steht "TERROR" in Spiegelschrift und links und rechts daneben sind die gleich großen Machtsymbole Pfeilkreuz und fiinfzackiger Stern eingestanzt (vgL Abbildung l). Am Eingang wird der Besucher dann durch zwei, einen roten und einen schwarzen, zueinander symmetrisch angeordnete Granitblöcke empfangen, die zum Gedenken an die Nazi- und die kommunistische Diktatur aufgestellt wurden (Abbildung 2). Die Parallelisierung von Gulag und Auschwitz und die damit einhergehende moralische Relativierung, das heißt die Leugnung des Holocausts, werden in der Wissenschaft "sekundärerAntisemitismus" genannt (Benz 2004b: 19f.). Doch nach der Antisemitismustheorie geht der sekundäre Antisemitismus noch einen Schritt weiter. Aus dem Motiv der Erinnerungsabwehr heraus entsteht eine neue ,)udenfeindschaft". In dieser Logik werden die Juden in typisch antisemitischer Weise von unschuldigen Opfern zu schuldigen Tätern erklärt und das (völkisch gedach-
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te) Volk wird zum Opfer jüdischer Täter stilisiert. Täter und Opfer werden also erneut verkehrt (Haury 2002: 138).
Abbildung 2: Granitsteine am Eingang des Hauses
Quelle: www.terrorhaza.hu
In der Konzeption des Hauses unterliegt die Gleichwertigkeit von Gulag und Auschwitz aber einer Verschiebung. Dort stehen nämlich zwei die Nazi-Zeit darstellende Räume 21 Ausstellungsräumen für die kommunistische Zeit gegenüber. Nach offizieller Aussage zeigt die Ausstellung die Zeit bis Mitte der 1960er Jahre (vgl. die Mitteilung über die bevorstehende Eröffnung des neuen Museums in MT! vom 11.2.2002), da nach der ungarischen Revolution 1956 verschiedene Firmen das Gebäude in Besitz nahmen. Im Gegensatz zum Ausstellungsbeginn gingen jedoch die Kuratoren nach einer anderen Logik vor, als sie das Ende der Ausstellung mit einem fließenden Übergang bis ins Jahr 1990 ausdehnten: Der letzte Raum "Abschied" zeigt den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, sodass man den Eindruck bekommt, der Terror hätte bis fast in die Gegenwart gedauert. Verschwiegen werden jedoch reforrnkommunistische Bestrebungen und die damals illegale demokratische Opposition, aus der die heutigen Liberalen, der Bund Freier Demokraten (SZDSZ)5, erwuchs. Zudem werden verschiedene Ebenen mit5
Die liberale Partei hat bei den Parlamentswahlen im April 2010 die Fünfprozenthürde nicht geschaffi und versank danach in der Bedeutungslosigkeit.
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einander vermischt, sodass nicht klar ist, ob es in der Ausstellung um den kommunistischen Terror, um die Geschichte des Staatssicherheitsdienstes, der AVW AVO, um die kommunistische Diktatur als politisches System oder aber um die ungarische Geschichte nach 1945 geht. Die Kuratoren scheinen die ohne Zweifel zusammenhängenden, aber dennoch verschiedenen Interpretationsebenen bewusst miteinander verbunden zu haben, um die pauschale Aussage zu machen: "Kommunismus ist gleich Terror."
3.2 Haus des " kommunistischen Terrors" Das Haus des Terrors ist somit das ,,Haus des kommunistischen Terrors" und die Philosophie der Ausstellung ist die Sicht des Opfers des Kommunismus, denn schließlich bleiben die Opfer und Täter der Nazi-Zeit beinahe gänzlich ausgeklammert. Dem Betrachter wird die Aussage insinuiert, dass im Unglück des Landes der bolschewistisch-kommunistische Terror eine größere Rolle gespielt habe als der Nationalsozialismus und der Holocaust. Ein weiteres Problem ist, dass, da etliche der "kommunistischen Täter" noch am Leben sind, es schnell zur aktuellpolitischen Hetze kommen kann, wenn deren Bilder nicht sachlich und historisch richtig eingeordnet gezeigt werden. Genau dies passiert im Haus des Terrors, wie es vom Historiker Krisztian Ungväry bereits nachgewiesen wurde (vgl. seinen Beitrag ,,Akäosz häza'" in Magyar Narancs vom 7.3.2002). Zwei ehemalige Stasi-Mitarbeiter auf dem Tableau (Abbildung 3) sind die Väter zweier Politiker, die in beziehungsweise im Umkreis der ehemaligen liberalen Partei (SZDSZ) zu finden sind, die aber entgegen der väterlichen Tradition bereits im Realsozialismus in der damaligen demokratischen Opposition zum Teil im Untergrund tätig waren. Durch die unreflektierte, kommentarlose Darstellung der Väter auf dem Tableau wird nicht nur aktuellpolitisch zu Rache und Hass gegen speziell diese demokratischen Politiker mobilisiert, sondern auch der bereits erwähnte und für den antisemitischen Diskurs des Landes typische antiliberale Antisemitismus gestärkt, zumal die ehemalige Partei der Demokratischen Opposition, die liberale Partei, im Alltag oft schlicht "die Judenpartei" genannt wird. Es genügt in Ungarn, in einem bestimmten Kontext das Wort "liberal" zu nennen, und jeder weiß, dass es sich um die "liberale Konstruktion" des Juden handelt. Während also die vorherrschenden Mythen über die Stasi-Mitarbeiter nicht in einen sachlichen Kontext gestellt werden, werden durch den Aufbau und den Gesamtkontext der Ausstellung sowie durch die Insinuierungen die bereits erwähnten und besonders lebendigen Varianten des Antisemitismus, nämlich der antikommunistische und der antiliberale Antisemitismus, gestärkt.
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Abbildung 3: Tableau Staatssicherheitsdienst
Quelle: www.terrorhaza.hu
Der Raum mit dem Tableau der ungarischen Stasi-Mitglieder bildet daher in dieser Hinsicht sogar einen, wenn nicht den Höhepunkt der ständigen Ausstellung. Nimmt man in einer Gruppe ungarischer Besucher an einer Führung teil, beginnen einige von ihnen spätestens in diesem Raum beispielsweise etwa "dreckige Juden" zu flüstern. Sie meinen natürlich die gegenwärtigen Sozialisten und Liberalen beziehungsweise stellvertretend das Denken in liberalen Kategorien. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Wirkung des Hauses des Terrors eine Mobilisierung gegen die "ve:rjudeten Sozialisten" und gegen die "ve:rjudeten Liberalen" bedeutet und strukturell antisemitisch ist.
3.3 Tätertransfer - Opfertransfer Dieser Prozess, in dem aus den ehemaligen tatsächlichen Tätern mithilfe des antikommunistischen und des antiliberalen Antisemitismus die Täterschaft auf die heutigen Sozialisten und Liberalen (sprich "Juden") verlagert wird, kann Tätertransfer genannt werden. Das, was im Haus des Terrors insinuiert wird, wird an anderer Stelle von Politikern der völkischen Parteien immer wieder direkt ausgesprochen, was beweist, dass die Insinuierungen des Hauses des Terrors sehr wohl in den gesamtgesell-
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schaftlichen Kontext passen. So ist zum Beispiel vom Vorsitzenden des Parteiausschusses der Fidesz, Lasz16 Köver, der Ausdruck bekannt, dass es in der sozialliberalen Regierung "gigantische, bolschewisierende und satanischen Kräfte" gäbe (in Het; Vitaggazdasag vom 7.10.2005)6, vor allem "Ferenc Gyurcsany und seine Mittäter" (vgl. die Sendung Napi aktuälis auf Echo TV vom 7.3.2008)1, in deren Person sich - nach Meinung des Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Volkspartei, Zsolt Semlyen, heute stellvertretender Ministerpräsident - ,,(...) der mal als Bolschewik, mal als Liberaler erscheinende echte Antichrist" zeige (vgl. die Sendung Vasamapi Ujsag auf Kossuth Radi6 vom 17.7.2005). Semjen nannte 2009 auf einer Konferenz seine Partei national und sozial und meinte, der nationale Gedanke werde in Ungarn von zwei Seiten attackiert: erstens durch die Sozialisten, die aufgrund ihres Internationalismus dem nationalen Dasein immer schon feindlich gesonnen waren, und zweitens durch die Liberalen, die Kosmopoliten, in deren Augen alle provinzialistisch seien, die sich für das Magyarentum einsetzen. 8 Als Beispiel dafür, wie lebendig diese Begriffe im ungarischen antisemitischen Diskurs sind, sei an dieser Stelle noch die neue Abgeordnete der rechtsradikalen Partei Jobbik im EU Parlament, Dr. Krisztina Morvai, zitiert. Sie sagte im September 2008, damals noch als Kandidatin, anlässlich einer Großdemonstration gegen den "Magyarenhass" vor tausenden von Teilnehmern: "Mein letzter Rat an die liberal-bolschewistischen Zionisten, die unser Land ausraubten, ist, sich damit zu beschäftigen, wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken! Denn es gibt keine Gnade!"9 Und somit sind wir wieder bei dem antisemitischen Stereotyp "verjudete Regierung", ZOG (Zionistic Occupied Govemment), angelangt. Diesem Stereotyp entsprechend wurden die beiden ehemaligen sozialistischen Reformministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany (2004-2009) und Gordon Bajnai (2009-2010) im rechtsradikalen Diskurs immer wieder "die Stadthalter des Judenstaates in Ungarn" genannt. Oft wurde die sozialistische Regierung - über den Umweg des Antizionismus, mit dem Israel für den "Holocaust an den Palästinensern" verantwortlich gemacht wird (vgl. Haury 2006: 28) - mit dem Hitler-Faschismus identifiziert1o, was notwendigerweise auch die Vorstellung nach sich zieht, dass es ein "Genozidium am Magyarentum" gäbe. Genau diese Begriffe waren im Zusammenhang mit 6 7 8 9 10
Unter http://hvg.hu/itthon/20051 007kover.aspx?s=20051 07nl. Unter http://www.echotv.hu/video/index.php?akt_menu=1038&media=2927. V gl. http://kdnp.hu/news/hagyomanyos-ertekek-kepviselete-nemzeti-gondolat-es-szoci-alisigazsagossag. Bericht von Jobbik-TV über die Demonstration (unter http://www.youtube.comlwatch? v=WCOjNKmcsNc&feature=channetpage). Zum Beispiel unter http://www.videoplayer.hu/videos/play/44931 (Stichwort ,,Führer").
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der gescheiterten Gesundheitsreform der sozialliberalen Koalition 2007 zu hören. So sagten Vertreter der Ärztekammer, die Gesundheitsreform sei der ,,Holocaust an den Magyaren". Der berühmte Herzchirurg Lajos Papp sagte zum Beispiel Folgendes (in der Sendung Esti Gyors aufHirTV am 4.6.2007): "Die Ärzte leiden (...) unter einem Auschwitz-Syndrom. Damals, in Auschwitz, wusste jeder, dass niemand das Krematorium verlässt (...), höchstens in Form des Rauches. Das heutige Zauberwort (...), das heutige Bad heißt Reform (...). Das ist beinahe ein Genozidium." Der Arzt wurde auch auf der Homepage der heutigen Regierungspartei Fidesz (damals noch in der Opposition) zitiert (vgl. den Beitrag) "Egeszsegügyi reform - Ostobasag vagy tudatos nepirtas?").l1 Auch das Wort "Hungarocidium"12 wurde immer wieder im Zusammenhang mit der sozialliberalen Koalition genannt, der unterstellt wird, sie wolle "den Untergang des Magyarentums und der magyarischen Nation". Im Grunde wird von den völkischen Parteien und den völkisch Denkenden die gesamte ungarische Linke als "verjudet" angesehen. So sagte selbst Viktor Orbän im Jahre 2005 in Rumänien anlässlich einer Versammlung Folgendes (vgl. den Beitrag "Orbän a valaszmsokra hangolta közönseget Tusnädfürdön" vom 26.7.2005): "In Ungarn ist der nationale Lebenswille nicht stark genug (...). Wenn die Linke ab und zu dazu die Möglichkeit bekam, griff sie ihre eigene Nation an. So wurden die ihrigen 1919 durch Bela Kun angegriffen und so hat auch Räkosi seine Arteigenen angegriffen. Genau dies taten in der neuzeitlichen Ausgabe diejenigen, die die Revolution 1956 niederschlugen. Zwar nicht mit den gleichen Mitteln, aber auch die gegenwärtige Regierung griff unsere Nation an (...). Die Linke müsste eine nationale Wende vollziehen (...). Sie hat aber genetisch oder eher wegen ihrer historischen Determination dazu wenig Chancen."13
Wurde vorhin der Ausdruck Tätertransfer benutzt, so kann man in diesem Fall von einem Opfertransfer sprechen, wenn also der Status der Holocaustopfer auf das Magyarentum übertragen wird. Auch das erscheint in der Ausstellungskonzeption des Hauses, allerdings nicht deklariert, sondern ikonografisch. An erster Stelle sei das bekannte Motiv des Viehwagons zu nennen, das inzwischen sinnbildlich für Auschwitz und damit für den Holocaust steht. Der Genozid an den Juden ist zu einer globalen Metapher für das Böse geworden; den Inszenierungen unterliegen die Traumata vom Holocaust beziehungsweise die traumatisierten Bil11 12 13
Deutsch: "Gesundheitsreform - Blödsinn oder bewusster Völkermord?" (unter http://www./idesz. huJindex.php?Cikk=80636). Das Wort nannte Dr. Anna Szöör, führendes Mitglied des Civil Jogäsz Forum (Ziviles Juristisches Forum), in einer Gesprächsendung von Budapest TV (,,zu Gast bei Dr. Csaba Ilkei" am 10.6.2009). Deutsch: "Orbän stimmte sein Publikum auf die Wahlen ein" (unter http://hvg.hu/ vilag/20050726balvanyos).
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der vom Holocaust. Diese haben sich inzwischen auch verselbstständigt, bilden die Einzelelemente einer "Ikonographie des Holocausts" und werden universell verstanden. Ein solches universell verstandenes Motiv ist das des Zuges (Abbildung 4), das hier transferiert und für den Gulag übernommen wurde: Der so genannte Gulag-Raum, ist so gestaltet, als ob wir uns, das heißt die Besucher, die Magyaren, im Viehwagon befinden würden (Abbildung 5). Der Raum ist dunkel gehalten, das Licht dringt nur durch die Schlitze, an den Seitenwänden sind Monitore wie Fenster eingebaut und in bestimmten Abständen fängt der Viehwagon an, quasi mit uns loszufahren, indem in den Monitor-Fenstern die vorbeiziehende Landschaft zu sehen ist. Ebenso transferiert wurde das berühmte Motiv "Eingang ins Konzentrationslager", das im Haus des Terrors für den Gulag steht (vgl. Abbildung 6 und 7). Und auch das von den Holocaust Memorial Centers bekannte Motiv der "Gedenkwand der Opfer" mit den Aufzählungen der Namen wurde übernommen und im ,,Raum der Tränen" verwirklicht (vgl. Abbildung 8 und 9).
Abbildung 4: Wagon nach Auschwitz
Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/US_Holocaust_Memorial_Museum
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Abbildung 5: Gulag-Ausstellungsraum
Quelle: eigene Fotografie.
Abbildung 6: Aufschrift ,,Arbeit macht frei"
Quelle: Internetseite der StaatlichenAUBchwitz-Gedenkstätte in Polen (unter http://forsttu-muenchen. deI-refo/tradukoj/aUBchwitzldelmuzeumlindex.html).
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Abbildung 7: Aufschrift "In der Sowjetunion zu arbeiten, ist eine Sache der Ehre"
Quelle: eigene Fotografie.
Abbildung 8: Gedenkwand der Opfer im Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest
Quelle: Intemd:zeitung Parameter (unter http://www.param.eter.sklrovatlkulturaJ2009/0l/27/ma-van-
nemzetkozi.-holokauszt-emleknap).
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Abbildung 9: ,,Raum der Tränen" im Haus des Terrors
Quelle: www.terrorhaza.hu
3.4 Die wissenschajiliche Leitung des Hauses Wenn wir uns nun die Personen anschauen, die für die Konzeption des Hauses des Terrors verantwortlich sind, dann sehen wir auch in dieser Hinsicht eine Bestätigung. Die Direktorin des Museums ist Dr. Maria Schmidt, die während 1998 und 2002 erste Beraterin des damaligen Ministerpräsidenten Viktor Orbän war und als Historikerin den Holocaust relativiert. So schrieb sie 1999 zum Beispiel Folgendes (Schmidt 1999): "Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Vö1kermord. So leid es uns auch tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der bei keinern der Gegner das Kriegsziel war (...). Es muss auch festgehalten werden, dass die Alliierten Nazi-Deutschland auf keinen Fall deshalb den Krieg erklärt hatten, um die geplante völkerrnörderische Politik gegen die Juden zu verhindern. Sie hatten weder vor, die Vertriebenen aufzunehmen, noch sie zu schützen. Daher ist flir sie nichts Außergewöhnliches, mit anderen Worten Unikates, passiert. In unserem Jahrhundert (...) ist ja eine ganze Reihe von Massenmorden und Genoziden passiert, wobei diese von der Außenwelt mit oder ohne Anteilnahme, aber bewusst wahrgenommen wurden. Ebenso wusste die Welt - jedenfalls die Interessierten oder die Betroffenen -, was seit der bolschewistischen Revolution in dem die Neue Welt verheißenden sozialistischen Russland, Sowjet-Russland bzw. in der Sowjetunion, passierte. Die kommunistischen Regimes haben im Interesse der Festigung ihrer Herrschaft die Massenmorde zur wirklichen Regierungsmethode erhoben."
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Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für das 21. Jahrhundert, das das Haus des Terrors unterhält, ist Tamas Fricz, der immer wieder, so zum Beispiel Anfang 2009, nachdem ein Roma-Vater und sein kleiner Sohn bei einem rassistischen Anschlag ermordet wurden, vom ,,Antimagyarismus" in Ungarn spricht (Fricz in Napi Aktuälis aufEcho TV am 4.3.2009). Eines der Mitglieder im Aufsichtsrat der das Museum betreibenden Stiftung ist überdies der Staatssekretär für Minderheiten und frühere Präsident des Komitees für Menschenrechte im Parlament, Pfarrer Zoltän Balog, nach dessen immer wieder kommunizierter Meinung die Menschenrechte nicht nur für die Minderheiten gelten, sondern auch für die Mehrheit (vgl. ,,Az emberi jogok mindenkit megilletnek" auf der Homepage der Partei FideszBürgerliche Union).14 Dass zudem das Haus des Terrors im Kleinen den fließenden Übergang zwischen großen völkischen Parteien und den äußersten, extremen Rechten in der Gesellschaft widerspiegelt, zeigt die Person des Kuratoriumsmitglieds und Politologen Laszlo Toth Gy, der bis vor kurzem zugleich der Vorsitzende im Redaktionskomitee der rechtsradikalen Internetzeitung der Partei Jobbik war (www.barikad.hu).
4. Fazit Wie in den vorliegenden Ausführungen aufzuzeigen versucht wurde, ist das Schlüsselelement in der Konzeption des Hauses des Terrors die "Täter-Opfer-Umkehr" und innerhalb dieser der antikommunistische beziehungsweise der antiliberale Antisemitismus. Die Ausstellungskonzeption ist nicht einfach der angemessenen historischen Erinnerung verpflichtet, sondern nationaler Identität, weshalb sie den bitter nötigen gesamtgesellschaftlichen Konsens in Ungarn nicht nur nicht vorantreibt, sondern sogar verhindert. Durch die Tatsache, dass sie aus den Opfern Täter macht, bestärkt sie gerade diejenigen "wahren Magyaren" in ihrer Haltung, die sich von den "vaterlandslosen Verrätern" und "Fremden in der eigenen Heimat" (sprich "Juden") unterdrückt fiihlen. Durch diese vermeintliche ,,Anklage" wird die als legitim und notwendig empfundene Gegenwehr formuliert, die "uns" aus der "Judenknechtschaft" befreit. Diese Befreiung erlebte Ungarn mit den Parlamentswahlen 2010. Jetzt fordern die Regierungsparteien die ,,Abrechnung" mit den "Tätern".
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Deutsch: "Jeder hat das Recht auf Menschenrechte" (unter http://www.fidesz.hu/nyomtathato. php?Cikk=104846).
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Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten Tomasz Konicz
Das landläufige Klischee vom "erzkatholischen Polen" trifft zumindest am rechten Rand des politischen Spektrums dieses Landes immer noch zu. Mit ihrer engen Bindung an reaktionäre Teilorganisationen der römisch-katholischen Kirche stellen die dominanten Strömungen innerhalb der extremen Rechten Polens sicherlich ein spezifisch polnisches Phänomen dar, das zumindest bei der gegebenen Intensität der organisatorischen und ideologischen Verflechtung zwischen rechtem Klerus und rechter Politik kaum eine Entsprechung in Europa findet. Das Geschichtsbild der extremen polnischen Rechten ist stark von religiösnationalen Mythen und Vorstellungen geprägt. Eine zentrale Bedeutung flillt hierbei dem polnischen Messianismus zu, der Polen als ein von Gott auserwähltes Land imaginiert, dem aufgrund seiner entbehrungs- und opferreichen Geschichte innerhalb der universellen Gemeinschaft der katholischen Kirche eine besondere Rolle als "Christus der Völker" zukomme. Die Geschichte Polens erscheint vor allem als eine Leidensgeschichte, die der Passion Jesu Christi gleichgesetzt wird. Dieser national-religiöse Messianismus ist aufs Engste mit einer Opfermythologie verbunden, in der die polnische Nation die historische Rolle eines - moralisch überlegenen - Opfers einnimmt. Gerade durch diesen christusgleichen Opfergang werde Polen erneut auf dem Fundament katholischer Werte christusgleich auferstehen (vgl. Pufelska 2007: 29ff.). Diese Opfer- und Erlösungsmythologie ist eingebettet in einen Manichäismus, der Polen - wie eigentlich die gesamte Welt - als den Schauplatz eines Kampfes zwischen den "guten", nationalkatholischen Kräften des polnischen Patriotismus und den "bösen" nationalfeindlichen Heerscharen der Finsternis wahrnimmt. Als fremd und dem Polentum äußerlich werden nicht nur die Juden und die beiden übermächtigen Nachbarstaaten Deutschland und Russland wahrgenommen, sondern auch alle Denksysteme und sonstigen Vorstellungen, die den katholischen Moralvorstellungen wie auch der nationalkatholischen Ideologie zuwiderlaufen. Nachfolgend soll ein kurzer Überblick über Geschichtsbild, Geschichtspolitik, Entwicklungstendenzen und zunächst die maßgeblichen Kräfte und Parteien der klerikalen Rechten gegeben werden, die zwischen 2005 und 2007 immerhin an C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der rechtskonservativ-nationalistischen Regierung von Premierminister Jaroslaw K.aczynski beteiligt war. Rechtsextremismus wird dabei im Folgenden vor allem als ein "Extremismus der Mitte" verstanden, der insbesondere in Phasen der gesellschaftlichen Krise und des Umbruchs an Dynamik gewinnen kann. Bei den meisten ideologischen Versatzstücken rechtsextremer Ideologie handelt es sich um ins Extrem getriebene - und teilweise irrationalisierte - Elemente kultureller, politischer und ideologischer Vorstellungen und Werte, wie sie in der gegebenen kapitalistischen Gesellschaft dominant oder hegemonial sind. Ihre ideologische Vorstellungswelt und das korrespondierende autoritäre, homogene und als widerspruchsfrei imaginierte Gesellschaftsbild bezeichnen Rechtsextremisten zumeist als "naturgegeben" oder ,,natürlich". Zentral ist in wohl allen rechtsextremen Ideologien die Idealisierung der ,,zurichtung" des Individuums zum bürgerlichen Konkurrenzsubjekt im Kapitalismus. Der Konkurrenzkampf "Aller gegen Alle" im Kapitalismus wird zum "naturwüchsigen" Kampfder Nationen, Rassen oder Religionen irrationalisiert und idealisiert. Im Falle Polens fungiert dabei vor allem der Katholizismus als ideologischer "Resonanzboden", auf dem die rechtsextreme Ideologie erwächst. Es handelt sich in diesem Sinne um eine "Rebellion der Konformisten" oder "konformistische Rebellion", bei der die Rechtsextremen sich - oftmals in der Pose des "Underdogs" - einem verdinglichten oder personifizierten äußeren Feind gegenüber wähnen, mit dessen "zersetzenden" und fremdartigen Einfluss die krisenhafte oder transformatorische gesellschaftliche Dynamik in Zusammenhang gebracht wird, von der die Gesellschaft (unter Einsatz extremer Mittel) befreit werden müsse. Die Massenanhängerschaft der entsprechenden Gruppierungen stammt zumeist aus der "Mitte" der Gesellschaft, aus Klassen und Schichten, die sich in ihrem gesellschaftlichen Status bedroht sehen und in Krisenzeiten mit einer erheblichen Emphatisierung ihrer ideologischen Vorstellungen - wie auch der entsprechenden Praxis - fiir einen Fortbestand des Status quo (oder fiir eine Restauration idealisierter früherer Zustände) kämpfen. Gruppen und Parteien, die dies in militanter Weise und unter Einsatz von Gewalt wie Terror tun, werden fortan als faschistisch bezeichnet. Der Rechtsextremismus stellt somit eine ins Extrem gesteigerte Krisenform herrschender kapitalistischer Ideologie dar und kann folglich nicht radikal sein; er kann nicht, wie es bei Marx heißt, "die Sache an die Wurzel fassen".
1. Die polnische Rechte: Akteure und Triebkräfte Die wichtigste politische Gruppierung des katholisch-nationalistischen Spektrums stellt die Liga der polnischen Familien (LPR: Liga Polskich Rodzin) dar, die bei
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den Parlamentswahlen 2005 knapp acht Prozent der Stimmen erhalten hat. Der Parteichef der LPR, Roman Giertych, stellte im KaczyDski-Kabinett den Bildungsminister. Der LPR-Mann Piotr Farfal wiederum schaffte es bis zum Direktor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Polen (TYP). Publizistisch werden diese vom Medienimperium des Redemptoristen-Paters Tadeusz Rydzyk unterstützt. Dieser betreibt eine nationalkatholische, oftmals mit antisemitischen Ambitionen und wilden Verschwörungstheorien einhergehende Politik (vgl. "Die graue Eminenz" in Internetmagazin Telepolis vom 8.8.2007). Der katholische Medienkonzem Rydzyks umfasst unter anderen den Fernsehsender Trwam ("Ich harre aus"), den wegen seiner antisemitischen Inhalte bekannten Radiosender Radio Maryja, die Tageszeitung Nasz Dziennik ("Unsere Tageszeitung") und eine Medienakademie in Tonul, in der nationalkatholisch indoktrinierter Journalistennachwuchs ausgebildet wird. Daneben gibt es in Polen auch rechtsextreme Kräfte, die in ihrer ideologischen Ausrichtung den faschistischen Gruppierungen anderer Länder ähneln. Die wichtigste politische Partei stellt innerhalb dieses engen Spektrums die Nationale Wiedergeburt Polens (NOP: Narodowe Odrodzenie Polski) dar, die teilweise an die ,,klassische" nationalsozialistische Ideologie anknüpft, ohne sich jedoch gänzlich vom Katholizismus zu trennen, der selbst von der NOP als integraler Bestandteil des polnischen Nationalbewusstseins aufgefasst wird. Des Weiteren gibt es auch eine starke, gut vemetzte rechtsextreme Hooligan-Szene wie auch viele lose vernetzte und regional agierende Skinhead-Gruppen. Dennoch kann dieses Spektrum zumindest bei Wahlen als weitgehend marginalisiert betrachtet werden. So hat die NOP bei den letzten Parlamentswahlen 2007 gerade einmal 42 407 Wählerstimmen erhalten. l Diese faschistischen Kräfte konnten somit nicht vom Wählereinbruch der klerikalen Rechten profitieren. Die gesamte extreme Rechte Polens befindet sich somit in einer Krise, nachdem bei den Parlamentswahlen 2007 der Zuspruch zur Liga der Polnischen Familien von acht auf 1,3 Prozent der Wählerstimmen abgestürzt ist. Auch scheint die rechtsextreme Gewalt in Polen bei weitem nicht die Ausmaße zu erreichen wie beispielsweise in Ostdeutschland. Da die staatlichen Stellen in Polen diesbezüglich keine offiziellen Statistiken führen, gelten die von der antifaschistischen Organisation Nigdy Wi~cej ("Nie Wieder") erhobenen Zahlen als einzige zuverlässige Quelle. In ihrem Braunbuch ("Brunatna Ksi~ga") hat sie allein für das Jahr 2007 rund 130 Übergriffe oder Propagandade1ikte festgehalten, bei denen es teilweise zu schwerer Körperverletzung kam. Zum Vergleich: In Ostdeutschland zählte der
Hier die Wahlergebnisse in den Bezirken Bydgoszcz, TOnnl, Lublin, Gdynia (siehe http://wybory2007.pkw.gov.pl/).
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Verein Die Opferperspektive im selben Zeitraum 861 Fälle "rechtsextremer Aggression" (Nigdy Wi~cej/Opferperspektive2009: 17,20). Wenn im Folgenden das Geschichtsbild der extremen polnischen Rechten thematisiert wird, dann gilt es zu bedenken, dass es sich um eine ehemals einflussreiche politische Strömung handelt (vgl. "Die rechte Szene in Polen verliert an Bedeutung" in Internetmagazin Telepolis vom 25.1.2008), welche zumindest derzeit noch nicht von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise profitieren konnte, die in Polen im regionalen Vergleich bislang relativ schwach verlief. Selbst die rechtskonservative ehemalige Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (piS: Prawo i Sprawiedliwosc) der K.aczyilskis hat weiterhin mit niedrigen Um:fragewerten zu kämpfen; sie lag im Januar 2010 klar hinter der regierenden rechtsliberalen Bürgerplattform (pO: Platforma Obywatelska, vgl. hierzu "Platformajest climle mocna" in Rzeczpospolita vom 13.1.2010).
2. Geschichtsbild: Opfermythologie und Zweiter Weltkrieg Generell bemüht sich die extreme Rechte Polens, mit ihrer Ideologie wie auch tagespolitischen Propaganda an die eingangs kurz umrissenen nationalen Mythen anzuknüpfen, die sich im Zuge der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert herauskristallisierten. Der polnische Widerstands- und Opfermythos entwickelte sich dabei im Verlaufder - immer wieder von Aufständen erschütterten - Geschichtsperiode der Teilungen Polens2 , das der nationalen Mythologie folgend als ein "Christus der Völker"3 imaginiert wird: Die Passion Christi findet ihre Entsprechung im jahrhundertlangen "Opfergang" der polnischen Nation, in den heroisierten und romantisiertenAufständen gegen die Teilungsrnächte. 4 Diese nationale Mythologie ermöglichte es den polnischen Nationalisten, die Niederlagen bei diesen Aufständen zu verkraften und zu verklären. Erst in diesem historischen Kontext wurde die katholische Kirche in der polnischen Gesellschaft dominant und avancierte zum wichtigsten institutionellen Träger des sich herausbildenden polnischen Nationalbewusstseins. Die Kirche nahm als eine landesweit agierende Organisation schlicht 2 3
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Seit der dritten Teilung der polnischen Adelsrepublik: 1795 existierte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kein wirklich unabhängiger polnischer Staat. Kein Geringerer als der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz evozierte in seinem Dramenzyklus ,,Dziady" (,,Die Vorväter", deutscher Titel: ,,Die Ahnenfeier") diese mythische Vorstellung. Das während der Arbeit an diesem vierteiligen Werk zwischen 1823 und 1832 von den Teilungsmächten Russland, Österreich-Ungarn und Preußen besetzte Polen würde, laut Mickiewicz, nach seiner Passion letztendlich christusgleich wiederauferstehen. In der polnischen Geschichtsschreibung spielen vor allem der Novemberaufstand von 1830 und der Januaraufstand von 1863/64 eine herausragende Rolle. Heide richteten sich gegen das zaristische Russland.
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den Charakter eines Ersatzstaates fiir die staatenlose polnische Nation an. Hieraus schöpft der polnische Klerus noch immer seine moralische und politische Legitimation. Der kirchlich-institutionelle Rahmen, in dem sich der Prozess der polnischen Nationalstaatsbildung vollzog, lieferte somit das Fundament fiir die Vorstellung vom "Gottesstaat" Polen. Während im europäischen Vergleich die polnische Adelsrepublik bis zu ihrem Untergang im Jahr 1795 durchaus multikonfessionell geprägt war, da viele Adlige sich auch zu diversen protestantischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften bekannten5, ist das "katholische Polen" folglich vor allem ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Für die Persistenz dieses Opfermythos ist vor allem der Zweite Weltkrieg von besonderer Relevanz. Er gilt der polnischen Rechten als Kulminationspunkt der opferreichen Geschichte, wobei insbesondere der gescheiterte Warschauer Aufstand als Anknüpfungspunkt dient und im rechten Geschichtsbild in eine Reihe mit den Aufständen des 19. Jahrhunderts gestellt wird. 6 Die klerikale Rechte Polens sieht sich als Erbe und eigentliches Subjekt dieser Mythologie. Sie sei es, die auf diesem von göttlicher Vorsehung vorgezeichneten Weg als eine Art nationale Avantgarde voranschreitet. Das konservative wie rechtsextreme Geschichtsbild über den Zweiten Weltkrieg ist dabei von einem strikt totalitären Denken durchtränkt. Die Rechte Polens propagiert in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eine Art "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion. In Anlehnung an die Totalitarismustheorie kann konstatiert werden, dass keine substanzielle Unterscheidung zwischen der durch Massenmord gekennzeichneten deutschen Besatzungszeit und der Volksrepublik Polen als sowjetischem Satellitenstaat getroffen wird.? Die beiden übermächtigen Nachbarstaaten zielten demnach darauf ab, 5 6
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In Polen gehörten immerhin ca. zehn Prozent der Bevölkerung zum Adel (polnisch: Szlachta), in den meisten anderen europäischen Ländern lediglich ein bis drei Prozent (siehe beispielsweise Jäger-Dabek 2006: 34). Der Warschauer Aufstand sei zu einem "Mythos gewachsen", erklärte Polens rechtskonservativer und vor kurzem verstorbene Präsident Lech Kaczyilski anlässlich des 65. Jahrestages: "Bei den anderen Aufständen hat es ebenfalls nicht an Entschlossenheit gefehlt. Aber es ist nie vorgekommen, dass einige zehntausend sehr junge Menschen in den Kampf zogen mit einer bis an die Zähne bewaffneten Armee, die karnpfgestählt war." Er habe die Hoffnung, dass dieser Mythos "ewig in unser Geschichte bleiben" werde, betonte Kaczyilski (siehe ,,Kaczyilski: Powstanie zasluZylo na sw6j mit" in Gazeta JJYborcza vom 2.8.2009). Der rechte Publizist J6zef Szaniawski schrieb beispielsweise: "Zwei totalitäre Banditen - Adolf Hitler und Josef Stalin - tragen die gleiche Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (...). Man muss mit allem Nachdruck betonen: Beide Regimes - das Hitler'sche und das sowjetische - waren linke politische und ideologische Systeme." Den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion verglich er mit ,,(...) dem Kampf zweier Gangster, die zuerst gemeinsam eine Bank überfallen, sich dann um die Beute streiten und anschließend aufeinander schießen". Doch eigentlich habe Stalin den Zweiten Weltkrieg von langer Hand geplant, so Szaniawski:
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die polnische Nation auszulöschen, so der Tenor der extremen Rechten: physisch im Falle Deutschlands, kulturell- durch die "Sowjetisierung" - im Falle der Sowjetunion. 8 Das ambivalente Verhältnis vieler Polen zur sowjetischen Befreiung von der deutschen Okkupation, die in die anschließende Gründung eines Satellitenstaates mündete, soll durch eine Gleichsetzung zwischen der Sowjetunion und dem faschistischen Deutschland ausgehöhlt und schließlich überwunden werden. Dieses Geschichtsbild erfllhrt eine tagespolitische Instrumentalisierung durch die polnische Rechte. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg fungiert als Mittel zur Belebung antideutscher und antirussischer Vorurteile wie auch antisemitischer Ressentiments; Letztere insbesondere in Wechselwirkung mit einer geschichtspolitischen Opferkonkurrenz, in deren Verlauf polnischem Leiden und der Opferrolle Polens im Zweiten Weltkrieg eine zentrale Stellung eingeräumt und der Holocaust an den Juden Europas entweder ausgeblendet oder marginalisiert wird. Diese aus machtpolitischem Kalkül betriebene, rechte Geschichtspolitik dient somit vorrangig der Verbreitung und Mobilisierung der eigenen Wählerbasis und ist daneben zugleich auch identitätsstiftend, indem sie den polnischen Opfermythos bestätigt und reproduziert.
3. Antideutsche Geschichtspolitik im Spannungsverhältnis zwischen klerikal-nationalistischer und faschistischer Orientierung Ähnliches gilt aber umgekehrt auch für die deutsche Seite. Rechte und revisionistische Gruppierungen in Deutschland und Polen betätigten sich in den letzten Jahren als Aggressoren der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern. Von herausragender Bedeutung ist hierbei der Fall der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die trotz erbitterter polnischer Opposition auf einen Sitz im Stiftungsrat des Berliner Zentrums gegen Vertreibungen
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"Um die Jahreswende 1938/39 hat Stalin im engen Führungskreis des Politbüros der Bolschewistischen Partei einen weitgehenden Plan zum Entfachen des Zweiten Weltkrieges formuliert" (vgl. ,,1 wrzeSnia - pamill;tamyl 69. TOcznica wybuchu II wojny ~wiatowej" in Nasz Dziennik vom 1.9.2008). Der rechtskatbolische Publizist Jerzy Robert Nowak interpretiert die in der stalinistischen Periode eingeleitete "Sowjetisierung" als "einen gnadenlosen Kampfmit den [polnischen; T.K.] nationalen Traditionen in Kultur und Wissenschaft, mit dem Polentum". Zur Benennung der angeblichen Zielsetzung der Sowjetisierungskampagne zitiert er zustimmend die polnische Schriftstellerin Maria D~rowska: "Von den Deutschen drohte Polen die biologische Ausrottung, aus Moskau - hundertmal schrecklicher - die geistige und moralische" Ausrottung (siehe beispielsweise "Czerwone dynastie - Rodzina Bierutow" in Nasz Dziennik vom 22.7.2009).
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beharrte. 9 Sobald dieses Ansinnen Steinbachs Anfang 2009 öffentlich wurde, geriet die rechtsliberale Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk unverzüglich unter Druck von Seiten der polnischen Rechten, die dank massiver antideutscher Rhetorik erneut zu erstarken drohte. Tusk und der Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung, Wladyslaw Bartoszewski, sahen sich infolgedessen im Februar 2009 zu scharfen diplomatischen und öffentlichen Reaktionen gegenüber Berlin genötigt. 10 Die revisionistischen Zirkel in Deutschland und die polnische Rechte schaukeln sich bei diesen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen gegenseitig hoch, sie profitieren indirekt von den Provokationen der jeweils anderen Seite. Die antideutsche Geschichtspolitik der polnischen Rechten war dabei über einen langen Zeitraum relativ erfolgreich. Die Gründe für diesen mit der Instrumentalisierung des Zweiten Weltkrieges verbundenen Erfolg liegen schlicht in der ungeheuren Brutalität der deutschen Besatzung. Diese Tatsache wird aber aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und zu einem ewigen Wesensmerkmal des ,,Deutschtums" ideologisiert, sodass Polens Rechte auftatsächlich von Deutschen begangene Gräuel propagandistisch zurückgreifen können. In dieser "polnischen Ideologie" droht jederzeit ein erneuter Überfall der Deutschen: eine permanente Vorkriegssituation, die permanente Wachsamkeit und Mobilisierung erfordert. 11 Das zentrale Moment dieser Ideologie bildet folglich eine "ewige", über Jahrhunderte fortbestehende - und nur die konkreten historischen Erscheinungsformen wechselnde - deutsche Bedrohung. Der Zweite Weltkrieg wird als Höhepunkt eines überhistorischen, das "Germanentum" als solches konstituierenden "Dranges nach Osten" begriffen: von der Ostkolonisation im Mittelalter über die Kreuzritter, das Preußentum bis hin zu Hitler-Deutschland. Aktuell wird deshalb zum Beispiel auch die starke Position deutscher Unternehmen in mehreren Wirtschaftszweigen Polens in diesen Kontext gestellt. 12 Infolgedessen wird auch das heutige 9 10
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Allein aufgrund ihrer Ablehnung, die Oder-Neiße-Grenze bei der entsprechenden Abstimmung im Deutschen Bundestag 1990 anzuerkennen, ist Steinbach für die polnische Seite absolut inakzeptabel. Im Vorfeld seiner Mitte Februar absolvierten Deutschland-Visite hat der Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebende Bartoszewski die Beteiligung Steinbachs am Berliner Vertriebenenzentrum scharfkritisiert: Eine Mitwirkung Steinbachs im Gründungsrat des Zentrums sei so, als ob der Papst den Holocaust-Leugner BischoffWilliamson zum Beauftragten für die Beziehungen mit Israel ernannt hätte (siehe "Ein Kämpfer mit neuem Feindbild" in FAZ vom 2.3.2009). Die Allgegenwart der ewigen deutschen Bedrohung in der nationalkatholischen Ideologie lässt sich anband unzähliger Artikel in der Tageszeitung Nasz Dzienniknachweisen, so beispielsweise mit ,,Przyklejeni do Bundesbanku" vom 19.9.2007, "Gazocillg zagraZa suwerennosci Polski" vom 16.5.2008, "Odszkodowania za Ziemie Odzyskane" vom 7.1.2010, "Weimarskie resentymeuty wsp6lczesnych Niemiec" vom 8.-9.8.2009 oder auch ,,Polskie srodowiska naukowe powinny zaprotestowae" vom 13.-14.8.2008. Deutsche Konzerne konnten vor allem bei den Printmedien (der Springer-Verlag veröffentlicht mit dem Bild-Ableger Fakt die auflagenstärkste Tageszeitung Polens und die Passauer Neue
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Polen von der klerikalen Rechten als fremdbestimmt - als gewissermaßen "okkupiert" - wahrgenommen. In ihrem eigenen Land seien die Polen eine durch "ausländische Kräfte" entmachtete und einflusslose Masse. Neben Deutschland sind es wahlweise Russland, die EU oder Israel, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Die Rechte sieht Polen durch einen moralischen, wirtschaftlichen und politischen Ausverkauf bedroht. 13 Hierbei werden sehr deutlich Analogien zur Teilungszeit und vor allem zum Zweiten Weltkrieg gezogen. Dennoch weisen Teile der polnischen Rechten - hier insbesondere die offen faschistisch auftretenden Gruppierungen und Strömungen - ein durchaus widersprüchliches Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg und insbesondere zum deutschen Faschismus auf: Die antideutsche Rhetorik dient einerseits als wichtiges politisches Instrument. Die Rechte sieht sich als Hüter und Verteidiger der Interessen Polens gegen äußere Feinde. Anderseits herrscht kaum verhohlene Bewunderung für den deutschen Faschismus am rechten Rand der polnischen Rechten vor und darüber hinaus gibt es auch personelle Überschneidungen zwischen dem klerikal-nationalistischen und dem faschistischen Spektrum. Der geschichtspolitische Zwiespalt äußerte sich bereits in etlichen Affären und Skandalen. Bei der "Ein-Bier-Affäre" haben sich beispielsweise stark alkoholisierte Mitglieder der LPR-JugendorganisationAllpolnische Jugend (Mlodziez Wszechpolska) beim Zeigen des Hitlergrußes in einer Kneipe fotografieren lassen ("LPR: Kto jeszcze bawil sil( w nazistl(" in Gazeta Wyborcza vom 2.11.2005). Nachdem dies ausgerechnet die Springerzeitung Fakt publiziert hat (Fakt vom 29.130.10.2005 und vom 8.12.2005), meinte Giertych, "seine Jungs" hätten einfach nur "ein Bier" bestellen wollen. Ein weiterer Skandal erschütterte die LPR, nachdem Mitglieder der Allpolnischen Jugend an einer Nazi-Party teilnahmen, bei der Hakenkreuze und andere nationalsozialistische Symbole Verwendung fanden. Diese andauernden Vorfiille führten schließlich zum Bruch zwischen der LPR und der Allpolnischen Jugend im Jahr 2007 (siehe ,,Mlodziez Wszechpolska zostanie zlikwidowana" in Gazeta vom 26.10.2007).14 Und die offen faschistische Nationale Wiedergeburt Polens (NOP) wiederum hat etwa indirekt der NPD zu ihrem Wahlsieg in Mecklenburg-Vorpommern gratuliert: Die NOP ist im europäischen Nazi-Netzwerk International Third Position vertreten. Dessen ChefRoberto Fiore gratulierte der NPD im Jahr 2006 im Namen
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Presse hat den Markt fiir polnische Regionalzeitungen nahezu monopolisiert) und im polnischen Einzelhandel (die Metro-Gruppe gilt als einer der größten privaten Arbeitgeber Polens) starke Positionen aufbauen. ,,Ein Prozent" der Bevölkerung Polens zählte Tadeusz Rydzyk beispielsweise während einer Sendung des Radios Maryja vom 1.9.2005 zur "Oligariche": ,,(...) hiervon halten diese Reichtümer zu 70 Prozent Juden und Deutsche", behauptete er weiter (http://www.radiomaryja.pl.eu. org/nagrania/2005090 l-rydzyk/20050901-rydzyk.html). Unter www.gazeta.pl.
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der in seinem Netzwerk vertretenen Parteien zum Wahlerfolg. Laut der Zeitschrift Nigdy Wi~cej soll es außerdem auch ein Treffen im Rahmen einer Sommerakadernie zwischen NPD und NOP gegeben haben. 15 Mitglieder der NOP erklärten darüber hinaus bereits 1999 gegenüber polnischen Medien, auch von ausländischen "Freunden" aus Frankreich, Spanien und auch Deutschland finanziert zu werden. Es gibt dabei vereinzelt auch explizite ,,Hitler-Fans" unter Polens Faschisten, die offensiv Hitler als großen Politiker feiern und den Zweiten Weltkrieg als eine ,,Fehlentwicklung" zu verharmlosen suchen (vgl. zum Beispiel auch den polnischen Dokumentarfilm "My - Polska Rasa"). Daneben betrachte man schließlich noch den bekanntesten polnischen Historiker, den im März 2009 verstorbenen Pawel Wieczorkiewicz, der als Apologet Nazi-Deutschlands auftrat, Mitarbeiter der Warschauer Universität war und eine eigene Fernsehsendung im polnischen Fernsehen hatte. Dieser meinte, Polen hätte mit Hitler-Deutschland gemeinsam die Sowjetunion angreifen sollen. Hierzu wäre es notwendig gewesen, Nazi-Deutschland Danzig zu überlassen. Hitler sei ein großer Staatsmann gewesen, der Holocaust-Leugner David Irving sei ein großer Kenner des Zweiten Weltkrieges, so Wieczorkiewicz in einem Interview für das rechte Magazin Templum Novum. 16 Symbolfigur dieser fließenden Übergänge zwischen der faschistischen und klerikal-nationalistischen Rechten ist der eingangs erwähnte Piotr Farfal, der ehemalige Direktor des polnischen öffentlichen Fernsehens, der erst nach langwierigen Auseinandersetzungen von der derzeitigen rechtsliberalen Regierung im September 2009 entmachtet werden konnte. I? In seiner Jugend war er in der NOP organisiert und publizierte im antisemitischen Hetzblatt Szczerbiec. Hiernach wechselte er zur LPR. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Beziehung zwischen Farfal und Wieczorkiewicz. Laut Nigdy Wi~cej lieferte Wieczorkiewicz Expertisen an Farfal während eines Gerichtsverfahrens, in dem die rechtsextreme Vergangenheit des Fernsehdirektors verhandelt wurde. Die Rechte ist letztlich auch an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um Intensität und Auswirkungen des polnischen Antisemitismus während und nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Rechte Publizisten und Medien übten beispielsweise in den vergangenen Jahren insbesondere heftige Kritik an den Büchern des polnisch-amerikanischen Sozialwissenschaftiers Jan Tomasz Gross. In den Werken "SltSiedzi" ("Nachbarn") und "Strach" ("Angst") setzt sich dieser mit dem Pogrom von Jedwabne und dem polnischen Antisemitismus in der Nachkriegszeit ausein15 16 17
Siehe ,,NOP, ,PATRIOCI' i FOLKSDOJCZE" in Nigdy Wi~cej (www.nigdywiecej. org). Siehe ,,AdolfHitler wybitnym m~m stanu?" (www.tvn24.pl; 3.2.2009). Siehe "Jest nowy prezes TYP, ale odbije sil( od drzwi" (www.tvn24.pl; 19.9.2009).
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ander (Gross 2000, 2008; für einen Überblick vgL Lesser 2001: 363ff.). Jerzy Robert Nowak, ein rechter Publizist aus dem Umfeld von Radio Maryja, tat sich bei der Kritik an Gross besonders hervor. Er polemisierte in seinem Buch "Die hundert Lügen von Jan Gross" unter Rückgriff auf antisemitische Stereotype gegen dessen Publikationen (Nowak 2001a). Gross habe sein Werk im Auftrag jüdischer Organisationen geschrieben, die Entschädigungen für Enteignungen und erlittenes Unrecht von Polen erstreiten wollen, so Nowak. 18 Auch an dieser geschichtspolitischen Front bemüht sich die polnische Rechte, in eine Opferrolle zu schlüpfen. Innerhalb rechter Medien findet oftmals der antisemitische Vorwurf an "die Juden" Verbreitung, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Sowjetunion bei der Besetzung Polens ,,kollaboriert" zu haben (Nowak 2001b: 9). Hierbei werden einfach diejenigen kommunistischen Funktionäre oder Mitglieder des Sicherheitsapparates der Volksrepublik Polen als ,,Beleg" angeführt, die eine jüdische Herkunft aufweisen. Für die polnische Rechte galt und gilt es als erwiesen, dass eine jüdisch dominierte "Judäo-Kommune" (Zydokomuna) Polens "Patrioten" seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterdrückt hat (Szaynok 2005: 269; Pufelska 2007: 164ff.). Bagatellisiert oder schlichtweg geleugnet wird der aggressive Antisemitismus vieler nationalistischer und antikommunistischer Gruppierungen in Polen, der vor allem in der Phase der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen 1945 und 1948 virulent war und noch viele Auschwitzüberlebenden in Polen das Leben kostete.1 9
4. Ausblick: Entwicklungstendenzen des katholisch-nationalistischen Spektrums sowie ideologischer Wandel und europäische Vernetzung der faschistischen Rechten Im katholisch-nationalistischen Spektrum entspringt der Wählerzuspruch für Parteien wie die LPR vor allem aus einem katholischen, kleinstädtischen oder bäuerlichen Milieu, das sich inzwischen hauptsächlich aus älteren Menschen zusammensetzt. Tendenziell befindet sich die klerikale Rechte im Niedergang, wie dies 18
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Im ersten Absatz der Einleitung seines Buches behauptet Nowak unter Berufung aufAussagen von "Prof. Nonnan Finkelstein", dass jüdische Organisationen von Polen ca. 60 Milliarden USDollar an Entschädigung flir enteignetes und konfisziertes jüdisches Eigentum "erpressen" wollen. "Um den Druck auf Polen in dieser Sache zu verstärken, verstärkt man seit Jahren weltweit eine giftige antipolnische Propaganda, in der versucht wird, die Polen als angebliche Mittäter der Deutschen bei dem Judenmord darzustellen. In dieser Propaganda nehmen die tendenziösen und polenfresserischen Texte des jüdischen Soziologen aus den USA Jan Tomasz Gross eine zentrale Rolle ein ( ...)" (siehe http://www.jerzyrobertnowak.com/ksiazki/100_klamstw..Nossa.htm).
So wurden beispielsweise während des Pogroms von Kie1ce am 4.7.1946 42 Juden getötet (vgl. Szaynok 1992).
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auch die jüngsten Wahlergebnisse widerspiegeln. 2o Infolgedessen verblasst auch das Geschichtsbild der polnischen Rechten. Die Menschen in den Großstädten wie auch die Jugend wählten bei den letzten Parlamentswahlen in Polen überwiegend die rechtsliberale Bürgerplattfonn. Aufdie polnische Rechte mag das Klischee des katholischen Polens damit noch zutreffen, in weiten Teilen der polnischen Gesellschaft nimmt aber der Einfluss der katholischen lUrche wie auch der rechtsklerikalen Ideologie spürbar ab (vgl. "Polen fällt vom Glauben ab" in Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2010). Für die Zukunft stellt sich deshalb die Frage, ob es einer modernen rechtsextremen Partei in Polen gelingt, auch junge Wählerschichten zu erschließen und den weiterhin bestehenden Ressentiments und Vorurteilen einen politisch-organisatorischen Ausdruck zu verleihen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass trotz der geschilderten Wahlniederlagen der LPR die klerikale Rechte immer noch die mit Abstand wichtigste und größte politische Strömung rechts von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) darstellt. In der Dominanz der nationalistisch-katholischen Strömung liegt auch die Spezifik der polnischen Rechten, die bislang eine europaweite Vemetzung dieser Gruppierungen - ausgenommen der punktuellen Zusammenarbeit im Europaparlament, etwa beim Kampf gegen die Evolutionstheorie (vgl. zum Beispiel Giertych vs. Darwin in internetmagazin Telepolis vom 30.10.2006) - ungemein behinderte. Es fehlte der LPR europaweit schlicht an ideologisch ähnlich ausgerichteten Gruppierungen, die mit ihr im Europaparlament in der Periode 2004-2009 hätten zusammenarbeiten können. Symptomatisch für diesen Isolationismus ist der anfangs vollzogene Beitritt der LPR zur im EU-Parlament am stärksten europakritisch ausgerichteten Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie. Eine Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremen Gruppierungen, die dieses religiös durchtränkte Weltbild der LPR nicht teilen, war folglich schwierig oder gar - vor allem bei deutschen Rechtsextremen - undenkbar. Anders verhält es sich bei den offen faschistisch agierenden Gruppierungen, die auch eine größere ideologische Schnittmenge mit anderen europäischen rechtsextremen Strömungen aufweisen. Die NOP engagiert sich, wie bereits erwähnt wurde, durchaus in internationalen Nazi-Netzwerken und kooperiert sogar mit deutschen Faschisten. Neben der ähnlichen ideologischen Ausrichtung, die bei diesen sich oftmals selbst als nationalsozialistisch bezeichnenden Gruppierungen gegeben ist, spielen adaptierte und rassisch modifizierte, neurechte Konzeptionen wie die 20
So zum Beispiel das Wahlergebnis der Parlamentswahlen von 2007, bei der die LPR nur noch 1,3 Prozent der Stimmen erreichte (http://wybory2007.pkw.gov.pl/). Und bei den Wahlen zum Europaparlament 2009 konnten die beiden nationalkatholischen Gruppierungen Libertas Polska und Prawica Rzeczypospolitej gemeinsam gerade einmal drei Prozent aller Stimmen erringen (http://pe2009.pkw.gov.pl/PUE/PLIWYN/W/index.htm).
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des "Ethnopluralismus" bei der europaweiten Vernetzung eine zentrale Rolle. Diese modifizierte rassistisch-pluralistische Europakonzeption zugrunde legend wird allen "homogenen" Völkern ein Existenzrecht im Rahmen ihrer "angestammten" Territorien zugestanden. Der dabei implizit mitgeführte faschistische Volksbegriff weist aber immer noch eine starke rassistische Konnotation auf. Der "Modernisierungsschub" in dieser Konzeption besteht aber insbesondere im Wandel der Feindbilder: Der Schwerpunkt verlagert sich von einem national fixierten Feindbild, das die Bevölkerungen anderer Staaten als zentrale Bedrohung ausmacht, hin zu einem Kampf gegen supranationale oder nicht-nationale Kräfte, Organisationen, Institutionen oder Minderheiten, die auf eine ,,zersetzung" der (oftmals rassisch definierten) "natürlichen" Volksgemeinschaften hinarbeiten würden. Ein ganzes Sammelsurium von Feindbildern, seien es die EU, das Finanzkapital, die zunehmenden Migrationsströme oder bestimmte Minderheiten - hier insbesondere die Juden oder auch die Roma -, können ein einigendes "Band des Hasses" zwischen den faschistischen Bewegungen unterschiedlicher Länder begründen. Zweifelsohne spiegelt diese Ideologie dabei zu großen Teilen den europäischen Integrationsprozess wie auch die Auswirkungen der Globalisierung rassistisch verzerrt wider. Im Augenblick ihrer drohenden ,,Auslöschung" scheinen den Faschisten nun alle angestammten Völker Europas gleich wertvoll: Grenzüberschreitend will die völkische Internationale die Volksgemeinschaften Europas vor den Erosionsprozessen durch die oftmals personifizierten (Juden, Roma) und verdinglichten (die EU) antinationalen Feinde bewahren. Folglich ist die europaweite Verflechtung bei den extremsten, faschistischen Gruppierungen Osteuropas bereits weit vorangeschritten. Wie sehr ein einigendes "Band des Hasses" zur Überwindung nationaler Animositäten zwischen den sich als nationalsozialistisch bezeichnenden Gruppierungen beitragen kann, wurde Anfang August 2009 in der ostslowakischen Ortschaft Sarisske Michalany offenkundig. Dort haben sich slowakische, tschechische und sogar ungarische Neonazis während einer verbotenen Demonstration gegen die Minderheit der Roma gemeinsam eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert. 21 Bezeichnend ist dabei insbesondere die Teilnahme ungarischer Faschisten, gelten doch die Beziehungen zwischen der Slowakei und Ungarn aufgrund schwelender Minderheitenkonflikte als schwer belastet (vgl. etwa "Spannungen zwischen Ungarn und Slowakei" in Welt vom 12.11.2008). Selbstverständlich bestehen daneben auch zwischen slowakischen und polnischen Faschisten enge Kontakte. 22 21 22
Siehe hieIZu den Artikel "Slowakei: Neonazis liefern sich Straßenschlacht mit Polizei" auf dem antifaschistischen Portal Recherche Nord (http://recherche-nord.com). So nahmen am 14.3.2010 Mitglieder der polnischen faschistischen Partei Falanga an einer Demonstration und Kundgebung der faschistischen Slowakischen Gemeinschaft (Slovenslci
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In Osteuropa werden diese rechten Vemetzungsprozesse insbesondere durch den Erfolg der ungarischen faschistischen Partei Jobbik vorangebracht, deren militante politische Strategie auf die Entfachung ethnischer Konflikte mit der Minderheit der Roma abzielt und von den faschistischen Gruppierungen in Tschechien und der Slowakei kopiert wird. Die Minderheit der Roma dient hierbei als das gemeinsame handgreifliche Feindbild, als das gemeinsame Hassobjekt, das die Kooperation in Pogrom und Hetze auch konkret werden lässt. Daneben bestehen auch Kontakte zwischen deutschen Autonomen Nationalisten und entsprechenden faschistischen Gruppierungen Tschechiens und Ungarns (siehe "Rassismus und Rechtsextremismus gedeihen in Osteuropa" in Internetmagazin Telepolis vom 18.5.2009). Es sind somit vor allem militant faschistische Gruppierungen der extremsten Rechten, die zumindest in Osteuropa die Herausbildung europäischer Organisationsstrukturen vorantreiben.
Literatur Gross, Jan Tomasz, 2008: Strach. Antysemityzm w Polsce tuZ po wojnie. Historia moralnej zapasci. Krakow. Ders., 2000: SllSiedzi. Historia zaglady ~dowskiego miasteczka. Sejny: Pogranicze. Jäger-Dabek, Brigitte, 2006: Polen: eine Nachbarschaftskunde für Deutsche. Berlin: Ch. Links. Lesser, Gabriele, 2001: Die ,,1edwabne-Dislrussion" in antisemitischen und rechtsextremen Medien, TransOdra 23: 363-379. Nigdy Wi~ej und Opferperspektive (Hg.), 2009: Hate Crime Monitoring and Victim Assistance in Poland and Germany. Warschau u.a. (pdf-downioad unter http://www.opferperspektive.de/ Home/873.html). Nowak, Jerzy Robert, 200 la: 100 ldamstw J.T.Grossa 0 :zydowskich Sllsiadach i Jedwabnem. Warszawa. Ders., 2001b: Kogo musZllPrzeprosic Zydzi. Warszawa. Pufelska, Agnieszka, 2007: Die "Judäo-Ko=une" - ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948. Paderbom: Schöningh. Szaynok, Bozena, 2005: Antisemitism in Postwar Polish-Jewish Relations. S. 265-283 in: Robert Blobaurn (Hg.): Antisemitism and its opponents in modem Poland. New York: Comell University Press. Dies., 1992: Pogrom Zyd6w w Kielcach: 4. vn 1946r. Warszawa. Pospolitost') teiL Der Führer der Falanga, Bartosz Bekier, rief seinen Kameraden während einer Ansprache die "wachsende Gefahr seitens der antikatholischen und antinationalen bürokratischen Diktatur der Europäischen Union" in Erinnerung (,,14 m AD 2010 Falanga na Slowacji", http:// www.falanga.boo.pl/).
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken im Elitendiskurs des postsowjetischen Russlands Eine spektralanalytische Interpretation der antiwestlichen Wende in der Putin'schen Außenpolitik! Andreas Umland
Die im öffentlichen Diskurs als auch in der politischen und teils akademischen Spezialistengemeinde vorherrschenden Erklärungen für den mit jedem Jahr tiefer gehenden Wandel im russischen politischen Handeln sowie außenpolitischen Denken lassen sich in zwei Gruppen teilen: personalistisch-biographische Ansätze einerseits sowie geschichtsphilosophische Interpretationen andererseits. Analysten, die ersteren Ansatz vertreten, konzentrieren sich auf die Biographien der wichtigsten Entscheidungsträger, etwa aufden KGB- und/oder militärischen beziehungsweise polizeilichen Hintergrund der dominanten Führungseliten nach Boris EI'cin. Historiosophisch orientierte Interpreten hingegen entwickeln ein "tiefes" Verständnis der russischen Politik und bewerten den jüngsten Verlaufder russischen Geschichte vor dem Hintergrund als axiomatisch angesehener Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung Russlands, wenn nicht der Menschheitsgeschichte insgesamt. Auch einzelne nicht-russische Putin-Apologeten unterstützen das heute in Russland vorherrschende Diktum, dass Russland seinen eigenen geschichtlichen (Sonder-)Weg gehen dürfe oder gar müsse (zur Sonderwegsidee vgl. Luks 2005), dass es keine europäische Nation, sondern eine eigenständige Zivilisation darstelle, kein gewöhnlicher Nationalstaat, sondern ein natürlich gewachsenes Imperium sei, sowie keine westliche, sondern eine eigene "souveräne" Demokratie benötige. Andere geschichtsphilosophisch engagierte Beobachter und Akteure gehen davon aus, dass Russland heute in einer Übergangsphase ist und die jüngsten Einschränkungen politischer Freiheiten im Land temporär sind beziehungsweise sein sollten. Wieder andere Geschichtsphilosophen sehen die Entwicklung der russischen Geschichte als einen sich wiederholenden Zyklus sich ablösender protorevolutionärer, restaurativer und konservativer Phasen an. ObwoW beide Erklärungsansätze Zuerst erschienen in ForumjUr osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte (Umland 2009b), Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Böhlau-Verlages; ein zum folgenden Interpretationsversuch komplementärer Erklärungsansatz bei Luks 2009.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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- der personalistische sowie der geschichtsphilosophische - als plausibel und gegenüber politökonomischen Interpretationen des Demokratieverfalls in Russland (zum Beispiel Fish 2005) ebenbürtig erscheinen, befriedigen sie nur teilweise. Der personalistische Ansatz überzeichnet die Rolle einzelner politischer Figuren und ist auf die unmittelbare Akteurs- beziehungsweise Mikroebene fixiert. Die historiosophischen Ansätze hingegen tragen fatalistische Züge und operieren auf einer Makro-, wenn nicht Metaebene, ja scheinen letztlich eher Weltanschauungen als sozialwissenschaftliche Theorien zu sein. Ob man obige Ansätze befürwortet oder nicht - was Not tut, sind Interpretationsvorschläge auf der Meso- beziehungsweise mittleren Ebene, also Erklärungsansätze, die zwischen den Charakteristika einzelner involvierter Individuen einerseits und den Deduktionen aus historischer Metapolitologie andererseits operieren. Im Weiteren wird versucht, die jüngste antiwestliche Wende in der russischen Innen- und Außenpolitik anband einer Analyse des sich restrukturierenden politischen Spektrums unter Purin zu interpretieren (siehe auch Umland 2008c). Die Veränderungen im internationalen Verhalten Moskaus sollen verständlicher gemacht werden, indem jüngere Modifikationen im innerrussischen intellektuellen und Mediendiskurs sowie entsprechende Verschiebungen in der Komposition des Moskauer Establishments und des politischen Mainstreams einschließlich der teilautonomen Zivilgesellschaft beziehungsweise "unzivilen Gesellschaft" berücksichtigt werden (Umland 2003, 2009b). Wie unten deutlich werden wird, sind auf Grundlage heutiger westlicher Ideologietypologien entwickelte eurozentrische oder gar postmaterialistische Denkschablonen für die Konzipierung des Spektrums relevanter politischer Ideen im Putin'schen Russland nur teilweise geeignet. Im Folgenden wird versucht, zu einer Art "Hermeneutik" jüngster russischer politischer Rhetorik beizutragen. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass eine - aus westlicher Sicht - ungewöhnlich aggressive Form von Neoimperialismus, die in den 1990er Jahren noch marginal war, heute politisch hoffähig geworden ist. Dieser revolutionäre Imperialismus hat sich rechts vom derzeit dominanten restaurativen Irredentismus 2 als ein öffentlich akzeptiertes politisches Teillager etabliert und ist in den relevanten Massenmedien, Expertenrunden und Sozialwissenschaften inzwischen kontinuierlich präsent. Im Zuge der Konsolidierung der gesellschaftlichen Positionen der so genannten Liberal-Demokratischen Partei Vladimir Zirinovskijs sowie der Internationalen Eurasischen Bewegung Aleksandr Dugins im offiziell zugelassenen TV- sowie im intellektuellen Diskurs der 2
Die Natur und Größe der Irredenta unterscheiden sich in den verschiedenen nationalistischen Ideologien teils erheblich (Überblicksdarstellungen zum postsowjetischen russischen Nationalismus und dessen ideologischen Variationen finden sich bei Parland 2004; Lamelle 2009).
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letzten Jahre kam es zu einer Verschiebung des politischen Zentrums nach rechts. Diese Restrukturierung des politischen Spektrums kann entweder als ein Bestimmungsfaktor oder aber als ein Ergebnis von Veränderungen in der personellen Komposition und/oder den politischen Einstellungen der obersten Führungsspitze betrachtet werden. 3 Sie stellt jedoch in jedem Fall einen beachtenswerten Begleitumstand des Wandels politischer Debatten unter Putin dar. Obwohl der dritte Präsident Russlands, Dmitrij Medvedev, als prowestlich eingestellter Reformer zu bewerten ist, muss auch er bei seiner Positionierung und Koalitionsbildung im Zentrum des russischen politischen Spektrums dieser Koordinatenverschiebung im nach wie vor existenten Moskauer Ideenwettbewerb Rechnung tragen. Die revolutionäre Spielart des postsowjetischen Imperialismus operiert, wie unten gezeigt wird, zwar mit ausgesprochen phantastischen Ideen, manifesten Utopien, bizarren Geschichtsbildern und extravaganten Konzepten. Nichtsdestoweniger stellt die jüngste Verankerung dieser politischen Strömung im offiziellen russischen Politikdiskurs eine relevante Facette der Verschlechterung in den russisch-westlichen Beziehungen der letzten Jahre dar.
1. Konzipierungen politischer Spektra in der modernen westlichen Welt und im heutigen Russland Westliche Sichtweisen auf ideologische Konfliktlinien der Nachkriegszeit sind typischerweise von einer zwar in verschiedenen Ländern unterschiedlich abgestuften, aber doch insgesamt uniformen Zwei- beziehungsweise Dreiteilung politischer Spektren geprägt (Abbildung I). Auf der linken Seite des ideologischen Spektrums - und nun folgt eine stark vereinfachte Darstellung - werden in der RegelIdeengebäude und außenpolitische Doktrinen angesiedelt, die auf einem optimistischen Menschenbild beruhen sowie auf innenpolitischen oder internationalen mehr oder minder radikalen, als "Demokratisierung" verstandenen Wandel ausgerichtet sind (Bobbio 1994; Backes/Jesse 2005). Erstaunlicherweise ähneln sich die USA und das heutige Russland betreffs dieser Teile ihrer Parteienspektra in gewisser Hinsicht (siehe auch Abbildung 2).
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Diese Ambivalenz dürfte Beobachtern, die mit methodologisehen Problemen sozialwissensehaftlieher Analyse vertraut sind, als generelle Herausforderung derartiger Forsehungsprojekte bekannt sein (siehe zum Beispiel Bailey 2007: 50).
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Abbildung 1: Simplifizierte Darstellung ideologischer Spektra im politischen Mainstream ausgewählter zeitgeschichtlicher Situationen: "Westen" ,,Rechte" (Konservative, "Realisten")
"Linke"
"Mitte"
Sozialisten, Sozialdemokraten, Grüne, Sozialliberale, Labour, Democrats etc.
Zentristische Fraktionen und Rechte Fraktionen der ChristdeParteien mokraten, GOP, Tones etc.
In beiden - ansonsten grundverschiedenen - Staaten befinden sich links vom Zentrum relativ ähnlich ausgerichtete liberale Demokraten: in Russland etwa die Jabloko-Partei sowie die so genannte Union Rechter (sie!) Kräfte und in den USA die Demokratische Partei beziehungsweise deren linke Fraktionen. Diese beiden Staaten reproduzieren damit bis heute die klassische Rechts-Links-Unterscheidung, wie sie nach der Französischen Revolution entstanden war. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums werden in der heutigen Selbstbetrachtung des Westens in der Regel solche Ideengebäude verortet, die auf einem mehr oder minder skeptischen Menschenbild beruhen und daher radikalen gesellschaftlichen sowie internationalen Wandlungsprozessen distanziert beziehungsweise kritisch gegenüberstehen (EatwellJO'Sullivan 1989). Der fiir diese Denkfigur zumeist gebrauchte Begriff lautet ,,Konservatismus" beziehungsweise "Konservativismus". Im in der politischen Mitte angesiedelten ideologischen Zentrum hingegen werden im heutigen Westen schließlich jene Kräfte vermutet, die - zumindest in ihrer Selbstdarstellung - einen Ausgleich reformerischer und konservativer Bestrebungen beziehungsweise idealistischer und "realistischer" Impulse versuchen sowie einen schrirtweisen, an aktuelle Herausforderungen angepassten, moderaten Wandel befiirworten. Dieses vereinfachte, viele Teilphänomene ignorierende Schema zur Konzipierung moderner ideologischer Konflikte dürfte trotz seiner Simplizität ein Axiom zeitgenössischen weltpolitischen Denkens im Westen sein. Zumindest kann ein Großteil heutiger internationaler und innerstaatlicher Auseinandersetzung in der westlichen Welt unter Zuhilfenahme des beschriebenen Schemas mehr oder minder erhellend interpretiert werden. Auch fiir innen- und außenpolitische Programme der neuen gesellschaftlichen Kräfte und Eliten der Russischen Föderation der 1990er Jahre schien diese Zwei- beziehungsweise Dreiteilung zumindest teilweise Geltung zu haben (Abbildung 2; vgl. Simonsen 2001). Der erste russische Präsident Boris El'cin versuchte während seiner Amtszeit, die reformerischen Impulse der prowestlich eingestellten liberalen Demokraten auf der einen Seite und die reaktionären Widerstände der antiwestlich orientierten alten Eliten auf der anderen
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zu balancieren. Allerdings war schon damals eine Abweichung von im heutigen Westen typischen Konfliktlinien zu beobachten. Dies betraf zum einen das Paradoxon, dass die rechts vom Zentrum angesiedelten politischen Kräfte nach 1991 auch beziehungsweise in erster Linie die (man muss womöglich sagen: so genannten) "Kommunisten" umfasste, da diese eindeutig rückwärtsgewandt waren und sind (Vujacic 2001). Zwar werden die heutige Kommunistische Partei in der Russischen Föderation als links und die Demokraten als rechts bezeichnet. Jedoch war bereits in der ausgehenden UdSSR klar, dass die Gruppierungen, aus denen später die KPRF und andere kommunistische Parteien hervorgingen, keine reformerischemanzipatorischen, sondern, im Gegenteil, reaktionär-traditionalistische politische Kräfte darstellten (GlybowskilWinkelI991; Moses 1991).
Abbildung 2: Simplifizierte Darstellung ideologischer Spektra im politischen Mainstream ausgewählter zeitgeschichtlicher Situationen: El'cins Russland 1991-1999 "Linke"
,,Mitte"
"Rechte" (Restauration)
Demokraten, Jabloko, Demokratische Wahl Russlands
Zentristische Gruppierungen und Zentrismus der tOderalen Regierung
Nationalisten, ,,Kommunisten", Imperiumsbewahrer
Eine noch folgenträchtigere Abweichung von politischen Spektren heutiger westlicher Staaten war bereits unter EI'ein, dass die postsowjetischen russischen Rechten nicht einen Erhalt des Status quo, sondern eine zumindest teilweise Wiederherstellung der Zustände während des Kalten Krieges, nicht zuletzt des von Moskau kontrollierten Territoriums, und in vieler Hinsicht eine mehr oder minder weitgehende Neubelebung des zaristisch-sowjetischen Imperiums anstrebten. Es scheint daher gerechtfertigt, solche Bestrebungen weniger als ,,konservativ" denn als, enger gefasst, "restaurativ<' sowie, weiter gefasst, "revanchistisch" zu klassifizieren (Umland 1995). Die rechts vom politischen Zentrum angesiedelten Kräfte des postsowjetischen Russlands strebten bereits in der ausgehenden Perestrojka-Periode unter Gorbacev 1990-1991 sowie unter EI'ein ab Ende 1991 - im Gegensatz zu den gemäßigt rechten Akteuren des heutigen Westens - einen neuerlichen Wandel und keine Konservierung der heftig kritisierten neu entstandenen Verhältnisse an (Hughes 1993; O'Connor 2006). Ihr Ziel war und ist bis heute eine Teilrestauration des Sowjetreiches samt einer Rückkehr zur Ost-West-Konfrontation, also jener Zustände, die sich in den vorhergehenden 70 Jahren - zumindest aus Sicht solcher "Sowjetreaktionäre" - "organisch" entwickelt hatten und somit Bestand-
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teile der ,,russischen Tradition" geworden waren. Restaurativer Imperialismus bildete somit auch schon unter EI'ein einen gewichtigen Bestandteil des politisch relevanten russischen ideologischen Spektrums. Der Rufnach einer "Korrektur" der Grenzen des russischen Staates sowie zumindest teilweisen Wiederherstellung des Imperiums unterwanderte bereits im ersten Jahrzehnt der Existenz der jungen russischen Demokratie deren Stabilität und behinderte die Entstehung eines genuin postsowjetischen, postimperialen und territorial saturierten Konservatismus (für einen Überblick über die ältere Literatur vgl. Umland 1997).
Abbildung 3: Simplifizierte Darstellung ideologischer Spektra im politischen Mainstream ausgewählter zeitgeschichtlicher Situationen: Putins Russland 2000-2008 Marginalisierte "Linke"
Ehemalige ,,Mitte"
,,Rechte" (Restauration)
,,Extreme Rechte" (Revolution)
Jabloko, Union Rechter Kräfte, Sozialdemokraten
Relativ prowestliche Fraktionen in Regierung, Zivilgesellschaft und "Einiges Russland"
Nationalisten, ,,Kommunisten", Imperiurnsbewahrer im Staatsapparat und in ,,Einiges Russland"
So genannte "LiberalDemokraten", Internationale Eurasische Bewegung
i Heutiges politisches Zentrum in Russland
Dieser Unterschied in den rechten politischen Spektren des unmittelbar postsowjetischen Russlands einerseits und des zeitgenössischen Westens andererseits wurde von politischen Beobachtern auch außerhalb Russlands erkannt. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass es auch in den postimperialen politischen Spektren westlicher ehemaliger Kolonialmächte nach dem Zerfall des jeweiligen Weltreiches (etwa in Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw.) ähnlich streitbare, ideologisch eher restaurativ als konservativ orientierte Gruppierungen gegeben hat, welche erst allmählich aus dem politischen Mainstream des jeweiligen Landes verdrängt wurden (siehe zum Beispiel Greiffenhagen 1986). Das postEl'cin'sche Russland unterscheidet sich von den postimperialen Nachkriegsstaaten des Westens allerdings inzwischen nicht nur dadurch, dass irredentistisches Denken in den Mainstream des Elitendiskurses Eingang gefunden hat. Ein noch gravierenderer Unterschied zwischen dem heutigen einerseits westlichen und andererseits russischen politischen Spektrum ist, dass im Establishment Russlands Politiker und Intellektuelle an Einfluss gewonnen haben, deren neoimperiale Visionen ebenfalls revanchistischer Natur sind, deren Bestrebungen jedoch nicht als
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restaurativ zu bezeichnen sind, sondern als klar revolutionär klassifiziert werden müssen (Tsygankov 1997).
2. Zirinovskijs politische Laufbahn und Expansionspläne Der wohl berüchtigtste Vertreter der revolutionären Spielart des postsowjetischen Neoimperialismus ist Vladimir Zirinovskij, Führer der so genannten LiberalDemokratischen Partei (LDP) (Eichwede 1994; Conradi 1995; Oschlies 1995). Zirinovskijs Partei entstand unter diesem Namen 1990 zunächst als ein "polittechnologisches" Projekt des KGB (Wilson 2007). Die LDP hatte, ähnlich einer Reihe anderer damaliger Pseudoparteien mit ebenfalls irreführenden Namen, Anfang der 1990er Jahre offenbar die Aufgabe, eine innere Zerrüttung, politische Spaltung und öffentliche Diffamierung der genuinen liberaldemokratischen Bewegung sowie eine allgemeine Untergrabung des sich herausbildenden pluralistischen Diskurses in der zerfallenden Sowjetunion zu bewirken. Obwohl das Zirinovskij-Projekt dieses offensichtliche Ziel seinerzeit nicht oder nur teilweise erreichte, bewies der Jungpolitiker 1990-1991 größeres politisches Talent und Organisationsvermögen als seine verschiedenen, offenbar ebenfalls vom KGB unterstützten Konkurrenten im pseudodemokratischen Miniparteienspektrum des Ancien Regime, wie etwa Valerij Skurlatov von der so genannten Russischen Volksfront oder Vladimir Voronin von der so genannten Sacharov-Union (Umland 2005). Es kam im Weiteren zu einer Art "Umwidmung" des politischen Profils der LDP und zu ihrer Verwandlung in ein Sammelbecken antikommunistisch eingestellter Nostalgiker des russischen Imperiums. Auch emanzipierte sich Zirinovskij von seinen geheimdienstlichen Ziehvätern insofern, als er die zunächst tatsächlich liberal anmutende politische Programmatik seiner Partei nicht nur schrittweise in eine manifest neoimperialistische verwandelte, sondern die zunehmend ultranationalistische Doktrin der LDP auch seiner spezifischen fachlichen Expertise und politischen Überzeugung anpasste (Umland 2004, 2006a). In den Jahren 1992-1995 entwickelte Zirinovskij in den offiziellen Organen der LDP sowie weiteren Zeitungs- und Buchpublikationen eine weltpolitische Vision, deren Inhalt seiner persönlichen Biographie und beruflichen Qualifikation geschuldet war (Umland 1994b). Zirinovskij war in Kasachstan aufgewachsen, hatte eine Schule unter KGBPatronat in Almaty absolviert und im Anschluss daran am damaligen Ostspracheninstitut der Moskauer Staatlichen Universität Asienkunde mit dem Schwerpunkt Turkologie studiert. Er absolvierte als Student ein Praktikum in der Türkei und war während seines anschließenden Wehrdienstes in Georgien, nach eigenen Aussagen, einer Aufldärungseinheit zugeteilt, die Funksendungen aus der Türkei
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analysierte (Umland 2004). Zum Ende der Zweiten Russischen Republik4, also des politischen Regimes, das von 1991-1993 existierte, entwickelte der nun zum landesweit bekannten Politiker aufgestiegene Turkologe schrittweise seine weltpolitische Vision. Zirinovskij stellte zunächst in den letzten Nummern des ersten LDP-Organs, der unregelmäßig erscheinenden Zeitung Liberal im Zeitraum 19921993 (zum Beispiel Zirinovskij 1993a), in einem Interview mit mir im August 1993 in seiner damaligen Moskauer Parteizentrale in der Rybnikov-Gasse (Umland 1994a) und schließlich in seiner im September 1993 erschienenen autobiographischen Schrift "Der Letzte Sprung nach Süden" (1993b) ein revolutionäres außenpolitisches Programm vor. Ausgangspunkt seiner neuartigen imperialistischen Doktrin war, dass die von ihm so bezeichneten "Südler" (,juZane") schuldig an den historischen Misserfolgen, verantwortlich für die gegenwärtige Misere und Träger einer künftigen Bedrohung der Russen seien. Mit "Südlern" meint Zirinovskij die südlich von Russland lebenden - in seiner Beschreibung barbarischen und kriegstreiberischen - Völker Vorder- und Zentralasiens einschließlich des Kaukasus. Der LDP-Führer entwirft das Schreckbild einer jahrhundertelangen Unterwanderung und künftigen Spaltung Russlands durch den zersetzenden Einfluss dieses "Südens". Um die von den "Südlern" ausgehende Gefahr für die Stabilität Russlands zu bannen, müsse sich Russland nicht isolieren, sondern - im Gegenteil - nach Süden ausweiten (Koman 1996). Zirinovskij schlug in seinen damaligen Reden und Publikationen wiederholt und ausdrücklich vor, dass Afghanistan, der Iran sowie die Türkei Teile des russischen Staates werden und dass in diesen Ländern die russische Armee (,,russkaja armija") und der russische Rubel ("russkij rubl"') eingeführt werden müssten (Zirinovskij 1993a: 4). Dass es dabei zu Menschenopfern kommen würde, nimmt Zirinovskij billigend in Kauf. Er bemerkt zudem: ,,[A]uch wenn die gesamte türkische Nation zugrunde ginge, würde die Welt dies verschmerzen" (ders.1993b: 130). Die militärischeAktion zur Verwirklichung von Russlands "letztem Sprung nach Süden" würde eine "Wiedergeburt" der russischen Armee und eine "Reinigung" des gesamten russischen Volkes herbeiführen sowie ein "neues", "glückliches" Russland schaffen (ebd.). Zudem würde die Welt insgesamt von der russischen ,,Beruhigung" ("uspokoenie") des "Südens" profitieren. Die Verwirklichung von Russlands "letztem Sprung nach Süden" würde die Neuordnung des internationalen Systems insgesamt einleiten. Der von Zirinovskij als "Süden" bezeichnete Teil Asiens würde zu Russlands Einflusssphäre werden, während Europa Afrika, den USA Südamerika und Japan Ostasien als Einflusssphären zufallen würden. Darüber hinaus stellt der 4
Als Erste Russische Republik kann die weitgehend pluralistische Periode der Provisorischen Regierung beziehungsweise Doppelherrschaft vom März bis Oktober 1917 gelten.
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LDP-Führer einen "gesamteuropäischen Staat" in Aussicht, "in dem starke Staaten existieren: Russland, Deutschland, Frankreich [und] Italien. Sie wären die Grundlage dieses [paneuropäischen;A.U.] Staates" (ders. 1993a: 5). Dies wäre die letzte Neuaufteilung der Welt. Erst wenn "die russischen Soldaten ihre Stiefel im Indischen Ozean waschen", wird - so der Imperialist - Russland seine historische Mission erfüllt und sich selbst sowie die Welt vor ,,Kriegen, die immer vom Süden ausgingen", endgültig gerettet haben (ders. 1993b: 76). Von Interesse bezüglich des Zirinovskij-Phänomens ist weniger dieses eigenartige Programm als solches. Bemerkenswert ist vielmehr, dass seine LDP im Dezember 1993, das heißt nur wenige Wochen nach der öffentlichen Vorstellung von Zirinovskijs Plan eines "letzten Sprungs nach Süden" in seinem gleichnamigen autobiographisch-programmatischen Buch (1993b), mit 22,92 Prozent die ersten russischen postsowjetischen Parlamentswahlen aufMehrparteienbasis gewann (Morrison 1994). In den folgenden zwei Jahren stellte die LDP eine der stärksten Fraktionen in der Fünften Staatsduma. So wurde sowohl von politischen Beobachtern als auch Konkurrenten der LDP darüber spekuliert, ob und inwiefern der beeindruckende Wahlerfolg der Partei 1993 sowie ihr offenes Eintreten für militärische Operationen im "Süden" einen Bestimmungsfaktor beziehungsweise sogar eine notwendige Bedingung für den Ausbruch des Ersten Tschetschenienkrieges im Dezember 1994 darstellten (wie dies unter anderem vom führenden russischen demokratischen Politiker Grigorij Javlinskij in der Fernsehsendung Itogi auf dem Kanal NTV geäußert wurde: Nezavisimoe televidenie am 18.12.1995; vgl. Klepikova/Solovyov 1995: VII). Bedeutsam war ebenfalls, dass Zirinovskijs Triumph vom Dezember 1993 zwar der bislang größte Wahlerfolg der LDP blieb, die Partei jedoch in den folgenden vier Staatsduma-Wahlen stets die Fünf- beziehungsweise inzwischen SiebenprozenthÜfde zum Eintritt in das Unterhaus der Föderalen Versammlung überwand und damit als die inzwischen älteste postsowjetische, politisch relevante Partei gelten darf (insofern, als die ohnehin jüngere KPRF, 1993 gegründet, nicht als uneingeschränkt "postsowjetisch" klassifiziert werden kann). Das aus zeithistorischer Sicht Interessante an Zirinovskij ist weniger die offensichtliche Absurdität seiner Agenda als solche, sondern dass er es nach deren Veröffentlichung vermochte, mit seiner Partei auf den politischen Olymp aufzusteigen und bis heute dort zu verbleiben. Es gab und gibt im postsowjetischen Russland eine Vielzahl mehr oder minder profilierter politischer Akteure und Publizisten mit ähnlich widersinnigen Zukunftsvisionen wie die Zirinovskijs. Allerdings sind nur wenige Konkurrenten Zirinovskijs am rechten Rand, wie zum Beispiel der Juraprofessor und langjährige Parlamentsabgeordnete Sergej Baburin, politisch so hoch aufgestiegen wie der LDP-Führer. Kein anderer ähnlich ausge-
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richteter Parlamentarier Russlands hat so dauerhaft solch hohe politische Ämter in Russland bekleidet wie Zirinovskij. Der LDP-Cheffungierte zunächst für einige Zeit als Fraktionschefseiner Partei in der Staatsduma und bekleidet nun bereits seit etlichen Jahren die Funktion eines Stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma, also eines der fonnal höchsten politischen Ämter der Russischen Föderation. Zirinovskijs Ideen liegen zwar nach wie vor außerhalb des ideologischen Zentrums der russischen Politik. Anders als noch zu Zeiten EI'cins sind er und die Mitglieder seiner Staatsduma-Fraktion jedoch inzwischen integrale Bestandteile des politischen Establishments Russlands geworden. Das im postsowjetischrussischen Kontext hohe Alter der LDP und ihre kontinuierliche politische sowie Medienpräsenz haben dazu geführt, dass die Partei ein unerwartet nachhaltig relevantes politisches Phänomen geworden ist. Etliche LDP-Funktionäre machten sowohl unter EI'cin als auch unter Putin politische Karrieren. Im Jahr 2007 wurde zum Beispiel ein LDP-Deputierter, der langjährige Putin-Vertraute und ehemalige St. Petersburger Lokalpolitiker Vladimir Curov, mit einer für das neoautoritäre Regime Russlands bedeutsamen öffentlichen Funktion betraut: Curov wurde zum Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation ernannt. Insbesondere war es dem LDP-Führer gelungen, seine Partei sowohl über den Machtwechsel von El'cin zu Purin 1999/2000 hinüberzuretten als auch den neuen politischen Gegebenheiten unter dem zweiten russischen Präsidenten ab dem Frühjahr 2000 anzupassen. Womöglich aufgrund seines KGB-Hintergrundes schaffte es der Ultranationalist offenbar, einen modus vivendi mit den ,,Polittechnologen" des Kremls zu finden und sich als "rechter" Flügel der informellen Koalition pro-Purin'scher Fraktionen in der Staatsduma neu zu erfinden, ja seine Position im russischen Politestablishment weiter zu stärken. 2006 wurde Zirinovskij von Präsident Purin persönlich mit dem "Orden für Verdienste um das Vaterland 4. Grades" ausgezeichnet - ein Vorgang, der unter EI'cin kaum vorstellbar gewesen wäre. Es ist bemerkenswert, dass die LDP von den Polittechnologen des Kremls offenbar bewusst funktionstüchtig gehalten und in der Staatsduma belassen wurde. Aufgrund dieser und anderer Entwicklungen kann man Zirinovskij und seine Partei als zwar immer noch am äußersten rechten Rand des kremlkontrollierten Parteienspektrums angesiedelt, jedoch nichtsdestoweniger als nunmehr vollwertigen Teil des relevanten politischen Spektrums der Russischen Föderation betrachten.
3. AIeksandr Dugin und seine "neoeurasische" Bewegung Ähnliches gilt für einen anderen Moskauer politischen Akteur, Aleksandr Dugin, Gründer und Vorsitzender der Mezdunarodnoe Evrazijskoe DviZenie (MED: 10-
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temationale Eurasische Bewegung). Dugins Neoimperialismus unterscheidet sich zwar in vielen Punkten von der außenpolitischen Vision Zirinovskijs. Das expansionistische Programm des Führers der MED kann jedoch ebenfalls als "revolutionär" bezeichnet werden, auch wenn sich das Dugin- und Zirinovskij-Phänomen in anderer Hinsicht prinzipiell unterscheiden (für eine deutschsprachige Einführung zu Dugin vgl. Luks 2000, 2002, 2004; Höllwerth 2007). Dugin ist im Gegensatz zu Zirinovskij nicht nur kein Parteipolitiker und agiert stattdessen auf der metapolitischen Ebene, das heißt, Dugin versucht mit einer Vielzahl von Publikationen, Netzwerkaktivitäten und Medienauftritten, auf das Denken der politischen und intellektuellen Eliten Russlands Einfluss zu nehmen (Ivanov 2007; Umland 2006b). Dugin unterscheidet sich auch dahingehend von Zirinovskij, dass er nicht primär auf den "Süden", sondern auf den "Westen" fixiert ist. Dugin betrachtet stärker noch als Zirinovskij die USA als historischen, gegenwärtigen sowie künftigen Hauptfeind Russlands und gründet diese Ansicht auf eine verschwörungstheoretische Reinterpretation der gesamten Menschheitsgeschichte. Der Führer der russischen, so genannten "Neoeurasier" entwirft in seinen hunderten von elektronischen und gedruckten Veröffentlichungen das Bild einer uralten Auseinandersetzung zwischen den atlantischen, liberalen Seemächten ("Thallasokratien"), die nunmehr unter der Führung der USA stehen, auf der einen Seite und den eurasischen, traditionalistischen Landmächten ("Tellurokratien"), welche heute von Russland angeführt werden, auf der anderen Seite. Der zivilisatorische, politische und militärische Konflikt "Eurasiens" mit der See nähert sich heute seinem "Endkampf', wobei Dugin diesen historisch belasteten deutschen Begriffteils ohne Übersetzung ins Russische verwendet. Russland müsse für seine Neugeburt im Innern eine "konservative Revolution", das heißt eine Ausmerzung jeglichen westlichen Einflusses in seinem gesellschaftlichen Leben, verwirklichen und in seinen Außenbeziehungen auf die Schaffung eines mächtigen eurasischen Superimperiums bestehend aus mehreren Teilimperien unter der Führung Russlands drängen. Wie genau diese verschiedenen imperialen Groß- und Teilprojekte aussehen, unterscheidet sich erheblich in Dugins Zukunftsvisionen - je nach Buch, Rede beziehungsweise Artikel. Klar ist lediglich, dass Russland langfristig nur als Imperium existieren kann und als Nationalstaat in seinen jetzigen Grenzen sowie mit seinem derzeitigen Einflussbereich untergehen wird. Im Idealfall würde ein Großimperium von Dublin bis Vladivostok mit der Hauptstadt Moskau entstehen oder sich zumindest eine Achse Paris-Berlin-Moskau-Teheran-Tokio beziehungsweise -Peking herausbilden, die sich gemeinsam der Expansion der angloamerikanischen maritimen Zivilisation entgegenstellen würde. Damit geht Dugin weit über den restaurativen Expansionismus der "Sowjetreaktionäre" hinaus und
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kann, wie auch der LDP-Führer, als revolutionärer Imperialist klassifiziert werden (Shekhovtsov 2008). Dugin bezeichnet sich selbst als "Neoeurasier" und nimmt für sich in Anspruch, die Tradition der klassischen Eurasier der russischen Emigration im Europa der Zwischenkriegszeit fortzusetzen (Wiederkehr 2004). Tatsächlich jedoch ist seine intellektuelle Biographie vom Einfluss nicht-russischer, meist westlicher Autoren geprägt, allen voran vom euroamerikanischen so genannten "Integralen Traditionalismus" des 20. Jahrhunderts (Sedgwick 2004; ShekhovtsovlUmland 2009), vom deutschen so genannten "Nationalbolschewismus" und "Jungkonservatismus" der 1920er Jahre (Luks 2000) und von der heutigen frankophonen "Neuen Rechten" (Lamelle 2006), die sich in Reaktion auf die 68er-Bewegung und in Anlehnung an die deutsche "Konservative Revolution" der Zwischenkriegszeit Ende der 1960er Jahre formiert hat (Bar-On 2007). In den 1990em, als er noch eine relativ marginale Figur in der Moskauer Politikszene war (MathyI1997/98), ging Dugin überdies so weit, seine Ideologie offen in die Tradition des internationalen Faschismus zu stellen, bestimmte Aspekte des Nazismus zu loben und das Dritte Reich als wichtigste Ausprägung des von ihm präferierten "dritten Weges" vorzustellen (Umland 2009c). In einer seiner Frühschriften bezeichnete er den Organisator des Holocausts, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, gar als "überzeugten Eurasier". Unter dem Pseudonym ,,Aleksandr Stemberg" publizierte Dugin 1994 ein Gedicht beziehungsweise einen Liedtext, in welchem er die Wiederauferstehung von Heinrich Himmler beschwört (Stemberg 1994, o.D., 2001). In einer weiteren seiner frühen politischen Internetpublikationen begrüßte er begeistert den Aufstieg eines "faschistischen Faschismus" in Russland (Dugin 2006a). Trotz dieser Entgleisungen und vieler anderer Verletzungen der russischen politischen Korrektheit gelang Dugin Ende der 1990er Jahre ein - wie sich später herausstellte - nachhaltiger Aufstieg ins Moskauer politische Establishment (Mathyl 2002). Er wurde 1998 zunächst offizieller Berater des damaligen Vorsitzenden der Staatsduma und KPRF-Abgeordneten Gennadij Seleznev. Später verstand Dugin es, eine Reihe weiterer prominenter politischer und gesellschaftlicher Figuren an seine 2001 gegründete Eurasien-Bewegung zeitweise oder dauerhaft zu binden beziehungsweise von seinen Ideen zu überzeugen. Dies betraf etwa den ehemaligen russischen Kulturminister Aleksandr Sokolov oder den Stellvertretenden Vorsitzenden des Föderationsrates Russlands Aleksandr Torsin. Auch hat Dugin Verbindungen in die Medienlandschaft und Präsidialadministration geknüpft, so etwa zu dem populären TV-Kommentator und angeblichen "Lieblingsjoumalisten Putins" Michail Leont' ev, dem putinnahen hohen Regierungsbeamten und ehemaligen KGB-Offizier Viktor Cerkesov (Limonov 2006) oder zum ehemali-
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gen Leiter der Ideologiesektion des Exekutivkomitees von Putins Partei "Einiges Russland" und heutigen Abteilungsleiter bei der Präsidialadministration der RF Ivan Demidov (Umland 2008b). Nur wenige Monate vor der Übernahme des Amtes des Chefideologen von Russlands alles beherrschender, so genannter "Partei der Macht" ("partija viasti") bezeichnete sich Demidov 2007 in einem Interview für Dugins Internetseite Evrazia.org - unter ausdrücklichem Bezug aufdie Ideologie Dugins - selbst als einen "überzeugten Eurasier" und gebrauchte damit ironischerweise dieselbe Formulierung, die Dugin 15 Jahre zuvor, wie erwähnt, für den "Stellvertreter des Reichsfiihrers SS" Heydrich verwandt hatte (Umland 2009d). Zwar hat Dugin im Zusammenhang mit seinem Aufstieg ins Moskauer politische Establishment seit Ende der 1990er Jahre eindeutige profaschistische Aussagen wie die oben zitierten vermieden. Er gebärdet sich heute gar als "Antifaschist" und scheut sich nicht, politische Gegner als "Faschisten" oder "Nazis" zu verunglimpfen. Allerdings gab Dugin noch im Jahr 2006 in verklausulierter, aber letztlich eindeutiger Form neuerlich seine Nähe zum deutschen Faschismus zu. In einer Rundfunksendung erklärte er freimütig, dass er den Ideen der deutschen Gebrüder Strasser nahe steht, wobei Dugin in diesem Radiointerview die StrasserBrüder als Gegner AdolfHitlers darstellte. Dugin "vergaß" allerdings zu erwähnen, dass 0110 und Gregor Strasser zu ihrer Zeit selbst fiihrende Nazis sowie Ende der 1920er Jahre maßgeblich an der Umwandlung der NSDAP in eine Massenpartei beteiligt waren. Die Strasser-Brüder entwickelten sich später zu Opponenten Hitlers innerhalb der NSDAP, bevor sie schließlich einer nach dem anderen als Konkurrenten des ,,Führers" die Nazipartei verlassen mussten (Umland 2009c). Obwohl Dugin somit vor nicht allzu langer Zeit nochmals implizit seine Nähe zum klassischen Faschismus der Zwischenkriegszeit bekräftigt und an keiner Stelle seine explizit profaschistischen Aussagen aus den 1990er Jahren dementiert oder zurückgenommen hat, ist er nach wie vor ein angesehener beziehungsweise weiter an Ansehen gewinnender Politikkommentator in den kremigesteuerten Massenmedien. Er wird als "Experte" auf der Webseite Kreml.org gefiihrt und wurde im Sommer 2008 von der renommiertesten Hochschule Russlands, der Moskauer Staatlichen Universität, zum Leiter des so genannten Zentrums für konservative Studien der Fakultät für Soziologie der Lomonosov-Universität ernannt (Umland 2008e). Freilich kann Dugin aufgrund derartiger Beobachtungen noch nicht als Chefideologe Putins oder Repräsentant der heutigen russischen außenpolitischen Doktrin gelten. Nichtsdestoweniger stellt Dugins extremer Antiamerikanismus und revolutionärer Neoimperialismus heute - ähnlich wie Zirinovskijs Ideologie - einen zwar am Rande des politischen Mainstreams gelegenen, aber noch innerhalb der Hauptströmungen der russischen Politik befindlichen integralen Bestandteil des
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gesamtnationalen öffentlichen Diskurses der postsowjetischen Eliten dar (Umland 2009d). Es würde zwar zu weit gehen, einen direkten Einfluss Zirinovskijs oder Dugins auf die heutige russische Außenpolitik zu behaupten, wie dies bezüglich des "Neoeurasiers" etwa der Russlandreporter der Financial Times Charles Clover bereits 1999 getan hatte. Jedoch ist unbestreitbar, dass diese beiden Ideologen sowie eine Reihe weiterer, ähnlich extravaganter revanchistischer politischer Publizisten sich unter Putin stärker als zuvor an der Strukturierung des russischen Ideenspektrums sowie außenpolitischen Denkens beteiligen. In den 1990er Jahren waren Zirinovskij, Dugin und Co. zwar bereits in den Massenmedien und im Elitendiskurs präsent, jedoch ideologisch marginalisiert und politisch stigmatisiert. Heute dagegen sind sie gleichberechtigte Teilnehmer an tagespolitischen Diskussionen in den zentralen Fernsehkanälen sowie mehr oder minder viel beachtete Beiträger zu politischen Debatten auf Konferenzen und Workshops sowie in Periodika mit föderaler, ja teilweise internationaler Bedeutung. 5
4. Schlussfolgerungen Ein restaurativer Neoimperialismus, der in den 1990em noch am Rande des politischen Mainstreams vegetierte, ist heute Bestandteil der außenpolitischen Doktrin Russlands. Das hat, wie zu zeigen versucht wurde, unter anderem damit zu tun, dass sich rechts von dieser irredentistischen Strömung eine weitere revanchistische Denkschule im politischen Spektrum etabliert hat, die als revolutionär zu bezeichnen ist und unter anderen von Zirinovskij sowie Dugin repräsentiert wird. Zwar lassen sich in der Politik des russischen Außenministeriums bislang noch keine offen revolutionär-imperialistischen Elemente entdecken. Der innerrussische Diskurs um künftige Ziele und Methoden russischer Außenpolitik wird jedoch von den besonders radikalen Forderungen Zirinovskijs, Dugins und ähnlicher Ideologen heute mitbeeinflusst. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Gründe fiir die Aggressivität der jüngeren Verlautbarungen Putins und nunmehr auch Medvedevs interpretieren. Als Medvedev vor seiner Amtsübernahme noch relativ niedrige Positionen in der Putin'schen Machtvertikale einnahm und unter direkter Patronage des damaligen Präsidenten stand, war er ungebunden genug, seine Nähe zu europäischen 5
Siehe zum Beispiel Dugins Artikel im außenpolitischen Moskauer Fachblatt Russia in Global Affairs (2006b). Zum Redaktionskollegium dieser Zeitschrift gehören, neben mehreren prominenten Russen, auch bekannte Vertreter der westlichen Öffentlichkeit wie zum Beispiel Martti Ahtisaari, Grabam Allison, Helmut Kohl, Carl Bildt, Karl Kaiser und Horst Teltschik: (siehe http://eng.globaiaffairs.ru/about/#board;letzterZugriffam27.11.2009).
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Grundwerten wiederholt öffentlich deutlich machen zu können (Umland 2008a). Seit seiner Machtübernahme als Präsident der Russischen Föderation ist Medvedevallerdings gezwungen, sich mit den verschiedenen Gruppierungen des gesamten Spektrums des russischen politischen Mainstreams auseinanderzusetzen. Er sieht sich hierbei nicht nur mit starken restaurativen imperialen Tendenzen in vielen Teilen des Staatsapparates und der Zivilgesellschaft konfrontiert, sondern muss beim Versuch, seine Position im föderalen Machtgeruge zu konsolidieren, auch die noch extremeren Forderungen revolutionärer Revanchisten wie Zirinovskij und Dugin berücksichtigen. Insofern als Putin und seine Gehilfen in den vergangenen Jahren einen radikalen Antiamerikanismus hof- und mehrheitsfähig gemacht haben, verschaffte der ehemalige KGB-Offizier Demagogen wie Dugin politischen Raum. Im Ergebnis der unter Putin grundlegend gewandelten Medien- und Informationspolitik ist es heute in der Russischen Föderation ein kaum noch hinterfragter Allgemeinplatz, dass weniger die Erblasten der sowjetischen Vergangenheit als der Westen und insbesondere die USA für eine Vielzahl jüngerer, aus russischer Sicht negativer Entwicklungen in und um Russland verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die noch umfassendere Kampfansage Zirinovskijs, Dugins und ähnlich ausgerichteter Ideologen an die westliche Welt sowie deren Vorschlag zur Bildung völlig neuer Großreiche, ihr revolutionärer Imperialismus, in gewisser Hinsicht eine konsequentere Antwort auf die angebliche amerikanische Bedrohung zu sein als die lediglich irredentistischen Bestrebungen der "Sowjetreaktionäre" (Umland 2002, 2008d). Purins und Medvedevs Statements reflektieren zwar nicht die revolutionär-imperialen Pläne der extremen Rechten. Ihre öffentlichen Positionierungen sind jedoch teilweise der inzwischen kontinuierlichen Präsenz von revolutionärem Expansionismus in den allwöchentlich von Massenmedien und aufExpertenforen transmittierten politischen, journalistischen und akademischen Debatten geschuldet (Umland 2008f, 2008g). So ist der relativ liberal eingestellte, neue russische Präsident gezwungen, gegen potentielle und tatsächliche Rechtsaußenkritik eine hinreichend breite Allianz zu bilden, die es ihm erlaubt, eine Festigung seiner Stellung als formal mächtigster Politiker Russlands durchzusetzen. Die Logik des zwar verdeckten, aber weiterhin existenten russischen politischen Wettbewerbs treibt ihn vor dem Hintergrund der oben illustrierten Neuaufteilung des politischen Spektrums in die Arme der "Sowjetreaktionäre". Würde Medvedev auf einer ungeschmälerten Implementierung seiner im Wesentlichen prowestlichen Agenda und einer weitgehenden Annäherung mit der EU und den USA insistieren, liefe er Gefahr, eine breite Allianz aus machtpolitischen Zynikern, "Sowjetreaktionären" sowie extremen Rechten gegen
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sich zu mobilisieren und damit womöglich seine politische Marginalisierung oder gar Entmachtung zu provozieren. Abschließend kann man daher prognostizieren, dass, wenn der erstarkte russische Rechtsextremismus und revolutionäre Imperialismus nicht eingedämmt, als neofaschistisch stigmatisiert und aus den Massenmedien verdrängt wird, zu erwarten ist, dass sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen weiter verschlechtern werden. So lange, wie relativ prowestliche Akteure an der Spitze Russlands gezwungen sein werden, um mehrheitsfähige Koalitionen im Kontext eines politischen Establishments zu ringen, welches revolutionäre Revanchisten als legitime öffentliche Diskursteilnehmer einschließt, wird sich das politische Zentrum des heutigen Russlands weiterhin um das Ziel einer wenigstens teilweisen Restauration des russischen Reiches gruppieren (Umland 2009a).
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III
Strukturen und Ideologien in Westeuropa
Die radikale Rechte in Europa heute Profile und Trends in West und Ost
AfichaelAfinkenber.g
1. Einführung
Die jüngsten Europawahlen vom Juni 2009 sowie die letzten Parlamentswahlen in einer Reihe von europäischen Ländern zeigen, dass die radikale Rechte sich entgegen allen Nachrufen als recht zählebig erweist, auch wenn sich im Lager einige Verschiebungen abzeichnen.! Dem Niedergang der deutschen Parteien steht die Rückkehr der radikalen Rechten in den Niederlanden gegenüber; das Verschwinden der radikalen Rechten im polnischen Parlament 2007 kontrastiert mit dem phänomenalen Wahlerfolg einer neuen ungarischen Rechtspartei im April 2010. Im vorliegenden Artikel sollen die unterschiedlichen Zugriffe auf das Phänomen und diesbezügliche Erklärungsansätze sowie dessen empirische Vielfalt in West- und Osteuropa dargelegt werden (vgl. Minkenberg 2008). Im Mittelpunkt stehen sowohl die Konturen einzelner länderspezifischer Manifestationen der heutigen radikalen Rechten als auch deren länderübergreifende und regionale Besonderheiten und Kontexte. Als Ausgangspunkt dienen zwei zentrale Einsichten in den aktuellen Rechtsradikalismus (vgl. auch Minkenberg 1998: Kap. 9): Erstens, der europäische Rechtsradikalismus der Gegenwart ist ein modernes Phänomen, das Phasen der Erneuerung, entweder als Folge von Modernisierungsschüben der westlichen Nachkriegsgesellschaften oder als Neukonstituierung im Zuge von Regimewechseln in Osteuropa, durchlaufen hat. Er ist somit nur noch eingeschränkt mit früheren Varianten verknüpft. Schlagworte wie Faschismus oder Neofaschismus, die auf eine historische Kontinuität von Vichy bis Vitrolles, von der Münchener Feldherrnhalle bis zu Mölln und Magdeburg abzielen, treffen zunehmend ins Leere. Zweitens, der europäische Rechtsradikalismus der Gegenwart ist ein internationales Phänomen, das mehr als bisher vergleichend untersucht werden muss. Doch es überwiegen nach wie vor länderspezifische ZuDieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung meines Artikels "Der europäische Rechtsradikalismus heute - Profile in West und Ost und der Vergleich des Unvergleichbaren" (Minkenberg 2006).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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griffe - das zeigen nicht zuletzt die vielen Definitionen von Rechtsradikalismus, deren Kriterien oft aus nationalen Traditionen abgeleitet werden. Zweifellos ist jedes Land und seine Geschichte einzigartig. Gleichwohl sollte sich die Rechtsradikalismusforschung, ob nun als Länderstudie oder Vergleichsanalyse, von nationalen Nabelschauen lösen und sich die übernationalen politisch-geographischen Kontexte vergegenwärtigen, in denen der Rechtsradikalismus operiert. Denn nur im Vergleich kann das Unvergleichliche herausgestellt werden.
2. Begriffe und Konzepte: die Rechtsradikalismusforschung im Überblick Die Begriffe Rechtsradikalismus beziehungsweise Rechtsextremismus sind in der Regel in den einschlägigen politikwissenschaftlichen Wörterbüchern anzutreffen (vgL Drechsler et aL 1980; Nohlen/Grotz 2007; Schmidt 2003). Allerdings gibt es - im Gegensatz zu Liberalismus und Sozialismus - keinen Rechtsradikalismus, der sich als eigenständige politische Strömung etabliert und in Parteiform verfestigt hat. Generell wird in der politikwissenschaftlichen Rechtsradikalismusforschung unterschieden zwischen einem aufHerrschaftssysteme bezogenen Untersuchungsgegenstand, wie etwa der Nationalsozialismus oder rechte Diktaturen (vgl. Bracher 1969; Kershaw 1985; Linz 1975), und diversen Organisationen und Institutionen, die im Kontext des politischen Systems die Funktionen der Artikulation und Aggregation von Interessen wahrnehmen (vgl. Winkler et al. 1996: 10-12). Neben den rechtsradikalen Bewegungen, formellen und informellen Gruppierungen, sind hier vor allem rechtsradikale Parteien von außerordentlichem Interesse, da ihnen die verschiedensten Funktionen im politischen System zukommen: von der Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen über die Zielfindung in Ideologie und Programmatik (im Sinne der verbindlichen Regelung gesellschaftlicher Werte) und die Mobilisierung und Sozialisierung der Bürger vor allem bei Wahlen bis hin zur Rekrutierung des politischen Personals und der Regierungsbildung (vgl. von Beyme 1984: 25). Definitionen des Rechtsradikalismus variieren enorm, von abstrakt räumlichen Positionierungen über unterschiedliche ideologische Umschreibungen bis hin zu soziostrukturellen Charakterisierungen (vgl. Mudde 2000a). In der deutschen wie internationalen Diskussion haben sich die oft synonym verwendeten Bezeichnungen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus für eine Vielzahl nationaler und ideologischer Phänomene in industriellen Gesellschaften durchgesetzt. Ganz allgemein werden damit jene politischen Ideen und Bestrebungen bezeichnet, welche im politischen Spektrum am äußersten rechten Rand anzutreffen sind und die Bereiche von Staat und Gesellschaft nach autoritären, ultranationalistischen und
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antidemokratischen Prinzipien ordnen wollen. Für den vorliegenden ländembergreifend vergleichenden Beitrag wird folgende modernisierungstheoretisch fundierte Definition zugrunde gelegt (vgL Minkenberg 1998: 29-35; ders. 2003a, 2008): Rechtsradikalismus bezeichnet im Allgemeinen eine politische Ideologie oder Strömung, die aufultranationalistischen Vorstellungen basiert und sich tendenziell - nicht notwendigerweise direkt und explizit - gegen die liberale Demokratie und deren zugrunde liegende Werte von Freiheit und Gleichheit sowie die Kategorien von Individualismus und Universalismus richtet. Der ultranationalistische Kem im rechtsradikalen Denken besteht darin, dass in der Konstruktion nationaler Zugehörigkeit spezifische ethnische, kulturelle oder religiöse Ausgrenzungskriterien verschärft, zu kollektiven Homogenitätsvorstellungen verdichtet und mit autoritären Politikmodellen verknüpft werden (vgl. auch Mudde 2007: Kap. 1-2) . Demgegenüber ist der BegriffFaschismus durch historische Erfahrungen und Bezugsgrößen inhaltlich stärker eingegrenzt (vgl. hierzu Griffin 1991), während der neuere BegriffRechtspopulismus unbestimmt bleibt und sehr unterschiedliche Gruppierungen wie die deutschen Republikaner, die italienische Forza Italia, die British National Party, die kanadische Refonn Party und die amerikanische Ross Perot-Bewegung zu umschließen beansprucht (vgl. hierzu Decker 2000). Das im deutschen Extremismusbegriff enthaltene Element der Verfassungsgegnerschaft (vgL hierzu Backes/Jesse 1989,2001) beinhaltet allerdings eine staatlich-normative Deutung und Ausgrenzung, die sich ebenso wie die parteiensoziologische Forschung lediglich aufParteien, Gruppen und deren Programme bezieht. Der gesellschaftliche Ort des Rechtsradikalismus findet sich jedoch in Organisationen - und Medien - ebenso sehr wie in Orientierungen und Milieus der Bevölkerung. Dabei muss der organisierte Rechtsradikalismus noch einmal hinsichtlich seiner parteifönnigen und nicht-parteifönnigen (das heißt bewegungsfönnigen oder subkulturellen) Ausprägung unterschieden werden (siehe unten). Seine öffentliche Resonanz und Mobilisierung wird oft als Resultat intensiver Modemisierungsschübe in entwickelten Industriegesellschaften angesehen. In den sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen des Rechtsradikalismus ist ein solches modemisierungstheoretisches Argument häufig anzutreffen. Einige ältere Ansätze wie die psychologisch orientierte und aus der Frankfurter Schule hervorgegangene Studie vom "autoritären Charakter" (Adomo et al. 1950) oder der eher institutionelle Ansatz der Totalitarismustheorie (FriedrichlBrzezinski 1956) kommen noch weitgehend ohne Bezug auf sozialen Wandel aus; anders die ebenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen sozialstrukturellen Erklärungsmodelle. Ihnen zufolge ist der Rechtsradikalismus Ausdruck einer ,,Anomie", das heißt ein Resultat der Atomisierung und Radikalisierung der Men-
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schen in der Massengesellschaft (Kornhauser 1959), oder Ausdruck von "Statusinkonsistenz", das heißt eine Reaktion der in Krisenzeiten statusbedrohten Mittelschichten (Lipset 1960). Allerdings bezogen sich diese Theorien weitgehend auf den Faschismus der Zwischenkriegszeit. Sie wurden fortentwickelt in einem Modell, das Rechtsradikalismus als "normale Pathologie westlicher Industriegesellschaften" auffasst (ScheuchlKlingemann 1967). Scheuch und Klingemann zufolge gibt es in Zeiten raschen sozialen Wandels stets bestimmte Individuen, welche als Antwort auf die zunehmende Komplexität ihrer Umwelt rigide Orientierungen entwickeln und von Parteien und Bewegungen mobilisiert werden können, die eine Auflösung der Widersprüche und Konflikte anbieten, indem sie eine Wiederherstellung vergangener Werte und Ordnungen versprechen. Diese Vorarbeiten flossen in den 1980er und 1990er Jahren in verschiedene innovative Erklärungsansätze ein, welche überwiegend der Parteienforschung, der Jugendsoziologie und der Bewegungsforschung entstammen. Bei fast allen Ansätzen findet sich der Gedanke eines Übergangs westlicher Gesellschaften in eine Phase des postindustriellen Kapitalismus oder der Postmoderne und der Auflösung traditioneller sozialer und politischer Bindungen. Im Mittelpunkt vieler soziologischer Analysen steht die "Desintegrationsthese", das heißt die zentrale Rolle von Individualisierungsschüben im Zusammenhang mit einer "Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche", aus welcher sich dann Handlungsunsicherheiten und 000machtserfahrungen ergeben, die den Rechtsradikalismus attraktiv machen (Heitmeyer 1987, 1993). Auch die Parteienforschung macht den Erfolg neuer rechtsradikaler Parteien an der Individualisierung von Risiken und den davon besonders betroffenen Modernisierungsverlierern (Hetz 1994; BetzlImmerfall1998) oder der Herausbildung einer neuen postindustriellen Konfliktlinie mit linkslibertären (Grünen) Parteien an einem Ende, rechtsautoritären Parteien am anderen Ende fest (Kitschelt 1995; Minkenberg 1993). Neuere von der Erforschung sozialer Bewegungen inspirierte Ansätze beziehen neben den institutionellen auch die politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen sowie die Interaktion zwischen dem bewegungsförmigen und parteiförmigen Rechtsradikalismus und dessen gesellschaftlichen Kontext historisch vergleichend in die Analyse mit ein (Jaschke 1994; Minkenberg 1998, 2003a, 2009a). Diese Kontextualisierung sowie modemisierungstheoretische Argumente können auch mit Blick auf die Entstehung einer osteuropäischen radikalen Rechten im Zuge von Systemwechsel und politisch-ökonomischer Modernisierung fruchtbar gemacht werden (vgL BeicheltlMinkenberg 2002; Minkenberg 2002a, 2002b; Mudde 2004; siehe auch Segert 2006).
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3. Erneuerung: der Aufstieg rechtsradikaler Parteien in Westeuropa Nach dem Ende der Rechtsdiktaturen der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts lassen sich in Europa (und Nordamerika) drei Phasen rechtsradikaler Mobilisierung unterscheiden: 1) die unmittelbare Nachkriegsära (McCarthyismus in den USA, Poujadismus in Frankreich, Sozialistische Reichspartei (SRP) und Deutsche Reichspartei (DRP) in der Bundesrepublik, Movimento Sociale Italiano (MSI) in Italien), 2) die 1960er und frühen 1970er Jahre (Wallace-Bewegung in den USA, Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) in der Bundesrepublik, Powellism und National Front in Großbritannien), 3) die 1980er und 1990er Jahre, in denen sich in fast allen Demokratien rechtsradikale Parteien und Bewegungen etabliert haben (siehe weiter unten Tabelle 1). Man kann in diesem Zusammenhang von einer Erneuerung des Rechtsradikalismus nach 1968 sprechen. Noch in den 1960er Jahren war in verschiedenen Ländern die Mobilisierung einer "nationalen Opposition" zu beobachten, die sich gegen das politische Regime richtete und um ein zentrales Thema der Demokratisierung erfolgte. In den USA etwa spielte die Aufhebung der Rassentrennung eine zentrale Rolle bei dem Erfolg der Wallace-Bewegung. In Frankreich und Großbritannien war es vor allem das Ende der Kolonialreiche, das einen revanchistischen Rechtsradikalismus beflügelte. In der Bundesrepublik ist das Erstarken der NPD im Zusammenhang mit der staatlichen Teilung und der Westintegration, das heißt dem Abschied vom autoritären Nationalstaat, zu sehen. Nur in Italien hielt sich dieses Phänomen über mehrere Jahrzehnte: Von der Nachkriegsära bis zu seiner Reform Mitte der 1990er Jahre hatte sich der am Faschismus orientierte MSI als rechtsradikale Systemopposition etabliert. Die Erneuerung des Rechtsradikalismus lässt sich sowohl auf der ideologischen als auch aufder organisatorischen Ebene beobachten. In Westeuropa hat sich die Idee und das Konzept des ,,Ethnopluralismus" verbreitet, das sich von der traditionellen, biologistisch begründeten Hierarchie der Rassenunterschiede abhebt, gleichwohl aber die Unvereinbarkeiten von Kulturen und Ethnien hervorstreicht. Es ist somit eine modernisierte Abwehrstrategie gegen Immigration und integration. Bei dieser ideologischen Erneuerung haben die Denkzirkel, Intellektuellengruppen, Politunternehmer und think tanks der "Neuen Rechten" eine besondere Rolle gespielt (vgl. Greß et al. 1990; Minkenberg 1998). Hierzu gehören bis in die 1990er Jahre hinein die französische Nouvelle Droite mit den Gruppierungen Groupement de Recherche et d'Etudes pour la Civilisation Europeenne (GRECE) um Alain de Benoist und den Club de I'Horloge, die italienische Nouva Destra sowie die deutsche Neue Rechte um Armin Mohler, den Deutschlandrat und die Zeitschriften criticon und Junge Freiheit (vgl. Gessenharter 1989, 1994).
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Tabelle 1: Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien (in %) in ausgewählten westeuropäischen Ländern: nationale Parlamentswahlen 1980-2009 (Durchschnittswerte) und Wahl zum Europaparlament (EP) 2009 19801984
19851989
19901994
19951999
20002004
20052009
EP 2009
B DK D F GB I N A S CH
1.1 6.4 0.2 0.4
3.8
6.3
6.6 6.4 2.3 12.7 0.9 17.8 6.0 19.6 4.0 10.9
10.9 9.8 3.3 14.9
6.8 4.5 5.0
1.7 6.9 0.6 9.9 0.6 5.9 8.4 9.7
9.3
13.8 12.6 1.0 12.4 0.2 4.3* 14.7 10.0 1.5 1.3
14.0 13.9 2.1 4.7 0.7 8.3* 22.5 28.2 3.0 30.0
10.1 14.8 1.7 6.3 8.3 10.2* 17.8 3.3 -
0
2.8
5.0
8.7
10.4
7.2
12.7
15.7 15.3 24.4
Anmerkungen: Folgende Parteien wurden in die Berechnung einbezogen: Belgien (B): Vlaams B10klVlaams Belang, Front National; Dänemark (DK): Fremskridtsparti, Dansk Folkeparti; Bundesrepublik Deutschland (D): Republikaner, Deutsche Volksunion, Nationaldemokratische Partei Deutschland; Frankreich (F): Front National, Mouvement National Republicain; Großbritannien (GB): British National Party, National Front; Italien (1): Movimento Sociale Italiano, Alleanza ~azionale, Movimento Sociale - Fiamma Tricolore, Lega Nord; NOl}Vegen (N): Fremskrittspartiet; Österreich (A): Freiheitliche Partei Österreichs, Bündnis Zukunft Osterreich; Schweden (S): Ny Demokrati, Sverigedemokratema, Nationaldemokratema; Schweiz (CH): Autopartei. Schweizer Demokraten, Lega dei Ticinesi. *ohne Alleanza Nazionale, aber incl. Lega Nord, Movimento Sociale - Fiamma Tricolore, Mussolini, Rauti Quelle: Minkenberg 2003a, 2008; Minkenberg/Perrineau 2007; neuere Recherchen fiir 2000-2009.
Die Neue Rechte tritt durch ihr Bemühen hervor, einen Gegendiskurs zu den "Ideen von 1968" zu entwerfen. Dabei steht der Versuch, einen "Kulturkampfvon rechts" zu initiieren und eine kulturelle Hegemonie im vorpolitischen Raum herzustellen, im Mittelpunkt. Dieser "Kulturkampf" war eng mit einer europapolitischen Vision verknüpft, die Europa als einheitlichen Kulturraum begriff und sich zunächst mit der Formel vom "dritten Weg" sowohl gegen die kapitalistische USA als auch gegen die kommunistische Sowjetunion (von der radikalen Rechten zusammenfassend als "Wodka-Cola-Imperialismus" etikettiert) richtete. Die ideologische Entwicklung wurde vom Auftreten einer Vielzahl neuer rechtsradikaler Parteien und Bewegungen begleitet und auch forciert. In Westeuropa wurden zwischen 1965 und 1995 19 rechtsradikale Parteien gegründet (Kitschelt 1995), die Hälfte von ihnen erzielte ab Anfang der 1980er Jahre durchschnittlich
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vier oder mehr Prozent in nationalen Wahlen. Dabei variieren die Mobilisierungserfolge einzelner Parteien je nach politischer Kultur der Länder und der Gelegenheitsstrukturen, insbesondere der Struktur des Parteienwettbewerbs, zum Teil erheblich (vgl. Tabelle 1). Auf der Ebene des Parteiendislrurses ist hervorzuheben, dass kaum eine der rechtsradikalen Parteien noch eindeutig diktatorische oder autokratische Politikkonzepte vertritt (vgl. Minkenberg 1998: 269-282, 289-300). Dies trifft vor allem auf die besonders erfolgreichen Parteien in Belgien, Österreich, Frankreich und Italien zu. Sie wollen die Demokratie nicht abschaffen, aber im Sinne von "Ethnokratie" umdeuten. Fast allen Parteien gemeinsam ist ein exklusives Nationsverständnis, das mit den Parolen "Les Franrrais d'abord!", "Deutschland den Deutschen" die Zugehörigkeit zur Nation und die Teilhaberechte an den Gütern und Leistungen des Systems (insbesondere am Wohlfahrtsstaat) an ethnischen Kriterien festmacht. Diese Slogans unterscheiden sich von früheren Forderungen eines "Algerie franrraise" oder dem NPD-Aufrufder 1960er Jahre "Breslau, Königsberg, Stettin - deutsche Städte wie Berlin!". Allerdings bestehen im Fall der deutschen Parteien revanchistische Gedanken einer Rückkehr verlorener Gebiete noch fort. Der französische Front National ist in der ideologischen Erneuerung am weitesten fortgeschritten. Mit dem Verlust Algeriens hat er sich abgefunden; vom Poujadismus der 1950er Jahre hat er zwar den Populismus übernommen, nicht jedoch dessen antimodernes Wirtschaftsprogramm. Bei fast allen Parteien der neuen radikalen Rechten ist die alte wirtschaftspolitische Suche nach dem "dritten Weg" jenseits des "Wodka-Cola-Imperialismus" zugunsten einer prinzipiellen, aber nicht uneingeschränkten Bejahung der Marktwirtschaft abgeschlossen. Hier mischen sich wohlfahrtschauvinistische, sozialprotektionistische und fremdenfeindliche Bezüge mit dem systemkritischen (das heißt vor allem gegen die Parteien, Parlamente und das politische Establishment gerichteten), aber nicht demokratiefeindlichen Populismus (vgl. hierzu Betz 2003; Ignazi 2003).
4. Erklärungen: Unterstützung und Differenzierung des rechtsradikalen Lagers in Westeuropa Bei der Analyse der Unterstützung rechtsradikaler Parteien spricht die Wahlforschung von Protestwählern und Modernisierungsverlierern (vgl. Betz 1994; Minkenberg 1998: Kap. 8). Ein wichtiger Indikator ist die politische Unzufriedenheit, dazu kommen die Dimensionen der Ideologie und der politischen Vermittlung (vgl. Falter 1994). Aber weder die aktuelle Höhe der Arbeitslosigkeit noch die Präsenz von Zuwanderern stehen in einem direkten Zusammenhang mit einem Anwach-
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sen rechtsradikalen Wahlverhaltens (vgl. Perrineau 1997). Sozialstrukturell handelt es sich eher um Angehörige der Arbeiterschaft und unteren Mittelschichten mit geringerer formaler Bildung; so liegt der Arbeiteranteil an den Wählern rechtsradikaler Parteien in vielen Ländern derzeit um die 30 Prozent. Zudem sind diese Wähler häufig überdurchschnitilichjung und männlich. Aber soziale Variablen allein erklären hier nur wenig. Bei den rechtsradikalen Parteien hat sich im Laufe der Zeit eine Wählerkoalition herauskristallisiert, die weder quer durch alle sozialen Schichten verläuft noch das untere Ende der sozialen Leiter darstellt. Diese Wähler sind nicht Opfer eines sozialen Abstiegs, sondern eher als "Verlierer" in einem Prozess der Ausdifferenzierung neuer Lebenschancen und als Gegner einer weiteren Pluralisierung der Gesellschaft zu betrachten. In der Regel treffen geringe Bildung, rigides Denken und traditionelle Werte aufeinander und verstärken sich gegenseitig. Man müsste daher besser von Modernisierungsverlierern in einem subjektiven Sinne oder "Modernisierungsgegnern" reden. Dieser Trend widerspricht der Argumentation, dass in den neuen rechtsradikalen Parteien der Typ einer rechtspopulistischen catch-all party zu sehen ist. Generell ist festzustellen, dass rechtsradikale Parteien in Europa dort erfolgreich waren, wo es ihnen gelang, durch eine Modemisierung ihrer Ideologie und Strategie sowie durch Anpassung an die Gelegenheitsstrukturen und Wahrung von Anschlussmöglichkeiten an den Nationsgedanken ein eigenes Profil in Abgrenzung zu anderen politischen Akteuren zu entwickeln und sich gesellschaftlich zu verankern (siehe unten). Das Feld der radikalen Rechten in Europa muss allerdings noch einmal differenziert und ergänzt werden, denn wir haben es hinsichtlich der Organisationsform nicht nur mit Parteien und auch nicht nur mit einem ideologischen Typ zu tun (vgl. hierzu auch Minkenberg 1998: Kap. 7; ders. 2008). Gemäß unterschiedlicher Ausgrenzungsfiguren im rechtsradikalen Diskurs kann man verschiedene ideologische Spielarten der radikalen Rechten identifizieren: eine autokratisch-faschistische Rechte, die durch die Kriterien ideologischer Nähe zu faschistischen und autokratischen Regimes der Zwischenkriegszeit sowie einer zentralen, hierarchischen, auf einen "Führer" hin ausgerichteten Organisation gekennzeichnet ist (zum Beispiel die deutsche NPD oder der MSVAN bis Mitte der 1990er Jahre; vgl. Tarchi 2003); eine rassistische oder etlmozentrische Rechte, die sich durch eine Agenda der etlmischen Segregation und des Glaubens an die Überlegenheit der jeweils eigenen Etlmie beziehungsweise durch eine "etlmopluralistische" Argumentation der Unvereinbarkeit von Kulturen und Ethnien auszeichnet (zum Beispiel der französische Front National); eine autoritär-populistische Rechte, die sich programmatisch weniger eindeutig bestimmen lässt als die anderen Varianten, die
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aber durch interne autoritäre, auf einen charismatischen Führer hin ausgerichtete Strukturen und einen wie immer gearteten populistischen und bestimmte Gruppen ausgrenzenden Diskurs gekennzeichnet ist (zum Beispiel die FPÖ; vgl. Obszerninks 1999); und schließlich eine religiös-fundamentalistische Rechte, die primär religiös argumentierend die "Reinheit" und Überlegenheit der eigenen Kultur beziehungsweise des eigenen Volkes verteidigt (zum Beispiel die französischen Comites Chretienite-Solidarite (CCS), siehe unten). Bei allen Varianten dominiert ein auf innere Homogenität beziehungsweise Vergemeinschaftung abzielendes, antipluralistisches Nationsverständnis. Alle Varianten weisen außerdem einen gegen die etablierten Eliten gerichteten populistischen Stil auf. Bei den einzelnen Ausprägungen gibt es zweifellos Überlappungen und fließende Übergänge (vgl. hierzu Betz 2003; Minkenberg 1998: Kap. 7). Hinsichtlich der organisatorischen Varianten sind neben den Parteien auch Bewegungsorganisationen zu nennen, das heißt nicht auf Wahlen und öffentliche Ämter, aber gleichwohl auf die Mobilisierung von Öffentlichkeit im Allgemeinen und eines spezifischen Mobilisierungspotenzials im Besonderen ausgerichtete Organisationen oder "Netzwerke von Netzwerken" (vgl. Rucht 1994; Tarrow 1994). Davon lässt sich noch einmal das Ensemble von Kleingruppen im Sinne eines subkulturellen Milieus abgrenzen, welches relativ autonom von größeren Gruppen, Organisationen und Parteien operiert und von dem eher als von den anderen beiden Ebenen Gewalt ausgeht (vgl. BergmannlErb 1994). Insgesamt ergibt sich damit zur groben Strukturierung des Feldes von Akteuren und Organisationen in der rechtsradikalen ,,Akteursfarnilie" eine Matrix mit ideologischen und organisatorischen Varianten, die in Tabelle 2 auf ausgewählte Länder Westeuropas angewendet wird.
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Tabelle 2: Akteure der westeuropäischen rechtsradikalen Familie (ca. 2000) (in Klammer das jeweilige Land in der Abkürzung aus Tabelle 1) Parteien-/ Wahlkampf- Soziale BewegungsSubkulturelle Milieus organisationen organisationen (SMO) Faschistische/ autokratische Rechte
NPD/DVUCD) MSI/AN (vor '95) (I) MSFT(I) BNP(GB)
ANSIFAP, NPD (D) FANE(F)
Neonazis (alle) Skinheads (alle) ,,K.ameradschaften" (D) FNE(F)
Rassistische/ ethnozentristische Rechte
Vlaams Blok (B) NPD/DVUCD) Republikaner (D) Front National (F) Lega Nord (I)
ANSIFAP(D) NPD/DVU CD-Ost)
Neonazis (alle) Skinheads (alle) ,,Kameradschaften" (D) GUD(F)
Autoritär-populistische FPÖ (A) MSI/AN(ab'95)(D Rechte Religiös-fundamentalistische Rechte
Comites ChretieniteSolidarite (F)
Abkürzungen/Übersetzungen: AN: Alleanza Nazionale (Nationale Allianz), ANS: Aktionsfront Nationale Sozialisten, BNP: British National Party (Britische Nationalpartei), DVU: Deutsche Volksunion, FANE: Federation d'Action Nationale et Europeenne (National-Europäisches Aktionsbündnis), FAP: Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, FNE: Faisceaux Nationalistes Europeennes (Nationalistische europäische Faschisten), FPÖ: Freiheitliche Partei Österreichs, GUD: Groupe Union Defense (Union Verteidigungsgruppe), MSI: Movimento Sociale Italiano (Italienische Soziale Bewegung), MS-FT: Movimento Sociale - Fiamma Tricolore (Soziale Bewegung - Trikoloreflarnme), NPD: Nationaldemokratische Partei Deutschland
Diese Gruppierungen sind in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark. Bei der Gegenüberstellung der relativen Stärke einzelner Organisationstypen fällt im westeuropäischen Vergleich ein Muster auf, das hier skizzenhaft zusammengefasst werden soll (vgl. Minkenberg 2003a, 2008; siehe auch Koopmans 1995). Auf der einen Seite findet man eine Gruppe von Ländern, in denen der rechtsradikale Parteiensektor stark, der Bewegungssektorjedoch eher schwach ist. Dazu zählen vor allem Österreich, Frankreich, Italien und Belgien (wenn man berücksichtigt, dass in Belgien der Vlaams Blok nicht im wallonischen Landesteil antritt, und man infolgedessen nur die Wahlergebnisse in Brüssel und Flandern heranzieht). Dem steht auf der anderen Seite mit Deutschland, Großbritannien und Schweden eine Ländergruppe gegenüber, in der es sich eher umgekehrt verhält: Ein schwacher oder fragmentierter Parteiensektor korrespondiert mit einem starken Bewegungssektor beziehungsweise Gewaltmilieu. Wie andernorts gezeigt (Minkenberg 2008) lassen sich diese Variationen eher mit kulturellen als mit strukturellen Faktoren erklären. Denn alle vier Länder mit starkem rechtsradikalen Parteiensektor sind überwiegend katholisch und weisen ein vorwiegend kulturelles
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Nationsverständnis auf, während die drei Länder mit schwachem Parteien- und starkem Bewegungssektor überwiegend protestantisch und historisch durch ein ethnisches Nationsbild geprägt sind. Das wird im innerdeutschen Vergleich noch einmal bestätigt, denn in den neuen Ländern, die man als protestantisch oder gar völlig entkirchlicht einstufen kann, ist der Bewegungssektor besonders stark ausgeprägt, während der Parteiensektor vor allem in den alten Ländern und hier noch einmal besonders im katholischen Süden stark ist. Im protestantischen Skandinavien findet allerdings in jüngerer Zeit eine Differenzierung statt, denn in Dänemark und Norwegen gewinnen rechtsradikale Parteien an Stärke. Die Wirkung strukturell-institutioneller Faktoren wie die Polarisierung in der Parteienkonkurrenz oder Wahlsysteme (Verhältnis- oder Mehrheitswahlen) ist im Vergleich dieser Länder weniger deutlich. Unter den politischen Gelegenheitsstrukturen kommt der Reaktion anderer politischer Akteure auf die radikale Rechte ein größeres Gewicht zu als etwa dem Wahlsystem: Repression oder Ausgrenzung hemmt die rechtsradikalen Parteien, kann aber nicht verhindern, dass sich der Bewegungssektor vergleichsweise stark entfaltet. Dies wirft wichtige Fragen nach dem richtigen Umgang mit Rechtsradikalismus und nach der Auswahl der Mittel mit Blick auf die beabsichtigten Ziele auf (vgL Minkenberg 2003b; Schain et al. 2002).
5. Systemfragen: der osteuropäische RechtsradikaIismus in der Transition Der Übergang von autoritären zu liberaldemokratischen Systemen wird häufig von Misstönen neuer rechtsradikaler Parteien und Bewegungen begleitet. Im westeuropäischen Falle von überwundenen rechten Diktaturen mobilisieren sie ihre Unterstützer oft durch Nostalgie für das verschwundene Regime, wie zum Beispiel die SRP in der frühen Bundesrepublik, der MSI im Nachkriegsitalien und neofaschistische und militaristische Gruppen wie die 23-F in Spanien nach Franco (Casals 2002; Ignazi 1994; Stöss 2003). Im Falle der staatssozialistischen Länder Osteuropas setzen sie der jungen Demokratie eine tiefer in die Vergangenheit zurückgreifende radikale Systemalternative entgegen, die sich sowohl gegen die aktuelle Ordnung als auch gegen das Vorgängerregime richtet (vgl. von Beyme 1996). Interessant daran ist weniger die Existenz dieser Erscheinungen. Vielmehr sollte man den Blick auf die regionalen Besonderheiten dieses Phänomens sowie die Gründe dafür und für dessen qualitative und quantitative Varianz in der Ära des Systemwechsels und der Konsolidierung von jungen Demokratien richten (vgl. Ramet 1999). So schwankt zum Beispiel die Bandbreite durchschnittlicher rechtsradikaler Wahlerfolge in Osteuropa in den 1990er Jahren und kurz danach erheblich: In den
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baltischen Ländern sowie Bulgarien bis zum Auftreten von "Ataka" in den Wahlen vom Juni 2005 war beziehungsweise ist keine nennenswerte rechtsradikale Partei zu finden, obwohl die Bedingungen dafür recht günstig waren (vgl. Kasekamp 1999,2003; Minkenberg 2002; Mudde 2000b); in Tschechien verflog ab Ende der 1990er Jahre der Zulauf für die ,,Republikaner" fast völlig. Auf der anderen Seite haben in Russland und Rumänien, und abgestuft dazu auch in Polen, derartige Parteien mit zusammengenommen oft zweistelligen Ergebnissen für die Region überdurchschnittliche Wahlerfolge erzielt (vgl. Shenfield 2000). Die polnische Situation ist dabei durch einen besonders hohen Grad an Fluktuation gekennzeichnet, die Umstrukturierung des Parteiensystems und die Reorganisation und Umbenennung einzelner Parteien stehen auf der Tagesordnung. Die wichtigsten rechtsradikalen Parteien waren zunächst die Nationale Front ,Vaterland' (SN: Stronnictwo Narodowe ,Ojczyzna'), die eine explizit antisemitische und antideutsche Position vertritt und sich an den nationalistischen Ideen von Roman Dmowski in der Zwischenkriegszeit orientierte, sowie die Konföderation für ein unabhängiges Polen (KPN: Konfederacja Polski Niepodleglej), die ideologisch nach den Ideen von Pilsudski ausgestaltet ist (vgl. Stankiewicz 2002). Als polnische Besonderheit ist das Vorhandensein klerikal-nationalistischer Parteien hervorzuheben. Dazu gehört die Christliche Nationale Union (ZChN: Zjednoczenie Chrzescijansko-Narodowe), die katholische Dogma zur Grundlage polnischer Politik erklärt und von sich behauptet, die Interessen aller ethnischen Polen in Osteuropa zu vertreten. Seit den polnischen Parlamentswahlen von 2001 waren bis zu den Wahlen von 2007 die rechtspopulistische Bewegung Samoobrona und die neu gegründete religiös-fundamentalistische Liga der Polnischen Familien (LPR) im Parlament vertreten. Letztere orientiert sich ebenfalls an Dmowski, ist mit dem ultrakatholischen Sender Radio Maryja verbündet und greift auf die Netzwerke älterer rechtsradikaler Parteien wie ZChN, ROP (Ruch Odbudowy Polski: Bewegung für den Wiederaufbau Polens) und SN zurück. In vielen neuen EU-Mitgliedstaaten der Region haben rechtsradikale Parteien in den Wahlen zum Europaparlament weniger Unterstützung erhalten als in der jeweiligen nationalen Parlamentswahl davor (Tabelle 3).
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Tabelle 3: Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien (in %) in ausgewählten Ländern Osteuropas: nationale Parlamentswahlen 1990-2009 (Durchschnittswerte) und Wahl zum Europaparlament 2009 1990-1994 PL RO R SK SI CZ H
14,1 5,8 22,9 k.A. k.A. 6,8** 0,8
1995-1999 8,0* 9,2 9,0 k.A. k.A. 6,0 5,5
2000-2004 18,1 20,9 11,5 7,0 4,4 1,1 4,5
2005-2009 10,4 3,1 8,1 11,7 5,4 1,7
EP2009 1,5 8,6 -5,5 2,9 -14,8
Anmerkungen: Folgende Parteien wurden in die Berechnung einbezogen: Polen (PL): KPN, ZChN, LPR, Samoobrona; Rumänien (RO): PUNR, PRM; Russland (R): LDPR; Slowafei (SK): SNS; Slowenien (SI): SNS; Tschechische Republik (CZ): SPR-RSC; Ungarn (H): MIEP, Jobbik. *geschätzter Anteil der ZChN und KPN, die 1997 als Partner im Wahlbündnis Solidamosc AWS antraten (Gesamtergebnis 33.8 Prozent) "Tschechischer Nationalrat Quelle: siehe Tabelle 1; neuere Recherchen fllr 2000-2009.
Nimmt man allerdings weniger systemfeindliche, aber ebenfalls ausgesprochen nationalistische Parteien dazu (zum Beispiel in Polen Samoobrona und PiS, in der Slowakei die Liste LZ-HZFS-Hnutie Za, in Lettland die Liste TB-LNNK), so ändert sich das Bild schlagartig (vgl. Minkenberg/Perrineau 2007). Mit wenigen Ausnahmen (Estland, Slowenien, Ungarn) liegt das Wählerreservoir für solche Parteien bei ca. 20 Prozent pro Land, mit allerdings erheblichen Fluktuationen in einzelnen Ländern, wie die Beispiele Polen und Ungarn zeigen. 2 Bei der Beurteilung der Wahlerfolge muss man ferner unterscheiden, mit welchen Parteitypen man es innerhalb des rechtsradikalen Lagers zu tun hat. Eine autokratisch-faschistische Rechte, die sich ideologisch an faschistischen und rechtsautoritären Regimes der Zwischenkriegszeit orientiert, ist in Russland und Rumänien stark. Hier finden sich auch Übergänge zu den ebenfalls starken nationalkommunistischen Strömungen der kommunistischen Nachfolgeparteien (vgl. Ishyama 1998). Weniger faschistisch oder nationalkommunistisch und eher ethnozentristischlrassistisch sind die rechten Parteien in Ungarn und Tschechien, deren Erfolge in Wahlen allerdings erheblich divergieren. In Polen existieren dar-
2
Bei den jüngsten Parlamentswahlen in Ungarn im April 2010 etablierte sich die rechtsradikale Partei Jobbik (Bewegung fllr ein besseres Ungarn) mit knapp 17 Prozent der Stimmen als zweitstärkste Kraft im Parlament hinter der rechtskonservativen Fidesz.
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über hinaus auch eine rechtspopulistische und eine religiös-fundamentalistische Strömung (vgl. Grün/Stankiewicz 2006). Daneben muss die bereits angesprochene organisatorische Unterscheidung getroffen werden, und zwar die zwischen einer eher parteiförmigen, an Wahlen teilnehmenden Variante von Rechtsradikalen und den rechtsradikalen Bewegungen und Subkulturen, einschließlich eines Gewaltmilieus (vgl. Minkenberg 2002b). Bei den einzelnen Ausprägungen gibt es zweifellos Überlappungen und fließende Übergänge, vor allem was die Überschneidung historischer Orientierungen (faschistischlnationalkommunistische) und aktueller Orientierungen angeht (Beichelt/ Minkenberg 2002: 252). Ein Versuch der Einordnung entsprechender Gruppierungen in ausgewählten Ländern Osteuropas findet sich in Tabelle 4.
Tabelle 4: Dominante Akteure der rechtsradikalen Familie in Osteuropa (nach 1989): Russland (R), Rumänien (RO), Polen (PL), Tschechische Republik (CZ), Ungarn (H) Ausrichtung der radikalen Rechten
Parteien-/ Wahlkampf- Soziale Bewegungsorganisationen organisationen (SMO)
Faschistischl autokratische Rechte
R:LDPR RO:PRM CZ: SPR-RSC H:MIEP
R: Pamjat, RNE RO:MPR,PDN PL: PWN-PSN, PNR
R:Werwölfe Skinheads
Ethnozentristischl rassistische Rechte
RO: PSM, PUNR PL:KPN, SN CZ: SPR-RSC H: MIEP, Jobbik
RO: Vatra Romaneasca PL : PWN-PSN, Radio Maryja
Skinheads
Autoritär-populistische Rechte
PL:SO
Religiös-fundamentalistische Rechte
PL:ZChN,LPR
Subkulturelle Milieus
PL: Radio Maryja
AbkürzungenlÜbersetzungen: KPN: Konfederacja Polski Niepodlegiej (Konföderation für ein unabhängiges Polen), LDPR: LiberaldeqlOkratische Partei Russlands, LPR: Liga Polskich Rodzin (Liga der Polnischen Familien), MIEP: Magyar Igazsag es Elet Pärlja (Ungarische Gerechtigkeits- und Lebenspartei), MPR: Miscarea pentru Romania (Bewegung für Rumänien), PDN: Partidul Dreapta Nationala (partei der nationalen Rechten), PNR: Polnische Nationale Wiedergeburt, PRM: Partidul Romania Mare (partei für ein Großrumänien), PSM: Partidul Socialist al Muncii (Sozialistische Arbeiterpartei), PUNR: Partidul Unitatii Romane (partei der Romänischen Einheit), PWN-PSN: Polska Wsp61nota Narodowa - Polskie Stronnictwo Narodowe (polnische Nationale Union), RNE: Russkoe Nacional'noe Edinstvo (Russischen Nationale Einheit), SPR-RSC: Sdruzeni pro republiku - Republikänskä strana Ceskoslovenska (Republikaner), SN: Stronnictwo Narodowe ,Ojzyzna' (Nationale Front ,Vaterland'), SO: Sarnoobrona Vatra Romaneasca: Rumänische Wiege, ZChN: Zjednoczenie Chrzescijailsko Narodowe (Christlich Nationale Union)
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Der Sektor der rechtsradikalen Bewegungen und Kleingruppen in Osteuropa ist im Gegensatz zum Parteienspektrum weitgehend unerforscht und es liegen nur wenig gesicherte Kenntnisse vor. Allerdings vermitteln diese das Bild eines in den meisten Ländern der Region existierenden lebhaften und zum Teil sehr gewalttätigen Bewegungssektors, der von einigen zentralen Organisationen wie der Russischen Nationalen Einheit (RNE) in Russland, der Vatra Romaneasca in Rumänien oder der PWN-PSN und der PNR in Polen stark geprägt wird. Diese Gruppen sind ideologisch überwiegend als faschistisch-autokratisch einzustufen (vgl. Shenfield 2000; Tismaneanu 1998). Daneben sind "Ideenlieferanten" zu nennen, wie die Gruppe Pamjat (Erinnerung), die in den letzen Tagen der Sowjetunion eine wichtige Rolle spielte, oder der ultrakatholische Sender Radio Maryja in Polen. Dieser sendet seit Mitte der 1990er Jahre neben seinen klassisch katholischen Botschaften auch solche religiös-fundamentalistischen, antimodernen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und manchmal auch antisemitischen Inhalts und erreicht mehrere Millionen von Hörern. Über diese Organisationen hinaus gibt es eine wachsende Szene gewalttätiger rechter Gruppen und Skinheads. In vielen polnischen Städten finden regelmäßige Treffen einiger 100 militanter Anhänger statt, genauso wie antisemitische oder faschistische Graffiti an den Gebäuden nicht außergewöhnlich sind. Auch in der Tschechischen Republik existiert eine sichtbare Szene gewaltbereiter rechter Extremisten, die oft Roma als ihre Opfer aussuchen und auf ein gewisses Maß an Sympathie ihrer Mitbürger zählen können. Schätzungen über die ungarische Skinhead-Szene weisen für die 1990er Jahre ca. 4000 Anhänger aus. Am größten dürfte aber das Potenzial in Russland sein, wo Medien über einen gegenwärtigen Umfang von 50.000 Skinheads und eine steigende Zahl rassistisch motivierter Morde berichten. Dazu kommen stark ideologisierte und militante Gruppen wie diejenigen um Alexander Dugin oder die neue "Bewegung gegen illegale Einwanderung" (vgL Berliner Zeitung vom 28.7.2005; Moscow He1sinki Group 2002; Tarasov 2003).
6. Kontraste: Ost-West-Unterschiede der europäischen radikalen Rechten Die dominanten Kräfte der radikalen Rechten in den osteuropäischen Ländern unterscheiden sich von den meisten westlichen Varianten in organisatorischer und ideologischer Hinsicht. Zum einen ist die osteuropäische radikale Rechte organisatorisch weniger entwickelt als ihr westliches Pendant; ein Schicksal, das sie mit den meisten politischen Parteien in der Region teilt. Deswegen darf sich der Blick auf dieses Phänomen nicht auf die rechten Parteien beschränken, sondern muss auch deren Beziehungen zu den Bewegungen und Milieus berücksichtigen. Ein solcher
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Blick verdeutlicht, dass der Parteiensektor - sowohl in der Stärke der Wahlerfolge als auch der Organisation gemessen - in den konsolidierten Ländern Osteuropas (unter anderen Baltikum, Polen, Ungarn, Tschechische Republik) schwächer ist als in den meisten westlichen Demokratien, vor allem in Österreich, Belgien oder Frankreich. Demgegenüber lässt sich die Militanz und Gewaltbereitschaft im Sektor der Bewegungen und Kleingruppen nur schwer schätzen, dieser scheint allerdings im Umfang mit demjenigen westlicher Länder, wo er besonders ausgeprägt ist (Deutschland, Schweden, USA), mindestens ebenbürtig. Internationaler Spitzenreiter dürfte hier Russland sein, dessen Demokratiequalität allerdings fragwürdig ist. Zum anderen orientiert sich die radikale Rechte in Osteuropa ideologisch mehr an der Vergangenheit als ihr westliches Gegenüber, das heißt, sie ist antidemokratischer und militanter. In den meisten Ländern, wo die Demokratie noch nicht "the only game in town" (Linz 1975) ist, eröffnet dies der radikalen Rechten Möglichkeiten, die sie im Westen nicht hat. Zugleich jedoch ist der politische Raum, zumindest für rechtsradikale Parteien, relativ beschränkt, da Nationalismus die Ideologie nicht nur rechter Parteien, sondern der meisten Hauptakteure durchdringt. Dies ist vor allem aufdie Prozesse der Nationsbildung in Osteuropa, das vorherrschende Nationsverständnis und die Besonderheiten des Regimewechsels nach 1989 zurückzuführen. In weiten Teilen der Region vollzog sich die Herausbildung von Nationalbewusstsein ohne Staat, der ethnische Nationsgedanke bildete sich als vorherrschender Typ heraus. Staatliche Kontinuitäten sind daher kürzer als bei den meisten westeuropäischen Nationen und zudem höchst unterschiedlich entwickelt (zum Beispiel mit Rumänien und Ungarn auf der einen, die baltischen Staaten oder die Ukraine aufder anderen Seite). Als weiteres Merkmal des postsozialistischen Europas kann man die komplexe Konfiguration der Nationen zwischen Nationsbildungsprozessen, nationalen Minderheiten auf eigenem Territorium und Gruppen der eigenen Nation in "externen" Gebieten hervorheben. In einigen Staaten wie Ungarn und Rumänien spielen sie eine nicht nur für rechtsradikale Parteien wichtige Rolle (vgl. Mudde 2004). Daneben wirken spezifische kulturelle Faktoren aufdie qualitative Ausprägung der radikalen Rechten. In Polen kommt aufgrund der Bedeutung des Katholizismus die Variante der religiös-fundamentalistischen Organisationen hinzu. Die ambivalente Rolle der katholischen Kirche gegenüber dem Antisemitismus mag auch erklären helfen, warum in Polen trotz eines eher schwach ausgeprägten begünstigenden Kontextes die Wahlergebnisse recht hoch sind, insbesondere wenn man die rechtspopulistische Bewegung Samoobrona (Verteidigung) des Bauemführers Andrzej Lepper dazu zählt (vgl. Grün 2004). Allerdings hat die Regierungsbeteiligung von LPR und Samoobrona von 2005 bis 2007 zu erheblichen Abnutzungs-
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erscheinungen geführt; die beiden Parteien sind seit 2007 nicht nur nicht mehr im Parlament vertreten, sondern mit dem kläglichen Wahlergebnis von weniger als zwei Prozent kaum noch wahrnehmbar. Dies hat sich auch mit ihrem schwachen Abschneiden in der Europawahl von 2009 bestätigt. Schließlich dominieren eher faschistisch-autokratische Parteien die Szene dort, wo der Regimekonflikt noch nicht überwunden ist (Russland, Rumänien bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts). Allerdings konnte in Russland das Aufschaukeln des Zusammenspiels von rechten und linken Kräften im Sinne einer "Weimarisierung" durch die Wahl Putins zunächst gebremst werden. Vor diesem Hintergrund weicht die Entwicklung der politischen Kultur in Osteuropa von der in Westeuropa ab (vgL von Beyme 1994). Nur die Tschechische Republik zeigt frühe Zeichen einer demokratischen Kultur mit einem relativ hohen Niveau an Systemverbundenheit und der Etablierung pluralistischer Prinzipien. Jenseits bedeutender intraregionaler Unterschiede können die politischen Kulturen Osteuropas, die durch die Folgen der Sozialisierung im Sozialismus in der Vergangenheit und der Transformation in der Gegenwart geprägt wurden, durch eine geringere Akzeptanz der liberalen Marktprinzipien als im Westen und eine stärkere Orientierung an sozialistischen und egalitären Werten, durch eine Unzufriedenheit mit dem Transformationsprozess und seinen Ergebnissen und durch die Werte einer "traditionalen Autorität" (im Gegensatz zu einer säkular-rationalen Autorität) charakterisiert werden. Im Gegensatz zu der Demokratisierung (West-)Deutschlands nach 1945 hat der antikommunistische Druck des Aufruhrs 1989 zwangsläufig zu einer Rehabilitierung des Nationalstaates in Osteuropa geführt. Deswegen sind nationalistische Rhetorik und das ethnische Konzept der Nation in der politischen Klasse und der breiten Öffentlichkeit kein Randphänomen, sondern relativ weit verbreitet, und zwar in einem spezifisch postkommunistischen Kontext einer im Vergleich zu Westeuropa schwächeren Zivilgesellschaft (Mudde 2004).
7. Fazit Mit diachronen und synchronen Vergleichen der rechtsradikalen Mobilisierungserfolge können systematisch gewonnene Erkenntnisse aufgezeigt werden, die in Einzellandstudien nur ansatzweise erzielt werden können. Diese betreffen zum Beispiel allgemeine Aussagen über kausale Zusammenhänge, zum Beispiel dass einerseits strukturellen Faktoren wie Wahlsystemen weniger Gewicht beizumessen ist als in der Parteienforschung üblich und dass andererseits kulturellen Faktoren, die bislang stark vernachlässigt wurden (wie religiösen Traditionen), mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Andererseits erweist sich der geographi-
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sche Faktor als Grundlage für das Studium einzelner Länder und vor allem für die area studies als relevant. Die daraus hervorgehende differenzierende Klassifikation und Typenbildung zeigt bestimmte Cluster von Ländern, in denen der rechtsradikale Parteiensektor stark, der Bewegungssektor hingegen schwach ist, und andere Länder, in denen es sich eher umgekehrt zu verhalten scheint. Auch der Vergleich zwischen den neuen rechtsradikalen Akteuren in Osteuropa und denen in den etablierten Demokratien des Westens eröffnet wichtige Einsichten über die Demokratie allgemein. Denn jenseits der offenkundigen Unterschiede in der historischen und situativen Charakteristik einzelner Länder lassen sich auch übergreifende Gemeinsamkeiten etwa hinsichtlich der Beziehungen zwischen parteiförmigem und bewegungsförmigem Rechtsradikalismus oder in den Mustern des Zusammenspiels zwischen radikalen und moderaten politischen Akteuren identifizieren. Strukturelle Unterschiede zwischen West- und Osteuropa sind in der nach wie vor höheren Volatilität rechtsradikaler Wahlerfolge im postkommunistischen Teil Europas sowie im ultranationalistischen Kern der Parteien zu sehen. Im Westen dominiert das Thema Einwanderung, oft vermischt mit einer ausgeprägten Islamophobie, während diese Agenda im Osten weitgehend fehlt. Sie wird dort von einem rückwärtsgewandten, militanteren und stärker territorial und aufnationale Minderheiten ("fremde" innerhalb, "eigene" jenseits der Landesgrenzen) ausgerichteten Denken ersetzt oder überlagert (vgL Minkenberg 2009b).
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Taktische Zivilisierung der extremen Rechten in Deutschland und Großbritannienl Andreas Klärner
Ein Vergleich der organisierten extremen Rechten in Deutschland und Großbritannien mutet auf den ersten Blick an wie ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. 2 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) zu einer Massenpartei mit mehreren Millionen Mitgliedern (vgl. zum Beispiel Burleigh 2000). Das nationalsozialistische Deutschland überzog Europa und die Welt mit Krieg und plante, organisierte und verübte schließlich einen Völkermord, dem ein Großteil der europäischen Juden sowie weitere Gruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, politische Gegner und Kriegsgefangene zum Opfer fielen (vgl. Gerlach 1998; Longerich 1998; Poh12008). Dieser Massenmord wurde unter Einsatz von hunderttausenden Mithelfem ausgeübt. Der Nazismus musste militärisch unter dem Einsatz gigantischer Ressourcen und Armeen von den Alliierten, zu denen Großbritannien gehörte, zerschlagen werden. In Großbritannien hingegen gab es in den 1930er Jahren mit der British Union of Fascists (BUF) von Oswald Mosley zwar eine faschistische Organisation, sie hatte aber selbst in ihren Hochzeiten nicht mehr als 50.000 Mitglieder, konnte politisch keinen Einfluss nehmen und wurde 1940 schließlich verboten (vgl. CopseylRenton 2005; Linehan 2000; Renton 2000; Thurlow 2000). Großbritannien zog zudem als Teil des alliierten Bündnisses in den Krieg gegen Deutschland und hatte einen bedeutenden Anteil an der Niederringung der Hitler'schen Armeen. Auch in der Nachkriegszeit unterschied sich die Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus in den beiden Ländern. In der Bundesrepublik Deutschland
2
Dieser Aufsatz baut aufeiner von Thomas Grumke und mir im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten vergleichenden Studie zum Rechtsextremismus in Deutschland und Großbritannien auf (vgl. Grumke/Klämer 2006). Die Begriffe Rechtsextremismus und extreme Rechte werden im Folgenden synonym und als Sammelbegriff fIl:r verschiedenartige gesellschaftliche Erscheinungsformen (Parteien, Organisationen, Aktionen, Einstellungen etc.) verwendet, die undemokratisch und gegen die Freiheit und Gleichheit aller Menschen gerichtet sind (vgl. Stöss 2005: 24ff.). Zu den K.ernelementen des Rechtsextremismus gehören: übersteigerter Nationalismus, Negierung der universellen Menschenrechte, Ablehnung der parlamentarisch-pluralistischen Demokratie, Forderung einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" (ebd.: 25f.).
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Andreas Klärner
gab es kontinuierlich eine parteifönnig organisierte extreme Rechte, die immer wieder bei Wahlen auf lokaler und regionaler Ebene erfolgreich war. In Großbritannien waren rechtsextreme Parteien deutlich weniger erfolgreich und konnten allenfalls lokal begrenzte "Achtungserfolge" erzielen. Erst in jüngster Zeit konnte die British National Party (BNP) dann eine Serie von erfolgreichen Wahlkämpfen um die Erringung von Mandaten in Kommunalparlamenten führen (vgL Copsey 2008); und schließlich gelang der Partei bei der Europawahl im Juni 2009 zum ersten Mal in der britischen Geschichte ein Erfolg auf nationaler Ebene und sie schickte mit 6,26 Prozent der Wählerstimmen (absolut: 943.598) zwei Abgeordnete ins Europäische Parlament (EEC News 2009c). Bei den Parlamentswahlen im Mai 2010 konnte die BNP diesen Erfolg allerdings nicht wiederholen. Mit 1,9 Prozent der Wählerstimmen (absolut: 563.743) konnte sie gegenüber den Parlamentswahlen von 2005 zwar um 1,2 Prozent zulegen, verlor aber im Vergleich zur Europawahl des vorigen Jahres knapp die Hälfte ihrer Wähler (EEC News 2005, 2010). Trotz der gravierenden Unterschiede hinsichtlich der Kontextbedingungen sowie der Größe, Stärke und Mobilisierungskraft der rechtsextremen Szene in beiden Ländern, die im nächsten Abschnitt vertieft werden, verspricht der asymmetrisch anmutende Vergleich des organisierten Rechtsextremismus in Deutschland und Großbritannien Erkenntnisgewinn, denn es lassen sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre gleichartige taktische und strategische Neuorientierungsprozesse der organisierten extremen Rechten ausmachen. Diese sind als Reaktion auf eine grundlegende Übereinstimmung in beiden Ländern zu verstehen: die verschärfte soziale Ausgrenzung rechtsextremer Politikvorstellungen und Handlungsoptionen in der Öffentlichkeit aufgrund des Nachwirkens und des Erinnems an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg.
1. Rechtsextremismus in Deutschland und Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg
In Deutschland gab es mit der Sozialistischen Reichspartei (SRP) eine Nachfolgepartei der NSDAP, die bei Landtags- beziehungsweise Bürgerschaftswahlen in Niedersachsen und Bremen Erfolge erzielen konnte, bevor sie 1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde (vgL BüschIFurth 1957; Schmollinger 1983; Stöss 2005). Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) konnte in der Bundesrepublik Deutschland bereits kurz nach ihrer Gründung zwischen 1966 und 1968 in die Landesparlamente von Hessen, Bayern, Bremen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg einziehen (vgl. Hoffmann 1999). Nach einem längeren Zerfallsprozess und
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einer Reorganisation seit Mitte der 1990er Jahre konnte die NPD seit 2004 wieder Wahlerfolge erzielen und in die Landesparlamente von Sachsen (2004 und 2009) und Mecklenburg-Vorpommern (2006) einziehen. Auch die beiden anderen rechtsextremen beziehungsweise rechtsradikalen Parteien, die Republikaner (REP) und die Deutsche Volksunion (DVU), konnten in den 1980er und 1990er Jahren in der Bundesrepublik und im vereinigten Deutschland eine Reihe von Erfolgen bei Kommunal- und Landtagswahlen verbuchen. Bei den Europawahlen 1989 erreichten die Republikaner mit 7,1 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis einer Partei des rechten Spektrums bei bundesweiten Wahlen (vgl. Stöss 2000, 2005; Klämer 2008b). In Großbritannien nahmen im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Österreich, Dänemark, Italien oder der Schweiz rechtsradikale, -extreme oder -populistische Parteien in der Nachkriegszeit nur eine marginale Stellung im Parteiensystem ein (vgl. Eatwell2000). Noch im Jahr 2003 begann Piero Ignazi seine Darstellung des Rechtsextremismus in Großbritannien mit dem Satz: "The extreme right in Great Britain has never experienced success" (Ignazi 2003: 173). Mit der 1967 gegründeten National Front (NP) und der Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre aufBetreiben des rechtsextremen Multifunk.tionärs John Tyndall ins Leben gerufenen British National Party (BNP) gab und gibt es zwar Parteien dieses Spektrums, die über eine jahrzehntelange, kontinuierliche Tradition verfügen, aber bis Ende der 1990er Jahre konnten sie lediglich bei Lokal- und Kommunalwahlen in den frühen 1970er Jahren vereinzelte Wahlerfolge vor allem in einigen Londoner Stadtteilen verbuchen (vgl. Fielding 1981; Ignazi 2003; Copsey 2008). Die National Front war lange Zeit die bedeutendste und erfolgreichste Partei der britischen extremen Rechten bezüglich der Mitgliederstärke und ihrer Wahlerfolge in den 1970er Jahren. In den 1980er Jahren setzte aber ein langsamer Niedergang ein, die Partei erlebte mehrere Spaltungen und die übrig gebliebenen Mitglieder trieben sie mit einem radikalen, elitären Kurs ("political soldiers") ins Abseits (Eatwell1996). Heute ist die NF nahezu bedeutungslos. Die BNP konnte Anfang der 1990er Jahre an diese begrenzten Erfolge in den Londoner Stadtteilen Tower Hamlets und Millwall anknüpfen (vgl. Copsey 2008: 51-75), verspielte diese allerdings immer wieder durch Radikalisierungstendenzen unter Tyndall. Die 1992 als Sicherheitstruppe der BNP kooptierte Neonazi-Gruppierung Combat 18 (C18) entwickelte ein Eigenleben und wurde für viele junge Mitglieder durch ihren aktionistischen und gewalttätigen Charakter attraktiv (Lowles 2001). Im Dezember 1993 gab es zwar einen Unvereinbarkeitsbeschluss bezüglich der Mitgliedschaft in BNP und C18, aber Tyndall forcierte dessen Umsetzung nur halbherzig. Stattdes-
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sen setzte er alles daran, der BNP einen radikaleren Anstrich zu geben, und hofierte beispielsweise William Pierce, den Führer der US-amerikanischen Neonazi-Gruppe National Alliance und Autor des in neonazistischen Kreisen äußerst beliebten Buches "The Turner Diaries" (vgl. Copsey 2008: 66-69). Erst nach einem Wechsel an der Parteispitze im Herbst 1999 und einer grundlegenden Modemisierung der Partei unter dem neuen Vorsitzenden Nick Griffin, dem Bemühen um ein moderateres Auftreten und einen Kampf um Legitimität konnten wieder Erfolge bei Kommunalwahlen und eine Steigerung der Mitgliederzahlen erreicht werden. Seitdem baute die BNP unter Griffin, der in der Ära Tyndall zu den Hardlinern gezählt hatte (ebd.), ihre Parteiorganisation und ihre Anhängerschaft mit einer bewussten Fokussierung auflokale soziale Probleme und dem Schüren rassistischer Ressentiments in sozialen Problemgebieten auf (vgl. Grillo 2005; Rhodes 2006, 2009b). Nach einer Serie von erfolgreichen Teilnahmen an Kommunalwahlen verfügt die BNP in England, Wales und Schottland im Mai 2009 über 55 Abgeordnete (vgl. Tetteh 2009). Angesichts der Gesamtzahl von über 20.000 Kommunalmandaten mutet der Erfolg allerdings recht bescheiden an. Der eingangs erwähnte Erfolg der Partei bei den Europawahlen 2009 verschaffte der BNP dann aber deutliche Sichtbarkeit in der britischen Politik. Bezüglich der Aktionsformen lassen sich ebenfalls Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Deutschland und Großbritannien feststellen. Neben der Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus und größtenteils unabhängig von diesem kam es im vereinigten Deutschland nach 1989/90 zu einer Welle fremdenfeindlicher Gewalttaten, die in der deutschen Geschichte seit 1945 beispiellos war. Pogromähnliche Ausschreitungen in Hoyerswerda (September 1991) und RostockLichtenhagen (August 1992) und die nächtlichen Brandanschläge gegen Wohnhäuser türkischstämmiger Deutscher in Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) waren nur die Spitzen dieser Welle, die zahlreiche Todesopfer forderte (vgl. dazu Koopmans/Olzak 2004; KlärnerlKohlstruck 2006: 24ff.). Im Jahr 2000 kam es dann wieder zu einem deutlichen Anstieg fremdenfeindlicher und antisemitischer Straf- und Gewalttaten. Der - bis heute nicht aufgeklärte - Düsseldorfer Handgranatenanschlag im Juli 2000, bei dem neun russische Juden zum Teil schwer verletzt wurden, wurde als eine neue Qualität rechtsextremer Gewalt empfunden (vgL zum Beispiel "Jetzt sind Macher gefragt" in Der Spiegel 32/2000). Nach einem kurzzeitigen Rückgang der registrierten Taten bis 2004 gibt es seit 2005 erneut einen Anstieg der Gewalttaten; die Vorfälle in Mügeln im August 2007 und an anderen Orten zeugen davon. 3 3
In der Nacht zum 19. August 2007 kam es im sächsischen Mügeln nach einem Stadtfest zu rassistischen Ausschreitungen gegen eine Gruppe von Indern (vgI. ,,Eskalation auf Dorffest.
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Auch in Großbritannien gab es seit den 1990er Jahren zahlreiche rassistische Straftaten, wenn auch die Zahlen aufgrund äußerst unterschiedlicher Erfassungsmethoden kaum zu vergleichen sind (vgl. Human Rights Watch 1997; EUMC 2005; Koopmans 1996). Im Jahr 2001 kam es dann in Burnley, Oldham und Bradford zu rassistischen Ausschreitungen, an denen sich etwa 1400 Menschen beteiligten und bei denen 450 Menschen verletzt wurden (Rhodes 2009a). Auch rechtsterroristische Aktivitäten und Anschlagsvorbereitungen hat es in beiden Ländern gegeben. In Deutschland ist für die 1990er Jahre vor allem der Sprengstoffanschlag auf die Ausstellungsräume der so genannten Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken zu nennen, für Großbritannien die von einem früheren Mitglied der BNP im April 1999 verübte Serie von Nagelbombenanschlägen in London, die gegen Einwanderer und Homosexuelle gerichtet war (vgl. Maegerle 2002). Generell gesehen blieben diese Tendenzen jedoch marginal und fanden keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Gerade in Deutschland wird diese Form politischer Gewalt auch von der rechtsextremen Szene selbst in großem Maße abgelehnt, da man sich dadurch die Zustimmung der Bevölkerung verbaue. Andere Formen militanter Aktionen (Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Gewalt gegen politische Gegner/Antifa etc.) werden von Teilen der Szene aber akzeptiert und zumindest für die frühen 1990er Jahre muss man von einer teilweisen Duldung und schweigenden Zustimmung zur Gewalt gegen Ausländer (vor allem gegen Asylbewerber) in der deutschen Bevölkerung ausgehen. Auch wenn vereinzelt Demonstrationen von Anhängern der BNP oder anderer rechtsextremer Gruppierungen in Großbritannien stattfinden, so gibt es dort keine mit der "Demonstrationspolitik" (Virchow 2006) der extremen Rechten in Deutschland vergleichbare Frequenz und Qualität öffentlicher Aktionen. In Deutschland finden diese Demonstrationen seit Ende der 1990er Jahre beinahe wöchentlich, zum Teil an mehreren verschiedenen Orten in allen Teilen des Landes statt. Die Teilnehmerzahlen bewegen sich meist im Bereich von 50-300 Personen, einzelne Großereignisse ziehen aber auch bis zu 7.000 Teilnehmer an. Allein im Jahr 2009 gab es mindestens 137 Veranstaltungen von Rechtsextremisten mit überregionaler Teilnehmermobi1isierung. Die durchschnittliche Teilnehmerzahl betrug dabei ca. 280, fünf Veranstaltungen hatten mehr als 1.000 Teilnehmer, die größte davon war ein "Trauermarsch" in Dresden am 14.2.2009 unter dem Motto "Gedenken an den alliierten Bombenholocaust" mit ca. 6.500 Teilnehmern (vgl. Deutscher Bundestag 2009a, 2009b, 2009c, 2010).
Rasender Mob jagt Inder - Mügeln unter Schock" in Der Spiegel vom 20.8.2007, unter http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/O.1518.500884.00.html; letzter Zugriff am 2.2.20 I 0).
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Gleichzeitig und in großem Maße unabhängig von den Parteien gibt es in Deutschland starke bewegungsförmige Elemente, vielfach wird in der aufDeutschland bezogenen Forschung gar von einer rechtsextremen sozialen Bewegung gesprochen (vgl. Bergmann 1994; Pfahl-Traughber 1999; Rucht 2002). Gerade die flächendeckend vorhandenen "Kameradschaften", ,,Aktionsbüros" oder andere regionale rechtsextreme Gruppierungen ("groupuscules"4), die den radikalen oder fundamentaloppositionellen Flügel des Rechtsextremismus darstellen, sind stark politisiert, aktionistisch orientiert und haben seit den 1980er/1990er Jahren eine wachsende Bedeutung erfahren. Zusammen mit der Ausbildung einer jugendlichen, maskulin geprägten Jugendkultur (vgl. Kohlstruck 2002) haben diese Elemente wesentlich zur Dynamisierung des Rechtsextremismus in Deutschland beigetragen. Parteien und Bewegungselemente sind regional in ganz Deutschland vertreten, Schwerpunkte liegen aber in den fünf neuen Bundesländern. In Großbritannien hingegen handelt es sich um eine weitgehend marginalisierte Szene, die personell und organisatorisch sehr viel schwächer ist als in Deutschland. Rechtsextreme "groupuscules" sind in England nur in geringem Ausmaß vorhanden, kaum miteinander vernetzt und in Quantität und Qualität nicht mit den deutschen vergleichbar (eine dieser Splittergruppen ist zum Beispiel die National Revolutionary Faction, vgl. dazu Macklin 2005). Damit fehlt die wie in Deutschland vorhandene Aktivistenbasis und anstatl eines Miteinanders arbeiten im Vereinigten Königreich "groupuscules" hauptsächlich gegeneinander - nicht selten als konkurrierende Abspaltungen von Abspaltungen. Einen weiteren wichtigen Faktor für den Vergleich der extremen Rechten in beiden Ländern stellen die Kontextbedingungen dar. Hier sind vor allem die unterschiedlichen Wahlsysteme in den beiden Ländern zu nennen. Das englische Mehrheitswahlrecht benachteiligt systematisch kleinere Parteien, während diese im deutschen Verhältnisrecht wesentlich bessere Chancen auf Repräsentation im parlamentarischen System haben. Neben diesem offensichtlichen Unterschied gibt 4
Roger Griffin hat für das nicht-parteiliche, oftmals splitterhafte Spektrum des Rechtsextremismus den Begriff der ,,groupuscular right" vorgeschlagen (Griffin 2003). Diese "groupuscules" sind definiert als ,,intrinsically small political (frequently meta-political, but never primarily partypolitical) entities formed to pursue palingenetic (i.e. revolutionary) ideological, organizational or activist ends with an ultimate goal ofovercoming the decadence ofthe existing liberal democratic system" (ebd.: 30). Obwohl sie autonome und fest geformte Einheiten sind, verfligen sie aber nur über eine kleine Zahl aktiver Mitglieder und minimale öffentliche Sichtbarkeit oder gar Unterstützung. Trotzdem könnten sie durch die Fähigkeit, sich relativ einfach mit anderen, vergleichbaren Einheiten zu verbinden, Einfluss und Bedeutung erlangen. In diesem Sinne bilden "groupuscules" eine nicht-hierarchische, fiihrerlose und polyzentrische Bewegung mit fließenden Übergängen und ständig wechselnden Bestandteilen: "This ,groupuscular right' has tbe characteristics of a political movement and, in an age of relative political stability, is ideally adapted to the task of perpetuation revolutionary extremism, however utopian in pragmatic terms" (ebd.).
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es zum anderen aber eine ebenso bedeutende Gemeinsamkeit in den Kontextbedingungen. Offen nazistische und faschistische Positionen unterliegen in beiden Ländern gleichermaßen einer verschärften sozialen und politischen Ausgrenzung. In Großbritannien gelten sie auch und vor allem aufgrund des Kampfes britischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg gegen den Nazismus als unbritisch (vgl. Griffin 2002), in Deutschland gehört der Kampf gegen den Rechtsextremismus aufgrund der deutschen Vergangenheit zur Staatsräson (vgl. KlämerlKohlstruck 2006).
2. Soziale Ausgrenzung der extremen Rechten Die Auseinandersetzung über den Umgang mit der extremen Rechten wurde und wird in der Öffentlichkeit gefiihrt, wobei hier unter Öffentlichkeit ein "offenes Kommunikationsfomm" (Neidhardt 1994: 7) beziehungsweise ein "Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen" (Habermas 1992: 436, Hervorhebung im Original) verstanden wird. Die verschiedensten Akteure und Sprecher versuchen, ihre Vorstellungen, ihre Problemdefinitionen und ihre Themen einzubringen, um Zustimmung zu werben und ihren Einfluss in politische Entscheidungen umzusetzen. In der Öffentlichkeit werden aber auch Grenzen gezogen: Zulässige Äußerungen, Meinungen und Handlungen werden von unzulässigen Äußerungen, Meinungen und Handlungen geschieden. Bezüglich des Rechtsextremismus hat sich im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte ein Konsens etabliert, dem ,,Rechtsextremismus als Ideologie, als Organisation oder Bewegung ,nicht noch einmal' die Macht zur Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens zu überlassen" (KlämerlKohlstruck 2006: 7). Vor allem der Antisemitismus war ,,[nlach der militärischen Zerschlagung des Hitlerregimes (...) in Deutschland verpönt" (Dahmer 2001: 72). Theodor W. Adorno sprach 1962 sogar von einem "öffentlichen Tabu über dem Antisemitismus" (Adorno 1997: 368).5 Ähnlich tabuisiert war und ist der Bezug aufnationalsozialistische Symbolik und die damit verbundene rechtsextreme Ideologie auch in Großbritannien. Ende der 1970er Jahre konnten Punks wie Sid Vicious oder Siouxsie Sioux mit dem Tragen von Hakenkreuz-Armbinden oder -T-Shirts die ganze Nation schocken (vgl. 5
Das heißt nicht, dass der Antisemitismus in Fonn individueller Einstellungen verschwunden oder aus privaten Kommunikationen verbannt wllre: Einstellungsumfragen ermitteln regelmäßig einen nicht unerheblichen Prozentsatz von Befragten, die antisemitischen (und fremdenfeindlichen) Aussagen zustimmen (vgl. zwn Beispiel Heitmeyer 2002), aber in der öffentlichen Kommunikation sind offen antisemitische Äußerungen weiterhin verpönt. Der Ausschluss von Martin Hohmann aus der CDU-Bundestagsfraktion und der Partei nach einer als antisemitisch kritisierten Rede ist nur ein Beispiel dafiir.
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Hebdige 2007). Die von der Punk-Subkultur hergestellte Verbindung von Union Jack und Hakenkreuz stellte die äußerste Provokation dar und die im Song "God save the Queen" von den Sex Pistols betriebene Gleichsetzung der britischen Monarchie mit einem "fascist regime" war ein Zeichen starker Verachtung der britischen Gesellschaft. 6 Und selbst in jüngster Zeit sorgte Prinz Harry, der zweite Sohn des britischen Thronfolgers Prinz Charles, für einen Skandal, als er auf einer Kostürnparty eine Nazi-Uniform mit Hakenkreuzbinde trug. Veteranen des Zweiten Weltkriegs wiesen empört daraufhin, dass dies eine "Beleidigung der Soldaten" sei, "die gegen deutsche Truppen gekämpft haben" (vgl. Times Online 2005, eigene Übersetzung). Dieser Konsens war und ist jedoch brüchig, die Grenzen sind nicht für alle Zeiten fest gefügt, wie es in Deutschland gerade das Anfang der 1990er Jahre in Teilen der politischen und medialen Öffentlichkeit geäußerte Verständnis für fremdenfeindliche Gewalttaten zeigte.? Erst die demonstrative Verurteilung der Gewalt, initiiert durch das Aufbegehren gesellschaftlicher Gegenkräfte, führte dazu, dass auch in der breiten massenmedialen Öffentlichkeit die Grenze gegenüber dem Rechtsextremismus als politischer Ideologie, vor allem aber gegenüber dessen gewalttätigen Aktionsformen wieder bekräftigt wurde (vgl. Willems 1996). Friedrich W. Stallberg (1996) hat im Zusammenhang mit der öffentlichen Reaktion auf den Rechtsextremismus in Deutschland von einer "sozialen Ächtung" des Rechtsextremismus gesprochen. Tatsächlich:finden Rechtsextremisten hier in den Massenmedien kein Gehör und keine Plattform. Man verweigert ihnen das Gespräch, wie beispielsweise an der Reaktion der Vertreter von PDS und Bündnis 90IDie Grünen, SPD und CDU am Abend der Landtagswahlen in Sachsen 2004 deutlich wurde, als diese bei Erscheinen des NPD-Vertreters Holger Apfel wortlos die Diskussionsrunde verließen (vgl. Süddeutsche Zeitung 2004). Demonstrationen und Kundgebungen von Rechtsextremisten werden fast immer von Gegenveran6
7
Zur Ehrenrettung der Punk-Subkultur ist hinzuzufügen, dass das Tragen von Hakenkreuzen als Provokation nur in einem Kontext funktioniert, in dem rechtsextreme und faschistische Gruppierungen keine reale Gefahr darstellen. Sobald die NF in England Auftrieb erhielt und die Gefahr bestand, dass sie einen Durchbruch schaffen könnte, engagierten sich viele Punk-Bands in Initiativen wie ,,Rock against Racism". Das unterscheidet übrigens auch die HakenkreuzProvokationen der britischen Punks vom Flirt der deutschen Band Rammstein mit faschistischer Symbolik. So wurde zum Beispiel in einem großen deutschen Nachrichtenmagazin (vgl. die Titelstory "Streitfall Ausländerkriminalität" in F DeuS vom 7.2.1994) relativ unverhüllt zur Selbs~ustizund zur Gewalt gegen Ausländer aufgerufen. In dem Artikel werden organisierte ausländische Banden als Bedrohung fiir die Deutschen dargestellt. Der Artikel endet mit einem Satz von Thomas Hobbes: ,,Die Verpflichtung des Bürgers gegen den Souverän (...) kann nur solange dauern, als dieser imstande ist, sie zu schützen. 1st der Staat dazu nicht mehr in der Lage, gilt das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen" (vgl. Jäger/Jäger 1999: 125ff.).
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staltungen begleitet, die nicht selten mit gewalttätigen Ausschreitungen einhergehen. Der Staat geht mit Gesetzen, Vereins- und Versammlungsverboten (vgl. Jahn 1998; Leist 2003; Röger 2004; Rohrßen 2009: 189-230), teilweise auch mit polizeilichen Sondereinheiten (vgl. Die Tageszeitung 2008) gegen Rechtsextremisten vor. Außerdem werden Initiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit mit staatlichen Mitteln gefördert (vgl. Lynen von Berg 2003). Weiter haben repräsentative Bevölkerungsumfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie vom November 2001 ergeben, dass 79 Prozent der Befragten keine Rechtsextremisten als Nachbarn wollten. Damit lag die Ablehnungsquote über der gegenüber Betrunkenen (67 Prozent), Drogenabhängigen (65 Prozent), Linksextremisten (56 Prozent) und deutlich über der gegenüber Moslems, die sich 18 Prozent nicht als Nachbarn wünschten (vgl. Jesse 2002: 87). Auch in Großbritannien bekommen Rechtsextremisten kaum Gelegenheit, ihre Position in den Medien darzustellen. Erst einige Monate nach dem Einzug der BNP ins Europaparlament wurde Nick Griffin im Oktober 2009 in die politische Diskussionsrunde Question Time in der BBC eingeladen. Die Einladung der BBC von Griffin war hoch umstritten und die Sendung wurde von Protesten auf der Straße begleitet (vgl. BBC News 2009b; The Guardian 2009b, 2009c). Griffin beklagte sich anschließend darüber, dass London "ethnisch gesäubert" und "nicht länger britisch" sei, worauf der Londoner Bürgermeister Boris Johnson mit den Worten zitiert wurde, in London sei ,,kein Platz" für Griffin und seine "extremistischen Ansichten" (The Guardian 2009d). Zudem war kurz vor der Sendung erneut eine Liste mit Adressdaten aller Mitglieder der BNP im Internet aufgetaucht (The Guardian 2009a). Bereits im November 2008 wurde eine solche Liste veröffentlicht. Unter den Namen befanden sich auch Polizisten und Justizvollzugsbeamte. Die Behörden versprachen, alle Fälle zu überprüfen, da eine Mitgliedschaft in der BNP mit dem Polizeidienst unvereinbar wäre. Einige der auf der Liste genannten Personen berichteten der BBC anonym auch von Drohanrufen (vgl. BBC News 2008). Ebenso gibt es eine lange Tradition antifaschistischer Gruppierungen und Aktivitäten (Copsey 2000). Fast immer wenn Parteien wie die NF oder die BNP davor stehen, Kandidaten für die Sitze in den Kommunalvertretungen aufzustellen, mobilisieren deren Gegner mit Flugblättern, Demonstrationen und Infoständen. Ziel dieser Kampagnen ist es, sowohl die oftmals nur unzureichend über das britische Wahlsystem informierten Einwanderer als auch diejenigen zur Wahlteilnahme zu bewegen, die sich ansonsten nur mäßig für die Lokalpolitik interessieren, aber von rechtsextremen und rassistischen Positionen angewidert sind. Diese Kampagnen sind nicht selten erfolgreich und tragen dazu bei, die Wahlbeteiligung zu erhöhen
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und damit den Einzug der rechtsextremen Kandidaten zu verhindern (ders. 2008: 139ff.). Auftritte von rechtsextremen Politikern in der Öffentlichkeit werden auch immer wieder von Protesten begleitet. So wurde etwa bei einer Pressekonferenz nach dem erfolgreichen Abschneiden der BNP bei den Europawahlen deren Vorsitzender Nick Griffin aus einer Menge von Protestierenden mit Eierwürfen attackiert (vgl. BBC News 2009a). Eine wie die in Deutschland explizit gegen rechtsextremistische Organisationen und Versammlungen gerichtete Gesetzgebung und Verwaltungspraxis gibt es in Großbritannien zwar nicht, gleichwohl gibt es dort eine strikt antirassistische Gesetzgebung (Solanke 2009), die immerhin die BNP dazu führte, aus Angst vor einer Fortsetzung des kostspieligen Rechtsstreits ihre Mitgliedschaft auch für "nicht-weiße" Interessenten zu öffnen (vgl. London Evening Standard 2009; The Guardian 2010). Eine gesellschaftliche und staatliche Ausgrenzung des (organisierten) Rechtsextremismus findet in Deutschland und Großbritannien zweifellos statt, es ist aber fraglich, ob diese mit dem sehr starken Begriff der "sozialen Ächtung" angemessen charakterisiert ist. Immerhin wird mit diesem Begriff ein vollständig rechtloser Zustand der Geächteten und eine totale, in Stallbergs Worten "unaufuebbare" Ausgrenzung suggeriert, die alle moralischen und juristischen Normen außer Kraft setzt (Stallberg 1996: 112). Davon kann jedoch auch dann nicht die Rede sein, wenn die NPD-Parteizentrale bereits mehrfach Ziel von Brandanschlägen war und Rechtsextremisten von politischen Gegnern in Einzelfällen in einer Form attackiert wurden, bei denen auch deren Tod billigend in Kauf genommen wurde. Die rechtsstaatlichen Garantien auf Unverletzlichkeit der Person, des Eigentums und (in Grenzen) aufFreiheit der öffentlichen Meinungsäußerung gelten aber weiterhin auch für Rechtsextremisten und werden von staatlichen Behörden nötigenfalls mit Polizeigewalt durchgesetzt. Rechtsextreme Demonstrationen werden von der Polizei geschützt, Straftaten gegen Rechtsextremisten werden juristisch genauso verfolgt wie andere Straftaten, und Angriffe auf Rechtsextremisten, bei denen schwere Verletzungen in Kauf genommen werden, sind auch im linken und linksextremen Spektrum nicht unumstritten. Deshalb sollte statt von "sozialer Ächtung" besser von einer verschärften institutionellen und gesellschaftlichen Ausgrenzung des Rechtsextremismus gesprochen werden. Diese verschärfte Ausgrenzung ist, wie am Beispiel der fremdenfeindlichen Gewaltwelle in Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre gezeigt, historisch variabel. Formen und Intensität der Ausgrenzung können sich außerdem lokal oder danach unterscheiden, ob es sich um ländliche oder städtische Öffentlichkeiten handelt. Gerade weil die gesellschaftlichen Grenzen gegenüber dem Rechtsextremismus variabel sind, zählt
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es zu den strategischen Zielen des organisierten Rechtsextremismus, öffentliche Akzeptanz zu erreichen und die bestehende Ausgrenzung aufzubrechen und zu überwinden. Wie andere soziale Bewegungen (vgl. Neidhardt 1994) bemüht sich auch die rechtsextreme Bewegung um öffentliche Resonanz und Zustimmung fiir die eigenen Themen und Meinungen.
3. Strategische und taktische Neuausrichtung der organisierten extremen Rechten Da offen nationalsozialistische und rechtsextreme Positionen in beiden Ländern gleichermaßen aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen sind - und die beiden einflussreichsten Parteien in beiden Ländern, die BNP und die NPD, Erfahrungen mit der Marginalisierung aufgrund zu extremer, meist vergangenheitsbezogener Positionen haben -, gab es immer wieder Versuche, diese Positionen zu "modernisieren", einen weniger aggressiven Sprachgebrauch zu übernehmen, sich im öffentlichenAuftreten zu mäßigen und damit Akzeptanz zu gewinnen. Ein wichtiges Element bei diesem Versuch, Respektabilität zu gewinnen, ist die Thematisierung aktueller sozialer Probleme. Diese Thematisierung dient als master frame, um in der Bevölkerung Resonanz zu finden und anschlussfiihig zu werden. Für beide Länder charakteristisch ist, dass der jüngste Strategiewechsel auch mit einem personellen Bruch in der Führungsspitze der jeweiligen Partei einherging. Für Deutschland stellt die Wahl von Udo Voigt zum neuen Parteivorsitzenden der NPD im Jahr 1996 ein wichtiges Datum dar. Die NPD befand sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im Niedergang und interne Querelen, Spaltungstendenzen, personelle und inhaltliche Differenzen überschatteten die Parteiaktivitäten. Der im Juni 1991 neu gewählte Vorsitzende Günter Deckert konnte diese Entwicklung nicht aufhalten und führte die NPD mit seiner programmatischen Fixierung auf die Vergangenheitspolitik - insbesondere durch eine Kampagne zur Leugnung des Holocausts - weiter ins politische Abseits. 1996 war die Partei auf 3.500 Mitglieder zusammengeschmolzen (gegenüber dem Höchststand von 28.000 Mitgliedern im Jahre 1969, vgl. Hoffmann 1999). Udo Voigt setzte dann nach seiner Wahl eine schrittweise Modernisierung der Partei durch, die durch verschiedene Aspekte gekennzeichnet ist: zum einen durch eine Einbindung der jugendlichen Subkultur, der Skinheads und der Neonazis. Dabei versuchte er, eine taktische Zivilisierung dieser Jugendbewegung durchzusetzen, indem sie von allzu direkten Gewalttaten abgehalten und in die politische Arbeit eingebunden werden sollte. Zweitens ist diese Modernisierung wenigstens teilweise durch eine Mäßigung in der Rhetorik gekennzeichnet. Harte rechtsextreme Themen, wie die Holocaust-
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Leugnung, Vergangenheitspolitik, Grenzrevisionismus, wurden in der öffentlichen Selbstdarstellung der Partei zwar nicht aufgegeben, aber doch zurückgestellt zugunsten der eher weicheren, sozialen Themen. Und drittens versuchte die Partei, ein verstärktes lokalpolitisches Engagement zu entwickeln, indem etwa NPD-Ortsverbände lokale soziale Probleme aufgriffen oder sich die NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten für ,,nationale Jugendzentren" einsetzte, Lagerfeuer und Grillfeiern veranstaltete oder Fußballtumiere organisierte (vgl. Klärner 2008a, 2008b). Die Wahlerfolge in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommem zeugen vom Erfolg dieser taktischen und strategischen Neuausrichtung. Diese Landtagswahlkämpfe wurden eben nicht mit vergangenheitspolitischen Themen oder rnit einer Kampagne zur Holocaust-Leugnung geführt, sondern rnit einer Kampagne gegen Hartz IV. Udo Voigts Bemühungen um eine Neuausrichtung der NPD sind aber weder unumstritten, noch werden sie von ihm konsistent durchgeführt. Immer wieder gibt es parteiinterne Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs, zuletzt im Streit des realpolitischen, modernistischen Flügels um Holger Apfel und des fundamentaloppositionellen, NS-nostalgischen Flügels um den mittlerweile verstorbenen Anwalt Jürgen Rieger. Die NPD-Führung steht in diesen Auseinandersetzungen immer auch unter dem Druck der gerade in Deutschland besonders starken aktionistisch und militant ausgerichteten Bewegungsorganisationen (vgL Klärner 2008a, 2008b). In Großbritannien konnte die BNP einen ähnlichen Aufschwung wie die NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls erst nach einem Führungswechsel im Herbst 1999 verzeichnen. Damals wurde der langjährige Vorsitzende Tyndall in einer Kampfabstimmung von Nick Griffin vom Parteivorsitz verdrängt. Griffin, der lange Zeit zu den Radikalen in der NF und der BNP gehörte, richtete nach seiner Wahl zum Vorsitzenden die BNP nicht auf einen aggressiven Nationalsozialismus aus, sondern versuchte, den französischen Front National zu kopieren, und setzte auf eine "Modemisierung" der Partei und ihres Auftretens in der Öffentlichkeit. Die Sprache wurde gemäßigter und die vorher von der Partei erhobene Forderung nach einer ,,zwangsweisenAusweisung" aller schwarzen Migranten wurde, genauso wie die antisemitische Agitation, in den Hintergrund gerückt. Zur neuen Strategie der BNP gehört es, sich nicht mehr, wie noch unter Tyndali, vergangenheitspolitischer Themen zuzuwenden, sondern sich relevanter und aktueller Themen wie der Migration, der sozialen Frage oder der Globalisierung anzunehmen und diese in einem völkischen Sinne unter Zuhilfenahme von mainstream-kompatiblen Begriffen wie ,,kulturelle Identität" oder "Tradition" zu beantworten. Neben dieser thematischen Neuausrichtung lässt sich auch eine strategische Neuorientierung der BNP unter Griffin verzeichnen. Während die Partei
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unter Tyndall vor allem auf die landesweiten Wahlen setzte und hoffle, auf diesem Weg ins Aufmerksamkeitslicht der Medien zu rücken, legte Griffin, ähnlich wie zum Beispiel die NPD in Sachsen, größeren Wert auf die lokale Basisarbeit. Über den Weg der lokalen Verankerung der Parteiaktivisten, ihr Engagement auf der Gemeindeebene, sollte politische Legitimität und Glaubwürdigkeit erarbeitet werden. Jüngstes Beispiel ist die Unterstützung der BNP für einen "wilden Streik" britischer Öl-Arbeiter gegen die Beschäftigung ausländischer Vertragsarbeiter (vgL Times Online 2009). Im Gegensatz zur NPD in Deutschland sind die Bemühungen Griffins um eine Mäßigung und Modernisierung der BNP weitgehend unumstritten, der Bewegungsflügel ist zu schwach und zu stark zerstritten, als dass dieser momentan genügend Druck aufbauen könnte.
4. Fazit Der Zweite Weltkrieg und die Geschichte des Nationalsozialismus werfen einen langen Schatten auch und gerade auf die organisierte extreme Rechte in Europa. Zu deren Programm gehören die Vorstellung und der Wunsch nach Realisierung einer ethnisch und/oder kulturell homogenen Volksgemeinschaft, ganz gleich, ob diese gefährliche Vision in der klassischen Sprache des alten, biologischen Rassismus oder in der "modernisierten" Sprache des kulturellen Rassismus formuliert wird (vgl. Taguieff2000; Globisch in diesem Band). Diese Forderungen wären in den multikulturellen Einwanderungsgesellschaften (West-)Europas nur unter Einsatz massiver Gewalt durchzusetzen: Massendeportationen, -morde, Vertreibungen etc. Da die europäischen Gesellschaften historische, grausame Erfahrungen mit der durch rassistische Vernichtungsfeldzüge, Völkermord und "ethnische Säuberungen" gekennzeichneten Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts haben, sind die Öffentlichkeiten in einem hohen Maße sensibilisiert für jegliche politisch organisierten Bestrebungen, diese Geschichte zu wiederholen. Die organisierte extreme Rechte in Europa ist - selbst wenn sie Ausmaß und Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Genozids bestreitet - eine extreme Rechte nach Auschwitz. Am Beispiel der organisierten extremen Rechten in Deutschland und Großbritannien wurde gezeigt, dass diese in beiden Ländern einer verschärften sozialen und politischen Ausgrenzung ausgesetzt sind. Die demokratischen Öffentlichkeiten, Staat, Polizei, Justiz, Medien und engagierte Teile der Bevölkerung wehren sich mit verschiedensten Mitteln gegen die Versuche der extremen Rechten, politischen Einfluss zu gewinnen. Unter diesem Druck sind die beiden führenden Parteien, die NPD in Deutschland und die BNP in Großbritannien, gezwungen, ihre Sprache in der Öffentlichkeit zu mäßigen und allzu radikale Forderungen in den
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Hintergrund zu rücken. In Großbritannien funktioniert das besser, da dort der militante Bewegungsflügel sehr viel schwächer ist als in Deutschland. Mit diesem Vergleich konnte auch gezeigt werden, dass der demokratische Widerstand gegen den organisierten Rechtsextremismus wirksam und sinnvoll ist.
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Inwieweit ist ein Vergleich der rechtskonservativen Kräfte Frankreichs und der Schweiz möglich?1 Gi/hert Casasus
1. Einleitung
So sehr der französische Rechtskonservatismus beziehungsweise die radikale Rechte Frankreichs am Beispiel der Nouvelle Droite (Alain de Benoist) auch in der bundesdeutschen Literatur vielfältig Beachtung finden, scheinen die Geschichte, Einflüsse und Themen rechtskonservativer Schweizer wenig bekannt zu sein. Meistens fallen nur die Namen SVP (Schweizerische Volkspartei) und Christoph Blocher. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die SVP seit der Nationalratswahl am 23. Oktober 2007 mit fast 30 Prozent der abgegebenen Stimmen zur größten Partei der Schweiz geworden ist, während sich der Front National, mit wenigen Ausnahmen, seit Mitte dieses Jahrzehnts im Abwärtstrend befindet. Ob dieser Trend sich auch in Zukunft fortsetzen wird, bleibt durchaus fraglich. Viele enttäuschte Wähler Sarkozys, denen dessen Weltanschauung als zu kosmopolitisch erscheint, könnten ihre Stimme wieder dem Front National geben. Gerade deswegen hat die französische Regierung im Herbst 2009 das Thema der nationalen Identität zur Priorität erklärt in der Hoffnung, bei den Regionalwahlen im März 2010 ihre nationalkonservative Wählerschaft zu behalten. Obwohl SVP und Front National beide ihre Wähler aus dem nationalkonservativen Lager gewinnen, sollte daraus nicht die Annahme folgen, dass beide Parteien einander ähnlich seien oder entsprechen würden. Die Letztgenannte ist eindeutig in das rechtsradikale Gedankengut einzugliedern, während die SVP zu den Schamierparteien gehört, die einen Übergang zwischen dem traditionell demokratisch-konservativen Lager zum rechten Spektrum ermöglichen. Diese Tatsache wird auch dadurch bestätigt, dass der Front National im Gegensatz zur SVP niemals Regierungsverantwortung übernommen hat beziehungsweise ihm dazu niemals die Möglichkeit seitens der traditionellen konservativen Parteien Frankreichs geboten wurde. Hingegen ist die SVP durch ihren ehemaligen ParteipräsiFür die wertvolle redaktionelle Unterstützung meiner Mitarbeiterin Anna Jörger möchte ich mich hier sehr herzlich bedanken.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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denten Ueli Maurer als Bundesrat des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport seit Dezember 2008 wieder in der Schweizer Regierung vertreten. Diese und andere Unterschiede fordern bezüglich eines Vergleiches die Forschung heraus. Deswegen ist ein Einstieg in einen solchen Vergleich nur möglich, wenn methodologische Aspekte vorab definiert werden, um der Gefahr einer Pauschalisierung zu entgehen. Leider gibt es genügend Beispiele in der gegenwärtigen Literatur zum Rechtsradikalismus und zum so genannten "Populismus", denen es an der notwendigen Differenzierung mangelt und die damit den Ansprüchen einer politikwissenschaftlichen Genauigkeit und Präzision nicht gerecht werden. Nutznießer solch unwissenschaftlicher Arbeit sind sodann diese Parteien selber, die aufgrund der Fehlanalysen und der falschen Zuordnung von Fakten die Opferrolle für sich in Anspruch nehmen. Deswegen sind beispielsweise die vereinfachten und im Wortschatz überspitzten Texte der "Anti-Gruppen" häufig kontraproduktiv. Eine Parole, wonach Christoph Blocher mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht wird, erweist sich nicht nur historisch und wissenschaftlich als falsch, sondern auch taktisch und politisch als besonders unklug. Den davon betroffenen Parteien und Personen bietet sich damit die Möglichkeit, sich als Objekte von Hetzkampagnen selbst darzustellen. Nicht einmal ein Vergleich Le Pens mit Hitler scheint in diesem Sinne akzeptabel, weil der Front National seine Wurzeln vielmehr im romanischen Faschismus und im französischen Kolonialismus findet, was ihn von der NS-Ideologie stark unterscheidet. In Anbetracht dieser Tatsachen erscheint eine systematische Reflexion über die vergleichenden methodischen Zugänge notwendig.
2. Der systemorientierte Ansatz Ein erster systemorientierter Ansatz geht der Frage nach, welchen Einfluss die in Frankreich und in der Schweiz vorherrschenden politischen Systeme bezüglich der Präsenz und der Machtmöglichkeiten rechtskonservativer Denker auf der politischen Ebene besitzen. In der Schweiz ist ersichtlich, dass das demokratische Instrument des Referendums von den rechtskonservativen politischen Kräften rege genutzt wird. Man kann sogar davon sprechen, dass das demokratische System zu einem zentralen Einfluss- und Machtinstrument der Rechten geworden ist. Daraus wird der plebiszitäre Ansatz rechtsradikaler Denker ersichtlich; er gehört als wichtiger Bestandteil zu ihrem Programmkatalog, damit sie je nach Thema ihre Grundeinstellung weit innerhalb der schweizerischen Bevölkerung verbreiten können. Bestes und jüngstes Beispiel ist die am 29. November 2009 durchgeführte Volksabstimmung
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über die Minarett-Initiative, die zu einem vollständigen Bauverbot von Minaretten führte. Das für alle Beobachter überraschende Ergebnis von 57,5 Prozent Zustimmung ist zweifellos als Erfolg der SVP zu bewerten. Sie unterstützte als einzige Partei diese Volksinitiative, die im Einklang von allen übrigen demokratischen und im schweizerischen Nationalrat vertretenen Parteien deutlich bekämpft wurde. Nach diesem Erfolg sieht sich die SVP darin bestätigt, das plebiszitäre Instrument verstärkt zu ihrem eigenen Nutzen einsetzen zu können. Besonders betroffen sind dabei die Themen rund um Migration, Überfremdung, religiöse Traditionen und Kulturen sowie Kriminalität. Der zu erwartende Anstieg dieses von der SVP bestimmten Diskurses stellt sich nun vermehrt als Herausforderung für das demokratische System der Schweiz dar. Da zugleich internationale und vertragsrechtliche Verpflichtungen der Schweiz infrage gestellt werden, fühlt sich die Berner Regierung dazu gezwungen, über regulierende Maßnahmen nachzudenken, damit es künftig zu derartigen Vorlagen gar nicht kommen kann. Mittlerweile wird sogar erwogen, bestimmte Sachfragen nicht zum Gegenstand von Volksabstimmungen werden zu lassen, wie es zum Beispiel der Rechtsprofessor an der Zürcher Universität, Andreas Auer, im französischsprachigen Fernsehen der Schweiz, Television Suisse Romande (TSRI), nahe legt (vgl. Interview mit Prof. Dr. Thomas Auer aufInfrarouge/TSRI am 1.12.2009). Ob das im In- und Ausland durchaus rnitBefrerndung zur Kenntnis genommene Ergebnis dieser Minarett-Initiative letztendlich zur Eingrenzung des plebiszitären Instruments fUhren wird, ist zurzeit fraglich. Es liegt aber auf der Hand, dass dieses Thema nicht totgeschwiegen werden kann, sondern ganz im Gegenteil sich zu einem Brenn- und Konfliktpunkt des gesellschaftlichen Diskurses entwickeln wird. Dabei vertritt insbesondere die SVP aus zweierlei Gründen die Auffassung, die Reichweite von Volksinitiativen keineswegs zu beschränken: Erstens bietet ihr das Initiativrecht die Möglichkeit, an diffuse Ängste anzuknüpfen. Zweitens stellt sich die SVP als Schützerin und Hüterin der legendären schweizerischen direkten Demokratie dar. Das semipräsidentielle Regierungssystem Frankreichs, in dem sich der Präsident der Republik und die Regierung die Exekutive teilen, bietet ebenfalls die Möglichkeit des Referendums. Dieses wird verfassungsgemäß durch den folgenden Artikel 11 garantiert (Französische Nationalversammlung, vgl. www.assemblee-nationale.fr): ,,Der Präsident der Republik kann auf Vorschlag der Regierung während der Sitzungsperioden oder auf gemeinsamen Vorschlag beider Kammern, der im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht wird, jeden Gesetzentwurf zum Volksentscheid bringen, der die Organisation der Staatsorgane sowie Reformen der Wirtschafts- oder Sozialpolitik der Nation und der mit deren Ausflihrung beauftragten Behörden betrifft oder auf die Ermächtigung zur Ratilikation ei-
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Gilbert Casasus nes Vertrages abzielt, der, ohne verfassungswidrig zu sein, Auswirkungen auf die Tätigkeiten der Institutionen hätte."
Der Wortlaut des Artikels impliziert, dass bestimmte Themen wie Wirtschaftspolitik oder Ratifikationen von Verträgen Gegenstand des Referendums sein können. 1984 hat der damalige Präsident Franlj:ois Mitterrand den Versuch unternommen, die dem Referendum zugänglichen Themen auszuweiten, was letztlich auch den Bereich der Bürgerrechte betraf. 2 Aufgrund der damals sehr starken Opposition sah sich der französische Präsident gezwungen, sein Vorhaben zurückzunehmen. Seither wurde nie wieder ein solcher Versuch unternommen, zumal die verschiedenen Regierungen mit derartigen Widerständen zu rechnen hatten. Oftmals wurde befürchtet, dass das Instrument des Referendums besonders den Rechtskonservativen zugute kommen könnte, wie am schweizerischen Beispiel zu sehen ist. Zentral ist nun allerdings, dass die Einflussmöglichkeiten der rechten Kräfte in Frankreich, anders als in der Schweiz, wesentlich von den aufder politischen Ebene auftretenden Persönlichkeiten abhängen - auch weil diese als potentielle Präsidentschaftskandidaten auftreten und daher mit einer verfassungskonfonnen Legitimität rechnen können. In Erinnerung bleibt diesbezüglich der 21. April 2002, als Jean-Marie Le Pen im Namen des Front National beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl sogar den zweiten Rang erzielte - noch vor dem damaligen französischen Premier ministre und Kandidaten der Sozialisten Lionel Jospin. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass sowohl das schweizerische als auch das französische Regierungssystem die Präsenz von rechtskonservativen Parteien auf der politischen Bühne ennöglichen. Damit bietet der systemorientierte Zugang aber keine voll befriedigende Antwort auf die Frage nach einem Vergleich der schweizerischen konservativen Kräfte auf der politischen Bühne mit jenen Frankreichs. Hinzuzufügen wäre hier die Tatsache, dass das Referendum in der Schweiz eine wesentlich zentralere Rolle spielt, während die französische Politik sich mehr an Personen orientiert, zum Beispiel an General De Gaulle als Urvater der V. Republik.
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Der damalige Gesetzesentwurf zur Erweiterung der Bereiche eines französischen Referendums sah 1984 folgendennaßen aus: Le premier alinea de l'article 11 de la Constitution est rernplace par les dispositions suivantes: ,,Le Pn5sident de la Ripublique, sur proposition du Gouvernement pendant Ja duree des sessions ou sur proposition conjointe des deux assemblees, publiees au Journal officiel, peut sournettre au referendum tout projet de loi portant sur I'organisation des pouvoirs publics, concernant les garanties fondarnentales des libertes publiques ou tendant a autoriser Ja ratification d'un traite qui, sans etre contraire ala Constitution, aurait des incidences sur le fonctionnernent des institutions." Fait aParis,le 20 juillet 1984, Fran90is Mitterrand.
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3. Der themenorientierte Ansatz Ausgangspunkt für den themenorientiertenAnsatz zum Vergleich bildet die These, dass die Schweiz und Frankreich zwar geopolitisch höchst unterschiedlich sind, sich die neuen rechten Denker aber unabhängig dieser Verschiedenheiten einander im Grunde ähneln beziehungsweise hinsichtlich bestimmter Themen vergleichbar argumentieren. Um diesen Ansatz überprüfen zu können, sollen im Folgenden drei exemplarische Themengebiete diskutiert werden.
3.1 Einwanderung und Überfremdung In der Schweiz kann man seit den 1970er Jahren die Tendenz zur Mobilisierung der rechtskonservativen politischen Kräfte über das Thema "Einwanderung und Überfremdung" feststellen. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die am 6. und 7. Juni 1970 erfolgte Volksabstimmung über die so genannte "Schwarzenbach"- beziehungsweise "Überfremdungsinitiative", welche die zahlenmäßige Begrenzung des ausländischen Bevölkerungsanteils zum Inhalt hatte. Nur 54 Prozent der Abstimmenden lehnten damals diese Initiative ab. Selbst 40 Jahre danach bleibt diese "Schwarzenbach-Initiative" präsent im politischen Disput der Schweiz, weil mit ihr gleichzeitig eine bislang als latent betrachtete Ausländerfeindlichkeit zum Gegenstand des öffentlichen politischen Diskurses wurde und darüber hinaus die Schweiz grundlegend in zwei Lager teilte, die bis heute fortbestehen. In Frankreich wurde das Thema "Einwanderung und Überfremdung" von den Rechtsradikalen seit den 1980er Jahren aufgegriffen. In der nordwestlichen Stadt Dreux konnte der Front National 1983 erstmals und unerwartet 16 Prozent der Wählerstimmen gewinnen und beim zweiten Wahlgang fusionierte dieser sogar mit den konservativen Parteien, insbesondere mit dem damaligen Rassemblement pour la Republique (RPR) eines Jacques Chirac. Seit mehr als 25 Jahren hat auch in Frankreich das Thema der mangelnden Integration beziehungsweise der Ausländerfeindlichkeit die Politik niemals verlassen. Charakteristischerweise ist es zunehmend in Verbindung mit den Jugendkrawallen der Banlieues gebracht worden, wobei der traurige Höhepunkt im Herbst 2005 erreicht wurde, als der Staat sich sogar gezwungen fühlte, erstmals seit dem Algerienkrieg den Ausnahmezustand zu verhängen. Offiziell wurde dennoch nur von "violences urbaines" gesprochen, was dem Ernst der Lage keineswegs entsprach. Das Thema "Einwanderung und Überfremdung" wurde somit sowohl in der Schweiz (SVP) als auch in Frankreich (Front National) zum Dauerthema der Rechtskonservativen: In der Schweiz kam es zum Beispiel am 6. September 2006 zu einer Abstimmung über das verschärfte Ausländer- und Asylgesetz, dem rund zwei
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Drittel der stimmberechtigten Bürger zustimmten. Aufgrund der besonders strengen Auflagen und der zum Teil als ausländerfeindlich empfundenen Bestimmungen sorgte der Ausgang dieser Abstimmung für Unbehagen, was auch im benachbarten Ausland zu spüren war. Für viele demokratische Schweizer bleibt deshalb der 6. September 2006 in äußerst schlechter Erinnerung; dasselbe gilt schließlich auch für die erwähnte, am 29. November 2009 durchgeführte Abstimmung über die Minarett-Initiative. Aber auch in Frankreich wurde das Thema "Ausländer" von der Politik aufgegriffen, was dazu führte, dass nach der Präsidentschaftswahl und dem Erfolg von Nicolas Sarkozy im Jahre 2007 der Einfluss des Front National begrenzt wurde. Zum ersten Mal in der französischen Geschichte wurde ein Ministerium für Immigration und nationale Identität (Minisrere de l'immigration, de l'integration, de l'identite nationale et du developpement solidaire) geschaffen, das vom ehemaligen Sozialisten und zu den Konservativen übergelaufenen Eric Besson geführt wurde. Wohl gemerkt handelt es sich um denselben Eric Besson, der nun im Auftrag von Präsident Nicolas Sarkozy für die Gestaltung der eingangs erwähnten Debatte zur nationalen Identität zuständig ist. Dennoch scheint diese Debatte den Erwartungen seiner Initiatoren nicht vollends zu entsprechen, was auf zwei Gegebenheiten zurückzuführen ist: Einerseits trägt sie zu einem neuenAutblühen des Front National bei, andererseits wirkt sie als besonders diskriminierend auf Minderheitengruppen zurück, was offiziell nicht dem Sinn und der Stoßrichtung des Ministeriums entspricht. Dass mit dieser Diskussion über die "nationale Identität" gleichzeitig eine gefllhrliche Nähe zum Nationalismus besteht, wurde von einigen Intellektuellen Frankreichs hervorgehoben, allen voran vom Soziologen Jean Viard (vgl. Interview mit Jean Viard auf France Inter am 14.11.2009). Dies alles zeigt, dass das, was einst die konservative Regierung in Paris aus Strategiegründen initiiert hat, sich als kontraproduktiv erwiesen hat, indem nun noch rechtere Kräfte als Nutznießer hervorgehen. Damit wird deutlich, dass es die Rechtsradikalen in Frankreich geschafft haben, das Thema "Ausländer" erfolgreich auf die politische Agenda Frankreichs zu setzen und damit in gewisser Weise zu instrumentalisieren. Wie würde zum Beispiel das europäische Ausland reagieren, wenn es in der Bundesrepublik Deutschland zur Gründung eines Bundesministeriums für deutsche Identität käme? Gleichwohl sind in der Bundesrepublik solche Tendenzen auch spürbar, zu denken sei hier zum Beispiel an die im Oktober 2000 vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der deutschen Christdemokraten Friedrich Merz ausgelöste Debatte zur "deutschen Leitkultur" und Jürgen Rüttgers Wahlspruch, wonach er lieber "Kinder als Inder" sieht!
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3.2 Europa und Neutralität Es liegt auf der Hand, dass es hinsichtlich des Themas "Europa und Neutralität" zwischen der Schweiz und Frankreich fundamentale Unterschiede gibt, bedenkt man, dass die Schweiz kein Mitglied der Europäischen Union ist. Allerdings weisen die beiden Länder eine Gemeinsamkeit auf: Sowohl in Frankreich als auch in der Schweiz argumentieren rechtskonservative Kräfte antieuropäisch, wobei auch hierbei eine differenzierte Betrachtung notwendig ist. Bezüglich Frankreich wird deutlich, dass, obwohl der Front National hinsichtlich des Vertrags von Maastricht (1992) wie auch des Vertrags zur Europäischen Verfassung (2005) als Nein-Träger fungierte, er dennoch nie die Mitgliedschaft Frankreichs in der EU an sich infrage gestellt hat. Dies hindert ihn dennoch nicht daran, die EU als Kern vieler sozialökonomischer und machtpolitischer Übel und Missstände verantwortlich zu machen. Einige Parallelen finden sich hier zur SVP. Es gelang ihr, sich über die antieuropäische Bewegung innerhalb der schweizerischen Politik zu etablieren: Die SVP ging nach dem so genannten "Schwarzen Sonntag" des 6. Dezembers 1992 und der damit verbundenen Ablehnung des EWR-Vertrags (Europäischer Wirtschaftsraum) als Gewinnerin hervor, was gleichsam Christoph Blocher den Weg an die Spitze der antieuropäischen Bewegung ebnete. In der Schweiz lässt sich darüber hinaus noch eine zentrale Eigenart feststellen: Die antieuropäischen Argumente wurden hier mit dem Argument des Neutralitätsprinzips verschränkt. Damit soll stets mit gewissem Unbehagen die Verteidigung des schweizerischen Neutralitätsprinzips zur Kenntnis genommen werden, das nach Ende des Kalten Krieges nun auch international stark infrage gestellt wurde.
3.3 Historische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der Kolonialkriege Frankreichs Auch hinsichtlich dieses Themenkomplexes ergibt sich, dass die Schweiz und Frankreich sich stark unterscheiden, wenn es um die Frage nach der Lage und der Rolle dieser Länder im Zweiten Weltkrieg geht. Darüber hinaus wurde Frankreich durch die Kolonialkriege und dabei besonders durch den Algerienkrieg geprägt. Eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der beiden Länder ergibt sich in Bezug auf rechtsradikale Denker dennoch: Diese versuchen, die glorreiche Geschichte der jeweiligen Nation zu bewahren. Ein Beispiel dazu liefert Jean-Marie Le Pen, der 1987 die Aussage machte, die Gaskammer sei ein ,,Detail" der Geschichte, worunter das Image von Le Pen stark litt. In den 1990er Jahren lässt sich in Frankreich wie auch in der Schweiz feststellen, dass die Aufarbeitung der Rolle der Staaten im Zweiten Weltkrieg aktiv vorangetrieben wurde (siehe unten). Bezüglich Frank-
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reich ist dabei die historische Rede von Jacques Chirac im Jahr 1995 zu nennen, welche die Verantwortung Frankreichs hinsichtlich der Judenverfolgung und der Kollaboration explizit nennt. Damit brach Jacques Chirac sowohl mit der Tradition seines Vorgängers Franl;ois Mitterrand als auch mit jener seines Denkvaters General De Gaulle, die beide stets das Vichy-Regime nicht zum historischen Erbe Frankreichs zählten. Nun wird seit mehr als zehn Jahren die angebliche "Kompromissbereitschaft" des Vichy-Regimes nicht mehr verharmlost und dank einer zwar späten, aber im Ergebnis verdienstvollen Erinnerungsarbeit die Kollaboration zwischen dem Vichy-Frankreich und dem NS-Regime als Schande der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts empfunden. In der Schweiz ist schließlich eine Tendenz zu beobachten, den Neutralitätsgedanken zu unterstreichen und damit die Geschichtsaufarbeitung in eine Richtung zu lenken, die davon ausgeht, dass die Schweiz mit dem Zweiten Weltkrieg nichts zu schaffen gehabt habe. Mitte der 1990er Jahre entflammte die Debatte um die Rolle der Schweiz allerdings erneut, was durch die Infragestellung der Schweizer Banken unter anderen durch die USA und durch jüdische Kläger ausgelöst wurde. Dabei hat sich die Schweiz auf eine äußerst ungeschickte Art und Weise verhalten; So sprach der mittlerweile verstorbene Altbundesrat Jean-Pascal Delamuraz etwa von einer ,jüdischen Erpressung" (vgL Journal de Geneve vom 31.12.1996). Ebenso polemisierte Blocher gegen "alle jungen Vertreter der Linken, ein paar Theologen, zahlreiche Soziologen, Professoren, Künstler und Journalisten" (vgl. Skenderovic 2009). Es lässt sich feststellen, dass die Wissenschaft beziehungsweise die Geschichtswissenschaft eine zentrale Rolle einnimmt, wenn es darum geht, rechtskonservativenArgumenten entgegenzutreten. Am Beispiel der Schweiz lassen sich zwei Momente erkennen, die diese Rolle der Wissenschaft gestärkt haben: Einerseits sind jene Publikationen zu nennen, die die These aufstellen, dass die Schweizer Banken aufgrund ihres Vermögens Hitler-Deutschland die Weiterführung des Krieges ermöglicht hätten. Dazu zählt unter anderem Jean Zieglers "Die Schweiz, das Gold und die Toten" von 1997. Andererseits führte der Bundesrat 1996 die so genannte ,,Bergier-Kommission"3 ein, welche schließlich diese These zur Rolle der schweizerischen Banken im Zweiten Weltkrieg untermauern konnte. Zentral für die Aufarbeitung der schweizerischen Politik im Zweiten Weltkrieg sind dabei schließlich auch die vom schweizerischen Nationalfonds geförderten Nationalprogramme, die zu dieser Frage von den Historikern Hanspeter Kriesi und Urs Altermatt geleitet 3
Jean-Fran~ois Bergier ist im November 2009 gestorben. Er stellte am 22. März 2002 den Schlussbericht "Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg" (UEK) und die letzten sieben Studien und Beiträge zur Forschung der Öffentlichkeit vor.
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wurden (vgl. dies. 1995). Aber auch in Frankreich sind solche Geschichtsaufarbeitungsversuche durch Historiker im Gange, wobei an dieser Stelle Jean-Pierre Azema, Henry Rousso und der verstorbene Rene Remond, ehemaliger Leiter der Fondation nationale des Sciences Politiques, zu nennen sind. Diese vermehrte Aufarbeitung der Geschichte führte in der Schweiz wie auch in Frankreich zu einer vermehrten Infragestellung und Selbstreflexion dieser Länder hinsichtlich ihres Verhaltens im Zweiten Weltkrieg. Gerade in der Schweiz führte dies darüber hinaus dazu, dass das Bild der neutralen und pazifistischen Schweiz ins Wanken geriet und öffentlich infrage gestellt wurde. Damit wurde es für die Konservativen notwendig, neue Strategien zu entwickeln, die wiederum in der Infragestellung dieser Forschung bestanden. Als ein Schweizer Beispiel für dieses Vorgehen ist dabei Pro Libertate, eine Gruppe rechtskonservativer Schweizer, zu nennen: Sie spricht von einem ,,,Dolchstoß' an der eigenen Geschichte" und davon, dass sie sich "mit aller Kraft gegen die ideologisch verbrämte Umschreibung der Schweizer Geschichte zur Wehr setzen" will (pro Libertate 2006: 23f.). Damit werden oftmals namhafte Historiker angegriffen und deren Integrität infrage gestellt, etwa Jacques Picard, Jakob Tanner und Georg Kreis, die von Pro Libertate als "einseitige Kritiker der Schweiz" (ebd.: 21) bezeichnet werden. Man kann deshalb schließlich festhalten, dass die Rechtskonservativen sowohl in Frankreich als auch in der Schweiz durchaus Versuche unternommen haben, die Aufarbeitung der Geschichte zu beeinflussen. Das Mittel zu diesem Ziel war oder ist dabei oftmals, sowohl in Frankreich als auch in der Schweiz, die Forschungsergebnisse infrage zu stellen. Infolgedessen kam der Wissenschaft, insbesondere der Geschichtswissenschaft, die Funktion eines Schutzwalls gegen rechtskonservative Denker zu: Sie leistet einen enormen Beitrag zur Aufklärung und Aufarbeitung der Rolle Frankreichs wie auch der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und vermag es damit, eine Argumentation bereitzustellen, die jener der rechtskonservativen Kräfte deutlich überlegen ist. Damit kommt ihr eine enorme Bedeutung hinsichtlich der Demokratie zu.
4. Abschließende Bemerkungen An dieser Stelle bleibt noch daraufhinzuweisen, dass gegenwärtig weder der Front National noch die SVP die Geschichtsdebatte erneut aufnehmen wollen. In den Vordergrund der Argumentation werden nun Themen wie "soziale Sicherheit" oder der "Kampfgegen die Jugendkriminalität" gerückt. Sie profitieren hierbei von den in der Bevölkerung real vorhandenen Ängsten, die sie zielbewusst hochstilisieren und sich zueigen machen. Das Thema der Jugendkriminalität ist hier für die
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rechten Parteien besonders geeignet, heben sie dabei doch die Korrelation zwischen Delinquenz und ethnischer Abstammung hervor. Hierbei spielen sich die Boulevardpresse und rechtskonservative Parteien gegenseitig in die Hände, weil sie beide die Tendenz aufweisen, undifferenziert und vorschnell einen Schuldigen ausfindig zu machen und diesen an den Pranger zu stellen. Komplett in den Hintergrund werden dabei Fragen nach bildungspolitischen Defiziten, prekären und sozioökonomischen Lebenslagen sowie misslungenen Integrationsmodellen gerückt. Selbstverständlich könnten noch diverse andere Themenkomplexe analysiert werden, die hinsichtlich der Frage nach Gemeinsamkeiten oder Unterschieden der (rechts-)konservativen Denker in Frankreich und der Schweiz Aufschluss geben könnten. Aber bereits an dieser Stelle kann festgestellt werden, dass die Aufklärungsarbeit die beste und effizienteste Antwort auf rechtskonservative Tendenzen zu sein scheint. Ein aktuelles Beispiel stellt dabei die von Damir Skenderovic (2009) verfasste Neuerscheinung zum Thema "The radical right in Switzerland" dar. Aber auch in Frankreich lässt sich feststellen, dass vermehrt Fernsehsendungen zum Thema der französischen Kolonialzeit ausgestrahlt werden, die mithilfe namhafter Historiker, wie etwa Max Gallo von der Academie Franyaise, der Geschichtsklitterung rechtskonservativer Denker entgegenwirken. In der Schweiz (Altermatt, Kreis, Kriesi) wie auch in Frankreich (Camus, Perrineau, Wieviorka) haben sich Historiker und Politologen als Hauptgegner rechtsradikaler Thesen und Gesinnungen profiliert. Dank ihrer steten und differenzierten Recherchen und Publikationen zeigen sie somit unwiderruflich, dass die Wissenschaft und die akademische Forschung nach wie vor die effektivsten Mittel bleiben, um auch im angehenden 21. Jahrhundert gegen autklärungsfeindliche Ideen und Tendenzen zu kämpfen. Deswegen stellen sie zusammen den Grundstein einer "sociere ouverte" (Perrineau 2001) dar, welche sich stets in einer progressiven Gestalt gegen eine in sich geschlossene Weltanschauung rechter Denker manifestiert. Dies ist sowohl für die Schweiz als auch für Frankreich sowie für andere Länder als eine politische Herausforderung zu verstehen.
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IV Grenzüberschreitende Semantiken: Antisemitismus, Antiziganismus und Antiamerkanismus
Amerika als Zerrspiegel der Moderne Kritische Theorietraditionen im 20. Jahrhundert Michael Werz
Im zeitgenössischen Antiamerikanismus finden sich Spurenelemente antisemitischen Vorurteils und antibürgerlichen Ressentiments, aber es wäre falsch, Antiamerikanismus und Antisemitismus in eins zu setzen. Sie sind weder identisch noch haben sie die gleiche Geschichte. In Deutschland ist angesichts des nationalsozialistischen Griffs nach der Weltmacht, Judenvernichtung und militärischer Niederlage gegen die Alliierten diese Unterscheidung besonders wichtig. Die transatlantischen Perspektiven könnten unterschiedlicher kaum sein. Während in Deutschland und Europa die Abgrenzung gegenüber Amerika oftmals die lllusionen kultureller Überlegenheit speist, ist die Situation in den USA entgegengesetzt und das befreite Deutschland belegt einen wichtigen Ort in der demokratischen Selbstwahrnehmung. Im Land der Täter hat es oft den Anschein, als würden viele Deutsche den Amerikanern die Befreiung vom Faschismus bis heute nicht verzeihen. In den USA, die ja nur widerwillig und wegen der Geschehnisse im Pazifik in den zweiten europäischen Krieg eintraten, ist der Kampf gegen den Nationalsozialismus sowie das militärische Engagement in Deutschland während des Kalten Krieges mit erheblichen Identifikationen politischer Sinnstiftung belegt. Deutschland gilt von Ike Eisenhower bis Daniel Goldhagen als mustergültiger Erfolg in Sachen Freiheitskampfund nation building. Die USA haben Europa in mehrfacher Hinsicht vor dem Untergang bewahrt. Sie garantierten vielen ein Überleben in der Emigration und fungierten als Speicher europäischer Kultur. Es ist daher kein Zufall, dass die produktivste Reflexion zum europäischen Antisemitismus in den USA stattgefunden hat. In New York und Kalifornien suchten emigrierte Wissenschaftler der Frankfurter Schille nach Antworten auf die deutsche Frage und bedienten sich dabei im Rahmen der legendären "Studies in Prejudice" empirischen Materials aus den Vereinigten Staaten. Das Land des Exils war zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: älteste Demokratie, Killturspeicher und am weitesten fortgeschrittene Gesellschaft der Welt. Das New York der späten 1930er und Südkalifornien der 1940er Jahre sind vorgeschobene Beobachtungsposten gewesen, von denen aus die europäische Barbarei reflektiert werden konnte. C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die damals entstandenen Studien sind mehr als avancierte und interdisziplinäre Faschismusanalysen, denn sie skizzieren die Architektur moderner Ideologie in einem ganz umfassenden Sinne. Darüber hinaus ist in die Studien ein atlantisches Spannungsverhältnis eingeschrieben: Zur Frage, was in Europa geschehen war, trat das Rätsel, warnm es in Amerika nicht geschah. Diese transkontinentale Dimension bildet das Fundament für die enorme theoretische Tragweite der Studien, denen die Kritische Theorie ihre scharfen und schlagenden ideologiekritischen Analysen des alten Europas erst verdankt. Die Abwesenheit des Faschismus in den USA ermöglichte Überleben und unnachgiebiges Nachdenken über die deutsche und europäische Entwicklung. Archimedischer Punkt der Reflexion ist Auschwitz, aber das in Amerika und nicht in Europa gesammelte klinische Material eröffnet Einsichten, die über den konkreten Anlass der Studien hinausreichen. Es sind amerikanische Einblicke in die modeme Gesellschaft par excellence; die Studien sind im gleichen Atemzug Kritik Europas und Bestandsaufnahme des singulären Konstitutionsprozesses einer demokratischen Gesellschaft in Nordamerika, einschließlich ihrer nativistischen Gegenbewegung. Die empirischen Studien widerlegen nicht die "Dialektik der Aufklärung", sondern bilden die konkreten Formulierungen der Einheit und Differenz eines globalen Entwicklungsprozesses. Diese methodische Erbschaft der ,,Authoritarian Personality" und anderer Schriften in der Studienreihe spricht eine universelle Sprache. Die hier entwickelten Instrumente des Verstehens lassen sich auch auf andere modeme Ideologien des 20. Jahrhunderts anwenden - Antiamerikanismus gehört dazu. Theodor W. Adorno hat die normative Reichweite der ursprünglichen Fragestellung ausformuliert (Adorno 1976: 108f.): ,,Dem Problem der Einzigartigkeit des jüdischen Phänomens und folglich des Antisemitismus kann man nur durch Rekurs auf eine Theorie nahekommen, die den Rahmen dieser Studie überschreitet. Eine solche Theorie würde weder eine Vielfalt von Faktoren aufzählen, noch einen spezifischen als den Anlass auswählen, sondern eher einen geschlossenen Rahmen entwickeln, in dem alle Elemente konsistent miteinander verbunden sind, was aufnichts weniger als auf eine Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer hinauslaufen würde."
Die "Studies in Prejudice" beschreiben modeme Gesellschaften in ihrer Identität und Differenz; ihre Methode ist selbst historisches Produkt, entstanden in einem konkreten geschichtlichen Kontext trägt sie doch universelle Gültigkeitsmomente in sich. Und es existiert eine weitere Ebene: Jene amerikanische Erfahrung, die die Kritische Theorie schärft und reifen lässt, ist in verzerrter Form treibendes Motiv im historischen wie zeitgenössischen Antiamerikanismus. Viele jener Einstellungen, die den Bodensatz und die Vorstufen antisemitischer Weltsichten ausmachen,
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verbinden sich heute, unter vollkommen veränderten Bedingungen, zu einer ideologischen Legierung antiamerikanischer Ressentiments.
1. Amerika als Zerrspiegel der Alten Welt Oberflächlich betrachtet erscheinen die Gesellschaften Nordamerikas und Europas als identisch, zumindest was die umfassenden Vorurteile und Ressentiments angeht. Doch auf den zweiten Blick tritt die transatlantische Differenz in den Vordergrund und zwingt, die Kategorien in ihrer regionalen Verschiedenheit zu durchdenken.ln der heterogenen GegenwartsgesellschaftAmerikas werden Animosität, Vorurteil und Starrsinn gefiltert, selbst Konservatismus artikuliert sich auf neue Weise und in verfeinerter Form und konstituiert sich als widerstrebende Toleranz gegenüber anderen. Externe Orientierungen übersetzen sich nicht automatisch in Feindseligkeit gegenüber dem Nicht-Identischen, sondern müssen immer wieder mit dem Konventionalismus des von Gunnar Myrdal so scharfsinnig beschriebenen american creed abgeglichen werden. In den "Studies in Prejudice" erfindet Danie1 J. Levinson dafür den originellen Begriff des "Pseudo-Konservatismus". Ein weiteres Beispiel: Amerika wird oft Konventionalismus vorgeworfen - nicht zu Unrecht; aber jene "konventionellen Werte", die in den "Studies in Prejudice" ausführlich diskutiert werden, gewinnen in den kosmopolitanen und demokratischen USA eine andere Färbung (vgl. die Kapitel von Levinson in Adorno et al. 1950: 83,95, 126). Diese besondere Uniformität der Umgangsweisen ist vom autoritären Konformismus europäischer Prägung vollkommen verschieden, denn Konvention ist in Amerika ein egalisierendes Moment des Einschlusses in einer heterogenen Einwanderungs- und ehemaligen Sklavenhaltergesellschaft. ln den europäischen Mehrheitsgesellschaften, die sich als Kultumationen missinterpretierten, ist es eine Ausschlusskategorie. ln diesem gesellschaftlichen Umfeld voller Überraschungen reifte die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Emigranten zur Kritik moderner Ideologie. Mit ihrer Rückkehr erreichte auch das neue sozialwissenschaftliche Instrumentarium Frankfurt. Die Universität wurde von der antisemitischen Hochburg zum Kristallisationsort avancierter Ideologiekritik, in der sich geschichtsphilosophische Traditionen des alten Europas mit Gesellschaftserfahrungen und quantitativen Forschungsmethoden der USA verbanden. Als in den 1960er Jahren, angetrieben durch Studierende, die politischen Umbrüche in Deutschland und der Welt begannen, bot die Kritische Theorie einen einzigartigen Reflexionsraum, innerhalb dessen politischer Umschwung wie auch studentische Aktivitätsschübe gedacht und auf den Begriffgebracht werden konnten. Mit den Kölner Synagogenschmierereien 1961,
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den Reaktionen darauf sowie dem Eichmann-Prozess im Jerusalemer Bezirksgericht während der zweiten Jahreshälfte standen die zentralen Fragen der Kritischen Theorie auf der Tagesordnung: Woher kommt der Antisemitismus und was erhält ihn nach Auschwitz am Leben - was ist falsch in Deutschland? In diesem Kontext entstanden neue sozialwissenschaftliche Untersuchungen Theodor W. Adomos, die ihn zu einer öffentlichen Figur in den politischen Auseinandersetzungen machten. ,,zur Bekämpfung des Antisemitismus heute" gehört in diesen Zusammenhang aber auch: "Was heißt Aufarbeitung der Vergangenheit?" Gleiches gilt fiir Max Horkheimers einflussreichen Vortrag "Über das Vorurteil", der im Mai 1961 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Diese Beiträge waren ihrer Zeit voraus, weil sie die Erkenntnisse der kalifornischen Vorurteilsstudien einschließlich der Untersuchung zur autoritären Persönlichkeit schon zum Fundament hatten. Die philosophisch versierte Theoriearbeit war auch in den sozialwissenschaftlichen Methoden ihrer Zeit voraus und weckte das intellektuelle Interesse einer neuen Studentengeneration. Die Kritischen Theoretiker wurden auch deshalb zu Identifikationsfiguren, weil ihre Antworten aufpolarisierende politische Fragen nicht im Nachkriegsjargon der Eigentlichkeit gegeben wurden. Während an deutschen Universitäten die Sprache des Nationalsozialismus das Regime oft überlebt harte, zehrten die Begriffe der Kritischen Theorie von den Erfahrungen substanzieller Demokratie in Amerika - sie trugen die Spuren einer anderen Welt. Theodor W. Adomo und Max Horkheimer wurden nach der Institutsgründung im Jahr 1923 und der Leitung der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Forschungsreihe in den Vereinigten Staaten in den 1940er Jahren nun zum dritten Mal Gründungsväter wider Willen: Die wissenschaftlichen Aktivitäten der neuen Studierendengeneration schlugen sich in schneller Folge nieder, allen voran in Margeritha von Brentanos Essay zur Antisemitismusforschung, der zur Standardlektüre linker Nachwuchs-Sozialwissenschaftler wurde (von Brentano 1965). Der Band erschien in einer Reihe bei der Europäischen Verlagsanstalt, die als deutsche Fortsetzung der "Studies in Prejudice" gelesen werden kann. Es ist interessant und wenig beachtet, dass diese intellektuelle Neugründung demokratischer deutscher Sozialwissenschaften analog zum Mauerbau in Berlin stattfand, als der Realsozialismus in kollektive Isolationshaft überging. Die menschenfeindliche Tristesse im Osten und die Notstandsgesetze vom Mai 1968 im Westen warfen die Fragen auf, wie weit Deutschland sich demokratisiert hatte und ob die neuen politischen Traditionen wirklich belastbar waren. Schon im Jahr zuvor war die Spannung von demokratischen Versprechen und Vietnamkrieg in Frankfurt greifbar geworden. Max Horkheimer hielt am 7. Mai 1967 im Amerikahaus eine Rede zur Eröffnung der deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche,
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anschließend entspann sich eine Diskussion mit Studenten. Horkheimer erkannte die Barbarei des Vietnamkrieges an, wies aber auch daraufhin, "dass wir hier nicht zusammen wären und frei reden könnten, wenn Amerika nicht eingegriffen hätte und Deutschland und Europa vor dem furchtbarsten, totalitären Terror schließlich gerettet hätte" (Horkheimer 1996: 646f.). Die Essenz seines Arguments: Amerika ist wichtig, weil es demokratisch ist.
2. Perspektivwechsel: von West nach Süd Mit dem Ende der Studentenbewegung, die sich mit Sit-in, Teach-in und spontanen Demonstrationen amerikanischer Protest- und Widerstandsformen bedient hatte, veränderte sich das Bild. Im Januar 1969 gab es den ersten Brandanschlag ausgerechnet auf den Lesesaal des Amerikahauses, über 20 weitere folgten bis 1983. Bereits innerhalb der Frühphase des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) hatte eine erste Umorientierung stattgefunden; von der Identifikation mit dem Westen hin zu einer mit dem Süden; und auch dieser Perspektivwechsel war keineswegs auf Deutschland beschränkt. Antikoloniale und revolutionäre Bewegungen in der "Dritten Welt" wurden Anhaltspunkt fortschrittlicher intellektueller rund um den Globus. Die Bilanz amerikanischer Politik in diesen Weltregionen gab in den 1960er und 1970er Jahren ausreichend Anlass für Protest und Widerstand: Vietnam, Chile, Brasilien, Südafrika, Iran; die Liste der vom Westen goutierten Militärdiktaturen und Autokratien ist lang. Die Grenzen zwischen der ebenso legitimen wie notwendigen Kritik an US-amerikanischer Außenpolitik wie auch den fortdauernden Rassenkonflikten im Land und antiamerikanischem Ressentiment, das sich aus ganz anderen Quellen speiste, verschwammen zusehends. Es ist kein Zufall, dass sich in Frankfurt, anknüpfend an den zurückgezogen in Muntagnola lebenden Max Horkheimer und den zu früh verstorbenen Theodor W. Adorno, eine dezidierte Antiamerikanismuskritik entwickelte. Der Zerfallsprozess des SDS hinterließ am Main nicht nur politische Sekten, sondern auch das Sozialistische Büro in Offenbach und die Zeitschrift links. Die Missbilligung zeitgenössischen Antiamerikanismus ging mit unversöhnlicher Ablehnung des Realsozialismus osteuropäischer Prägung einher. Es handelte sich um eine sozialwissenschaftliche und philosophische Annäherung an die Ära des Kalten Krieges, die von der Vorurteilsforschung früherer Jahre zehrte. Theoretische Arbeiten der neuen Generation eröffneten vielfältige Anknüpfungspunkte und trugen dazu bei, die Kritik antisemitischer Praxis wie die, Individuen unabhängig von dem, was sie sagen oder tun, Kollektiven zuzuschlagen, gegen rassistische Ausgrenzung und koloniale Praxis der 1960er und 1970er Jahre ins Feld zu fUhren. Eine weitere wich-
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tige Dimension war die Kritik des Wissenschaftsbetriebes, der zur fortwährenden akademischen Bewegung ohne Vorwärtsentwicklung zu werden drohte. Die historischen Erfahrungen Kritischer Theorie fielen auf fruchtbaren Boden und wurden fortgeschrieben. Selbst die Etablierung des lingustic turn als gesellschaftstheoretisches Nadelöhr in Frankfurt nach der Rückkehr von Jürgen Habermas vom Starnberger See hat das nicht zu ändern vermocht. Die Erneuerung der Antisemitismuskritik im Nachkriegseuropa machte die erwähnten theoretischen Erweiterungen erst möglich. Dazu gehörte vor allem die den "Studies in Prejudice" zu verdankende Einsicht, dass antisemitische Ambivalenz in unterschiedlichen Erscheinungsformen und Intensitäten zum Bestandteil der psychischen Grundausstattung in modemen Gesellschaften gehört. Weil Vorurteile sich in vielfältiger Weise artikulieren, kam es darauf an, das gesellschaftliche und politische Umfeld zu reflektieren, innerhalb dessen sich diese Ressentiments ihren Ausdruck suchen. Was der Frankfurter Sozialwissenschaftier Detlev Claussen in den 1980er Jahren über antisemitisches Meinen schrieb, gilt auch für andere Vorurteile: Sie sind "gerade deswegen schwer zu erschüttern, weil [sie] nicht allein auf subjektiv fehlerhaftem Denken beruh[en], sondern dem ohnmächtigen Individuum das Gefühl [geben], mit einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz im Bunde, also: stark zu sein" (Claussen 1987: 33). Im modemen Antisemitismus sind zwar Strukturelemente anderer Feindseligkeiten ausgebildet, doch existiert eine wichtige Differenz zu Antiamerikanismus, Islamophobie oder Ressentiment gegenüber Fremden. Der "Antisemitismus der Vernunft" muss mit dem imperialistischen Griffnach der Weltmacht durch die Nazis zusammengedacht werden sowie mit einer Situation im Deutschen Reich, in der Antisemitismus als politische Währung die gesamte Gesellschaft durchdrang und zum Bestandteil des Alltagslebens wurde. Antisemitismus ist ein erbarmungsloses gesellschaftliches Orientierungsprinzip, das von anderen Vorurteilsformen unterschieden werden muss, ohne dass Parallelen ignoriert werden. Auf diese theoretische Herausforderung hat Detlev Claussen, aufbauend auf den amerikanischen Arbeiten der Frankfurter Schule, mit dem Begriff der Alltagsreligion geantwortet. Basierend auf psychoanalytischer Religionskritik beschreibt er die Schietheilung gesellschaftlichen Unglücks in zeitgenössischen Gemeinwesen. Nicht nur die Wiederkehr des Antisemitismus nach Auschwitz in seiner veränderten Gestalt als antisemitisches Meinen in demokratischer Verkleidung kann auf diese Weise beschrieben werden. Der Leipziger Historiker Dan Diner hat in diesem Zusammenhang Antiamerikanismus als "Verweltlichung der Judenfeindschaft" charakterisiert (Diner 2002: 33). Es ist wichtig, diese einfach erscheinende
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Fonnulierung in ihrer Komplexität zu lesen. Sie dokumentiert die gesellschaftstheoretische Erbschaft, die in die neuen Diskussionen eingeht. Die in der Frankfurter Schule sich ausbildende Antiamerikanismuskritik nahm bereits früh einen wichtigen Platz in der politischen Auseinandersetzung ein. Das Umschlagen des Vietnamprotests in den 1970er Jahren trug dazu bei, als plötzlich die Vereinigten Staaten zum wesentlichen Problem wurden und nicht mehr der Konflikt in Asien. Das HaftbannachenAmerikas für die Übel der Welt verfestigte sich mit dem Pseudopazifismus der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre und den Großdemonstrationen gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen. Dies wurde auch von der Friedensbewegung in den USA thematisiert, jedoch ohne die nationalen Unter- und Obertöne, mit denen besonders in Deutschland diese militärpolitische Entscheidung als Entmündigung kritisiert wurde. Die Ambivalenz gegenüber den Vereinigten Staaten war zugleich wichtiger Bestandteil eines demokratischen Konstitutionsprozesses der Bundesrepublik; Deutschland suchte sich, in der Abgrenzung von Amerika zu definieren.
3. Anti-Americanism goes global Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Antiamerikanismus verallgemeinert und ist zu einer globalen Chiffre geworden. Er ist eine Geisteshaltung, ein gegenmoderner Entwurf, der sich wie ein Schleier über die Erkenntnis der Wirklichkeit legt. Der vorurteilsvolle Blick auf die amerikanische Erfahrung kann als ideologische Reaktionsbildung verstanden und analysiert werden. In Gesellschaften, die sich modernisieren und in denen hergebrachte Traditionen verblassen, werden die USA als universelle Republik zum identifizierbaren Ort des neuen ökonomischen und sozialen Regimes. Nicht das modeme Wirtschaftsleben entfaltet sich, sondern Amerika gewinnt globalen Einfluss - das ist die verzerrte Interpretation realer Veränderungen. Georg Simmel beobachtete eine ähnliche Projektion, als es im späten 19. Jahrhundert hieß, die Juden machten sich breit und nicht der Kapitalismus (SimmeI1992: 764-771). Die Berührungspunkte von modernem Antisemitismus und Antiamerikanismus liegen auf der Hand, aber es handelt sich keineswegs um identische Phänomene, wenngleich sie auch auf ähnlicher psychischer Dynamik beruhen. Es sind Verwandte zweiten Grades. Antiamerikanismus in Deutschland hat seine eigene Geschichte und durchläuft verschiedene Phasen im 20. Jahrhundert. Zu Beginn artikulierte sich die Zukunftsfeindlichkeit von Revolutionären und Nationalisten gegen Amerika und das Heimische wurde als weltanschaulicher Widerpart stilisiert. Heute beweist die Wiederkehr dieser manichäischen Sichtweise unter gänz-
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lich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht, dass alles so ist wie früher, sondern belegt vielmehr die unglaubliche Flexibilität und Adaptationsfähigkeit des antiamerikanischen Ressentiments. Es bietet sich in jeder erdenklichen Situation in fast allen Gegenden als vereinfachendes Passepartout der Welterklärung an. Die Ambivalenz gegenüber Amerika in Deutschland, die mehr mit der sich verändernden deutschen Wirklichkeit als mit dem Waffengang im Irak, in Afghanistan oder dem Klimawandel zu tun hat, beweist einmal mehr, wie sehr die Neue Welt der Standard für die Selbstbestimmung war und noch immer ist. Mit Blick auf Deutschland und auf Europa ist es interessant zu beobachten, dass eine Verschiebung stattgefunden hat. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis hinein in die Nachkriegszeit Antiamerikanismus besonders für die deutsche und europäische Rechte ein wichtiger Bezugspunkt gewesen ist, hat spätestens mit dem Vietnamkrieg das Motiv der Abgrenzung von Amerika in der politischen Linken an Gewicht gewonnen. Mit dieser politischen Verschiebung ist auch ein Funktionswandel einhergegangen. Es steht keine imperiale Konkurrenz mehr im Mittelpunkt wie in den 1920er Jahren und niemand will heute seine Ambivalenz gegenüber den USA als Antiamerikanismus verstanden wissen. Doch nach wie vor ist die kulturalisierende Abgrenzung von Amerika ein wichtiges Motiv in der Ausformulierung deutschen und europäischen Selbstverständnisses.
4. Universitäten als Inkubatoren moderner Ideologie Die Metamorphose des Antiamerikanismus belegt, dass Ideologien nicht statisch sind, sondern eine eigene Geschichte haben. Der Formenwechsel desAntiamerikanismus zeigt sichtbare Parallelen zur Epoche der "invented traditions" zum Beginn des 20. Jahrhunderts; einer Ära, die mit einer als Erinnerung auftretenden Form des Vergessens begonnen hatte. Mit dem 20. Jahrhundert endete auch die Orientierungshilfe der Blockkonfrontation und ein neues Zeitalter hat begonnen: das der "invention ofideology". Funktionäre solch einer avancierten und vielschichtigen ideologischen Praxis bedürfen zumindest in Ansätzen geschichtlichen Wissens und müssen sich weit reichende Interpretationen der Wirklichkeit zutrauen. Darum handelt es sich bei den Produzenten des modemen Antiamerikanismus meist um gebildete Mittelschichten. Eine wichtige Rolle spielen die akademischen Interpretationsagenturen, die modemen Massenuniversitäten. Sie sind nicht selten Kristallisationspunkte der Halbbildung und Trainingsfelder der Identitätspolitik. Besonders in den Kultur- und Sozialwissenschaften reflektieren sich die Umbrüche nach 1989; und die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Interpretationsmodi ist Teil dieser Dynamik. Die Dekolonisierung des Kalten-Krieg-Bewusstseins
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resultierte in einem vielschichtigen Rückgriff auf religiöse und ethnische Traditionsbestände. Verbrauchte Formeln vergangener Jahrhunderte kehrten nicht nur auf dem Balkan als Fiktion gegenwärtiger Vergangenheit zurück. Und sie bedurften historisierender Referenzen, die nicht der Alltag, sondern die Wissenschaften zur Verfügung stellen. Dan Diner hat in diesem Kontext, und mit Blick auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, den geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel von Gesellschaft zu Gedächtnis in diesem Sinne interpretiert. Auch in der wissenschaftlichen Produktion kehren seit 1989 historische Räume einer vergangenen Epoche wieder, die scheinbar notwendig die mit ihnen verbundene Zeitlichkeit wieder hervorrufen. Eine solche Systematisierung des Vergessens blendet jene lebendige Wirklichkeit handelnder Individuen aus, die Friedrich Engels zur Mitte des 19. Jahrhunderts Ludwig Feuerbach als kritisches Korrektiv vorhielt (Engels 1962: 263f.). Wenn sich Theorie heute an der Kritik zeitgenössischer Bewusstseinsformen ausbilden und bewähren will, dann gehört die eigene universitäre Entstehungsstätte in den Reflexionszusammenhang mit hinein. In gewisser Weise erneuert sich das Vernunftproblem der Aufklärungszeit: Das Instrument der Enthüllung kann auch eines der Verdinglichung sein. Es ist daher nicht überraschend, dass besonders an Universitäten und in den Medien antiamerikanische Ressentiments in neuen Gewändern aufleben. Mit der orientierungslosen Erweiterung der Europäischen Union erfüllen Abgrenzungen von den USA eine wichtige Funktion. Amerika spielt eine besondere geschichtliche Rolle als europäische Gegenwelt und Projektionsfläche. Deutschland (und Europa) können sich in Abgrenzung von der nordamerikanischen Gesellschaftsformation konstituieren, weil sich dadurch die Illusion geschichtlicher Kontingenz aufrechterhalten lässt. Die Vereinigten Staaten sind die Gegenwartgesellschaft schlechthin, sie bieten sich an als Metapher einer ungewollten Zukunft. Dabei ist es keineswegs der Fall, dass sich westliche Gesellschaften dramatisch voneinander entfernt hätten, weder heute noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Gerade die Ähnlichkeit alimentiert das Ressentiment. Industrialisierung und Modernisierung während des 19. Jahrhunderts hatten das spätere Kaiserreich in vielerlei Hinsicht in die Nähe Amerikas gerückt, wie auch die kulturelle Modernisierung der Weimarer Republik. Die Dialektik von Nähe und Ferne, von Freiheit und Gleichheit etabliert das transatlantische Spannungsverhältnis. Denn wann immer es um die Frage der Zugehörigkeit geht, könnten die Unterschiede deutlicher nicht sein. In Europa (und Deutschland) wird zumeist in staatsnationalen Kategorien gedacht, inAmerika, der staatslosen Gesellschaft, sind Freiheit und Glücksversprechen die obersten Prinzi-
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pien kollektiver Organisation. In diesem Punkt hat sich die europäische Ambivalenz gegenüber der Neuen Welt immer wieder neu konstituiert. Eines der vielen Beispiele solcher intellektuellen Beschädigung sind die Äußerungen des Psychologen Horst-Eberhard Richter, der den "imponierten Geist" Amerikas beklagt und es als therapeutisches Ziel versteht, "uns [sic!] ein neues eigenständiges Deutsch-Sein zu erarbeiten" (Richter 1986: 589). Solche Mentalitäten geben erhellenden Aufschluss über den Zustand der deutschen Gesellschaft und sie sagen umso weniger über Amerika, je intensiver über die USA gesprochen wird. Der neue Antiamerikanismus dient nach wie vor der weltanschaulichen Reduktion von Komplexität, er ist eine Vereinfachungsideologie und mutiert über seine europäische Geburtsstätte hinaus zum weltweiten Phänomen sich verändernder Traditionsgesellschaften.
Literatur Adomo, Theodor W., Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality. New York: Harper. Adomo, Theodor W., 1976: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt aM.: Suhrkarnp. Claussen, Detlev, 1987: Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte. Dannstadt: Luchterhand. Diner, Dan, 2002: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments. Berlin: Propyläen. Engels, Friedrich, 1962: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. S. 259-307 in: Karl Marx & Friedrich Engels - Werke. Band 21, 5, Berlin: Dietz. Horkheimer, Max, 1996: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Alfred Schrnidt und Gunzelin Schrnid-Noerr. Bd. 18, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders., 1961: Über das Vorurteil, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.05.1961. Richter, Horst-Eberhard, 1986: Amerikanismus, Antiamerikanismus - oder was sonst?, Psyche. ZeitschriftfUr Psychoanalyse und ihre Anwendung 40 (7): 583-599. Simmel, Georg, 1992 (1908): Exkurs aber den Fremden. S. 764-771 in: Ders.: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. von Brentano, Margherita, 1965: Die Endlösung - ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus. S. 37-76 in: Hermann Huss und Andreas Schröder (Hg.): Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt aM.: Europäische Verlagsanstalt.
Ist der Antisemitismus eine Ideologie? Einige klärende Bemerkungen Detlev Claussen
Für SSS, in gewisser Weise auch als Dank und Versprechen
Sigmund Freud anArnold Zweig (2.12.1927): "In der Frage des Antisemitismus habe ich wenig Lust, Erklärungen zu suchen, verspüre eine starke Neigung, mich meinen Affekten zu überlassen, und fiihle mich in der ganzen unwissenschaftlichen Einstellung bestärkt, daß die Menschen so durchschnittlich und im großen ganzen doch elendes Gesindel sind."
Max Horkheimer an 000 Kirchheimer (5.11.1943): "In der Tat ist es ein Fortschritt, daß heute das Rechtfertigungssystem, die Ideologie, nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie früher. Sie ist durchsichtiger und flüchtiger geworden. Keine hält mehr lange vor (00')' Entscheidend aber ist, daß mit der Verflüchtigung bewußtseinsmäßiger Inhalte die Ideologie sich gleichsam tiefer in die menschliche Substanz eingefressen hat."
Der Antisemitismus ist widerlich. Um ihn zu erkennen, bedarf es keines großen intellektuellen Aufwands. Dennoch wächst die wissenschaftliche Literatur über den Antisemitismus unaufhaltsam an. Selten findet man bei eingehender Lektüre etwas Neues; aber immer "neue Ansätze", Paradigmen etc. Das hat weniger mit den Veränderungen des Antisemitismus selbst zu tun als mit dem Zyklus akademischer Konjunkturen. Mit Klaus Holz' Studie "Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung", die 2001 in Hamburg erschien, ist aufunheimliche Weise die längst totgeglaubte Wissenssoziologie wieder auferstanden. Trotz modernisierter Begriffiichkeit erscheinen alle alten Probleme wieder, die von Beginn an die Wissenssoziologie so fragwürdig machten - vor allem ihr Anspruch, eine ideologiefreie Wissenschaft zu sein.
1. Zum Ideologiebegriff Nach dem Ende des Kalten Krieges ist Ideologiefreiheit zur beherrschenden Ideologie geworden. "Ideologisch" sind immer nur die anderen. Das Gegenstück zur Ideologiekritik, der Pragmatismus, dessen demokratische Wurzeln man erst spät in deutschen Denkstuben erkannte, ist zur gleichen Zeit auf den Hund gekommen C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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- er verdeckt schlecht das konzeptionslose Gewurschtel, das die große Politik betreibt. Unter diesem im öffentlichen Diskurs pragmatisch genannten, die sozialen Blößen kaum verbergenden Deckmantel wird jedoch rücksichtslose partikulare Interessenpolitik betrieben, bei der die Denunziation des Konkurrenten - als eines blinden, von "Ideologie" getriebenen Akteurs - zum Machtkampf gehört. Ein ganzes Weltbild, wenn auch mit vielen Flicken und teilweise schon sehr fadenscheinig, steht hinter diesen Bekundungen öffentlicher Meinung, die sich gegen Kritik immun macht. Ideologiekritik wird selbst als ideologisch denunziert. Der Ideologiebegriffhatte seine große Zeit im beginnenden Ost-West-Konflikt um 1950. Georg Lukäcs' Alterswerk "Die Zerstörung der Vernunft" von 1954 formulierte die intelligenteste Position des Ostens, die aber vor allem am Standpunkt-Denken krankte. Die intellektuelle Krankheit des Kalten Krieges war eben dieser Positionalismus, dem im westlichen intellektuellen common sense ein Relativismus entgegengesetzt wurde. Die Differenz liegt im Detail; seinen zentralen Text dieser Zeit, die "Ec1ipse ofReason" (1947) ließ Max Horkheimer fast dreißig Jahre lang unübersetzt. Man musste noch Mitte der 1960er Jahre in den Keller des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gehen, um ihn mit einem "silver eagle"Aufkleber als " Geschenk der United States ofAmerica" zu finden. Dort ruhte er neben der damals sonst nur als Raubdruck kursierenden "Dialektik der Aufklärung" in der Querido Ausgabe von 1947. Doch Horkheimers und Adornos unermüdliche Lehrtätigkeit brachte einen kritischen Ideologiebegriff in das Bewusstsein ihrer Leser und Studenten. Die "Soziologischen Exkurse", die 1956 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges im damaligen Gewerkschaftsverlag EVA erschienen, wurden von ihnen als Kollektivprodukt des Instituts für Sozialforschung deklariert. Diese Exkurse können als ein seltenes Erinnerungsstück gelesen werden, in dem die Erinnerung an die geschichtliche Dimension des Ideologiebegriffs einen zentralen Stellenwert einnimmt. In der deutschsprachigen Soziologie des 20. Jahrhunderts nahm der Ideologiebegriff eine Schlüsselstellung ein. Zunächst wurde er mit Karl Mannheim identifiziert, der in den 1920er Jahren an der jungen Frankfurter Universität lehrte und dessen überragendem Einfluss aufdie akademische Öffentlichkeit zunächst - Ironie der Geschichte - der Name Frankfurter Schule galt. Als Horkheimer sich als Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter Universität zu etablieren begann, startete er 1930 mit seinem Aufsatz "Ein neuer Ideologiebegriff?", der in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung veröffentlicht wurde, einen Angriff auf die sinnverkehrende akademische Veränderung kritischer Begriffe. Das muss erwähnt werden, weil die wenigsten Historiker der Soziologie über den beschränkten Horizont akademischer Hahnenkämpfe
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hinauskommen und meinen, hier handele es sich um einen Verdrängungswettbewerbung zweier Schulen - der Kritischen Theorie, von der es damals noch keinen Begriff gab, und der Wissenssoziologie. Verkannt wird der asymmetrische Charakter dieser Konflikte. Horkheimer erinnert in der Auseinandersetzung mit Karl Mannheim an die außerakademische Herkunft kritischer Begriffe, die durch ihre Akademisierung verwässert und inflationiert werden. Dieser Streit ist dann im Exil als Konflikt mit den Neopositivisten weitergeführt worden, um als Positivismusstreit in die westdeutsche postfaschistische soziologische Debatte zurückzukehren. Gesellschaftsgeschichtlich lässt sich dieses konkurrierende Verhältnis als ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Strömungen der aufstrebenden Intelligenz Mitteleuropas erklären. Karl Mannheim entstammte wie Lukäcs dem ungarischen Bürgertum, das wie die gesamte Linke des katholischen Habsburger Reiches antiklerikal gesonnen war. Wie man an der Geschichte des bedeutendsten Soziologen aus diesem Umfeld, Paul F. Lazarsfeld, sehen kann, der sich im amerikanischen Exil selbst als "Marxist aufUrlaub" charakterisierte, orientierte sich diese Intelligenz an der austromarxistisch geprägten Sozialdemokratie. Ihr entstammte auch Carl Grünberg, der vor Max Horkheimer erster Direktor des Frankfurter Instituts war. Nach dem Zusammenbruch der europäischen dynastischen Vielvölkerreiche Deutschland, Österreich und Russland versuchte diese Intelligenz ihren Weg zwischen den gescheiterten bürgerlichen Revolutionen und der auf den ersten Anhieb erfolgreichen Oktoberrevolution zu finden. Mannheim emigrierte nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik nach Deutschland, während Lukäcs sich als kommunistischer Parteiintellektueller etablierte und schließlich in Moskau trotz seiner exponierten linksradikalen Vergangenheit den stalinistischen Terror überlebte. Max Horkheimer versuchte, die außerakadernische Erfahrung einer gescheiterten Revolution in der kritischen Gesellschaftstheorie am Leben zu erhalten, und das zwang ihn zu der politischen Entscheidung, die Theorie von der Macht zu trennen. Nur so konnte er auf die tektonischen gesellschaftlichen Veränderungen des "short century" in der Konzeption der Kritischen Theorie reagieren. Diesen Begriff führte er erst 1937 im Exil nach Beginn der Moskauer Prozesse in seinem Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" ein, um sich von der akademischen Theoriebildung wie vom parteikommunistischen Marxismus-Leninismus abzusetzen. Der unkritische "totale" Ideologiebegriff dagegen feierte dann in der von Karl Mannheim entwickelten Wissenssoziologie zeitweilig große Erfolge. Karl Mannheims "Ideologie und Utopie" galt Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts als großes Werk in der westlichen Öffentlichkeit, heute ist es vergessen, während "Ideologie" in der Praxis des Realsozialismus bis zu seinem Untergang eine verhängnisvolle Rolle bei der Menschenbeherrschung spielte. Die öffentli-
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che Ablehnung der bürgerlichen Ideologie wurde als Loyalitätsbeweis gegenüber den parteikommunistischen Regimes den Gesellschaftsmitgliedern abverlangt, die Konfession zur sozialistischen "Ideologie" als notwendige Voraussetzung gesellschaftlichen Fortkommens. "Ideologie" verwandelte sich unter der Hand von einem zu kritisierenden notwendig falschen Bewusstsein in ein reines Herrschaftsmittel. Man muss kein großer Marx-Kenner sein, um zu ahnen, dass der Autor der "Deutschen Ideologie" auf seinem Friedhof in Highgate angesichts einer solchen Verkehrung seiner Kritik anjeglicher Ideologie im Grabe geradezu rotieren müsste. Was Adorno für die Geschichte der Philosophie behauptet hat, gilt für die Theoriegeschichte verschärft - sie ist eine Geschichte des Vergessens. Wenn das von Heine charmant ausgeplauderte SchulgeheiInnis der deutschen idealistischen Philosophie die Revolution gewesen ist, so ist das der Soziologie in Deutschland während des langen 19. Jahrhunderts und des "short century" das der gescheiterten Revolution. Es ist kein gesellschaftliches Wunder, dass am Ende des "short century" die gescheiterte Revolution in den Hintergrund und Identitätsfragen, vor allem die nach der "nationalen Identität", in den Vordergrund traten. Während die Soziologen des "short century" stets damit beschäftigt waren, ihr praktisch-kritisches Erbe zu verbergen oder zu verleugnen, um sich politisch und akademisch in der westlichen Welt etablieren zu können, so sind sie mehr oder weniger seit den 1970er Jahren damit beschäftigt, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit nachzuweisen. Theorie, und sei es gar kritische, stört da nur. Das führt zu einem Funktionswandel der Begrifflichkeit. Die Differenz zwischen theoretischen Begriffen und massenmedial popularisierten Schlagwörtern schwindet. Während man in den frühen 1970er Jahren noch Schwierigkeiten hatte, einem Redakteur in einem Massenmedium zu erklären, dass es nicht "Indentität" heiße, kommt heute kaum eine Kultursendung ohne dieses Wortseifenstück (sobald man es verwendet und es mit Wasser in Berührung kommt, droht es einem aus der Hand zu rutschen) aus. Es dient im Konkurrenzkampf dazu, xenophobe Regungen zu rechtfertigen, es suggeriert eine tiefere Bedeutung von Triebregungen, die sich sonst rechtfertigen müssten. Ein Schlagwort wie "nationale Identität" führt in das Herzstück der Ideologiekritik zurück: ,,(...) Ideologie ist Rechtfertigung" (AdornolDirks 1956: 168).
2. Zur Kritik an einer wissenssoziologischen Antisemitismusforschung Wenn man etwas Sinnvolles über Ideologie sagen und sich nicht von definitorischer Willkür abhängig machen will, muss man sich dem geschichtlichen Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und begrifflicher Reflexion zuwenden, der bei den französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts in der Hege1'schen Phi-
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losophie und der Marx'schen Kritik von Philosophie und Politischer Ökonomie thematisiert worden ist. Auch die Entstehung der Soziologie als Wissenschaft ist aufs Engste mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft im "long century" verknüpft. In dieser Epoche tauchen im öffentlichen Diskurs die "Judenfrage", die nationale und die soziale Frage auf. Diesen Zusammenhang thematisiere ich in meiner Studie "Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Genese des modemen Antisemitismus", die 1987 zuerst veröffentlicht und unter gesellschaftlich veränderten Umständen 2005 erweitert in 4. Auflage publiziert wurde. Der Antisemitismus kann nicht als intellektuelle Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden, sondern eher als eine Pseudorebellion gegen sie; rationale Kritik prallt an ihm ab, weil es den Antisemiten nicht um die Wahrheit und auch nicht um die Verschleierung der Wahrheit geht, sondern um eine gewalttätige Praxis gegen Juden in Wort und Tat. Was in den antisemitischen Traktaten gerechtfertigt wird, ist Gewalt gegen Juden. Zur Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft ist Antisemitismus keineswegs notwendig. Deswegen kommt er auch in Marx' "Kapital", dem Standard der Ideologiekritik im "long century", so gut wie nicht vor. Die bürgerliche Gesellschaft war durchaus vorstellbar ohne Juden und auch ohne Antisemitismus; bei normalem Funktionieren produzierte sie geradezu die Illusion: Antisemitismus hat es gegeben, aber gibt es nicht mehr. Er sei etwas für Ewiggestrige. Der modeme Antisemitismus ist aus der universalen christlichen Judenfeindschaft hervorgegangen; dieses lässt sich besser als geistesgeschichtlich gesellschaftsgeschichtlich erklären. In den traditionalen europäischen christlichen Agrargesellschaften galten die in gesellschaftliche Außenseiterrollen gedrängten Juden als designierte Opfer. Diese traditionelle Judenfeindschaft wird im "long century" in den modemen Antisemitismus transformiert. Während die Zirkulationssphäre in der vorbürgerlichen Gesellschaft marginal bleibt, werden mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft Ware-Geld-Beziehungen universal. Juden werden mit ihnen personalistisch verzerrend identifiziert; so werden sie bevorzugter Gegenstand von Pseudorebellionen, denen Otto Fenichel exemplarisch psychoanalytisch auf die Spur gekommen ist. Dabei handelt es sich keineswegs um eine "kausale Theorie", wie Klaus Holz (200 I) in seinem sich wissenssoziologisch verstehenden Werk "Nationaler Antisemitismus" behauptet. Weil er in wissenssoziologischer Manier nur "Wissen" behandelt und keine außertheoretische Wirklichkeit kennt, versteht er auch den avisierten Zusammenhang von "Unbehagen in der Kultur" und universaler Herrschaft des Wertgesetzes nicht. Es geht nicht um psychoanalytische oder marxistische Theoriemodelle, die man mit anderen Paradigmen vergleichen kann, sondern um konkrete gesellschaftsgeschichtli-
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che Zusammenhänge, die sich im Alltagsbewusstsein der Menschen verdichten. Die Aufgaben, die sich aus einer solchen Problemstellung ergeben, erkennt der Autor in seiner wissenssoziologischen Selbstbeschränkung gar nicht. Alles wird zur -letztendlich selbstreferentiellen - "Beschreibung", so auch das ausführliche, typologisch klassifizierende Theoriereferat, das nicht geliefert wird, um einen nicht nur theoretischen Sachverhalt neu zu formulieren, sondern um die Überlegenheit der eigenen Vorgehensweise zu demonstrieren. Die für eine lebendige Fortsetzung der Kritischen-Theorie-Tradition notwendige Kritik am marxistischen Rationalismus wie am Psychologismus übersieht er einfach, um alles unterschiedslos in den großen Bottich "kausaler Theorien" kippen zu können. Was Klaus Holz in "Nationaler Antisemitismus" als "meine" Theorie kritisiert, ist nur eine Karikatur der Kritischen Theorie, die er selbst gezeichnet hat (Holz 2001: 77ff.). Aber vielleicht versteht er nur alles nicht ganz, denn sonst wäre ihm aufgegangen, dass seine Konstruktionen des ,,nationalen Antisemitismus" den Zusammenhang verzerren, den er zu erkennen vorgibt. Strukturell ist der Antisemitismus gar nicht national, sondern er erscheint nur national codiert. Wie gesagt, der modeme Antisemitismus ist zunächst eine generelle Erscheinung im christlichen Europa, die sich mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft im "long century" bis in den Libanon und nach Japan universalisiert hat. Er ist aus der Konkurrenz zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft im christlichen Europa hervorgegangen. Die Gesellschaftsveränderung von der traditionalen zur modemen Gesellschaft geschah in einem nationalen Rahmen. Die modeme Nation ist eine notwendige Begleiterscheinung einer sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft, der Antisemitismus ist es nicht. Die Nation ist eine reale Fiktion - real in ihren Institutionen, und seien sie auch nur vorgestellt wie in der "volonte generale". Im Nationalismus widerstreiten sich emanzipatorische und repressive Momente, das macht seinen ideologischen Charakter als Verschränkung von Richtigem und Falschem aus. Im Antisemitismus gibt es nichts Richtiges; er ist eine Praxis der Gewalt und seine Rechtfertigung zugleich. Den Nationalismus kann man als eine Ideologie kritisieren; aber nicht in der linksradikalen Unsitte, in der mit dem Nationalismus auch die Nation über Bord des eigenen sektiererischen Bewusstseins geworfen wird. Die nationale Form hat überall die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft notwendig begleitet, sogar die alternativ sich verstehenden Gestalten von Modernisierung. Nirgendwo ist es gelungen, die Mehrheit der Erniedrigten und Beleidigten für eine reine Idee wie etwa die ,,klassenlose Gesellschaft" zu gewinnen, sondern nur wenn die eigene Existenz auf dem Spiele stand, vermittelt durch die Erfahrung einer nationalen Katastrophe. Alle sozialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts fanden in einem
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nationalen Rahmen statt - auch die internationale Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft und die Emanzipation vom Kolonialsystem. Wer diese Notwendigkeit verleugnet, hat keinen Zugang zum weltgeschichtlichen Prozess des "long" wie des "short century". Wer den Antisemitismus als notwendigen Bestandteil des Nationalismus postuliert, entledigt sich der Möglichkeit, ihn zu erkennen, mehr noch: Er rationalisiert ihn. Auch umgekehrt wird kein Schuh draus. Der modeme Antisemitismus ist eine Begleiterscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, er ist gesellschaftlich codiert, nicht staatlich, ethnisch oder national. Weil aus der Mainstream-Soziologie die Welt der Dinge - damit übrigens auch altmodische dialektische Begriffe wie "Vergegenständlichung" und "Verdinglichung" - verschwunden sind, fehlt ein Sensorium für die materielle Gewalt des Antisemitismus, der eben keine bloße Wissensform, sondern eine Menschen diskriminierende, verletzende und tötende Praxis ist. Da in aller Mainstream-Soziologie seit dem Ende des Kalten Krieges gesellschaftliche Objektivität eliminiert und damit paradoxerweise in der Soziologie der Begriffder Gesellschaft in eine vage Rede vom Sozialen transformiert worden ist, wird in den Arbeiten von Klaus Holz der Antisemitismus zu einem selbstständigen Subjekt. Nehmen wir ein paar modellhafte Sätze (Holz in diesem Band: 188): ,,Hinzu kommt, dass jederAntisemitismus als solcher nach der nationalsozialistischen Judenvernichtung vor dem Problem steht, sich angesichts dieses Verbrechens an den Juden zu legitimieren. Die deutsche Nation unterliegt diesem Zwang in besonderer Weise, er delegitimiert aber jeden Antisemitismus. Der Antisemitismus reagiert auf diesen Zwang mit einer Rekonstruktion seiner semantischen Struktur: Die vor der Shoah recht marginale Täter-Opfer-Umkehr rückt in den Mittelpunkt des Antisemitismus, gleichviel welcher nationalen Identität er das Feindbild formiert."
Ebenso wie die Geschichte keine Kämpfe kämpft, "steht" der ,,Antisemitismus als solcher" weder vor einem Problem noch "reagiert" er auf eines - das ist keine misslungene Formulierung, sondern folgt der eigenen gedanklichen Konstruktion einer "antisemitischen Weltanschauung", die nichts abgeleitetes, sondern als etwas Primäres selbstständig handeln und denken kann. Soziologische Theorie wird in geisteswissenschaftlichen Szientismus verwandelt; es wird nicht "beschrieben", wie proklamiert, sondern hemmungslos "konstruiert", was damit legitimiert wird, dass es alle tun (die "kausalen Theorien" nur uneingestanden). Cosifan tutte: Der Effekt ist ähnlich wie bei Mannheims Transformation des kritischen Ideologiebegriffs in den "totalen Ideologiebegriff". Der praktische Antisemitismus wird zur "Weltanschauung" vergeistigt, der man sich wissenschaftlich, wertfrei nähern kann. Wenn es um die außerakademische Wirklichkeit geht, kommt dann aber ein unreflektierter moralischer Gestus ins Spiel. Im Zusammenhang mit den von ihm ,,rekonstruierten" Säuberungen im Realsozialismus, spricht Klaus Holz von den
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"offen antisemitischen SUmskj-Prozessen". Die berechtigte Empörung über diese scheußliche antisemitische Verfolgungspraxis in der Maske des Strafrechts verstellt den Blick auf die Analyse des Antizionismus, der auch als stalinistische Herrschaftspraxis gerade nicht "offen antisemitisch" auftreten kann, weil das in der Tat jeder marxistisch-leninistischen Ideologie widerspricht, wie der Autor selbst sehr wohl weiß (vgl. Holz 2001: 479). Nur werden durch das szientistische Interesse die Akzente verschoben: "Um den Antisemitismus in den Marxismus-Leninismus zu integrieren, musste er allerdings zum Antizionismus umgeformt werden (...)." Die Rolle der Ideologie wird vollkommen überschätzt. Die stalinistischen kommunistischen Parteien scheuten nicht davor zurück, antisemitische Energien zu mobilisieren, um ihren Mangel an demokratischer Legitimation zu kompensieren. Diese antisemitische Praxis wurde politisch als ,,Antizionismus" deklariert. Übrigens bewegt sich die im israelfeindlichen Teil der Linken beliebte Selbstbezeichnung als "antizionistisch" auf der gleichen Ebene des bloßen Meinens, als ob die Nomenklatur einer Praxis das Entscheidende wäre. Das führt wieder zu endlosen Diskussionen, was antisemitisch ist oder nicht. Manche meinen, wer eine Vokabel wie Antizionismus in den Mund nähme, sei schon antisemitisch. Von solchen öffentlichen Debatten, als "Streitkultur" gefeiert, kann man sich nur angewidert abwenden. Nicht die einzelne Meinungsäußerung ist als antisemitisch oder nicht zu beurteilen, ob etwas beispielsweise noch israelkritisch oder schon antisemitisch ist, sondern die Debattenpraxis ist selbst Teil des "Ja-aber-Antisemitismus".
3. Wertfreie Wissenschaft als Ideologie Der Effekt ist verheerend: Mit dieser Vergeistigung eines modernisierten verbalen Radau-Antisemitismus sitzt man der Kostürnierung der Antisemiten und ihrer antizionistischen Antipoden als Vertreter unterdrückter Meinung auf, die alle ihre provokativen Vorstellungen von "Ja, aber -" und "Man wird doch wohl mal sagen dürfen -" begleiten (vgl. Claussen 2005: VIIff.). Um es klar zu sagen: Modeme Antisemiten suchen sich immer (längst vor den Massenverbrechen der Nazis) als Opfer darzustellen; aber auch hier gilt: Das Gegenteil des Falschen kann nicht das Richtige sein. Die Gesellschaft besteht nicht nur aus Tätern und Opfern, sondern die überwältigende Mehrheit ist gar nicht unmittelbar an den Verbrechen beteiligt. Die immer wiederkehrende dichotome Unterteilung der Gesellschaft in Täter und Opfer macht nahezu alle zu Tätern, teilt den Juden die fatale Rolle des Anklägers der Mehrheit zu und lässt die konkreten Täter im Meer der Gleichgültigen verschwinden, die man selbst als Täter beschreibt. Die wissenschaftlich wertfrei behandelte Täter-Opfer-Dichotomie folgt als Denkfigur nur den Unsitten massen-
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medialer Repräsentation. Gesellschaftliche Realität wird mit wissenschaftlichen Mitteln bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Diese Reduktion der konkreten Taten und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen auf Semantiken verkennt gerade eine wesentliches Moment, das die Massenverbrechen des "short century" überhaupt erst möglich gemacht hat: die Indifferenz. Die reflexionslose Wiederkehr der Wissenssoziologie ist selbst ein ideologischer Reflex aufdie missglückte Emanzipation von der bürgerlichen Gesellschaft. Man kann sich des Gefühls einer Wiederholung nicht erwehren. Die Wissenssoziologie nach der gescheiterten Revolution von 1918 schien ein Angebot zur Ordnung einer chaotischen Gesellschaft zu sein. Die schon bei Comte beobachtbare Attitüde von Soziologen, ihr Wissen als Herrschaftswissen anzubieten, haben Wissenssoziologen wie Scheler und Mannheim wieder aufgenommen. Der Exilant Karl Mannheim hat gerade im englischen Milieu dazu beigetragen, unverständliche mitteleuropäische Gesellschaftsvorgänge interpretatorisch für eine empiristisch beschränkte Soziologie anzubieten. Sein "totaler" Ideologiebegriff verwandelt auch die Kritische Theorie, der man auf eklektizistische Weise Erkenntnisse und Begriffe entlehnt, selbst in eine Ideologie. Angeboten wird einem geschichtslosen Publikum eine Allmacht der Erkenntnis, die als wertfreie Wissenschaft daherkommt. Wahrheit gibt es nicht mehr, also muss man sie auch nicht erkennen. Die Wissenssoziologie kennt keine außertheoretische Erfahrung, die es mit einer Kritischen Theorie der Gegenwart zu vermitteln gelte. Sie kennt und erkennt nur wissenschaftliche Artefakte, die sie in langwierigen ,,Beschreibungen" konstruiert. Ihr akademischer Szientismus ist das Zerfallsprodukt einer gesellschaftlichen Dialektik der Aufklärung; die Wissenssoziologie ernährt sich von dem Gegenstand, an dessen Kreation sie beteiligt ist. Es gibt immer mehr Antisemitismusforscher, wie es seit Jahrzehnten immer mehr Rassismus- und Gewaltforscher gibt, die behaupten, der Antisemitismus, Rassismus und die Gewalt würden zunehmen. Wie schlimm es um die Welt wirklich steht, erfährt man aus ihren Werken nicht, weil sie die Welt gar nicht kennen und daher auch nicht erkennen können. Auschwitz stellte die Zeitgenossen vor die kaum lösbare Aufgabe, das Unbegreifliche zu begreifen, wie Max Horkheimer die Paradoxie formulierte. Der Mainstream akademischer Antisemitismusforschung hat sich aber den Gewohnheiten massenmedialer Kommunikation angeglichen und folgt der rationalistischen Formel "Vom Gedanken zur Tat". Eine Travestie der Aufklärung lässt sich beobachten, als ob der Antisemitismus ein Gedanke wäre. Der Webfehler der Wissenssoziologie wird in diesem Alltagsgerede sichtbar: Unter der Hand wird der Antisemitismus zu einem geistigen Gebilde wie der Plan eines Baumeisters, den es zu verwirklichen gelte. Weder gibt es ein konsistentes Gedankengebäude, aus dem
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die Massenvemichtung der europäischen Juden folgen würde, noch lässt sich die praktische Tat mit diesem Modell sinnhaften Handelns begreifen, sondern nur rationalisieren. Das betrifft nicht die Wissenssoziologie alleine. Die Manier, den Antisemitismus und auch Auschwitz nationalkulturell wegzuerklären, hat auch die ergriffen, die sich in die Tradition der Kritischen Theorie stellen. Jürgen Habermas hat wiederholt die ,,Dialektik der Aufklärung" als zeitabhängiges düsteres Stimmungsbild charakterisiert. Verleugnet wird die Erfahrung einer Erfahrungszerstörung, die durch die Schrecknisse des "short century" bewirkt wird. Horkheimer, Adomo, Marcuse und Löwenthai haben die Massenvernichtung der europäischen Juden eben nicht aus einer angeblich nationalen Kultur oder Mentalität abgeleitet, die dem Antisemitismus und der Praxis der Massenvernichtung post crimen noch einen, wenn auch schrecklichen Sinn verleiht. Zum Beispiel geht Lars Rensmann (1998:.197ff.) so weit, die deutsche nationale Besonderheit zum blinden Fleck der Kritischen Theorie zu erklären, als ob nicht Horkheimer und Adomo die klügsten Bemerkungen zu Deutschland gemacht haben, die sich überhaupt denken lassen. Es verhindert geradezu das Begreifen von Auschwitz, wenn man glaubt, sich diesen Tatzusammenhang aus dem spezifisch deutschen Nationalismus oder der nationalsozialistischen Weltanschauung erklären zu können. Wiederum eine Ironie der Geschichte ist, dass in den seriösesten deutschen Medien immer wieder der Eindruck erweckt wird, der autoritäre Charakter sei eine deutsche Besonderheit. In der ,,Authoritarian Personality" wird aber nach 1945 an US-amerikanischen Probanden die An:fiilligkeit für faschistische Agitation nach dem Ende des Nationalsozialismus untersucht - motiviert von der Frage nach der Zukunft der Demokratie unter objektiv veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Die nationale Wahrnehmung verzerrt nicht nur die Wahrnehmung der äußeren Realität, sondem sie lässt auch die Bücher, die sich kritisch mit ihr auseinandersetzen, schiefwahrnehmen. So wird auch der "sekundäre Antisemitismus", den die Kritischen Theoretiker eingeführt haben, verkannt als ein Antisemitismus angeblich wegen Auschwitz. Aber wegen Auschwitz ist noch niemand Antisemit geworden. Diese Art unkritischer Wissenschaft folgt den Rationalisierungen der Antisemiten selbst. Der Antisemitismus wird auf diese Weise zu einer raison d'etre der Sozialwissenschaft. Einfach ekelhaft, pflegte Joseph Roth im Exil zu sagen und überließ sich seinen Affekten.
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Literatur Momo, Theodor W. und Walter Dirks (Hg.), 1956: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Claussen, Detlev, 2005 (1987): Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Genese des modemen Antisemitismus. Frankfurt a.M.: Fischer. Holz, Klaus, 2001: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Edition. Horkheimer, Max, 1947: The Eclipse ofReason. New York: Oxford University Press. Ders., 1937: Traditionelle und kritische Theorie, ZeitschriftfiJr Sozialjorschung VIII 937 (2): 245-294. Ders., 1930: Ein neuer Ideologiebegriffi, Archiv fiJr die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 15: 1-34. Rensmann, Lars, 1998: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, ErkIärungspotential und Aktualität. Berlin/Hamburg: Argument.
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Welche Eigenschaften des nationalen Antisemitismus ennöglichen es, dass er nicht nur Grenzen zwischen Identität und Alterität konstituiert, sondern auch Grenzen zwischen "uns" und "ihnen" transzendiert? Versteht man unter Nationalismus Semantiken, die die Doktrin "ein Volk, ein Staat, eine Nation" ausbuchstabieren, bedeutet dies, den Nationalismus als eine Semantik der In- und Exklusion, also der Grenzziehung zu bestimmen. Diese grundlegende Eigenschaft bewahrt der Nationalismus auch dann, wenn er den Antisemitismus integriert. Der nationale Antisemitismus aber gewinnt durch das Feindbild "Jude" die Fähigkeit, nationale Grenzen zu transzendieren. Deshalb kann der Antisemitismus als eine Brücke zwischen rechtsextremen Personen und Organisationen unterschiedlicher nationaler Provenienz dienen. Hierfür bietet der Antisemitismus zwei (gut miteinander verbindbare) Semantiken an, die zum Kembestand des nationalen Antisemitismus gehören. Zum einen kann der Antisemitismus im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und insbesondere die nationalsozialistische Judenvernichtung die spezifische Form einer Täter-Opfer-Umkehr annehmen. Dies entbindet differente nationale Gedenkkulturen von historischer Verantwortung für die Shoah und verbindet Nationen in der Ansicht, primär Opfer letztlich desselben, eben jüdischen Täters zu sein. Zum anderen ist der nationale Antisemitismus gerade darauf spezialisiert, die nationalen Grenzziehungen aufzuheben - im Sinne von; nationale Grenzen bewahren, überwinden und auf eine höhere Stufe heben. Er bewahrt die Differenzierung in Nationen, indem er ein nationales Selbstbild konstituiert. Er überwindet den Gegensatz von Nationen, indem er im "Juden" einen gemeinsamen Feind angibt. Er hebt die Unterscheidung zwischen Nationen auf eine höhere Stufe, indem er sie als nationale Ordnung der Welt ausweist und bekräftigt. Ich werde diese weltanschauliche Qualität des Antisemitismus als antisemitische Figur des Dritten näher bestimmen.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1. Täter-Opfer-Umkehr Die Gedenkkulturen des Zweiten Weltkrieges müssten, da sie wesentlich national formiert sind, fundamentale Differenzen aufweisen, je nachdem, welche Rolle die jeweilige Nation im Zweiten Weltkrieg spielte. Zweifellos gibt es solche fundamentalen Differenzen. Aber diese beherrschen die Gedenkkulturen keineswegs hegemonial, weil die historischen Differenzen zwischen den europäischen Ländern bezüglich des entscheidenden Punktes der Mitverantwortung für die Judenvernichtung geringer sind, als man aufden ersten Blick meinen könnte. Von Frankreich über die Schweiz, Polen, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Baltikum bis Russland muss, historisch zu Recht, diskutiert werden, welche zwar nicht ursächliche, aber fördernde oder partizipierende Rolle die eigene Nation in der Judenvernichtung spielte. Hinzu kommt, dass jeder Antisemitismus als solcher nach der nationalsozialistischen Judenvernichtung vor dem Problem steht, sich angesichts dieses Verbrechens an den Juden zu legitimieren. Die deutsche Nation unterliegt diesem Zwang in besonderer Weise, er delegitimiert aber jeden Antisemitismus. Der Antisemitismus reagiert auf diesen Zwang mit einer Rekonstruktion seiner semantischen Struktur: Die vor der Shoah recht marginale Täter-Opfer-Umkehr rückt in den Mittelpunkt des Antisemitismus, gleichviel welcher nationalen Identität er das Feindbild formiert. Dieses gleichförmige semantische Muster kann sowohl diverse nationale Gedenkkulturen als auch unterschiedlichste politische Grundorientierungen in einem gleichsinnigen nationalen Antisemitismus verbinden. Gedenkkulturen sind nicht einfach der Wahrheit und angemessener historischer Erinnerung verpflichtet, sondern nationaler Identität. Im nationalen Gedenken der Geschichte des "eigenen Volkes" wird eine konstitutive Dimension des Nationalismus ausgearbeitet: die Geschichte dieses Volkes, die - wie fiktiv oder realistisch auch immer - die Zusammengehörigkeit, Tradition und Identität der "Volksgenossen" auszuweisen und deren Gegenwart und Zukunft zu begründen hat. Diese Funktion nationaler Geschichtskultur zu marginalisieren und sie einer an Wahrheit orientierten Geschichtswissenschaft gleichzusetzen, würde den Sinn und die Realität des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg wesentlich verpassen. 1 Die Versuche, eine europäische Erinnerung zu kodifizieren, wie dies anscheinend im Museum des Zweiten Weltkrieges in Polen oder im europäischen Zentrum gegen Vertreibungen in Deutschland geschehen soll (vgl. FlierllMüller 2009; Pufelska 20 I0), belegen gerade das Gegenteil dessen, was sie zu sein beanspruchen: die Suprematie des nationalen Gedenkens. Das heißt nicht, dass es eine europäDiese Differenzierung schließt natürlich nicht aus, dass sich die Geschichtswissenschaft ,Jn eine politisch orientierte Gedächtniskultur hineinziehen lässt", wie Agnieszka Pufelska (2007: 247) mit Blick auf Polen konstatiert.
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ische (oder universale) Erinnerung nicht gibt oder nicht geben könnte, aber dass die vorherrschenden Gedenkkulturen national fixiert sind. Ihr Sinn ist eher, nationale Identität zu konstruieren, als Geschichtswissenschaft zu treiben. Weil die Gedenkkulturen diese Funktion teilen, differiert das nationale Gedenken von Nation zu Nation in seiner semantischen Konkretion und gleicht sich in den abstrakten Mustern der Konstruktion von Nation. Das Moment der Gleichheit tritt betont hervor, wenn man auf die Bedeutung des Antisemitismus im rechtsextremen Geschichtsbild der Gegenwart fokussiert. Die Täter-Opfer-Umkehr ist das zentrale Muster, das diversen Semantiken der Entlastung der eigenen (und oft auch anderen) Nation(-en) und der Belastung der Juden zugrunde liegt. Jeder Antisemitismus unterscheidet zwischen Tätern und Opfern. Um eine Klage gegen die Juden erheben zu können, muss den Juden dieses oder jenes zur Last gelegt werden. Die Juden sind insbesondere an all dem schuld, was "unsere" Gemeinschaft und Identität zersetzt. Durch die Personifikation moderner, abstrakter und anonymer Sozialverhältnisse werden diese zu intentionalen Handlungen "des mächtigen Juden", sodass sich "das Opfer" die Welt nicht nur erklären, sondern auch einem "Täter" die Schuld zuweisen kann. Die Anklage rechtfertigt den Antisemitismus als legitime und notwendige Gegenwehr, um "uns" aus der "Judenknechtschaft" zu befreien. Diese sowohl unverzichtbare als auch triviale Konstruktion eines Täter-Opfer-Verhältnisses gerät nach der Shoah in erheblichen Rechtfertigungsdruck. Nach der Shoah scheint nichts eindeutiger zu sein, als dass die Juden die Opfer sind. Will man den Antisemitismus fortsetzen, müssen die Juden aus dieser Position verdrängt werden. Deshalb wandelt sich der Antisemitismus nicht bloß in Deutschland. Das Problem, den Antisemitismus nach und wegen Auschwitz rechtfertigen zu müssen, stellt sich generell In Deutschland hat es eine besondere Brisanz, da auch die Täter-Position eindeutig durch die Wir-Gruppe besetzt ist. Die deutsche Verantwortung für die Judenvernichtung zu entschärfen, ist für die Fortsetzung eines ungebrochenen deutschen Nationalismus notwendig und führt mindestens in der demokratischen und linken Öffentlichkeit zugleich in das Problem, die Norrnalisierung der Deutschen nur zeigen zu können, indem sie Auschwitz anerkennen (Holz 2007). Aus dieser Paradoxie entspringt die Virulenz der Vergangenheitsbewältigung, in der in immer wieder neuen Anläufen und Varianten versucht wird, das Verhältnis von Tätern und Opfern umzukehren. Die Helvetisierung jüdischen Vermögens, die Beteiligung am Judenmord im Baltikum oder Rumänien und das Pogrom im polnischen Jedwabne werfen Probleme im nationalen Gedenken dieser Nationen auf, die der deutschen Vergangenheitsbewältigung analog sind. Antisemitischjedenfalls kommen sie zur selben Lösung.
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Die offene Leugnung beziehungsweise offene Affinnation der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die sich hauptsächlich im rechtsextremen Spektrum findet, beruht nicht auf der Täter-Opfer-Umkehr, sondern bestreitet die Existenz der Gaskammern beziehungsweise begrüßt den Massenmord und bedauert obendrein, dass die Tat nicht vollständig gelang. Sieht man von diesen extremen Varianten der Leugnung respektive Affinnation von Auschwitz ab, so kann man ohne Übertreibung behaupten, dass die Täter-Opfer-Umkehr das Schlüsselelement des Antisemitismus nach Auschwitz ist (vgl. Bergmann 2007; Holz 2005: 54ff.). Typischerweise gehen die Auseinandersetzungen in der jeweiligen Gedenkkultur um die Frage der Täterschaft der Wir-Gruppe und den Opferstatus der Juden. Aus der Vielzahl an semantischen Variationen, die das Täter-Opfer-Verhältnis antisemitisch verkehren, scheinen mir drei Varianten fiir einen rechtsextremen Bmckenschlag über nationale Differenzen hinweg besonders typisch und häufig zu sein: Die erste Variante entwirft mit dem ,jüdischen Bolschewismus" einen Täter hinter dem nationalsozialistischen Verbrechen. Diese Variante wird keineswegs nur von Rechtsextremen vertreten, wie Ernst Noltes Text, der den Historikerstreit 1988 auslöste, oder Martin Hohmanns Rede anlässlich des deutschen Nationalfeiertages 2003 belegen. Hohmann legt den Juden ihre zahlenmäßig überproportionale Beteiligung an der bolschewistischen Revolution zur Last, um hernach die Frage aufzuwerfen, ob die "Juden ausschließlich die Opfer, die Leidtragenden" waren, und beantwortet sie mit dem Verweis auf den jüdischen Anteil am Bolschewismus, dem er unter anderem die ,,zwangskollektivierung in der Ukraine" vorwirft. "Unter maßgeblicher Beteiligung jüdischer Tschekisten fanden hier weit über 10 Millionen Menschen den Tod." Hohmann konstruiert als Verbindungsglied zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus, dass beide antikirchlich gewesen seien, und kommt fiir jüdische Bolschewisten und deutsche Nationalsozialisten zu dem Schluss: "Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk" (Hohmann 2003). Geht es nicht, wie bei Hohmann, primär um die Fonnierung der deutschen Nation, kann das alte Stereotyp des jüdischen Bolschewismus benutzt werden, um die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus als venneintlich berechtigte Gegenwehr gegen den ,jüdischen Aggressor" zu begründen. In dieser Weise rechtfertigte bereits der rumänische StaatschefIonAntonescu 1941 die Vertreibung der Juden aus Bessarabien und der Nordbukowina. Gut 50 Jahre später dient dem rumänischen Autor Gheorghe Buzatu in seinem Buch "So begann der Holocaust an dem rumänischen Volk" dieselbe Behauptung dazu, die (kommunistischen) Juden des Genozids an seinem Volk zu bezichtigen (vgl. Hausleitner 2004; bezüglich Polen vgl. Pufelska 2007). Diese Variante kann insbesondere in den ehemaligen Sa-
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tellitenstaaten der UdSSR verwendet werden, weil sie den Opferstatus des eigenen Volkes im 20. Jahrhundert ausweist und gleich drei Feindbilder integriert, die für die Rechtsextremen in diesen Ländern besonders attraktiv sind: die Juden, die Kommunisten und die Russen. Die ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR können (mit oder ohne Antisemitismus) Probleme ihrer Geschichte durch die (russisch-)bolschewistische Bedrohung und Okkupation entsorgen, ohne dieses antisemitische Stereotyp zu bemühen. So können zum Beispiel die faschistischen und antisemitischen Traditionen im Baltikum und die direkte Beteiligung von Balten am Mord an den Juden in der heroischen Erinnerung an den Freiheitskampf an der Seite der Wehrmacht gegen die russische Imperialmacht verdeckt werden. Ebenso feierten am 11. Februar 2009 Rechtsradikale die ungarisch-deutsche Waffenbrüderschaft anlässlich einer gemeinsamen, vermeintlichen Heldentat gegen die Rote Armee (Marsovszky 2009: 42). Diese antikommunistischen Gedenkkulturen haben in der Gegenwart den Vorteil, unmittelbar anschlussfähig auch für deutsche Rechtsextreme zu sein. Dieses Stereotyp spielt im postsowjetischen Russland eine besondere Rolle, weil es die russische Erinnerung von der bolschewistischen Geschichte entlastet. Nicht der jüdisch-russische Feind wie in den Satellitenstaaten, sondern der jüdische Feind erklärt, wie das russische Volk unter die Knute der Bolschewiken geriet. Demnach wurde das russische Volk zunächst Opfer jüdischer Bolschewiken, danach deutscher Angreifer. Das wiederum kann in diversen Varianten für unterschiedliche Geschichtsbilder passend gemacht werden. 2 So kann man zum Beispiel wie die derzeitige KPRF einen echt russischen Stalinismus rechtfertigen, der zugleich gegen die jüdisch-trotzkistische Unterwanderung der KPdSU und den nationalsozialistischen Aggressor erfolgreich gekämpft habe. Diese Variante :findet harmonischen Anschluss am älteren, stalinistischen Antizionismus, der den Zionismus mit dem Nazismus identifiziert. Die antikommunistische Variation der Täter-Opfer-Umkehr entwirft einen Täter, der dem Nationalsozialismus historisch und kausal vorausliegt, womit dieser (wenigstens) relativiert wird. Die Juden werden als Bolschewiken gleichartiger Verbrechen wie der Shoah beschuldigt, sodass sie nicht nur Opfer, sondern Täter der vorgängigen bolschewistischen Tat seien. Diese Fortschreibung der Tradition des antisemitischen Antikommunismus kann in diverse rechtsextreme Orientierungen respektive nationale Gedenkkulturen eingearbeitet werden und bietet
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Wie weit verbreitet und wie typisch diese Konstruktion fiir das antisemitische Geschichtsbild ist, belegt zum Beispiel die palästinensische Hamas, der zufolge die Juden/Zionisten die eigentlichen Verursacher der russischen Revolution waren (Holz/Kiefer 2010).
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- entgegen aller sonstigen Gegensätze - einen gemeinsamen (russisch-)jüdischbolschewistischen Feind an. Eine zweite, mit der ersten gut kombinierbare Variante der Täter-Opfer-Umkehr ist die Identifikation des Nazismus mit dem Zionismus. Diese gibt es in zwei Versionen. Zum einen wird schon für die Zeit des Nationalsozialismus behauptet, Zionisten hätten mit Nationalsozialisten unter einer Decke gesteckt oder seien gar die eigentlichen Strippenzieher hinter dem Nationalsozialismus. Zum anderen kann man statt einer historischen eine wesensmäßige Identifikation von Nazismus und Zionismus postulieren. Demzufolge mag der historische, deutsche Nationalsozialismus zu verurteilen sein, aber gerade deshalb muss dessen gegenwärtiger Verwandter, der Zionismus, auch verurteilt werden. So stellen im "Brief der Schriftsteller Russlands" die 74 Autoren den historischen Faschismus nicht infrage, er ist nicht ihr eigentliches Thema. Vielmehr benutzen sie diesen, um im Gestus entrüsteter russischer Nationalisten den Vorwurf, sie seien Faschisten, wegzuwischen. Sie beziehungsweise ihre Vorfahren haben "die Welt vor dem Hitlerismus errette[t]". Der Vorwurf des Faschismus diene nur "als Deckmantel für den wahren Rassismus und Neofaschismus, dessen sehr emstzunehmende Kräfte im Verband der Zionisten der UdSSR zusammengeschlossen sind". Eingedenk seiner siegreichen antifaschistischen Geschichte muss sich das russische Volk der heutigen Faschisten, eben der Zionisten, erwehren und dem Vermächtnis der "tausendjährigen Geschichte Russlands" gerecht werden. Sonst droht "der Untergang des russischen Volkes" (Brief 1990: 84,91, 103, 101). Beide Versionen führen zum selben Ergebnis: Die Juden/Zionisten sind (wie) die Nazis. Gemäß dieser Logik kann man zum Beispiel den ungarischen Ministerpräsidenten als ,,(bolschewistischen) Juden" und als "Nazi" beschimpfen (Marsovszky 2010). Demnach sind die Juden also gerade nicht Opfer, sondern die eigentlichen Täter - jedenfalls in der Gegenwart -, sodass alle Ansprüche und Rücksichtnahmen, die sich aus der Shoah begründen lassen könnten, obsolet sind. Stattdessen bestätigen die (vermeintlichen) Forderungen der Juden ihre Rachsucht und ihren Herrschaftsanspruch, was Gegenwehr rechtfertigt. Auch wenn die Juden historisch die Opfer gewesen sein mögen, gegenwärtig seien sie die Täter, die sich insbesondere des Holocausts bedienen, um ungerechtfertigte Schuldvorwürfe und Ansprüche an "uns" zu adressieren. So schrieb schon 1952 Klement Gottwald, Vorsitzender der tschechoslowakischen kommunistischen Partei (zitiert nach Oschlies 1979: 160): ,,Die zionistischen Organisationen ( ...) waren dadurch in der Lage, die Leiden, die Hitler und andere Faschisten den Juden zufügten, schamlos auszubeuten. Man könnte fast sagen, daß sie aus Auschwitz und Maidanek Kapital schlagen möchten."
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Gottwald schrieb dies zeitgleich zum offen antisemitischen Schauprozess gegen das "Verschwörerzentrum mit Rudolf SUmsIey an der Spitze", in dem die andere Version im Vordergrund stand: Angeblich als jüdische Kommunisten getarnte Zionisten werden der direkten Mittäterschaft an den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Juden beschuldigt. Beide Versionen wurden vor allem von der stalinistischen Sowjetunion entwickelt und verbreitet. Heute gehören sie zur dominanten Fassung des Antisemitismus weltweit (Holz 2005). Sie vermeiden eine direkte Leugnung des Holocausts und unterscheiden anscheinend zwischen Juden und Zionisten, was der Camouflage dient und den Vorwurf des Antisemitismus abwehrt, aber für die Gegenwart ein klares Feindbild anbietet. Diese Variante einer antizionistisch-antisemitischen Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses kann mit diversen politischen Grundorientierungen verbunden werden und ist gegenwärtig die breiteste Brücke, die die diversen Antisemiten verbindet und ihre Ideologien füreinander öffnet. Diese Version ist insbesondere im demokratischen Spektrum und im arabischen respektive islamistischenAntisemitismus verbreitet, weil dort die Implikation, damit den Nationalsozialismus eher zu desavouieren als zu rehabilitieren, nicht - wie für viele Rechtsextreme - hinderlich ist. Die europäischen Rechtsextremen dagegen scheinen diese Variante weniger unmittelbar zu reproduzieren, als vielmehr an ihren Resultaten anzuschließen: der Abwehr historischer Verantwortung und der Delegitimation des Zionismus, insbesondere des Staates IsraeL Die israelische Politik in den besetzten Gebieten dient als Scheinbeleg dafür, dass sich die Juden/die Zionisten heute wie die Nazis von damals verhalten. An diese weit verbreitete Meinung können Rechtsradikale mit ihren weiter gehenden Vorstellungen anschließen. Organe wie Nation Europa oder Deutsche Stimme, die Monatszeitung der NPD, sind voller einschlägiger Artikel (vgL Globisch 2009). In den osteuropäischen Ländern kommt hinzu, dass der staatliche Antisemitismus der Volksdemokratien bis 1990 auf diese antizionistische Variante fokussierte. Sie bietet weniger in dieser oder jener konkreten semantischen Ausgestaltung denn als weit verbreitetes "Gerücht" (Adorno) gegen die Juden einen fruchtbaren Boden für eine heute die eigene Nation entlastende, antisemitische Agitation. Für Brückenschläge zwischen Rechtsextremen verschiedener Nationen eignet sie sich weniger, weil sie in der ersten Version dazu tendiert, den Nationalsozialismus zu einer jüdischen Marionette zu erklären. Das geht selbst den Rechtsextremen meist zu weit, die sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren trachten. Für sie sind, wie gleich zu erörtern sein wird, andere semantische Lösungen typischer. Die zweite Version tendiert zu einer offenen Anerkennung des Holocausts, relativiert nur dessen Konsequenzen für die Gegenwart und ist deshalb für
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Rechtsextreme ungeeignet, da diese eher zu historischen Relativierungen neigen, die nichts anderes als eine strategisch verbrämte Leugnung respektive Affirmation der Shoah sind. Vielleicht erklärt diese Überlegung einen auf den ersten Blick verblüffenden Umstand: das erhebliche Ausmaß, in dem nicht-deutsche Rechtsextreme den Nationalsozialismus historisch verteidigen beziehungsweise in seiner Bedeutung für die Gegenwart entsorgen. Jedenfalls spielt dies eine erhebliche Rolle bei Rechtsextremen, die mit Blick auf die Leiden des "eigenen Volkes" während des Zweiten Weltkrieges daran kein Interesse haben müssten. Die dritte Variante der Täter-Opfer-Umkehr, die wohl gängigste, jedenfalls für den Rechtsextremismus zukunftsträchtigste Form, bedient sich einer Unterscheidung zwischen "guten" und "schlechten" Faschisten (zu Modemisierungsbestrebungen, die ich eher als Bemühungen um eine politische Akkulturation an vorherrschende Diskurse und linksradikale Bewegungen verstehe, siehe Klämerl Kohlstruck 2006). Diese kann wiederum primär nur auf die Gegenwart oder auch auf die Geschichte angewandt werden. Inzwischen gibt es eine Vielzahl rechtsextremer Gruppierungen, die sich mithilfe dieser Unterscheidung (tatsächlich oder vermeintlich) vom "Hitler-Faschismus" abgrenzen und zugleich eine andere Ausprägung des Nationalsozialismus - insbesondere den so genannten Strasser-Flügel der NSDAP - oder des Faschismus, wie den italienischen oder den der Konservativen Revolution, als historische Vorbilder propagieren. Die sich selbst Nationale Sozialisten nennende Strömung spaltet den scheinbar antikapitalistischen Zug der NSDAP, der insbesondere von der frühen SA und den Brüdern Strasser verkörpert werde, vom Nationalsozialismus an der Macht ab, der eben dieses sozialrevolutionäre und nationalsozialistische Programm aufgegeben habe und deshalb in die Irre gegangen sei. Diese Unterscheidung entlastet Verbrüderungen europäischer Rechtsextremer, weil sie wenigstens eine ambivalente Deutung des Zweiten Weltkrieges erlaubt. Zwar mag der Krieg gegen den jüdischen Bolschewismus aufgezwungen und notwendig gewesen sein, die Kriegsfiihrung gegen die osteuropäischen Völker aber machte diese fälschlicherweise zu Feinden. Es ist ganz in diesem Sinne, wenn zum Beispiel Die Russlanddeutschen Konservativen (2009) einen russischen Rechtsextremen mit seinen Worten auf einer Kundgebung in Dortmund 2009 zitieren: ,,Mit der Vereinigung Deutschlands und der Europäischen (Pariser) Charta von 1990, müssen fiir das deutsche Volk die Folgen des Zweiten Weltkrieges beendet werden. Die russischen Panzer sind nach Hause zurückgekehrt. Dasselbe hat auch die zionistische Macht von Washington zu machen."
Den gleichen Tenor hat eine "Vereinbarung" zwischen tschechischen und deutschen Rechtsextremen, in der die Okkupation und Zerschlagung der Tschechoslowakei zur Geschichte und die Benes-Dekrete zu einem Akt der Siegerwillkür
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erklärt werden (Kalibova 2009: 44f.). Die so genannte Eurasische Bewegung ist ein weiteres Beispiel für ein Geschichtsbild, in dem der Nationalsozialismus einer transnationalen Einigung der Rechtsextremen nicht im Wege steht (Höllwerth 2007; Ivanov 2007). Alexander Dugin, der russische Chefideologe der Eurasischen Bewegung, spaltet auch den Nationalsozialismus nach dem Schema "pro/contra" Eurasien auf, wobei er die Gegner "Atlantiker" nennt, weil sie ein Bündnis mit den USA anstrebten (Dugin 1993: 1432, zitiert in Umland 2007)3: "Wir finden die Vertreter dieses [eurasischen; K.H.] Ordens in der [Naziorganisation; K.H.] Abwehr und später in den ausländischen Sektionen der SS und des SD (besonders im SD, dessen Chef Heydrich selbst ein überzeugter Eurasier war, weshalb er ein Opfer der Intrige des Atlantikers Canaris wurde)."
An anderen Stellen bezeichnet Dugin den frühen Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus, vor allem aber die sich selbst Konservative Revolution nennende Strömung als historische Vorbilder (vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Laqueur 1993: 330ff.; Umland 2007; Umland in diesem Band; und die grundlegende Arbeit zur Konservativen Revolution von Weiß 2009). Sie stünden für einen "dritten Weft', der statt Kapitalismus und Bolschewismus zu einem eurasischen Bund freier Völker derselben Rasse und desselben Geistes führe. In der von Dugin breit ausformulierten Weltanschauung, die die Weltgeschichte als einen seit alters her tobenden manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse deutet, ist der Zweite Weltkrieg kaum mehr als eine Episode. Er wird als Irrweg unberechtigter Feindschaft zwischen eurasischen Völkern entsorgt. Der Fokus des Interesses ist einerseits auf einen globalen, weltgeschichtlichen Feind, andererseits auf die Zukunft, die zu erreichende Bruderschaft der eurasischen Völker, verschoben. Diese dritte Variante erlaubt es Rechtsextremen, sich in einer historischen Tradition des Nationalsozialismus respektive des Faschismus zu verorten. Sie verkehren den Vorwurf, Nazis zu sein, in eine offensive Affinnation bestimmter faschistischer Strömungen und in die Vorstellung, in einem schon historisch lange währenden Kampf zu stehen. Eine weltanschauliche Ausarbeitung dieser Variante liegt besonders nahe und bedient sich typischerweise der herkömmlichen Semantik des nationalen Antisemitismus.
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Diese Unterscheidung Dugins ist nicht die weltgeschichtliche Dichotomie, die ich noch erörtern werde, sondern erklärt den Streit, die Fehler und die Schwächen Eurasiens. Auch die, die sich wie Teile der NSDAP gegen die eurasische Einheit wenden, bleiben (fehlgeleitete) Eurasier. Dabei handelt es sich um eine fllr den Rassismus als Weltanschauung typisch Einheitskonstruktion, der ein weltgeschichtlicher Antagonist entgegengestellt wird.
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2. Die Figur des Dritten Dem nationalen Antisemitismus ist ein zweites semantisches Muster eigen, das die Unterscheidung von Nationen zu überbrücken geeignet ist. Ich führe dieses Muster zunächst abstrakt anband von Selbstbildern im Sinne von "Volk, Staat, Nation" ein und werde es dann anband eines aktuellen Beispiels, der Eurasischen Bewegung, konkretisieren. 4 Untersucht man antisemitische Texte daraufhin, welche Fremdbilder auftauchen, so findet man häufig neben dem Judenbild ein zweites Fremdbild. In diesem zweiten Fremdbild werden andere Völker und Nationen, sei es als Ausländer im Innern oder als Fremde im Äußeren, bedacht. Dadurch wird der Antisemitismus dreigliedrig. Erstens gibt es die Wir-Gruppe, zum Beispiel die Deutschen, zweitens Fremde, zum Beispiel die Polen, und drittens die Juden. Die Juden werden gerade nicht wie die anderen Völker verstanden, sind keine den Polen (Franzosen, Engländern usw.) gleichartige Fremdgruppe. Vielmehr werden sie als Dritte zur Unterscheidung zwischen der Wir-Gruppe und den anderen Nationen konstruiert (Holz 2010). Die Unterscheidung zwischen Nationen ist für jede nationale Semantik unverzichtbar. Nationen sind partikulare Identitäten. Die eigene Nation gibt es nur, wenn sie von anderen Nationen unterschieden wird. Dadurch entwirft der Nationalismus eine eindeutige Ordnung der Welt. Grundsätzlich kann jeder Mensch zugeordnet werden, hat eine eindeutige Zugehörigkeit in diesem oder jenem Volk. Gerade diese Eindeutigkeit der Identität soll der Nationalismus herstellen. Auch wenn die Fremden häufig abgewertet werden, wird ihnen doch nicht abgesprochen, ein Volk, ein Staat, eine Nation zu sein. Dies ist vielmehr die grundlegende Charakteristik des Dritten, dem gerade die für ein Volk bezeichnenden Eigenschaften abgesprochen werden. Zudem kann die dichotome Unterscheidung zwischen "unserem Volk/anderen Völkern" mit einem Einbeitsbegrifffür diese Völker versehen werden. Dies ist typisch für die Kombination aus Nationalismus und Rassismus, sodass "wir" als eines von mehreren Brudervölkern, zum Beispiel der "arischen Rasse", erscheinen. Eben dies gilt für die Weltanschauung der Eurasischen Bewegung (programm 2003): ,,Das eurasische Festland hat zwei Hauptpole: Europa und Asien, Ost und West. (...) Ost und West ergänzen einander, kommunizieren miteinander seit tausend Jahren; dieser Dialog hat einen höheren Sinn."
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Aufandere Möglichkeiten, vor allem auf die Kombination nationaler, rassistischer und religiöser Selbstbilder, kann ich hier nur en passant verweisen (Holz 2005).
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Denn die eurasischen Kulturen bereichern sich wechselseitig und können friedlich koexistieren, auch wenn sie dies historisch mangels eurasischen Bewusstseins nicht immer taten. "Wir müssen lernen, einander zu verstehen: Europa und Asien, Christen und Moslems, Neger und Weiße" (ebd.). Dieser Einheitsbegriff Eurasiens ist ethnopluralistisch konstruiert und propagiert die "Wahrung der ethnischen Eigenarten und Identitäten".5 Er soll gerade keine identitäre Verschmelzung empfehlen (ebd.): "Wir sind überzeugt davon, dass unsere gemeinsame Aufgabe darin besteht, die Souveränität der Völker, Kulturen, Konfessionen, Sprachen, Zivilisationen, Wertesysteme und Philosophien zu bewahren ( ...). Annäherungen und Dialoge der Völker, Länder und Menschen sollen nicht zur Auflösung ihrer Identität fUhren."
Die zitierte Quelle ist ein internationalistisches Angebot zur Verbrüderung an Bewegungen und Organisationen diverser Nationalitäten. Die Konstruktion einer russischen Identität spielt in dieser Quelle keine, in anderen dagegen eine zentrale Rolle. Auch der Feind Eurasiens wird nur vage mit Wörtern wie Globalisierung und Imperialismus benannt. Die ethnopluralistische Vielfalt verdeckt nur scheinbar die Unterscheidung zwischen "unserem" und den "anderen eurasischen Völkern". Vielmehr propagiert der Ethnopluralismus gerade die Bedeutsamkeit der partikularen Völker und die Sorge um das je eigene Volk im Verbund der "Brudervölker". So wird dem "eigenen Volk" - hier: dem russischen - eine besondere Rolle zugeschrieben als Avantgarde der Eurasischen Bewegung: "Ohne die Wiedergeburt der russischen Nation hat das eurasische Projekt keine Chance auf Verwirklichung" (Internationale Eurasische Bewegung 2001). Es geht darum, "unser Land und die ganze Welt" zu retten. Die Außenpolitik Russlands müsse auf die Bildung eines ,,Bundes unabhängiger Staaten des Eurasischen Bundes" zielen (ebd.). "Innen" ist demnach Russland, "außen" die anderen eurasischen Völker. Die Konstruktion eines (ethnopluralistischen oder rassistischen) Einheitsbegriffes ist also nicht nur mit der Betonung von Vielfalt in Einheit kompatibel, sondern auch mit der Konstruktion einer Dichotomie in dieser Vielfalt respektive Einheit. Die Dichotomie ergibt sich aus der Konstruktion einer Wir-Gruppe im Sinne von Volk, Nation, Staat, die von den anderen (hier: eurasischen) Völkern unterschieden wird. Aufbeiden Seiten der Dichotomie steht Volk, Nation, Staat. Eben dies zeichnet auch die Einheit der Dichotomie aus: (eurasische) Völker, Nationen, Staaten. 5
Eurasien ersetzt bei Dugin den arischen Rassenbegriff, den er zunächst im selben Sinne benutzte. Es scheinen hauptsächlich strategische Gründe zu sein, warum der Arierbegriff, der allzu sehr an den Nationalsozialismus erinnert und dem traditionell die wenigstens Völker Asiens zugeordnet werden, fallen gelassen wurde (ebd.; zum antisemitischen Ethnopluralismus allgemein und im gegenwärtigen deutschen Rechtsextremismus siehe Globisch 2009).
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Wie müsste der Feind bestimmt sein, wenn er der Charakteristik eines Dritten zu dieser Dichotomie in der ethnopluralistischen Einheit Eurasiens entspräche? Die binäre Unterscheidung konstituiert Identität. Sie kennt einerseits nur A und NonA, hier: russisch und nicht-russisch. Andererseits sichert die Identität des dichotom Unterschiedenen, dass es sich aufbeiden Seiten der Unterscheidung um dieselbe Qualität von Identität handelt: Volk, Nation, Staat. Deshalb genügen Eigennamen, um die eine Seite als das eigene Volk im Verhältnis zu den anderen Völkern zu benennen. Denn abgesehen von dieser Zuordnung (und darauf aufbauenden Bewertungen) unterscheidet die Dichotomie gerade nicht zwischen Nation und Antination, sondern formuliert als Einheit der Dichotomie das Prinzip Nation: Unterscheidung in partikulare Gruppenidentitäten derselben Art. Diese kann ihrerseits einen Eigennamen erhalten: Eurasien bezeichnet die Gesamtheit der Brudervölker. Hieraufbaut der nationale Antisemitismus auf. Die auf die binäre Unterscheidung bezogene Figur des Dritten bedeutet Nicht-Identität, weder dieses noch ein anderes Volk. Der Dritte ist etwas, das es eigentlich, gemäß der binären Unterscheidung, gar nicht geben dürfte: eine anti- und anationale Größe. Hieraus ergibt sich die Kompliziertheit dieses antisemitischen Musters. In der Figur des Dritten wird thematisiert, was sich der binären Unterscheidung entzieht, was sie verwirrt und bedroht. Im Dritten wird die Möglichkeit personifiziert, dass die nationale Ordnung der Welt, mithin die eigene Identität, nicht gewiss ist. Da diese Alternative mit der antisemitischen Figur des Dritten nicht einfach thematisiert, sondern abgewehrt werden soll, wird das Judenbild diesbezüglich zu einem Paradoxon: Es wird auf der Basis der binären Unterscheidung entworfen, um das zu verkörpern, was es gemäß dieser Unterscheidung nicht geben kann, nicht geben soll. Diese Logik des Dritten strukturiert (nicht allein, aber wesentlich) den nationalen Antisemitismus. Das gilt auch für die Eurasische Bewegung, auch wenn sie in jüngeren, "offiziellen" Texten meist darauf verzichtet, diesen Feind als jüdisch zu benennen. Stattdessen ist die Rede von Amerikanismus, Imperialismus, Westen oder USA, ohne allerdings die USA als Volk, Staat, Nation zu konzipieren. Vielmehr handelt es sich um den Weltfeind aller Völker (Internationale Eurasische Bewegung 2001): "Die wesentliche 1bese der früheurasischen Philosophen lautet: ,Der Westen ist gegen die Menschheit gerichtet', das heißt gegen die Völker der Welt, die großartige Verschiedenheit der Kulturen und Zivilisationen. "6
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Weiß (2009: 497f.) hat gezeigt, dass unter anderen Moeller van den Bruck, den Dugin zu den "früheurasischen Philosophen" zählt, ebenfalls die antisemitische Figur des Dritten reproduziert.
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In diesem kurzen Zitat findet sich die ganze Logik des antisemitischen Dritten: Der Feind ist gegen die Menschheit insgesamt, die als Summe der "Völker der Welt" verstanden wird, mithin als Vielfalt der Kulturen, die zugleich eine einheitliche, eben nationale Ordnung der Welt ist. Konsequent folgt daraus, dass der Feind dieser Welt außerhalb der nationalen Ordnung der Welt, mithin der Menschheit, zu verorten ist. Eigentlich dürfte es ihn gar nicht geben. Eben in dieser Weise schließt zum Beispiel Hitler die Juden in "Mein Kampf" aus der Menschheit überhaupt aus oder konstruiert Dugin in seinen frühen, zuweilen metaphysisch genannten Texten einen "Antimenschen": Das dem Arier entgegenstehende "Mensch-Tier [ist] nicht nur ein Nichtmensch (wie einfache Tiere), sondern ein Antimensch (...). Obwohl das Wesen dieses Mensch-Objektes natürlich nicht menschlich ist, also objektiv oder antisubjektiv, imitieren seine äußeren Merkmale den menschlichen Typ und seine grundlegenden Eigenschaften. Das Mensch-Tier imitiert den Gedanken und das Wort" (Dugin 1993: l432f., Hervorhebung verändert). Die Logik der antisemitischen Figur des Dritten wird nicht immer derart explizit wie bei Dugin oder Hitler ausformuliert. Die semantischen Ausarbeitungen aber sind immer wieder die gleichen und eine zentrale Gemeinsamkeit diverser Antisemitismen. Die "Quelle des Weltbösen" heißt nun USA, Amerikanismus und Liberalismus. Sie sagen "entschlossen Ja zur Einheitswelt, die verwirrt, sinnlos, individualistisch, oligarchisch ist, zu einer Welt, die jede moralische, geistige und traditionelle Orientierung verloren hat". Dagegen stehe "die nationale Elementarkraft", die Russland wieder beleben müsse, um als "Avantgarde (...) die Verteidigungsfront der traditionellen Gemeinschaften gegen die modeme, säkulare, rationalistische Gesellschaft" anführen zu können. Der "mächtige radikale Ruf des Bodens, die Stimme der Generationen, das Brüllen aus den Tiefen unseres Geistes und unseres Blutes" rufe die eurasischen Völker von Westeuropa über "Teheran" bis "Peking" zum Widerstand. Sie müssten die "Vorherrschaft des Prinzips des Sozialen über das Persönliche" als ,,Alternative zu den liberal-kapitalistischen und individualistischen Modellen" wieder aufrichten (Internationale Eurasische Bewegung 2001). Diese semantische Ausformulierung des Kampfes zwischen Gut und Böse folgt den dichotomen Sozialmodellen Gemeinschaft versus Gesellschaft, die für den nationalen Antisemitismus kennzeichnend sind (Holz 2005, 2007). Die "gemeinschaftliche" Lebensweise wurzelt im Wesen, dem Blut und den Traditionen des Volkes, das von einem systematisch andersartigen Feind - dem Individualismus, Rationalismus, Liberalismus, Kapitalismus - bedroht wird. Es überrascht nicht, dass in den späteren Schriften Dugins beziehungsweise der Eurasischen Bewegung dieser Weltfeind nicht mehr explizit als Jude bezeichnet wird. Die Fachli-
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teratur ist sich einig, dass es sich hierbei um eine Camouflage des Antisemitismus handelt, der seit mehr als 100 Jahren eng mit dem Antiamerikanismus verbunden ist. Dugin hat sich nie von den hier zitierten Äußerungen distanziert und bezieht sich nach wie vor positiv auf den Faschismus respektive Nationalsozialismus (vgL Umland in diesem Band).
3. Abschließende Bemerkung Die Brücke, die zum Beispiel die eurasische Weltanschauung zwischen Rechtsextremen diverser Länder schlägt, ist wahrscheinlich weniger die angebotene "Verbrüderung der Völker" als vielmehr die semantische Struktur des nationalen Antisemitismus selbst. Sie dient in allen Nationen dazu, die eigne Wir-Gruppe auf die gleiche Weise zu formieren, erkennt damit (auch ohne explizites Angebot der Rasseneinheit oder der Verbrüderung) die Ordnung der Welt im Prinzip Nation an und weist denselben Feind, die Antination, aus. Der nationale Antisemitismus rückt mit anderen Worten die Nationen unweigerlich in dasselbe Lager, weil er einen gemeinsamen Feind konzipiert, angesichts dessen selbst verfeindete Brüder zusammen stehen müssen. Ob und wie sehr diese sich aus der semantischen Struktur des nationalen Antisemitismus zwangsläufig ergebende"Völkerfreundschaft" strategisch für BÜDdnisangebote genutzt wird, kann man nicht aus demAntisemitismus selbst deduzieren. Suchen aber Rechtsextreme, aus welchen Motiven auch immer, nach fundamentalen Gemeinsamkeiten, so steht die gesamte Tradition und das gesamte Potential des nationalen Antisemitismus zur Verfiigung, um nationale Grenzen zu transzendieren, ohne sie abzuschaffen. Der nationale Antisemitismus ist aufgrund der ihm inhärenten Figur des Dritten genuin transnational und im gleichen Atemzug und aus dem gleichen Grund heraus national. Er ist transnational, weil er die Juden als Weltfeind der Nationen und der nationalen Ordnung der Welt imaginiert. Beides zusammen aber bedeutet, die Welt aus Sicht der eigenen Wir-Gruppe zu beschreiben, also von einer Mehrzahl an Völkern auszugehen, und diese nationale Ordnung der Welt - und nicht nur die Existenz der eigenen Gruppe - im Juden bedroht zu sehen. Damit können diverse Varianten einer Täter-Opfer-Umkehr verbunden werden, die ebenfalls durch die Konstruktion eines gemeinsamen jüdischen Feindes Nationengrenzen überbrücken: Der Jude, der Zionist, steckt hinter dem Holocaust, jedenfalls ist er der Profiteur und der unberechtigte Ankläger - sei es der deutschen oder einer der Kollaboration schuldigen Nation. Ein solcher gemeinsamer Feind verbindet. Der gemeinsame Antisemitismus lässt keineswegs alle Grenzziehungen zwischen den europäischen Nationen verschwinden. Gerade die extremen Rechten
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sind in aller Regel extreme Nationalisten und Feinde all dessen, was sie für fremd halten. Das wird auch in Zukunft ihre internationale Zusammenarbeit begrenzen. Bezüglich des Antisemitismus ist dies jedoch keine gute Nachricht. Denn in Verbindung mit dem Nationalismus ist der Antisemitismus genuin grenzüberschreitend.
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"Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türken, Israelis raus aus Palästina" Zum Verhältnis von Ethnopluralismus und Antisemitismus
Claudia Globisch
1. Problemaufriss "Türkei den Türken, Afrika den Afrikanern, Irland den Iren, Russland den Russen, Israelis raus aus Palästina, Iran den Persern, Albanien den Albanern, Irak den Irakern, Afghanistan den Afghanen, KurdistanfJk Kurden, Marokko den Marokkanern, Italien den Italienern, Amerika den Indianern, Serbien den Serben, Griechenland den Griechen. Und Deutschland uns Deutschen.'"
Diese Botschaft, Text einer Videoproduktion (YouTube-Video), die von der Firma Volksfront-Medien produziert wurde, gesprochen von verschiedenen Neonazis, kann als zentrales ideologisches Element der gegenwärtigen europäischen Rechten betrachtet werden. Gleichzeitig lässt sich daran exemplarisch das Verhältnis zwischen zwei ideologischen Grundfesten der europäischen Rechten, dem "Ethnopluralismus"2 sowie Antisemitismus, ablesen. Basierend auf dem Konzept des "Ethnopluralismus" versucht das Video nahe zu legen, dass sich die Protagonisten für die nationalen Belange anderer Gruppen einsetzen, aber deren Differenz und Nebeneinander betonen, um die imaginierte Identität von Gruppen nicht zu gefahrden. Vordergründig wird dabei nicht, wie in der nationalistischen Xenophobie, die eigene Gruppe auf- und die andere Gruppe abgewertet, sondern sowohl das nationale Selbstbestimmungsrecht bestimmter Anderer wie auch deren Nebeneinander gefordert. Sehr gut ersichtlich wird, in welcher Weise homogene Gruppen konstruiert und voneinander unterschieden werden und mit welchen Gruppen anders als gemäß dem gewöhnlichen Muster verfahren wird. Injeder Szene wird für die nationale Selbstbestimmtheit eines Landes oder einer Gruppe geworben - nach dem Schema ,,x" den ,,x"-en. Abweichungen von diesem Schema gibt es bei vier Gruppen (siehe oben), bei einer davon eine Abweichung von der Struktur:
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Sprechtext des YouTube-Videos "Deutschland den Deutschen" (unter http://youtube.com/ watch?v=lwfvNkmPloY; letzter Zugriff am 24. September 2010). "Ethnopluralismus" ist ein Terminus, den rechte Gruppen strategisch zur Bezeichnung einer rassistischen Weltanschauung verwenden.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Während Türken, Iren, Russen, Albaner, Iraker, Afghanen, Marokkaner, Italiener, Serben und Griechen als Exemplare eines Volkes einem Territorium zugeordnet werden, werden Afrikaner als homogenes Kollektiv ohne Unterschiede innerhalb der afrikanischen Länder und Gruppen betrachtet, ähnlich, wie wenn die Konstruktion "Europa den Europäern" verwendet werden würde. Mit Blick auf den Kontinent Europa jedoch werden unterschiedliche nationale Einheiten voneinander unterschieden. Für eine Gruppe, "die Kurden", wird ein Territorium gefordert und damit auch auf die Solidarität vieler Kurden in Deutschland gesetzt, ohne dabei aber zu formulieren, dass die Forderung ,,Kurdistan für die Kurden" eben auch bedeuten würde, dass alle in Deutschland lebenden Kurden Deutschland verlassen müssten, um ihre Identität im Verständnis eines Ethnopluralisten in dem dafür vorgesehenen Territorium zu verwirklichen. Allen genannten Gruppen wird das Recht auf einen Staat zugeordnet, einer hingegen nicht: "Israelis raus aus Palästina", lautet die Forderung. Die Vorstellung einer Einheit von StaatIVolkl KulturINation gilt nicht für alle Gruppen: Israelis, und damit sind Juden gemeint, sollen den Staat, in dem sie leben, verlassen. Der wird jedoch nicht benannt, sondern das historisch existierende Gebiet Palästina. Israel wird nicht als legitimer Staat anerkannt, den Israelis wird kein Ort zugeschrieben, sie sollen ,,raus" aus der Ordnung der Welt. In ähnlicher Weise wird mit Amerikanern verfahren. Zwar verlässt der Redner das Schema ,,x" den "X"-en prinzipiell nicht, aber die Forderung ,,Amerika den Indianern" weicht ab von ,,Amerika den Amerikanern". Offensichtlich wird auch Amerika (und gemeint ist dabei meist US-Amerika) nicht als "Volk" und "Nation" mit Anrecht auf einen Staat betrachtet. Die Bewohner werden vielmehr als Eindringlinge gesehen, denen als nicht-authentische Gruppe das Existenzrecht in diesem Staat abgesprochen wird. Als authentische Gruppe, die dem genannten Territorium Amerika zugeordnet wird, gelten "die Indianer" (,,native americans"). Das Video, welches aus der Perspektive deutscher Nationalisten produziert wurde, illustriert eine Ordnungsvorstellung, die mit dem Konzept des "Ethnopluralismus" gefasst werden kann und mittlerweile in Deutschland innerhalb der unterschiedlichen rechten Gruppen sowie für die europäische Rechte das verbindende Element darstellt: die Konstruktion kulturell homogener und identischer, partikularer Abstammungsgemeinschaften - vordergründig ohne Hierarchie zwischen diesen. Nur diese werden als legitim anerkannt, anderen hingegen wird der Status "VolkiStaat/Nation" aberkannt (Israel, USA). Dass es im Rahmen von "Ethnopluralismus" durchaus zu Konflikten kommt, nämlich dann, wenn es um Gebietsanspruche einerseits oder so genannte Fremde im Inneren geht, wurde bereits am Scheitern der gemeinsamen rechten Fraktion
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Identität, Tradition, Souverantität (ITS) im Jahre 2007 deutlich. Der Austritt der fünf rumänischen Fraktionsmitglieder, die für die erforderlichen 20 Abgeordneten für eine Fraktion notwendig waren, war Folge der xenophobischen Äußerungen Alessandra Mussolinis nach dem Mord an einer Italienerin in Rom. Verantwortlich dafür wurde ein Rumäne gemacht, der in Rumänien als Roma angesehen wurde. So verlautete der Chef der Großrumänien-Partei Corneliu Vadim Tudor: "Der Schurke ist nicht Rumäne, sondem Zigeuner. "3 Nichts wäre des strategischen Bündnisses wegen einfacher gewesen, als sich auf das gemeinsame Feindbild der Sinti und Roma zu verständigen und sich über den Antiziganismus zu einigen. Mussolinijedoch zog xenophobische Äußerungen gegenüber Rumänen als Gruppe vor und ließ Aussagen wie ,,Die Rumänen haben uns massakriert" und ,,Kehrt nach Hause zurück" (ebd.) verlauten. Die Schwierigkeiten gemeinsamer Bündnisse sind ideologieimmanent erklärbar. Regelhaft ist die Dynamik vorübergehender Bündnisse, die, prekär und über gemeinsame Feindbilder vereint, an xenophob bedingten Interessenkonflikten temporär zerbrechen. Konfliktpunkte gibt es insbesondere zwischen extremen Rechten benachbarter Territorien, so zum Beispiel zwischen polnischen und österreichischen beziehungsweise deutschen Rechten in Bezug auf die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sowie zwischen österreichischen und italienischen Rechten in Bezug auf die Autonomie der Provinz Südtirol. Die strategischen Bündnisse der ITS, zuerst die "Wiener Erklärung der europäischen patriotischen und nationalen Parteien und Bewegungen", und im EUParlament die Fraktion Union für ein Europa der Nationen (DEN) standen von Beginn an auf fragilem Grund. Dies zeigt sich auch daran, dass sich auf der europaparlamentarischen Ebene keine Fraktion der extremen Rechten hatte bilden können, sondern ein Großteil der im Europaparlament vertretenen Rechten entweder fraktionslos (Vlaams Belang, Attaka, Front National, FPÖ, BNP, PVV) oder Teil des konservativen (Fidesz, PiS) oder europaskeptischen Spektrums (Lega Nord, Dansk Folkeparti, PS (Wahre Finnen), Laos, SNS) geworden ist. Auf außer-EUparlamentarischer Ebene hat sich bereits 2009 wieder ein neues Bündnis rechter Parteien gegründet: die Allianz Europäischer Nationaler Bewegungen (AENB). Die einzelnen rechten Parteien und Bewegungen versuchen sich trotz stetiger Bündniskonflikte durch die Betonung der "Zusammenarbeit der europäischen Völker in einer Zivilisations- und Kulturgemeinschaft" sowie deren jeweilige "nationale und kulturelle Identität" - wie es in der Grundsatzerklärung des belgischen Vlaams Belang (2009) zur Europawahl stand - gegen gemeinsame Feindbildkonstrukti3
VgL ,,Rechte Euro-Fraktion am Ende" (http://www.redok.delcontent/view/878/36/; letzter Aufruf am 10.8.2010).
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onen zu vereinen, wie zum Beispiel die Globalisierung, die Europäische Union, Zuwanderung (und vor allem Islamisierung) und Multikulturalität im Allgemeinen sowie den EU-Beitritt der Türkei, gemäß dem Muster (kollektive) Identität qua (kollektive) Differenz. Diese Feindbilder konstituieren auf der anderen Seite die durch "kulturelle Identität" verbundene "Volksgemeinschaft" (Vlaams Belang 2009): "Eine menschenwürdige Gesellschaft besteht nicht aus isolierten Individuen. Der freie Mensch ist verbunden mit den wesentlichen Merkmalen seines Volkes und seiner Kultur." Damit ist die zentrale Ausrichtung benannt. Ziel ist eine volksgemeinschaftlich organisierte "Gesellschaft", die nicht Personen und Individuen als zentrale Einheiten anerkennt, sondern deren grundlegende Differenzierung volksgemeinschaftliche Einheiten sind. Damit handelt es sich um keine Gesellschaft. Individuelle Interessen und Interessenskonflikte, wie sie für modeme Gesellschaften kennzeichnend sind, haben in solch einer Ordnung, die das Primat der "Gemeinschaft" einfordert, keinen Platz. ,,Da jeder einzelne Teil einer Volksgemeinschaft ist, kann er sich selbst nur nützen, indem er der Gemeinschaft nützlich ist. Eigennutz und Gemeinnutz fallen damit zusammen, die gesonderte Berücksichtigung individueller Interessen erübrigt sich" (Vobruba 1994: 53). Diese gemeinschaftlichen Einheiten sind in sich homogen, aber zueinander partikular gedacht. Entwicklung erfolgt hier immer nur aus sich heraus, also nach einem inneren Bauplan gemäß einer absolutistischen Weltbildstruktur (vgl. Dux 1982), in welchem im Kern bereits angelegt ist, was sich entwickeln kann. "Außenimpulse aufzunehmen hieße, die einmal eingeschlagene Wachstumsrichtung zu korrigieren oder möglicherweise zu verlassen, und wäre eine Systembedrohung. Eine Ethnie kann daher keine Willensgemeinschaft von Menschen unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft sein, sondern nur eine mit sich identische psycho-physische Blutseelengemeinschaft" (Priester 2003: 258). Im Folgenden werde ich zuerst erläutern, was mit dem Begriff des "Ethnopluralismus" gemeint ist und wie er sich entwickelt hat, in einem zweiten Schritt den von mir verwendeten Begriffdes Antisemitismus einfUhren und in einem dritten Schritt anhand eines empirischen Beispiels die Verbindung beider Konzepte darlegen. These ist, dass es sich dabei um verknüptbare, aber durchaus verschiedene Semantiken "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeiten" (Heitmeyer 2003) handelt. Wenngleich Antisemitismus häufig an Ethnopluralismus anschließt, zeigt sich, dass beide nicht immer zwingend Hand in Hand gehen müssen. Auf Basis meiner Analyse wird verdeutlicht, dass in Bezug auf die europäische Rechte eine Differenzierung zwischen "Ethnopluralismus" und Antisemitismus gewinnbringend ist, da sie - neben der analytischen Unterscheidung verschiedener Weltan-
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schauungen - zeigt, welche Bündnisse aufgrund der Stellung zum Islam und Israel möglich sind. Abschließend wird deshalb ein Vorschlag unterbreitet, wie die europäische extreme Rechte und ihr Bezug auf diese beiden Ideologien, "Ethnopluralismus" als Form des Rassismus einerseits und Antisemitismus andererseits, unterschieden werden kann.
2. EthnopIuraIismus Das Konzept des Ethnopluralismus wurde von dem mittlerweile in Dänemark tätigen Kultur- und Sportsoziologen Henning Eichberg, einem führenden Vertreter bei der Herausbildung der Neuen Rechten in den 1970er Jahren, im Zusammenhang mit einer nationalrevolutionären Befreiungsphilosophie entwickelt. Eichberg hat eine lange Mitgliedschafts- und Verbindungsgeschichte zu den als links (aktuell die dänische Socialistic Folkeparti) und den als rechts (Legion Europa, Nationaldemokratischer Hocbschulbund sowie Mitarbeit unter anderem bei Nation & Europa, dem NPD-naben Deutschen Studentenanzeiger (DSA), der Zeitschrift des Ostpolitischen Deutschen Studentenverbandes Actio sowie der französischen Nouvelle Ecole) bezeichneten Gruppierungen und versuchte selbst, die Differenzierung zwischen rechts und links mithilfe der Vorstellung eines revolutionären Befreiungsnationalismus zu überschreiten. "Als Nationalrevolutionär verfolgte ich damals eine Position ,jenseits von links und rechts', doch dieser Dritte Weg blieb eine Illusion" (Eichberg im Gespräch mit Brodkorb 2010).4 Über die Analyse eines kausalen Zusammenhangs zwischen Kapitalismus, Entfremdung und einer daraus resultierenden Nicht-Identität sah er einen nationalistischen Kampf für "die Kulturen" (immer im Plural verwendet) als einzigen ,,kulturerhaltenden" Weg: "Wer also heute in Europa den Kampf für die ,Freiheit der Kultur' ernst nimmt, muss die liberalkapitalistische Ideologie des Egalitarismus, der ,Freiheit des Marktes' und der ,Freiheit des Privateigentums an Produktionsmitteln', sowie die dahinter sich aufbauenden Strukturen des multinationalen Kapitals ins Zentrum der Auseinandersetzung TÜcken. ,Freiheit der Kulturen' impliziert eine antikapitalistische Strategie in globalem Ausmaß" (Eichberg 1978: 33). Ein oberflächlicher Blick auf die Semantik könnte annehmen lassen, dass sich bei der Analyse des Zusammenhangs von Kapitalismus und Entfremdung, im Rahmen eines auf "Kulturerhalt" zielenden Antikapitalismus, die Linke und die Rechte treffen würden. Dies trifft: zu, wenn der Begriffder Kultur aufVorrang der (Volks-)Gemeinschaft vor der Person mit Interessen zielt und diese Gemein4
Unter http://www.endstation-rechts.de/index.php?option=com_k2&view=item&id=497 1 (letzter Aufrufam 10.8.2010).
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schaft als ethnischlkulturell homogen mit gleichgerichtetem Interesse konstruiert und an ein Territorium gebunden wird. Dies trifft zu, wenn Gemeinschaft im Sinne eines Wesens und Volkstums ontologisiert wird. Dies trifft zu, wenn Gemeinschaft anstelle von Gesellschaft entworfen wird. Eichberg beschreibt seine Entwicklungsgeschichte selbst als Transformation von einem Vertreter der alten zur Neuen Rechten mit "faschistischer Zwischenphase" hin zu einem Neuen Linken (vgl. Eichberg im Gespräch mit Brodkorb 2010). Letztere zeichnen sich für ihn durch das "Verständnis der nationalen Fragen als demokratische Selbstbestimmung und Abkopplung vom westlichen Kapitalismus, dem Traum von einem genossenschaftlichen Sozialismus, der Demokratie als Kernfrage (...) sowie der grünen Frage" aus. Und weiter: "Und bei alledem stand immer der Kampf gegen die Globalisierung und den Neoliberalismus als Klammer und Quelle der Entfremdung im Hintergrund" (ebd.). Die zweite Hälfte der 1970er Jahre gibt er als schrittweisen Übergang zu einer "neue[n] Identität bei der Neuen Linken" an (ebd.). Ein Blick in die Einleitung seiner Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1978 lässt sehr deutlich werden, dass er dort Ideen vertritt, die Zeev Sternhell als "Hauptelemente für die faschistische Synthese" beschreibt (Sternhell 1999: 22, 23): ,,Bedeutete der Faschismus philosophisch gesehen eine Absage an die rationalistischen und individualistischen Inhalte, welche die Grundlage des Marxismus wie des Liberalismus bildeten, so stellte er aufideologischer und politischer Ebene die Synthese eines organischen Nationalismus mit der Marxismusrevision Georges Sorels und seiner Anhänger in Frankreich und Italien zu Beginn des Jahrhunderts dar." Diese Ideen waren also auch Teil einer spezifischen linken Strömung, aber können nicht als Charakteristikum der "Neuen Linken" beschrieben werden. 5 Empirisch lässt sich jedoch festhalten, dass Eichberg genau diese antiindividualistischen, antirationalistischen Ideen vertritt, die Sternhell ideengeschicht5
Die Diskussion von Sorel und der Zuordnung zur faschistischen Strömung kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Innerhalb der Faschismusforschung gibt es eine ausgiebige Kontroverse zwischen Positionen, welche die Inflation oder Deflation des Faschismusbegriffs kritisieren. Theoretiker, die der ersten Strömung zuzuordnen sind, fordern eine stärkere Differenzierung von Typen, "etwa fiir die verschiedenen Varianten des radikalen Rechtsnationalismus oder des nationalreligiösen Fundamentalismus" (BachlBreuer 2010:95), eine Kontextualisierung, das heißt Bestimmung dessen, "was der Faschismus in seinen jeweiligen Phasen konkret und funktional in der Praxis war" (Priester 2004: 408), undIoder eine Differenzierung der Semantik des Nationalismus von der des Faschismus (Holz/Weyand 2004: 319ff.) wie auch, mit Blick daraut: die Berücksichtigung von Semantik und Gesellschaftsstruktur (ebd.: 393). Deflationskritiker (Wippermann 2002; Griffin in diesem Band; Umland 2004) sehen die Problematik primär in einer politischen Abwehrstrategie sowie in einer fehlenden Begründung "alternativer Begriffsgebäude" (Umland 2004: 420), die dem Faschismusbegriffvorzuziehen wären (fiir einen überblick über die Debatte vgl. Griflin und Schildt in diesem Band; BachlBreuer 2010; Weiß 2008; Benseier 2004; Wippermann 2002).
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lich beschreibt, indem er die universalistischen Inhalte der Aufklärung sowie die in kritischer, aber aufklärerischer Tradition reflektierenden, meist marxistischen Theorien als "Herrschaftsideologie[n]" charakterisiert, die an der "Umerziehung Deutschlands" besonders nach 1945 teilgehabt hätten (Eichberg 1978: 10). Dem Dualismus "Romantik!Aufklärung" stellt er den Dualismus "IdentitätJEntfremdung" entgegen (vgl. ebd.). Identität ist für ihn jedoch immer kollektive und zugleich nationale Identität, die er dem Kapitalismus als Ursache der Entfremdung gegenüberstellt (ebd.: 11). Die dominante Ordnung der Welt begreift er als eine partikularer "Völker und Kulturen", die sich durch unterschiedliche Entwicklungen und Modernisierungsprozesse auszeichneten (ebd.: 10): "Den Geschichtsprozess gibt es nicht, sondern nur die Prozesse der Völker." So folgert er daraus konsequent in Carl Schmitt'scher Manier (ebd.: 11): "Wer von den Völkern nicht sprechen will, soll von den Menschen schweigen." Das, was Eichberg heute als Materialismus beschreibt, nämlich "eine basale gesellschaftlich-körperliche Erfahrung, die sich in Aktion umsetzt und im ideologischen Überbau dann in allerlei Theorien, Manifeste, Visionen, Ideologien und Revolutionsphilosophien übersetzt wird" (Eichberg im Gespräch mit Brodkorb 2010), ist nie eine individuelle oder auch klassentheoretische Erfahrung und Übersetzung, sondern immer eine, die als basale Einheit vom "Volk" und seiner kollektiven Erfahrung beziehungsweise "nationalen Identität" (Eichberg 1978: 13) ausgeht. Sein Begriff des "Materialismus des Volkes" ist eine Camouflage des marxistischen Materialismusbegriffs und lässt sich mit Sternhell sowohl ideengeschichtlich, bestehend in der "Verweigerung des rationalistischen, individualistischen und utilitaristischen Erbes des 17. und 18. Jahrhunderts" (Sternhell 1999: 22), als auch praktisch-politisch, bestehend in der ,,Ablehnung jener Prinzipien, die erstmals Ende des 18. Jahrhunderts und hundert Jahre später in viel größerem Ausmaß von den liberalen Demokratien Westeuropas praktiziert wurden" (ebd.), als Antimaterialismus charakterisieren. Eichbergs Position hat also historische Vorläufer, die Sternhell historisch bei den Anhängern George Sorels verortet sieht und die sich bis hin zu den Theoretikern der Konservativen Revolution der 1920er Jahre (Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler) erstrecken. Lenk hat die Aufnahme Sorel'scher Ideen von Seiten der Konservativen Revolutionäre ausführlich rekonstruiert und insbesondere auf die Funktion des Mythos hingewiesen, der bei Sorel und in seiner Rezeptionsgeschichte und Vorbildfunktion (so beispielsweise für Carl Schmitt und später Helmut Schelsky sowie, bezüglich der Übernahme seiner syndikalistischen Gewaltkonzepte, für Benito Mussolini) eine zentrale Rolle spielte (vgl. Lenk 1989: 295). Mythologisch soll heißen "die Botschaft, wonach das Heil der Menschen in der Preisgabe der eigenen In-
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dividualität liege, das sich als Wiedervereinigung mit einem verlorenen Ganzen versteht" (ebd.: 134). Aufdiese Denker sowie deren Ideengut nehmen die Verfechter des Ethnopluralismus maßgeblich Bezug. Der Antiliberalismus, Antiindividualismus, Antiuniversalismus sowie der auf Herder verweisende identitätslogische "Volksbegriff" , zu dessen Einheit zurückzukehren das erklärte Ziel der Konservativen Revolution ist (vgl. Lenk 1989), sind die Grundelemente des Ethnopluralismus. Das "Volk" wird als das neue revolutionäre Subjekt der Geschichte, als Mythos, konstruiert und angerufen. Auch der Leipziger Soziologe Hans Freyer lieferte dafür, unter anderem in seiner 1931 publizierten Programmschrift "Revolution von rechts", einige maßgeblich konservativ-revolutionäre Deutungen. Als "Volk" bezeichnete er das, was "nicht Gesellschaft, nicht Klasse, nicht Interesse, also nicht ausgleichbar, sondern abgründig revolutionär" sei (Freyer 1931: 37) und in eine Emanzipation des Staates "aus einer jahrhundertelangen Verstrickung in gesellschaftliche Interessen" münde (ebd.: 55): ,,Der Staat, der in der Epoche der industriellen Gesellschaft immer nur Kampfobjekt, immer nur Beute, bestenfalls der vorsichtige Mittler und Schlichter war, wird zu einem freien Wesen, das die Revolution von rechts in sich aufnimmt und dessen Macht fortan unter der Aufgabe steht, aus der Gegenwart dieses aufbrechenden Volks seine geschichtliche Zukunft zu bauen." Recht deutlich lässt sich hier die Entgegensetzung von (Volks-)Gemeinschaft und Gesellschaft entdecken - ein Element, welches, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, als zentrales Charakteristikum des Antisemitismus wieder auftaucht (vgl. auch Holz 2001; Globisch 2010). 6 Lenk beschreibt in seiner Analyse des konservativ-revolutionären Denkens von Freyer ausführlich (Lenk 1989: 148): "Das Zum-Volk-Werden der Deklassierten aller Stände und Schichten gleicht einem Naturprozess, der nach der Idee der Identitätsphilosophie reine Bewegung, interesseloses Sein ist. Die Richtung der Bewegung ist Freyer zufolge ,rechts', weil hier keine Gesellschaftsklasse gegen ihre Beherrscher angeht (das war die Stoßrichtung von links), sondern das Volk,von unten her' , quer zu allen Interessenge6
Dies zeigt, dass aus der Perspektive von "Volksgemeinschafts"-Anhängem (modeme) Gesellschaft" immer als bedrohlich filr eine als moralisch integrierte homogene Gemeinschaft gedacht wird. Modeme Gesellschaftlichkeit (die notwendig mit funktionaler Differenzierung und Individualisierungsprozessen sowie Interessenpluralismus und -konflikt einhergeht) ist mit einem Verständnis von "Gemeinschaft" als "Gesellschaft" nicht kompatibel. Einen harmlosen Gemeinschaftsbegriff, der anstelle von Gesellschaft gedacht ist, gibt es daher nicht. So war der Volksgemeinschaftsbegriff auch keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern war bereits in viel früheren "Volks"-und Gemeinschaftskonstruktionen, unter anderen in Teilen der Jugendbewegung, zu finden: ,,Die Gemeinschaften der Jugendbewegungen wurden zur Vorbereitung der Volksgemeinschaft, wobei das ,Volk' an der Unverdorbenheit der Jugend gesunden sollte" (Vobruba 1994: 49).
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gensätzen, in die industrielle Gesellschaft einbricht (Freyer 1931 :54)." Dieser Gedanke einer ,,Auferstehung" des "Volkes", "von unten", wird auch von Henning Eichberg - selbst gegenwärtig (nun aber als Charakteristikum eines Denkens von links) - noch betont (Eichberg im Gespräch mit Brodkorb 2010): "Rechts denkt man von der Macht aus, sei es von der Macht des Marktes und des Produzierens oder von der Macht des Staates - und des Kriegs. Links denkt man vom Volk aus - wer immer das sei - und das ist der Blickwinkel von Kritik, Empörung, Veränderung oder auch - mit Peter Sloterdijk zu sprechen - Zorn." Was mit "von unten" gemeint ist, führte Eichberg an anderer Stelle aus (ders. 1994: 78): "Demokratie von unten zu denken, heißt vom Volk - d.h. von den Völkern und Volksgruppen her zu denken." Kontinuität hat das Denken Eichbergs also in Bezug auf die Kategorien "Volk" und "Nation", die Vorrang vor dem Individuum und der sozialstrukturellen Differenzierung von Personengruppen haben, sowie die auf dieser Grundlage entworfene Entgegensetzung von "Ethnopluralismus" und Universalismus sowie Liberalismus. So schreibt er in seiner Aufsatzsammlung "Nationale Identität" (ders. 1978: 31): "Die einzige der universalistischen Strömungen, die wohl ohne Ausnahme zur Zerstörung der Ethnien beiträgt, ist der privatkapitalistische Liberalismus." Dieser ist im Grunde der größte Feind der "Ethnopluralisten", denn so ihre Auffassung (ebd.: 32): "Die multinationalen Konzerne sind dabei, die politische Souveränität der Nationen (oder was davon übrig ist) ebenso unter sich zu begraben wie alle kulturellen Differenzierungen." Die Differenz zur alten Rechten beschreibt Eichberg folgendermaßen: "Das Thema hieß nun nicht mehr Großraum und staatliche Einheit, sondern revolutionärer Nationalismus der kleinen Völker, Nationaldemokratie und Selbstbestimmung. Das nannte ich in den frühen siebziger Jahren ,Ethnopluralismus' (im Jungen Forum 1973) und ,Sache des Volkes' (1974), später ,Balkanisierung für jedermann' (1979)" (Eichberg im Gespräch mit Brodkorb 2010). Drei Aspekte sollten mit Blick auf die Kontinuitäten in Eichbergs Denken noch erwähnt werden: der Demokratiebegriff, der Kulturbegriffund der Volksbegriff. Der Demokratiebegriffder konservativ-revolutionären Denker, der Basis des ethnopluralistischen Konzepts ist, geht von einer Ineinssetzung von Volk und Natur aus und identifiziert Demokratie mit Volk-Natur (vgL die Analysen von Lenk 1989). "Die Grundformellautet: Ein jedes Volk kann nur das werden, was es von Natur, vom Ursprung her, stets schon war (...). Ideenpolitisch und strategisch bedeutet die Ineinssetzung von Volk und Natur das stillschweigende Zugeständnis der Volkssouveränität als der Legitimation von Demokratie" (Lenk 1989: 154, 155). Ein "Volk" ist aus dieser Perspektive, wie man dies bei Moeller van den Bruck und Schmitt nachlesen kann, bereits als in seinem "schicksalsmäßigen Verbun-
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denheitsgefühl" (Moeller van den Bruck 1931: 31), als homogenes hannonisches Ganzes gedacht, wesentlich demokratisch. Jegliche Vermittlung und Repräsentation durch Parteien beziehungsweise Parlamentarismus stellt in dieser Vorstellung eine Beeinträchtigung des "Volkswillens" dar und wird als undemokratisch abgelehnt (vgl. ebd.: 119; Schmitt 1991). Die Vorstellung identitärer Unmittelbarkeit von Regierenden und Regierten resultiert notwendig in Homogenitätsforderungen: "Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" (Schmitt 1991: 14). Demokratisch sind in dieser Vorstellung Faschismus und Bolschewismus gleichermaßen, es genügt, "wenn sich der aktive Teil des Volkes im Willen und in den Entscheidungen des Herrschers wiedererkennt und dies durch Akklamation bekundet" (Lenk 1989: 156). Kultur wird dabei immer naturalisiert und im Rahmen des "Volksbegriffes" gedacht, als Ausdruck der "Volksseele". Mit dieser Vorstellung von Homogenität der kollektiven Einheiten bei unbedingter Forderung der Anerkenntnis der Pluralität von "Völkern", oder später "Ethnokulturen", die Züge des Apartheids-Denkens trägt?, wird der Begriffder Demokratie umgedeutet und seiner "substanziellen Grundannahmen, nämlich denen der Selbstbestimmung und politischen Partizipation des einzelnen Individuums", beraubt (priester 2003: 265). Differenz wird nicht zwischen Individuen, sondern zwischen "Volksgruppen" gedacht. Treffend beschrieben hat Priester in ihrer Analyse ethnopluralistischen Denkens das "Jonglieren" mit dem Volksbegriff, "der einmal als soziale Kategorie die Unterschichten bezeichnet, die sich gegen die entfremdende Macht der Konzerne zur Wehr setzen sollen, dann wieder als ethnisch-kulturelle Kategorie den deutschen ,Stamm' meint, der zur Hegemonie über Fremdstämmige aufgerufen wird" (ebd.). Verbreitet wurde die Ideologie des Ethnopluralismus bezogen auf die gegenwärtige Rechte von der Nouvelle Droite in Frankreich, insbesondere der Organisation GRECE (Groupement de recherche et d'etudes pour la civilisation europeenne) und ihrem KopfAlain de Benoist. Dieser war und ist auch Bezugspunkt der Neuen Rechten in Deutschland und steht seit den 1960er Jahren mit Eichberg in Kontakt. In Deutschland wurde das Konzept dann zunächst vom Gründer des extrem rechten Thule-Seminars, Pierre Krebs, vertreten. Medienwirksam wurde es über das so genannte "Heidelberger Manifest" (1981), ein von diversen Hochschullehrern des "Heidelberger Kreises" gegen "die Unterwanderung des deutschen Volkes" und die "Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums" 7
Priester weist daraufhin, dass die Betonung der Pluralität der ,,Ethnokulturen" und die Einforderung der Anerkenntnis ihrer Autonomie in der "Apartheids-Doktrin (...) Recht auf die ,eigen-artliche Entwicklung'" (Priester 2003: 265) genannt wurde.
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entworfenes Manifest. s Des Weiteren gab es in der Jungen Freiheit ab 1989 eine mit "Ethnopluralismus" betitelte Rubrik, die 1992 durch den Begriff "Nationalitätenfrage" ersetzt wurde. Mittlerweile ist das Konzept auch in anderen rechten Strömungen, beispielsweise bei der NPD, angekommen und kann - so meine Beobachtung - als zentrale ideologische Brücke der europäischen Rechten betrachtet werden. So neu ist die Idee, wie dargelegt wurde, also nicht. Sie hat historische Vorläufer, wie man bei Eichberg (1978: 21) nachlesen kann, bereits bei Herders Volkskonzept und den Konzepten der "Konservativen Revolutionäre". Zusammengefasst lässt sich festhalten: Beim Ethnopluralismus handelt es sich um eine ,,rassistische Weltanschauung, die Menschen unter die Kategorie ,Volk' subsumiert und die räumliche Separierung der ,Völker' fordert. Jedem ,Volk', verstanden als eine durch Abstammung verbundene partikulare Personengruppe, wird eine unverwechselbare ,kulturelle Identität' zugeschrieben und ein im Kern unveränderliches Wesen (Volkstum) unterstellt. Laut dieser Weltanschauung setzt ,Völkervielfalt' die staatliche Trennung von ,Ethnien/Völkem' voraus" (Globisch 2008: 66).
Im Gegensatz zum menschenrechtlichen Universalismus betont der Ethnopluralismus eine kulturelle und genetische Ungleichheit und Geschlossenheit von "ethnischen Kulturgemeinschaften". Da der Begriff der Rasse durch den Begriff der Kultur ersetzt wird, wird das Theorem auch als "Rassismus ohne Rassen" oder als "differentialistischer Rassismus" bezeichnet (Balibar in BalibarlWallerstein 1990: 31). Diese Bezeichnung lässt aber außer Acht, dass auch der biologische Rassismus nicht ohne kulturelle Deutungen zu denken ist. Jedoch wird an der Selbstbeschreibung "Ethnopluralismus" deutlich, dass Hierarchien zwischen Völkern als Kulturgemeinschaften prinzipiell negiert werden sollen, aber geschlossene Kulturgemeinschaften als höchster Wert anerkannt werden und das Recht aufVerteidigung ihrer Verschiedenheit betont wird. Annahme ist, dass sich der Mensch nur in seiner kulturell-organischen Verwurzelung als "orginäres Kulturwesen" entwickeln könne, weshalb die eigene Kultur immer die bestmöglichste sei (Weber 2004: 151). Das Gattungswesen Mensch existiert in dieser Weltanschauung nicht, sondern nur der Mensch als Mitglied eines Volkes. Auch wenn vordergründig keine Wertung der "Völker" behauptet wird, ist die Einsicht in die Pluralität der Ethnokulturen immer von der Sonderstellung Europas aus gedacht. Laut Henning Eichberg ist der Drang nach Weiterentwicklung eine besondere europäische Eigenschaft, aber die "europäische Kultur" sei selbst von "universalistischen Ideologien mit machtpolitischen Ambitionen", und damit 8
Faksimile der ersten Fassung (aufgerufen auf der Seite des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Apabiz e.v., http://www.apabiz.de/archiv/materiaIJProfi-Ie/Heidelberger..1020 Kreis.htm).
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meint er den "american way oflife hier - die russifizierte Kultur dort", unterdrückt und "entpersonalisiert" (Eichberg 1978: 22). Keine Wertung bedeutet aber auch, dass Fragen nach Recht oder Unrecht der jeweiligen gesellschaftlichen Organisation keine Rolle spielen (zum Beispiel Sklaverei, Folter usw.). Hauptfeind in der ethnopluralistischen Weltanschauung sind universalistische Postulate, die den Tatbestand des Ethnopluralismus sowie Kulturrelativismus negieren. Als solche Ideologiefonnen werden das Christentum, der kapitalistische Liberalismus sowie der Marxismus genannt (vgl. ebd.: 29f.), aber auch der traditionelle Antirassismus von links, der laut Benoist seinen Ursprung im Universalismus hätte und mit der Behauptung der Gleichheit aller Menschen Unterschiede einebne und somit alle Kulturen ihrer Identität beraube. Benoist behauptet, dass der universalistische Antirassismus zum gleichen Ergebnis wie der Rassismus führe, da er die Unterschiede und besonderen Identitäten der Völker als vorübergehend oder nebensächlich betrachte. Der "differentielle Antirassismus" hingegen, wie Benoist (2003) seine Position beschreibt, bewahre die "Völkervielfalt", indem sie, "die Völker", getrennt werden. So vertritt er in einem Interview mit der Jungen Freiheit (Benoist 1998): ,,Die Nouvelle Droite verteidigt das Prinzip des Rechts auf Differenz, auf Unterschiedlichkeit. Aber dieses Prinzip wiegt nur durch seine Allgemeinheit. Das bedeutet, dass ich mich nicht nur stütze auf die Verteidigung meiner Unterschiedlichkeit, sondern dass ich auch diejenige der anderen verteidige. Was meine Identität am meisten bedroht, ist nicht die Identität der Anderen, sondern dasjenige, das sowohl meine als auch ihre Identität gleichermaßen bedroht."
Insbesondere in diesem letzten Satz verdeutlicht sich, inwiefern der Antisemitismus, der nicht lediglich auf der Unterscheidung von Wir-Identität vs. Sie-Identität aufbaut, vielmehr also durch die Infragestellung dieser dichotomen Differenzierung, nämlich durch die Existenz beziehungsweise Konstruktion eines Nicht-Identitischen - eines "Dritten" -, an das Konzept des Ethnopluralismus anschließen kann..
3. Antisemitismus Da ich Antisemitismus als Semantik analysiere, möchte ich kurz meinen an Alfred Schütz und Ilja Srubar orientierten Begriff der Semantik einführen (vgl. unter anderen Srubar 2003, 2007). Unter Semantik verstehe ich diskursiv entstehende, sprachlich repräsentierte Handlungsorientierungen, die sich durch eine zeitlich, räumlich und sozial geprägte Typik- und Relevanzstruktur auszeichnen, andererseits jedoch anhand ihrer sprachlichen Repräsentation eine definitorische Macht
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besitzen. Es handelt sich dabei um stabile Typen oder Muster der Sinnkonstruktion, die in ihrer medial objektivierten Form als Semantik untersucht werden können. Im Gegensatz zur Semantik des vormodemenAntisemitismus ist die des modemen Antisemitismus als nationale antisemitische Semantik zu verstehen, wie dies Klaus Holz in seiner Studie "Nationaler Antisemitismus" (Holz 2001) gezeigt hat und sich in meiner Studie des gegenwärtigen linken und rechten Spektrums bestätigen ließ (Globisch 2010). "National" heißt in diesem Zusammenhang, dass die Wir-Gruppe innerhalb dieser Semantik als ethnisch nationale Wir-Gruppe entworfen wird. Damit ist auch bereits daraufhingewiesen, dass das Verständnis des Antisemitismus als Semantik sich von einem Verständnis, welches Antisemitismus als bloßes Fremdbild oder Stereotyp auffasst, unterscheidet. Antisemitismus als Semantik zu verstehen bedeutet, von stabilen Sinnkonstruktionen auszugehen, die ein Selbst- und Fremdbild komplementär zueinander entwerfen und als Weltanschauung eine Deutung der Gesamtgesellschaft und nicht nur eines Teilbereichs vorlegen. Zentral für die national-antisemitische Konstruktion der Wir-Gruppe ist, dass sie als partikulare Abstammungsgemeinschaft definiert wird. Damit wird die WirGruppe von anderen Nationen (Völkern/Staaten) unterschieden. Auf dieser Unterscheidung basiert die nationalistische Xenophobie. Die Fremden sind dabei gewöhnlicherweise die, die einer anderen Nation und/oder Kultur zugeordnet werden, beispielsweise "die Türken" und/oder "die Muslime", die als homogenes Kollektiv der Form nach gleichwertig zur eigenen NationlKultur konstruiert werden, aber im Falle der Xenophobie abgewertet werden, indem sie beispielsweise als minderwertig, schmutzig, sexuell überpotent oder als "Sozialschmarotzer" beschrieben werden, oder vordergründig zwar gleichwertig (eigene Kultur/fremde Kultur), Kultur jedoch apriori an einen Raum gebunden wird, dessen Überschreitung als nicht legitim erachtet wird, und jedes Individuum als Repräsentant dieser Kultur gilt. Die antisemitische Konstruktion unterscheidet sich davon, denn auf der gerade beschriebenen ersten Unterscheidung baut eine zweite Unterscheidung auf, die charakteristisch für das modeme antisemitische Judenbild ist. Hierbei wird "der Jude" als außerhalb der nationalen Ordnung der Welt stehend konstruiert, das heißt, er wird von der Wir-Gruppe und allen anderen Nationen/StaatenIVölkem abgegrenzt und in die Position des Dritten gerückt, der die anderen VölkerlNationen bedroht oder selbst gar nicht als ,,richtiges VolklStaatlNation" betrachtet wird. Als Norm wird immer die Einheit von Volk, Staat und Nation zugrunde gelegt. Typischerweise wird "das Jüdische" daher als ambivalent, parasitär und nicht-identisch konstruiert, als etwas, das nicht in der dominanten Ordnung (Nation) Platz findet. Diese Konstruktion des Juden als eines Dritten und Nicht-Identischen ist ein do-
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minantes Merkmal des modemen Antisemitismus. Mit der Staatsgründung Israels hat sich an der Struktur des modemen Antisemitismus nichts geändert. Israel wird in der antisemitischen Weltanschauung ebenso als Dritter in der nationalen Ordnung der Welt konstruiert, oftmals in der Beschreibung als "Staat aus der Retorte", ein Volk, welches eigentlich keinen Staat ausbilden könne, also kein "richtiges Volk" und kein "echter Staat" sei. Damit zusammenhängende Muster antisemitischer Semantiken lassen sich mit den von Klaus Holz empirisch ausgewiesenen und systematisierten Gegensatzpaaren zusammenfassen: Gemeinschaft/Gesellschaft, Opfer/Täter, IdentitätlNichtIdentität, Dritter. Es handelt sich - und das ist gerade für den Zusammenhang von Etlmopluralismus und Antisemitismus entscheidend - um die Konstruktion und Kontrastierung zweier Sozialmodelle: Gemeinschaft und Gesellschaft. Eine in sich nicht-homogene jüdische Gesellschaft wird einer moralisch integrierten Gemeinschaft der Wir-Gruppe entgegengesetzt, welche von der ,jüdischen Gesellschaft" zersetzt würde. Letztere wird allen anderen Gruppen gegenübergestellt und für spezifische negative Folgen der Modeme, wie Materialismus, Universalismus, "Geldwirtschaft" und Presse und die damit verbundene Zerstörung angeblich traditioneller und authentischer Lebensformen, verantwortlich gemacht. Wichtig ist dabei, dass der Gemeinschaftsbegriff partikular gedacht ist, das heißt, in dieser Vorstellung gibt es verschiedene homogene Wir-Gemeinschaften, die immer ethnisch gedacht und mit einem Territorum verknüpft werden. Die Wir-Gruppe kann dabei nationalistisch, rassifizierend oder religiös konstruiert (vgl. dazu auch Holz 2005) oder eine Kombination von mehreren genannten Ausprägungen sein und! oder, im Falle linker Texte, durch eine Verschmelzung von (etlmischem)Volksund Klassenbegriff("werktätige Völker") bestimmt sein (vgl. Holz 2001; Haury 2005; Globisch 2010). Juden werden außerhalb dieser Einteilung als nicht-identische Gruppe, als Dritte, konstruiert. Die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern ist dabei Bestandteil eines jeden Antisemitismus (vgl. Holz 2001; ders. in diesem Band). Um eine Anklage gegen "die Juden" legitimieren zu können, werden ihnen Taten, unter denen die Wir-Gruppe zu leiden hätte, zur Last gelegt. Dies legitimiert den Antisemitismus als angeblich berechtigte Gegenwehr.
4. Empirisches Beispiel: "Heute tolerant und morgen fremd im eigenen Land" Auszüge aus dem folgenden Textbeispiel werden mir nun dazu dienen, das Verhältnis zwischen "Etlmopluralismus" und Antisemitismus empirisch zu rekonstruieren. Es handelt sich um einen Redebeitrag von Jfugen Gansei, Redakteur der Monats-
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zeitschrift Deutsche Stimme und seit 2004 Abgeordneter im Sächsischen Landtag und tätig im Bundesvorstand der NPD, bei einer Demonstration der NPD am 20. Oktober 2007, welche unter dem Motto "Stoppt die Islamisierung Deutschlands - Keine Großmoschee in Frankfurt-Hausen" stattgefunden hat. 9 Bereits im Titel des Redebeitrags "Heute tolerant und morgen fremd im eigenen Land" lässt sich ablesen: In Form einer politischen Parole wird ein zeitlicher und kausaler Bedingungszusammenhang zwischen "tolerant" und "fremd" behauptet. In Form einer Prophezeihung wird der Zustand der Toleranz, das heißt einer Ethik der Anerkennung des Anderen, mit einem in der Zukunft folgenden Zustand der Fremdheit, das heißt der Nicht-VertrautheitlBekanntheit, gekoppelt. Referenzpunkt beider ist der "eigene" Nationalstaat ("eigenes Land"). Das verweist darauf, dass es eine Wir-Gruppe gibt, die territorial bestimmt ist und sich innerhalb dieses Territoriums als vertraut erlebt. Dagegen wird eine Zukunftsperspektive entworfen, in der das vertraute Territorium zum fremden wird. Der Sinn dieser Parole ist, Angst vor Fremdheit zu erzeugen und damit eine (hier noch implizite) Handlungsaufforderung zu verbinden: das bedrohliche Fremde zu verbannen. In den anschließenden Ausführungen wird nach dem folgenden Muster verfahren: 1. 2. 3.
Es wird ein symmetrisches Gegensatzpaar, das heißt eine homogene Wirund eine Sie-Gruppe konstruiert, wobei beide kulturalisiert, ethnisiert und ontologisiert werden und eine Lösungsperspektive entworfen wird, die die Sie-Gruppe, die als kultureller Fremdkörper konstruiert wird, in der Raum-Zeit-Perspektive aus dem "eigenen Lebens- und Kulturraum" entfernt und in den für sie vorgesehenen "Kulturraum" zurückgeführt haben möchte.
Die Konstruktion verläuft nach den von Heiko Hausendorfbeschriebenen "kommunikativenAnforderungen im Rahmen der Hervorbringung von Zugehörigkeit", nämlich in drei Schritten: zuordnen, zuschreiben und bewerten (Hausendorf2000: 76ff.). Die Wir-Gruppe wird als ,,Kultumation" ("deutsche Kulturidentität") vorgestellt (Zuordnung). Da alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten allerdings als kulturfremd bestimmt werden, ist anzunehmen, dass die Mitgliedschaft qua kultureller Assimilation in dieser Konzeption ausgeschlossen wird und es sich daher eher um eine "Volksnation" handelt, die qua Abstammung geregelt ist. Kultur ist dabei - wie bereits ausgeführt - an den Volksbegriff gebunden. Die 9
Der Demonstrationsaufrufbefand sich aufder Homepage der Bundes-NPD (www.npd.de) und ist in der Dissertationsschrift der Autorin veröffentlicht (Globisch 2009: 333-334). Alle Zitationen sind im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, dem TextIRedebeitrag GanseIs entnommen, der sich ebenso auf der Homepage der NPD findet beziehungsweise befand (letzter Aufruf am 2.3.2009).
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Wir-Gruppe wird im Verlauf des Redebeitrags größeren Einheiten, nämlich "Europa" und dem ,,Abendland", zugeordnet und allen drei Komplexen (NationlEuropalAbendland) wird eine "Kultur" und "Identität" unterstellt. Wichtig für die Anschließbarkeit an die antisemitische Semantik ist, dass zwei Gruppen konstruiert werden, die identitätslogisch an Territorien und Kulturräume gebunden sind und der Substanz nach als historisch invariabel betrachtet werden. Außerdem wird von der Existenz von "Völkern mit Kultur" und "NichtVölkern ohne Kultur" ausgegangen. Die Fremdgruppe, die den als nationalkulturell bestimmten Stadtteil in Frankfurt bedrohe (Bewertung), wird hingegen "dem Orient" zugeordnet und besteht aus Islamisten, Türken und Muslimen, die allesamt als "Fremde aus dem Morgenland" etikettiert werden. Die räumliche Überschneidung der beiden als homogen gedachten Kollektive wird als kulturelles und nationales Problem interpretiert. Folgerichtig wird die Präsenz von Muslimen im Frankfurter Stadtteil Hausen als "Ausländerproblem" und nicht etwa als religiöses Problem beschrieben und als eines, dass die nationale Wir-Gruppe bedroht, und zwar die gedachte kulturelle Homogenität einerseits und die konkreten Menschenleben der Wir-Gruppe andererseits. Muslime werden als Terroristen konstruiert (Zuschreibung), die "zuerst ihre Moscheen bauen und uns dann die Bomben um die Ohren werfen". ,,Die Muslime" hätten ihre Existenzberechtigung, aber an dem für sie vorgesehenen und historisch begründeten Ort. Kultur wird demnach territorial gedacht und mit Lebensberechtigung gleichgesetzt. Es wird also eine ethnopluralistische Argumentation reproduziert. Da der Redner Jürgen Gansel an anderer Stelle den Islam zum "Orientalen" als "rassischen Hauptträger" zuordnet lO, lässt sich daraus schließen, dass die Zugehörigkeitskriterien nicht klar voneinander abgegrenzt sind und die rassifizierende Gruppenbestimmung immer im Möglichkeitsraum bestehen bleibt. Bereits Adorno wies mit Referenz auf seine Auswertungen aus dem "Gruppenexperiment" auf diese mehrfachen Zugehörigkeitsbestimmungen und das hartnäckige Erhalten der Rassentheorie hin (Adorno 1998: 276f.): "Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus, so wie es etwa der Titel der Zeitschrift ,Nation und Europa' verrät." Zentral beim Konzept des Ethnopluralismus ist, dass die Bewahrung "kultureller Gruppenidentitäten", die letztlich ethnisch oder rassisch bestimmt sind, durch genetische Abgrenzung erreicht werden solL Die Höher- beziehungsweise Minderwertigkeit von "Rassen" wird durch eine angeblich kulturell bedingte Fremdheit von Ethnien ersetzt, welche die Trennung der verschiedenen "Volksgruppen" 10
Vgl. ,,Der Nationalismus im ,Kampf der Kulturen'. Eine Positionsbestimmung zwischen lslamismus und Amerikanismus" von 2006 (unter www.npd.de; letzter Aufruf am 2.3.2009).
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legitimieren soll. Die größte Bedrohung wird jedoch - wie ich oben ausgeführt habe - in der Infragestellung des Identitätsprinzips, der "Identität der Völker", gesehen. So verdeutlicht sich dies auch im zweiten Teil des analysierten Textes und so lässt sich zeigen, wie die antisemitische Konstruktion mit einer "ethnopluralistischen" Konstruktion verbunden werden kann, aber verschieden davon ist: "Gegen den Neokolonialismus Amerikas und gegen den Staatsterrorismus Israels können sich die Muslime zuhause der Solidarität nationaler Deutscher sicher sein." Wie in der oben entwickelten Begriffsklärung bereits erläutert wurde, wird die Unterscheidungsform Wir/Sie also durch eine weitere Unterscheidung ergänzt, die ein Drittes gegen die binäre Ordnungskonstruktion setzt. Amerika, gemeint ist US-Amerika, und Israel werden als Drittes konstruiert. Ihnen werden neokolonialistische und terroristische Praktiken zugeschrieben, die moderner Staatlichkeit widersprechen. So wird denn auch der Angriff aufbeide (die USA und Israel) legitimiert: Die islamische Hamas wird als "legitimerAusdruck des palästinensischen Überlebenskampfes" beschrieben, genauso wie Anschläge im Irak gegen die USA gerechtfertigt werden, da es sich um irakische "Freiheitskämpfer" handeln würde. Zu unterscheiden ist deshalb eine außenpolitische Dimension, in welcher Solidarität mit anderen "Völkern" gegen Amerika und Israel gefordert wird, innenpolitisch hingegen geht es um "die Kultur und Identität Deutschlands und Europas" - gegen "die Islamisierung" der als orientalistisch beschriebenen Kulturen. Während die Struktur des "Ethnopluralismus" als Form des Rassismus also auf einer einfachen Unterscheidung (Wir/Sie) basiert, ist die Struktur des Antisemitismus zweifach unterschieden (Wir/Sie versus die Juden). Der Dritte steht außerhalb der dominanten Ordnung der Welt, wird als Bedrohung für die gesamte Weltordnung und Identität betrachtet. Er hat einen prekäreren Status, ihm drohen Homogenisierung undIoder Ausschluss durch Gewalt. Dem "Zweiten" (der Sie-Gruppe) hingegen, hier "die Muslime", wird ein kultureller und geographischer Ort zugewiesen. Dass die imaginierte Bedrohung in der angeblichen Nivellierung von "ethnokulturellen" Unterschieden gesehen wird und damit der eigenen "ethnopluralistischen" Raumordnung der Welt widerspricht, geht explizit aus einem weiteren Text Ganseis mit dem Titel ,,Afrika erobert das Weiße Haus" aus dem Jahr 2008 hervor, der zur Zeit der US-amerikanischen Präsidentenwahlen entstanden ist und aufder Webseite der NPD veröffentlicht war: "Die alte Selbstbehauptungsstrategie des Judentums, Inländervorrechte durch Minderheitenrechte zu ersetzen und ethno-kulturelle Unterschiede zwischen dem Eigenen und Fremden zu verwischen, deckt sich mit den Interessen aller Minderheiten, Mischlinge und Entwurzelten im
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Schmelztiegel Amerikas."ll Der größte Feind sind demnach die, die das Strukturprinzip der "Ethnokulturen" bedrohen. Politisch wenden sich "Ethnopluralisten" daher nicht nur gegen die Einwanderung von Menschen, die anderen "Ethnokulturen" zugeordnet werden, sondern insbesondere gegen eine vorgestellte "Nivellierung" von "Ethnokulturen", gegen Kosmopolitismus, Weltbürgertum, die eine Menschheit, allesamt modeme Gesellschaftsvorstellungen, die Juden und den USA zugeschrieben werden. "Ethnopluralisten" reihen sich damit in die Tradition der antiliberalen, konservativen "Gegenaufklärung" gegen die modeme Gesellschaft ein.
5. Resümee Anhand dieses Textbeispiels sollte einerseits die Differenz von "Ethnopluralismus" und Antisemitismus belegt genauso wie deren nahe liegende Verknüpfung dargelegt werden. Schematisch lässt sich die Wir-/Sie-Gruppenkonstruktionen folgendermaßen zusammenfassen (Abbildung 1): Die Konstruktion von Zugehörigkeit lässt sich - wie bereits eingangs genannt - nach dem von Hausendorf (Hausendorf 2000) beschriebenen Dreischritt beobachten. Zuerst wird eine Differenzierungs- beziehungsweise Ordnungsform entworfen, beispielsweise die Einteilung der Welt in Nationen und/oder "Rassen" und/oder ,,Kulturen" (Zuordnung), der dann bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (Zuschreibung), beispielsweise "tiefgründig", ,,fleißig" oder "terroristisch", die in einem dritten Schritt bewertet (Bewertung), beispielsweise als höherwertig oder minderwertig beschrieben, also hierarchisiert werden. Es gibt aber auch noch Einheiten, die selbst aus dieser hierarchisierten Ordnung verbannt werden. Das geschieht beim Antisemitismus mit "den Juden" und Israel und begründet den Sinn der Rede vom Dritten. Der Ort des Dritten ist nicht ausschließlich für Juden reserviert, die Argumentation geht umgekehrt: Juden wird in antisemitistischen Argumentationen der Ort des Dritten innerhalb einer nationalen Weltordnung zugeschrieben.
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Unter www.npd.de (letzterAufruf am 2.3.2009); derzeit noch verfligbar unter www.naso-mzbi.de1 index.php/menuell/thema/l1 l/id/738/sprache/de/Nachrichten.html (letzter Aufruf am 10.8.2010).
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Abbildung 1: Wir-/Sie-Gruppenkonstruktion Wir/Sie
Rasse"/ ,Rasse" ,}cultur+Volk"/,,Kultur+Volk" Religion/Religion "Nation"/"Nation"
Rassismus Ethnopluralismus Antijudaismus xenophobischer Nationalismus
"Nation"/,,Nation" vs. "Nicht-Nation" Moderner Antisemitismus Wir/Sie VS. Juden ,,Kultur+Volk"/,,Kultur+Volk" vs. "Nicht-I Möglicher Anschluss an Rassis(vs. Dritter) Kultur" mus, Ethnopluralismus etc. Quelle: eigene Darstellung.
An der Strukturdifferenz zwischen Antisemitismus auf der einen und "Ethnopluralismus" auf der anderen Seite wird deutlich, dass mit beiden unterschiedliche Lösungsperspektiven verbunden sind, das heißt sie haben jeweils verschiedene Konsequenzen für die abgewerteten Gruppen. Gruppen, die beim Ethnopluralismus den Status einer "Ethnokultur" erhalten, wird ein Ort, ein Territorium in der Welt zugewiesen. Gruppen, denen dieser Status versagt wird, wird kein Ort zugestanden. Dies geschieht beim Antisemitismus mit "den Juden". Zweitens hat die Strukturdifferenz unterschiedliche Funktionen: Ethnopluralismus dient dazu, die Differenzen und Besonderheiten zwischen dem kollektiv Eigenen und dem kollektiv Fremden (entworfen als nationale Kollektive) zu betonen. Antisemitismus dient dazu, sich dem Strukturprinzip "Nation" im Allgemeinen zu versichern, und stellt einen Versuch dar, die verunsicherte ideologisch imaginierte nationalistische ("ethnopluralistische") Konstruktion zu stabilisieren. Dazu bedarf es eines Feindbildes, welches aus der Perspektive dieser Weltanschauung ganz anders funktioniert. Auf diese Weise lässt sich auch erklären, dass die Bündnisse der europäischen Rechten, die auf einem ethnopluralistischen Weltbild basieren, solange funktionieren, wie die Feindbilder, welche die gemeinsame ethnopluralistische Ordnung bedrohen, stärker sind als die ideologieimmanenten rassistischen Fremdbilder untereinander. Diese werden insbesondere deutlich, wenn es zu Konflikten aufgrund überschneidender Gebietsansprüche oder Migrationsfragen kommt, an welchen die Bündnisse aufgrund der jeweiligen "ethnokulturellen", das heißt völkisch-nationalen Homogenitätsansprüche, scheitern. Kollektivkonstrukte der ersten Version (Wir/Sie) lassen sich auch ohne den Antisemitismus denken und empirisch beobachten, wie das beispielsweise beim Vlaams Belang der Fall ist. Dessen Konzept basiert zwar auf einem ethnopluralistischen Weltbild, aber Israel und Juden werden auch in diese Ordnung eingereiht und nicht als Dritter konstruiert. Auch bei der niederländischen PVV Geert Wilders sowie den Pro-Köln-, Pro-NRW- und Pro-Deutschland-Bewegungen ver-
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bleibt es bei der Wir-/Sie-Unterscheidung; die Gruppen werden aufBasis nationaler Einheiten größeren Kollektivkonstrukten zugeordnet: "Der Westen/das Abendland" wird gegen "den Islam/die Muslime" in Stellung gebracht, gepaart mit einer proisraelischen Haltung. Die Konstruktion von Israel und den Juden als Dritten und als Feind der übrigen ,,kulturellen" und "nationalen Gemeinschaften" erfolgt also nicht notwendig, aber häufig. Ein Vorschlag zur Beschreibung der unterschiedlichen europäischen Rechten lässt sich aus dieser Analyse folgend hinsichtlich der unterschiedlichen Wir-/ Sie-Gruppenkonstruktionen und der daraus resultierenden Stellung zu Israel und "den Juden" sowie zum Islam und "den Muslimen" unterbreiten (vgl. Abbildung 2): Für einen Teil der ethnopluralistischen Rechten werden Bündnisoptionen mit dem Islam erwartbar (vgl. Weiß in diesem Band), solange Muslime an ihrem "ethnokulturellen" Ort verbleiben oder dorthin zurückkehren. Muslime, und im Allgemeinen Migranten, im Inneren passen nicht in ein ethnopluralistisches Weltbild. Ein gemeinsames Bündnis zwischen jenen als "Völker" anerkannten Gruppen wird nur innerhalb einer segregierten Weltordnung denkbar. Solche Gruppen, denen der Status eines "reinen Volkes" aber aberkannt wird (Israel, USA, "MultiKulti"), dienen als gemeinsames Feindbild. Damit einher geht die Differenzierung in eine innenpolitische und eine außenpolitische Dimension: Der Ethnopluralismus verbietet Muslime und Migranten im Inneren, ermöglicht aber ein außenpolitisches Bündnis mit ihnen, ein Bündnis zwischen "Völkern". Die Bedingungen und Gründe dafür, dass wiederum der Vlaams Belang trotz "ethnopluralistischer" Konstruktionbn Juden und Israel nicht als gemeinsames Feindbild gegen eine ethnopluralistische Weltordnung in Anschlag bringt, geben Anlass für weitergehende Untersuchungen. Ein möglicher Grund dafür mögen wah1kampfstrategische Gründe sein, die darin bestehen, sich von antisemitischen und NS-nostalgischen Rechten zu distanzieren und damit leichter wählbar zu bleiben. Dies mag gerade auch in den Niederlanden und in Deutschland der Grund für die islamfeindlichen Parteien PVV, Pro-Köln, Pro-NRW sowie Pro-Deutschland sein, welche die "Wir-/Sie-Konstruktion" gemäß der Unterscheidung "westliches Abendland" vs. "der Islam" ziehen. Israel und Juden werden dabei dem Abendland zugeordnet. Die europäische Rechte ist also in sich selbst noch einmal differenziert in eine rassistische islamfeindliche und eine rassistische (ethnopluralistische) antisemitische Rechte, was Bündnisse zwischen diesen beiden Gruppierungen erschwert. Eine idealtypische Differenzierung der europäischen Rechten in Bezug auf diese Differenzierung könnte folgendermaßen aussehen:
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Abbildung 2: Differenzierung bezüglich der Stellung zum Islam und zu Israel antiislamisch (innen- und außenpolitisch)
antiislamisch antimigrantfsch (innenpolitisch) proislamisch (außenpolitisch)
Parteien
PVV Pro-Köln Pro-NRW
Wrr-Gruppen
Nation Europa Okzident Pro-Israel
NPD Jobbik FPÖ Ataka LegaNord Dansk Folkpartie Front National Vlaams Belang Nation (ethnopluralistisch) Europa der Völker oft religiös (christliches Abendland)
Quelle: eigene Darstellung.
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Das Reich und der Islam Kontinuitäten und Wandel aus historischer Perspektive Volker Weiß
Innerhalb der europäischen extremen Rechten stellt heute die Ablehnung der Einwanderung, vor allem aus islamisch geprägten Ländern, ein wesentliches Agitationsmoment dar. Da derartige Positionen von der jeweiligen Tradition des nationalistischen Diskurses vorbestimmt werden, können sie jedoch innerhalb Europas unterschiedlich ausfallen. Sie sind, abhängig von ihrer jeweiligen Geschichte, mehr an religiöse, imperiale oder rassistische Vorstellungen gekoppelt. Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich die deutsche extreme Rechte aufgrund ihrer spezifischen nationalen Prägung nahtlos in einen antiislamischen Diskurs einfügt. In Deutschland formierte sich eine modeme Rechte gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der wilhelminische Reichsnationalismus mit der völkischen Idee zu verbinden begann. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 und dem Nationalsozialismus radikalisierte sich in den folgenden Jahrzehnten vor allem die völkische Tradition. Dies und der Aufbau einer breiten politischen Basis in der Bevölkerung unterscheidet die modeme Rechte vom Konservatismus des 19. Jahrhunderts, der als Elitenphänomen noch an das Loyalitätsprinzip des Adels gebunden war. Die Entstehung der modemen Rechten fällt also in einen Zeitraum, in dem sich das politische Koordinatensystem des Reiches zu verändern begann. Zu dieser Zeit lagen mit Mekka, Medina und Jerusalem die wichtigsten islamischen Heiligtümer im unmittelbaren Machtbereich des Osmanischen Reiches. Der ehrgeizigen "Weltpolitik" Wilhelms 11. diente Konstantinopel als strategischer Partner gegen Russland, Frankreich und Großbritannien. 1898 brach der Kaiser zu einer Orientreise auf, um die deutschen Beziehungen zur Hohen Pforte zu festigen (vgl. JaschinskilWaldschmidt 2002; Richter 1997). Vor allem angesichts der wachsenden Spannungen in Südosteuropa am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurde dem osmanischen Verbündeten mehr politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung zugesprochen (vgl. Jäckh 1913). Der Bau der Bagdad-Bahn weckte das Misstrauen Londons, die Berufung Liman von Sanders zum Generalinspekteur der türkischen Armee und zum Oberkommandierenden über die geostrategische Schlüsselposition der Dardanellen führte bereits 1913 an den Rand eines C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Krieges mit Russland (vgl. Hildebrand 1996: 196f.). Entsprechend dieser Dispositionen wurde das deutsch-türkische Bündnis im Ersten Weltkrieg von der deutschen Kriegspropaganda weltanschaulich untermauert, wobei die Ansprache weniger der türkischen Nation als dem Islam als Klammer des osmanischen Kalifats galt. Beispielsweise formulierte die noch im ersten Kriegsjahr erschienene Propagandabroschüre Deutschland und der Islam die Ziele deutscher Orientpolitik und stellte fest, dass "die Zukunft der Türkei unlöslich verknüpft ist mit der Weltgeltung des deutschen Reiches" (Becker 1914: 12). Der liberale Publizist Ernst Jäckh begrüßte die Ausrufung des "Heiligen Krieges" an der Seite des Deutschen Reiches durch den türkischen Sultan 1914 und beschwor neben der geostrategischen Interessengleichheit auch die kulturelle Nähe zu Preußen-Deutschland: ,,[S]chon für Friedrich den Großen ist gegen den russischen Ansturm 1761 der türkische Bundesgenosse auf den Plan getreten, wie jetzt 1914 für Kaiser Wilhelrn, den Freund der dreihundert Millionen Mohammedaner, als den er sich am Grabe Saladins in Damaskus selbst bekannt hat - den ,Hadschi Mohammed', den Pilgrim des Heiligen Landes, wie er heute in den Moscheen Ägyptens und Arabiens von den betenden Mohammedanern genannt wird, seit die Ängstlichkeit der englischen Regierung die Aussprache des Namens ,Kaiser Wilhelrn' verboten hat' (Jäckh 1915: 5f.; vgl. auch Benner 2001: 313ff.).
Ausdruck dieser Haltung war neben der deutsch-türkischen Militärkooperation die bevorzugte Behandlung muslimischer Kriegsgefangener aus der Armee des Zaren (vgl. Nagornaja 2010: 198). Die deutsche Kriegspropaganda idealisierte den Weltkrieg zum Kampf der "deutschen Kultur" gegen die "westliche Zivilisation" und löste so die deutsche Identität aus dem Kontext europäischer Aufklärung heraus. Diese auf breiter publizistischer Front vertretene Argumentation sollte sich als folgenreich erweisen: In der Zwischenkriegszeit, als sich nach dem Niedergang des wilhelminischen Konservatismus die "nationale Opposition" als revolutionäre Rechte reorganisierte, sah eine ganze Denkschule die Zukunft des Reiches in einer radikalen Abkehr vom "Westen". Die Vitalität des Ursprünglichen, das man im "Osten" zu entdecken glaubte, schien ihnen verlockender als die republikanischen Nöte Weimars. Stichwortgeber war zunächst der Populärphilosoph Oswald Spengler, der nichts vom Erbe des Okzidents wissen wollte und mit seinem "Untergang des Abendlandes" gerade den Aufstieg der Deutschen zu prophezeien trachtete. Der Kulturtheoretiker Arthur Moeller van den Bruck nahm den Gedanken auf, als er schrieb (Moeller van den Bruck 1920: 12): ,,Der Unterschied der alten und der jungen Völker ist kein anderer als der von Westen und Osten. Ein Volk ist alt in dem Grade, wie es von westlichem Geist erfaßt wird. Ein Volk ist jung in dem Grade, wie es sich seine Selbständigkeit bewahrt hat."
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Dabei galten diese östlichen Sehnsüchte nicht nur Russland, sondern schweiften weiter in die Ferne. Orientalische BildweIten waren populär, von Nietzsche bis zu den Futuristen dienten sie der Zivilisationsmüdigkeit als Projektionsfläche für die ersehnte Vitalität. Selbst völkische Esoteriker wie Alfred Rosenberg sahen die Ursprunge des Ariermythos in Persien. Die in Europa angewachsene faschistische Bewegung propagierte den Bruch mit den Werten westlicher Zivilisation. Ihr offensiv antirationaler Charakter, die Herleitung absoluter Autorität aus dem Mythos und die Fanatisierung der Massen legten für Zeitgenossen einen Vergleich mit dem Herrschaftsmodell des Islams nahe. Georges Bataille schrieb 1933 in seiner Betrachtung der neuen Bedrohung (Bataille 1978: 33): ,,Bis heute gab es nur ein einziges historisches Beispiel fiir die brüske Formation einer totalen, gleichzeitig militärischen und religiösen, aber grundsätzlich monarchischen Macht, die sich auf nicht bereits vor ihr Etabliertes stütze - das islamische Kalifat. Der Islam, dem Faschismus durch seine menschliche Kargheit vergleichbar, konnte sich nicht einmal auf ein Vaterland berufen, noch weniger auf einen konstituierten Staat. Der existierende Staat war auch fiir die fuschistischen Bewegungen zunächst nur zur Eroberung da, später war er ein Mittel oder ein Rahmen, und die Einbeziehung des Vaterlandes ändert nichts an dem Schema einer solchen Formation. Ebenso wie der entstehende Islam stellt auch der Faschismus die Konstitution einer totalen, heterogenen Machtstruktur dar, die ihren manifesten Ursprung in einer aktuellen Massenerregung findet."
Der deutsche Emigrant Edgar Alexander, der sich von konservativ-katholischer Warte aus mit dem "Mythos Hitler" auseinandersetzte, schrieb gar von dessen "Mohammedanismus" (Alexander 1937: 54). Ganz in diesem Sinne lobte Julius Evola in der "Erhebung wider die modeme Welt" ausdrücklich das heroische Kriegerturn des Islams (Evola 1935: 116ff.) und der einflussreiche nationalsozialistische Publizist Gilseher Wirsing begeistert sich für den Islam als eine "ständisch gegliederte Kriegerreligion" (Wirsing 1939: 136). Islamische Herrschaft wurde als dem europäischen Faschismus formverwandt wahrgenommen. Zudem entwickelte sie vor allem aus geostrategischen Gründen eine starke Anziehungskraft. Zeitgenössische Analysen der außenpolitischen Interessen europäischer Mächte kommen zu dem Schluss, dass sich unter Mussolini das Verhältnis Italiens zur islamischen Welt wesentlich verbessert habe. Da sich das faschistische Italien zur "Schutzmacht des Islams" erklärt habe, sei es in seiner Kolonialpolitik erfolgreicher als England und Frankreich (vgl. Haß 1937; Deutsche Gesellschaft für Islamkunde 1935). Solch proislamische Rhetorik sowie die propagandistisch wirksame Verleihung des "Schwerts des Islams" an Benito Mussolini 1937 in Tripolis ließ die Zeitgenossen die mörderische Praxis der italienischen Afrikakolonisation vergessen machen. Von "gemeinsamen Anschauungen des islamischen Systems und des Nationalsozialismus" schrieb 1939 auch Zaki Ali, vormaliger Präsident des Islamischen Kulturbundes Wien, und er nennt
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die Beispiele Antibolschewismus, Führerprinzip, tiefe Gläubigkeit (vgl. Ali 1939: 339f.; Lindemann 1941). Neben der antiwestlichen Agitation setzte man vor allem auf den Antisemitismus als Brücke. Zunächst mussten jedoch Vorbehalte aus dem Weg geräumt werden, die aufgrund der deutschen Rassegesetze vor allem seitens der Türkei, Ägyptens, dem Irak aber auch des Irans entstanden waren. Deutsche Ämter und Diplomaten verwandten viel Zeit auf die Klärung des Umstands, dass der deutsche Antisemitismus einen rein antijüdischen Charakter habe und Muslime keinerlei Diskriminierung zu befürchten hätten; diese Debatte beeinflusste schließlich sogar die Übersetzung von Hitlers "Mein Kampf' ins Arabische (Herf 2009: 15ff.). Der antisemitische Publizist Othmar Krainz betonte in seiner Schrift ,,Das Schwert des Islam", dass "die Asiaten selbst die Urväter alles Antijüdischen waren" (Krainz 1938: 7). Der ägyptische Historiker Mohamed Sabry, 1938 Referent der renommierten Hochschule für Politik in Berlin (vgl. Hochschule für Politik 1939: 371), verkündete in der Schriftenreihe "Idee und Gestalt des Nationalsozialismus" die tiefe Feindschaft der islamischen Völker gegen den Bolschewismus (Sabry 1938: 15): ,,Die jüdische Mentalität schuf den Bolschewismus, und der Bolschewismus ist der Träger der jüdischen Mentalität. Von Juden gemacht, von Juden geleitet - damit ist der Bolschewismus der natürliche Feind des Islam. Die Maßnahmen des deutschen Volkes gegen das Judentum haben nirgends in der Welt soviel Verständnis und Zustimmung gefunden wie bei allen moslemischen Völkern."
Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass sie sich vor allem auf die ,jüdischen Ursprunge" des Bolschewismus bezieht und damit von einem antisemitisch motiviertenAntibolschewismus zeugt, wie ihn auch die Nationalsozialisten pflegten. Da Judentum und Bolschewismus in dieser Lesart identisch sind, sieht der Autor in der jüdischen Einwanderung nach Palästina das Instrument Moskaus zur Machtentfaltung im Nahen und Mittleren Osten. Diesen als destruktiv ausgemachten Einflüssen setzt Sabry die besondere Staatsnähe des Islams entgegen (ebd.: 19). Derartige Äußerungen blieben jedoch nicht aufakademische Kreise beschränkt, sondern fanden auch ihre politische Entsprechung. Die deutsche Wertschätzung galt besonders Amin al-Husaini, dem Großmufti von Jerusalem. Dessen antisemitischer ,,Aufruf an die islamische Welt" war auch in NS-Deutschland publiziert worden (ebd.: 22-32), Alfred Rosenberg vermerkt 1939 in seinem Tagebuch befriedigt die Popularität der eigenen Schriften im Nahen Osten (vgl. Seraphim 1995: 67). Diese Aufmerksamkeit gegenüber der muslimischen Welt folgte auch einem strategischen Kalkül. Besonders die muslimischen Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion waren als potenzielle Bündnispartner auserkoren worden. Ein unter der Schirmherrschaft Mussolinis tagender ,,Asiatischer Studentenkongress" hat-
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te die Aufgabe, fiir eine antibolschewistische Ausrichtung der orientalischen Intelligenz zu sorgen. Allerdings gab es unter den so Umworbenen auch Misstrauen gegenüber den Italienern, das einzelne Protagonisten nach Berlin führte. Der Vorsitzende des Kongresses wandte sich an das nationalsozialistische Moellervan-den-Bruck-Archiv in Berlin, tat seine Unzufriedenheit mit dem italienischen Patronat kund und regte dessen Übernahme durch NS-Deutschland an. Von den Nationalsozialisten glaubte man, dass diese im Gegensatz zu den Italienern keine imperialistischen Ziele im Orient verfolgen würden, wie Hans Schwarz, Nachlassverwalter Moeller van den Brucks und Leiter des Archivs, dem Preußischen Wissenschaftsrninisterium meldete (Weiß 2009: 461). Kooperationen dieser Art führten schließlich zu einem äußerst wirksamen Propagandamittel, dem in Nordafrika und dem Nahen Osten eine besondere Bedeutung zukommen sollte: Wie das faschistische Italien ab 1934 begannen 1939 auch die Nationalsozialisten kontinuierlich, arabischsprachige Rundfunksendungen auszustrahlen, mit denen gegen die Einflüsse des westlichen Materialismus und Bolschewismus im islamischen Kulturkreis agitiert wurde (vgl. Herf2009: 9, 37; Küntze12004: 272). Amin al-Husaini, der zum ständigen Gast Berlins geworden war, agitierte auf diesem Weg äußerst wirkungsvoll seine Gefolgsleute im Nahen und Mittleren Osten (vgl. Gensicke 2007; MallmannlCüppers 2006). Neben dem Gedanken der nationalen Befreiung spielte hier besonders der Antisemitismus eine herausragende Rolle als Brücke zwischen nationalsozialistischer Ideologie und muslimischen Kollaborateuren. Jeffrey Herf dokumentiert einige Beispiele vor allem antisemitischer Propagandasendungen im arabischen Raum (Herf2010) und kommt zu dem Schluss, dass die Nationalsozialisten mehr auf den Koran als auf die von ihnen übersetzten Propagandaschriften wie ,,Mein Kampf" oder ,,Die Protokolle der Weisen von Zion" zurückgriffen (vgl. ders. 2009: 261ff.). Diese Aufmerksamkeit der Deutschen fiir den Orient war nicht ungewöhnlich. Schließlich spielte der so gepflegte "arabische Resonanzboden" (MallmannlCüppers 2006: 149) nicht nur hinsichtlich des Suezkanals, sondern fiir den gesamten Vormarschplan der Wehrmacht zum Südkaukasus eine Rolle. Der Vorstoß Rommels in Nordafrika sollte über Palästina führen und wurde der arabischen Bevölkerung als Befreiung angepriesen. Arabische Verhandlungspartner versprachen den Deutschen militärische Unterstützung beim Erreichen ihres Territoriums (ebd.: 150). Ab Anfang 1942 bildete man auf deutscher Seite aus Freiwilligen und Kriegsgefangenen muslimische Einheiten in der Wehrmacht, der Sicherheitspolizei und der Waffen-SS (Gensicke 2007; Mallmann/Cüppers 2006: 221ff.). Wäre das deutsche Unternehmen nicht vor EI Alamein gestoppt worden, so hätte es wohl, wie Mallmann und Cüppers resümieren
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(ebd.), ein arabisches Kapitel der Shoah gegeben - wie auch in Osteuropa unter Kollaboration der nicht-jüdischen Bevölkerung. Es lässt sich an dieser Stelle bereits erkennen, dass das deutsch-islamische Verhältnis aus historischer Perspektive durchaus gut war. Aus türkischer wie auch aus arabischer Sicht kolonialgeschichtlich praktisch unbelastet genoss das Deutsche Reich einen guten Ruf als Feind der Engländer, Russen und Franzosen. Dass dieses Ansehen nach Beginn des Zweiten Weltkrieges einen wahren Höhepunkt erreichte und hohe muslimische Autoritäten zum Fürsprecher des Nationalsozialismus wurden, zeigt die 2001 veröffentlichte Korrespondenz al-Husainis (vgL Höpp 2001). Umgekehrt kam den muslimischen Völkern sowohl auf dem Territorium des Zarenreichs und der späteren Sowjetunion als auch im Nahen und Mittleren Osten in den Planungen der deutschen Seite die Rolle der Verbündeten zu. Vor allem in Palästina förderten die Nationalsozialisten den Konflikt zwischen arabischer Bevölkerung, britischer Mandatsmacht und jüdischen Einwanderern nach Kräften, wobei sie neben antikolonialer Propaganda vor allem bereits vorhandene antijüdische Ressentiments aufgriffen. Jeffrey Herf sieht in diesem "Jihad made in Gerrnany" (Herf2009: 5) eine außenpolitische Kontinuität des Deutschen Reiches seit dem Ersten Weltkrieg. Während des Zweiten Weltkriegs wurde diese Politik noch durch die Überzeugung der Nationalsozialisten befördert, dass der Islam generell die ideologische Entsprechung im Nahen Osten zur eigenen Revolte gegen die westliche politische Modeme sei (ebd.: 45). Daher förderte Deutschland die "Islamisierung" des Antisemitismus (Holz 2005: 22).
1. Die Fortführung der Tradition nach 1945 Hinsichtlich des Verhältnisses der extremen deutschen Rechten zum Islamismus heute sollte sich vor allem die deutsch-islamische Allianz des Zweiten Weltkrieges als relevant erweisen. In der Bundesrepublik wandelte sich das Verhältnis zur islamischen Welt jedoch zunächst merklich. War die muslimische Minderheit vor 1945 vor allem eine mittelständisch geprägte, übersichtliche Gruppe aus wenigen tausend Mitgliedern (vgl. MortadeI2009), so begannen sich nach 1945 ihr soziales Profil und ihre Größe maßgeblich zu wandeln. Das Thema Einwanderung und die Bildung eines muslimisch geprägten großstädtischen Proletariats begannen, in der tagespolitischen Agitation der extremen Rechten einen zentralen Stellenwert einzunehmen. Da ihre Vorstellungen eng an die Idee einer ethnisch homogenen Gemeinschaft geknüpft sind, stand die über mehrere Generationen entstandene, vor allem türkischstämmige muslimische Minderheit bald im Zentrum des Rassismus in der Bundesrepublik. Dennoch setzten sich, aufbauend auf den außenpolitischen
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Traditionen des Deutschen Reiches, die Verbindungen in die arabische Welt auch nach 1945 fort. Arabische Länder boten sich als Betätigungsfeld ehernaliger Nazis an (BareI1971: 132f.) und gewährten auf diese Weise Kontinuität: Bekannt ist unter anderem, dass Johannes von Leers, ein führender NS-Propagandist und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Islamkunde (vgl. Deutsche Gesellschaft für Islamkunde 1941: 206), in Ägypten untertauchte. Von al-Husaini empfohlen konvertierte er zum Islam und war unter dem Namen Omar Amin von Leers als Berater von Abdel Nasser tätig (Wistrich 1987: 220). Mit dem 1962 ebenfalls zum Islam konvertierten schweizerischen Antisemiten Ahmed Huber wurde ein direkter Schüler von Leers zur Schlüsselfigur in der internationalen Neonazi- und Holocaustleugnerszene (vgl. NigglilFrischknecht 1998: 689ff.; Maegerle/Schiedel o.D.; vgl. den Beitrag "SP-Mitglied, Hitler-Fan" in WOz. Die Wochenzeitung vom 29.5.2008; Landesamt für Verfassungsschutz Brandenburg 2001: 3). Aus dieser Verbindung ist bereits ersichtlich, wie sehr der Antisemitismus als Bindeglied wirkte. Der israelisch-arabische Konflikt schürte das Ressentiment in der arabischen Welt und gab deutschen Neonazis eine neue Projektionsfläche. Die gemeinsame Feindschaft gegen Israel überwand sogar die starren Grenzen des Blockkonflikts. Denn obwohl sich ab dem Nahostkrieg von 1956 mehr und mehr die Sowjetunion des Panarabismus angenommen hatte, warb etwa der Bund Heimattreue Jugend noch 1968 für ein "Hilfskorps Arabien" (vgl. "Dt. Ansehen" in Der Spiegel Heft 19 von 1968: 104; "Heil dir!" inDer Spiegel Heft 44 von 1968: 84). MitKarl Heinz Hoffmann versorgte eine exponierte Gestalt der deutschen Neonazi-Szene die PLO mit gebrauchten Bundeswehrfahrzeugen, 1980 wurde ein Teil seiner "Wehrsportgruppe" in einem Camp von Al Fatah im Libanon militärisch gedrillt (vgl. Winterberg 2004: 74ff.; Fromm 1998: 442ff.; Mecklenburg 1996: 175f.). DerrechteAntiimperialismus mit seiner Gegnerschaft zum Westen und Israel ermöglichte schließlich, dass Hoffmanns ehemaliger Weggefahrte Odfried Hepp mit der Stasi kooperierte und zum Offizier der PLO-Untergruppe PLF wurde. Er gehörte zu den Gefangenen, die 1985 mit der Entführung des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro durch die PLF freigepresst werden sollte (Winterberg 2004: 319). Sigrid Hunke, in jungen Jahren glühende Nationalsozialistin und Zeit ihres Lebens hervorragend vemetzte Aktivistin der neopaganen Rechten mit großem Einfluss auf das Thule-Seminar, wurde 1988 vom ägyptischen Präsidenten Mubarak für ihren Bestseller ,,Allahs Sonne über dem Abendland" mit der Aufnahme in den Obersten Rat für islamische Angelegenheiten ausgezeichnet (Mecklenburg 1996: 474f.). Auch der deutsche Neonazi-Führer Michael Kühnen beschwor die enge Verbundenheit mit dem arabischen Kulturkreis (Schobert 2002) und war mit anderen namhaften Neonazis in der so genannten Antizionistischen Aktion organisiert (Mecklenburg 1996:
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269). Während des Golfkrieges 1991 positionierte sich die äußerste deutsche Rechte praktisch geschlossen auf Seiten Saddam Husseins (Siegier 1991). Stand in den 1980er Jahren noch der Panarabismus im Zentrum dieser politischen Solidarität, so änderte sich diese Orientierung mit dessen Verdrängung durch den politischen Islam. Auch war mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Hauptfeind des Faschismus von der historischen Bühne abgetreten; in der zunehmenden Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt galt es für die Rechte nun, die eigene Position neu zu bestimmen. Dabei traten die antiwestlichen Inhalte wieder mehr in den Vordergrund. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zeichneten sich deutliche Sympathien deutscher Neonazis für die islarnistische Sache ab (Weiß 2008: 259ff.). Das gilt auch für das krisenha:fte Verhältnis des Westens zum schiitischen Iran. Dessen Präsident Mahmud Achmadinedschad ist derzeit auf internationaler Bühne der Favorit deutscher Neonazis. Er ist ein erklärter Feind des beiderseits als "dekadent" angesehenen Westens, erbitterter Gegner Israels und fungiert als eine Art Schirmherr der internationalen Holocaust-Leugnung. Zur wiederhergestellten Herrschaft gratulierte man ihm sowohl aus den Reihen der NPD wie auch der DVU, lobte ihn als einen "Führer" des iranischen Volkes und Garanten der nationalen und kulturellen Souveränität des Irans. Seine Gegner wurden als Agenten der USA und Israels denunziert, die den "Interessen der internationalen Hochfinanz" dienten (vgl. "Neuigkeiten aus Persien" auf der Internetseite der Jungen Nationaldemokraten Osnabrück von 2009).1 Auch versteht es Achmadinedschad gut, die Bedürfnisse seiner rechten Freunde in Deutschland zu bedienen. Die iranische Botschaft veröffentlichte im Sommer 2006 einen Brief des iranischen Präsidenten an Bundeskanzlerin Angela Merkei, in dem er die Deutschen zu Opfern der Zionisten und Alliierten stilisierte, denen man nach 1945 die Würde geraubt habe (Achmadinedschad 2006: Offener Brief an Angela Merkei). 2 Angesichts dieser Verbindungen zeichnet sich also ein gespaltenes Verhältnis zum Islam ab: Innenpolitisch wird seine Präsenz aufgrund der fremden Herkunft seiner Anhänger bekämpft, außenpolitisch wird er als strategischer Partner umworben. Letztere Haltung ist vor allem in theoretisch orientierten Kreisen der extremen Rechten anzutreffen. Ein aktueller Strategietext aus der Feder des französischen Historikers Pierre Vial, der auf der Website des von Pierre Krebs gelei-
2
Unter http://www.jn-osnabrueck.de/index.php?option=com_content&task=view&id= 313&Itemid=169; letzter Zugriff am 28.5.2010. Zuerst publiziert auf der Homepage des Präsidenten der Islamischen Republik Iran unter http:// www.president.ir/eng/ahmadinejad/cronicnews/1385/06/06/index-g.htm (heute einzusehen unter http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Iran/brief-an-merkel.html; letzter Zugriff am 28.5.2010).
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teten, "eurasisch" orientierten Thule-Seminars erschienen ist, konkretisiert, was nach ihrem Verständnis das Hauptproblem ist: ,,[U]nverzeihbar" sei nicht der Islam, sondern "das Verbrechen gegen das Blut der Völker (...), das man Rassenvermischung nennt." Es müsse, so Vial, "eindeutig festgestellt werden, daß die Bedrohung, auch wenn sie sich hinter einem religiösen Schleier - dem Islam - verbirgt und daraus ihre Rechtfertigung ableitet (,Allah will es! '), doch zuerst und vor allem einen ethnischen Charakter hat. Offen gesagt, wenn ein Maghrebiner oder ein Neger den Islam verläßt (was selten vorkommt), so bleibt er dennoch ein Maghrebiner oder ein Neger, der durch seine Anwesenheit auf europäischem Boden die europäische ethnische Identität bedroht. Das Problem ist da, und man muß sich dessen bewußt sein: Wir befinden uns in einem ethnischen Krieg. "3
Ebenfalls aus eurasischer Perspektive und unter Beteiligung prominenter Konvertiten aus der rechtsextremen Szene versucht eine Broschüre des Regin-Verlages mit dem Titel "Der Islam und die Rechte" eine Positionsbestimmung im Geiste vor allem Julius Evolas. In ihr spekuliert der stellvertretende NPD-Vorsitzende Karl Richter über die Entwicklung eines "Islams mit europäischem Antlitz" (Richter 2004: 28). Richter betont die traditionelle Verwurzelung des Islams in Europa und sieht bei ihm das Potenzial, dem Abendland eine neue Form zu geben, wie es die Germanen mit dem römischen Erbe taten. Anders als der dekadent gewordene Westen biete die islamische Welt noch Widerstandspotenzial gegen den Kulturverfall: "Während sich der Westen im Zuge der Aufklärung und seiner fortschreitenden Amerikanisierung von jedweder Ordnungsvorstellung verabschiedet hat, hält die islamische Welt auf gutem Grund fest." Damit sind für ihn "das europäische Islamproblem die Europäer selbst" (ebd.: 32). Richter, der wohlgemerkt für die Bürgerinitiative Ausländerstopp im Münchner Stadtrat sitzt, argumentiert unter Hinweis auf die steigende Zahl der Konvertiten ebenfalls, dass eben nicht "der Islam", sondern die Einwanderung der Gegner sei. Gegen eine Annahme des islamischen Glaubens durch Deutsche spreche unterdessen nichts. Ein ähnliches Konstrukt wurde auch durch den langjährigen Leiter der staatlichen Deutschen Zentralstelle für Genealogie, den Leipziger "Intelligenzforscher" Volkmar Weiss, in einen Roman gegossen. In einem Science Fiction skizziert der im Umfeld der NPD aktive Autor ein im Osten liegendes, durch die SS regiertes "ReichArtam", das im Krieg gegen den Westen den Islam angenommen hat, um die eigene Geburtenrate und Kampfkraft zu stärken (Weiss 2007). Anders als die Einwanderung kann der Islam aus dieser Sicht der nationalen Sache in zweierlei Hinsicht dienen: Entweder könne durch Konversion das im Islam verwurzelte Kriegerethos nutzbar 3
,,Für eine identitäre Strategie in Europa" (2010) unter http://www.thule-seminar.org/ aktuell_strategie.htm; letzter Zugriff am 28.5.2010.
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gemacht werden, um Europa zur Wiedergeburt zu verhelfen, oder aber die Auseinandersetzung mit dem Islam eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln ermöglichen. Beide Fälle wären einer Überwindung des Hauptfeindes, des hedonistischen Amerikanismus, dienlich.
2. Pro oder contra Islam? Binnenauseinandersetzung am rechten Rand Im Gegensatz dazu beziehen Gruppierungen wie die aus der Lokalpartei Pro Köln hervorgegangene nordrhein-westllilische Landesliste Pro NRW offensiv Stellung gegen die so genannte Islamisierung. Ihren Anfang markiert eine Kampagne gegen einen Moscheenbau in Köln, bekannt wurde sie vor allem durch die Ausrichtung eines ,,Anti-Islamisierungskongresses" 2009. Mit ihrer weitgehend monothematisch auf das Feindbild Islam ausgerichteten Programmatik ist sie ein neues Phänomen in der deutschen Rechten. Sie orientiert sich an anderen europäischen Rechtspopulisten wie der FPÖ, der SVP, dem Vlaams Belang oder dem Niederländer Geert Wilders. In ihrer autoritären und mittelstandsorientierten Ideologie ähnelt sie in vielen Punkten der mittlerweile bedeutungslos gewordenen Rechtspartei Die Republikaner. Aus deren Reihen gab es eine hohe Wanderungsbewegung von Aktivisten, zudem sind bekannte Neonazis aus den Reihen der NPD und anderen Organisationen zu den Pro-Listen gestoßen (vgl. Landesamt für Verfassungsschutz NRW 2009: 35ff.). Dabei profiliert sich die Pro-Bewegung hauptsächlich durch das Schüren von Ängsten vor (muslimischen) Migranten. Trotz der Unterstützung durch den von der DVU kommenden Unternehmer Patrik Brinkmann und eine insgesamt hohe Fluktuation vom rechten Rand in ihre Reihen meidet sie bislang historische Themen. Ihr Hauptbezug ist das "christliche Abendland", als Regionalpartei äußerte sie sich bislang nicht zu den klassisch geschichtsrevisionistischen Themen der extremen Rechten. Allerdings schützt das antiislamische Profil der Pro-Bewegung auch nicht vor Überraschungen, wie die Laufbalm zweier bekannter Mitglieder zeigt: Roger Schwedes, langjähriges Mitglied der Republikaner und Mitbegründer von Pro NRW, konvertierte nach seinem Austritt 2009 selbst zum Islam. Andreas Molau, dessen Weg von der Jungen Freiheit und der NPD über die DVU führte und der selbst lange die ideologische Nähe der extremen Rechten zum Islam betonte, ging den entgegengesetzten Weg und ist mittlerweile bei Pro NRW aktiv. 4 Publizistisch findet die Pro-Bewegung wohlwollende Beachtung in der Jungen Freiheit und dem rassistischen Internetportal Politically Incorrect. Ob 4
Interview mit Roger Schwedes 2009 auf Muslim Markt (unter http://www.muslim-markt.de1 interview/2009/schwedes.htm) und Interview mit Andreas Molau 2006 (unter http://www. muslim-markt.de/interview/2006/molau.htm; letzter Zugriff am 28.5.20 I0).
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durch die rein antiislamische Strategie die Etablierung einer politisch bedeutenden Partei rechts von der CDU möglich sein wird, ist noch offen. Die nordrheinwestfälischen Landtagswahlen 2010 verliefen für die Pro-Bewegung erfolglos. Die Zukunft der Strömung ist infolge der Wahlniederlage ungewiss, ebenso die tatsächliche Orientierung. Der eingeschlagene Kurs kann sowohl im Nationalliberalismus als auch im Fahrwasser des christlich-europäischen Faschismus münden. Da sich die Pro-Bewegung teilweise positiv auf die USA und Israel bezieht, sind Konflikte mit anderen extrem rechten Gruppen unvermeidlich. Die NPD grenzte sich lange von dieser Strömung ab. ParteichefUdo Voigt erklärte im März 2009 in seiner Parteizeitung Deutsche Stimme (Heft 3), Pro Köln sei nur eine ,,MiniPartei, die in anti-islamistischer Verblendung gemeinsame Sache mit dem jüdisch beherrschten israelischen Staat machen will und auf eigenen Veranstaltungen Israelfahnen schwenkt" und somit "kein Bündnispartner". In diesem Fall bremst der Antisemitismus den sonst tief verwurzelten Ausländerhass und verhindert einen Schulterschluss. Am deutlichsten formulierte dies der 2009 verstorbene "Rassetheoretiker" und Hamburger Landeschef Jürgen Rieger ("Kampf der Kulturen Kampf der Religionen", o.D.): "Was ist für unser Selbstbewußtsein schädlicher, die Pflichtlektüre des Tagebuchs der Anne Frank in den Schulen, oder eine muslimische Schülerin mit Kopftuch? (...) Vor der muslimischen Zuwanderung nach Deutschland wird von manchen CDU-Politikem gewarnt und deren laufende Erhöhung angeprangert; aber dieselben Herrschaften erlaubten und ennöglichten, daß sich seit 1990 die Zahl der Juden durch Zuwanderung russischer Juden in Deutschland verachtfucht hat.'"
Seitens der Betreiber des Internetforums Altermedia, einer zentralen Diskussionsplattform der militanten Nazi-Szene, finden sich sogar Zuspitzungen wie: "Eher den Halbmond als den Davidstern" (Brinkmann-Reaktion aufAltermedia-Artikel über sein Interview bei Gesamtrechts.info vom 22.4.2009). 6 Aus diesen Äußerungen wird deutlich: Solange die islamische Welt dem Antisemitismus huldigt und sich gegen Israel positioniert, kann sie sich entsprechender Freunde sicher sein. Erst durch das schweizerische Minarett-Verbot sah sich die NPD zu einem offensiveren Kurs genötigt und begann, ein solches Verbot auch in Deutschland zu fordern: "Es gibt kein Grundrecht auf den Bau von Moscheen als steingewordenem Ausdruck orientalischer Landnahme" (Pressemitteilung der NPD-Landtagsfraktion Sachsen vom 10.12.2009).? Doch selbst in dieser Kampagne lässt man die außen5 6 7
Unter http://www.velesova-sloboda.org/geo/rieger-kampf-der-kulturen.html; letzter Zugriff am 28.5.2010. Unter http://de.altermedia.info/general/brinkmann-reaktion-auf-altermedia-artikel-uber-seininterview-bei-gesamtrechtsinfo-220409_271 18.html; letzter Zugriff am 28.5.2010. Unter http://www.npd-fraktion-sachsen.de/index.php?verweis=3.I, l&aktion=anzeige& drucks ache=pressemitteilungen&drucksacheid=940; letzter Zugriff am 28.5.2010.
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politischen Präferenzen durchblicken: Karl Richter agitiert in einem Werbevideo der NPD zwar gegen den Bau von Moscheen, doch selbst in diesem Film betont er, die NPD stehe in außenpolitischen Fragen "selbstverständlich an der Seite" des Islams gegen amerikanische "One World"-Politik ("So kann Demokratie funktionieren", NPD-Video vom 3.12.2009).8 Zuvor, nachdem die rechten Avancen an die Islamisten zunehmend an die Öffentlichkeit gedrungen waren, sah sich der Parteitheoretiker Jürgen Gansel genötigt, Distanz in einem Pamphlet mit Titel "Der Nationalismus im Kampf der Kulturen" auszuformulieren. 9 2010 folgte die Erklärung der Partei "Niemals deutsches Land in Moslem-Hand!" mit "inhaltliche[n] und taktische[n] Gründe[n] für den Kampf gegen die Islamisierung" (Erklärung der NPD vom 7.1.2010).10 Allerdings gilt die Feindschaft in beiden Texten auch weiterhin weniger der Religion als der Einwanderung. Den islamischen Fundamentalismus sieht Gansel sogar positiv als "Integrationsbremse", weshalb er "vielen orientalischen Landbesetzern bis zum Tag ihrer Rückführung nur viel Koranfestigkeit" wünscht. Dass die Ablehnung des Islams nur ein Ticket ist, um schließlich alle Nicht-Deutschen anzugreifen, räumt das NPD-Strategiepapier unverhohlen ein: "Man hat propagandistisch die Moslems zu schlagen, um noch ganz andere Ausländergruppen politisch zu treffen."
3. Metapolitische Schnittmengen Bei der Betrachtung dieser Konstellationen fällt auf, dass islamfreundliche Haltungen innerhalb der extremen Rechten hauptsächlich durch geopolitisch denkende Theoretiker verfochten werden und an der Basis wenig Resonanz erzeugen. Auch aus diesem Grund findet der Kampf der Islamisten und der extremen Rechten gegen "den Westen" vor allem getrennt statt; Kooperationen etwa anlässlich der 2001 in Beirut geplanten Konferenz der Holocaust-Leugner und der 2006 in Teheran durchgeführten Ersatzveranstaltung stellen Ausnahmen dar. Das gilt auch für die Kontakte zwischen der NPD-Führung und der 2003 verbotenen Hizb utTahrir (Dantschke 2009) oder der wechselseitigen Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen, wie etwa eine palästinensische Grußbotschaft beim "nationalenAntikriegstag" in Dortmund 2009 11 oder die Teilnahme von Neonazis bei den 8 9 10 11
Unter http://www.npd.de/html/1064/; letzter Zugriff am 28.5.2010. Unter http://www.npd-hannover.de/index.php/menue/24/thema/725/id/952/ anzeigemonat/05/ anzeigejahr/2006/infotext/Der_Nationalismus_im-lraquo;KampCder_Kulturen/laquo;/Aktuelles. htm1; letzter Zugriff am 28.5.2010. Unter http://npd.de/html/714/artikel/detail/l 092/; letzter Zugriff am 28.5.2010. Unter http://logr.org/antikriegstag!2009/09/09/grusworte-eines-palastinensers-zum-antikriegstag!; letzter Zugriff am 28.5.2010.
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islamistischen Demonstrationen zum AI-Quds-Tag. Zudem überlagert der Kampf der extremen Rechten gegen den Bau von Moscheen das gemeinsame geostrategische Interesse. Dennoch kam es in der Vergangenheit zu Gesprächen zwischen einzelnen Protagonisten islamistischer Organisationen und Medien der äußersten Rechten (vgl. "Unter den Muslimen brodelt es", Interview mit Ibrahim el-Zayat in Junge Freiheit Heft 4, 2009; "Palästina von den Zionisten befreien", Gespräch mit Shaker Assem in Deutsche Stimme Heft 2,2003; vgL auch NPD-Presseerklärung vom 24.8.2006: "Der Bombenleger und die NPD"12). Insgesamt lässt sich aber sagen, dass das Verhältnis der extremen Rechten zum Islamismus nicht einfach einer Positionierung im Sinne "Feindes meines Feindes" entspricht. Vielmehr scheinen gerade Nationalsozialisten, historisch wie aktuell, in einem radikalisierten Islam etwas Eigenes wiederzuerkennen. Eine Erklärung dieses Phänomens bietet kein Geringerer als Ernst Nolte. Dessen jüngstes Buch widmet sich dem Islamismus als "Dritte radikale Widerstandsbewegung" gegen die westliche Modeme (Nolte 2009). Es wurde mit zwei ausführlichen Interviews in einschlägigen Zeitschriften angekündigt: der Jungen Freiheit (" Widerstand gegen die Modeme", Ernst Nolte im Gespräch in Heft 26,2009) und der NPD-nahen hier & jetzt ("Die kritische Distanz", Ein Gespräch mit Ernst Nolte in Heft 13,2009). Nolte weist auf die metapolitischen Gemeinsamkeiten hin und schreibt (vgl. Junge Freiheit Heft 26, 2009), der Islam besitze "eine demographische und missionarische Potenz, in der die Konzeption der faschistischen Bewegung von den ,jungen' und den ,alten' Völkern wieder auftaucht. Wenn die Völker des Westens, wie nicht wenige Muslime behaupten, tatsächlich ,sterbende Völker' und die Muslime eine ständig wachsende,Umma' sind, dann repräsentiert der Islam trotz aller technischen Zurückgebliebenheit den wahren Fortschritt, nämlich das aufsteigende Leben."
Nolte wiederholt eine argumentative Bewegung, die er bereits hinsichtlich des Nationalsozialismus exerziert hat: Sah er hier im Bolschewismus die Ursache und im Nationalsozialismus die Abwehr, so macht er jetzt besonders das Wirken des Zionismus für den Aufstieg des Islamismus verantwortlich. Zusätzlich zu der vitalistischen Charakterisierung verleiht er also Faschismus und Islamismus (im Unterschied zum Kommunismus) den Status der angegriffenen Verteidiger. Der Islam habe, so schreibt Nolte (2009: 355), zwei Feinde identifiziert: konkret den Zionismus als ,,räuberischen Angriff auf ein Zentralland des Islam" und abstrakt "die ,Okzidentose' , die den ganzen Islam von innen bedrohte". Diese Feinde zu verbinden, ist für Nolte nur konsequent, denn die Zersetzungsarbeit der "Okzidentose" habe auch "viel mit dem Wirken der Juden innerhalb der angeblichen christli12
Unter http://udo-pastoers.de/index.php?com=news&view=article&id=3l&mid=8; letzter Zugriff am 28.5.2010.
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chen Kultur zu tun". Dass er damit sowohl durch seine biologistische Metaphorik als auch strukturell an klassisch antisemitische Semantiken anknüpft, ist ihm nicht nur bewusst, sondern auch gewollt: "Ist es nicht längst unbezweifelbar geworden, dass seit mehreren Jahrzehnten ein nicht bloß verstehbarer, sondern im Kern gerechtfertigter ,Antisemitismus' existiert, nämlich der ,Antisemitismus' der aus Palästina mit Gewalt vertriebenen arabischen und semitischen Einwohner" (ebd.: 341). Nolte bemüht abschließend eine Reihe meist jüdischer Intellektueller, um nachzuweisen, dass Marxismus und Säkularität Derivate des Judentums seien. So mündet Noltes langjähriges Bemühen, den Antibolschewisten Hitler historisch in sein Recht zu setzen, in das Altersprojekt, dem Islarnismus ebenfalls Respekt zu zollen. Das Buch endet schließlich in einem Plädoyer für eine transzendente Überwölbung der Welt durch einen "revolutionären Konservatismus". Diese Einschätzung macht die metapolitischen Schnittmengen offensichtlich: Beim Islamismus handelt es sich ebenfalls um einen offensiv gewordenen islamischen Radikalkonservatismus, der nach dem Scheitern des Panarabismus den Staffelstab einer antiwestlichen Revolution übernommen hat (Wright 2006: 38f.; Breuer 1995: 201). Sein Diskurs um westlich-liberale Dekadenz legt die historische Parallele zum Faschismus nahe (vgl. BurumalMargalit 2005), da sich eine solche Zeitdiagnostik bereits bei Georges Sorel, einem Urvater der faschistischen Bewegungen in Europa, findet (vgl. Lenk 1989: 255ff; ders. 2005). Selbst ablehnende Stimmen bewundern daher die angebliche Immunität des Islams gegen westliche Versuchungen und sehen ihn als die letzte verbleibende "politische Religion" (vgl. "Die grüne Revolution, geistige Herausforderung für Nationalisten" in Deutsche Stimme Heft 4,2008). Dabei gelingt dem politischen Islam auch die Integration des Nationalismus und der Volksmassen in seine Konzeption. Bassam Tibi sieht im heutigen Islamismus eine Synthese, die sich nach 1967 sukzessive aus völkisch-nationalistischen und islamisch-religiösen Elementen bildete und seit dem ersten amerikanisch-irakischem Krieg ihr Potenzial zur Massenmobilisierung entfaltet (vgl. Tibi 1991). Die Kulturkritik von Sayyid Qutb und Ayman al-Zawahiri in den Anfangen der ägyptischen Muslimbrüderschaften (vgl. Holz 2005; Wright 2006) und der iranische Versuch einer islamisch-fundamentalistischen Modeme zeugen von einer ähnlichen Reaktion auf die krisenhaft gewordenen Modemisierung, wie sie Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen hat (vgl. Mozaffari 2009). Eine weitere Schnittmenge bildet die Überzeugung, dass eine strikte und autoritäre Formgebung für die Gesellschaft notwendig sei. Zumindest die intellektuellen Teile der extremen Rechten scheinen dies erkannt zu haben und formulieren ihr Verhältnis zum Islam entsprechend offen. Dem nationalsozialistischen Flügel kommt dabei seine historische Tradition entgegen, die aus gemeinsamen strategi-
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schen Interessen, der Ablehnung der Werte der Aufklärung und Antikommunismus bestand. Vor allem wären vergleichbare positive Reflexionen über das Judentum, wie sie über den Islam durchaus getätigt werden, in der extremen deutschen Rechten schlichtweg nicht denkbar. Während dem Islam selbst von seinen Gegnern "südlich des Mittelmeers" (Erklärung der NPD vom 7.1.2010: Kommentarbereich; siehe oben, Fußnote 10) eine eigene Entfaltungssphäre zugestanden wird, so kennt der Antisemitismus weder für eine jüdische Minderheit innerhalb der eigenen Nation noch für einen jüdischen Staat innerhalb der Staatengemeinschaft einen Platz. Um sich die spezifische Differenz zu veranschaulichen, stelle man sich vor, deutsche Neonazis würden zwar gegen die Zuwanderung russischer Juden agitieren, allerdings eine Konversion des "deutschen Volkes" zum Judentum begrüßen, um dessen Eigenschaften für den eigenen Kampf um ein neues Reich zu nutzen. Die Absurdität dieses Gedankenspiels zeigt, dass im Gegensatz zum Islam "dem Juden" exakt die Position zukommt, die als die Figur des "Dritten" beschrieben wird (vgl. hierzu Holz in diesem Band; Globisch in diesem Band). In Deutschland sorgt also vor allem der Antisemitismus dafür, dass das Verhältnis der äußersten Rechten zum Islam besser ist, als man annehmen möchte.
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Vergessener Krieg: Der Rassenmord an den Roma und seine Leugnung im Nachkriegsdeutschland Wolfgang Wippermann
"Es ist ebenso wie mit den Juden (..). Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. "
So beantwortete der Leiter der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, die Frage der alliierten Ankläger, warum seine Untergebenen auch "Zigeuner" ennordet hätten (zitiert nach Rose 1995: 115; zum Folgenden vgL Wippermann 2005; von dem Knesebeck 2008). Ohlendorf war kein Einzelfall. Auch andere Täter haben auf dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess bereitwillig zugegeben, dass neben Juden auch Roma zu Opfern des nationalsozialistischen Völkennordes geworden sind. Dennoch und obwohl zur Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse zahlreiche Quellen gesammelt wurden, in denen der rassistisch motivierte Völkennord an den Roma eindeutig dokumentiert wurde, sind die Nürnberger Ankläger und Richter auf den Rassenmord an den Roma nicht weiter eingegangen, der in deren Sprache, dem Romanes, "Porrajmos" (das Verschlungene) genannt wird. l Dies hatte Folgen bis auf den heutigen Tag. Wenn es schon die Siegermächte nichtfür notwendig hielten, den Völkennord an den Roma zu thematisieren, dann sahen es die besiegten Deutschen schon gar nicht ein, sich zu dieser Schuld zu bekennen und die Opfer zu entschädigen. Das Wort "Zigeuner" taucht weder in den Dokumenten des deutschen Widerstandes noch in der nach 1945 entstandenen ziemlich umfangreichen Publizistik über die deutsche Schuldfrage auf. Hier gab es kein Schuldbewusstsein und keine Verpflichtungserklärung zur "Wiedergutmachung" (vgl. zum Folgenden auch den instruktiven Sammelband von HerbstiGoschler 1989).
In die gedruckte Auswahl der Nürnberger Dokumente wurden nur ganz wenige Quellen zum Völkennord an den Sinti und Roma aufgenommen (Nürnberger Prozesse 1947-1949).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1. Zur "Wiedergutmachung" Bei den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Rassenmordes war dies jedoch anders. Mit den Repräsentanten Israels und des Judentums hat die Bundesregierung bereits am 10. September 1952 einen entsprechenden Vertrag geschlossen, der nach dem Verhandlungsort als Luxemburger Abkommen bezeichnet wird (vgl. Huhn 1989). In diesem Abkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik, innerhalb von 14 Jahren drei Milliarden DM an Israel zu zahlen. Weitere 450 Millionen DM wurden via Israel an die Jewish Conference on Material Claims on Germany, welche die Interessen der nicht in Israel lebenden Juden vertrat, zur Abdeckung individueller Entschädigungsansprüche überwiesen. Außerdem verpflichtete sich die Bundesregierung, ein Bundesentschädigungsgesetz zu erlassen, das an die Stelle der bisherigen Landesgesetze treten und individuelle Ansprüche regeln sollte. 2 Am 1. Oktober 1953 machte die Bundesregierung dieses Versprechen durch den Erlass des "Bundesergänzungsgesetzes für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung" wahr, das schließlich am 29. Juni 1956 durch das "Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung" (BEG) ersetzt wurde. Ihm folgte am 14. September 1965 das so genannte "BEG-Schlussgesetz" (Bundesgesetzblatt 1956 I: 559; Bundesgesetzblatt 1965 I: 1315ff.). Aufgrund dieser Gesetze sind bis 1990 insgesamt etwa 80 Milliarden DM Wiedergutmachung gezahlt worden. Fünf Prozent davon entfielen auf die globale Wiedergutmachung an Israel. Der Rest wurde an Einzelpersonen in Form von Sachentschädigungen, einmaligen Zahlungen, Pensionen und Zuschlägen zur Sozialversicherung für den Verlust an Leben, Gesundheit und beruflichem Fortkommen gezahlt (vgl. zur Wiedergutmachung Heßdörfer 1989; zu den Vergabekriterien Schwarz 1989). Auf den ersten Blick scheint es sich hier um hohe Summen zu handeln. Dabei muss jedoch zunächst einmal der Zeitfaktor berücksichtigt werden. Für Wiedergutmachung ist nie mehr als drei bis fünf Prozent des bundesdeutschen Haushalts aufgewandt worden. Seit den 1980er Jahren ist dieser Prozentsatz zudem auf 0,5 Prozent zurückgegangen. In absoluten Zahlen: Wurden in den 1950er Jahrenjährlich noch drei Milliarden DM gezahlt, verringerte sich dieser Betrag im Laufe der Zeit auf 1,7 Milliarden DM jährlich. Volkswirtschaftlich gesehen sind dies wirklich nur "Peanuts". Doch für viele Überlebende des Holocausts - bis 1985 hatten über vier Millionen Personen Anträge gestellt - hatten und haben diese Zahlungen eine geradezu existentielle Bedeutung. Allerdings mussten sie sich diese Gelder in häufig mehr als schwierigen Verhandlungen erkämpfen, wobei die deutschen Behörden geradezu einen ,,Kleinkrieg gegen die Opfer" führten (vgl. dazu die sehr 2
Das Bundesgesetz sollte mindestens so gute Konditionen enthalten wie das beste Landesgesetz (vgl. zum amerikanischen Gesetz Kreikamp 1989).
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kritische Studie von Pross 1988). Viele an sich anspruchsberechtigte jüdische Opfer wollten oder konnten sich diesen bürokratischen Prozeduren nicht stellen und sind leer ausgegangen. Hinzu kommt, dass die individuellen Zahlungen keineswegs so hoch sind, wie in der Öffentlichkeit meist angenommen wird. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, der monatliche Aufenthalt in einem deutschen Konzentrationslager mit einer einmaligen Zahlung von 150 DM "wieder gutgemacht". Schließlich ist eindringlich darauf hinzuweisen, dass diese Entschädigungs- und "Wiedergutmachungs"-Summen in keinem Verhältnis zu Milliarden von Mark stehen, die den Opfern geraubt oder durch Zwangsarbeit ausgepresst wurden. Zu kritisieren ist aber auch, dass bis heute im Wesentlichen nur Juden entschädigt worden sind. Dies hat drei Gründe: Erstens wurden durch das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 alle ausländischen Opfer des Nationalsozialismus auf den Abschluss eines Friedensvertrages mit einem vereinten Deutschland vertröstet. Noch wichtiger war zweitens, dass im Luxemburger Abkommen und in den nachfolgenden deutschen Entschädigungsgesetzen vereinbart worden war, dass nur solche Personen anspruchsberechtigt sind, die ihren Wohnsitz im Gebiet des früheren Deutschen Reiches (in den Grenzen von 1937) hatten oder zumindest zum "deutschen Sprach- und Kulturkreis" gehört hatten. 3 Letzteres wurde den osteuropäischen Juden mit der mehr als merkwürdigen Begründung zugestanden, dass ihre Sprache, das Jiddische, zum "deutschen Sprachkreis" gehöre. Problematisch ist schließlich drittens die Definition des Begriffs "Opfer nationalsozialistischer Verfolgung". Dies sind nach bundesdeutscher Rechtsauffassung Personen, die aus "politischen, religiösen oder rassischen Gründen" verfolgt worden sind. Durch diese Bestimmungen sind ganze Opfergruppen ausgeschlossen worden, darunter die Roma, die nach 1945 anders als Juden behandelt wurden, obwohl sie davor "wie die Juden" aus ebenfalls "rassischen" Gründen verfolgt und ermordet worden sind. Dennoch haben weder die (alte) Bundesrepublik noch die DDR und das vereinte Deutschland Verhandlungen mit Repräsentanten des Volkes der Roma über eine Globalentschädigung aufgenommen. Ein mit dem Luxemburger von 1952 zu vergleichendes Abkommen steht bis heute aus, obwohl es inzwischen zwar keinen Staat der Roma, wohl aber verschiedene Organisationen gibt, welche die Interessen der Roma weltweit und in den einzelnen Staaten vertreten. Doch ihre immer wieder und gerade in jüngster Zeit erhobenen Ansprüche wurden noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dabei sind sie ohne Zweifel berechtigt, auch wenn doch nahezu allen ausländischen Roma der Anspruch auf Wiedergut3
Vgl. dazu die sarkastische Bemerkung eines jüdischen Opfers: ,,[Ich habe] meine Frau, meine drei Söhne, Mutter und Geschwister nie mehr wieder gesehen, alle sind in Auschwitz umgekommen. Ich frage mich, wie ich es fertig bringe, hier zu sitzen und mich zum deutschen Kulturkreis zu bekennen" (zitiert nach Schwarz 1989: 47).
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machung mit der Begründung verweigert worden ist, dass sie weder im Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 gelebt noch zum "deutschen Sprach- und Kulturkreis" gehört hätten. Doch auch vielen Roma, die unzweifelhaft deutsche Staatsbürger gewesen waren, ist die Wiedergutmachung lange Zeit verweigert worden (Greußing 1979; Spitta 1979, 1989; Körber 1988). Es gibt sogar Fälle, dass Roma, die als deutsche Staatsbürger in deutsche Konzentrationslager verschleppt worden waren, die ihnen nach 1945 zunächst wieder verliehene deutsche Staatsbürgerschaft wieder entzogen wurde, wobei man sich auf die Gutachten von pensionierten und noch aktiven ,,zigeunerpolizisten" aus der Zeit des Dritten Reiches berief (einen solchen Fall habe ich dokumentiert; vgl. Wippermann 1991, 1996). Dies ist nicht nur skandalös, sondern ein glatter Verfassungsbruch, denn laut Artikel 16 Abs. 1 des Grundgesetzes darf die "deutsche Staatsangehörigkeit" einem deutschen Staatsbürger grundsätzlich nicht "entzogen werden". Der "Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird". Doch genau dies ist einigen Roma widerfahren, die heute immer noch "staatenlos" sind, obwohl sie oder ihre Eltern vor und zunächst auch noch nach 1945 die deutsche Staatsbürgerschaft besessen hatten.
2. Wider die Gutmachung: Antiziganismus in der Politik Nachkriegsdeutschlands Doch die skandalöse Geschichte dieser, wie sie von den Betroffenen empfunden wurde, "zweiten Verfolgung" (Greußing 1979: 192ff.) ging noch weiter. Schon Anfang der 1950er Jahre haben Gerichte Anträge von überlebenden Roma aufWiedergutmachung mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei diesen ,,zigeunern" um "Asoziale" gehandelt habe. Da die "Zigeuner und Zigeunermischlinge (...) nicht aus rassistischen Gründen, sondern wegen [ihrer] asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert" worden seien, ordnete der Innenminister von Baden-Württemberg am 22. Februar 1950 an, alle "Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt fiir Kriminal-Erkennungsdienst in Stuttgart zur Überprüfung" zuzuleiten (zitiert nach Körber 1988: 170). Dieses Landesamt fiir Kriminal-Erkennungsdienst wird zweifellos die Beamten der ehemaligen "Zigeunerpolizei"- und jetzigen "Landfahrerstellen" um Rat gefragt haben. Damit entschieden letztlich die Täter, wer ein Opfer gewesen war und Anspruch aufWiedergutmachung hatte. Dass es so weit kommen konnte, war jedoch auch die Schuld des (west-)deutschen Gesetzgebers. Schon vor Gründung der Bundesrepublik hatten verschiedene Länderparlamente Gesetze zur "Wiedergut-
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machung nationalsozialistischen Unrechts" beschlossen, in denen bestimmt wurde, dass nur die Personen in den Genuss einer derartigen Wiedergutmachung kommen sollten, die wegen ihrer "politischen Überzeugung", des "Glaubens oder der Weltanschauung" oder "aus Gründen der Rasse" verfolgt worden waren. 4 Diese Formulierung wurde, wie oben bereits erwähnt, in das "Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung" vom 18. September 1953 sowie das "Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung" übernommen (Bundesgesetzblatt 1953 I: 1397ff.). Obwohl sich einige Rorna durchaus gegen ihre Verfolgung gewehrt haben (einige Beispiele bei König 1989), ist kaum einer von ihnen wegen seiner "politischen Überzeugung" verfolgt worden. Da alle in Deutschland lebenden Rorna Christen waren, wobei die meisten wiedemm der katholischen lUrche angehört hatten, konnte auch von keiner Verfolgung des "Glaubens oder der Weltanschauung" wegen die Rede sein. Es blieb die Bestimmung "aus Gründen der Rasse". Doch wie kann man "aus Gründen der Rasse" verfolgt worden sein, wenn es gar keine unterschiedlichen oder gar unterschiedlich wertigen Rassen gibt, weil alle Menschen so verschieden und zugleich so gleich sind, dass jede Kategorisierung nach körperlichen oder geistigen Merkmalen auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt (Cavalli-Sforza/Cavalli-Sforza 1994; vgl. auch Wipperrnann 1995)? Doch diese These, die heute von den meisten Anthropologen und Biologen vertreten wird, war damals noch umstritten. Unumstritten war jedoch schon zu Beginn der 1950er Jahre, dass Sinti und Roma genau wie Juden nicht als Rasse anzusehen sind. Bei den Roma kam schließlich noch hinzu, dass ihre Vorfahren aus Indien stammen und ihre Sprache, das Romanes, zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört, weshalb sie selbst nach den abstrusen Theorien der verschiedenen Rassenideologien genau wie die germanischen Völker als "Arier" anzusehen sind. Doch diese Probleme waren lösbar. Die zuständigen Richter hätten nämlich nur den grundlegenden Erlass Himmlers vom 8. Dezember 1938 heranziehen müssen, um zu erkennen, dass die Nationalsozialisten in der Tat eine "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus" angestrebt hatten (Runderlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern vom 8. Dezember 1938, abgedruckt bei Wippermann 1993: 80f.). Bei dieser "endgültigen Lösung der Zigeunerfrage" sollten die "rassereinen Zigeuner und die Mischlinge gesondert" behandelt werden. Was mit dieser auf den ersten Blick merkwürdigen Unterscheidung zwischen ,,rassereinen Zigeunern" und "Mischlingen" gemeint war, hätte man ohne Schwierigkeiten der ebenfalls gedruckt vor4
So das "Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Umechts", das am 12.8.1949 vom Länderrat der amerikanischen Zone beschlossen wurde (vgI. von Godin 1950: 570ff.).
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liegenden Ausführungsanweisung des Reichskriminalpolizeiamtes vom 1. März 1939 zum Himmler-Erlass (abgedruckt ebd.: 81) sowie den verschiedenen Publikationen Robert Ritters (ebd.: 26ff.; vgl. auch Brucker-Boroujerdi/Wippermann 1989) entnehmen können, auf dessen ,,rassenbiologische Forschungen" Himmler am 8. Dezember 1938 ausdrücklich hingewiesen hatte. Nach Ritters Überzeugung, die sich dann Himmler zueigen machte, waren die Sinti und Roma allenfalls "primitive Arier" und insofern den zwar ebenfalls "arischen", aber ebenfalls als "minderwertig" geltenden slawischen Völkern vergleichbar. Doch die meisten der in Deutschland lebenden Roma (Ritter schätzte 90 Prozent) seien nicht ,,reinrassig", weil sich ihre Vorfahren mit ,,kriminellen" und "asozialen Elementen" des deutschen Volkes vermischt hätten. Da, nach der damals weit verbreiteten These der so genannten Kriminalbiologen, "asoziales" und ,,kriminelles" Verhalten vererbbar war, galten diese "Mischlinge" als "geborene Verbrecher" und ,,zigeuner" zugleich und waren daher gewissermaßen doppelt "minderwertig", weil sich ihr "zigeunerisches" mit "asozialem Blut" vermischt hatte. Daher wurden ,,zigeunermischlinge" viel rigoroser verfolgt als ,jüdische Mischlinge". Selbst so genannte ,,Achtelzigeuner", das heißt Personen, unter deren Urgroßeltern sich ein ,,zigeuner" befunden haben soll, wurden schließlich genau wie so genannte "Volljuden" nach Auschwitz deportiert. Diese Differenzierung zwischen "reinrassigen Zigeunern" und "Mischlingen" wirkt grotesk, ist aber durchaus logisch, wenn man die abstrusen Theorien dieser "Zigeunerforscher" und Rassenpolitiker ernst nimmt. Doch dies taten die westdeutschen Richter und Kommentatoren des Bundesentschädigungsgesetzes nicht. Stattdessen schlossen sie sich völlig unkritisch der Meinung von nationalsozialistischen Politikern und ,,zigeunerpolizisten" an, welche die Roma pauschal als "asozial" und ,,kriminell" stigmatisiert hatten. Übersehen wurde dabei erstens, dass keineswegs alle Roma ,,Asoziale" und ,,Kriminelle" waren, zweitens, dass für die Kriminalbiologen auch "asoziales" und ,,kriminelles" Verhalten vererbbar und "rassisch" bedingt war, und schließlich drittens, dass es mit rechtsstaatlichen Vorstellungen kaum vereinbar ist, Menschen nur deshalb ohne Urteil in Konzentrationslager zu sperren und zu ermorden, weil sie als "asozial" eingestuft wurden. Genau diesen dreifachen Fehler machte 000 Küster in seinem Kommentar zum Bundesentschädigungsgesetz, in dem er die These vertrat, dass alle bis 1943 gegen die Roma ergriffenen Maßnahmen aus ,,kriminalpolitischen Gründen" erfolgt seien (Becker et al. 1955: 48). Die nationalsozialistischen Behörden hätten sich auf die ,,Bekämpfung derjenigen Zigeuner beschränkt, die sich als asozial erwiesen hatten". Erst 1943 seien auch Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert worden, die "persönlich nicht zu beanstanden" gewesen seien, wobei Küster
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völlig offen ließ, woher er dies wusste und warum die übrigen Sinti und Roma "asozial" gewesen sein sollen. Küsters These sowie ähnliche Fehlurteile verschiedener Oberlandesgerichte wurden vom Bundesgerichtshof übernommen und bestätigt, der am 7. Januar 1956 höchstrichterlich entschied, dass für die Verfolgung der Sinti und Roma zumindest bis 1943 nicht "rassenideologische Gesichtspunkte", "sondern die bereits erwähnten asozialen Eigenschaften der Zigeuner" maßgebend gewesen seien, "die auch schon früher Anlaß gegeben" hätten, "die Angehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unterwerfen" (teilweise abgedruckt in Zülch 1979: 168-170). Selbst die in dem erwähnten Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938 "vorgesehenen Maßnahmen" könnten, so meinte der Bundesgerichtshof, "ihrem Wesen nach nicht als spezifisch rasseverfolgend angesehen werden, sondern halten sich noch im Rahmen polizeilicher Vorbeugungs- und Sicherungsmaßnahmen" (vgl. dazu die übereinstimmende Kritik bei Greußing 1979; Spitta 1979, 1989; Körber 1988; Schenk 1994: 319ff.). Damit hatte das höchste deutsche Gericht ein Urteil gefällt, in dem die rassistisch motivierte Verfolgung der Sinti und Roma geleugnet wurde: ein unfassbarer Skandal, der jedoch in der damaligen deutschen Öffentlichkeit kaum kritisiert wurde. Eine Ausnahme war ein Aufsatz des Frankfurter Senatspräsidenten Franz Calvelli-Adorno, der eindringlich darauf aufmerksam machte, dass die "rassische Verfolgung der Zigeuner vor dem 1. März 1943", das heißt vor ihrer Deportation nach Auschwitz, begonnen hatte (ders. 1961: 529ff.). Heftige Kritik kam auch von der United Restitution Organization (URO), die unter der Leitung von Kurt May Quellen und Materialien sammelte, um nachzuweisen, dass die Sinti und Roma tatsächlich aus "rassischen Gründen" verfolgt worden waren (vgl. dazu Hockerts 1989). Doch von diesen Argumenten der "Anwälte der Verfolgten" ließen sich einige westdeutsche Oberlandesgerichte nicht beeindrucken, die weiterhin Anträge auf Wiedergutmachung von Sinti und Roma rigoros ablehnten. Eine besonders scharfe Haltung nahm das Oberlandesgericht München ein, das sich weiterhin auf die Voten und Gutachten der ehemaligen ,,zigeunerpolizisten" in der Münchener "Landfahrerzentrale" stützte und in einem Urteil vom 1. März 1961 selbst bestritt, dass die Verfolgung der Sinti und Roma nach dem Auschwitz-Erlass Himmlers ,,rassisch" motiviert gewesen sei (zahlreiche skandalöse Beispiele bei Schenk 1994: 330ff.). Wenn ,,zigeuner auch von Polizei, SS- oder Wehrmachtsdienstellen festgenommen und für kürzere oder längere Zeit in Gefängnissen oder geschlossenen Lagern festgehalten" worden seien, so sei dies nicht geschehen, "um sie aus Gründen der Rasse zu verfolgen, sondern weil sei ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden" (zitiert ebd.: 326). Da jedoch andere Gerichte, allen voran das Oberlandesgericht
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Frankfurt am Main, zu anderen Urteilen gelangten, sah sich schließlich der Bundesgerichtshof am 18. Dezember 1963 genötigt, die Entscheidung von 1956 wenigstens teilweise zu revidieren (BGH-Urteil vom 18.12.1963 in Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 1964: 209ff.; vgL dazu auch Schenk 1994: 327f.). Die Richter räumten ein, dass rassenpolitische Motive für Maßnahmen, die seit dem Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938 getroffen wurden, "mitursächlich" gewesen sein könnten. Daher wurde den Sinti und Roma jetzt gestattet, Entschädigungsanträge für Verfolgungsmaßnahmen zu stellen, die nach dem 8. Dezember 1938 stattgefunden hatten. Einen derartigen Stichtag zu verkünden, macht vielleicht im Bereich des Bürgerlichen Rechts, etwa bei Räumungsklagen, Sinn, bei der rechtlichen Würdigung der Verfolgung der Sinti und Roma war dies schlicht Unsinn. Schließlich ist ja auch niemand aufdie Idee gekommen, zum Beispiel alle antijüdischen Maßnahmen, welche die Nationalsozialisten bis zu den Novemberpogromen von 1938 getroffen hatten, für rechtens zu erklären. Dabei waren die Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935 spätestens seit dem 26. November 1935 auch auf Sinti und Roma übertragen worden (siehe den Runderlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innem vom 26. November 1935 über das "Verbot von Rassenmischehen", abgedruckt bei Wippermann 1993: 77). Einzelne Verfolgungsmaßnahmen hatte es seit Beginn des Dritten Reiches gegeben. Diskriminiert wurden die Sinti und Roma schon vor 1933, denn alle "Zigeunergesetze" aller deutschen Länder waren schlicht verfassungswidrig, weil sie den auch für Sinti und Roma geltenden Gleichheitsgrundsatz nicht beachteten (zu diesem Ergebnis gelangte die zeitgenössische Dissertation von Höhne 1929). Streng genommen könnten Roma Wiedergutmachung auch für das schon während der Weimarer Republik an ihnen begangene Unrecht erhalten. Doch daran hat bisher noch niemand gedacht. Immerhin konnten Roma aufgrund eines Beschlusses des Bundestages vom 14. Dezember 1979 eine "Beihilfe" in Höhe von maximal 5.000 DM beantragen. 5 Die Antragsfrist liefjedoch am 31. Dezember 1982 aus. Verschiedene der wenigen überlebenden Sinti und Roma, denen man in den 1950er Jahren ihr Recht versagt hatte, waren inzwischen verstorben. Daher mutet es schon sehr zynisch an, wenn die Bundesregierung am 31. Oktober 1986 in einem abschließenden Bericht "über Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht sowie über die Lage der Sinti, Roma und verwandter Gruppen" behauptet, dass das Fehlurteil von 1956 "verhältnismäßig geringe praktische Auswirkungen" gehabt habe (Drucksache des Deutschen Bundestages 10/6287 vom 31. Oktober 1986: 34). Insgesamt kann man sichAmold Spittas (1979) Urteil nur 5
Dieser Beschluss wurde in Form einer so genannten Härteregelung am 26. August 1981 verwirklicht (vgl. Rose 1987: 59).
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anschließen, wonach man im Fall der Sinti und Roma "wider die Gutmachung" und nicht für eine wirkliche "Wiedergutmachung" entschieden hat. Daher könnten sie eigentlich auch "Wiedergutmachung für die Zeit nach 1945" fordern, wie dies der Liedermacher Wolf Biermann schon 1979 vorgeschlagen hat. Doch dazu wird es wohl kaum kommen - und Schuld daran tragen neben den deutschen Politikern und Juristen auch deutsche Historiker, die den Völkermord an den Roma marginalisiert und zugleich seinen rassistischen Charakter geleugnet haben, womit sie sich als Apologeten und willflihrige Vollstrecker der antiziganistischen Politik der Bundesrepublik erwiesen haben.
3. Wissenschaftlicher Antiziganismus An den gesamten, hier bewusst ausführlich geschilderten politischen und juristischen Auseinandersetzungen über die Frage der Wiedergutmachung an Sinti und Roma haben sich die deutschen Historiker kaum beteiligt. Dies überließen sie fachfremden, aber gleichwohl extrem antiziganistisch eingestellten Außenseitern wie dem Landauer Obermedizinalrat Hennann Amold, der verschiedene Bücher über die Geschichte der Sinti und Roma im Allgemeinen und den Völkermord im Besonderen geschrieben hat, in denen der rassistische Charakter dieses Völkermordes geleugnet und die Sinti und Roma als "Asoziale", "Bastarde", "Primitive", "Wildbeuter" etc. diffamiert wurden. 6 Gleichwohl oder vielleicht auch gerade deshalb erfreute sich Amold bei den mit der ,,zigeunerfrage" befassten Behörden eines mehr als guten Rufes. Er war ein gefragter Gutachter und prägte mit seinen extrem antiziganistischen Publikationen über die Sinti und Roma auch das Bild in den (west-)deutschen Schulbüchern und Lexika. Für die immer stärker expandierende NS-Forschung war der Völkermord an den Sinti und Roma dagegen kein Thema. In den Handbüchern und Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Dritten Reiches wurden die Sinti und Roma, wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande erwähnt (dies gilt unter anderem für Arbeiten, in denen der Verfolgung der Sinti und Roma kein einziges Kapitel beziehungsweise Unterkapitel gewidmet ist, zum Beispiel Bracher 1969; Broszat 1969; Hildebrand 1979; Thamer 1986; anders bei Wippermann 1998). Für diese Vernachlässigung waren zweifellos auch gewisse antiziganistische Vorurteile maßgebend. Hinzu kam jedoch, dass die Repräsentanten aller Hauptrichtungen der NS-Forschung 6
Sein Hauptwerk ,,Die Zigeuner. Herkunft und Leben im deutschen Sprachgebiet" (1965) erfreute sich einer großen Beliebtheit, wurde in allen Lexika zitiert und prägte auch die hier zu findenden Urteile beziehungsweise Vorurteile über die Roma (zuArnold vgl. auch Wippermann 1997: 197ff.; vgl. auch den etwas oberflächlichen und unkritischen Aufsatz von Hohmann 1995).
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Schwierigkeiten hatten und haben, den Völkermord an den Sinti und Roma zu erklären. Erwähnenswert ist allein ein kleiner, knapp zehn Seiten umfassender Aufsatz des Mitarbeiters des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Hans Buchheim, über die "Zigeunerdeportation vom Mai 1940" (Buchheim 1958). Es handelte sich um eine Auftragsarbeit, die von den Gerichten angefordert worden war, die sich damals mit der Frage beschäftigten, ob die Deportation der Sinti und Roma vom Mai 1940 rassistisch motiviert war oder nicht. Buchheim bejahte diese Frage in seinem viel zu knappen Gutachten zwar, beschränkte sich aber aufnur einige wenige Dokumente und machte sich insgesamt die Sache viel zu leicht. Insofern war es nicht völlig unbegründet, wenn die Gerichte, wie erwähnt, seinem Urteil nicht folgten. Hinzu kam, dass Buchheims knappe Expertise von einem Aufsatz des Juristen Hans-Joachim Döring widerlegt wurde, der ein Jahr später in den angesehenen Vierteljahresheftenfür Zeitgeschichte erschien (Döring 1959). Döring sprach sich hier sowie in seinem fünf Jahre später veröffentlichten Buch über "Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat" dafür aus, dass die Verfolgung der Sinti und Roma überwiegend nicht rassistisch, sondern ,,kriminalpräventiv" motiviert gewesen sei (ders. 1964). Dieser falschen These Dörings haben die deutschen Fachhistoriker nicht widersprochen und sie stattdessen stillschweigend akzeptiert. Damit unterschieden sie sich ganz wesentlich von einigen ausländischen Historikern, die seit den 1960er Jahren einige Studien vorlegten, in denen klar und eindeutig bewiesen wurde, dass die Verfolgung der Sinti und Roma sehr wohl rassistisch motiviert war. Zu nennen sind Jerzy Ficowski aus Polen, Selma Steinmetz und Erika Thumer aus Österreich, Bemard Sijes aus Holland, Miriam Novitch aus Israel und vor allem die Engländer Donald Kenrick und Grattan Puxon (vgl Ficowski 1953, 1965, 1992; Steinmetz 1966; Thumer 1983; Sijes et al. 1979; Novitch 1968; KenricklPuxon 1972). Doch auch diese durchaus verdienstvollen Pionierstudien wurden in Deutschland kaum rezipiert und, wenn überhaupt, erst sehr spät ins Deutsche übersetzt. Erst seit Beginn der 1970er Jahre und nachdem Repräsentanten der Roma selber in öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht hatten (vgl. dazu vor allem Rose 1987), änderte sich das Bild. Jetzt erschienen neben einigen populärwissenschaftlich gehaltenen Gesamtdarstellungen auch verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfolgung vornehmlich der deutschen Roma im lokalen und regionalen Bereich (zu Ersteren vgl Hohmann 1981; zu Letzteren Wippermann 1986; Hase-MihaliklKreuzkamp 1990; Fings/ Sparing 1992; Heuß 1995; Engbring-Romang 1996, 1997; Sandner 1998). Hinzu kamen einige Detailstudien zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Osteuropa, die jedoch mehr von ausländischen als deutschen Historikern verfasst
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worden waren (August 1988; Zarjaric 1989; Haismann 1988; Wippermann 1992). Damit wurden nicht nur die Faktenkenntnisse wesentlich erweitert, sondern auch die These begründet, dass die Verfolgung der Sinti und Roma generell und von Anfang an rassistisch motiviert gewesen war (nachhaltig und dezidiert beim Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma: Rose 1995; ebenso eindeutig für die Rassismusthese vgl. Reemtsma 1996), ja ein integraler Bestandteil der allgemeinen Rassenpolitik des nationalsozialistischen "Rassenstaates" gewesen ist (ausgesprochen dezidiert bei BurleighlWippennann 1991: 113ff.; ähnlich bereits bei Müller-Hi111984). Daher schlugen neben Repräsentanten der Roma selber, die dies schon immer behauptet hatten, auch einige in- und ausländische Forscher vor, den Völkermord an den Roma mit dem an den Juden zu vergleichen und die beiden gemeinsamen rassistisch motivierten Grundzüge herauszuarbeiten (hier ist vor allem auf die Forschungen der langjährigen Mitarbeiterin des Washington Holocaust Museum, Sybil Milton, hinzuweisen, vgl. dies. 1995). Der These, dass die Roma "wie die Juden" ebenfalls aus rassistischen Motiven ermordet worden sind, wurde jedoch auch widersprochen. In Deutschland kamen die ersten Angriffe gegen die Rassismusthese von einigen Gießener Ethnologen, Psychologen und Soziologen, die sich unter der Leitung des Theologen Reimar Gronemeyer zum "Gießener Projekt Tsiganologie" zusammengeschlossen hatten. Diese, wie sie sich selber nennen, "Tsiganologen" beschäftigten sich zunächst mit der gegenwärtigen Lage der deutschen Roma. Dabei übernahmen sie die auch von anderen Soziologen und Sozialarbeitern vertretene These, wonach es sich bei den Roma nicht um eine ethnische Minderheit, sondern um eine "soziale Randgruppe" handele, die sich gegen ihre Integration in die "uniforme Industriegesellschaft" wehre und stattdessen mit einem gewissen "Eigensinn" an ihrer "zigeunerischen Lebensweise" festhalte, um in ihrer "peripheren Subkultur" zu verbleiben (MünzellStreck 1981; Gronemeyer 1983; dazu und zur folgenden Kritik vgl. Wippermann 1997: 200ff.). All dies war zunächst keineswegs negativ gemeint. Denn offensichtlich hofften diese "Alt-68er", in den zu einer sozialen Randgruppe mit einem rebellischen "Eigensinn" stilisierten Sinti und Roma einen Ersatz für das Proletariat gefunden zu haben, welches für die Revolution nicht mehr infrage käme, weil es sich ganz dem "Konsumterror" ergeben habe. Diese revolutionären Wunschträume wurden jedoch von den Roma ganz und gar nicht geteilt. Stattdessen beharrten sie darauf, dass sie in Deutschland eine ethnische Minderheit und keine soziale Randgruppe darstellten, die sich zudem keineswegs aus "Eigensinn" gegen eine Integration wehre. Im Gegenteil! Ihre eigentlich schon lange vollzogene Akkulturation würde vielmehr von der notorisch antiziga-
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nistisch eingestellten Mehrheitsgesellschaft entweder nicht zur Kenntnis genommen oder bewusst verhindert. Die Gießener "Tsiganologen" reagierten ob dieses nicht erwarteten "Eigensinns" der Sinti und Roma mehr als verstört. Anstatt ihre eigenen Theorien zu revidieren, warfen sie den Sinti und Roma vor, weiterhin an ihrer "zigeunerischen Lebensweise" festzuhalten. Dies war erstens nicht wahr, weil heute wirklich fast alle in Deutschland lebenden Roma sesshaft geworden sind und über einen festen Wohnsitz verfugen, den sie allenfalls für gewerbliche oder Urlaubszwecke für kürzere oder auch längere Zeiten verlassen. Außerdem wird mit der Konstruktion einer spezifischen ,,zigeunerischen Lebensweise" bestimmtes soziales, genauer gesagt "asoziales" Verhalten einer gesamten Volksgruppe zugeschrieben und damit ethnisiert. Dies kommt bereits einer rassistischen Denkweise ziemlich nahe. Während die Gießener "Tsiganologen" einmal deutlich machten, dass sie selber noch in gewissen Vorurteilen eines rassistischen Antiziganismus befangen waren, stritten sie andererseits die rassistische Motivation der nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma mehr oder minder entschieden ab. Dabei tat sich vor allem Bernhard Streck besonders hervor, der seine bisherigen durchaus richtigen Ansichten revidierte 7 und nun die These vertrat, dass die Nationalsozialisten "nur" eine sozialpolitische Lösung des "Zigeunerproblems" angestrebt hätten, wobei es ihnen mehr auf eine "Beseitigung von Missständen, weniger von Personen" angekommen sei (Streck 1981). Damit hatte Streck de facto die revisionistischen Thesen eines Arnold übernommen. Dazu muss man wissen, dass die These, der Völkermord an den Roma sei rassistisch motiviert und schon deshalb mit dem Holocaust zu vergleichen, bei einigen, aber wie schon erwähnt keineswegs allen jüdischen und israelischen Historikern auf Kritik gestoßen ist (neben Milton votierte auch Henry R. Huttenbach für die Vergleichbarkeit des Holocausts mit dem Völkermord an den Roma, vgl. ders. 1991; vehement dagegen Berenbaum 1990). Vorgetragen wurde sie unter anderem von dem Nobelpreisträger Elie Wiesel und dem sehr angesehenen israelischen Holocaust-Forscher Yehuda Bauer. 8 Anlass war die Frage, ob im Washington Holocaust Museum auch das Schicksal der Sinti und Roma erwähnt werden sollte, was von Wiesel, Bauer und anderen jüdischen und israelischen Historikern mit dem Argument zurückgewiesen wurde, der Mord an den Juden sei absolut einzigartig gewesen. Dagegen opponierte der Vorsitzende der amerikanischen Sinti und Roma, !an Hancock, der dabei auch von einigen an7 8
In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1979 hatte Streck noch die richtige These vertreten, dass die nationalsozialistische ,,zigeunerpolitik" rassistisch motiviert gewesen ist (vgl. Streck 1979). Bauer hat seine ablehnende Stellungnahme vor allem in einem Artikel in der ,,Enzyklopädie des Holocaust" zum Ausdruck gebracht. Dies trug ihm die überaus scharfe Kritik von Romani Rose ein (vgl. Gutrnan 1995).
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deren amerikanischen Historikern nicht-jüdischer und jüdischer Herkunft unterstützt wurde (vgl. seine mit scharfen Angriffen gegen Wiesel und andere jüdische Repräsentanten gespickte Streitschrift, ders. 1987).9 Seine Intervention war erfolgreich; im Washington Holocaust Museum wird auch der Völkermord an den Sinti und Rorna erwähnt, ja als Teil des allgemeinen Holocausts dargestellt. lO
4. Vom Antiziganismus zum vergessenen Krieg Diese pragmatische und gewissermaßen "typisch amerikanische" Lösung hätte für Deutschland eine Vorbildfunktion haben können, wo man seit Ende der 1980er Jahre darüber diskutierte, zwar kein Holocaust-Museum, wohl aber ein HolocaustMahnmal zu errichten, das jedoch ausschließlich an das Schicksal der Juden erinnern sollte. Wie nicht anders zu erwarten war, stieß dies auf die Kritik der Roma und auch der Repräsentanten der anderen Opfer und Opferverbände. Dies konnte und sollte der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben. Während einige vor einer Hierarchisierung der Opfer im Allgemeinen, der Marginalisierung des Schicksals der Rorna im Besonderen warnten, spitzten die anderen die These von der absoluten Singularität des Judenmordes beziehungsweise der "Endlösung der Judenfrage" zu. Dieser Denkrna1sstreit war noch nicht zu Ende, als Michael Zimmermann seine Habilitationsschrift über "Die nationalsozialistische ,Lösung der Zigeunerfrage'" veröffentlichte (Zimmermann 1996). Dieses Buch wurde und wird bis heute als das Standardwerk über den Völkermord an den Roma angesehen. Zimmermann hatte sich bereits durch die Veröffentlichung eines kleinen Buches und verschiedener Aufsätze über die Verfolgung der deutschen Sinti und Roma ausgewiesen (ders. 1989). Sie basierten auf sehr intensiven Studien in deutschen Archiven. Darauf konnte er auch bei seiner Habilitationsschrift zurückgreifen. In dem Kapitel über die ,,zigeunerverfolgung im ,Großdeutschen Reich' 1939-1943" hat er alle wesentlichen Quellenbestände in deutschen Archiven erfasst. Sehr gut gelungen ist ihm auch die Schilderung der schrecklichen Verhältnisse im ,,zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau. Doch weitaus schwächer und insgesamt auch viel zu knapp ist seine Darstellung der Verfolgung der Rorna in West- und vor allem in Osteuropa - und dies aus mehreren Gründen: einmal, weil er sich auf "das deutsch besetzte Europa" beschränkt, wobei die Tatsache völlig aus dem Blick gerät, dass auch die mit Hitler-Deutschland verbündeten oder von 9
Hancock ist kein Historiker, sondern Professor fiir englische Literatur an der Universität von Texas in Austin. 101m amerikanischen Sprachgebrauch wird unter ,,Holocaust" inzwischen keineswegs nur der Mord an den Juden, sondern der nationalsozialistische Rassenmord generell verstanden.
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ihm abhängigen Staaten Roma verfolgt und ermordet haben, und zwar teilweise, ohne dass sie dazu von Deutschland in irgendeiner Weise gezwungen wurden oder gezwungen werden konnten. Während die Verfolgung der polnischen, serbischen und sowjetischen Sinti und Roma nur äußerst knapp geschildert wird, kommt die in den übrigen osteuropäischen Ländern überhaupt nicht vor. Dennoch hat Zimmermann sich nicht gescheut, eine Gesamtzahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma anzugeben, die mit 80.000 weit unter der bisher geschätzten von 500.000 liegt (ders. 1996: 38l).1l Nun handelte es sich dabei in der Tat um eine Schätzung, die bisher auch wiederholt von rechtsradikaler Seite aus mit der Absicht in Zweifel gezogen worden ist, die gesamte Geschichte des nationalsozialistischen Rassenmordes infrage zu stellen. Zimmermann hätte dies wissen müssen. Dass er sich dennoch dazu bereit gefunden hat, die mit Sicherheit viel zu niedrige Zahl von 80.000 anzugeben, ist schon deshalb unverzeihlich. Noch fragwürdiger ist seine Begründung. Meinte er doch allen Ernstes, seine Angabe stimme, weil er in seinen Akten nicht mehr gefunden habe. Auch sonst ist ihm ein ziemlich unkritischer Umgang mit den, wie gesagt, fast ausschließlich deutschen Quellen vorzuwerfen. So überschätzte er bei weitem die, wie in anderen Bereichen der nationalsozialistischen Politik auch hier vorkommenden, Kompetenzstreitigkeiten, um schließlich daraus den Schluss zu ziehen, dass die Verfolgung und Vernichtung der Roma keineswegs planmäßig, ja noch nicht einmal intendiert erfolgte, sondern eine improvisierte "Synthese" der bisherigen Möglichkeiten zur "Lösung der Zigeunerfrage" dargestellt habe. Während Zimmermann die improvisierten Momente in der nationalsozialistischen "Zigeunerpolitik" überschätzte, stufte er die rassistischen auffallend gering ein, ja behauptete, dass auch die angeblichen "asozialen" Eigenschaften vor allem der ,,zigeunermischlinge" mitursächlich für die Verfolgung der deutschen Roma gewesen seien (ebd.: 372). Diese "vorgeblich ,asozialen Zigeunermischlinge'" seien in Deutschland auch primär der Verfolgung ausgesetzt gewesen, während "in den okkupierten Territorien des Ostens (...) das Leben der wandernden Zigeuner (...) stärker bedroht als das der sesshaften Roma und Sinti" gewesen sei (ebd.). Auch dies ist falsch. Zwar hat es, was die sowjetischen Roma angeht, einige widersprüchliche Befehle gegeben, doch letztlich wurden hier sowie vor allem auch in Serbien alle Roma ermordet, derer die Einsatzgruppen, die Polizeibataillone und die Sicherungsdivisionen der Wehrmacht habhaft wurden (vgl. dazu jetzt Holler 2009). Doch verschiedene Roma haben sich der Vernichtung durch Flucht, 11
Zimmermann beschränkte sich auf die Angabe von einzelnen Zahlen zu den einzelnen Ländern, die jedoch zusammen addiert 80.000 ausmachen. Die in der sonstigen Literatur angegebenen Zahlen tat er als "Schätzungen" ab, während er selber von einer Gesamtzahl sprach, die sich allerdings "nicht präzise bestimmen" lasse.
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Untertauchen und andere Formen des Widerstandes entzogen. Dabei zeigten sie eine weit größere Geschicklichkeit und Widersetzlichkeit als die Juden. Was die von Zimmermann behauptete Differenzierung zwischen den "reinrassigen" deutschen Roma und den so genannten "Zigeunermischlingen" anbetrifft, so ist oben bereits daraufhingewiesen worden, dass sie letztlich bedeutungslos war, weil auch ,,reinrassige Zigeuner" nach Osten deportiert und eben nicht in das von Himmler temporär geplante "Zigeunerreservat" gesteckt wurden. Daher wurden die "Zigeunermischlinge" nicht primär, sondern viel radikaler verfolgt als etwa die "Judenmischlinge", da sie nach der Ansicht der ,,zigeunerforscher" und ,,-politiker" nicht nur "minderwertiges zigeunerisches", sondern noch zusätzlich vererbbares "asoziales und kriminelles Blut" in sich trügen. ,,zigeunermischlinge" waren also von einem doppelten, nämlich sowohl anthropologisch wie biologisch begründeten Rassismus betroffen, was dazu führte, dass selbst ,,Achtelzigeuner" nach Auschwitz deportiert wurden. Dennoch behauptete Zimmermann, dass es "neben grundlegenden Gemeinsamkeiten erhebliche Differenzen" zwischen der Verfolgung und Ermordung der Juden und der Sinti und Roma gegeben habe (Zimmermann 1996: 373). Diese Differenzen wollte er sowohl im ideologischen wie politischen Bereich wahrnehmen. Roma hätten in dem ,,rassisch gestuften Feindbild" der Einsatzgruppen und anderer deutscher Täter weit hinter den Juden gestanden, weshalb die Rorna für "die Mörder (...) nicht als Kategorie von Menschen" gegolten hätten, "die mit erster Priorität aufzuspüren und zu erschießen seien" (ebd.: 371). Ich halte diese Differenzierung, auch wenn sie zutreffend sein sollte, was sie aber keineswegs ist, gelinde gesagt für zynisch. Zimmermanns Thesen sind von dem amerikanischen Historiker Guenter Lewy übernommen und noch weiter radikalisiert worden (Lewy 2000). Lewy, der mit einem, allerdings schon vor fast 40 Jahren veröffentlichten Buch über "Die katholische Kirche und das Dritte Reich" bekannt geworden ist, ist weder Experte der Geschichte des Holocausts noch der Roma. In der entsprechenden Forschung ist sein Name von niemandem und nirgendwo erwähnt worden. Sein Buch über die Verfolgung der Roma basiert im Wesentlichen auf der englischen (oder ins Englische übersetzten) und deutschen Literatur, und zwar vor allem auf dem Buch von Zimmermann. Werke in anderen, vor allem osteuropäischen Sprachen werden nicht erwähnt. Seine Archivstudien in einigen deutschen und österreichischen Archiven erfolgten zudem "mit spitzen Fingern" und förderten im Wesentlichen nur solche Quellen zutage, die in der bisherigen Literatur bereits erwähnt und erfasst worden sind. Was die Fakten angeht, geht Lewy nicht über Zimmermann hinaus, wohl aber im Hinblick auf seine Thesen: Sie sind noch radikaler als die Zimmermanns, und dies in mehrfacher Hinsicht: Erstens bezweifelt Lewy, dass es einen
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"allgemeinen" und rassistisch motivierten Plan zur, ich zitiere noch einmal aus dem Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938, "endgültigen Lösung der Zigeunerfrage (...) aus dem Wesen dieser Rasse heraus" gegeben habe. Darüber hinaus meint Lewy zweitens, dass die Nationalsozialisten im Osten zwischen sesshaften und nicht-sesshaften "Zigeunern" und in Deutschland zwischen ,,reinrassigen" und ,,zigeunermischlingen" unterschieden hätten, wobei entweder die einen oder die anderen von der Vernichtung ausgenommen worden seien. Daher hält er drittens die geschätzte Zahl von 500.000 ermordeten Sinti und Roma für viel zu hoch, wobei er sich noch zu der Vermutung hinreißen lässt, dass "vielleicht die Mehrheit" der deutschen Rorna überlebt habe, ja gar nicht nach Osten deportiert worden sei. Deshalb, weil keineswegs alle Sinti und Rorna im deutschen Machtbereich ermordet worden seien, hält Lewy viertens den Vergleich zwischen dem Völkermord an den Rorna und dem Holocaust geradezu für absurd. Dies auch deshalb, weil, so Lewys fünftes Gegenargument, die Rorna keineswegs ausschließlich aus rassistischen Gründen ermordet worden seien. Warum dann? Hier verweist Lewy einmal auf die angeblichen "asozialen" Eigenschaften der Rorna, die außerdem noch verdächtigt worden seien, die Ausbreitung von Krankheiten wie Typhus zu fördern. Daher und um Platz für die Juden in den Ghettos und Lagern zu schaffen, seien auch Roma ermordet worden. Doch dieser Mord sei, so Lewys sechstes und nun wirklich skandalöses "Argument", nicht als Genozid zu bezeichnen. Alle Thesen sind falsch! Dennoch waren sie wirkungsvolL In Deutschland scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass die Rorna nicht beziehungsweise nicht so "wie die Juden" aus "rassischen" Gründen verfolgt worden sind. Der Rassenkrieg gegen die Rorna scheint zu einem vergessenen Krieg geworden zu sein.
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v Ein neuer Faschismusbegriff!
Faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft Sieben Thesen Axel Schildt
Faschismustheoretische Ansätze als politik-und sozialwissenschaftliche Angebote an die Geschichtswissenschaft und speziell die Zeitgeschichtsforschung werden von deutschen Historikern nur zögerlich aufgegriffen. hn so genannten Historikerstreit um den Nationalsozialismus Mitte der I 980er Jahre etwa spielte der Begriff des Faschismus bei den Kontrahenten explizit keine nennenswerte Rolle, die betonte Singularität des Holocausts schloss ihn geradezu aus. Ansonsten nehmen faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft gegenwärtig eine immerhin mehrheitlich tolerierte, wenn auch randständige Rolle ein. Die Glut der Lava darum geführter Schlachten ist aber seit langem erkaltet. Gleichwohl ist es nicht unwichtig, die Geschichte dieser Kämpfe zu kennen, schon weil ansonsten die Gefahr bestünde, die historischen Implikationen des Faschismusbegriffs, aber auch des Begriffs Antifaschismus 1, und seine Funktion in gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen zu verkennen. Diese wiederum verweisen vor allem auf den Kalten Krieg als politisch-kulturellen Hintergrund, in Zeiten, als staatspädagogische Tugendwächter bis in den Bereich der Fachwissenschaft hinein regelmäßig linke Gesinnung oder gar eine Affinität zur marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR vermuteten, wenn von Faschismus und nicht - auf Deutschland bezogen - von Nationalsozialismus oder von Totalitarismus hinsichtlich des Vergleichs der "beiden deutschen Diktaturen" die Rede war. 2 Die wesentlichen Aspekte dieser wissenschaftsgeschichtlichen und zugleich geschichtspolitischen Auseinandersetzungen möchte ich in sieben thesenartigen Punkten skizzieren.
2
Anders als der BegriffFaschismus hat der BegriffAntifaschismus zwar zu keinem Zeitpunkt eine Rolle als analytische Kategorie gespielt, aber er steht als politisch-moralische Kennzeichnung im Hintergrund der Debatten; dies ließe sich etwa an der Hausse schlicht delegitimierender oder verteidigender, aber auch kritisch analysierender Literatur nach dem Zusammenbruch der DDR aufzeigen (vgL Ammon 1990; Grunenberg 1993; Keller 1996; Deppe et aL 1996; zuletzt Classen 2009). Dies ist in der Bundesrepublik durch einen Erlass der Kultusministerkonferenz fllr den Schulunterricht 1962 verbindlich gemacht worden (vgL Knütter 1988).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Axel Schildt
1. Sieben Thesen Erstens: Die zeitgeschichtliche Forschung war in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren vor allem außerhalb der universitären Fachbereiche angesiedelt. An erster Stelle ist das Institut für Zeitgeschichte in München mit seiner Zeitschrift Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte zu nennen, das ungeachtet einiger problematischer Episoden nicht geringe Verdienste in der frühen Forschung über das Dritte Reich und seine Vorgeschichten aufzuweisen hat (zur Vor- und Frühgeschichte des HZ vgl. Schulze 1989: 228 ff.; Ecke12005: 357 ff.; Möller 2009: 21ff.; zur Einordnung in den erbitterten zeitgenössischen Richtungsstreit zwischen katholisch-abendländischen und nationalkonservativ-protestantischen Historikern vgl. Schildt 2008). Allerdings vollzog sich diese im Duktus eines nachgerade ostentativ theoriefeindlichen Empirismus, hierin dem vorherrschenden Historismus der Zunft nicht unähnlich, von deren nationalkonservativer Mehrheit die Zeitgeschichte wiederum als von den Alliierten gesteuerte "Umerziehungswissenschaft" beargwöhnt wurde. Zum Ausdruck kam diese Theoriefeindschaft etwa in der verhaltenen Aufnahme von Karl Dietrich Brachers epochalem Werk über die ,,Auflösung der Weimarer Republik" (1997 [1955]), dem man empirische Dichte kaum wird absprechen können. Dennoch wurde es von vielen Historikern kritisiert, weil es zu viele politikwissenschaftliche Gedanken enthielte, und Bracher gelangte nie auf einen geschichtswissenschaftlichen Lehrstuhl (vgl. Quadbeck 2008). Die Theoriefeindschaft vieler Zeithistoriker war keineswegs ideologiefrei. Im Hintergrund des begriffslosen Empirismus standen vielmehr häufig vage Grundannahmen konservativ-christlicher Geschichtsmetaphysik und negativer Anthropologie, die im semantischen Umbau nach 1945 den weltanschaulichen Komfortbedürfuissen bildungsbürgerlicher Schichten entsprachen (vgl. BollenbecklKnobloch 2001). Vorstellungen einer Säkularisierung als Erklärung des seelischen Vakuums, des geistigen Nihilismus, der von Dämonen wie Hitler - und Stalin - habe ausgenutzt werden können, psychohistorische Ansätze über die Verfiihrbarkeit der Massen durch einen charismatischen Führer und die Weltwirtschaftskrise als Generator des Irrationalismus dominierten die so genannte Schulddebatte der unmittelbaren Nachkriegszeit (vgl. hierzu die sprachwissenschaftliche Habilitationsschrift von Kämper 2005) und prägten die Vorstellungswelt auch der meisten westdeutschen Fachhistoriker, ohne dass diese Vorannahmen intensiv reflektiert worden wären. Dem stand in der DDR eine Geschichtswissenschaft gegenüber, die auf eine Faschismustheorie der primitivsten Sorte dogmatisch verpflichtet wurde, die so genannte Dimitroff-Doktrin, also die aufdem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 festgelegte Formel vom Faschismus als bloßem Agenten, als "offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen
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und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" (Dimitroff 1974 [1935]: 322). Alle in der Zwischenkriegszeit bereits vorhandenen Ansätze und Anregungen von Theoretikern, die den Zusammenhang von politischer Herrschaftsform und gesellschaftlichen kapitalistischen Strukturen berücksichtigten, aber eine (wie auch immer relative) Eigenständigkeit der faschistischen Bewegung betonten, etwa in den Bonapartismus-Theorien Heinrich Brandlers und August Thalheimers oder Leo Trotzkis, oder den Machtkampfverschiedener staatlicher und parteilicher Instanzen in faschistischen Regimes beschrieben, von Antonio Gramsci bis Franz Neumann und Ernst Fraenkel, fielen aus der recht geistlosen interpretativen Konfrontation im Kalten Krieg weitgehend heraus. Dies ändert übrigens nichts daran, dass es aufbeiden Seiten der Grenze durchaus empirisch interessante Studien zu einzelnen Phänomenen des Dritten Reiches und der NS-Bewegung gab (diese Feststellung ließe sich unschwer belegen durch eine Suche in der einschlägigen Bestandsaufnahme von Ruck 2000).
Zweitens: Der erste öffentlichkeitswirksame Einbruch in das Tabu, im Westen Deutschlands mit dem BegriffFaschismus zu operieren, erfolgte mit dem berühmt gewordenen Buch von Ernst Nolte "Der Faschismus in seiner Epoche" von 1963, das bereits zwei Jahre später eine zweite Auflage erlebte. Es ist kein Zufall, dass gerade in der Morgendämmerung einer Liberalisierung der politischen Kultur der Bundesrepublik in den so genannten langen 1960er Jahren diese Veröffentlichung Furore machen konnte (vgl. Doering-ManteuffeI2003). Das wichtigste an diesem Buch, das wahrscheinlich weniger gelesen als zitiert wurde, ist der programmatische Titel. Eher linke Stimmen sahen vor allem die Legitimierung des Begriffs, den Nolte allerdings zum einen epochal auf die Zwischenkriegszeit eingrenzte und zum anderen rein geistesgeschichtlich ("phänomenologisch") verstand. Es ging um den Aufstieg der Massenbewegungen der Action franc;:aise, des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus - mit interessanten Rückblicken auf die Jahrhundertwende. Weniger als zehn Prozent des 600-Seiten-Werks galten dem Faschismus und Nationalsozialismus an der Macht; vielmehr ging es um Wesensgleichheiten der Bewegungen - übrigens schon mit der These vom Faschismus als bürgerlicher Reaktion auf den Bolschewismus (Nolte 1994 [1963], 1984 [1966]).3 Ein Verdienst von Nolte lag auch in der Herausgabe einer jenen gelben Bände der "Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek Geschichte" im Verlag 3
Gegenüber der Eingrenzung aufdie Zwischenkriegszeit profiliert der israelische Historiker Zeev Sternhell nachdrücklich die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als entscheidend fiir die Genese des Faschismus (vgl. Sternhell et al. 1999; vgl. auch die treffende Kritik, den Faschismusbegriff allein auf die Bewegungsphase auszurichten und die Kennzeichnung als Partei zu ignorieren, von Breuer 2005: 39 ff.).
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Kiepenheuer und Witsch, eine wichtige Theoriequelle für die zeitgenössischen Historiker. Der Band, 1967 erschienen und 1971 in der vierten Auflage veröffentlicht, hieß "Theorien über den Faschismus" (ders. 1984 [1967]). Die abgedruckten Beiträge reichten von Musso1ini bis C1ara Zetkin, von Benedetto Croce bis Ernst Bloch, von Joseph Goebbe1s bis Paul Sering - mithin also Beiträge zur Anregung für Historiker, nicht aber Vorgaben zur "Übernahme" sozia1- oder politikwissenschaftlicher Modelle. Nolte schrieb rückblickend unmissverständlich, dass er keineswegs eine "autonome Faschismustheorie" habe entwickeln wollen; ihm sei es vielmehr darum gegangen, die Totalitarismustheorie "differenzieren, historisieren und bis zu einem gewissen Punkt entemotionalisieren, aber keineswegs überwinden" zu wollen (ders. 1980: 30). Es gebe eben Zeiten, in denen - wie in den 1960er Jahren - die Differenz von Faschismus und Totalitarismus, und andere - wie Ende der 1970er Jahre -, in denen der Faschismus als Teil des umfassenderen Totalitarismus herauszustellen sei (ebd.: 53). Die Entwicklung von Ernst Nolte erhellt übrigens eine beiläufige adjektivische Veränderung in der politischen Kennzeichnung des Nationalsozialismus: Galt dieser Nolte hinsichtlich der Programmatik Mitte der 1960er Jahre als "radikalisierter Konservativismus", wurde daraus ein Jahrzehnt später ein ,,radikalisierter Faschismus" (ders. 1964: 5; ders. 1980: 77). Allerdings spielte in den klassischen Veröffentlichungen des RechtskonservativenArmin Mohler und des liberalen Kurt Sontheimer über die intellektuelle Rechte in der Weimarer Republik, die sich ,,revolutionär-konservativ" gerierte, die Faschismusbegriffiichkeit kaum eine Rolle (Mohier 2005 [1950]; Sontheimer 1993 [1962]; vgl. allerdings aus dem Bereich der politikwissenschaftlichen Zeitgeschichtsforschung Fritzsche 1977; Saage 1997; vgl. als Überblick über die Geschichte des Konservatismus Schildt 1998).
Drittens: Die Studentenbewegung der 1960er Jahre war begleitet von der Wiederentdeckung und von einem enormen Boom an undogmatisch-marxistischer Literatur der Zwischenkriegszeit - von Walter Benjamin bis zu Ernst Bloch -, in der mit dem Faschismusbegriff gearbeitet wurde, allerdings bezogen sich diese Veröffentlichungen in der Regel auf die Aufstiegsphase zur Macht (vgl. von Saldern 2004). Insofern ist der von Historikern mitunter erhobene Vorwurfobsolet, die Faschismustheorien der 68er hätten wegen ihrer Abstraktheit eher zur Derealisierung des Nationalsozialismus geführt. Denn auch in der etablierten Geschichtswissenschaft lag keine eingehende Analyse des NS-Regimes an der Macht vor und was nicht vorlag, konnte auch nicht derealisiert werden. Jedenfalls war zu keinem Zeitpunkt die Bereitschaft in Teilen der westdeutschen Historikerzunft, den Faschismusbegriffund Faschismustheorien offen zu diskutieren - einschließlich des Ver-
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hältnisses von Kapitalismus und Faschismus und bis zur Frage der Anwendung des Begriffs auf die Zeit nach 1945 -, größer als Ende der 1960er Jahre (vgL dazu insbesondere Schieder 1968). Hinzuweisen ist auch darauf, dass viele derjenigen, die von 1968 und den Folgen politisch erfasst worden waren, daraus Impulse fiir die eigenen späteren Arbeiten als Historiker beziehen konnten (vgL erste prosopographische Studien, vor allem Stambolis 2010).
Viertens: In den frühen 1970er Jahren gab es eine enorme Attraktion von Faschismustheorien in der jungen akademischen Intelligenz. Als Beispiel kann auf die Breitenwirksamkeit der Publikationen des Marburger Zeithistorikers und Politikwissenschaftlers Reinhard Kühn! hingewiesen werden. Sein Buch "Formen bürgerlicher Herrschaft", erschienen bei Rowohlt, wurde fast 200.000 Mal verkauft; er war in den 1970er Jahren publizistisch auch mit weiteren Büchern im selben Verlag, alle als rororo-aktuell-Bände, präsent, während er zugleich in explizit linken Verlagen veröffentlichte (KühnlI971: 130; ders. 1980 [1974],2000 [1975], 1979, 1998 [1983]). Kühnl war ein Vertreter der so genannten bündnistheoretischen Ansätze; er sprach in seinem erstgenannten Buch vom ,,Bündnis zwischen faschistischer Partei und Oberklassen". Damit widersprach er zum einen der DDRFaschismustheorie, die den Faschismus als Marionette des Monopolkapitals ansah, zum anderen zeigte er damit sein herrschaftskritisches Erkenntnisinteresse hinsichtlich der Bundesrepublik.4 Die etablierte westdeutsche Geschichtswissenschaft wiederum versuchte in den 1970er Jahren, die Faschismusbegriffiichkeit - unter Ausgrenzung marxistischer Interpretationen - begriffiich zu vereinnahmen und in ein Verhältnis zur Totalitarismus-Doktrin zu setzen; hier herrschte in der Bundesrepublik - staatsoffiziös durch Erlasse etwa fiir den Schulunterricht vorgegeben (siehe oben) - die einfachste und gänzlich unhistorische Form der Gleichsetzung von kommunistischer Diktatur und NS-Regime in der kanonischen Version von earl Joachim Friedrich und Zbigniew K. Brzezinski vor, die wissenschaftlich wertlos, aber volkspädagogisch angebracht schien (vgl. als zeitgenössische Kritik Greiffenhagen et al. 1972). HannahArendtmit ihren Untersuchungen, bei denen es stets um Tendenzen, nicht um Statisches ging, und die, wie Hans Mommsen (1980: 19) schrieb, "den Faschismustheorien sehr nahe kommt", spielte dagegen eine nur geringe Rolle in 4
Vor allem der erste Band zur Faschismusdiskussion weist sich mit der Aufnahme unterschiedlicher klassischer Texte (August Thalheimer, Wilhelm Reich, Georgi Dimitrofl) und eines breiteren Spektrums zeitgenössischer Diskussionsbeiträge (Johannes Agnoli, Wilhelm AUT, Manfred Clemens, Eike Hennig, Klaus Horn, Gerd Schäfer, Reinhard Opitz) als linkspluralistisch, aber keineswegs der DDR-Geschichtswissenschaft folgend aus (eine explizite und sehr ausfllhrliche Kritik am Ökonomismus der marxistisch-leninistischen Historiker folgte in ders. 1979: 213ff.).
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der Diskussion der Historiker. Für die Bemühungen um die Abwehr des Faschismusbegriffs steht etwa ein schmales Aufsatzbändchen von Karl Dietrich Bracher, in dem die "modisch gewordene Ablehnung der westlich-liberalen Totalitarismustheorie" beklagt wurde (Bracher 1976: 17; vgl. Schlangen 1976). Höhe- und Endpunkt der Selbstverständigungsphase der zeithistorischen Zunft war ein Kolloquium im Münchner Institut für Zeitgeschichte Ende 1978 mit dem Titel "Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse". Die Dokumentation dazu erschien 1980. Referate hielten neben Karl Dietrich Bracher und Ernst Nolte unter anderen Hans Mommsen, Jürgen Kocka, Martin Broszat und Wolfgang Schieder. Das Ergebnis des in der Diskussion dort erreichten Kompromisses war, dass beide Begriffe, Totalitarismus und Faschismus, nicht als unvereinbar gelten sollten, wobei Jürgen Kocka - sozusagen für die progressive Fraktion - die "wissenschaftliche und politische Überlegenheit eines sorgsam definierten Faschismusbegriffs" postulierte, weil dieser "eher in der Lage [sei], wichtige Elemente des Totalitarismusbegriffs in sich aufzunehmen als umgekehrt". Der Totalitarismusbegriff, sinnvoll definiert, betone am Nationalsozialismus dessen diktatorische Negation liberaldemokratischer Verfassungsprinzipien, bestimmte Eigenarten des Herrschaftssystems hinsichtlich der ideologischen Mobilisierung durch extremen Nationalismus usw.; eben jene Punkte, bei denen Gemeinsamkeiten mit dem Stalinismus bestehen würden, rückten damit aber Regimes zusammen, deren soziale Grundlagen, Funktionen und politische Zielsetzungen sehr unterschiedlich gewesen seien. Ein elaborierter Faschismusbegriff gehe insofern weiter, als er die sozialgeschichtlichen Bedingungen, Inhalte und Funktionen, vor allem die Bedingtheit durch Krisenerscheinungen kapitalistischbürgerlicher Systeme seit dem Ersten Weltkrieg, die mittelständische Basis, die Koalition mit sich bedroht fühlenden Eliten, die antisozialistische und antikommunistische Stoßrichtung analysieren lasse. Kocka führte dann noch ein weiteres Argument für die Überlegenheit des Faschismusbegriffs an, nämlich dass er den ,,historisch variablen Zusammenhang zwischen bürgerlich-kapitalistischen Systemen und dem Faschismus zum zentralen Thema [mache], ohne doch ihre Identität zu behaupten" (Kocka 1980: 39-45). Das ist insofern interessant, als hiermit durchaus die Position von Kühnl bestätigt wurde, der von "Formen" (im Plural) "bürgerlicher Herrschaft" gesprochen hatte und dem mit wachsendem Abstand in schärferem Ton eben deshalb eine geradezu verfassungsfeindliche Stigmatisierung parlamentarischer Demokratie vorgeworfen wurde, weil sie nur als eine Form bürgerlicher Herrschaft in die Nähe der anderen Form gerückt werde. Interessant ist allerdings, dass im Debattenbeitrag von Kocka 1978 (ein Jahr vor der Holocaust-
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Serie im Fernsehen) der Antisemitismus und die Judenpolitik als entscheidendes Spezifikum des deutschen Nationalsozialismus nicht vorkamen. Fünftens: Als fruchtbar erwies sich die Position von Wolfgang Schieder, der den Faschismusbegriffals sinnvoll und heuristisch wertvoll bezeichnete unter der Bedingung, dass es sich um einen komparatistischen Begriffhandeln müsse. Von Faschismus nur mit Blick auf den Nationalsozialismus zu sprechen, mache keinen Sinn. Schieder unterschied Germano- und Italofaschismus als "im Kern politische Sammlungsbewegungen ohne feste soziale Basis", die im "gegenrevolutionären Bündnis mit den traditionellen Machteliten" an die Macht gekommen seien. Ein Vergleich von Italien und Deutschland ließe sich mit totalitarismustheoretischen Ansätzen nicht durchführen, weil beide Regimes keine monolithische Machtstruktur besessen und sich zudem noch darin unterschieden hätten, dass Mussolini Mittler zwischen der faschistischen Bewegung und starken bürgerlich-industriellen, militärischen, monarchischen und kirchlichen Kräften blieb, das Regime also kaum totalitäre Züge aufwies, während man dies für Deutschland durchaus behaupten könne (Schieder 1980: 48). Wolfgang Schieder hat in seinen über vier Jahrzehnte reichenden Forschungen diesen Punkt immer wieder betont (vgl. ders. 2008). In europäischer Perspektive unterschied Schieder drei Arten von Faschismus: In Ländern wie Großbritannien und Frankreich habe er nur eine Bewegungsphase aufzuweisen, in anderen wie zum Beispiel Spanien oder Rumänien habe er durchaus die Macht (mit) ergriffen, sei dann aber in nicht primär faschistischen autoritären Regimes aufgegangen. Nur in Deutschland und Italien - mit den erwähnten Unterschieden - sei der Faschismus an die Macht gelangt. Die Ursachen dafür seien in historischen Belastungsfaktoren zu suchen, der krisenha:ften Gleichzeitigkeit von Nationsbildung, Verfassungsbildung und industrieller Revolutionund, so wäre zu ergänzen, der daraus erwachsenen Konstellationen des verlorenen Ersten Weltkriegs (Hinweise zum Werk von Schieder in Dipper et al. 2000; vgl. für die europäische Perspektive auch Bauerkämper 2006).5 In der Bundesrepublik entwickelte sich seit den 1980er Jahren eine breite Forschung im Sinne des komparatistischen Faschismusbegriffs Wolfgang Schieders. 6 Während diese begriffliche Rehabilitierung in Deutschland eine zwar mittlerweile anerkannte, aber gleichwohl minoritäre Strömung darstellt, hat der Diskurs über den Faschismus 5
6
Es fällt auf, dass auch in der anglophonen Debatte die Einbeziehung der Zeit nach 1945 nur unter dem Blickwinkel des Faschismus als residualer Größe erfolgt, ersichtlich bereits im Titel von Stanley G. Paynes (2001) "Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung". Zu erwähnen sind unter anderen Christoph Dipper, Rainer Hudemann, Jens Petersen, Alexander Nützenadel, Sabine Behrenbeck, Sven Reichardt und Petra Terhoeven.
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in Großbritannien, in den USA, in Skandinavien, in Israel eine breitere Linie des Nachdenkens gezogen, weil dort nicht die spezifischen politischen Begrenzungen des Kalten Krieges vorhanden waren wie in Deutschland; allerdings stehen dort häufig eher die ideengeschichtlichen und kulturellen sowie ästhetischen Kontexte, eingebettet in Theorien der Modeme, im Mittelpunkt, während sozialgeschichtliche Komponenten eher vage aufscheinen (vgl. vor allem die intensiv diskutierten Veröffentlichungen zu einer "generischen" Faschismustheorie von Griffin 1991, 2007; zuletzt Griffin et al. 2006; vgl. auch Iordachi 2009; vgl. zur internationalen Diskussion Reichardt 2007).
Sechstens: Die gesamte Auseinandersetzung um den Faschismusbegriffin Deutschland ist, so wurde eingangs argumentiert, nicht ohne die Rahmenbedingungen politischer Kultur zu verstehen. Wenn - am schärfsten Bracher - immer wieder die Differenz von liberaler Demokratie und Nationalsozialismus als wesentlich betont und auf letzterem Begriffbeharrt wurde, dann wurde damit - intentional oder nicht intentional - eine andere Wesensgleichheit insinuiert: die von Sozialismus und Nationalsozialismus. Und nichts verdeutlicht wohl stärker die Historizität solcher Begriffsdebatten als die Reaktionen der Teilnehmer an besagter Tagung 1978. Hans Mommsen (1980: 56) protestierte, die von Bracher verwandte Kategorie "liberaldemokratisch" schließe "tendenziell eine demokratisch-sozialistische Position aus, wie ich sie vertrete", und Jürgen Kocka (1980: 58f.) ergänzte: "Wenn Welten zwischen ,bürgerlicher' Demokratie und Nationalsozialismus liegen, dann auch zwischen sozialistischer Tradition und Nationalsozialismus." Man gehe der NSPropaganda auf den Leim, "wenn man seine Selbstbezeichnung zu einer analytischen Kategorie hochstilisiert". Wiederum ist der politisch-kulturelle Hintergrund einzubeziehen: Ende der 1970er Jahre begann eine breite öffentliche Kampagne, dass der Nationalsozialismus in erster Linie Sozialismus gewesen sei. Diese von Zeit zu Zeit revitalisierte Propagandaformel, die letztlich die aus dem Kalten Krieg stammende Gleichsetzung der säkularen Mächte - Nationalsozialismus und Kommunismus - um einen dämonischen Kollektivismus verlängerte, erlebte eine starke Konjunktur in den 1990er Jahren mit der zu verharmlosenden Gleichsetzungen einladenden Rede von der "zweiten deutschen Diktatur" - des Postulats, das NS-Regime und die DDR systematisch zu vergleichen. Allerdings handelte (und handelt) es sich dabei eher um geschichtspolitische Propaganda, denn in der geschichtswissenschaftlichen Fachwelt war man sich bald weithin einig, dass sich eine diesbezügliche komparatistische Anordnung nicht auf seriöse totalitarismus-
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theoretische Ansätze wie etwa denjenigen von Hannah Arendt berufen könnte. 7 In dieser Traditionslinie geht es nämlich vor allem um den Vergleich von Stalinismus und Nationalsozialismus, wobei mittlerweile kulturhistorische Dimensionen der gesellschaftlichen Mobilisierung in beiden Fällen einbezogen werden (vgl. etwa Jesse 1996; Söllner et al. 1997; Maier 2003; Luks 2007; Schmeitzner 2007). Die in den frühen 1990er Jahren - und keineswegs zufällig in jenem Zeitraum - eingeleitete Diskussion zur Wiederbelebung und der Versuch einer Weiterentwicklung von totalitarismustheoretischen Ansätzen schließt zwar auch die Frage nach einer historisch epochalen Begrenzung - symbolisiert etwa durch den Tod Stalins - ein, ist aber durch die regelmäßig beanspruchte Jahrhundertperspektive viel stärker mit der jüngsten Zeitgeschichte und der Gegenwart verbunden als die Faschismusbegriffiichkeit. Der totalitarismustheoretischen Hausse korrespondiert die strikte historiographische Einhegung des Faschismus-Phänomens. Siebtens: In den Diskussionen über den Faschismus unter deutschen Historikern kam die Frage der aktuellen Relevanz, dem möglichen Potential des historischen Phänomens Faschismus in unserer Gesellschaft, kaum vor. Dies liegt zwar auch an der dafiir fehlenden fachlichen Kompetenz. Zumindest aber könnten Historiker daraufhinweisen, dass sich Geschichte zwar nicht wiederholt, schon gar nicht als Wiederaufführung des Zwischenkriegstheaters, gesellschaftliche Strukturälmlichkeiten und Problemlagen aber älmliche Bedrohungspotentiale in völlig neuer Form ermöglichen könnten. Die in Deutschland vorherrschende strikte zeitliche Eingrenzung des Faschismusbegriffs auf die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs - seither sind mehr als sechs Jahrzehnte vergangen - führte dazu, dass die Geschichtswissenschaft bisher sehr wenig zur Analyse rechtsextremer Bewegungen nach 1945 beigetragen und diese Aufgabe weitgehend an die Politikwissenschaft delegiert hat. 8
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VgL hierzu auch Wippermann 2009a; in dieser partiell berechtigten Polemik verschwimmen allerdings mitunter die zwar verflochtenen, aber doch unterschiedlichen Ebenen von Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik; unter Umständen trübt hier die Sicht aufdie hauptstädtische Szene - vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität bis zu der von Hubertus Knabe geleiteten Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen - etwas den analytischen Blick (vgL auch ders. 1997). VgL allerdings neuerdings Wippermann 2009b; hier wird die epochale und globale Ausweitung des Faschismus-Phänomens allerdings erkauft mit einer sehr weiten Definition, bei der auf "große Ähnlichkeiten" mit dem ,,namengebenden und stilbildenden italienischen Faschismus" (ebd.: 283) abgehoben wird.
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2. Schlussbemerkung Für die historische Analyse bis 1945 wiederum, und darin ist Jürgen Kocka zu folgen, entsteht der Eindruck, dass all diese ideologischen Großbegriffe mittlerweile so überfremdet sind von dem, was die Sozialtheoretiker und Sozialphilosophen treiben, dass sie kawn mehr mit Gewinn auf das eigentliche Geschäft historischer Untersuchung zu beziehen sind. Als Ergänzung kann der Hinweis von Sven Reichardt auf den bekannten Umstand gelesen werden, dass es eine - zumal kohärente - Ideologie des Faschismus nicht gebe und besser von Sinnsystemen zu sprechen sei, die in der Analyse der Praxis faschistischer Bewegungen greifbar werden. Reichardt plädiert für eine "praxeologische" Definition des Faschismus, wobei die semantischen Umbaubemühungen als Teil dieser Praxis zu denken wären (Reichardt 2007: 19).9 Zu raten wäre also zu möglichst sparsamen Generalisierungen, der möglichst konkreten Analyse konkreter Konstellationen und ihrer ideellen Deutung, die im Übrigen über die Ebene der Praxis hinaus auch die alten Fragen nach der sozialen Trägerschaft und den materiellen Interessen zu berücksichtigen hätte. Die Reflektion des Faschismusbegriffs im Rahmen einer Theorie der Modeme (vgl. mit Hinweisen auf die Literatur Schildt 2010) ist wichtig, aber nur in heuristischer Absicht als Inspiration und unter Vermeidung der Gefahr, sich für empirische Untersuchungen die Augen durch zu viel formelhafte ideengeschichtliehe Theorie verkleistern zu lassen.
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Zu fragen wäre allerdings nach der Operationalisierung einer praxeologischen Definition fiir den Faschismus als Herrschaftssystem.
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Der Faschismusbegriff in Osteuropa nach 1945 Ein geschichtsphilosophisch angeleiteter Erklärungsversuch
Agnieszka Pufelska
Im April 1975 fand zum 30. Jahrestag des Kriegsendes an der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald eine internationale Konferenz statt zum Thema: "Die Befreiung vom Faschismus durch die Sowjetunion - entscheidende Voraussetzung für den weiteren Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus". Im Mittelpunkt des Treffens stand, wie die Organisatoren selbst betonten, "die Geschichte der antifaschistisch-demokratischen Entwicklung" in den sozialistischen Staaten. Alle 40 Konferenzbeiträge wurden später in zwei Bänden versammelt und 1976 von der Universität Greifswald herausgegeben. Unter diesen mehrheitlich hagiographischen Texten, die in ihrer propagandistischen Form und ihrem Inhalt nach kaum voneinander zu unterscheiden sind, ist es dem ungarischen Beitrag am besten gelungen, die wichtigsten Topoi kommunistischer Faschismuskonzeption wie "Kampf gegen den Faschismus", "Sieg", "Nation" und "Opfer" in wenigen Sätzen zu bedienen (Csepanyi 1976: 175): "In unserer Heimat [Ungarn; A.P.l wie auf der ganzen Welt waren es lediglich die Kommunisten, die die Volksmassen und die demokratischen Kräfte von Anfang an zum Kampf gegen den Faschismus aufgerufen hatten. Sie waren nicht nur die Organisatoren und Führer des Kampfes für die nationale Unabhängigkeit und die demokratische Erneuerung, sondern haben dafür auch die meisten Opfer gebracht."
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Rolle dieser vier oben genannten Dogmen bei der Etablierung und Durchsetzung der kommunistischen Herrschaft aufzuzeigen sowie ihren Einfluss auf das Faschismusverständnis in Osteuropa nach der Wende zu analysieren. Theoretisch soll diese gleichwohl sehr verkürzte Ausführung helfen, einen um eine geschichtsphilosophische Frage erweiterten Faschismusbegriff vorzuschlagen und seine Erforschung nicht allein der Politikwissenschaft oder Soziologie zu überlassen, sondern sie stärker im Bereich der Kulturgeschichte anzusiedeln.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1. "Kampf gegen den Faschismus" als Legitimationsargument Der Faschismusbegriff der Ostblockstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg basierte auf der so genannten Dimitroff-Formel aus der Vorkriegszeit. Auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 verkündete ihr Generalsekretär, der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, der Faschismus sei die "offen terroristische Diktatur der reaktionären, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" (Dimitroff 1957 [1935]: 87).1 Die Entstehung des Faschismus wurde somit auf eine politische Soziologie des monopolkapitalistischen Machtkartells reduziert, das sich als ein angebliches Subjekt der Geschichte den Faschismus restlos inkorporiert habe. Mit der Dimitroff'schen Faschismusdefinition ließen sich nach 1945 gleich mehrere ideologische und legitimatorische Bedürfnisse stillen. Zum einem ließ sich mit ihr der ,,Aufbau des Sozialismus" mitsamt der dazu notwendigen Repression als praktizierter Antifaschismus rechtfertigen, der die notwendige Lehre aus der Geschichte ziehe. Besonders intensiv wurden die Mittel der antifaschistischen Ausgrenzung immer dann mobilisiert, wenn in den Ländern des "Blocks" ernsthafte, öffentlich werdende Dissense innerhalb der Partei oder zwischen der Bevölkerung und der kommunistischen Partei entstanden und nicht mehr totzuschweigen waren. Der Volksaufstand in Ungarn 1956 erschien in der Geschichtsschreibung der antifaschistischen sozialistischen Staaten ebenso als faschistischer Putsch wie der Prager Frühling 1968 und die Arbeiterbewegung in Polen 1970 und 1981. Je länger der Mythos des Antifaschismus anhielt, desto offensichtlicher wurde, dass der Faschismusvorwurf lediglich als Legitimationsargument für gesellschaftliche Konflikte verwendet wurde (vgl. dazu Grunenberg 1993; Zaremba 2001; Brunner 1982). Zum anderen zählte bis 1989 die selbstsichere Behauptung, die sozialistischen Staaten seien jene europäischen Staaten, die mit der Enteignung der Feudalbesitzer und Finanzkapitalisten "die Wurzeln des Faschismus ausgerottet" hatten (vgl. dazu Dokumente der SED 1952: 97), zu den unverzichtbaren Basisdogmen des politischen und historischen Selbstverständnisses. Genau aus diesem Grund konnte der Bau der Berliner Mauer problemlos zum Aufbau eines "antifaschistischen Schutzwalls" verklärt und als eine notwendige Maßnahme im Kampf gegen den "faschistischen Imperialismus" stilisiert werden (vgl. Taylor 2009). Denn mit der Dimitroff'schen Faschismusformel konnte man leicht den Vorwurf des Faschismus der aktuellen bipolaren Logik des Kalten Krieges anpassen und ihn auf den Dabei bleibt zu betonen, dass diese Definition keinesfalls von Dimitroffselbst stammt. Er stützte sich in seiner Rede vielmehr auf eine Erklärung des xm. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKl).
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westlichen Block insgesamt ausweiten. Er erhielt eine antiliberale Stoßrichtung und mündete schließlich in offenem ,,Anti-Westlertum" und aggressivem Antiamerikanismus. Die Rassenunruhen in den USA, die antikommunistische Verfolgungspraxis der McCarthy-Ära und die militärische Interventionspraxis in den so genannten Stellvertreterkriegen boten wiederholt Anlässe, dem "Mutterland des Kapitalismus" eine faschistische Tendenz zu unterstellen - ein Argument, das bis zum Zusammenbruch der Ostblockstaaten als geschichtspolitisches Instrument im Interesse der sowjetischen Außenpolitik lag und den Stalinismus als die einzig zulässige Realität des "Antifaschismus" legitimierte (vgl. Bolck 1977: "Gegen Imperialismus und bürgerliche Ideologie"; zum Kalten Krieg vgl. Stöver 2007).
2. National in Form und Inhalt Dimitroffs tröstende Hauptformellautete: Die faschistische Ideologie ist häufig ein bis zum Wahnwitz gesteigerter Unsinn und bezeugt nur die fortschreitende Verwesung des Kapitalismus. Wie sollte nun ihr Einfluss auf die Massen bekämpft werden? Wie schon in den 1920er und 1930er Jahren: durch das Eingehen auf die "Eigenart der nationalen Psychologie der Volksmassen", in der Tat durch eigene nationalistische Phrasen und die Beschwörung der "Rettung der Nation" - gegen den "nationalen Nihilismus" - und dabei natürlich unter Berufung auf das Vorbild der Sowjetunion, wo ,,national in Form und sozialistisch dem Inhalt nach" Wirklichkeit geworden war (Dimitroff 1957 [1935]: 160-166). Bereits 1945, als der Anschluss des östlichen Europas an die Sowjetunion entschieden und die moskautreuen Regierungen gewählt wurden, überzeugte Georgi Dimitroffununterbrochen die Bulgaren, dass die angeblich demokratisch neu gewählte Regierung der Vaterländischen Front, "die gesunde nationale Kräfte des Landes vereine, sich auf das Volk stützt und sich seines Vertrauens erfreut" (ders. 1976: 306). Die nationale Orientierung entsprang einem politischen Kalkül. Für die als fremd und anational geltenden prosowjetischen Regierungen in den Moskauer Satellitenstaaten war die durchgehende Betonung der nationalen Linie die einzige Möglichkeit, Zustimmung bei den nicht-kommunistischen Bevölkerungen zu erwerben und die Patronage Moskaus in den Hintergrund zu stellen. Der intensive Bezug auf die heroische Geschichte des jeweiligen Volkes war ein wichtiger Bestandteil dieser nationalkommunistischen "Anbiederungspolitik". Es setzte eine intensive Bearbeitung der Bevölkerung mit nationalen Erinnerungsinstrumentarien wie Jahrestagen, der Aufstellung von Denkmälern oder Erinnerungstafeln etc. ein. Erinnert wurde an alles: an die jahrhundertlange Aufopferung im Sterben fiir das Vaterland, an die Siege in der Geschichte und vor allem an den antifaschisti-
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schen Widerstand. Der Mythos Antifaschismus hatte Konjunktur, weil er den kommunistischen Regimes erlaubte, an diese Art historischen Denkens anzuknüpfen und ihre Machtergreifung als Resultat des nationalen Unabhängigkeitskampfes darzustellen. Man tat so, als führe der Antifaschismus zwangsläufig zu einer nationalen Entwicklung. Gleichzeitig legitimierte der Faschismusvorwurf das Vorgehen gegen die antikommunistische Opposition im Inneren des jeweiligen Landes. Die Vereinnahmung der nationalen Tradition durch die kommunistischen Machthaber erleichterte ihnen, ihre inneren Gegner als "Feinde der Nation" und somit auch als "Erben Hitlers" zu diffamieren und zu liquidieren; wobei sich in manchen Ostblockstaaten spätestens seit den 1950er Jahren eine interessante Umdeutung des Faschismusbegriffs vollzog. War während des Krieges noch das ganze nicht-prosowjetische Lager des Faschismus bezichtigt worden, begrenzte man den Vorwurf nun auf den militanten Gegner. Ein Resultat war die Zusammenarbeit mit einem Teil der Vor- und Kriegsfaschisten. Aufgrund ihrer nationalen Ansichten wurden sie als legale Opposition in das Lager der Kommunisten hinübergezogen und übernahmen häufig die Vermittlungsrolle, etwa zwischen der Kirche und dem kommunistischen Machtapparat. 2 Obwohl sich die kommunistischen Regierungen mit populistischem Geschick bemühten, den Nationalismusanspruch fiir sich zu reklamieren, kam es in den meisten Moskauer Satellitenländern zur Entfaltung zweier Nationalismen; des staatlichen von oben und des religiös-volkstümlichen von unten. Der regierungsamtlichen Version wurde der stark mit der katholischen oder orthodoxen Religion verbundene traditionelle Nationalismus entgegengesetzt. Ihm galt die aufgezwungene kommunistische Herrschaft als negativer Mythos, als Tragödie des eigenen Volkes. Beide Nationalismen, so konträr sie zu sein schienen, verband das kritiklos übernommene heroisch-patriotische Verhältnis zur eigenen Geschichte und zum Volk. Es gab also eigentlich keine gemeinsame Interpretation der Vergangenheit, dafiir jedoch ein gemeinsames Beharren auf dem Mythos der außergewöhnlichen Rolle des Volkes, der im Bann des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen stand und über den ein jeder der beiden Nationalismen auf seine Weise die neue nationale Bedrohung sowie die Vergangenheit erklärte. 2
Als Beispiel ist hier der polnische Vorkriegsfaschist Boleslaw Piasecki zu nennen, der in der Nachkriegszeit die so genannte Gesellschaftlich-fortschrittliche Bewegung weltlicher Katholiken unter der Schutzherrschaft der ko=unistischen Regierung mitbegründete. Er wurde auch Chefredakteur des Zentralorgans der Nationalkatholiken, Heute und morgen, und mobilisierte proko=unistische Organisationen, von denen die Union patriotischer Pfarrer die einflussreichste wurde. Mithilfe einiger prominenter Geistlicher bemühte er sich, eine Art von Klassenkampf unter die katholischen Seelsorger zu tragen und den niederen vom hohen Klerus abzuspalten (zu Piaseckis Tätigkeit in der Vor- und Nachkriegszeit siehe Dudek/Pytel 1990).
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3. Der Primus inter pares unter den Opfern Die Antifaschismus-Doktrin knüpfte geschickt an das heroische nationale Selbstverständnis an und bestätigte damit die dominierende Meinung von der eigenen Opferrolle. Zwar gehörten die Ostblockstaaten zu den "Siegern der Geschichte", doch ihr Sieg war durch heldenhafte Aufopferung im Kampfgegen den Faschismus errungen worden. Die Verleihung der Medaille "Opfer des Faschismus" sollte paradoxerweise den Siegerstatus bestätigen. Zudem diente die Dimitroff'sche Faschismusdefinition der DDR und allen anderen Ländern, die einst mit NS-Deutschland kollaborierten, als Entrebillet zur antifaschistischen Staatengemeinschaft. Indem der deutsche Nationalsozialismus als Faschismus "universalisiert" und damit "entnationalisiert" wurde, konnten das deutsche genauso wie das ungarische, rumänische oder lettische Volk von der Vergangenheit entlastet werden. Mehr noch: Indem die kommunistische Propaganda den Faschismus in der Politik der USA erblickte, hatte sie diesen nicht nur externalisiert, sondern auch alle unter der Moskauer Schirmherrschaft stehenden Völker - allen voran das deutsche Volk - gleichzeitig zum doppelten Opfer verklärt: Bis 1945 vom Hitler-Faschismus unterdrückt litten sie nunmehr unter der Herrschaft der faschistischen Politik der USA. Die Apotheose des Opfers und die Heroisierung der antifaschistischen Tat ließen dabei keine anderen Kriegsopfer zu. Die Kommunisten waren nicht bereit, auf das Privileg zu verzichten, vor allen anderen Hitlers Hass auf sich gezogen zu haben. Der Antifaschismus räumte dem Massaker an den Juden daher keinen eigenen Stellenwert ein. In der Einleitung des Dokumentationsbandes über ,,Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkrieges" von 1960 konnte man entsprechend auch nachlesen (vgl. Jüdisches Historisches Institut Warschau 1960: 10): ,,Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals. Konsequent begannen daher die Nazis den zweiten Weltkrieg vorzubereiten, in dem sie den ,inneren Feind' grausam zu vernichten suchten. An erster Stelle stand die Verfolgung der Kommunisten; die Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung gingen nebenher."
Gerade dieses "Nebenher" erlaubte dann, die jüdischen Opfer völlig zu vergessen oder sie in den Dienst des antifaschistischen Widerstandes zu stellen. In der kommunistischen Propaganda hatten beispielsweise im Warschauer Ghettoaufstand nun "Ghetto-Helden" ihr Leben "für Polen und die Ehre der Hauptstadt" gegeben; Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Buchenwald wurden zum "Symbol des Märtyrertums des Antifaschismus" und natürlich habe die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung "im Angesicht der gemeinsamen Tragödie" eine "würdige Haltung
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bewahrt". Das Wort Jude verschwand allmählich aus der kommunistischen Geschichtspropaganda und wurde durch andere symbolträchtige Begriffe wie "Konzentrationslager", "Gaskammer" und "Vernichtung" ersetzt, die sich besser in einen Zusammenhang mit dem jeweils nationalen beziehungsweise antifaschistischen Leiden bringen ließen (vgl. Pufelska 2007: 208; zur Wahrnehmung des Holocausts in den Ostblockstaaten vgl. Niethammer 1994; Corne1ißen et al. 2005; Scheide 2008; Podolskyi 2008; Toleikis 2008). Dieses exklusive Selbstverständnis als größtes Opfer des Krieges verhalf gleichzeitig, den Antisemitismus in den eigenen Parteireihen zu rechtfertigen. Im Zuge der von Moskau initiierten und in fast allen Ostblockstaaten durchgeführten antisemitisch-antizionistischen Säuberungskampagnen wurden durchgehend "Juden" und ,,zionismus" mit "Monopolkapitalismus" und "US-Imperialismus" verknüpft und diese dem Antifaschismus entgegengesetzt. Durch diese altbekannte Täter-Opfer-Verkehrung konnten die Juden nicht nur zu Tätern an den antifaschistischen Völkern erklärt, sondern auch der Mitschuld und Mittäterschaft am Nationalsozialismus bezichtigt werden. Infolgedessen wurde zahlreichen Juden die Anerkennung als Opfer des Faschismus entzogen (Haury 2002: 306f.; vgl. auch Luks 1998).
4. Sieger der Geschichte Trotz der sich ständig ändernden politischen Situation und der immer stärkeren Annäherung an den Westen hielt die kommunistische Propaganda an der gewohnten Faschismusformel starr fest. Vor allem auf zwei Grundsätzen aus der Dimitroff'schen Definition wurde unerbittlich beharrt: 1.
2.
Der Faschismus ist ein Krisenphänomen des Kapitalismus. Die Krise selbst bedeutet schon den Übergang zum Sozialismus. 3
Das bedeutet also, dass der Faschismus in der marxistisch-leninistischen Auslegung von vornherein in eine übergreifende historische Bewegung eingebettet war, die zwangsläufig mit dem Sieg des Sozialismus enden müsste. Insofern war die Niederlage des Faschismus "gesetzmäßig" (Lange et al. 1970: 589). Der entsprechende Überblick über die Geschichtsdeutung in den einzelnen Ostblockstaaten flillt sicherlich differenzierter aus; dennoch bleibt die dominierende Tendenz, den Natio3
Im Wörterbuch der Geschichte von 1984 konnte man noch nachlesen: "Faschismus: in der ersten Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus und des übergangs zum Sozialismus entstandene reaktionäre politische Bewegung, die den Klasseninteressen der reaktionärsten Gruppen der Monopolbourgeoisie entsprach und in einigen Ländern zur Herrschaft gelangte" (ebd.: 290).
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nalsozialismus in eine (nachträgliche) Siegesgeschichte der kommunistischen Partei des jeweiligen Landes einzubetten (vgl. Redakcja "Wojsko Ludowe" 1975: 6): ,,Es war der politische Grundsatz der polnischen Kommunisten (...), der den einzigen erfolgreichen Weg zur Befreiung und Wiedergeburt des Landes aufgezeigt hat. Es war ein Programm, das sich zum Ziel setzte, den nationalen Unabhängigkeitskampfmit dem Kampf um die soziale Befreiung der Arbeitermasse zu verbinden und diesen auf das Bündnis und die Waffenbrüderschaft mit der entscheidenden antifaschistischen Kraft, der Sowjetunion, zu stützen."
Die Vereinnahmung des Faschismus beziehungsweise des Nationalsozialismus durch den Kommunismus weist auf ein starkes Theodizee-Motiv in der marxistisch-leninistischen Geschichtsinterpretation hin (vgl. hierzu Kittsteiner 2004: 25). Da ihr der Faschismus primär als Antikommunismus galt, der Sozialismus aber über ihn "gesiegt" hatte, wurde der Faschismus als großes Übel betrachtet, das aber gegen seine Intention letztlich doch hatte zum Guten wirken müssen, eben zum Autbau des Ostblocks, oder genauer formuliert: des Warschauer Paktes (vgl. Scheel et al. 1970). Dieses hegelianische Mephisto-Motiv war ein fester Bestandteil der Definition des Faschismus in allen moskautreuen Ländern. Es half ihnen, sich als "Sieger der Geschichte" zu begreifen und ein entsprechend optimistisches Geschichtsbild zu propagieren. Dank der Versöhnung mit dem Übel konnte mühelos ein Ziel des historischen Prozesses vorausgesetzt werden, an dessen Ende die Überwindung des Kapitalismus und die Durchsetzung des Sozialismus zu stehen hatten. Mit den "vereinten Kräften der sozialistischen Völker" sollte die Zukunft "gestaltet" werden (beispielhaft dafür Schmidt 1970: 157f.). Die marxistisch-leninistische Haltung zur bewussten Machbarkeit der Geschichte war allerdings ambivalent: Einerseits sollten die Arbeiter und Bauern durchaus ihr eigenes Schicksal "gestalten", andererseits aber unterstanden sie "objektiven" Gesetzmäßigkeiten, die als die jeweilige Linie der Partei dargestellt wurden. "In letzter Instanz", bemerkt Kittsteiner (2004a: 32), "waren es die Zwänge aus dem Systemwettbewerb mit dem kapitalistischen Weltmarkt." Das würde also heißen, dass die kommunistische Reduktion des Faschismus aufAlleinschuld des Finanzkapitals nicht nur eine Verharmlosung war, sondern vielmehr von der Ohnmacht des leninistisch-stalinistischen "Dialektischen Materialismus" gegenüber dem globalen Weltmarkt zeugte. Gerade weil- entgegen der Aufforderung von Marx - der Sozialismus nur in wenigen Ländern zur Realität geworden war und sich dadurch immer wieder im Konkurrenzkampf mit dem kapitalistischen System behaupten musste, wurde die Argumentationsstrategie des Antifaschismus intensiv eingesetzt. Mit ihr konnte der unbesiegbare Konkurrent ideologisch verteufelt und durch die
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Partei als bezwingbar vorgeführt werden. 4 Kurz: Dimitroffs Definition stellte den Versuch dar, die gescheiterte Weltrevolution, den Verzicht aufMarx und allen voran die usurpierte Gestaltung der Geschichte zu legitimieren.
5. Faschismus in Zeiten der Globalisierung Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus brach auch das hegemoniale und homogene Faschismusverständnis zusammen. Seitdem lässt sich ein differenzierter und diffuser Gebrauch dieses Begriffes in Osteuropa beobachten. Die jahrzehntelange Beschwörung des "nationalen Faktors" durch die kommunistischen Machthaber ist allerdings auch zum entscheidenden Kriterium der Politik nach 1989 erhoben worden. Zwischen den nunmehr Postkommunisten und ihrer Opposition brach ein regelrechter Wettstreit um den patriotisch-nationalen Alleinvertretungsanspruch aus. Während die Postkommunisten damit ihre eigene Vergangenheit überspielen und rechtfertigen wollten, half die nationale Leidenschaftlichkeit dem neu formierten rechten und zum großen Teil auch liberalen Lager, seine historische Kontinuität zu konstruieren (vgL Hassner 1995: 25). Angeknüpft wurde dabei nicht nur an den antikommunistischen Widerstand der Kriegszeit, sondern vor allem an die autoritären und faschistischen Bewegungen und Regimes aus der Vorkriegszeit. Mikl6s Horthys Regierung in Ungarn, die Nationale Verständigung von Alexander Zankoff in Bulgarien, J6zef Pilsudskis autokratische Herrschaft in Polen, die Präsidentschaft von Antanas Smetona in Litauen oder die Eiserne Garde in Rumänien wurden häufig kritiklos zu den Vorläufern und Ideenträgern der jungen Demokratien verklärt. Der von der kommunistischen Propaganda gepflegte und viel besungene Opfermythos wurde dabei in allen seinen historischen Varianten ausgespielt. Verstärkt wurde er zusätzlich durch die schnell etablierte Auffassung vom Opfer der Transformation. Die Globalisierung mit kapitalistischem Antlitz erleichterte vor allem den ultranationalistischen Gruppierungen sich als "einzig wahre" Anwälte der Verzweifelten, Enttäuschten und Resignierten zu präsentieren (vgl. BeicheltlMinkenberg 2002). Eckpunkte ih-
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Ein besonders interessantes Beispiel dafiir - auch im Zusammenhang mit der Strategie der Täter-Opfer-Verkehrung -liefert eine Schrift vom Zentralvorstand der Gesellschaft fiir DeutschSowjetische Freundschaft: "Die Geschichte hat gezeigt, dass immer dann, wenn unser Volk sich vom Antisowjetismus blenden ließ, wenn es den Weg der Feindschaft zum Sowjetvolk beschritt, dies unserem Volk zum Schaden gereichte. Immer dann aber, wenn es den Aposteln des Antisowjetismus die verdiente Abfuhr erteilte, wenn es mit dem Sowjetvolk freundschaftlich und brüderlich zusammenarbeitete, hat dies unserem Volk stets zum Guten gereicht und es zu den Siegern der Geschichte gemacht" (Schröder 1976: 47).
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rer Programmatik waren meistens: extremer Nationalismus, Massenmobilisierung und Liquidierung von Minderheiten (vgl. RaInet 1999). Keinesfalls ist das Faschismusverständnis in den heutigen ost- und ostmitteleuropäischen Ländern eine Kopie aus der Vorkriegszeit. Als historisches Produkt, das sich nicht im menschenleeren Raum entwickelt, setzt es sich aus einem Mosaik sozialer und mentaler Erfahrungen zusammen, die für die jeweilige Gruppe und ihre Zeit charakteristisch sind. Der Faschismusbegriff ist vielschichtig und sein Potential zum Formenwandel darf nicht unterschätzt werden - vor allem in den Ländern nicht, in denen die nationalen Bewegungen und andere Neonazismen keine autochthonen Formen von eigenem Faschismus entwickelt haben (Tschechien), sondern imitatorische Faschismusspielarten, ja womöglich "im postkommunistischen Kontext Faschismuskarikaturen darstellen" (Umland 2006). Im Gegensatz zu den faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit sind die meisten neofaschistischen Gruppen im heutigen Osteuropa nicht hierarchisch strukturiert, sondern horizontal miteinander verflochten. Sie definieren sich auch stärker über den Rassismus als über die Religion (vgl. Markiewicz 2008; Komak 2009). Verallgemeinernd könnte man sie aufgrund ihrer Orientierung in nationalI slawische, europäische und prodeutsche Gruppierungen unterscheiden. Während sich die Letzten uneingeschränkt mit dem deutschen Nationalsozialismus identifizieren und dabei auf die Schriften von David Myatt stützen, haben die slawisch oder europäisch ausgerichteten Gruppierungen ihren Kampffür eine nationale oder ethnische Erneuerung auf die supranationale Ebene verlagert. In den letzten Jahren wird unter ihnen auch eine zunehmende Intellektualisierung des rechtsextremen Diskurses erkennbar, der sich durch revisionistische Propaganda auszeichnet. Es werden Gruppen gegründet, die rege Kontakte zu westeuropäischen Vertretern der Neuen Rechten unterhalten und bei internationalen Konferenzen der Rechten auftreten (vgl. dazu Grumke 2006). "Sie berufen sich auf die Theorie des Ethnopluralismus", so Chaim Frank (2002) über Rumänien, "und treten ein für eine Wiedergeburt nationalrevolutionärer Ideologie auf der Basis völkischer Ideen." Auch die Leitbildfunktion des italienischen Faschismus scheint im heutigen Osteuropa verloren zu gehen und nimmt seit der Wende stetig ab. Deutlicher noch: Es gibt faschistische Gruppierungen, denen es gelungen ist, dem Faschismusvorwurf zu entgehen, indem sie ihre Selbstdarstellung mit dem verzerrten, von der kommunistischen Propaganda geerbten Faschismuskonzept abgestimmt haben. Im postkommunistischen Diskurs wird häufig der dem Italienischen entstammende Begriff Faschismus mit dem deutschen Nazismus gleichgesetzt. Indem manche rechtsnationalen Gruppierungen oder ihre Anhängerschaft den Faschismusbegriff jedoch auf alle als "antinational" angesehenen Ideen anwenden, distanzieren sie
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sich automatisch von den Verbrechen des Dritten Reiches und stellen ihre Konkurrenz aus dem eigenen Lager als faschistisch und somit auch als nationalfeindlich dar (vgl. Umland 2006: 4). Dies hilft dann dabei, manifest neonazistische Gruppierungen an den Pranger zu stellen und gleichzeitig rhetorisch nicht minder radikale ultranationalistische Tendenzen und Organisationen zu dulden oder sie sogar in der Öffentlichkeit ungehindert präsentieren zu können.
6. Faschismus: ein geschichtsphilosophischer Begriff Angesichts der hier skizzierten Aspekte des Faschismusbegriffes in Osteuropa könnte man sich nun fragen, ob ein enges Faschismusverständnis noch geeignet ist, die neuen politischen Herausforderungen durch rechtsextremistisch-populistische Gruppen zu erkennen. In Anlehnung an die Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck und Heinz-Dieter Kittsteiner lässt sich antworten: Begriffe sind Teile von Theorien, sie können nicht für sich selbst analysiert werden. Es ist daher sinnvoll, diese Begriffe als Aussagen im Rahmen von Reflexionen zur Geschichtswissenschaft vorzustellen. Für Koselleck und Kittsteiner gibt es keine unmittelbaren Erfahrungen, die nicht schon in theoretischen Deutungen und Bedeutungen reflektiert wären. Es gibt keine Erfahrung der Gegenwart, die nicht vom Erwartungshorizont her geprägt ist. Nur in diesem auf unser Handeln hin ausgelegten Rahmen bedeuten uns Wahrnehmungserlebnisse etwas (vgl. Koselleck 1979; Kittsteiner 2004b). Indem wir sie auf eine antizipierte Ganzheit des Lebens oder der Geschichte beziehen, werden sie zu Trägem eines Sinns. Übertragen auf die hier behandelte Fragestellung würde das heißen: Der Faschismus hat vor allem eine sinnstiftende Funktion. Er liefert einen ordnenden Erkenntnisrahmen, der wiederum aus der Geschichte stammt. Er ist historisch entstanden und hat sich zu einem Erkenntnishintergrund verfestigt, der Losungen für die Zukunft bietet. Folglich sind diese historisch entstandenen Losungen niemals ein statisches Phänomen gewesen; sie sind ein genauso ständig sich wandelnder Entwurf wie die Erfahrungen und Erwartungen der handelnden Menschen, die diese bestimmen. Sicherlich lassen sich dem Faschismus eigene Strukturen, Semantiken oder Praktiken zuordnen, sie sollten aber als dynamische Phänomene untersucht werden, weil ihnen ein Narrativ zugrunde liegt, das nicht nur von Ereignissen oder Strukturen, sondern auch von denjeweils vorherrschenden Weltauffassungen ausgeht, mit denen die Menschen auf Ereignisse und Strukturen reagieren. Eine Überlagerung des historischen Prozesses mit faschistischen Erklärungsmustern, von deren Befolgung man sich die Rückgewinnung der Kontrolle über den Gang der Geschichte verspricht, ist gleichzeitig auch nur möglich, wenn man
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von ihrer Beherrsch- und Steuerbarkeit ausgeht. Faschistisches Denken sowie der Antifaschismus sowjetischer Prägung setzen die Überzeugung von der Machbarkeit der Geschichte voraus. Erst die Einbeziehung geschichtsphilosophisch angeleiteter Fragen nach den Versuchen, Geschichte unter eigene Kontrolle zu bringen, kann erklären, aus welchen Quellen und historischen Mythen Faschismuskonzeptionen eigentlich ihre Kraft schöpfen. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine genuine Geschichtsphilosophie, sondern um eine ihrer Schwundstufen, die als Legitimationsideologien in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zur Hilfe gerufen wurden, um das eigene Handeln als eine welthistorische Notwendigkeit zu drapieren. Unerlässlich ist demnach ein erweiterter kulturgeschichtlicher Zugriff auf dieses Thema, der über die intentionale, funktionale Dimension hinausreicht, ohne sie dabei jedoch auszublenden. Mehr als bisher ist es erforderlich, den Bezug zum Begriff Faschismus in einem umfassenden Sinne als kulturelles und geschichtsphilosophisches Phänomen zu untersuchen, als symbolisch vermitteltes und dynamisches Sinn-Ganzes. Das heißt: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont schaffen symbolische Formen der faschistischen Weltauslegung, die dann selbst wieder als Vorbedingungen für ein neues Faschismusverständnis gelten. Die Hauptaufgabe bei der Beschäftigung mit dem Faschismus wäre somit, in erster Linie danach zu fragen, welche Funktion er beim Zustandekommen der historischen Orientierung seiner Anhängerschaft erfüllt.
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Rechtsextremismusforschung in Europa: "From new consensus to new wave?"l Roger Griffin
1. Das Problem der Projektzusammenarbeit in der vergleichenden Extremismusforschung Der Forscher als "einsamer Wolf' ist eine bedrohte Spezies. Im Zeitalter der Transdisziplinarität und der Projektkollaboration, in dem sich multikulturelle Expertenteams vergleichenden Studien widmen oder "Kulturtransfer" forensisch untersuchen, gibt es Forscher, die mehr Erfahrung im Ausfüllen von Projektanträgen und im Skypen haben als mit Archivarbeit. Atemberaubende Forschungsbudgets werden jährlich darauf verwandt, akademische Forschergruppen aus verschiedensten Herkunftsländern zu finanzieren, die mehr Ähnlichkeit mit von Vereinsmanagern zusammengestellten exotischen Fußballteams haben als mit dem einsamen Marathonläufer jener Prä-Computer-Ära, in der Sitzfleisch noch Voraussetzung für den akademischen Wissenserwerb war. Seither scheint es, als ob Zitate und Fußnoten derart einfach gegoogelt werden könnten, dass der Besuch einer konkreten physischen Bibliothek praktisch überflüssig geworden ist - eine Entwicklung, die Jorge Luis Borges sicher begeistert hätte. 2 Doch wie modem die Recherchetechnologie in den Geistes- und Sozialwissenschaften auch sein mag, archetypische Probleme wie die Etablierung von Schlüsseldefinitionen und eines konzeptionellen Ra1lmens, der für produktives Forschen so überaus essentiell ist, lassen sich nicht über den Algorithmus einer Suchmaschine lösen; ebenso wenig, wie ein Workshop oder eine Videokonferenz jene begriffliche Klarheit für grundlegende Fragestellungen generieren kann, wie sie sich aus der sinnvollen Auseinandersetzung mit gemeinsamen Mustern zwischen Einzelphänomenen - der Grundlage aller geschichtlichen "Vergleichbarkeit' und zusammenfassender Überblicke - ergibt.
2
Mein Dank giltAnton Shekhovtsov fiir seine Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Beitrags. Der folgende Beitrag sowie die Mehrzahl der Zitate wurden aus dem Engliscben übersetzt (Anm. der Herausgeber/-innen). Ich denke dabei an seine psychedelische Erzählung von einer virtuellen Bibliothek in ,,Die Bibliothek von Babel" (Borges 1992).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wenn sich ein internationales Team von Akademikern bildet, die aus unterschiedlichen Fachbereichen kommen, einen unterschiedlichen kulturellen und historischen Hintergrund und die Erfahrungen unterschiedlicher Generationen mitbringen, um sich mit der europäischen "extremen Rechten" zu befassen, so sind die Chancen dafür - gleich, wie gut sie auf dem Papier aussehen mögen -, dass hier ein Durchbruch an Wissen und Erkenntnis erzielt wird, schon kompromittiert. Denn es besteht die Gefahr, dass sich hier ein "Babel-Effekt" einstellt, eine grundlegende Meinungsverschiedenheit darüber, wie das zentrale Thema zu definieren, einzugrenzen und idealiter anzugehen ist. Wie die Tagung in Greifswald veranschaulicht hat, auf die sich dieser Band stützt, liegt auch im Fall des vorliegenden Buches das Dilemma darin, dass kein einzelner Wissenschaftler, keiner der Experten vom Typ "einsamer Wolf', über jenes enzyklopädische Wissen verfügt, das nötig wäre, um das Thema der Rechten beziehungsweise extremen Rechten in Europa im Alleingang zu durchleuchten. Andererseits wird sich jedes zusammengestellte Expertenteam von Anfang an mit deutlichen Problemen konfrontiert sehen, sobald es darum geht, ein tragbares und für alle Beteiligten vertretbares Verständnis dessen zu erzielen, was denn nun tatsächlich Untersuchungsgegenstand sei. Bereits die Frage, ob Russland in den Untersuchungsraum Europa eingeschlossen werden soll, führt zu Schwierigkeiten. Im Folgenden werde ich - den Fokus auf eine der umstrittensten Begriffiichkeiten in der vergleichenden Extremismusforschung, den Faschismus, richtend - die grundlegenden Probleme erörtern, die in der Vergangenheit aus der Notwendigkeit entstanden sind, konsensfähige Definitionen in der Forschung herzustellen. So leugneten beispielsweise einige Wissenschaftler sogar, dass es sich beim Faschismus um ein "rechtes" Phänomen handele. Trotz der definitorischen Probleme rechter generischer Phänomene ist eine produktive Zusammenarbeit aber durchaus möglich. Erfreulicherweise handelt es sich somit, wenngleich um eine traurige, so dennoch um eine Geschichte mit glücklichem Ausgang.
2. Der new consensus der Faschismusforschung: ein kurzer historischer Abriss Die Geschichte des wissenschaftlichen Konsenses in der Faschismusforschung ist zweifellos kurz, denn selbst jemand, der hinsichtlich der Existenz einer solchen Übereinkunft so optimistisch ist wie ich, kann nicht behaupten, dass das, was ich den new consensus nenne, länger als zehn Jahre besteht; und selbst dann ist er doch partiell, umstritten und spielt nur in den englischsprachigen Humanwissenschaften eine signifikante Rolle. Innerhalb der internationalen marxistischen Tradition
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der Geistes- und Sozialwissenschaften war man sich natürlich immer schon darüber einig, dass es sich beim Faschismus um ein reaktionäres, allenfalls ,,konterrevolutionäres" Phänomen handelt, das in irgendeiner Weise mit dem Kapitalismus verknüpft ist. Aber auch hier ist das Denken dennoch in unterschiedliche Schulen gespalten und es haben sich eine Anzahl unterschiedlichster idiosynkratischer Positionen dazu formiert, worin der Zusammenhang mit dem Kapitalismus genau besteht (vgL zum Beispiel Poulantzas 1974; Vajda 1976).3 In den sieben Jahrzehnten seit der Gründung des ersten ,,Fascio" durch Mussolini im März 1919 wurden im "liberalen" wissenschaftlichen Kontext aber nur wenige konzertierte Versuche unternommen, Faschismus allgemein zu definieren, und die Minimaldefinitionen von Faschismus blieben oft "Einkaufslisten" und nebulöse Katalogisierungsversuche höchst disparater Phänomene. Infolgedessen mieden Historiker den Terminus als analytischen Kernbegriff und man zog sich darauf zurück zu betonen, dass es sich hier eben um ein Rätsel oder "Konundrum" (Robinson 1981: 1) beziehungsweise ein schwieriges definitorisches Problem handele. Alternativ riefman dazu auf, den Begriff aus den Sozialwissenschaften schlicht gänzlich zu verbannen (Allardyce 1979). Ernst Noltes kryptische und, zumindest aus angelsächsischer Perspektive, für praktische Zwecke gänzlich unbrauchbare ,,metapolitische" Definition in "Der Faschismus in seiner Epoche" war wenig hilfreich und trotz ihrer (fragwürdigen) Berühmtheit blieb die englische Ausgabe "Three Faces of Fascism" (Nolte 1965) ohne signifikante Folgen für die anglophone Faschismusforschung. Auch Stanley Paynes (1980) deutlich trennschärfere, dreiteilige typologische Definition, die als Basis eines empirischen Studiums mutmaßlich faschistischer Formen leider nachhaltig ignoriert wurde, konnte den Knoten nicht lösen. Unterdessen zögerte auch Georg Mosse in seinen großartigen Aufsätzen zur vergleichenden Faschismusforschung, eine klärende Kurzdefinition zu formulieren, was den heuristischen Wert seiner Arbeiten deutlich schmälert (vgl. insbesondere Mosse 1979). Gleichzeitig bringen die in bestimmten Ländern bedeutenden wissenschaftlichen Monografien, wie die von Richard Thurlow (1987) zum Faschismus in England oder von James Gregor (1969) zum Faschismus in Italien, ein eher geringes Interesse zum Ausdruck, die eigenen Erkenntnisse in Bezug dazu zu setzen, wie sich Faschismus in anderen Ländern manifestiert, um damit etwa die Einzigartigkeit und originäre Besonderheit jener Formen herauszuarbeiten, die sie selbst untersucht haben. Bisher verfügbare synoptische Zusammenfassungen einer ständig wachsenden 3
Einige dieser Positionen haben überraschende Ähnlichkeit mit nicht-marxistischen Analysen, auch wenn das hierin liegende Potential fIlr eine Aussöhnung der Standpunkte hartnäckig ignoriert wird und die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen marxistischen und nicht-marxistischen Lagern weitgehend tabuisiert bleibt (fIlr zwei Versuche, den new consensus mit marxistischen Ansätzen zur Faschismusforschung zu verbinden, siehe Griffin 1999, 2008).
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Zahl unterschiedlichster Ansätze zum Thema Faschismus lassen ihre Leser lediglich mit dem Gefühl wachsender Widerspruche und Uneinigkeit zurück (zum Beispiel Gregor 1973; de Felice 1977; Nolte 1984; Wippermann 1989; KühnlI990). In den späten 1980ern glich der Strom englischsprachiger Studien zur vergleichenden Faschismusforschung, der auch ohne konsensfähige Definition zehn Jahre zuvor schon stetig zu fließen begonnen hatte, einem versiegenden Delta (vgL Laqueur 1979).4 Vereinzelte Grenzgänger und Ausnahmestudien (zum Beispiel O'Sullivan 1983), selbst wenn sie so brillant und fundiert waren wie Zeev Sternhells Untersuchung zur umfangreichen faschistischen Subkultur im Frankreich der Zwischenkriegszeit (Sternhell 1983) oder zu den Entwicklungslinien zwischen italienischem Faschismus und französischem Syndikalismus (Sternhell et aL 1995), wurden im Allgemeinen von Historikern ignoriert. Sie konnten keinen stabilen Kern generieren, um den sich gängige Arbeitsdefinitionen oder Alltagsauffassungen von Faschismus hätten gruppieren können. Inzwischen hatte der Begriff auch innerhalb der marxistischen Geschichtsschreibung viel von seiner heuristischen Kraft als Schlüssel zu vergleichenden Studien totalitärer Regimes verloren. Am Ende einer Tagung zum Dritten Reich, die in Philadelphia stattfand, sah sich Tim Mason (1991), ein marxistischer Historiker aus Oxford, zu der Frage genötigt: "Whatever happened to fascism?" Mason betonte, dass es notwendig sei, den Nationalsozialismus in einer breiteren Faschismuskonzeption zu verorten, wolle man ersteren als modemes historisches Phänomen begreifen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich fiir alle nationalen Kulturen bestätigt, was die Verfasser eines historischen Wörterbuchs des Faschismus fiir den französischen Kontext bereits postuliert hatten, nämlich dass es ,,keine allgemein anerkannte Definition des faschistischen Phänomens gibt, keinen wie auch immer schmalen Konsens hinsichtlich seiner Bandbreite, seiner ideologischen Ursprunge oder seiner charakteristischen Handlungsmodalitäten" (MilzalBerstein 1992: 7).
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Laqueurs (ebd.) bahnbrechendes Experiment auf dem Gebiet vergleichender Faschismusforschung illustriert unfreiwillig das völlige Fehlen jeglicher übereinkunft zu Basisdefinitionen und -ansätzen unter fiihrenden Wissenschaftlern, sodass dem Leser widersprüchliche Leitlinien an die Hand gegeben werden. Der Band von Larsen et al. (1980) war trotz seines empirischen Detailreichtums zu einzelnen Ausprägungen des Faschismus nicht deutlich erfolgreicher (denn das bahnbrechende Kapitel von Stanley Payne zur Faschismusdefinition wurde nicht auf den ganzen Band angewandt).
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3. Veränderungen und frischer Wind Und dennoch blies nach einigen Jahren wieder ein frischer Wind oder zwnindest schien es einigen von uns so. Im Vorwort von "International Fascism: Theories, Causes and the New Consensus", einer kurzen Anthologie von Sekundär- und Primärquellen, stellte ich 1998 die Vermutung an, dass sich eine spontane Annäherung von diversen theoretischen Positionen und ein pragmatisches Alltagsverständnis abzuzeichnen begann. Sowohl unter einschlägigen allgemeinen Faschismustheoretikern als auch unter Spezialisten, die zu konkreten Aspekten des Nazismus und Faschismus beziehungsweise deren Verhältnis zueinander forschten, kristallisierte sich eine Konvergenz um die Annahme heraus - auch wenn diese in Publikationen nur implizit blieb -, dass Faschismus auf einer Ebene mit anderen zentralen politischen Ideologien erörtert werden müsse und nicht als ein Sonderfall, der sich hauptsächlich über seine Negationen (Antiliberalismus, Antisozialismus etc.), Organisationsformen (paramilitärische Formationen, Führerkult, Korporatismus usw.) oder Stil und Ästhetik: (rituelle Politik:, Massenaufmärsche) definierte. Ich nahm als gegeben hin, dass viele Vertreter einer älteren Wissenschaftlergeneration zweifelsohne daraufbestehen würden, Faschismus als zutiefst nihilistisch, barbarisch, antimodern und ohne kohärentes Weltbildjenseits eines Kultes der Verherrlichung von Aktion, Gewalt und Zerstörung zu begreifen oder, wenn sie Marxisten waren, als fundamental kleinbürgerliche oder kapitalistische Reaktion. Aber ich stellte die These auf, dass innerhalb dieses wachsenden Konsenses zusehends akzeptiert wurde, dass der Faschismus "vergleichbar mit Konservatismus, Anarchismus, Liberalismus oder dem Ökologismus (...) als Ideologie mit einer spezifischen, ,positiven', utopischen Vision eines idealen Gesellschaftszustandes definierbar ist, als eine Vision, die eine ganze Anzahl unterschiedlicher, durch lokale Umstände bestimmte Ausprägungen annehmen kann, und sich dabei dennoch innerhalb einer zentralen Matrix bestimmter, gemeinsamer Grundlagenaxiome bewegt" (ebd.). Als wäre die Behauptung nicht kühn genug gewesen, mit der ich eine erkennbar neue Phase gegenseitiger Verständigung in den Faschismusstudien konstatierte, lehnte ich mich im allgemeinen Einleitungskapitel noch weiter aus dem Fenster. Um meine Aussagen darüber, was diese ,,zentrale Matrix gemeinsamer Grundlagenaxiome" denn sei, hier kurz zusammenzufassen: Faschismus kann in ideologischer Hinsicht grob charakterisiert werden als Ideologie 1.
mit eigener revolutionärer (oder, in meiner Begriffsverwendung, "palingenetischer", siehe Griffin 1991) und modernisierender Agenda, die ihn nicht nur von autoritären Formen des Konservatismus und Kapitalismus unterscheidet, sondern auch bestimmt, wogegen sich der Faschismus wendet (die
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berühmte faschistische ,,Anti"-Dimension) und was demzufolge zum Ziel seiner Zerstörungswut und Unterdrückung wird. mit dem "populistischen" Ansinnen, die Energien all derer zu mobilisieren, die als authentische Mitglieder der nationalen Gemeinschaft begriffen werden. Dieses Anliegen unterscheidet den Faschismus von rechtsgerichteten Militärregimes, die sich damit zufrieden geben, ohne genuine gesellschaftliche Revolution die neue Ordnung von oben zu oktroyieren, gleich welche pseudopopulistische Fassade sie zu ihrer Legitimation errichten (ich bezeichne solche Regimes als "parafaschistisch"). mit einem organischen Konzept von Nation, das insbesondere im Zeitraum zwischen den Weltkriegen dynastische Traditionen und liberalen Rationalismus ablehnte zugunsten von charismatischen Energien, wie sie im Führerkult und dem allgegenwärtigen Gebrauch theatralischer und ritueller Elemente in der Politik zu beobachten sind (dazu muss man anmerken, dass diese Herangehensweise an Faschismus Elemente wie "politische Religion", Imperialismus, Führerkult oder selbst Pararnilitarismus nicht als stärker definierend erachtet als den Korporatismus oder die Jugendbewegungen, da diese als Ausdruck des Faschismus unter den besonderen Bedingungen Europas zwischen den Weltkriegen betrachtet werden und nicht als Kemeigenschaften). Auch dieser "organische" Nationalismus erklärt, wie und weshalb der Faschismus unter bestimmten Umständen ethnische, biologische, eugenische und selbst genozidale (oder, wie es Goldhagen nennt, "eliminatorische") Formen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus begünstigt oder aktiv befördert, die sich gegen Gruppen richten, welche mit physischer und moralischer Dekadenz beziehungsweise "Entartung" assoziiert werden. Dennoch muss betont werden, dass biologischer Rassismus an sich kein definitorischer Bestandteil des Faschismus ist.
4. Der wachsende Konsens seit "International Fascism" Als ich erklärte, dass sich die Anzeichen eines Konsenses über den Faschismus häufen würden, waren bereits mehrere wichtige Beispiele einer solchen Konvergenz aufgetaucht, unter anderem Stanley Paynes Monografie (1995), die heute noch eine der einflussreichsten Überblicksgeschichten zum generischen Faschismus in der englischen Sprache ist, eine Populärgeschichte des Faschismus von Roger Eatwell (1996) sowie Steven Shenfields Monografie zum russischen Faschis-
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mus (Shen:field 2001)5, ganz zu schweigen von einigen Aufsätzen, die ein Modell des Faschismus als revolutionärer Form des Nationalismus auf bestimmte, zum Teil sogar zeitgenössische Bewegungen anwendeten (Copsey 1994). Gleichermaßen ermutigend war 1995 das Erscheinen einer Definition von Faschismus auf der Internetseite Public Eye der American Political Research Associates, die wie eine Ankündigung der Tatsache erschien, dass die zentrale Bedeutung des "palingenetischen Mythos" für den Faschismus schließlich und endlich in der öffentlichen Debatte anerkannt wurde. Unter der Überschrift "What is Fascism? Some General Ideological Features" lesen wir Folgendes: ,,Faschismus ist eine Form rechtsextremistischer Weltanschauung, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft zelebriert, welche alle anderen Loyalitäten und Bindungen übersteigt. Er stellt den Mythos einer nationalen oder rassischen Wiedergeburt in den Vordergrund, die auf eine Zeit des Niedergangs und der Zerstörung folgt. Deshalb fordert der Faschismus eine ,geistige Revolution' gegen Anzeichen des moralischen Verfalls wie etwa Individualismus oder Materialismus und strebt danach, ,fremde' Kräfte und Gruppen, die die organische Gemeinschaft bedrohen, ,auszumerzen'. Der Faschismus überhöht häufig Maskulinität, Jugend, mystische Einheit und die generative Kraft von Gewalt ( ...). Der Faschismus lehnt liberale Werte wie Autonomie und Rechte des Einzelnen, politischen Pluralismus und repräsentative Regierungsformen ab, unterstützt aber eine breite allgemeine Teilnahme an politischem Geschehen und nutzt unter Umständen parlamentarische Kanäle, um Macht zu erlangen. Seine Vision einer ,neuen Ordnung' steht im Konflikt mit der konservativen Bindung an traditionelle Institutionen und hierarchische Ordnungen, und dennoch verklärt der Faschismus häufig die Vergangenheit romantisch als Inspirationsquelle fiir einen nationalen Neubeginn."6
Seit der Veröffentlichung von "International Fascism" ist die These des new consensus sowie der "kulturalistische" Ansatz, welchen der Band verfolgt, auf breiter Front kritisiert worden (Bosworth 1998; Blinkhorn 2000; Bauerkämper 2006a; Wippermann 2009) und nirgends war diese Kritik lautstärker (und mitunter auch beleidigender) als in den Reaktionen auf meinen - zugegebenermaßen provokant formulierten - Versuch, deutsche Historiker und Soziologen im Streitforum Erwägung- Wissenschaft-Ethik dazu zu ermutigen, die englischsprachige Forschung und deren Untersuchungen zur Einzigartigkeit des Nazismus und der vergleichenden Dimension der Faschismusforschung stärker zu berücksichtigen (vgl. die Ausgabe Erwägen-Wissen-Ethik 15 (3) von 2004; vgl. auch Umland et al. 2006). Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass einige unverbesserliche Alt-Trotzkisten unnachgiebig dem new consensus mit der Begründung fernbleiben, dass, "faschis5 6
Gerade fiir das Verständnis faschistischer Phänomene im postsowjetischen Russland dominieren mittlerweile Ansätze des new consensus (vgl. auch eine bemerkenswerte Reihe von Artikeln und Buchbeiträgen von Umland 2002, 2005, 2006, 2008a, 2008b). Übersetzt aus der Definition, die verfügbar ist unter http://www.publiceye.org/eyes/ whatfasc. htm.
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tische Ideen ernst zu nehmen" und ,,methodologische Empathie" einzusetzen, um faschistische Zielsetzungen zu verstehen, gleichzeitig hieße, diese zu rechtfertigen (Renton 1999). Dennoch haben zwei der wichtigsten Faschismusforscher der letzten Jahre, Stanley Payne und Aristotle Kallis, die These weitgehend akzeptiert, dass sich in den vergangenen 20 Jahren der Konsens, nicht der Dissens in der vergleichenden Faschismusforschung vertieft. Der neueste Fürsprecher dieses Konsenses ist der rumänische Wissenschaftler Constantin Iordachi, der in seinem Reader "Comparative Fascist Studies: New Perspectives" (2009) anerkennt, dass meine These vom new consensus zutreffend erscheint, wenn man in Betracht zieht, wie breit der Begriff tatsächlich angelegt ist. Und er merkt weiter an (ebd.: 24-25): ,,Der ,new consensus' in der neueren Faschismusforschung ist besser zu verstehen im Sinne einer lockeren Konvergenz um einen lrulturalistischenAnsatz und eine entsprechende Forschungsagenda - wie sie Griflins heuristisches Modell als Zusammenschau am treffendsten zeigt - denn als eine umfassende, detaillierte Übereinkunft über eine konkrete Standarddefinition des einschlägigen Faschismus."
Die Annahme von Definitionen des Faschismus, die mit dem new consensus weitgehend vereinbar sind, ist auch nicht auf die englischsprachige Forschung beschränkt. 1995 stellte der russische Politologe Aleksandr Galkin folgende überraschend "ontologische" Definition auf (Galkin 1995: 10): ,,[F]aschismus ist eine politisch rechtsgerichtete, konservativ-revolutionäre Bewegung, die ohne Rücksicht auf Opfer oder gesellschaftliche Kosten - versucht, real existierende Widersprüche in einer Gesellschaft dadurch einzuebnen, dass sie alles zerstört, was ihr als Hindernis fiir die Wahrung und Wiedergeburt spezifisch gedeuteter ewiger Seinsgrundlagen erscheint."?
5. Der new consensus als common sense Bis hierher mag der new consensus, wie ich ihn geschildert habe, als völlig abstraktes Phänomen ohne jeden Bezug zur tatsächlichen Geschichtsschreibung erscheinen. Deshalb möchte ich betonen, dass in den letzten 15 Jahren verschiedene Spezialisten spontan eine Faschismustheorie auf spezifische geschichtliche Abschnitte angewendet haben, die durchgängig eine totalisierende, revolutionäre ("palingenetische"?) Variante des Ultranationalismus als zumindest ein Kernstück des so genannten "faschistischen Minimums", wenn nicht als das Minimum selbst begreift. 7
In einer neueren Veröffentlichung schreibt er: ,,Fascism is right-wing conservative revolutionarism that tries - no matter the cast - 10 overcome real contradictions in a society, by destroying everything that it perceives as hindrances to preservation and rebirth of the fundamentalistically interpreted etemal foundations ofbeing" (ders. 2004: 152).
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Verschiedene wichtige Studien zum italienischen Faschismus und Nazismus (zu Ersterem vgL Ghiat 2001; Berezin 1997; Gentile 1996,2003; Braun 2000; Fogu 2003; Baldoli 2003; zu Letzterem zum Beispiel Reichardt 2002; Kroll 1999; Fritzsche 1996), Forschungsarbeiten zu den sozialen Emeuerungsprojekten des französischen Faschismus (insbesondere Antliff2007) und zur Geschichte der französischen extremen Rechten (Shields 2007), Darstellungen zur kulturellen Vision des britischen Faschismus und Neo-Faschismus (Linehan 2000; Copsey 2008) sowie Analysen des Faschismus im Rumänien der Zwischenkriegszeit8 und im postsowjetischen Russland (Shenfield 2001) gehen alle von einer "kulturalistischen" Prämisse aus hinsichtlich der zukunftsgerichteten Modemisierungsbestrebungen des Faschismus und seines revolutionären Angriffes auf den Status quo. Für Arbeiten zu konkreten Einzelaspekten des Faschismus ist es auch praktisch bereits zur Routine geworden, sich auf den Wiedergeburtsmythos als selbstverständlichen definitorischen Bestandteil des Phänomens zu beziehen. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist !an Kershaw, der als Historiker in seinen zahlreichen, überragenden Arbeiten zum Nazismus durchweg auf die Verwendung des Begriffs Faschismus verzichtet hat. Dessen ungeachtet bestätigt er in seinem Artikel "The Uniqueness ofNazism", dass das Streben nach nationaler Wiedergeburt selbstverständlich ein Kernstück aller faschistischen Bewegungen ist. Jedoch habe nur in Deutschland das Streben nach nationaler Erneuerung so stark pseudoreligiöse Züge angenommen (Kershaw 2004: 245-246). Das "selbstverständlich" in dieser Behauptung wäre noch injenen Tagen, als Tim Mason seinen Aufrufzu einer Wiederbelebung der Faschismusforschung formulierte, völlig undenkbar gewesen. An anderer Stelle spricht Kershaw zudem von der explosiven Mischung des Nationalsozialismus aus "charismatischer" Politik nationaler Erlösung und hochmodernem Staatsapparat (ebd.) und betont damit implizit erneut die Konvergenz zwischen seinem Ansatz und jener Herangehensweise an den Faschismus, die der new consensus verfolgt. Und Dietrich Orlows neuere Untersuchung zur Anziehungskraft des Faschismus in Westeuropa sieht es als erwiesen an, dass das Bestreben nach nationaler Erneuerung und Wiedergeburt ganz zentral für die Attraktivität des Faschismus in der chaotischen Phase zwischen den Weltkriegen war, und betont, dass dies besonders dann der Fall war (Orlow 2009: 8), "als die Nation unter einem demokratischen politischen System dahinsiechte und von ebenjener ,Dekadenz' durchdrungen war, welche die Faschisten so verabscheuten. Die Faschisten fei8
In Aufsätzen der jüngeren, postkommunistischen rumänischen Forschergeneration zur Eisernen Garde (Iron Guard) herrschen ebenfalls Positionen aus dem new consensus vor (zum Beispiel Sändulescu 2004; weitere Beispiele in diesem Bereich finden sich auch unter den Titeln der Vorträge zum Faschismus der 1920er und 1930er Jahre in Rumänien, die Sändulescu aufführt unter http://ceu.academia.edulValentinSanduiesculTalks; vgl. außerdem Turda 2008).
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Roger Griffin erten nicht die Gegenwart, sondern eine mythische Nation der Zukunft. Nach Roger Griflins eingängiger Formulierung waren die Faschisten ,palingenetische Nationalisten' und bestanden darauf, dass unter ihrer Führung die Nation als eine neue und vollkommene Gesellschaft wiedergeboren werde."
Ein weiteres Zeichen der Zeit war 2008 die Verleihung des renommierten George-Mosse-Preises durch das Herausgebergremium des Journal ojContemporary History an den Promotionsstudenten Gary Love aus Cambridge für seinen Aufsatz zur British Union of Fascists, in dem er ebenfalls von Annahmen des new consensus ausgeht. Der Aufsatz basiert ausdrücklich auf einem Faschismusansatz, der die Vorrangigkeit regenerativer Mythen in faschistischen Ideologien betont (jedoch natürlich nicht als Schlüssel zu jedem Teilaspekt des Faschismus in seiner ganzen Bandbreite!). Vielleicht noch bezeichnender ist, dass eine Anzahl von Kritikern des new consensus (und das schließt sowohl gemäßigte als auch streitbarere Kollegen ein) mit Definitionen arbeiten, die dem new consensus ganz offensichtlich verwandt oder mit ihm kompatibel sind (einige dieser Definitionen lassen sich sogar als verzerrte Paraphrasen meiner ursprünglichen Formulierung lesen). So erfahren wir zum Beispiel, dass der Faschismus ein "gequälter, wütender und leidenschaftlicher Schrei nach nationaler Erneuerung" sowie "uneingeschränkt nationalistisch", "erlösungsorientiert", ,,renovativ und aggressiv" ist (Gregor 1999: 162). Wir lesen auch, dass das Kernstück faschistischer Ideen und Mythen die "rassische Evolution" ist, die eine Beseitigung des bestehenden Zustands der Unterwerfung, der Dekadenz oder "Entartung" durch eine Wiedergebirt unterstellt, welche letztlich in die Schöpfung eines ,,neuen faschistischen Menschen" münden würde (Blinkhorn 2000: 115-116), und ebenso, dass der Faschismus "eine Form politischen Verhaltens" ist, die durch eine obsessive Beschäftigung mit Gemeinschaftsverfall, Erniedrigung oder einer Opferrolle charakterisiert ist sowie durch kompensatorische Kulte um Einheit, Energie und Reinheit, mit denen eine massengestützte Gruppierung überzeugter militanter Nationalisten mit revanchistischer Gewalt Ziele innerer Reinigung und Expansion nach außen zu verwirklichen sucht (Paxton 2004: 218). Faschismus sei "das Streben nach transzendenter und reinigender Nationalstaatlichkeit durch Pararnilitarismus" (Mann 2004: 13). Paradigmatisch für diese Tendenz istAmd Bauerkämper, der in einem Aufsatz extreme Skepsis hinsichtlich der Existenz eines new consensus ausdrückt (Bauerkämper 2006a), der aber in einem tTberblick zum europäischen Faschismus in seiner eigenen prägnanten Definition ohne Bedenken formuliert, dass der Faschismus das Ziel einer "radikale[n] politisch-kulturelle[n] Erneuerung unter reaktio-
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nären Auspizien" verfolgt hat (ders. 2006b: 42).9 Selbst Wolfgang Wippennann, der sich mit dem Faschismus in seinen umfangreichen Schriften über die letzten fast 40 Jahre hinweg immer in einer eigenwillig idiosynkratischen Weise befasst hat, gesteht nun zu, dass man "den Begriff einer (nationalen) ,Wiedergeburt' (...) in der Ideologie nahezu aller Faschismen [findet]" - auch wenn er uns nicht verrät, welche Faschismusformen dieses Konzept nicht verwenden -, und fahrt damit fort, die Idee des "palingenetischen Ultranationalismus" als adäquate Definitionsgrundlage hervorzuheben (Wippermann 2009: 256). Das wohl eindrucksvollste Zeugnis für die weite Verbreitung des new consensus ist die Tatsache, dass jüngst einige Historiker, deren Ansatz deutlich in der marxistischen Tradition verankert ist, die regenerative Dimension faschistischen Denkens einräumten. In seiner Monographie "Fascism and Political Theory", einem beeindruckend nachhaltigen und ernsthaften Versuch, eine neomarxistische Theorie des Faschismus zu entwerfen, die der kreativen Explosion in der englischsprachigen, nicht-marxistischen Faschismusforschung umfassend Rechnung trägt, besteht Daniel Woodley weiterhin in kontrafaktischer vulgärmarxistischer Terminologie darauf, dass die Analyse der Widersprüche des Spätkapitalismus und der Klassenverhältnisse den Schlüssel zum Faschismus birgt. Demgemäß entsteht Faschismus als militante Massenbewegung der unteren Mittelklasse, die den institutionellen Kompromiss zwischen der kapitalistischen und der organisierten Arbeiterklasse infrage stellt und versucht, den sinkenden Status und die Autorität autonomer gesellschaftlicher Zwischenschichten wieder herzustellen (Woodley 2010: 70). Zuvor noch stellt er aber ebenso fest, dass Faschismus eine "synkretistische (heterogene) Mischung aus Nationalismus, Militarismus und regenerationistischen Mythen" darstellt (ebd.: 2). Überdies bestätigt er (ebd.: 8), als handele es sich um eine gegebene Tatsache, dass ,,mit dem Erscheinen verschiedener bahnbrechender Studien, die jeweils aus unterschiedlichen Strängen nicht-marxistischer Tradition hervorgehen, ein neuer Konsens in den 1990em erzielt wurde. Ein zentrales Merkmal dieses Konsenses, der sich auf detaillierte vergleichende Darstellungen der faschistischen Ideologie in einer großen Bandbreite von Kontexten stützt, ist die Betonung, der ,Natur' des Faschismus anstelle seiner Ursachen."
Das klingt fast so, als sei Woodley darum bemüht, zu einem Ehrenmitglied des new consensus ernannt zu werden. 9
Eine Rezension zur Präsenz von new consensus-Ansätzen in der neueren und neuesten Faschismustheorie, die Bauerkämpers (2006a) Einschätzung widerspricht, findet sich bei Umland 2009. ,,Reaktionäre Auspizien" (Bauerkämper 2006b) bezieht sich auf die geheimen Absprachen zwischen Nazis und illtrakonservativen bei der Machtergreifung und verweist auf ein latentes Widerstreben, besonders unter marxistischen Theoretikern, dem Faschismus revolutionäre Tendenzen einzuräumen.
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6. Die Entstehung eines neuen new consensus (oder new wave?) in der Forschung zur politischen Rechten Auch auf die Gefahr hin, all jene noch weiter zu befremden, die die anglophone Faschismusdebatte nicht mitverfolgt haben (und warum sollten sie auch als deutschsprachige Akademiker?), sollte doch klar geworden sein, dass ich nicht im Geringsten geneigt bin, meine Behauptung über den new consensus, der sich in den 1990er Jahren abzeichnete, zurückzunehmen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass dieser Konsens 2010 tatsächlich besteht und offenbar beginnt, sich auch in marxistischen Forscherkreisen auszubreiten, in denen jahrzehntelang die bloße Andeutung, dass der Faschismus von einer genuin utopischen Ideologie totaler Revolution angetrieben wird, einem Anschuldigungen des Fraternisierens eintrug. Sobald bestimmte marxistische Intellektuelle anfangen anzuerkennen, dass dem Faschismus eine ,,zukunftsgerichtete", "modernistische" (Osborne 1995), ,,regenerationistische" oder sogar ,,resurrektive"l0 Dynamik zugrunde liegt, hat sich die Debatte über eine stärkere wissenschaftliche Konvergenz in der vergleichenden Faschismusforschung bereits überholt; dann ist der new consensus bereits Schnee von gestern. Und er ist auch längst zum Allgemeinplatz in der Disziplin geworden und nur einige vereinzelte Außenseiter kämpfen noch auf verlorenem Posten gegen imaginäre Windmühlen, um ihre völlig vernachlässigten Theorien (Gregor 1974)11 oder Nicht-Theorien (zum Beispiel Bosworth 2009) zu verteidigen oder aber den eindeutigen Standpunkt zu vertreten (den ich nie infrage gestellt habe), dass Faschismus mehr ist als nur eine Weltanschauung und daher in seinen konkreten einmaligen Manifestationen und seinen spezifischen (narrativen) Entwicklungsbögen erforscht werden muss. Ich würde dabei aber betonen wollen, dass die vergleichenden Untersuchungen in eine arge Schieflage geraten, wenn konkrete Ausformungen des "klassischen" Faschismus, der von besonderen, in den I 920ern und I930ern vorherrschenden Kräftekonstellationen (wie Führerkult, Korporatismus, Terrorapparat, Imperialismus) abhängig war, als definitorische Charakteristika behandelt werden. Verwischt würde damit die nachweisliche 10
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Mark Neoc1eous, der Herkunft nach ein marxistischer Historiker, stellt in seiner Monografie ,,Fascism" (1997) ein schwieriges Mischverhältnis aus materialistischer Analyse gesellschaftlicher Klassen und der Einsicht in die palingenetische Dimension des Faschismus her. In "The Monstrous and the Dead" (2005: insbesondere auch S. 144, Fußnote 120) widmet er ein Kapitel der Bedeutung des Mythos nicht-christlicher Auferstehung fiir faschistische überzeugungen, ein Mythos, den Neoc1eous aufgrund der Art, wie er die Angst vor physischer Sterblichkeit anspricht, in tiefer gehender, existentiellerer Weise fiir konstitutiv hält als bloße Palingenese. Gregor, auch wenn er Vordenker einer palingenetischen Faschismusauffassung ist, lehnt jegliche Andeutung ab, wonach der Nationalsozialismus zur ,,Faschismusfamilie" gehöre, und übt ätzende Kritik an der bloßen Vorstellung eines new consensus (vgl. die Debatte zwischen ihm, mir und Andreas Umland in der Ausgabe Erziehung-Wissen-Ethik2004, 15 (3».
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Kontinuität zwischen deutschem Nazismus und dem "führerlosen" Faschismus einiger zeitgenössischer gewalttätiger, rechtsextremer Gruppen in den USA (der so genannten "White Supremacy") oder zwischen dem pronationalsozialistischen Eurofaschismus, den Julius Evola in den 1930ern predigte, und der heutigen russischen Eurasischen Neuen Rechten eines Aleksandr Dugin (Shekhovtsov 2008). Abgesehen davon geht es hier um mehr als nur um akademischen ,,Fortschritt". Jonah Goldbergs Monografie "Liberal Fascism" (2008), die den US-amerikanischen Sozialliberalismus als historischen Nachfolger des Faschismus stigmatisiert, konnte nur deshalb ein so erfolgreicher Bestseller und Ideenlieferant werden, der Scharen neokonservativer Republikaner zu der Logik inspirierte, Obamas minimalistische Vorschläge für ein nationales Gesundheitssystem als "faschistisch" zu erklären, weil hinsichtlich des Begriffs in der breiten Öffentlichkeit eine derartige Verwirrung und Unkenntnis vorherrscht. Erst wenn folglich der Graben, der zwischen liberal-reformistischen und tatsächlich faschistisch-palingenetischen Formen der Politik liegt und den der new consensus aufzeigt, in das öffentliche Bewusstseinjenseits von Bibliotheken und Universitäten tritt und zum Allgemeingut wird, wird solchen Verleumdungen und Sophismen ein Riegel vorgeschoben sein. Nunmehr genug vom new consensus, denn ich glaube, dass es stattdessen höchste Zeit ist, dass sich der wissenschaftliche Fokus aufdas richtet, was aufdiesem Gebiet eine echte Neuerung darstellt, nämlich das Entstehen einer new wave interdisziplinärer, breit angelegter Extremismusforschung, welche eine ganze Reihe von Arbeiten hervorbringt, die in ihrer Perspektivierung weit über das enge politische Verständnis des Phänomens hinausgehen, das jahrzehntelang eine lähmende Vorherrschaft ausgeübt hat. Ich denke hier an Arbeiten zu politischer Religion (sowohl als sakralisierte Politik wie auch als politisierte Religion), zu Totalitarismus (als Regime und als Bewegung) und zu Biopolitik (politisierte Eugenik und Genozid) als Form eines internationalen palingenetischen Diskurses, der zur wissenschaftlichen Bekämpfung von Dekadenz aufruft; Arbeiten zu zeitgenössischem Terrorismus als Implementierung säkularer oder religiöser Utopien einer alternativen Modeme, die von dem Bedürfnis angetrieben wird, nicht nur soziopolitische Ziele zu verwirklichen, sondern auch neuen Sinn zu stiften in einem von Anomie bedrohten Zeitalter (vgL Rosenthal2002; Roberts 2006; Skya 2009; Kallis 2008; GeyerlFitzpatrick 2009).
7. Implikationen für die Extremismusforschung Die Implikationen einer solchen new wave in der Untersuchung extremer Ausprägungen des Illiberalismus für zukünftige Forschungsprojekte im Bereich der euro-
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päischen Rechten sind weit gehend. Kollaborative Ansätze können dann viel versprechende Ergebnisse zeitigen, wenn zentrale Begriffe wie politische Religion, Totalitarismus, Utopismus, Faschismus oder Ultranationalismus nicht als sich gegenseitig ausschließende, sondern vielmehr als sich komplementär ergänzende und überlappende Kategorien zugrunde gelegt werden. Sie erkennen die Kraft an, die radikale Alternativentwürfe zu bestehenden Gesellschaftsformen für die Mobilisierung "einsamer Wölfe", "groupuscules" oder größerer Teile der Gesellschaft in Verbindung mit "materiellen", soziohistorischen Kräften entwickeln können. Sie begreifen die zukunftsorientierte Dynamik, die der Angriff der extremen Rechten auf eine freiheitliche Gesellschaft birgt, ungeachtet dessen, wie verwurzelt diese auch immer in einer idealisierten oder dramatisierten Vergangenheit sein mag, sodass die Rechte durchgängig als ein Produkt der Modeme und der Suche nach einer alternativen Modernität fassbar wird. Ein solcher Ansatz erlaubt es, die Kontinuitäten zwischen dem Faschismus der 1920er und 1930er Jahre und den gegenwärtigen Formen der Rechten sowie verborgene Verbindungslinien zwischen der extremen Linken und extremen Rechten sichtbar zu machen und das Verhältnis zwischen der gewaltbereiten außerparlamentarischen Rechten und der "demokratischen" neopopulistischen wie auch metapolitischen Rechten, wie nicht zuletzt auch Affinitäten zwischen der indigenen europäisch-amerikanischen Rechten und radikalisierten Religionsformen der Hindutva und dem Islamismus, aufzeigen zu können. Als symptomatisch dafür, wie fruchtbar diese new wave als innovative Herangehensweise für die Extremisforschung ist, steht Anton Shekhovtsovs Aufsatz, in dem er den Blick auf eine neue Erscheinungsform extremistischer rechter Musik eröffnet, die eng mit Evolas Theorie der "Apoliteia" verbunden ist, die jedoch durch die Linse einer konventionell betriebenen Politikwissenschaft unsichtbar bleibt (Shekhovtsov 2009). Der Schlüssel zum Verständnis vieler, wenn natürlich auch nicht aller Aspekte der europäischen Rechten im Sinne einer extremistischen oder radikalen Ablehnung liberaler, demokratischer (westlich kapitalistischer) Grundwerte liegt in der Verortung des Faschismus der Zwischenkriegszeit innerhalb einer extrem heterogenen Revolte - eine These, die ich in "Modernism and Fascism" (2007), das, wie ich hoffe, gleichermaßen zu new consensus und new wave beiträgt, ausführlich darlege. Jene Revolte richtete sich nicht gegen den Positivismus oder die Moderne als solche, sondern gegen eine weit verbreitete Anarchie- und Dekadenzerfahrung, die die ,,modernsten" Bereiche der europäischen Gesellschaften zwischen den 1880ern und 1945 dominierte. Es handelte sich um den Versuch, die allgegenwärtige Zerrissenheit und Anomie zu überwinden, die sowohl durch "objektive" Faktoren sozioökonomischer und politischer Entwurzelung hervorgerufen wurden
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als auch durch eine akutes Gefühl von Sinnverlust, Verlust von Zielvorstellungen, von "Verfall" und "Entseelung" infolge der mit Modernisierungsprozessen verbundenen säkularisierenden, desorientierenden Einflüsse. Sobald die sozioökonomischen und ideologischen Dynamiken, die den Faschismus in seinen zahlreichen disparaten Formen zum Aufstieg verhalfen, greifbar werden und seine verborgenen Verbindungen mit solch scheinbar entgegengesetzten Kräften wie dem Bolschewismus und Anarchismus in ihrem spezifisch historischen und allgemein anthropologischen Natur (zum Beispiel hinsichtlich von Mythos und politischer Religion) aufgedeckt sind, wird die Aussicht auf eine kohärente Begriffssystematik wie auch Geschichte der europäischen Rechten denkbar. Ihre dunklen Träume von reinigender Gewalt, ethnischer Säuberung, von Restauration verlorener und hauptsächlich mythischer rassischer Homogenität und kultureller Identität werden zwar ihren Schrecken behalten, sie werden aber ihre Unbegreiflichkeit verleiren. Dabei tragen eine ganze Bandbreite von Faktoren und Bemühungen zu dieser disziplinären Selbsterneuerung einer new wave bei. Denn es ist denn utopische Selbsttäuschung zu hoffen, dass Synergieeffekte durch Zwischenkriegsgeschichte, zeitgenössische Geschichte, Politikwissenschaft und Modernismusstudien gefördert und die "empirische" Politikgeschichte mit einem nicht-reduktionistischen Kulturalismus kombiniert werden könnten, der die Macht mythischen Denkens in politischen Projekten erkennt, ohne sie zu körperlosen "Diskursen" und "Texten" zu reduzieren? Was daraus entstehen könnte, wäre eine vergleichende Perspektive, die nicht nur rechte Bewegungen der europäischen Vergangenheit und heutiger Rechter, sondern auch nicht-europäische Reaktionen auf Liberalismus, Demokratie und auf eine globalisierende westliche Modeme berücksichtigt. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist der Einsatz der von George Mosse betonten und mit solchem Erfolg angewandten - "methodologischen Empathie", um die Motive der Akteure und Protagonisten der revolutionären und populistischen Rechten über die "objektiven" Kausalzusammenhänge und materiellen Folgen ihrer Handlungen und ihrer Sache hinaus zu verstehen. Ebenso weiterführend wäre ein Verständnis für "histoires croisees" und kulturellen Transfer zwischen verschiedenen Forschungskontexten und akademischen Sprachkulturen. All das sind viel versprechende Ansätze, die das entstehende Paradigma, das ich als new wave bezeichnet habe, etablieren und vertiefen helfen und die für Wissenschaftler, die zur politischen Rechten forschen, fruchtbare Anschlussmöglichkeiten bieten. Entstehen wird daraus Forschung, für die sich nicht nur andere Spezialisten gleicher und anrainender Gebiete interessieren, sondern die konkrete Auswirkungen auf Politiker und Sozialarbeiter haben und Studenten involvieren kann. Wenn man sich dem Forschungsgebiet der Rechten in diesem Sinne nähert,
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in diesem aufgeschlossenen Geiste, den auch das Symposium in Greifswald nährte, so erscheint es wichtig, folgende Aussagen zu bedenken. Zu Beginn die Äußerungen zweier liberaler Akademiker, die erstere vom liberal orientierten Wissenschaftler und französischen Experten zum Gegenwartsrassismus, Pierre-Andre Taguieff. Er erinnert daran, dass uns weder "Faschismus" noch "Rassismus" den Gefallen tun werden, so wieder aufzutauchen, dass wir sie leicht erkennen könnten (Taguieff 1994: 54): "Wenn Wachsamkeit nur ein Spiel wäre, bei dem wir Altbekanntes wiedererkennen müssten, dann läge die einzige Herausforderung im Erinnern. Wachsamkeit wäre auf ein Gesellschaftsspiel reduziert, das lediglich Erinnerungsvermögen erfordert und die Fähigkeit, (Wieder-)Erkanntes zuzuordnen - eine tröstliche Illusion über eine unbeweglich-statische Geschichte, bevölkert mit Ereignissen, die nurmehr ganz unseren Erwartungen und Beflirchtungen entsprechen."
In eine ähnliche Richtung geht, was Umberto Eco in seinem berühmten Aufsatz zum "Ur-Faschismus" statuiert (Eco 1998: 67): "Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung. Es wäre so bequem flir uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: ,Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze marschieren!' Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen."
Der selbsterklärte, französische Nachkriegsfaschist Maurice Bardeche verkündete defensiv (Bardeche 1961: 175-176): ,,Die Einheitspartei, die Geheimpolizei, die öffentlichen Darstellungen von Cäsarismus, selbst die Anwesenheit eines Führers sind nicht notwendigerweise Attribute des Faschismus ( ...). Die berühmten faschistischen Methoden werden beständig revidiert und werden auch immer weiter überarbeitet. Wichtiger als der Mechanismus ist die Idee, die der Faschismus selbst flir den Menschen und die Freiheit entworfen hat ( ...). Unter einem anderen Namen, mit anderem Gesicht und mit nichts, was seine Herkunft preisgibt, in Form eines Kindes, das wir nicht erkennen, und dem Haupt einer jungen Medusa wird die Ordnung Spartas wiedergeboren werden - und paradoxerweise wird dies zweifelsohne die letzte Bastion der Freiheit und des süßen Lebens sein."
Und schließlich warnt Primo Levi, Opfer der bis heute drastischsten Ausprägung der europäischen Rechten (Levi 1987: 396-397): ,,Ein neuer Faschismus mit seiner Neigung zu Intoleranz, Missbrauch und Unterwerfung mag außerhalb unseres Landes entstehen und importiert werden, er mag aufZehenspitzen gehen und sich andere Namen geben oder er kann von außen mit solcher Gewalt losbrechen, dass jegliche Verteidigung vernichtend geschlagen wird. An diesem Punkt vermag guter Rat allein nichts mehr auszurichten, und wir müssen die Kraft finden zu widerstehen. Denn selbst in diesem äußersten Fall kann uns die Erinnerung daran, was noch vor nicht allzu langer Zeit im Herzen Europas geschah, als Warnung und Unterstützung dienen."
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Wären liberale Wissenschaftler zur Linken und zur Rechten bereit, ihre Besessenheit von "geistigem Eigentum" zu überwinden und die explorative, heuristische Dimension der Forschung wiederzubeleben, dann könnten wir gegenseitig voneinander lernen, wie Illiberalismus in all seinen alten und neuen Formen als beständig sich fortentwickelnde, mutierende Bedrohung von Menschenrechten und Menschenwürde besser erforscht und greifbar gemacht werden kann. Gemeinsam können wir statt müßiger Familienzwistigkeiten dann vielleicht nicht nur Wissen, sondern auch Verstehen schaffen, könnten nicht nur den liberalen Forschungskontext, sondern eine freiheitliche Gesellschaft stärken - denn, wie Ka:tka uns erinnert: "Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen."
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Autorinnen und Autoren
Ulrich Bielefeld, Dr. phil., ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dannstadt und Leiter des Arbeitsbereichs "Nation und Gesellschaft" am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Transformation nationaler Gesellschaften, Verhältnisse von Mehrheitenund Minderheiten und eine politische Soziologie Europas als Gesellschaft. Gilbert Casasus, Dr. rer. pol., ist ordentlicher Professor für Europastudien an der Universität FreiburglFribourg (Schweiz). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Neuen Rechten in Deutschland und Europa, der deutschfranzösischen Beziehungen sowie der demokratischen Herausforderungen der Europapolitik. Detlev Claussen, Dr. phil., ist Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie am Institut für Soziologie der Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Antisemitismus, Nationalismus, Xenophobie, Migrationsbewegungen, Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse. Claudia Globisch, Dr. phil., ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung, In- und Exklusionsprozesse und -theorien, Soziologie der Krise, Soziologische Theorie und Qualitative Methoden. Roger Griffin, Dr. phil., ist Professor für Zeitgeschichte an der Oxford Brookes University. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Entwicklung des generischen Faschismus, politische Religionen und die Dynamik des politischen Extremismus und Sozialutopismus (inklusive Terrorismus) als "modernistische" Antworten auf die säkulare Stoßrichtung der globalisierenden Modernisierung. Klaus Holz, Dr. habil., ist Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland e.V. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Antisemitismusforschung, politische und Kultursoziologie. C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorinnen und Autoren
Andreas Klärner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Soziologie sozialer Ungleichheit, Raumsoziologie, Mobilitäts- und Netzwerkforschung, Rechtsextremismusforschung, soziologische Theorien und qualitative Methoden. Tomasz Konicz, M.A., studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan und arbeitet als freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Er lebt unweit der westpolnischen Stadt Poznan. Magdalena Marsovszky, M.A., arbeitet als freie Autorin und ist Mitglied im Vorstand des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.V.. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des völkischen Denkens in Ungarn mit komparativem Blick auf Deutschland sowie im Bereich des Antisemitismus, Antiziganismus und Rechtsextremismus. Michael Minkenberg, Dr. phil., ist Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der vergleichenden Rechtsradikalismusforschung in Europa und Nordamerika sowie in der Analyse des Verhältnisses von Religion und Politik in westlichen Demokratien. Silke Nowak, Dr. phil., lebt in Berlin und arbeitet zu Geschichte und Theorie der modernen Lyrik, zu deutsch-jüdischer Literatur sowie als Krimiautorin. Seit 2008 ist sie Vorsitzende des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.V. Agnieszka Pufelska, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Kulturgeschichte der Neuzeit an der Universität Potsdam. IhreArbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Kultur- und Ideengeschichte der Aufklärung, osteuropäische Geschichte sowie jüdische Kulturgeschichte. Axel Schildt, Dr. phil., ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte sowie der Intellectual History des 20. Jahrhunderts.
Autorinnen und Autoren
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Zeev Sternhell, Dr. phil., ist Uon Blum Professor Emeritus an der Hebrew University in Jerusalem, Mitglied der Israel Academy of Sciences and Humanities und hat 2008 den Israel Prize für Politikwissenschaft erhalten. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Ideengeschichte der Modeme, seine Bücher zum Faschismus, Nationalismus und zur revolutionären Rechten sind in acht Sprachen verfügbar. Andreas Umland, Dr. phil., Ph. D., ist DAAD-Fachlektor am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Nationalen Universität Kiew-MohylaAkademie und Herausgeber der Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" (ibidem-Verlag). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Faschismus- und Rechtsextremismusforschung, russische und ukrainische Zeitgeschichte, postsowjetisches Hochschulwesen sowie Konzeptanalyse und Terminologie. Volker Weiß, Dr. phil., ist Historiker und Literaturwissenschaftier und arbeitet als Publizist in Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Weltanschauung der deutschen Rechten, des europäischen Faschismus sowie des Antisemitismus und Antizionismus. Er ist Vorstandsmitglied des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.Y. Michael Werz, Dr. habil., ist Senior Fellow im National Security Team am Center for American Progress in Washington DC und Adjunct Professor an der School of Foreign Service der Universität von Georgetown. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspolitik in den USA und Europa, Ideengeschichte und Antiamerikanismus. Am Center for American Progress arbeitet er zu komplexen Konfliktszenarien an der Schnittstelle Klimawandel, Migration und Sicherheit. Wolfgang Wippermann, Dr. phil., ist Professor für Neuere Geschichte am Friedrich Meinecke Institut der FU Berlin. Er forscht zu Faschismus, Totalitarismustheorien und Antiziganismus.