Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 542 All‐Mohandot
Die Ebenbilder von Falk‐Ingo Klee
Eine biologische Unmögli...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 542 All‐Mohandot
Die Ebenbilder von Falk‐Ingo Klee
Eine biologische Unmöglichkeit wird Realität
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Gegenwärtig schreibt man an Bord des Schiffes den Januar des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Gegenwärtig ist Atlan mit der abgekoppelten SZ‐2 in der Kleingalaxis Flatterfeld unterwegs. Während der Arkonide seine selbstgewählte Mission durchführt, das Geheimnis der nickelraubenden Ysteronen zu enträtseln, sorgen die nach dem Kampf gegen die Ysteronenstation an Bord der SOL genommenen Zehnlinge auf dem Generationenschiff für schwere Verwicklungen. Eine biologische Unmöglichkeit wird Realität – und es entstehen DIE EBENBILDER …
Die Hauptpersonen des Romans: Chart Deccon ‐ Der High Sideryt wird genasführt. Alpha ‐ Der Zehnling und seine »Schwestern« verschwinden. Hage Nockemann ‐ Ein Galakto‐Genetiker der SOL. Gallatan Herts ‐ Der Magnide bekommt eine Ohrfeige.
1. Der Mann, der ein wenig gebückt durch den breiten Gang in einem der oberen Decks der SZ‐1 schlurfte, wirkte unscheinbar und nicht sonderlich gepflegt. Über einer alten, abgeschabten Uniformhose trug er eine fleckige Jacke von undefinierbarer Farbe, die lappig herunterhing und dem nur 1,69 Meter großen Solaner eine Nummer zu groß war. Die grobporige Haut war faltig und ließ ihn älter erscheinen, als er mit seinen fünfundneunzig Jahren tatsächlich war. Das graue Haar hing in langen Strähnen herunter, der mächtige, walroßartige Schnauzbart überwucherte fast die blassen Lippen. Ein bißchen ähnelte er dem legendären Einstein, doch anders als der irdische Nobelpreisträger hatte Hage Nockemann nichts mit Physik zu tun – er war Galakto‐Genetiker. Seine Umwelt hielt den eingefleischten Junggesellen für einen komischen Kauz; ein wenig schrullig war er wohl auch. Vielleicht lag das daran, daß er den Kontakt zu anderen auf das Notwendigste beschränkte. Er lebte nur für seine Arbeit. Daß Nockemann einen analytischen Verstand besaß und ein Experte auf seinem Gebiet war, hatte man schon früher höheren Orts erkannt und ihm angeboten, innerhalb der SOLAG als Ahlnate tätig zu werden, doch der Wissenschaftler hatte abgelehnt. Er forschte lieber allein. Wie so oft war er auch jetzt mit einem Problem beschäftigt und achtete nicht auf seine Umgebung. Er bemerkte nicht, daß ihn
Bekannte und Kollegen grüßten, und er beachtete auch nicht die kleinen Gruppen, die sich zusammengefunden hatten und das Problem der fehlenden SZ‐2 diskutierten. Das war ein Thema, das in ohnehin nicht interessierte. Gedankenverloren betrat er den Antigravlift und ließ sich vom abwärtsgepolten Feld nach unten tragen, um einige Ebenen tiefer zu seiner Unterkunft zu gelangen. Mehr reflexhaft als bewußt nahm er den richtigen Ausstieg, durchquerte einen Flur und bog dann in einen unbelebten Korridor ein. Eine Frau kam ihm entgegen. Sie war von makelloser Schönheit, schlank und einen Kopf größer als der Wissenschaftler. Das brünette Haar mit den schwarzen Streifen darin bildete einen reizvollen Kontrast zu der bräunlich getönten Haut. Obwohl ihr Kleid weit war und locker fiel, sah man, daß sie hochschwanger sein mußte. Nockemann blickte kurz auf, dann konzentrierte er sich wieder auf seine selbstgestellte Aufgabe und ging achtlos weiter. Wie ein Schemen huschte die Frau an ihm vorbei. Da sein gesamtes geistiges Potential auf die Lösung des Problems konzentriert war, dauerte es etwas, bis die visuelle Information im Gehirn verarbeitet wurde, doch dann durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Diese Schöne kannte er! Er war einer der wenigen Solaner, die dabeigewesen waren, als man die zehn Frauen, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, aus dem Asteroiden gerettet hatte. Diese war eine davon! Die frappierende Ähnlichkeit der zehn hatte ihn vermuten lassen, daß sie nicht durch Zeugung, sondern durch Cloning entstanden sein mußten; zu seinem Leidwesen hatte er keine Gelegenheit erhalten, den Beweis für seine These zu erbringen. Das konnte er nun möglicherweise nachholen. Abrupt blieb er stehen und machte kehrt. So schnell er konnte, folgte er der Frau, die sich mit wiegenden Schritten ein Dutzend Meter vor ihm durch den Gang bewegte.
Sie ist hochschwanger! Ohne daß es ihm bewußt wurde, schüttelte er unwillig den Kopf. Er gab nichts auf sein Äußeres, und er machte sich nichts aus Frauen, aber soviel hatte er gesehen: Als sie an Bord kam, war sie rank und schlank gewesen – keine Spur von einem gewölbten Leib. Das war vor etwa drei Wochen gewesen, und in solch kurzer Zeit konnte der Leibesumfang auch bei einer schon bestehenden Schwangerschaft nicht derart zunehmen. Nein, er mußte sich geirrt haben, zumal sein Blick sie nur kurz gestreift hatte. Der Wissenschaftler verdrängte den Gedanken daran und überlegte, wie er es anstellen konnte, an das benötigte Untersuchungsmaterial heranzukommen. Ob er sie einfach ansprechen und in sein Labor bitten sollte? Nein, das ging nicht, denn welchen plausiblen Grund hätte er für eine Gewebeentnahme anführen sollen? Außerdem lag ihm nichts daran, daß sein Engagement in dieser Sache möglicherweise publik wurde. Immerhin wurde er aus eigenem Antrieb tätig, wodurch sein Interesse mit dem der Schiffsführung durchaus kollidieren konnte – schließlich hatte er keinen offiziellen Auftrag erhalten; was er beabsichtigte, lag genau besehen am Rand der Legalität. Wie immer, wenn er nachdachte, zwirbelte er seinen Schnauzbart. Plötzlich hatte er eine Idee, wie er auf ganz unverfängliche Art und Weise zu seinem Präparat kommen konnte. Er beschleunigte seine Schritte. Der Abstand zu der Verfolgten betrug mittlerweile nur noch vier Körperlängen. Anscheinend hatte sie noch nicht bemerkt, daß sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte. Ohne sich umzusehen, bog sie in eine Abzweigung ein. Schnell huschte Hage Nockemann bis zur Ecke vor, dann ging er schnellen Schrittes weiter. Wie geistesabwesend marschierte er an der Frau vorbei. Nachdem er eine kurze Distanz zwischen sich und die Fremde gebracht hatte, faßte er sich plötzlich an den Kopf, als wenn er etwas vergessen hätte. Abrupt machte der Galakto‐
Genetiker auf dem Absatz kehrt. Durch die unerwartete Reaktion konnte die Frau nicht mehr ausweichen und prallte mit dem Solaner zusammen; sie strauchelte, doch geistesgegenwärtig faßte der Mann sie an den Armen. »Oh, ich bitte um Entschuldigung«, sagte Nockemann bedauernd. »Ich war ganz in Gedanken versunken.« Er ließ sie los und trat etwas zurück, um sie zu betrachten. »Wie ich sehe, erwartest du ein Baby.« Das makellos schöne Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lächeln. »Ich hoffe, dir und dem Kind ist bei der kleinen Rempelei eben nichts geschehen.« Er blickte sie forschend an. »Oder?« Ohne etwas zu sagen, schüttelte sie den Kopf, dabei lächelte sie noch immer. »Wie ich sehe, verzeihst du mir, daß ich so ungeschickt war.« Nockemann nickte grüßend. »Ich habe es eilig. Nichts für ungut.« Er machte, daß er davonkam, denn er hatte es auf einmal tatsächlich eilig. Innerlich triumphierte er; sein Plan war aufgegangen. Unter den Nägeln seiner Finger mußten sich winzige Gewebefetzen der Schönen befinden – deutlich hatte er dünne Kratzspuren auf ihren Unterarmen gesehen. »Diesen famosen Trick muß ich mir merken«, murmelte er und kicherte lautlos. »Er gehört zwar nicht zum Repertoire eines Wissenschaftlers, aber der Zweck heiligt die Mittel. Gezielter Zusammenprall zur Gewebeentnahme.« An das Phänomen der Schwangerschaft verschwendete er einstweilen keinen Gedanken. * Das Labor, das Nockemann für seine Forschungen zur Verfügung gestellt worden war, umfaßte nicht mehr als dreißig Quadratmeter.
Links vom Eingang befand sich ein langer Tisch, auf dem Versuchsreihen aufgebaut werden konnten, darüber befand sich ein Hängeschrank, in dem sich allerlei Utensilien wie Kolben, Reagenzgläser, Nährlösungen und dergleichen mehr befanden. Die gegenüberliegende Seite nahm eine Schalteinheit ein; zwei Drittel der Wand wurden von Anzeigegeräten und Bildschirmen bedeckt. Links neben der Tür stand ein mannshoher Quader mit transparenter Sichtluke. Er war in mehrere, hermetisch voneinander getrennte Fächer unterteilt und ermöglichte es, die unterschiedlichsten Bedingungen zu schaffen – Wärme und Kälte genauso wie die verschiedensten Strahlungen oder eine Kombination dieser Techniken. Rechts vom Eingang befand sich eine verkleidete Nische; in ihr wurden die beiden Schutzanzüge aufbewahrt, die von ihrer Konzeption her autarke Lebenseinheiten waren und sich von Raumanzügen nur dadurch unterschieden, daß sie bei Druckextremen unbrauchbar waren. Der Wissenschaftler benutzte sie immer dann, wenn er mit fremden, mikroskopisch kleinen Lebensformen experimentierte wie Bakterien und Viren. Gleich daneben war ein Reinigungsrobot untergebracht. Eigentlich war diese Bezeichnung eine schamlose Untertreibung, denn die Maschine war ein hochkompliziertes Spezialgerät. Ihre Aufgabe bestand darin, den Raum und die Gerätschaften nach Versuchen zu entkeimen. Neben technischen Möglichkeiten verfügte sie über verschiedene Tanks mit Lösungen, die je nach Bedarf als Bakterizid, Viruzid oder Fungizid versprüht werden konnten. Gleich über dem Verschlag des Automaten war ein klobiger Kasten angebracht, der im Prinzip die gleiche Aufgabe erfüllte; er reinige die zurückströmende Abluft und war möglicherweise noch wirkungsvoller als der Robot, denn er verfügte zusätzlich noch über Mikrofilter. Gesteuert wurden beide von sensiblen Kompaktrechnern, deren Meßfähigkeit bis in den Molekularbereich abstrahiert war. Es gab noch einige nachgeschaltete Systeme, so daß
auf jeden Fall sichergestellt war, daß die Bevölkerung der SOL nicht das Opfer von Mikroorganismen oder unbekannten Erregern wurde. Zu diesem Komplex gehörte natürlich auch die Desinfektionsschleuse, die ebenfalls automatisch funktionierte und den Türkontakt nicht eher freigab, bis der Wissenschaftler oder Besucher keine Gefahr mehr für seine Umwelt darstellte. Die wichtigste Einheit in dem Raum – was den Forscher betraf – war jedoch die Laborpositronik. Sie nahm die gesamte Fläche der Stirnwand ein und besaß mehrere backofenähnliche, verschließbare Fächer, in denen sie verschiedene Proben gleichzeitig untersuchen konnte. Wenn man es recht betrachtete, war der Rechner ein Multifunktionsgerät; er konnte nicht nur analysieren, sondern auch simulieren, was manchmal wesentlich war, da so das Ergebnis einer langwierigen Experimentalreihe vorab hochgerechnet werden konnte. Dennoch ließen es sich die Wissenschaftler nicht nehmen, das nachzuprüfen, denn manchmal gab es geringe Abweichungen, wenn man das Ergebnis der Positronik auf einen komplexen Mechanismus übertrug, wie ihn zum Beispiel der Körper eines warmblütigen Lebewesens darstellte. Nicht alle Computer, die den Wissenschaftlern zur Verfügung standen, mußten quasi »Fachidioten« sein, doch Nockemann glaubte, daß es bei seiner Einheit der Fall war. Gewiß, er rechnete, analysierte und gab sogar Empfehlungen, doch letztendlich mußte der Mensch die Entscheidung treffen. Kauzig, wie er nun einmal war, nannte der Genetiker die Laborpositronik abfällig »Blödel«. Wie viele leistungsfähige Rechner an Bord der SOL besaß auch »Blödel« Speicherkapazitäten, die er nach Bedarf mit eigenen Informationen füllen konnte. Er tat es auch, war aber gleichzeitig bemüht, Hage Nockemann nachzueifern – sofern man diesen Begriff überhaupt auf ein solches Gerät anwenden konnte. Jedenfalls reagierte er nicht so, wie man es von einer Maschine erwartete. Als Nockemann in das Labor stürmte, wirkte er keineswegs so gebrechlich, wie er sich immer gab, sondern vital und voller
Tatendrang; das entsprach auch seiner körperlichen Verfassung, denn in Wirklichkeit war er kerngesund. Seiner Meinung nach hatte es ihn bereits zuviel Zeit gekostet, bis die Sensorik des Raumes ihn als befugt akzeptiert hatte und er die Schleuse passieren konnte. Automatisch war das Licht aufgeflammt. »Aufwachen, Blödel, es gibt Arbeit!« »Ich schlafe nie, Chef«, gab die Positronik mit männlich klingender knarrender Stimme zurück. »Warum bist du schon wieder hier? Hat man dir die Freizeit gestrichen?« »Rede keinen Unsinn«, raunzte der Genetiker. Er hatte sich auf einen Hocker gesetzt und begann vorsichtig damit, die mit bloßem Auge kaum erkennbaren Hautfetzen unter den Fingernägeln zu entfernen. Mit einer Pinzette legte er die Teilchen auf einen Objektträger und trug diesen mit einer Behutsamkeit, als handle es sich um eine Kostbarkeit, zu einem der backofenähnlichen Fächer der Positronik; danach ließ er sich vor der Schalteinheit nieder und nahm einige Einstellungen vor. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte der Solaner: »Blutuntersuchung!« Rasch setzte er hinzu: »Optische Anzeige.« Eine Reihe von Werten flimmerte über einen Monitor. Bis auf geringfügige Abweichungen entsprach alles der menschlichen Norm, doch dann stutzte er. »Was ist mit den weißen Blutkörperchen? Warum zeigst du ihre Zahl und Struktur nicht an?« »Leukozyten sind nicht vorhanden – weder Lymphozyten noch Granulozyten.« Nockemann ächzte. Er hatte noch kein humanoides Lebewesen getroffen, daß nicht über die zwischen 0,007 und 0,02 Millimeter großen Freßzellen verfügt hätte: ihre Zahl betrug etwa fünf‐ bis zehntausend Stück pro Kubikmillimeter Blut. »Wahrscheinlich hast du wieder schlampig gearbeitet, Blödel. Ein Humanoider, der nicht über ein körpereigenes Abwehrsystem verfügt, ist nicht lebensfähig. Bereits harmlose Bakterien, wie sie
überall in der Luft sind, machen einem solchen Wesen den Garaus. Kontrollanalyse!« »Erste Auswertung wird bestätigt.« Kopfschüttelnd zwirbelte Nockemann seinen Bart. Er konnte es einfach nicht glauben. Ein Lebewesen ohne dieses Immunsystem, wie es die weißen Blutkörperchen nun einmal darstellten, indem sie Krankheitserreger erkennen und »fressen« konnten, war nicht denkbar, doch es sollte noch toller kommen. Thrombozyten, die durch Zerfall von Riesenzellen des Knochenmarks entstanden und mit 0,003 Millimeter ebenfalls recht klein, dafür aber um so zahlreicher in einer Größenordnung von 300.000 bis 700.000 in einem Kubikmillimeter Blut enthalten waren, fehlten ebenfalls. Die farblosen Blutplättchen wirkten mit bei der Blutgerinnung. Und der Blutfaserstoff Fibrin, der hauptsächlich für die Blutreinigung verantwortlich war, ließ sich ebenfalls nicht nachweisen. Hage Nockemann war kurz davor, seinen Verstand zu verlieren. »Weißt du, welche Konsequenz sich daraus ergibt, Blödel?« erkundigte er sich mit matter Stimme. »Ja, du hast unbewußt einen Mord begangen, Chef«, antwortete die Laborpositronik. »Da das Wesen, dem du die Gewebeprobe entnommen hast, über keine Blutgerinnungsstoffe verfügt, ist es verblutet.« »Eben nicht. Ich habe die Frau mit eigenen Augen gesehen – die beiden Kratzer, die ich ihr beigebracht habe, haben nicht geblutet.« Der Rechner schwieg einen Moment, dann sagte er: »Ich habe meine Speicher abgefragt, so etwas gibt es nicht. Du mußt dich getäuscht haben.« »Warum soll ich mich getäuscht haben?« fauchte der Wissenschaftler. »Wer sagt mir, daß du nicht einen Defekt hast?« »Funktionsprüfung durchgeführt. Alle Systeme arbeiten einwandfrei.« »Meine auch«, giftete der Genetiker. Dabei zwirbelte er derart erregt an seinem Bart, daß er sich einige Haare ausriß und unwillkürlich aufschrie.
»Was ist, Chef? Hast du eine plausible Erklärung gefunden?« »Nein, zum Donnerwetter. Welchen Zusammenhang siehst du zwischen dem Fehlen von Granulozyten und Thrombozyten?« »Die Frau scheint auch kein Knochenmark zu haben, doch dagegen spricht, daß sie rote Blutkörperchen besitzt, die ebenfalls im Knochenmark gebildet werden. Wenn ich nicht eine so hochwertige Einheit wäre, müßte ich mich abschalten.« »Das wirst du nicht tun, sondern in der Analyse fortfahren. Die Schlußfolgerungen kannst du getrost mir überlassen.« »Bitte sehr, Chef. Ich fahre fort.« Die Zeichen auf dem Schirm wanderten nach unten weg, neue Angaben erschienen im Sichtfeld. Nockemann stöhnte unterdrückt. Blutgruppe nicht feststellbar, Rhesusfaktor nicht vorhanden. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, als er sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Gewebeprobe dieser Frau zu untersuchen, die es infolge der biologischen Abnormitäten gar nicht geben durfte? »Führe einen Schwangerschaftstest durch«, sagte er tonlos. Flimmernde Punkte auf dem dunklen Monitorhintergrund formten sich zu grünlich leuchtenden Buchstaben und Ziffern: Choriongonadotropin sowie Progesteron (C21 H30 O2) nicht vorhanden. Es liegt demnach keine Gravidität vor. »Kein Schwangerschaftshormon, keine Schwangerschaft«, murmelte Hage Nockemann bedrückt. Und doch hatte er es mit eigenen Augen gesehen. »Soll ich eine Untersuchung auf den Östrogen‐ und Gestagenanteil vornehmen?« erkundigte sich der Analyserechner. Der Galakto‐Genetiker winkte müde ab. Was spielte das noch für eine Rolle, ob wirklich weibliche Geschlechtshormone vorhanden waren? Möglicherweise befand sich nur Testosteron im Blut, und die Frau war in Wirklichkeit ein Mann … »Du kannst die Blutuntersuchung vorerst als abgeschlossen betrachten, Blödel.« »In Ordnung, Chef, das Ergebnis habe ich gespeichert«, knarrte
die Positronik. »Soll ich nun mit Gewebeanalyse beginnen?« »Später, Blödel, später. Wer weiß, was dabei herauskommt.« Der Wissenschaftler fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen. »Ich muß das erst alles einmal verarbeiten. Im Augenblick bin ich ziemlich durcheinander. Konfus ist wohl das richtige Wort dafür.« Seine Bewegungen wirkten kraftlos, als er aufstand und mit schleppenden Schritten das Labor verließ. 2. Der Kalender zeigte den 1. 1. 3792 SOL‐Bordzeit an, exakt 4.30 Uhr, als die Kabinensensorik die Beleuchtung mit minimalster Watt‐Zahl einschaltete; symbolisch war damit ein neuer Tag angebrochen. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, glitt die junge Frau geschmeidig wie eine große Katze von der breiten Schlafstatt herunter und richtete sich auf. Im schwachen Schein erschien die bräunlich getönte Haut ihres schlanken, makellosen Körpers dunkler, als sie in Wirklichkeit war. Sie warf einen Blick auf den massigen, kahlköpfigen Hünen, mit dem sie in der vergangenen Nacht das Lager geteilt hatte. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, daß er tief und fest schlief. Mit ausdruckslosem Gesicht wandte sie sich ab und huschte zu dem Sessel hinüber, auf dem sie ihre Sachen abgelegt hatte Rasch kleidete sie sich an, dann schlich sie auf Zehenspitzen hinaus ins Nebenzimmer. Es war ein 3,20 Meter hoher Raum von imposanter Größe. Er hatte sieben stufenförmige Podeste, auf einem davon stand ein thronähnlicher Sessel. Ein Teil der Einrichtung war eindeutig technischer Natur, das übrige Mobiliar bestand aus schwarzem Holz. Boden und Wände waren mit Teppichen bedeckt, Bilder oder Spiegel gab es nicht. Alles wirkte – nicht nur der spärlichen
Beleuchtung wegen – düster und bedrückend. Unbehelligt gelangte die ranke Schöne mit den mittellangen brünetten Haaren und den schwarzen Streifen darin zum Ausgang und verließ den Raum. Als sie draußen auf dem Gang stand, strich sie das locker fallende, ärmellose Kleid glatt und sah sich aufmerksam um. Es war niemand zu sehen. Lautlos wie ein Schemen huschte sie davon, allerdings schlug sie nicht die Richtung zur Unterkunft ein, sondern bewegte sich von der Klause weg tiefer ins Schiff hinein. Sie hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. * Als der Schläfer sich auf die andere Seite wälzte, brach das Schnarchgeräusch ab. Er schmatzte mehrmals, tastend streckte sich die fleischige Rechte aus, doch da war niemand, den er streicheln und liebkosen konnte. Blinzelnd öffnete der High Sideryt die Augen und blickte zur Seite. Das Bett neben ihm war leer. Ein Lächeln glitt über sein aufgedunsenes Gesicht. Wahrscheinlich befand sich Alpha nebenan in der Hygienezelle und machte sich schön für ihn. In dem wohligen Gefühl, um seiner selbst willen geliebt zu werden, schloß er die Augen wieder. Bilder vom gestrigen Abend tauchten aus seiner Erinnerung auf. Gemeinsam hatten sie Silvester gefeiert, dabei hatte er sich Mühe gegeben, den Jahreswechsel romantisch zu gestalten. Es war ihm gelungen, einen alten Leuchter mit echten Kerzen aufzutreiben. Das Mahl, das serviert worden war, war opulent gewesen, und die zwei Flaschen Wein, die sie zusammen getrunken hatten, hatten vortrefflich gemundet und für eine aufgelockerte Atmosphäre gesorgt. Sie hatten viel gelacht und eine Menge Spaß miteinander gehabt; dabei war ihm Alpha schöner und begehrenswerter als je
zuvor erschienen. Alles an ihr war makellos: Ihre wohlproportionierte Figur, das ebenmäßige Gesicht, die samtene Haut, ihre graziösen Bewegungen. Der Blick ihrer unergründlichen Augen war verführerisch, der Mund mit den vollen Lippen wirkte sinnlich. Wenn er sie in die Arme nahm, wenn er seine Lippen auf ihre preßte und sie den Kuß erwiderte – dann verspürte er jedesmal ein Gefühl von innerer Wärme, wie er es bisher nicht gekannt hatte. Für Deccon war sie nicht nur ein Vollblutweib, sondern die Erfüllung eines Traumes, ein Rausch, eine Droge. Wann immer sie in seiner Nähe war, fühlte er sich frisch und vital wie ein Vierzigjähriger. Auch Alpha schien die zärtlichen Stunden zu genießen, in der ihre Körper und Seelen zu einer Einheit wurden. Der Führer der SOLAG war ein nüchtern denkender Mann, doch er gestand sich ein, daß er verrückt nach Alpha war. Wenn sie sich vereinigten, dann war das nicht einfach die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern etwas Reines, Schönes – die totale Hingabe an den Partner, das Aufgehen in ihm, die Verschmelzung zweier egoistischer Ichs zu einem selbstlosen »Wir«. Es war die Erfüllung ihrer Liebe. Auch in der vergangenen Nacht hatten sie zueinandergefunden. Beide waren angeheitert gewesen, doch auch diesmal hatte der Bruder ohne Wertigkeit das Gefühl gehabt, auf einer rosa Wolke zu schweben, während die riesigen Wogen eines unendlichen Glücks über ihm zusammenschlugen und ihn zu ersticken drohten. Es war nicht einfach Wonne, nicht nur Euphorie – es war ein Zustand, der sich verstandesmäßig nicht erfassen und schon gar nicht in Worte kleiden ließ. Wenn er es recht bedachte, war das Leben in den letzten Jahren einfach an ihm vorbeigegangen. Er hatte gelebt wie ein Mönch und sich ausschließlich um das Wohl der SOL gekümmert, was er von den Magniden nicht immer behaupten konnte. Er lächelte versonnen, allein der Gedanke an Alpha stimmte ihn
milde. Einige Magniden unterhielten intime Beziehungen zueinander, wobei er bezweifelte, daß es Liebe war wie bei Alpha und ihm, andere bevorzugten Delikatessen und stopften sich damit voll. Er glaubte ihre Beweggründe zu verstehen, war aber gleichzeitig entschlossen, sich sein Glück nicht durch die Bord‐Routine zerstören zu lassen. Immerhin wußten auch die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit, worauf es ankam. Daß Alpha an Bord gekommen war, erschien Deccon wie eine göttliche Fügung. Er spürte, daß er regelrecht auflebte und alles positiver sah. Das Schicksal hielt nicht mehr ausschließlich Prüfungen für ihn bereit, sondern auch Freuden. Seine Stellung an Bord und sein Engagement für die SOL war auf einmal nicht mehr das Maß aller Dinge. Genauer gesagt war ihm beides derzeit ziemlich gleichgültig, und wenn Alpha es verlangt hätte, wäre er leichten Herzens von seinem Posten zurückgetreten, um als einfacher SOL‐Farmer oder Ingenieur mit ihr eine Familie zu gründen. Der massige Hüne gähnte ungeniert, reckte und streckte sich und stand dann auf. Er warf einen Blick auf das Chronometer: 9.17 Uhr, Neujahr. Mechanisch griff er nach einem Tuch, das er um seine Hüfte schlang, um seine Blöße zu bedecken, dann ging er barfuß zur Naßzelle. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen und lauschte. Als er kein Geräusch hörte, sagte er sanft: »Alpha, Liebling, brauchst du noch lange?« Er wartete einen Moment. Als eine Antwort ausblieb, wiederholte er sein Sprüchlein, doch wiederum erfolgte keine Reaktion. Nun schon merklich ungeduldiger klopfte er. Auch diesmal blieb es in der Hygieneeinheit still. Ungestüm öffnete er die Tür. »Entschuldige, aber ich …« Abrupt brach der Solaner ab, als er erkannte, daß sich die Frau nicht im Raum aufhielt. Noch empfand er keinen Argwohn, denn es
gab ja noch die Klause, die ihm als eine Art Zentrale diente und in der sich Alpha aufhalten konnte; möglicherweise interessierte sie die technische Einrichtung. Chart Deccon machte kehrt und marschierte spornstreichs hinüber zu dem einhundertzwanzig Quadratmeter großen Geviert, von dem er den – inzwischen nur noch unvollkommenen – Hantelraumer aus leitete. Wie immer in den letzten Wochen ignorierte er das Signal, das ihn bat, Kontakt mit der Zentrale des riesigen Raumschiffs aufzunehmen. Ihn interessierten derzeit weder die kleinlichen Probleme der Magniden noch die Schwierigkeiten der übrigen SOL‐ Bevölkerung. Wichtig war allein die Beziehung zu Alpha. Sie hatte nicht nur sein Leben, sondern auch seine Überzeugung, sein Selbstverständnis verändert – nicht durch Worte und fundierte Argumente, sondern allein durch ihre Anwesenheit. Er wußte nicht, wie sie wirklich hieß, er hatte ihr den Namen Alpha einfach gegeben, und sie hatte nicht dagegen protestiert. Alpha – das war der erste Buchstabe eines alten terranischen Alphabets, wie er Speicheraufzeichnungen entnommen hatte. Alpha – mit »A« begannen auch Anfang und Abschnitt – ein neuer Anfang und ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Wonnetrunken und förmlich berauscht erfaßte Deccon nicht die Merkwürdigkeiten, die mit der Frau zusammenhingen – er wollte sie auch nicht erkennen und begreifen. Er wollte nur Alpha. Suchend sah sich der mächtige Mann der SOL in seiner Klause um, doch von der Frau war keine Spur zu entdecken. Anfangs dachte er, daß sie sich einen Scherz mit ihm erlauben wollte, aber als er überall nachgesehen und sie nicht gefunden hatte, wurde er allmählich unruhig. Noch einmal durchsuchte er alles, blickte selbst unters Bett und in Einbauschränke, dann dämmerte ihm, daß Alpha verschwunden war. Aus eigenem Antrieb konnte sie es nicht getan haben, denn er war sicher, daß die Frau ihn genauso liebte wie er sie. Seine Besorgnis schlug in Groll um. Einen solchen heimtückischen
Plan, um Alpha und ihn zu entzweien oder zumindest vorübergehend zu trennen, konnten nur die Magniden ausgeheckt haben. Kein anderer im Schiff sonst besaß die entsprechenden Möglichkeiten. Er nahm sich nicht die Zeit, sich etwas überzuziehen, sondern eilte gleich zum Kommunikationssystem, um Verbindung mit der Zentrale aufzunehmen. Wütend hieb er mit der Faust auf den entsprechenden Schalter. * Wie so oft in den letzten Tagen hatten sich alle an Bord verbliebenen Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit in der Zentrale versammelt. Sie hielten eine Art Kriegsrat ab, und diskutierten die Lage. »Auf die Dauer kann es so nicht weitergehen«, sagte der kahlköpfige Nurmer. Bedächtig strich er sich über seinen langen Kinnbart. »Seit diese Frauen an Bord genommen wurden, kümmert sich Chart in keiner Weise mehr um die SOL. Sie scheint ihm auf einmal völlig gleichgültig zu sein. Tag und Nacht beschäftigt er sich nur noch mit seiner Alpha und läßt nahezu alle Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen, unbeantwortet. Gewiß, er stammt aus unseren Reihen, und wir haben das gleiche Grundwissen, aber es gibt Probleme, die er als Chef der SOLAG und Führer der SOL ausschließlich allein entscheiden muß. Unzweifelhaft verfügt ein High Sideryt über Informationsquellen und Mittel, die uns nicht zur Verfügung stehen.« Die anderen weiß gewandeten Magniden nickten beifällig. »Ich frage mich sowieso, was er an dieser Fremden findet«, sagte Curie van Herling anzüglich. Sie war wie immer stark geschminkt. »Meiner Meinung nach gibt es schönere Frauen an Bord.« Der nur 151 Zentimeter große, leicht verwachsene Gallatan Herts
kicherte verhalten. Gehässig meinte er: »Du gehörst bestimmt nicht dazu. Dick ist unser Boß selbst, und ganz knusprig bist du auch nicht mehr.« Die füllige Frau mit dem runden Gesicht funkelte den Sprecher böse an. »Eines Tages wirst du an deinem eigenen Gift ersticken«, fauchte sie. »Wenn ich es recht bedenke, ist es eigentlich schade, daß dein Extra dich nur vorübergehend gelähmt hat.« Das bleiche Gesicht Hertsʹ verzog sich zu einer Grimasse. »Nimm dich in acht, Curie. Niemand beleidigt mich ungestraft.« »Drohungen dieser Art lassen mich kalt«, gab die Schwester der ersten Wertigkeit verächtlich zurück. »Nun hört doch mit dieser kleinlichen Streiterei auf.« Wajsto Kölschs Stimme wirkte versöhnlich. »Wir haben weiß Gott besseres zu tun, als uns gegenseitig zu zerfleischen. Denkt nur einmal an die abgekoppelte SZ‐2. Seit fast sechs Wochen haben wir keinen Kontakt zur Teileinheit der SOL, und immerhin sind zwei aus unserem Kreis an Bord.« »Palo Bow und Brooklyn haben das aus freien Stücken getan.« Die tiefliegenden wasserblauen Augen des hundertjährigen Herts glitzerten tückisch. »Was gehen uns die beiden Fortschrittler überhaupt an? Schließlich war es ihr Wunsch.« Nurmer, der älteste Magnide, wurde ungehalten. Er war wie sein Vorredner ein Traditionalist und kehrte stets den väterlichen Freund heraus, aber eine solche Unterstellung wollte er nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen. »Du hältst jetzt am besten den Mund«, fuhr er den streitsüchtigen Mann an. »Es geht nicht nur um Palo und Brooklyn, sondern auch um die anderen an Bord der SZ‐2 und um unser Schicksal. Oder hast du die Unruhen vergessen, die es wegen der fehlenden Kugel hier gab und noch gibt? Es vergeht nahezu kein Tag, an dem diese Bora St. Felix nicht vorstellig wird.« »Ich denke, darüber können wir uns später noch unterhalten.«
Ursula Grown unterstrich ihre Worte gestenreich. »Unser vorrangiges Problem heißt im Moment Chart Deccon. Obwohl wir ihn nachdrücklich darauf hingewiesen haben, daß zehn gleich aussehende Frauen an Bord gekommen sind, nimmt er das einfach nicht zur Kenntnis. In seinem Wahn glaubt er, daß er es nur mit einer ›Alpha‹ zu tun hat.« »So solltest du nicht vom High Sideryt sprechen«, beschwerte sich Lyta Kunduran. Mit neunundzwanzig Jahren war sie das jüngste Mitglied in dieser erlauchten Runde und erst seit rund zwanzig Monaten Schwester der ersten Wertigkeit. Sie verehrte Deccon insgeheim, allerdings war ihre Zuneigung rein platonischer Art, mehr Achtung und Wertschätzung; man sagte der schlanken Frau nach, daß sie zu Positroniken ein innigeres Verhältnis als zum anderen Geschlecht hatte. Das hatte ihr den Spitznamen »Bit« eingebracht. Ursula Grown, neunundachtzig Jahre alt, blickte die Jüngere hochmütig an. »Gewiß wäre es unpassend, wenn du so von Chart reden würdest, aber schließlich kenne ich ihn schon eine Reihe von Jahren und kann mir daher ein offenes Wort erlauben.« Beifallheischend blickte sie sich um. »Außerdem sind wir hier zusammengekommen, um eine Lösung zu finden und nicht, um Höflichkeitsfloskeln auszutauschen.« »Ganz recht«, meldete sich Arjana Joester zur Wort, die bisher geschwiegen hatte. »Du hast angesprochen, daß Deccon glaubt, daß es nur eine Alpha gibt. Nach meinem Dafürhalten ist es aber durchaus nicht immer dieselbe Alpha, die sich in der Klause aufhält.« Vier Augenpaare blickten die hübscheste, zugleich aber auch skrupelloseste Magnidin überrascht an. Ursula Grown dagegen reagierte abweisend und brachte nicht einmal ein säuerliches Lächeln zustande, denn sie ärgerte sich, daß die andere ihr die Pointe verdorben hatte; sie war zu einem ähnlichen Schluß
gekommen. Herts zog nur die Augenbrauen hoch, konnte sich allerdings einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. »Ihr Frauen unterschätzt eben immer die Anziehungskraft und die Qualität der reiferen Männer.« »Reif bist du ja mit deinen hundert Jahren«, konterte Curie van Herling und setzte boshaft hinzu: »Aber ob die Bezeichnung ›Mann‹ auf dich zutrifft, wage ich zu bezweifeln.« Der kleine Solaner schnappte nach Luft, dann lief er dunkelrot an. Sein von der Natur ohnehin extrem gestaltetes Gesicht verzerrte sich vor Wut zu einer Grimasse, die ihn noch häßlicher machte. Geifernd wie eine gereizte Bulldogge sprang er auf, stieß wüste Drohungen aus und belegte die Frau mit unflätigen Schimpfworten. »Ruhe!« brüllte Nurmer und schlug mit der Faust krachend auf den Tisch. »Setz dich hin und gib Ruhe!« »Ich verlange Genugtuung!« kreischte der schmächtige Magnide. »Halt den Mund, oder ich lasse dich abführen«, drohte der älteste Bruder der ersten Wertigkeit. »Allmählich habe ich deine Auftritte satt.« »Ihr habt euch alle gegen mich verschworen.« »Noch ein Wort …« Gallatan Herts sah, daß es Nurmer ernst war. Er schwieg verbittert und schlich wie ein geprügelter Hund zu seinem Sessel zurück. Vorwurfsvolle Blicke trafen ihn. Die in den letzten Sekunden deutliche spürbare Spannung ließ ein wenig nach. Der kahlköpfige Magnide mit dem silbernen Kinnbart wandte sich Arjana Joester zu. »Du glaubst also, daß sich in den letzten Wochen bei Chart immer eine andere – äh – Alpha aufgehalten hat?« »Ja. Aufgrund verschiedener Beobachtungen, die ich hier nicht im einzelnen aufführen will, habe ich Grund zu dieser Annahme.« »Das wäre ja ungeheuerlich«, entfuhr es Lyta Kunduran. »Warum?«
Sie errötete und stotterte: »Na, ja, zehn Frauen … ich meine …« »Du hast nicht aufgepaßt, Kindchen«, tadelte Ursula Grown. Die zurechtgemachte Frau schüttelte mißbilligend den Kopf. »Es war nicht davon die Rede, daß dein Chef einem Harem vorsteht, sondern davon, daß Chart von der fixen Idee besessen ist, Tag und Nacht die gleiche Person um sich zu haben; er nimmt nicht zur Kenntnis, daß ›Zehnlinge‹ an Bord sind.« Sie machte eine theatralische Handbewegung. »Sogar diese geschmacklosen rosa Kleider mit den goldgelben Streifen sind bei allen gleich.« Kölsch wollte etwas sagen, doch die Magnidin ließ ihn nicht zu Wort kommen. Die Schwester der ersten Wertigkeit war bekannt dafür, daß sie gerne – und viel – redete. »Die Vermutung, die Arjana ausgesprochen hat, trifft zu. Mir kam dieser Gedanke schon ziemlich früh«, sagte sie mit einem deutlichen Seitenhieb auf Arjana Joester, »allerdings wollte ich erst sichergehen, bevor ich den Verdacht aussprach.« »Und nun bist du sicher?« »Ganz sicher.« »Ich bin ebenfalls überzeugt davon«, bekräftigte die andere. »Eigentlich seltsam, daß nur ihr beiden das bemerkt habt«, brummte Nurmer. »Komme mir jetzt nur nicht mit weiblicher Intuition«, gab die älteste Magnidin mit dem künstlichen, blau gefärbten Haar zurück. Wie alle hatte sie ihre Eigenarten, aber auch böswillige Zungen konnten ihr eine überragende Intelligenz nicht absprechen. »Der Intellekt von uns Frauen ist in dieser Beziehung ausgeprägter, das ist alles.« »Bei Curie kann ich mir das nicht vorstellen. Sie spricht nur auf Delikatessen an.« Herts grinste schadenfroh. Endlich hatte sich die Gelegenheit ergeben, es ihr heimzuzahlen. Die füllige Frau, die weder streitsüchtig war wie der Verwachsene noch dessen cholerische
Veranlagung besaß, war an einer neuerlichen Konfrontation nicht interessiert. Sie strafte den gleichrangigen Mann mit Verachtung und tat, als hätte sie nichts gehört. Auch Nurmer überging die Spitze geflissentlich. »Von weiblicher Intuition war auch nicht die Rede.« »Zwar hast du es nicht gesagt, aber gedacht, stimmtʹs?« »Wenn du damit meinst, daß ich von Eingebungen nichts halte, dann hast du recht«, gab der Solaner zu. Er strich sich nachdenklich über den silbernen Bart. »Immerhin haben wir nun etwas in der Hand, was Chart aufrütteln könnte.« »Ihr wollt ihm das mit den zehn Frauen sagen?« »Ja, Lyta, er muß auf dem schnellsten Weg in die Wirklichkeit zurückfinden.« Ursula Grown verzog ihr Gesicht zu einem maskenhaften Lächeln. »Meines Erachtens kann eine solche Eröffnung ein heilsamer Schock für ihn sein.« »Hoffentlich glaubt er uns überhaupt«, meinte Kölsch. In diesem Augenblick sprach der Interkomanschluß an, der Deccons Klause mit der Zentrale verband. Gallatan Herts, der Dienst hatte, sprang auf und eilte zum Aufnahmebereich der Bildübertragung. »Daß er von sich aus mit uns Kontakt aufnimmt, halte ich für ein gutes Omen«, sagte Nurmer hoffnungsfroh. »Das kann nur bedeuten, daß er die Realitäten wieder erkennt.« »Ja, Chart, was …« Weiter kam der verwachsene Magnide nicht. Deccon brüllte, daß der Lautsprecher klirrte. »Was habt ihr mit Alpha gemacht? Heraus mit der Sprache!« Unsicher blickte Herts die anderen an, doch die zuckten nur die Schultern. »Ich verstehe nicht, Chart.« »Wenn du es nicht verstehst, dann frage die anderen. Glaube ja nicht, daß ich euer abgekartetes Spiel nicht durchschaue. Ich mache dich dafür verantwortlich, Gallatan, daß Alpha in zehn Minuten
wieder bei mir ist, sonst lernt ihr mich kennen.« Der kleinwüchsige Solaner bekam große Augen. »Alpha ist verschwunden?« platzte er heraus. »Ich wußte gar nicht, daß du so gut schauspielern kannst«, grollte der High Sideryt. »Du mußt mir glauben, Chart – niemand von uns hat etwas damit zu tun. Wir haben nicht einmal gewußt, daß Alpha nicht mehr bei dir ist.« Für einen Moment wurde der Hüne unsicher, dann herrschte er den anderen an: »In zehn Minuten will ich Alpha in meiner Klause sehen!« Der Schirm wurde dunkel, die Verbindung war getrennt worden. Betroffen blickten sich die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit an. * Hage Nockemann hatte in seiner Kabine keine Ruhe gefunden, so war er ins Labor zurückgekehrt. Vielleicht fand sich doch noch eine plausible Erklärung bei der Gewebeuntersuchung. Der Genetiker hatte wieder vor der Schalteinheit Platz genommen und verfolgte gespannt die optischen Anzeigen. Bei der Grobanalyse stellte sich heraus, daß der Hautfetzen aus 19 Zellen bestand; die Affinität dieser winzigen Körper mit menschlichen Zellen war so groß, daß der Solaner schon daran zweifelte, bei der Blutuntersuchung die richtigen Werte erhalten zu haben. Die lebende Substanz der Zelle, das Zytoplasma, bestand aus Proteinen, Kohlehydraten, Lipiden und Nucleinsäuren. Desoxyribonucleinsäure, das die Eiweißsynthese und damit alle biochemischen Vorgänge in der Zelle steuert, war ebenfalls vorhanden. Nockemann nickte zufrieden. »Irgend etwas kann bei deiner Blutuntersuchung nicht stimmen,
Blödel. Den Aufbau und die Struktur der Zelle kann man bis jetzt als absolut humanoid bezeichnen.« »Warte es ab, Chef. Die optische Anzeige braucht ihre Zeit. Ich bin schon wesentlich weiter. Du wirst noch einige Überraschungen erleben.« »Ergehe dich hier nicht in dunklen Andeutungen, Blödel. Du bist eine Positronik und kein Orakel.« »Soll ich die gravierenden Daten vorziehen?« »Nein, bringe alles der Reihe nach. Ich will mir ein vollständiges Bild machen können.« »Okay, Chef.« Neue Informationen glitten über den Schirm. Es handelte sich dabei um biochemische Darstellungen und chemische Formeln. Und dann traf Hage Nockemann fast der Schlag. Die Zelle enthielt keine Chromosomen. »Das gibt es nicht«, krächzte der Wissenschaftler. Wie hypnotisiert starrte er auf den Monitor. »Das kann es nicht geben.« »Das sagen meine Speicher auch. Wenn ich nicht eine so hochwertige Einheit wäre, hätte ich mich abschalten müssen.« »Kontrollanalyse und Funktionsprüfung durchführen.« »Erste Auswertung wird bestätigt, alle Systeme arbeiten einwandfrei.« Wie betäubt saß der Mann da. Er hatte geglaubt, vom Ursprung und Ablauf des Lebens mehr zu wissen als die meisten, war auch unter den Kollegen als Koryphäe anerkannt – und nun das. Jedes Lebewesen besaß Chromosomen, auch Pflanzen. Sechsundvierzig Kernschleifen hat jeder Mensch, diese Frau aber nicht eine einzige. Das gab es sonst nur bei Viren. Der Wissenschaftler stöhnte unterdrückt. Ein komplexer Organismus ohne Chromosomen – das war undenkbar. Und es gab zehn davon – zehn gleich aussehende Frauen. Ihn schwindelte förmlich. Sie konnten nicht auf natürliche Weise entstanden sein, aber auch nicht durch Cloning. Wie dann?
DNS – wichtigster Bestandteil der Chromosomen – ist Träger der genetischen Informationen und besitzt die Eigenschaft zur identischen Reduplikation, zur Selbstvermehrung. War das die Lösung? Der genetische Code ist im Prinzip recht einfach und besteht im wesentlichen aus der Kombination von vier Buchstaben: A, G, T, C. Diese Buchstaben stehen für die Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Zwanzig beteiligte Aminosäuren sorgten für unterschiedliche Eigenschaften der Eiweiße. Jeder Doppelfaden der menschlichen Erbsubstanz hat zehn Milliarden Einzelglieder. Unwillkürlich schüttelte Hage Nockemann den Kopf. Nein, ohne Chromosomen schied auch eine ungeschlechtliche Vermehrung aus. Kopierte man ein Bild, entstand das gleiche Bild, lichtete man ein leeres Blatt ab, so gab es auch nur wieder ein leeres Blatt. In der Natur gab es aber keine leeren Blätter. Vielleicht hatte Blödel eine entartete Zelle analysiert? Er glaubte es selbst nicht, aber er klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an den berühmten Strohhalm, weil er fürchtete, sonst den Verstand zu verlieren. Der Wissenschaftler befand sich in einer Situation wie beispielsweise jemand, der ein Stück Eis in den eingeschalteten Backofen legt und nach einer Stunde feststellen muß, daß nicht ein Partikelchen davon geschmolzen ist. »Untersuche alle Zellen, die sich in den Hautfetzen befinden, Blödel. Ich will keine Details wissen; sage mir nur, ob sie Chromosomen besitzen oder nicht.« Der Genetiker versank in dumpfes Brüten. Er zuckte regelrecht zusammen, als die Laborpositronik das Ergebnis verkündete: »DNS ist in jeder Zelle vorhanden, Chromosomen fehlen überall. Bist du sicher, daß die Probe von einem Lebewesen stammt?« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Blödel. Fast bedaure ich, daß ich kein simpler Robot bin, der sich einfach abschaltet, wenn er etwas empfängt, was sich mit seiner Speicherung nicht in Einklang bringen läßt.«
»Das wäre mir gegenüber nicht fair, Chef.« »Was?« »Dich abzuschalten. Ich kann es ja auch nicht.« »Das ist doch etwas ganz anderes, Blödel.« Der Wissenschaftler stand auf und ging zu dem langen Tisch hinüber. »Was hast du nun vor, Chef?« »Ich werde noch einige Experimente mit der Probe durchführen.« »Glaubst du etwa, daß du meine Analyse widerlegen kannst?« Hage Nockemann seufzte. »Nein, Blödel. Aber vielleicht entdecke ich etwas, das alles in einem anderen Licht erscheinen läßt.« »Das ist unwahrscheinlich«, knarrte der Rechner. »Zumindest Chromosomen wirst du in den Zellen nicht finden. Du könntest sie genausogut bei mir suchen.« »Rede nicht solchen Unsinn, Blödel«, gab der Genetiker ärgerlich zurück. »Ich habe die Frau mit eigenen Augen gesehen, und das Gewebe beweist auch, daß sie ein Wesen aus Fleisch und Blut ist.« »Das es infolge der biologischen Unmöglichkeit aber nicht geben dürfte.« »Ich weiß es, also behalte deine dummen Sprüche für dich.« »Hast du eine Theorie?« »Nein, zum Teufel.« Die Positronik blieb hartnäckig. »Eine logische Erklärung wäre, daß es sich bei der Frau um einen biologischen Roboter handelt.« Nockemann fuhr herum. »Wiederhole das noch mal!« Der Rechner tat es. Schweratmend ließ sich der Solaner auf einen Hocker sinken; man sah, wie es in ihm arbeitete. »Es wäre wirklich eine logische Erklärung, Blödel«, sagte er nach einer Weile, »aber sie würde die Unmöglichkeit potenzieren. Welche Rasse, welches Wesen sollte imstande sein, die Natur mit einem solchen Geschöpf ad absurdum zu führen und gleichzeitig gewisse
Normen zu übernehmen?« Diesmal schwieg die Laborpositronik. Auf eine solche Frage wußte sie auch keine Antwort. * Sofort nach Deccons Anruf hatten sich Nurmer und Ursula Grown höchstpersönlich zum Quartier der Zehnlinge begeben. Die Magniden behandelten die Liebesaffäre des High Sideryt als geheime Kommandosache, von der niemand etwas erfahren durfte. Es war nicht auszudenken, zu welchen Reaktionen es an Bord kommen konnte, wenn publik wurde, das der SOLAG‐Führer seit Wochen in einer Traumwelt lebte und sich nicht mehr um das Schiff, sondern ausschließlich um seine Alpha kümmerte. Aus diesem Grund hatten sie darauf verzichtet, Vystiden oder Roboter zu beauftragen. Die Zurückgebliebenen sahen den Gesichtern der beiden an, daß sie keinen Erfolg gehabt hatten. »Die Unterkunft ist leer«, berichtete die Frau. »Alle zehn Frauen sind verschwunden.« »Das habe ich mir fast gedacht.« Die blauen Augen Arjana Joesters verengten sich. »Was mag das zu bedeuten haben?« »Vielleicht waren sie seiner überdrüssig«, gab Nurmer seiner Vermutung Ausdruck. »Das wäre eine plausible Erklärung«, meinte Curie van Herling. »Und sie sind deshalb so plötzlich untergetaucht, weil sie befürchteten, daß Chart sie suchen lassen könnte.« »Gut, akzeptieren wir das einmal als gegeben. Wohin können sie sich dann gewandt haben? Sie kennen die SOL doch gar nicht; außerdem würden die gleich aussehenden und gleich gekleideten Frauen doch sofort auffallen.« »Wenn sie klug sind, haben sie sich getrennt und halten sich
irgendwo versteckt.« »Nein, Nurmer, das ergibt keinen Sinn.« Die älteste Magnidin gestikulierte heftig. »Sie können sich nicht ewig verbergen, denn sie benötigen Hygieneeinrichtungen und Nahrung. Da sie hier fremd sind, ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie entdeckt werden. Und es gehört nicht viel dazu, um sich ausmalen zu können, daß sie zu Chart zurückgebracht werden. Das Ganze ist irgendwie mysteriös.« Ein Interkom sprach an. Herts zuckte unmerklich zusammen, doch zu seiner Erleichterung war es nicht die Verbindung zu Deccons Klause, sondern ein Anruf aus dem Schiff. Das dunkle Antlitz von Bora St. Felix zeichnete sich auf dem Schirm ab. »Weißt du nun endlich, wann die Teileinheit der SOL zurückkehrt?« »Nein, wir haben noch keine Nachricht von der SZ‐2.« »Allmählich solltet ihr Magniden euch eine andere Ausrede einfallen lassen.« Die Stimme der Buhrlo‐Frau klang ärgerlich. »Wißt ihr überhaupt, wie es an der Basis aussieht? Warum bewegt sich das Rumpfstück seit fast sechs Wochen nicht von der Stelle? Warum unternimmt der High Sideryt nichts?« »Der High Sideryt ist derzeit mit anderen Problemen beschäftigt«, versuchte der kleine Solaner zu besänftigen. Trotz der für sie schwierigen Situation mußten die anderen Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit lächeln. Was Herts gesagt hatte, war nicht einmal gelogen, wenngleich auch die Probleme mehr persönlicher Art waren. »Das will ich von Deccon selbst hören. Wir haben es satt, uns ständig hinhalten zu lassen. Verbinde mich mit ihm«, verlangte sie energisch. »Es ist derzeit nicht möglich. Er hat eine Besprechung mit den anderen Brüdern und Schwestern der ersten Wertigkeit.« »Findest du es nicht merkwürdig, Magnide, daß in letzter Zeit angeblich fast pausenlos konferiert wird, ohne daß etwas geschieht?«
»Dir steht es nicht zu, am High Sideryt Kritik zu üben«, gab Gallatan Herts würdevoll zurück. »Sobald eine Entscheidung getroffen wurde, wirst du es erfahren. Du kannst dir also deine ständigen Anrufe sparen und deinen Leuten sagen, daß die Schiffsführung an der Lösung des Problems arbeitet.« Der hinter seinem Rücken »Rumpelstilzchen« genannte Mann trennte die Verbindung und fuhr sich über die Stirn. »Allmählich wird diese Frau lästig. Ich möchte wissen, welcher Ungeist den Buhrlos eingegeben hat, sie zu ihrer Sprecherin zu machen.« Ohne darauf einzugehen, sagte Ursula Grown: »Wir müssen Chart informieren.« »Willst du ihm die Wahrheit sagen?« erkundigte sich Lyta Kunduran. »Natürlich, oder kannst du eine Alpha herbeizaubern?« Die Magnidin wandte sich um. »Aber nicht ich werde es ihm sagen, sondern Gallatan.« »Warum gerade ich?« empörte sich der Verwachsene. »Weil Chart dich dafür verantwortlich gemacht hat – und weil du außerdem Dienst hast.« Herts schluckte. Zögernd betätigte er den entsprechenden Schalter. Beinahe augenblicklich erschien das feiste Gesicht des Hünen auf dem Monitor. »Nun?« kam es grollend aus dem Lautsprecher. »Wir haben Alpha nicht gefunden«, sagte Herts unbehaglich. Als er sah, daß sich die Miene Deccons verdüsterte, setzte er schnell hinzu: »Alle zehn Alphas sind verschwunden.« Entweder hatte der Bruder ohne Wertigkeit den letzten Satz nicht gehört oder den Sinn nicht erfaßt. Gefährlich leise stieß er hervor: »Habt ihr Alpha auch dort gesucht, wo ihr sie versteckt habt?« »Niemand von uns hat Alpha entführt und hält sie vor dir verborgen, Chart. Du mußt uns glauben. Ursula und Nurmer waren selbst in der Unterkunft. Sie ist leer.«
»Du lügst!« hallte es durch das Rund der Zentrale. Entschlossen trat Ursula Grown nach vorn in den Aufnahmebereich der Kamera und schob Herts einfach zur Seite. »Jetzt hör mir mal zu, Chart Deccon. Es ist an der Zeit, daß du die Wahrheit erfährst. Diese Frau, die du Alpha nennst, existiert in zehnfacher Ausfertigung. Alle sehen völlig gleich aus und tragen dieselbe Kleidung. Und wir haben Beweise dafür, daß sie abwechselnd in deiner zum Liebesnest umfunktionierten Klause waren. Hast du das verstanden, Chart?« Die Magnidin machte eine umfassende Handbewegung. »Wir haben Zehnlinge an Bord genommen, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Es gibt nicht nur eine Alpha, sondern zehn davon. Alle waren bei dir, nur du hast geglaubt, daß es immer die gleiche ist. Man hat dich hinters Licht geführt, Chart, begreifst du das denn nicht? Frage deinen Verstand – schließlich bist du nicht umsonst High Sideryt.« Mit ausdruckslosem Gesicht hatte der Mann zugehört. Die Versammelten glaubten schon, daß der eindringliche Appell an die Vernunft dem Führer der SOLAG die Augen geöffnet hätte, doch dann mußten sie erkennen, daß er der Wirklichkeit noch immer entrückt war. »Du lügst genauso wie Gallatan«, polterte er los. »Ihr habt euch gegen mich verschworen, das erkenne ich immer deutlicher. Ihr strebt nach meiner Macht und versucht, Alpha in eurer schmutzigen Intrige gegen mich einzusetzen, aber das wird euch nicht gelingen. Ich verfüge über Mittel und Wege, eure Ziele zu durchkreuzen und Alpha zurückzubekommen.« Unvermittelt brüllte er: »Und wehe euch, ihr wird auch nur ein Haar gekrümmt!« »Du bist ja völlig verbohrt!« gab die Frau lautstark zurück. »Wir sind nicht deine Gegner, im Gegenteil, wir alle wollen dir helfen.« »Sicher, weil jeder von euch meine Nachfolge antreten will«, höhnte Deccon, »aber den Namen des nächsten High Sideryt habe ich bereits hinterlegt. Was ihr vorhabt, nützt euch also gar nichts …« Er machte eine kunstvolle Pause. »Es sei denn, einer von euch bringt
mir Alpha zurück. Ich habe die Möglichkeit, meinen Nachfolger jederzeit neu zu bestimmen. Denkt über meine Worte nach, ich gebe euch eine halbe Stunde Zeit. Wenn Alpha bis dahin nicht in meiner Klause ist, werde ich selbst aktiv.« Der Bildschirm wurde dunkel. Der Bruder ohne Wertigkeit hatte abgeschaltet. Es war still in der Zentrale, niemand sprach ein Wort, jeder dachte das gleiche. Eine unheilschwangere Atmosphäre entstand, Feindseligkeit lag auf einmal in der Luft. Tückische Blicke glitzernder Augenpaare kreuzten sich, man musterte sich stumm voll unverhohlener Mißgunst. Wieder einmal mehr wurde deutlich, daß die Magniden kein homogenes Team waren, sondern Widersacher, die ein Zweckbündnis auf Zeit eingegangen waren – bis einer aus der Gruppe es geschafft hatte und Führer der SOLAG wurde. Und hier bot sich eine einmalige Gelegenheit, Pluspunkte für das Amt des High Sideryt zu sammeln. Sie belauerten sich gegenseitig. Hatte jemand von ihnen trotz gegenteiliger Beteuerungen vielleicht doch etwas mit dem Verschwinden der Zehnlinge zu tun? Das war eigentlich nicht denkbar, denn eine solche Aktion erforderte doch einigen Aufwand und ließ sich schwerlich unbemerkt bewerkstelligen. Also mußte man die Frauen suchen und eine finden; Deccon glaubte ja ohnehin, daß es nur eine Alpha gab. »Ich werde mich zurückziehen«, sagte Curie van Herling beiläufig und bewegte sich betont gleichgültig zum Ausgang. »Ein Nickerchen nach all den Aufregungen wird mir nicht schaden«, brummte Nurmer und setzte sich ebenfalls in Bewegung. »Wartet, ich komme mit euch!« rief Arjana Joester. »Eigentlich haben sie recht. Im Augenblick können wir hier sowieso nichts tun«, meinte Kölsch. »Ihr bleibt gefälligst hier!« giftete Herts. »Glaubt ihr, ich wüßte nicht, warum ihr es auf einmal so eilig habt, wegzukommen?« Arjana Joester drehte sich um. Ihr hübsches, leicht asiatisch
geschnittenes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Mache dich nicht lächerlich, Gallatan. Du weißt, daß du uns nichts befehlen kannst. Es ist dein Pech, daß du Dienst hast und die Zentrale nicht verlassen darfst.« »Seid keine Narren. Glaubt ihr wirklich, daß Chart nichts Besseres zu tun hat, als seinen Nachfolger neu zu bestimmen, wenn er erst seine Alpha wiederhat?« Ursula Grown hatte so laut gesprochen, daß sie alle verstanden. »Eines Tages wird er ihrer überdrüssig, und dann steht derjenige auf einmal gar nicht gut da, der ihm die Frau zurückbrachte. Was Chart versprochen hat, geschah aus augenblicklicher Verzweiflung heraus – er hat ein seelisches Tief trotz aller Euphorie. Kein Traum dauert ewig; wenn ihn erst einmal die Realität wieder eingeholt hat, wird er sich wahrscheinlich nur ungern an diese Phase erinnern. Chart Deccon im Liebesrausch – dieses Image paßt nicht zu einem High Sideryt. Er wird es daher schnell vergessen machen wollen.« Ernüchtert blieben die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit stehen. Arjana Joester drehte sich um. »Ich glaube, ich habe dich unterschätzt, Ursula.« Die Frau mit dem blaugefärbten Haar und den künstlichen Biogeweben lächelte geschmeichelt. »Ich denke auch, daß Ursula recht hat.« Nurmer strich sich bedächtig über den Bart. »Besonders, was die zuletzt gemachten Ausführungen betrifft.« »Demnach scheinst du Erfahrung zu haben, Nurmer.« Herts rieb sich vergnügt die Hände. »Warst du auch einmal in einer solchen Situation? Ich meine, wo du dir doch immer junge Solanerinnen in die Kabine bringen läßt?« »Ich überlasse es dir, ob du den Gerüchten Glauben schenken willst oder nicht.« »Warum weichst du aus?« »Es ist unter meiner Würde, auf derartige Fragen zu antworten.« Mißvergnügt wandte der Verwachsene sich ab.
»Was sollen wir denn jetzt tun?« fragte Lyta Kunduran. »Nichts, wir warten ab. Es wäre lächerlich, wenn wir alle ausschwärmen würden, um einen Zehnling zu suchen.« Die älteste Magnidin blickte auf das Chronometer. »In siebzehn Minuten läuft die gesetzte Frist ab. Warten wir ab, was Chart unternimmt.« Quälend langsam verstrich die Zeit, die Dialoge wurden spärlicher und inhaltsloser. Gebannt verfolgten alle die Anzeige des Zeitmessers. Und dann war die gesetzte Frist vorüber. »Ich bin gespannt, was Chart nun unternehmen wird«, raunte Curie van Herling. Sie braucht nicht lange zu warten. Das Bord‐Interkomnetz wurde aktiviert, und dann war im ganzen Schiff Deccons Stimme zu hören. »Hier spricht der High Sideryt. Ich suche eine Frau namens Alpha. Wer sie gesehen hat oder etwas über ihren Verbleib weiß, kann sich direkt an mich wenden. Nun zur Person der Gesuchten. Sie ist 1,85 Meter groß, etwa dreißig Jahre alt und schlank. Die Frau hat mittellanges, brünettes Haar mit auffälligen schwarzen Streifen, die Haut ist bräunlich getönt. Bekleidet ist Alpha mit einem ärmellosen Kleid von rosa Farbe mit goldgelben Streifen Informationen über ihren möglichen oder derzeitigen Aufenthaltsort werden selbstverständlich vertraulich behandelt. Hier spricht der High Sideryt …« Die Anwesenden sahen sich entsetzt an. »Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Nurmer. »Er stellt sich selbst vor der gesamten Öffentlichkeit bloß und gibt sich der Lächerlichkeit preis.« »Chart ist ganz offensichtlich im Augenblick nicht mehr Herr seiner Sinne. Wir müssen ihn von weiteren Dummheiten abhalten und vor allem diese Durchsage stoppen. Los, kommt!« Gefolgt von den anderen Magniden außer Herts stürmte Ursula Grown davon. Ein wenig atemlos drangen sie in die Klause ein. »Hör sofort mit dem Unsinn auf, Chart«, rief die älteste Magnidin, kaum daß sich der Durchlaß geöffnet hatte. »Willst du, daß jeder an
Bord dich für einen Trottel hält, der seiner verschwundenen Geliebten nachweint?« Mit Vehemenz hieb Deccon auf den Schalter der Rundrufanlage und desaktivierte sie. Für einen Augenblick starrte er die Männer und Frauen an, dann brüllte er los: »Was fällt euch eigentlich ein, mir Befehle geben zu wollen? Wer hat euch überhaupt gerufen? Macht, daß ihr rauskommt!« Als die Magniden keine Anstalten machten, der Aufforderung nachzukommen, gab er seiner Robotwache einen Wink. »Jagt dieses Pack zum Teufel. Mir wird bei dem Anblick übel!« Die Waffenarme der Automaten ruckten hoch. Wie eine Phalanx rückten sie gegen die Solaner vor. Diese sahen ein, daß sie machtlos waren und wichen widerwillig zurück. »Es wird sich noch zeigen, wer hier der Idiot ist«, rief der massige Hüne ihnen nach. 3. Seit Alpha bei ihm war, hatte Deccon das äußere Symbol seiner Stellung, eine Art Rüstung aus blauschimmernden Metallschuppen, in einen Schrank verbannt. Nicht nur, daß er sich in diesem Aufzug der Frau gegenüber merkwürdig vorgekommen wäre, nein, er mochte die Montur auf einmal nicht mehr. Sie war erinnerungsträchtig, gewissermaßen ein Relikt aus jener weniger glücklichen Zeit, als er Alpha noch nicht kannte und seine Tage sich aneinanderreihten in jener hohlen Leere, die Pflichterfüllung hieß. Im Namen der SOLAG für die SOL. Gewiß, langweilig war es ihm nie geworden – im Gegenteil, aber wenn er es rückwirkend betrachtete, hatte er keine rechte Befriedigung dabei empfunden. Genau betrachtet war er als eine Art Biopositronik mißbraucht worden, als höchste Instanz, die zustimmen, ablehnen oder vorschlagen konnte. Er war ein einsamer
Mann gewesen, allein mit sich und den Problemen, die nicht einmal seine eigenen waren, die er sich aber als High Sideryt zu eigen machen mußte. Die menschliche Seite war dabei viel zu kurz gekommen. Es gab niemanden, der ihn umsorgte, mit dem er sich wirklich aussprechen konnte, der ihn aufrichtete, wenn er niedergeschlagen war. Es hatte keinen Schoß gegeben, in den er sein müdes Haupt legen konnte, kein zuversichtliches Lächeln hatte ihn aufgemuntert, keine Hand seine sorgenvolle Stirn gestreichelt. Das alles hatte sich geändert, als Alpha gekommen war. Sie verstand ihn ohne viel Worte und war immer für ihn da, lächelnd und freundlich. Vor ihr mußte er sich nicht in acht nehmen, sie verlangte keine Gegenleistung und strebte auch nicht nach Macht. Sie mochte ihn einfach um seiner selbst willen – jeder Blick und jede Geste bewies es. Alpha – das war gleichbedeutend mit schönen Stunden, gemeinsam verbrachten schönen Stunden. Daß sie immer wieder zueinander gefunden hatten, war ein beglückendes Erlebnis gewesen, die Erfüllung ihrer Liebe, doch selbst wenn sich Alpha ihm verweigert hätte, wäre seine Zuneigung zu ihr nicht weniger tief und intensiv gewesen. Allein ihre Anwesenheit, ihre Nähe hätte ihm genügt – eine Berührung, ein Kuß, nur eine Geste. Und nun war Alpha auf einmal verschwunden. Er war überzeugt, daß sie es nicht aus eigenem Antrieb getan hatte, denn Alpha liebte ihn. Am liebsten hätte er seine Klause verlassen, um sie zu suchen, konnte sich allerdings dazu nicht aufraffen. Er fühlte sich auf einmal hilflos. Der mächtigste Mann der SOL empfand sich nur noch als Torso, als ein Lebewesen, das nur noch auf vegetativer Basis existierte. Alpha! Der geistige Schrei verhallte ungehört. Deccons Blick umflorte sich, instinktiv griff er nach dem Kästchen, das er an einer goldenen Kette um den Hals trug und niemals
ablegte. Was sich in diesem Behälter befand, war sein Geheimnis – er hatte es nicht einmal der Frau verraten. Alpha! Der Mann in der Freizeitkleidung zuckte regelrecht zusammen, als der Interkomanschluß ansprach. Zitternd vor Erregung schaltete er auf Empfang, war aber geistesgegenwärtig genug, die Bildübertragung zu desaktivieren. Wer immer nun mit ihm sprach, konnte ihn hören, aber nicht sehen. Auf dem Schirm erschien das Gesicht eines hageren Mannes mit schulterlangen, lockigen Haaren. »Ja?« »Spreche ich mit dem High Sideryt?« »So ist es. Was willst du? Wie heißt du?« »Mein Name ist Slid Bochum. Ich habe die Frau gesehen, die du suchst.« Elektrisiert beugte der Hüne sich vor. »Wann? Wo?« »Heute morgen gegen neun Uhr im Mittelteil, Deck 14.« »Bist du sicher, daß es Alpha war? Ich meine, war es die Frau, die ich suche?« »Ja, die Beschreibung stimmt, nur …« »Was ›nur‹? Redʹ schon, Mann!« Deccon vibrierte innerlich. »Sie war hochschwanger«, sagte der Solaner zögernd. Das Hochgefühl des SOLAG‐Führers ebbte jäh ab, ihm war, als habe ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser Übergossen. Die Enttäuschung schlug in Wut um. »Alpha ist nicht schwanger, du Idiot!« brüllte er den verdutzten Mann an. »Ich hätte große Lust, dich verprügeln zu lassen.« »Aber es war diese Frau – ganz bestimmt«, stotterte Slid Bochum. »Meine Partnerin hat sie auch gesehen, sie kann es bezeugen.« Mit einem Kraftausdruck trennte der Bruder ohne Wertigkeit die Verbindung. Seine Kiefer mahlten. Soweit war es also schon, daß die
Autorität eines High Sideryt nichts mehr galt und Witzbolde mit ihm ihre Späßchen treiben wollten. Daran war nur dieser Atlan schuld. Wenn Alpha doch jetzt bei ihm wäre … Der nächste Anruf wurde angekündigt. Diesmal verzichtete Deccon darauf, sein optisches System desaktiviert zu lassen. Mit finsterer Miene blickte er in die Kamera und ging auf Empfang. »Du hast Alpha gesehen?« fragte der Hüne griesgrämig. »Wann und wo?« Zwei große blaue Augen blickten ihn an. Das junge Mädchen wirkte verschüchtert. »Warum antwortest du nicht?« »Ich … ich meine, es ist eine große Ehre für mich. Bist du wirklich der High Sideryt?« Eine Spur freundlicher meinte der Hüne: »Ja. Und nun berichte.« »Ich habe diese Frau gesehen, die du suchst. Mir fiel ihre ungewöhnliche Kleidung auf, denn ich kenne niemanden, der ein rosa Kleid mit goldgelben Streifen trägt. Es ist äußerst ungewöhnlich, aber mir gefiel es.« »Ja, es ist hübsch.« Die Stimme des Mannes klang ungeduldig. »Doch komm zur Sache. Hast du sie im Mittelteil gesehen?« »Nein, im anderen Teil der SOL, in der Nähe meiner Unterkunft.« »Wann?« »Ganz genau kann ich es nicht sagen – es wird vor neun oder zehn Tagen gewesen sein.« »Du lügst!« »Nein, es ist die Wahrheit, High Sideryt.« »Geh zum Teufel!« knurrte er und schaltete ab. Was das Mädchen gesagt hatte, war geradezu lächerlich. Zur angegebenen Zeit war Alpha noch bei ihm gewesen. Wieder meldete die Anzeige, daß jemand mit ihm Kontakt aufnehmen wollte. Er ging auf Empfang. Diesmal war es eine ältere Frau, die ihn sprechen wollte. Bevor sie den Mund öffnen konnte,
herrschte er sie an: »Überlege dir genau, ob du etwas zu sagen hast. Wenn ich merke, daß du mir Unsinn erzählst, bekommst du es mit den Vystiden zu tun!« »Warum bist du so abweisend?« fragte die dunkelhäutige Solanerin verwundert. »Ich denke, du willst etwas über diese Frau namens Alpha erfahren?« »Schon gut«, beschwichtigte Deccon. »Was weißt du?« »Ich habe sie heute morgen gesehen.« »Wo und um wieviel Uhr?« »Im Mittelteil, Deck 14. Es muß kurz nach acht Uhr gewesen sein.« »Aha. Und sie war hochschwanger, ja?« »Nein, wie kommst du darauf?« »Weil ich diesen Quatsch bereits vor ein paar Minuten schon einmal gehört habe.« »Aber das beweißt doch, daß meine Aussage stimmt«, gab die Frau verunsichert zurück. »Eben nicht!« brüllte Chart Deccon ungehalten und hieb mit der geballten Faust auf den Aus‐Schalter. Als der Schirm dunkel geworden war, lehnte er sich zurück. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Seine Sehnsucht, Alpha wieder um sich zu haben, wuchs mit jeder Minute, zugleich wuchs sein Haß auf die, die Alpha von ihm fernhielten. An den Aussagen der Anrufer glaubte er zu erkennen, daß Methode dahintersteckte; er hielt das Ganze für eine Intrige mit dem Ziel, ihn zu entmachten. Und er glaubte auch zu wissen, wer die Urheber waren: die Magniden. Sie wollten ihn verwirren und Druck auf ihn ausüben. Er gestand sich ein, daß er sich in den letzten Wochen um die SOL nicht gekümmert hatte, aber das war in seinen Augen noch lange kein Grund, ihm derart in den Rücken zu fallen. Als High Sideryt war er niemandem Rechenschaft schuldig. Ein freudloses Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn Alpha erst einmal wieder bei ihm war, würde er es diesem hinterhältigen Pack zeigen und
Konsequenzen ziehen. Noch war er der Führer der SOLAG – und er gedachte, es auch zu bleiben. Wieder sprach der Interkomanschluß an; Deccon meldete sich. Und erneut wurde ihm etwas übermittelt, was seiner Meinung nach widersprüchlich war. Er wurde grob. In den nächsten Stunden erlebte er ein Wechselbad widerstreitender Empfindungen. Dutzende von Solanern riefen an, die Alpha gesehen haben wollten, mal in der SZ‐1, mal im Mittelteil, mal schlank und mal schwanger. Manche behaupteten, ihr vor wenigen Stunden begegnet zu sein, andere hatten sie vor Tagen getroffen. Teilweise war sie zur gleichen Zeit von mehreren Personen gesehen worden, allerdings nicht am gleichen Ort, sondern in den beiden Teilen der Rumpf‐SOL auf verschiedenen Decks. Für den Hünen, der immer noch davon ausging, daß es nur eine Alpha gab, sah es so aus, als wollte man ihn zum Narren halten. Er tobte, drohte wurde lethargisch, bat und versprach Belohnungen – vergebens. Alpha blieb verschwunden. Konkretes über ihren derzeitigen Aufenthalt war nicht in Erfahrung zu bringen; zu widersprüchlich waren die Aussagen. Allmählich dämmerte ihm, daß der Rundspruch keinen Erfolg brachte, doch damit wollte er sich nicht abfinden – er mußte Alpha wiederhaben, um jeden Preis. Mit jeder Faser seines Körpers sehnte er sich nach ihr, sie war für ihn so lebensnotwendig wie der Sauerstoff, den er atmete. Er würde seine Robotwache aussenden; die Automaten mußten Alpha suchen. Wenn jemand sie finden konnte, dann waren es die ihm ergebenen Maschinen. Daran, daß die Magniden, die er ja für die Drahtzieher hielt, eine derartige Situation für sich ausnutzen, ihn überrumpeln und entmachten konnten, verschwendete er jetzt keinen Gedanken. Selbst wenn er das bedacht hätte – in seiner derzeitigen Verfassung wäre ihm das auch egal gewesen. Er wollte nur Alpha und befahl
seiner Leibwache, sie zu suchen. Die Robots zogen ab, dabei war es ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, in dem riesigen Schiff jemanden zu finden, der sich verborgen hielt oder versteckt wurde. Niemand wußte das besser als der High Sideryt, doch er wollte es nicht wahrhaben. * Hage Nockemann hatte seine Testreihe zu Ende geführt, allerdings keine neuen Erkenntnisse gewonnen; die Analyse der Positronik stimmte. Nun hockte er niedergeschlagen in seinem Labor, hilflos und überfordert zugleich. Das selbstgestellte Problem war nach seinem Dafürhalten ein unlösbares Rätsel, das den Erfahrungen der Genetik Hohn sprach. Ein Lebewesen, das keine Chromosomen besaß, war wie ein Roboter, der Duplikate von sich anfertigen sollte, aber keine Steuerung dafür besaß und trotzdem gleiche Automaten baute. So etwas konnte es einfach nicht geben, und trotzdem wurde er mit dieser Unmöglichkeit konfrontiert. Wie überall war auch in seinem Labor ein Lautsprecher angebracht, der an das Bord‐Interkomnetz angeschlossen war. Als der High Sideryt seine Durchsage machte, hörte er anfangs nur mit halbem Ohr hin, doch dann erwachte sein Interesse. Es war von der Frau die Rede, deren Gewebe und Zellen er untersucht hatte, allerdings wurde mit keinem Wort erwähnt, daß sie schwanger war. Der Wissenschaftler überlegte, ob er Kontakt mit dem SOLAG‐ Führer aufnehmen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Seinem analytischen Verstand war es nicht entgangen, daß lediglich eine Frau gesucht wurde, dabei waren deren zehn an Bord gekommen. Er wurde stutzig und erkannte auch noch andere Ungereimtheiten. In Relation zueinander gebracht, konnte sich Nockemann des Eindrucks nicht erwehren, daß Deccon entweder beeinflußt war oder nicht wußte, daß es Zehnlinge gab, wobei er die
Schwangerschaft dahingestellt ließ und erst einmal ausklammerte. Der Galakto‐Genetiker zwirbelte seinen Schnurrbart. »Ich denke, ich sollte die Sache aufklären«, meinte er zu sich selbst. »Zum Glück weiß ich, wo sich ihre Unterkunft befindet. Möglicherweise hilft mir ein Besuch ihres Quartiers auch bei meinem Problem weiter. Ihr guten Geister, steht mir bei, daß ich zu einer Lösung komme.« »Ora et labora«, ließ sich die Positronik vernehmen. »Was soll das heißen?« »Bete und arbeite.« »Das weiß ich auch, du Tölpel«, gab Nockemann ungehalten zurück. »Ich will wissen, von wem du das hast.« »Nomina sunt odiosa – Namen erregen Ärgernis.« »Nomen est omen – im Namen liegt Bedeutung«, gab der Wissenschaftler zurück. »Also, wer war es?« »Was würdest du sagen, wenn ich antworte ›nomen nescio‹?« »Rede nicht solchen Unsinn, Blödel«, fauchte der Solaner. »Natürlich kennst du den Namen – und lügen kannst du nicht. Also heraus mit der Sprache! Wer hat dir das beigebracht?« »Du, Chef.« »Ich?« erkundigte sich der Genetiker entgeistert. »Ja. Du hast gesagt, ohne Latein kommt die Wissenschaft nicht aus, und da habe ich mir eben dein Wissen in dieser Sprache zu eigen gemacht. Wie findest du das?« »Schizophren«, knurrte Nockemann und verließ das Labor. Er verdrängte das Intermezzo mit der Positronik aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Seine größte Befürchtung war, daß die Schiffsführung den Kabinentrakt ausgeräumt hatte oder bewachen ließ. Wenn das der Fall war, standen seine Chancen schlecht. Um ungesehen zum Quartier der Zehnlinge zu gelangen, nahm der Genetiker bewußt Umwege in Kauf und benutzte Korridore, die kaum frequentiert waren. Endlich stand er vor der Tür des
Kabinentrakts. Erleichtert stellte er fest, daß es keine Wachen gab. Verstohlen sah er sich um, doch der Gang war menschenleer. Als er sich dem Durchlaß näherte, öffnete sich dieser automatisch. Er huschte in den dahinterliegenden Raum. Das Licht war aufgeflammt, als er die Schwelle betrat. Hage Nockemann musterte seine Umgebung, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches; auch die anderen Zimmer, die er einer kurzen Untersuchung unterzog, lieferten ihm keinen Anhaltspunkt. Die Frauen waren spurlos verschwunden. »Das ist fatal für mich«, murmelte er und kratzte sich am Kinn. »Nun werde ich wohl nie erfahren, was es mit diesen chromosomenlosen Wesen auf sich hat.« Zwar hatte er nicht ernsthaft geglaubt, sie noch hier anzutreffen, aber er hatte zumindest gehofft, einige Dinge zu finden, die ihm weiterhalfen und die er analysieren konnte. Haare etwa, benutzte Gläser, auf denen sich Fingerabdrücke und Speichelspuren untersuchen ließen oder getragene Wäsche, doch es gab nichts von alledem – auch kein zu persönlichen Gegenstand. Sein nachdenklicher Blick fiel auf den Versorgungsrobot. Vielleicht ließe sich da ansetzen … »Hast du die Frauen, die hier wohnen, während der letzten Tage betreut und verpflegt?« »Ja. Ich stehe ausschließlich zu ihrer persönlichen Verfügung.« »Das trifft sich gut«, sagte der Solaner, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Sie haben eine neue Unterkunft bezogen. Ich soll dich zu ihnen bringen.« »Mir ist von einem Quartierwechsel nichts bekannt«, sagte der Automat mit der allen einfacheren Maschinen eigenen, programmtypischen Sturheit. »Natürlich nicht, denn die Entscheidung fiel auch erst vor einer Stunde. Nun komm endlich, die Zehnlinge«, Nockemann hüstelte, »ich meine, die zehn Frauen verlangen nach dir. Sie haben Hunger und Durst.«
Das war eine Aussage, die einen persönlichen Versorgungsrobot natürlich nicht »kalt« lassen konnte. Widerspruchslos folgte er dem Wissenschaftler nach draußen, nichtsahnend, daß ihm zumindest vorübergehend der Garaus gemacht werden sollte. * Da der Genetiker von Elektronik und Kybernetik nichts verstand, hatte er einen Ingenieur gebeten, den Automaten zu zerlegen; damit niemand Verdacht schöpfte, geschah das in Nockemanns Labor. Der Mann tat ihm den Gefallen, ohne Fragen zu stellen. Er stand in der Schuld des Wissenschaftlers; dank seiner Kenntnisse hatte er ihn vor Jahren davor bewahrt, als Mörder verurteilt zu werden und hatte anhand von Indizien seine Unschuld bewiesen. »Fertig«, sagte der schlitzäugige, schmächtige Solaner und stand auf. »Ich habe die Positronik des Robots mit der des Labors verbunden. Du kannst den Speicher jetzt abfragen.« »Danke, Bust. Setzt du den Versorgungsautomaten nachher wieder zusammen?« »Natürlich, Hage. Ich werde auch den Erinnerungssektor so manipulieren, daß die Maschine nicht mehr weiß, daß sie hier war.« »Das ist prima. Nochmals vielen Dank, Bust.« »Gern geschehen. Ich freue mich, daß ich mich ein wenig revanchieren konnte. Rufe mich, wenn du mich brauchst, du weißt ja, wo ich zu finden bin. Bis später.« »Bis später«, gab der Galakto‐Genetiker mechanisch zurück. Er wartete, bis der andere den Raum verlassen hatte, dann wandte er sich erregt an den Rechner. »Jetzt kommt deine Aufgabe, Blödel. Ich will wissen, ob der Versorgungsrobot Gespräche der Frauen aufgenommen und gespeichert hat. Wenn ja, spiele mir den Text vor.« »Okay, Chef.«
Nockemann setzte sich und wartete. Nach zwei Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, fragte er ungeduldig: »Was ist denn nun, Blödel?« »Ich arbeite gerade an der Entschlüsselung.« »Das verstehe ich nicht. Was heißt das?« »Die Zehnlinge haben sich in einer fremden Sprache unterhalten. Leider ist meine Kapazität in dieser Beziehung begrenzt, die Übersetzung gelingt mir nur teilweise.« »Egal, Hauptsache, ich verstehe den Sinn. Heraus mit der Sprache.« »Du willst das Idiom im Original hören, Chef?« »Nein, wie kommst du darauf?ʹ« »Weil du gesagt hast ›heraus mit der Sprache‹.« »Du bringst mich noch um den Verstand damit, alles wörtlich zu nehmen«, rief der Wissenschaftler wütend. »Was ich gesagt habe, bedeutet im übertragenen Sinn, daß ich endlich wissen will, was du herausgefunden hast. Ich will die Übersetzung hören. Verstehst du das, Blödel?« »Natürlich, Chef.« Die Positronik gab die vom Versorgungsautomaten gespeicherten, von ihr übersetzten Gespräche akustisch wieder. Nockemann lauschte aufmerksam. Die Frauen sprachen sich mit Namen an, die ihn irgendwie an Robotbezeichnungen erinnerten; sie nannten sich »Orderin‐1«, »Orderin‐2« bis »Orderin‐10«. Dabei schien »Orderin‐7« eine besondere Rolle zu spielen. Die anderen respektierten ihr Wort und behandelten sie mit deutlicher Hochachtung. Leider war nicht zu erfahren, welche Besonderheit sie aus dem Kreis der anderen hervorhob; immerhin schien sie den Status einer Anführerin zu besitzen. Persönliche Gespräche führten die Zehnlinge untereinander so gut wie keine. Das zentrale Thema war Deccon, allerdings ging es nicht direkt um ihn selbst, sondern darum, wer nun an der Reihe war,
zum High Sideryt zu gehen. Das Ganze wurde so leidenschaftslos besprochen und entschieden, als ginge es darum, sich die Zähne zu putzen. Jede Frau, die ein‐ oder zweimal beim SOLAG‐Führer war, verließ die Gruppe und kehrte nicht mehr in den Kreis der Zehnlinge zurück. »Weitere Informationen sind in den Speichern des Versorgungsrobots nicht enthalten«, meldete die Laborpositronik und schränkte sogleich ein: »Natürlich nur, soweit es die Frauen betrifft.« Hage Nockemann lehnte sich nachdenklich zurück und zwirbelte an seinen Bartspitzen. Viel war es nicht, was er da erfahren hatte – zumindest brachte es ihn in seinen Untersuchungen keinen Deut weiter. Immerhin hatte er einige Einzelheiten erfahren, die interessant waren, wenngleich er sich auch keinen Reim darauf machen konnte. Die Dialoge ließen ihn vermuten, daß hier ein gut vorbereiteter Plan abgelaufen war, doch er zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber, wer dahintersteckte und was damit bezweckt werden sollte. Ihm dämmerte, daß man die chromosomenlose Geschöpfe möglicherweise nicht zufällig aufgegriffen hatte, dennoch ergab das alles keinen Sinn. Welchen Zusammenhang gab es zwischen ihrem Auftauchen, den kurzen, wechselnden Besuchen beim Bruder ohne Wertigkeit und ihrem anschließenden Verschwinden? Hing das mit ihrer biologischen Abnormität zusammen? Oder verfolgten sie damit ein bestimmtes Ziel? Was war mit dem High Sideryt? Warum hatte er nur eine Alpha erwähnt und suchen lassen? Plötzlich fiel ihm ein, daß die Frau, die er getroffen hatte, schwanger war – hochschwanger. Zwar hatte die Untersuchung nichts dergleichen ergeben, aber schließlich hatte er Augen im Kopf. Ein Gedanke kristallisierte sich heraus, ein Verdacht, der in seiner Konsequenz so ungeheuerlich, so abwegig war, daß er fast davor zurückschreckte, ihn auch nur geistig zu formulieren. Hatte etwa
Deccon die Frau geschwängert? Der Gedanke faszinierte ihn, doch sein wissenschaftlicher Verstand sträubte sich heftig gegen eine solche These. Die Entwicklung neuen Lebens im Mutterleib dauerte bei Humanoiden zwischen acht und zehn Monaten, die Zehnlinge befanden sich dagegen erst seit rund drei Wochen an Bord; es war unmöglich, daß der Zellteilungsprozeß so schnell ablief. Außerdem waren keine Schwangerschaftshormone festgestellt worden, und letztendlich konnte kein Wesen ohne Chromosomen schwanger werden. Ein neues Geschöpf entsteht aus der Verbindung von weiblicher Eizelle und männlichem Sperma. Anders als alle übrigen Körperzellen besitzen diese beiden nur den hälftigen Chromosomensatz, also dreiundzwanzig Kernschleifen. Im Augenblick der Befruchtung verschmelzen sie jedoch miteinander zu einer einzigen Zelle, so daß die Chromosomenzahl wieder stimmte. Selbst wenn man unterstellte, daß Alpha über menschliche Organe wie Eierstöcke und Gebärmutter verfügte, konnte sie nie Mutter werden, denn natürlich besaßen auch ihre Eizellen keine Chromosomen; die Hälfte von Null ist auch Null. Traf nun ein Samenfaden auf eine solche Nullzelle und gelang es ihm wirklich, in sie einzudringen, dann entstand eine Zelle, die lediglich über die dreiundzwanzig männlichen Kernschleifen verfügte – damit war sie aber nicht lebens‐ und teilungsfähig; es entstand – nichts. Diesen Fakten stand gegenüber, daß die Frau weder weiße Blutkörperchen besaß noch Blutgerinnungsstoffe – auch das war eine biologische Unmöglichkeit. Gewiß, es gab früher auch Menschen, denen antihämophile Globuline fehlten, die an der vererbbaren Bluterkrankheit gelitten hatten und Gefahr liefen, bei der kleinsten Verletzung zu verbluten, aber das gehörte längst der Vergangenheit an. Aber die Frau besaß keine Blutgerinnungsstoffe und hatte trotzdem nicht geblutet. Und es gab kein Lebewesen ohne Chromosomen.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis; Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Nockemann hätte einige Jahre seines Lebens dafür gegeben, eine logische Erklärung zu finden. Er seufzte. »Ich könnte mich schon wieder abschalten, Blödel.« »Als Roboter wärst du ein echter Energiesparer, Chef, aber leider unbrauchbar«, gab die Laborpositronik mit ihrer knarrenden Stimme zurück. »Wieso?« fragte der Wissenschaftler geistesabwesend. »Weil du dich ständig desaktivieren würdest.« Der Galakto‐Genetiker starrte blicklos vor sich hin. Je mehr er von den Frauen wußte, um so größer wurde das Rätsel. Würde er je den Schleier des Geheimnisses lüften können? Oder würde sich sein Verstand, ständig mit einem unlösbaren Problem konfrontiert, in den Wahnsinn flüchten? 4. An Bord der Rumpf‐SOL schrieb man den 9. 1. 3792. Oberflächlich betrachtet, hatte sich die Situation im Schiff stabilisiert. Die rebellierenden Solaner hatten sich weitgehend beruhigt, und auch die Gläsernen schienen sich vorerst mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben bzw. damit, daß die SZ‐2 nach wie vor fehlte. Mehr und mehr resignierten. Die Magniden merkten es unter anderem daran, daß die Proteste von Bora St. Felix nicht mehr so nachhaltig erfolgten und seltener wurden. Unterschwellig jedoch gärte es nach wie vor. Es bedurfte nur eines neuen Ereignisses, um die Unruhen wieder aufleben zu lassen. Chart Deccons Aufregung hatte sich in den letzten Tagen ebenfalls gelegt, er machte eine Phase der Niedergeschlagenheit durch. Der Rundspruch war erfolglos gewesen, seine Robotleibwache war unverrichteter Dinge zurückgekehrt. In seiner Verzweiflung war er nicht davor zurückgeschreckt, SENECA zu beschuldigen, Alpha
entführt zu haben und ein Komplott gegen ihn zu schmieden, doch die Bio‐Positronik hatte zu den Vorwürfen geschwiegen und nicht einmal zu erkennen gegeben, daß sie den Kontaktversuch überhaupt registrierte. Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit schirmten den High Sideryt vor der Öffentlichkeit ab und vermieden es tunlichst, ihn mit Problemen zu konfrontieren; er mußte erst wieder zu sich selbst finden. Zufrieden beobachteten die Magniden, daß sich sein psychischer Zustand allmählich normalisierte und stabilisierte. Nach und nach schien alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen, zumal das Versorgungsproblem gelöst war. Soweit es den ewigen Kreislauf des Lebens betraf, hatte sich sowieso nichts geändert. Man lebte, liebte, Alte starben, neues Leben erblickte das Licht der Welt. Neues Leben … In den Tiefen der SOL hatte es eine Geburt gegeben, von der niemand etwas wußte. Das Kind war kein Solaner, kein Buhrlo, kein Bord‐Mutant und kein Extra. Es wuchs rasend schnell heran, entwickelte sich in wenigen Tagen zu einem erwachsenen Mann und durchlief einen Alterungsprozeß, bei dem Tage zu Jahrzehnten wurden, dann wurde dieser unerklärliche Vorgang gestoppt. Das Wesen, das seine Eltern nicht kannte, verstand sich selbst als Order‐5; es besaß Deccons gesamtes technisches Wissen. Wie es dazu gekommen war, wußte es nicht, es spielte auch keine Rolle. Wichtig war einzig und allein, daß es seine Aufgabe erfüllte, die tief in seinem Inneren verankert war. Am 9. Januar 3792 wußte es instinktiv, daß seine Zeit gekommen war. Das Geschöpf, das einem Menschen an Bord des Mittelteils und der SZ‐1 verblüffend glich, machte sich auf den Weg. Die riesige Halle war taghell erleuchtet, das Arbeitsgeräusch schweren Geräts drang bis in den hintersten Winkel. Dumpfe Schläge ließen ab und zu den ganzen Boden erzittern, die Luft roch nach Ozon. Klein wie Ameisen wimmelten Menschen und Roboter um die mächtigen Maschinenkolosse herum. Zu ebener Erde, auf
festmontierten Arbeitsbühnen und von Schwebeplattformen aus rückten Solaner und Automaten den inaktiven Produktionsanlagen zu Leibe, um sie instand zu setzen. Wenn die Robotfabrik erst einmal wieder funktionierte, würden hier die kleinen Gleiter gebaut werden, die den Verkehr innerhalb der SOL bewältigten. Auch hier sah man den Wandel, der sich in der letzten Zeit vollzogen hatte. Die verkrusteten Strukturen waren aufgebrochen worden, Ferraten und andere Solaner arbeiteten einträchtig zusammen; sogar ein gorillaähnlicher Extra befand sich bei der Gruppe. Das grünpelzige Lebewesen bediente mit großem Geschick einen gewaltigen Schlagschrauber. Insgesamt waren vierundfünfzig Männer und Frauen sowie neunzehn Roboter damit beschäftigt, die Anlage zu reparieren. Geleitet und überwacht wurde das Team von Marso Gabian. Er trug das hellblaue lange Gewand der Ahlnaten mit dem bronzefarbenen Atomsymbol auf der linken Brustseite. Von einer Antigravscheibe aus gab er über Verstärker seine Anweisungen. Der Bruder der dritten Wertigkeit war aus den Reihen der Ferraten hervorgegangen. Da er erst neunundzwanzig Jahre alt war, mußte er über beachtliche Qualitäten verfügen. In fachlicher Hinsicht traf das wohl auch zu, was man leider von seinem Charakter nicht sagen konnte. Er war herrisch, selbstgerecht und gegenüber Untergebenen überheblich und abweisend. Von seinem Äußeren her wirkte er eher unscheinbar. Gabian war mittelgroß und kräftig mit einem typischen Dutzendgesicht, das aschblonde Haar war kurzgeschnitten und straff zurückgekämmt. Er bedauerte es, daß es zu diesem Umbruch gekommen war, der einen Machtverlust für die SOLAG bedeutete. Seine Antigravscheibe verharrte in zwölf Meter Höhe auf der Stelle. Von diesem luftigen Standort aus konnte er alles im Auge behalten und notfalls eingreifen. Marso Gabian wußte nicht, über welche Möglichkeiten technischer Art man einst innerhalb der SOL verfügt hatte. Vieles, was früher
Wartung und Reparatur erleichtert hatte, war verkommen, unbrauchbar gemacht oder zerstört worden. Das, was intakt geblieben war, hatte man auf alle Instandsetzungstrupps verteilt. So mußte diese Gruppe zum Beispiel mit einem einzigen mobilen Fesselfeldprojektor auskommen. Drei Männer hatten ihn eingesetzt, um ein tonnenschweres Aggregat aus einem wuchtigen Block herauszuhieven. Entweder hatten sie Schwierigkeiten mit der Bedienung des Geräts oder keine ausreichende Erfahrung damit, jedenfalls befand sich der Brocken nicht in der Schwebe, sondern tanzte auf und ab; jeden Augenblick konnte er zu Boden stürzen und erheblich beschädigt werden. »Ihr müßt die Kapazität erhöhen«, brüllte Gabian in das vor ihm befindliche Mikrophon, das seine Stimme um ein Vielfaches verstärkte. Der Ahlnate war sicher, daß ihn die drei verstanden hatten, doch sie wirkten hilflos und bedeuteten ihm per Zeichen, helfend einzugreifen. Er ließ seine Schwebeplatte absinken und steuerte auf die Gruppe zu. Noch bevor das Transportgerät richtig zum Stillstand kam, sprang er ab und eilte zur Schalteinheit des Fesselfeldprojektors. Mit fliegenden Fingern nahm er Einstellungen und Korrekturen vor. Im letzten Moment gelang es ihm, das Aggregat zu stabilisieren und vor einem Aufprall zu bewahren. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. »Warum versucht ihr Idioten euch ausgerechnet an solchen Dingen, von denen ihr nichts versteht?« schrie Gabian aufgebracht. »Es gibt genügend andere Arbeiten, die ihr tun könnt.« Schuldbewußt senkten die Männer den Blick. »Wir wollten auch unseren Beitrag leisten und haben es gut gemeint. Woher sollten wir wissen, daß das so kompliziert ist?« Der massige Grünpelz näherte sich und schwenkte den schweren Schlagschrauber wie ein Spielzeug. »Ist irgendwo noch Schraube locker?« radebrechte er.
Der Ahlnate fühlte sich auf den Arm genommen und wirbelte herum, dann erkannte er, daß er es mit einem Extra zu tun hatte. Eigentlich mochte er sie nicht, doch dieser kam ihm wie gerufen. »Mir scheint, bei diesen Burschen hier ist eine Schraube locker«, sagte der Bruder der dritten Wertigkeit anzüglich. Das exotische Lebewesen nahm sein Gerät in Betrieb, schaltete es aber sogleich wieder ab. »Ich nix sehen lockere Schraube, ich nix sehen überhaupt Schraube. Warum du lügen, Blaukittel?« Die Mundwinkel der Solaner zuckten verräterisch. »Geht mir aus den Augen, oder ich vergesse mich!« tobte Marso Gabian. Die drei machten, daß sie davonkamen, lediglich das gorillaähnliche Lebewesen blieb zurück. Treuherzig blickte es den Bruder der dritten Wertigkeit an. »Du bist auch gemeint, Tier! Verschwinde, oder es wird dir leid tun!« »Sprache von dir schlecht. Ich nix verstehen, du böse.« »Hau endlich ab!« schrie Gabian und versetzte dem Extra einen Stoß. Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Grünpelz zurückschlagen, doch dann trollte er sich und verschwand hinter einem wuchtigen Maschinenblock. Aus zusammengekniffenen Augen blickte der Ahlnate ihm nach. »Elendes Pack.« »Warum sprichst du so abfällig von diesen Leuten?« fragte eine grollende Stimme hinter ihm. »Das geht dich überhaupt nichts an«, gab Gabian zurück. Seiner Amtswürde angemessen, drehte er sich langsam zu dem Sprecher um – und erschrak. Von einer auf die andere Sekunde änderte sich sein Verhalten. »Oh, du bist es, High Sideryt. Entschuldige, daß ich so abweisend reagiert habe, aber ich dachte, es wäre wieder jemand aus den
Reihen dieses Pöbels.« Marso Gabian wirkte zerknirscht. »Es ist nicht einfach für uns, mit ihnen auszukommen. Sie verstehen nichts von der Materie, maßen sich aber an, alles besser zu können.« »Du solltest froh sein, daß sie überhaupt mit anfassen. Eigentlich ist das, was sie tun, die Sache von euch Ahlnaten und den Ferraten. Warum legst du nicht selbst mit Hand an?« Der Blaugewandete schluckte. Vorwürfe von dieser Seite hätte er am allerwenigsten erwartet. »Aber jemand muß die Arbeiten doch koordinieren, High Sideryt.« Der Hüne grinste spöttisch. »Nennst du das Koordination, wenn du unter der Decke schwebst und herumschreist?« Marso Gabian war fassungslos. »Was soll ich denn sonst tun?« »Anstatt faul auf der Antigravscheibe zu hocken, solltest du den anderen ein Vorbild sein und mit gutem Beispiel vorangehen. Oder ist es unter deiner Würde, ein Meßgerät in die Hand zu nehmen?« »Nein, nur …« »Je schneller die SOL wieder in Ordnung kommt, um so besser. Und es ist nicht einzusehen, daß sich jemand vor der Arbeit drückt, nur weil er ein Mitglied der SOLAG ist. Oder bist du da anderer Meinung?« »Nein, High Sideryt.« »Gut. Ich werde mich mal ein wenig umsehen.« »Soll ich dich führen?« »Willst du dich schon wieder drücken? Mir scheint, du hast Besseres zu tun. Ich finde mich schon zurecht.« Sprachʹs und ließ den anderen einfach stehen. Unbewußt ballte der Ahlnate die Fäuste. Eine solche Zurechtweisung, dazu noch von höchster Stelle, war in seinen Augen eine schreiende Ungerechtigkeit, die er nicht einfach hinnehmen konnte. Als der massige Mann seinem Blickfeld entschwunden war, eilte er auf den nächsten Interkomanschluß zu.
* Wie immer in den letzten Tagen hatten sich die Magniden in der Zentrale zusammengefunden. Sie besprachen die Lage und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, daß Deccon sein seelisches Tief bald überwand. Immerhin hatte sich sein Befinden gegenüber Neujahr schon deutlich gebessert, und es gab Anzeichen dafür, daß es mit ihm weiter bergauf ging. Der Interkomanschluß sprach an. Nurmer, der Dienst hatte, stand auf und ging zur Bildschirmkonsole. Als er eingeschaltet hatte, zeichnete sich das Bild eines Ahlnaten auf dem Sichtgerät ab. »Was gibt es?« brummte der Kahlkopf. »Ich möchte die Magnidin Arjana Joester sprechen.« »Du kannst es auch mir sagen.« »Es ist eine persönliche Sache«, beharrte der Anrufer. »Also gut, ich rufe sie. Wie ist dein Name?« »Marso Gabian.« »Arjana, ein Ahlnate namens Marso Gabian will mit dir reden.« »Ich komme.« Die Frau stand auf und trat in den Aufnahmebereich der Kamera. »Was gibt es, Marso?« Der Bruder der dritten Wertigkeit berichtete, was sich zugetragen hatte. »Anstatt seine treuen Diener derart grundlos zu demütigen, sollte sich der High Sideryt lieber um die Schiffsführung kümmern«, beklagte sich der Ahlnate. Bitter fügte er hinzu: »Er hat nicht den geringsten Anlaß, an unserer Loyalität zu zweifeln und uns so in den Rücken zu fallen, noch dazu in aller Öffentlichkeit.« »Du bist ganz sicher, daß es der High Sideryt war?« fragte die Magnidin überrascht. »Natürlich.«
»Wo befindest du dich?« Gabian nannte ihr die interne Kurzbezeichnung. »Ich melde mich später bei dir, Marso.« Sie schaltete ab und nahm die Bildüberwachung des betreffenden Sektors in Betrieb. Nach mehreren Einstellungen erfaßten die Optiken tatsächlich den Hünen. Er stand bei einer Gruppe von Solanern, sprach mit ihnen und legte sogar selbst mit Hand an, als sie mit einer Sonde nicht zurechtkamen. Arjana Joester ging auf Ausschnittverkleinerung. Der Televorsatz holte ihn ganz nah heran. »Bei allen Raumgeistern, es ist wirklich Chart!« stieß sie hervor. Aufgeregt wandte sie sich um. »Kommt schnell mal her und seht euch das an!« Die anderen kamen herbei. Sie waren nicht weniger überrascht als ihre Kollegin. »Er hat die Krise überwunden«, jubelte Lyta Kunduran. Curie van Herling warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. »Chart ist tatsächlich wieder ganz der Alte«, stellte sie zufrieden fest. »Er hat sich erstaunlich schnell wieder erholt«, meinte Ursula Grown. »Ich meine, er wirkt bemerkenswert frisch und vital.« Die anderen pflichteten ihr bei. »Jedenfalls bin ich froh, daß er die Affäre mit den Zehnlingen überwunden hat«, sagte Nurmer und sprach damit allen aus dem Herzen. »Nun, wo sich Chart wieder selbst um die SOL kümmert, haben wir das Schlimmste hinter uns.« Das dachten alle. Sie wußten nicht, wie sehr sie sich irrten. Zusammen betraten Nurmer und Ursula Grown die Klause. Der Bruder ohne Wertigkeit hatte sie rufen lassen. Deccon blickte die beiden trübsinnig an, dann deutete er mit einer müden Handbewegung zur Seite. »Setzt euch.« Die beiden kamen der Aufforderung nach.
»Ich habe euch zu mir gebeten, weil ich ein vertrauliches Gespräch mit euch führen will. Ihr seid reifer und abgeklärter als die anderen, daher erwarte ich von euch mehr Toleranz und Verständnis.« Die Magniden warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Das hier war nicht der Chart Deccon, den sie vorhin auf dem Bildschirm gesehen hatten. Er wirkte übernächtigt, die Haut hatte einen fahlen Schimmer, unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Irgend etwas konnte da nicht stimmen. »Es geht um Alpha – um meine Alpha. Ihr müßt mir sagen, was ihr mit ihr gemacht habt und wo sie ist. Ihr müßt es mir sagen, hört ihr?« In die stumpfen Augen kam Glanz. »Ich brauche sie. Nurmer, Ursula, sagt mir, wo sie ist – bitte. Bringt sie zu mir zurück, ich verspreche euch, ich werde mich erkenntlich zeigen.« »Wir wissen nicht, wo sie ist.« »Seht ihr denn nicht, was ihr mir antut? Warum laßt ihr mich so leiden, warum quält ihr mich? Bereitet es euch Genugtuung, euch an meinem Zustand zu weiden?« Der Führer der SOLAG bot ein Bild des Jammers. Zusammengesunken hockte er in seinem Sessel. Er, der gewohnt war, zu befehlen, flehte, bat und bettelte. »Du scheinst dir immer noch nicht darüber im klaren zu sein, Chart, daß Alpha in Wirklichkeit nicht eine, sondern zehn völlig identische Frauen ist«, sagte Ursula Grown mit Nachdruck. »Es sind Zehnlinge, Chart, und alle zehn waren bei dir – dafür haben wir Beweise. Du hast nicht nur Alpha im Arm gehalten, sondern zehn. Sie waren nacheinander bei dir.« Verstört umklammerte der Hüne das Kästchen, das er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Er machte den Eindruck, als würde er das heute zum ersten Mal hören. »Das ist nicht wahr.« »Doch, es stimmt, Chart«, bekräftigte Nurmer.
»Meine Alpha … es kann nicht sein«, stammelte Deccon. »Ich müßte es wissen … sie hätte es mir bestimmt gesagt.« Apathisch ließ er sich zurücksinken. »Bringt sie zu mir, ich will es von ihr selbst hören.« »Sie ist verschwunden, Chart, und mit ihr die neun anderen auch. Wir haben selbst nachgesehen – ihre Unterkunft ist leer.« »Warum lügt ihr? Ihr habt sie doch versteckt.« »Welches Interesse sollten wir daran haben?« »Ihr wollt meinen Platz einnehmen.« »Aber das ist doch völliger Unsinn, Chart«, gab die Frau scharf zurück. »Glaubst du, SENECA würde einen Nachfolger akzeptieren, den du nicht bestimmt hast?« »Das ist wahr.« »Also glaubst du uns?« »Ich weiß nicht. Laßt mich allein, ich muß nachdenken.« Deutlich war ihm anzumerken, daß er verwirrt war. Er schien noch immer unter dem benebelten Einfluß der Zehnlinge zu stehen, doch es war erkennbar, daß der Zauber des Fluidums allmählich verflog. Noch schaltete er langsam, aber ein Fortschritt war schon einmal, daß er begann, die Realität nicht als Hirngespinst abzutun. Die beiden standen auf und verließen die Klause. Kaum, daß sie auf dem Gang standen, hatten sie es plötzlich auf einmal eilig, in die Zentrale zu kommen. »Arjana, du mußt noch einmal Kontakt mit diesem Ahlnaten aufnehmen«, rief Ursula Grown aufgeregt. »Frage ihn, ob Chart noch in der Robotfabrik ist.« »Sag mal, spinnst du? Du warst doch eben bei ihm in seiner Klause. Oder war er nicht da?« »Doch, natürlich, aber Nurmer und ich haben einen ungeheuerlichen Verdacht.« »Fast glaube ich, daß Deccon euch mit seiner Phantasterei angesteckt hat«, sagte die Frau spöttisch lächelnd. »Aber bitte, wenn ihr euch unbedingt blamieren wollt.«
Sie ging zum Interkom und wählte einen Anschluß innerhalb der Robotfabrik. Eine junge Solanerin meldete sich. Die Magnidin bat sie, Gabian an das Gerät zu holen. Wenig später tauchte das Antlitz des Ahlnaten auf dem Schirm auf. »Marso, ist der High Sideryt noch bei dir in der Halle?« »Nein, er ist vor wenigen Minuten gegangen. Warum fragst du?« Wortlos unterbrach Arjana Joester die Verbindung. Sie war blaß geworden. »Heißt das … heißt das, daß es zwei Deccons gibt?« flüsterte sie. »Ja«, bestätigte Ursula Grown. »Ich habe mich also doch nicht getäuscht. Chart hat einen Doppelgänger an Bord.« 5. Wie so oft in den letzten Tagen hatte Hage Nockemann wieder etliche Stunden im Labor zugebracht, experimentiert und alle möglichen biologischen Variationen durchgespielt, ohne einer Lösung des Rätsels näherzukommen. Nun befand er sich auf dem Weg in sein Quartier. Die Gänge in der wissenschaftlichen Abteilung waren relativ unbelebt. An seinem Schnurrbart zwirbelnd, tappte der Genetiker durch die Flure. Anders als sonst schenkte er seiner Umgebung Aufmerksamkeit, fast schon über Gebühr. Er zählte Türen, Nischen und Abzweigungen, verband vertikale und horizontale Linien miteinander zu gedanklichen Mustern und tat auch sonst alles, um sich abzulenken. Er hatte deutliche Anzeichen dafür, daß die ständige Beschäftigung mit dem Problem der Zehnlinge an seiner geistigen Substanz zehrte. Eine hagere Gestalt kam ihm entgegen. Die schlichte blaue Uniform mit den gelben Atomsymbolen an den Schultern wies den dunkelhäutigen Mann als Ferraten aus. Auffällig war die Art, wie er sich fortbewegte.
Er ging nicht gerade, sondern mit einer Seite voran d. h., er setzte die Füße nicht nebeneinander, sondern hintereinander – zuerst den linken, dann zog er den rechten nach. Der linke Arm schlenkerte beim Laufen, den rechten hielt er bewegungslos an den Körper gepreßt. Das rechte Auge hatte er geschlossen. Die ganze rechte Seite wirkte wie gelähmt. Komischer Vogel, dachte der Wissenschaftler. Warum läuft er mit dieser Behinderung herum und begibt sich nicht in Medo‐ Behandlung? Ob er sich das bei seiner Arbeit zugezogen hatte? Wenn radioaktive Strahlen oder andere zellangreifende Substanzen dafür verantwortlich waren, mußten auch die Gene geschädigt sein. Eine Chromosomenuntersuchung würde zutage fördern, ob und in welchem Umfang die Erbanlagen von der Norm abwichen. Der Eifer des Forschers erwachte in ihm. Er ging auf den Solaner zu. »He, du, kann ich dir helfen? Ich bin Biologe, genauer gesagt Galakto‐Genetiker.« Der Ferrate blieb stehen. Undeutlich sagte er: »An deiner Kleidung erkenne ich, daß du weder ein Magnide noch der High Sideryt bist.« »Was hat das mit dir und deinem Zustand zu tun?« erkundigte sich Nockemann verwundert. Ihm war aufgefallen, daß sein Gegenüber nur die linke Mundhälfte beim Sprechen bewegte. »Nur sie können mir helfen, indem sie das verschwundene Teil der SOL zurückbringen.« Sein linkes Auge fixierte den Genetiker. »Unsere Heimat muß wieder symmetrisch werden.« Typischer Fall von Schizophrenie, konstatierte Hage Nockemann. Zwar war er kein Psychiater, aber die Symptome waren ganz offensichtlich. Welcher normale Mensch trug – ein weiteres Indiz – schon Stöpsel im rechten Ohr und im rechten Nasenloch? »Ja, ganz recht, da stimme ich dir zu«, sagte der Wissenschaftler, obwohl es ihm in Wirklichkeit völlig egal war. Er hatte davon gehört, daß ein Drittel der SOL verschwunden war, aber es
interessierte ihn nicht, solange er seine Arbeit hatte und sein Labor nicht abgekoppelt wurde. »Dann gehörst du also zu uns?« Überrascht blickte der kleinwüchsige Mann auf. »Es gibt noch andere so wie dich?« Er hüstelte verlegen. »Äh, ich meine, du gehörst zu seiner Gruppe, die so sind wie du?« »Ja. Wir nennen uns die Unsymmetrischen. Hast du noch nie davon gehört?« »Doch, natürlich. Im ganzen Schiff kennt man euch«, log Nockemann, dem diese Vereinigung gänzlich unbekannt war. »Im Restschiff«, korrigierte der Ferrate. »Wir alle leiden darunter, das die SOL nicht komplett ist.« »Das ist natürlich. Ich wünsche dir und deinen Mitstreitern jedenfalls viel Erfolg.« Nockemann hatte es auf einmal eilig, wegzukommen. Er verabscheute Missionare und Apostel jeglicher Couleur, die es darauf anlegten, ihre Mitmenschen von etwas zu überzeugen. Er vergaß ganz, gebeugt zu gehen und brachte mit raumgreifenden Schritten eine ziemliche Distanz zwischen sich und den in seinen Augen bedauernswerten Unsymmetrischen. Wie anfällig doch die Solaner für irgendwelche Psychosen waren … Unterschwellig registrierte er, daß etwas nicht stimmte. Der Genetiker blieb stehen und orientierte sich. In seinem Eifer, dem Mann zu entkommen, war er ein Stück zu weit gegangen; also machte er kehrt, um zur richtigen Abzweigung zurückzugelangen. Von dem wunderlichen Ferraten war nichts mehr zu sehen. Er war so mit seinem Erlebnis beschäftigt, daß er fast mit einem anderen Solaner zusammengeprallt wäre. Erst im letzten Augenblick bemerkte er ihn. »Verzeihung«, murmelte er automatisch, doch dann bekam er große Augen. Er kannte den Mann persönlich, den er um ein Haar umgerannt hätte. Damals, als er zum Ahlnaten berufen werden sollte, hatte er
ihn zum ersten Mal gesehen. »High Sideryt«, stieß er überrascht hervor. »Was hat dich denn in die wissenschaftliche Abteilung verschlagen?« Offensichtlich hatte der Hüne nicht damit gerechnet, hier zu dieser Zeit noch jemanden zu treffen, der wußte, wer er war. Die Antwort kam zögernd. »Ich will mich darüber informieren, wie es im Augenblick in der SOL aussieht.« Er lachte gekünstelt. »Und dieser Sektor gehört ja wohl auch dazu.« »Gewiß«, antwortete Nockemann mechanisch. Irgendwie kam ihm Deccon merkwürdig vor. Er wirkte jünger, vitaler, als er ihn in Erinnerung hatte, gleichzeitig aber verhaltener in seiner Ausdrucksweise. Etwas stimmte mit dem Führer der SOLAG nicht. Er musterte den schwergewichtigen Mann. »Ist etwas?« erkundigte sich der Hüne grollend. »Nein, nichts«, versicherte der Genetiker schnell. »Es kommt nicht oft vor, daß sich der High Sideryt zu uns verirrt.« »Das läßt sich ändern, schließlich bin ich kein Denkmal.« Der Wissenschaftler antwortete nicht. Plötzlich wußte er, was ihn am meisten irritierte: Das Kästchen an der Goldkette fehlte. Alle, die Deccon kannten, hatten ihm versichert, daß er es nie ablegte. Ein dunkler Verdacht stieg in ihm auf. Der Genetiker beschloß, die Probe aufs Exempel zu machen. »Trägst du das Kästchen nicht mehr, High Sideryt?« »Nein, zumindest nicht im Augenblick«, kam es unsicher zurück. Bevor Hage Nockemann nachfassen konnte, warf sich der Hüne herum und rannte davon. Verdutzt blickte der schnauzbärtige Solaner ihm nach. Seine Ahnung hatte ihn also nicht getrogen; hier stimmte etwas nicht. Er beschloß, die Magniden zu unterrichten. Der Galakto‐Genetiker hastete zum nächsten Interkomanschluß und stellte eine Verbindung zur Zentrale her. Als sich der Monitorschirm erhellte, erkannte er Gallatan Herts – ausgerechnet. Nach seinen Erfahrungen war dieser Gesprächspartner denkbar
ungeeignet. Einer plötzlichen Eingebung zufolge verlangte er den High Sideryt zu sprechen; beiläufig erwähnte er Alpha. Möglicherweise kannte ihn der Magnide noch, vielleicht war er auch mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, jedenfalls stellte er den Anruf durch. Der markante Schädel des Bruders ohne Wertigkeit zeichnete sich ab. »Was willst du?« fragte er mit müder Stimme. Nockemann schluckte. Der High Sideryt, den er nun vor sich sah, wirkte wesentlich angegriffener und mitgenommener als der, dem er vor ein paar Minuten begegnet war. Selbst wenn das eine Täuschung gewesen sein sollte – niemand vermochte die Distanz von der Wissenschaftlichen Abteilung bis zur Klause in derart kurzer Zeit zurückzulegen. Wichtigstes Indiz aber war das Kästchen; dieser Deccon trug es. Der Genetiker hatte etwas vermutet, aber die Folgerung, die sich als logische Konsequenz aus seiner Beobachtung ergab, verschlug ihm für einen Moment die Sprache: der High Sideryt besaß einen Doppelgänger. »Warum sagst du nichts?« Die Gedanken des Solaners überschlugen sich förmlich. Sollte er Deccon darüber informieren, daß ein Duplikat von ihm in der SOL herumlief? Er entschied sich dagegen, zumal er keine stichhaltigen Beweise vorlegen konnte. »Was ist denn nun?« fragte der Bruder ohne Wertigkeit ungeduldig. »Willst du mich nur anstarren?« »Entschuldige, High Sideryt, ich war etwas verwirrt darüber, daß, man meinen Anruf wirklich zu dir durchgestellt hat.« Nockemann gab sich Mühe, unbefangen zu wirken. »Es geht um diese Frau, die du gesucht hast.« Chart Deccon hob die Brauen. Sein Blick verriet erwachendes Interesse. »Du weißt etwas über Alpha?« »Wissen ist zuviel gesagt«, wich der Wissenschaftler aus. Ihm war
auf einmal gar nicht mehr daran gelegen, mit den Magniden oder dem High Sideryt zu Reden, andererseits erschien es ihm unangemessen, einfach abzuschalten. »Ich habe sie gesehen. Sie war hochschwanger.« »Diese Information ist nicht neu. War das alles, was du mir sagen wolltest?« »Eigentlich ja.« Hage Nockemann schämte sich ein bißchen, daß ihm nur diese Belanglosigkeit eingefallen war, hielt sich jedoch zugute, daß seine Erkenntnis dazu angetan war, selbst einen solchen Geist wie den seinen zu verwirren. »Hoffentlich bist du nun nicht ungehalten.« Er erhielt keine Antwort. Der Führer der SOLAG hatte die Verbindung getrennt. »Auch gut«, murmelte der Galakto‐Genetiker. »Hoffentlich hat er nichts gemerkt.« Daran, daß er seine Unterkunft aufsuchen wollte, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Im Geschwindschritt strebte er seinem Labor zu. In Ermangelung eines menschlichen Dialogpartners mußte die Positronik herhalten. Manchmal, dachte Nockemann, als er die Schleuse betrat, ist sogar Blödel ganz brauchbar. * Die Aufregung hatte sich gelegt und war nüchterner Überlegung gewichen. Alle Magniden waren zu sehr Pragmatiker, um angesichts einer neuen Situation einfach tatenlos die Hände in den Schoß zu legen. In der Vergangenheit hatten sie schon etliche Klippen umschifft; zwar hatte ihnen da der High Sideryt zur Seite gestanden, aber schließlich waren sie nicht umsonst in diese Position aufgerückt.
»Wir befinden uns in einer äußerst schwierigen Lage.« Nurmer wanderte unruhig auf und ab. »Angesichts der prekären Situation sollten wir es zunächst einmal dahingestellt lassen, was es mit Charts Doppelgänger auf sich hat – er ist jedenfalls gefährlich, auch wenn wir nichts über seine Ziele wissen.« »Das laßt nur meine Sorge sein«, sagte Arjana Joester kalt. »Wenn wir ihn erst einmal haben, werde ich schon herausfinden, was er vorhatte. Ich habe da so meine Methoden.« Jeder in der Runde wußte, was sie damit meinte. Wer ihr in die Hände fiel, hatte keinen Pardon zu erwarten. »Es muß uns erst einmal gelingen, seiner habhaft zu werden«, gab der Kahlkopf zu bedenken. »Darin sehe ich kein Problem.« Curie van Herling sprang auf. »Immerhin verfügen wir über Roboter und Vystiden. Ach, was sage ich, die ganze SOLAG ist auf unserer Seite.« »Ungeachtet dessen, daß du eine meiner Meinung nach zu positive Wertung bezüglich der SOLAG abgegeben hast …« Die betroffene Schwester der ersten Wertigkeit wollte protestieren, doch Ursula Grown schnitt ihr mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. »Nein, Curie, keine Widerrede. Wenn du dich in der SOL umsiehst, weiß du, daß ich recht habe. Es finden regelrechte Verbrüderungen statt, etliche SOLAG‐Mitglieder sind übergelaufen – denke nur an die Unsymmetrischen.« »Das sind Ausnahmen!« »Es führt zu nichts, wenn wir uns deswegen in die Haare geraten …« »Das wäre bei Nurmer auch schlecht möglich«, warf Herts ein und lachte meckernd. »Immerhin ziehe ich meine Glatze deiner Frisur vor, Gallatan«, konterte Nurmer. Die anderen lachten. »Bitte fahre fort, Ursula.« »Danke, Nurmer. Also zurück zur Sache.« Die Magnidin machte eine Kunstpause. »Der Einsatz von Robotern und Vystiden scheidet
aus. Niemand von ihnen würde den High Sideryt festnehmen, und es hätte unabsehbare Folgen, wenn publik würde, daß es einen Doppelgänger gibt. Der letzte Rest von Ordnung wäre dahin.« »Vielleicht sollte man Chart informieren«, wandte Lyta Kunduran zaghaft ein. »Nein, das wäre ein Fehler. So, wie es derzeit noch um ihn steht, würde er sicherlich falsch reagieren. Wir sind auf uns selbst gestellt und müssen diese Situation ohne seine Unterstützung meistern.« Die aufgeputzte Frau war in ihrem Element. »Niemand außer uns darf davon erfahren, daß es zwei Deccons gibt. Daß sein Doppelgänger sich in der Robotfabrik aufgehalten hat, erregt keinen Verdacht, denn nur wir wissen, daß es nicht der echte war.« »In diesem Zusammenhang sollten wir nicht verkennen, was das Duplikat des High Sideryt alles anrichten kann. Die Führungsspitze der SOLAG kennt ihn, und es ist nicht anzunehmen, daß sie testen, ob er es auch wirklich ist. Wenn nun dieses Duplikat verlangt, gegen uns loszuschlagen, weil wir als Verräter hingestellt werden, stehen unsere Chancen schlecht.« »Ganz so pessimistisch bin ich in dieser Hinsicht nicht, Wajsto.« Ursula Brown lächelte. »Wenn es tatsächlich zur Konfrontation kommen sollte, sind wir es schließlich, die den wirklichen High Sideryt präsentieren könnten.« Nurmer strich sich über seinen langen Kinnbart. »Das ist einleuchtend. Was schlägst du vor?« »Auf keinen Fall darf Chart informiert werden. Wir isolieren ihn einfach.« Arjana Joester strich sich über ihr rotbraunes Haar. »Wie stellst du dir das vor? Sollen wir eine Leibwache vor seiner Klause postieren?« »Das wäre zu auffällig und könnte Verdacht erregen.« Die älteste Magnidin legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Nein, ich denke, daß Chart auch so in der Klause sicher ist. Gegen die Robots, die Tag und Nacht bei ihm sind, kann niemand etwas ausrichten. Unser
vordringlichstes Ziel muß es sein, diesen falschen Deccon zu fangen.« »Wie stellst du dir das vor? Sollen wir durchs Schiff gehen und ihn suchen?« »Nein, Gallatan, wir setzen die technischen Möglichkeiten ein, die uns zur Verfügung stehen. Wir benutzen die Bildüberwachung, die wir rund um die Uhr besetzt halten.« »Eine gute Idee«, meinte Nurmer. Während die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit Einzelheiten ihres Planes berieten und Mutmaßungen darüber anstellten, woher der falsche High Sideryt so plötzlich aufgetaucht war und welche Ziele er verfolgte, saß der echte Deccon in seinem düsteren Kommandoraum und brütete vor sich hin. Er wußte nicht, daß ganz in seiner Nähe Diskussionen geführt und Entscheidungen gefällt wurden, die für seine eigene Person von Bedeutung waren. Seine Gedanken beschäftigten sich damit, was ihm die beiden Magniden eröffnet hatten; er war mehr denn je geneigt, ihren Worten Glauben zu schenken. Allmählich gewann sein klarer Verstand wieder die Oberhand. Ihm wurde selbst bewußt, daß er allmählich Abstand zu dieser Episode gewann. Grübelnd ging er auf und ab. Alpha – das war nicht eine Frau gewesen, sondern zehn verschiedene, völlig gleich aussehende Frauen. Gab es so etwas überhaupt? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Je länger er darüber nachdachte, um so mehr drängte sich ihm der Verdacht auf, daß er irgendwie hereingelegt worden war. 6. Manchmal gab sich Hage Nockemann ein bißchen zerstreut, möglicherweise war er es sogar, aber wenn es um sein Fachgebiet ging, besaß er ein Gedächtnis, das fast mit den Speichern seiner
Positronik konkurrieren konnte. Er hatte mit Blödel nicht nur geplauscht, sondern auch Informationen ausgetauscht. Zwar gab er nie zu, daß ein in seinen Augen simpler Rechner einem menschlichen Gehirn überlegen war, aber manchmal hatte ihm das vom Programm her mathematischlogistisch orientierte »Kunsthirn« einen Weg aufgezeigt, wenn er vor lauter Bäumen den Wald nicht sah. Das war natürlich sinngemäß gemeint, aber da er zur Kategorie der Biologen gehörte, hielt er das für einen angemessenen Vergleich. Er hatte diesen Spruch von einem Pyrriden aufgeschnappt, deren Aufgabe es war, sich auf irgendwelchen Planeten herumzutreiben. Erklärlicherweise hatte das Auftauchen von Deccons Doppelgänger sein Interesse an den Zehnlingen zunächst einmal verdrängt. Die frappierende Ähnlichkeit mit dem High Sideryt forderte ihn als Genetiker geradezu heraus. In diesem Zusammenhang erinnerte er sich daran, vor Jahren eine Gewebeprobe des mächtigsten Mannes der SOL untersucht zu haben; Hand in Hand damit hatte er eine Blutuntersuchung durchgeführt. Damals hatte der High Sideryt irgendwo im Schiff eine Anlage besichtigt, die just in diesem Augenblick eine Funktionsstörung zeigte und eine schwach radioaktive Gaswolke freisetzte. Man hatte seinerzeit einen Anschlag auf die Schiffsführung vermutet, doch die eingeleiteten Untersuchungen hatten das nicht belegen können; sie waren im Sande verlaufen. Er war damit beauftragt worden, Blut und Körperzellen auf eine mögliche Schädigung zu untersuchen. Alles war sehr geheimnisvoll abgelaufen. Ein Arzt, der von einem Magniden und mehreren bewaffneten Robotern begleitet wurde, hatte ihm die Proben gebracht. Der Mediziner war dann gegangen, doch die Automaten und der Bruder der ersten Wertigkeit waren nicht von seiner Seite gewichen, bis das Ergebnis vorlag. Es war negativ – eine Schädigung lag nicht vor. Erst jetzt hatte ihn der Magnide darüber aufgeklärt, daß es sich um
eine Untersuchung gehandelt hatte, die Deccon betraf und ihn zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Nockemann hatte sein Versprechen gehalten, doch nun sah er sich veranlaßt, die Daten abzurufen, die damals kodiert gespeichert worden waren, so daß kein Unbefugter an sie heran kam. Für jemanden, der nichts oder nur wenig von der Materie verstand, waren auch die unverschlüsselten Informationen ein Buch mit sieben Siegeln. »Was du über Deccon gespeichert hast, wird seinen Doppelgänger entlarven, Blödel. Ich muß mir nur noch eine Gewebeprobe von diesem Duplikat besorgen, dann habe ich den Beweis, um den falschen High Sideryt offiziell überführen zu können.« »Wenn er und Chart Deccon allerdings eineiige Zwillinge sind, wirst du dich schwertun. In diesem Fall haben beide den gleichen Chromosomenbestand mit identischem Erbgut.« »Fast habe ich diesen Einwand erwartet, er ist direkt typisch für dich«, zeterte der Wissenschaftler. »Nichts ist so abstrakt, als daß man nicht noch intellektuell eins drauf setzen könnte; dabei vergißt du immer wieder, daß du kein schöpferischer, lebendiger Geist bist, sondern eine Laborpositronik.« »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahetreten, Chef«, gab der Rechner mit seiner knarrenden Stimme zurück. »Aber wenn ich eine Sache nicht von allen Seiten beleuchten würde, wäre ich als wissenschaftliche Analysepositronik absolut unbrauchbar.« »Du kannst mir nicht nahetreten, dazu fehlen dir die Extremitäten«, sagte Nockemann bissig. »Und wenn du immer alles von allen Seiten beleuchtest – warum versuchst du dich dann nicht als Lampe?« »Jetzt wirst du zynisch, Chef. Wenn ich etwas zu wörtlich nehme deiner Meinung nach, dann tadelst du mich. Nun gebe ich etwas wieder, was ich von dir gehört habe, und dann paßt es dir auch nicht.« »Was soll ich mich mit dir streiten? Du bist und bleibst ein
elektronischer Blödel.« Der Genetiker stand auf und gähnte ungeniert. »Bevor ich den falschen High Sideryt jage, werde ich mich noch ein Stündchen aufs Ohr legen. Du hältst dich bereit.« »Selbstverständlich. Wie du weißt, schlafe ich nie.« »Eine schlummernde Positronik wäre auch so ziemlich das Albernste, was ich mir vorstellen könnte.« »Es gibt noch eine Steigerung, Chef.« »Welche?« »Solaner, die sich nicht ausstrecken, sondern während der Ruhephase auf einem einzigen Ohr liegen. Es muß urkomisch aussehen. Entspannt sich da der Körper überhaupt?« Hage Nockemann stieß eine Verwünschung aus und verließ wutschnaubend das Labor. Dieser simple Computer hatte ihn doch tatsächlich mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Er empfand es nicht nur als Zumutung, sondern förmlich als Kränkung. * . Januar 3792. Seit mehreren Stunden durchstreifte Hage Nockemann die Gänge des Wohnsektors, in dem sich seine Unterkunft befand. Er war zu dem Schluß gekommen, daß sich das Deccon‐Duplikat in der Nähe der wissenschaftlichen Abteilungen nicht mehr sehen lassen würde. Die Gefahr, erkannt zu werden, war in der Nähe der Quartiere wesentlich geringer, denn das Gros der Solaner wußte nicht, wie der High Sideryt aussah. Der Wissenschaftler bog in einen Korridor ein und prallte entsetzt zurück. Dutzende von Männern und Frauen kamen ihm entgegen. Sie füllten die Breite des gesamten Ganges aus und trafen keine Anstalten, Platz zu machen. Sie unterhielten sich miteinander – je nach Temperament mehr oder minder angeregt und heftig. Soweit er es mitbekam, war das zentrale Thema das unerklärliche
Ausbleiben eines Teiles der SOL und das merkwürdige Verhalten der Schiffsführung. Die Gespräche und manchmal recht markigen Parolen interessierten ihn nicht, er registrierte lediglich, daß irgendwo Schichtwechsel war – und daß diese Kopie nicht auftauchte. Er wartete, bis die Menge verschwunden war, dann betrat er den Flur und steuerte einen Verteiler an. Allmählich dämmerte es ihm, daß er sich doch ein wenig zu viel vorgenommen hatte. Jemanden in der SOL zu suchen und auch zu finden, war zweierlei. Wer es darauf anlegte, sich zu verstecken, hatte in dem riesigen Raumer gute Chancen, auch unentdeckt zu bleiben. Und eigentlich sprach nichts dafür, daß sich der Gesuchte ausgerechnet hier aufhielt. Nockemann sah sich nach einer Sitzgelegenheit um; bevor er weiterging, mußte er sich erst ein wenig ausruhen. Seit Stunden war er auf den Beinen, er hatte Durst, seine Füße schmerzten. Sein Blick fiel auf eine Nische, in der ein halbhoher Robot inaktiv verharrte. Ohne zu zögern, marschierte er darauf zu und hockte sich auf die ebene Verkleidung der Maschine. Sie bewegte sich nicht. »Ah, das tut gut.« Rasch zog er die Schuhe aus und massierte seine brennenden Fußsohlen und die geschwollenen Zehen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so viel in einem Stück gelaufen zu sein. Der Genetiker beschäftigte sich so inbrünstig mit seinen malträtierten Gehwerkzeugen, daß er die mandeläugige Frau nicht bemerkte, die vor ihm und seinem seltsamen Sitz stehengeblieben war. »Fehlt dir etwas?« Hage Nockemann sah auf. »Willst du dich über mich lustig machen?« »Nein, ich meine es ernst«, sagte die schwarzhaarige Solanerin. »Ich helfe gern. Also, was fehlt dir?«
»Etwas zu trinken, ein Fußbad und ein Erfolgserlebnis«, meinte er bissig. Nun fühlte sich die Frau auf den Arm genommen. Verärgert murmelte sie etwas wie »Spinner!« und entfernte sich. »Raumhexe!« schnappte der kleinwüchsige Mann. »Solkrähe!« Als keine Reaktion erfolgte, schimpfte er: »Es ist wirklich unglaublich, was sich hier an Psychopathen herumtreibt. Wahrscheinlich gibt es im ganzen Schiff niemanden, der keine Macke hat.« Mit dem ihm eigenen Selbstverständnis nahm er sich selbst davon natürlich aus. Es ging ihm auch nicht auf, daß er eine komische Figur abgab, barfuß auf einem Roboter hockend. Seiner Meinung nach war ein Wissenschaftler von seinem Format vor unfreiwilliger Komik gefeit und immer ernst zu nehmen. Ein junges Pärchen schlenderte an ihm vorbei. Als die beiden ihn erblickten, wollten sie sich schier ausschütten vor Lachen. Der junge Mann tippte sich bezeichnend an die Stirn. Hage Nockemann sah sich in seiner Auffassung bestärkt, daß er von lauter Verrückten umgeben war. »Diese Idioten vergällen einem selbst die kleinste Rast«, brummte er wütend und angelte mißvergnügt nach seiner Fußbekleidung, streifte sie über und stand auf. Seine Laune war auf den absoluten Nullpunkt abgesunken. Ob er nicht doch die Magniden informieren sollte? Sie waren nicht nur einflußreicher, sondern verfügten auch über ganz andere Möglichkeiten. Wenn sie die SOLAG mobilisierten und die ihnen zur Verfügung stehenden Robots einsetzten, quadrierten sich die Chancen, des falschen Deccons habhaft zu werden. Andererseits hatte er nichts in der Hand, um seine Beobachtung zu belegen. Es war mehr als fraglich, ob sie auf einen bloßen Verdacht hin tätig wurden. Er gab sich die Antwort selbst – sie lautete »Nein«. Es lag also an ihm, die Sache selbst zu verfolgen, doch wo sollte er suchen?
Der Galakto‐Genetiker studierte die Markierungen und Hinweisschilder, ohne zu einem Schluß zu kommen. Er mußte aufs Geratewohl vorgehen, also war es ohnehin egal, wohin er sich wandte. Intuitiv wählte er die linke Abzweigung. Sie führte zu einer Depotstelle, in der man sich einkleiden konnte. Das Bedürfnis nach neuen Uniformen oder anderen Kleidungsstücken schien nicht sonderlich groß zu sein, denn der Andrang war mäßig. Nockemann blickte an sich herab. Ob er die Gelegenheit nutzen sollte? Er entschied sich dagegen. Das, was er auf dem Leib trug, erfüllte noch seinen Zweck, nämlich ihn zu wärmen und seine Blößen zu bedecken; auf Äußerlichkeiten kam es ihm nicht an. Nachdenklich zwirbelte er an seinem Bart. Ganz offensichtlich hatte er es sich zu einfach vorgestellt, zu einem Erfolg zu kommen. Ob er aufgeben sollte? Schließlich konnte er nicht die ganze SOL durchstreifen, wobei es zudem dem Zufall überlassen blieb, ob er ihn auch traf. Das Dilemma löste sich von selbst. Unübersehbar näherte sich ein wahrer Hüne von Mann der Ausgabestelle. Er war knapp zwei Meter groß und kahlköpfig; der schäbige Anzug ließ erkennen, daß er einiges an Übergewicht in Form von Fettpolstern mit sich herumtrug. Das rote Gesicht wirkte massig und aufgedunsen, die Augen waren kaum zu sehen. Der Eindruck, das roh und ein bißchen lieblos gestaltete Antlitz einer feist wirkenden Plastik vor sich zu haben, wurde durch die aufgequollene Nase und die wulstigen Lippen noch verstärkt. Elektrisiert starrte der Wissenschaftler auf den massigen Solaner. Das war eindeutig Deccon, aber zehn oder mehr Jahre jünger, als er jetzt war. Da niemand das Rad der Zeit zurückdrehen konnte, war sich Nockemann sicher, daß es nicht der High Sideryt, sondern eine Deccon‐Kopie war, nur: das Duplikat, das er getroffen hatte und suchte, unterschied sich altersmäßig nicht von seinem Original.
Diese neuerliche Unmöglichkeit verwirrte den Genetiker so sehr, daß er tatenlos verharrte. Als er sich endlich von seiner Überraschung erholt hatte, war der Hüne in der Depotstelle verschwunden. Daran, aufzugeben oder höheren Ortes vorstellig zu werden, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Dieses Phänomen hatte erneut seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz geweckt, er wollte die Sache selbst aufklären; da der Doppelgänger nicht ewig in dem Bekleidungszentrum bleiben konnte, standen seine Chancen nicht schlecht. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt; fast eine halbe Stunde verstrich ereignislos. Schon glaubte er, daß die Deccon‐ Kopie ihn genarrt hatte, als sie doch noch auftauchte. Nockemann zweifelte fast an seinem Verstand. Jetzt sah der Doppelgänger genauso aus wie der Führer der SOLAG. Er trug nicht nur die gleiche Freizeitkleidung, die er, Hage, bei seinem Kontakt mit dem Original auf dem Bildschirm gesehen hatte, sondern war mittlerweile auch deutlich gealtert. Es war Wahnsinn, purer Wahnsinn. So etwas konnte es nicht geben! Sein Instinkt oder Unterbewußtsein schien mit den Unmöglichkeiten wesentlich besser fertig zu werden als sein Verstand. Ohne es eigentlich bewußt zu wollen, vertrat er dem Hünen den Weg und stellte ihm ein Bein. Die Kopie kam zu Fall. Der Genetiker stolperte und fiel ebenfalls. Haltsuchend wirbelten seine Arme durch die Luft, seine Hände fuhren über den kahlen Schädel des Doppelgängers und fingen den stürzenden Körper ab. »Kannst du denn nicht aufpassen, du Tölpel?« grollte der massige Mann. Der kleine Solaner lag halb auf ihm. Wie ein lästiges Bündel schob er ihn zur Seite und richtete sich auf. Für ihn sah es aus wie eine Zufälligkeit, eine Ungeschicklichkeit seitens des anderen. Hage Nockemann rappelte sich ebenfalls auf. Er war ziemlich durcheinander. Die von ihm bisher noch nicht gemachte Erfahrung,
daß der Körper quasi losgelöst vom Geist aktiv werden konnte, verwirrte ihn. Gewiß, er kannte entsprechende Berichte und Forschungsergebnisse, aber für intellektuelle Gehirne wie das seine hatte er das nicht gelten lassen wollen. Nun hatte er am eigenen Leib erlebt, daß er unrecht hatte. Bevor er eine Entschuldigung stammeln konnte, hatte sich der Doppelgänger bereits entfernt. Die Gewebeprobe! Schon wollte er hinterherlaufen, als ihm einfiel, daß er auf der Glatze des anderen zwei blutige Kratzer gesehen hatte. Er mußte sie ihm bei seinem Sturz beigebracht haben. Eingehend betrachtete er seine Fingernägel, und richtig, unter den Nägeln von Mittel‐ und Zeigefinger der rechten Hand entdeckte er blutige Hautpartikel. Ganz ohne Zweifel stammten sie von dem falschen Deccon. Erregung bemächtigte sich seiner. Er mußte auf dem schnellsten Weg ins Labor. * Die Aufgabenstellung war einfach: Nockemann wollte herausfinden, inwieweit die Zellstruktur des falschen mit der des echten High Sideryt übereinstimmte. »Blutgruppe und Rhesusfaktor sind identisch«, meldete die Positronik, »Leukozytenanteil stimmt überein.« Der Genetiker nickte. Daß zwei Menschen die gleiche Blutgruppe, den gleichen Rhesusfaktor und gleichviel Lymphozyten und Granulozyten besaßen, hatte nichts zu sagen. Auf diesem Gebiet hatte es die Natur bei einigen Grundmustern belassen. »Thrombozyten fehlen.« Thrombozyten – das sind jene farblosen Blutplättchen von 0,003 Millimeter Größe, die durch Zerfall von Riesenzellen des Rückenmarks entstehen und bei der Blutgerinnung mitwirken. Sie
sind äußerst zahlreich – zwischen 300.000 und 700.000 befinden sich in einem Kubikmillimeter Blut. Nockemann hielt es nicht auf seinem Stuhl, er sprang auf. »Das ist ungeheuerlich, Blödel.« »Erst kürzlich habe ich ein Präparat analysiert, das dieselbe Abnormität aufwies, Chef.« »Ich weiß, Blödel. Es stammt von dieser schwangeren Frau.« Die Konsequenz, die sich daraus ergab, ließ ihn schwindeln, doch er wollte sichergehen. »Zelluntersuchung!« Sie ergab keine neuen Aspekte; die Werte stimmten mit denen Deccons völlig überein. Das hatte nicht viel zu sagen, da auch das Gewebe der Frau absolut humanoid war. »Chromosomenanalyse, Blödel«, sagte er rauh. Nun würde sich zeigen, was es mit dem Doppelgänger tatsächlich auf sich hatte. Diesmal ließ das Resultat länger auf sich warten. Immerhin hat jeder Doppelfaden der menschlichen Erbsubstanz zehn Milliarden Einzelglieder, und die Positronik mußte sie miteinander vergleichen. »Was ist denn nun, Blödel?« fragte der Wissenschaftler ungeduldig. »Gleich, Chef.« »Gleich, Chef« äffte er nach. »Ist das eine Antwort?« »Auswertung beendet. Bis auf eine Abweichung ist der genetische Code beider Proben identisch. Optische Anzeige des unterschiedlichen Abschnitts geht über Schirm.« Wie betäubt sank Nockemann auf seinen Sitz und starrte auf den Monitor. Der Analyserechner stellte zwei Graphiken gegenüber und setzte diese Darstellung gleichzeitig in chemische Formeln um, so daß die Abweichung auf zweifacher Art deutlich wurde. Wenn man den echten Deccon als Original nahm – und das mußte man ja wohl –, besaß seine Kopie eine Gen‐Schädigung, die dafür verantwortlich
war, das die Thrombozyten fehlten bzw. keine Riesenzellen im Rückenmark gebildet wurden. Diese – man konnte getrost sagen vollkommene – Duplizierung des High Sideryt bewies, daß sein Doppelgänger sein eigener Sohn sein mußte; zugleich stand aufgrund der typischen Blutnormabweichung fest, daß die chromosomenlose Frau seine Mutter war. »Nein, nein!« Verzweifelt trommelte der Genetiker mit beiden Fäusten auf die Platte. »Das gibt es nicht.« Er lachte hysterisch, obwohl ihm eigentlich zum Heulen zumute war. »Was sagst du dazu, Blödel? Deccon hat mit diesem chromosomenlosen Wesen eine Kopie von sich gezeugt. Einfach so.« »Das ist unmöglich, Chef.« »So, meinst du? Das habe ich auch gedacht, aber ich habe mich getäuscht, die Biologie ist ganz anders. Nichts von dem, was wir von der Natur wissen, stimmt.« Wieder stieß er das hysterische Lachen aus. »Gut, daß noch niemand darauf gekommen ist, sich mit Algen zu vereinen, sonst würde es in der SOL von seinen Ebenbildern nur so wimmeln.« »Du weißt genau, daß das Unsinn ist. Die abweichende Chromosomenzahl und die unterschiedlichen Erbanlagen …« »Ja, du hast recht, Blödel, der andere darf keine Kernschleifen besitzen. Man müßte es also mit der Wand versuchen, mit einem Roboter oder dem Stuhl. Eine schwache Stunde mit dir vielleicht, und ich bin Vater meines eigenen Ichs.« »Das kann nicht dein Ernst sein, Chef«, sagte die Positronik mit ihrer männlich klingenden, knarrenden Stimme. Kraftlos ließ sich Nockemann auf den Sitz fallen und barg das Gesicht in beiden Händen. Er stöhnte unterdrückt. »Nein, Blödel, es ist nicht mein Ernst.« Für ein paar Minuten war es still im Raum, nur das Wispern irgendwelcher Instrumente war zu hören.
»Wir müssen davon ausgehen, daß der Doppelgänger der Sohn von Deccon und dieser Alpha ist«, überlegte der Wissenschaftler laut er wirkte wesentlich gefaßter als vorhin. »Es widerspricht allen Erkenntnissen«, warf der Rechner ein. »Es ist absolut unmöglich.« »Das weiß ich selbst«, meinte Nockemann ärgerlich. »Aber du, Blödel, hast den Beweis dafür erbracht, oder willst du das bestreiten?« Die Positronik schwieg. »Obwohl es haarsträubend ist, müssen wir das als Fakt anerkennen. Klammern wir die damit verbundenen Abnormitäten einmal aus.« »Wenn du alle Abnormitäten unberücksichtigt läßt, bleibt am Ende nichts mehr übrig, denn in diesem Fall ist alles widersinnig. Rot ist auf einmal keine Farbe mehr, sondern eine Eigenschaft.« »Das hast du schön gesagt, Blödel«, spottete der Mann. »Also gut, ich werde dir eine denkbare Erklärung geben. Da ich den Beweis dafür aus erklärlichen Gründen nicht antreten kann, bleibt meine These unwidersprochen im Raum stehen.« »Sofern sie akzeptabel ist.« »Natürlich ist sie das, oder glaubst du, ich will mich als Märchenerzähler profilieren?« brauste Nockemann auf. Ruhiger fuhr er fort: »Ich denke, diese Alpha besitzt die Anatomie einer Frau und hat gleichgebaute innere Organe, also verfügt sie auch über Eizellen, vielleicht nur über eine einzige. Diese Eizelle ist eigentlich eine Nullzelle, denn sie besitzt nicht den hälftigen Chromosomensatz. Bei der Vereinigung mit Deccon dringt nun ein Samenfaden in diese Nullzelle ein; damit besitzt das Gebilde Eizelle/Sperma dreiundzwanzig Chromosomen – Deccons Chromosomen.« »Wenn neues Leben entstehen soll, sind sechsundvierzig Chromosomen erforderlich, zumindest beim Menschen«, warf die Positronik ein. »Die dreiundzwanzig Chromosomen der Eizelle
fehlen.« »Jetzt halte gefälligst den Mund und laß mich ausreden«, sagte er wütend, wobei ihm gar nicht aufging, daß die Bezeichnung »Mund« paradox war. »Wie bekannt ist, bestehen die Gene aus Desoxyribonucleinsäuren. DNS hat die Fähigkeit zur identischen Reduplikation, kann sich also selbst vermehren. Nun könnte ich mir vorstellen, daß in dieser Nullzelle Proteine, Aminosäuren oder andere Eiweißstoffe vorhanden sind, die die DNS der männlichen Samenzelle zur Duplikation anregen. Ich möchte diese Stoffe einmal Replik‐Faktor nennen. Sobald sich die Chromosomen also verdoppelt haben, ist die Verbindung Ei‐ und Samenzelle lebensfähig und kann sich weiterentwickeln zum Embryo. Da das Kind aber dadurch ausschließlich die väterlichen Erbanlagen mitbekommen hat, entsteht eine exakte Kopie von ihm, in unserem Fall von Deccon. Daß es dabei zu einer geringen Genschädigung gekommen ist, stufe ich als bedeutungslos ein.« »Das ist einleuchtend, Chef. Ich akzeptiere es als logisch fundiert.« »Die passendste Bezeichnung für dieses Zwitterding aus Zeugung, Cloning und vegetativer Vermehrung scheint mir Reduplikation zu sein. Übernimm das in deine Speicher, Blödel.« »Schon geschehen.« »Gut.« Nockemann zwirbelte nachdenklich an seinem Schurrbart. »Unerklärlich bleibt das Phänomen der raschen Entwicklung im Mutterleib, das rasante Wachstum und der schnelle Alterungsprozeß.« In diesem Zusammenhang berichtete der Solaner über sein Zusammentreffen mit dem Duplikat vor dem Depot. »Er ist in einer halben Stunde um zehn Jahre gealtert?« »Ja, Blödel, es ist unglaublich. Alles, was damit zusammenhängt, ist unglaublich.« »Die schnelle Entwicklung ließe sich mit einem vielfach beschleunigten Stoffwechsel erklären.«
»Es ist die einzig denkbare Theorie, Blödel. Ich stelle mir vor, daß diese Alpha sinngemäß die Funktion eines Vogeleis erfüllt hat. Ihr gesamter Körper war das Eiweiß, das das Ungeborene bis zur Geburt verbraucht hat, denn bei einer Ernährung über ihren eigenen Kreislauf hätte sie täglich mehrere Zentner Nahrung zu sich nehmen müssen. Ich denke, sie ist kurz nach der Entbindung an Auszehrung gestorben.« »Und wer soll dann das Kind versorgt haben? Es hat bestimmt ungeheure Nahrungsmengen benötigt, um so rasch zu wachsen.« »Natürlich. Schätzungsweise so viel, wie sein Körpergewicht betrug. Er hat also ununterbrochen gegessen, Zehntausende von Joule täglich zu sich genommen.« Der Genetiker lächelte. »Die Versorgung war kein Problem, denn das Kind war ja kein hilfloses Baby. Wer in einer halben Stunde zehn Jahre älter wird, ist bestimmt ein paar Stunden nach der Geburt schon ein Teenager, der sich zu helfen weiß. Es ist unvorstellbar.« Plötzlich stutzte er. Es gab nicht nur ein Kind bzw. einen Doppelgänger, sondern zwei. Der eine war vor ihm geflohen, vom anderen hatte er das Gewebe untersucht. Eine dumpfe Ahnung erfüllte ihn auf einmal. Sie hatten Zehnlinge an Bord genommen. Es gehörte nicht viel dazu, um sich zusammenzureimen, daß es in Kürze auch bald zehn falsche Deccons in der SOL geben würde. Nach allem, was er inzwischen wußte, stand für ihn fest, daß die Frauen nicht natürlich entstanden sein konnten. Das galt zwar nicht für die Duplikate, aber Menschen waren sie auch nicht. Niemand konnte sich binnen weniger Wochen von einer befruchteten Eizelle zum achtzigjährigen Mann entwickeln. Irgend etwas stimmte nicht; vermutlich war da eine üble Sache im Gang. Wer oder was dahintersteckte, vermochte er nicht einmal zu ahnen, aber er war sicher, daß es der SOL schadete. Man brauchte kein großer Geist zu sein, um sich auszumalen, welches Chaos es an Bord gab, wenn elf High Sideryts unterschiedliche Befehle erteilten
und niemand den echten von den Doppelgängern unterscheiden konnte. Hage Nockemann hatte sich nie um Politik und Machtstrukturen gekümmert, aber in diesem Fall empfand er es als seine Pflicht, etwas zu unternehmen. Er war der einzige, der Bescheid wußte. Mit wenigen Handgriffen sicherte er die Positronik gegen unbefugte Benutzer ab, dann befahl er ihr, alle mit Deccon, den Duplikaten und den Frauen zusammenhängenden Daten zu verschlüsseln. »Was hast du vor, Chef?« »Ich werde den High Sideryt aufsuchen und ihn informieren.« »Meinst du, er glaubt dir?« »Er muß mir glauben«, gab der Solaner ernst zurück. »Schließlich habe ich Beweise.« »Viel Erfolg, Chef.« »Danke, Blödel.« Nachdenklich verließ der Galakto‐Genetiker sein Labor. 7. »Ich glaube, die Sache mit der Bildüberwachung war eine Schnapsidee.« Curie van Herling sah von den Monitoren auf und unterdrückte ein Gähnen. »Nicht einmal einen Fußabdruck haben wir bis jetzt von Charts Doppelgänger gesehen.« »Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?« fragte Ursula Grown gekränkt. »Willst du ziellos durch die SOL laufen und jeden fragen ›Hast du den High Sideryt gesehen‹?« »Rufe ihn doch einfach aus, Curie.« Herts kicherte. »Der falsche Deccon bitte zur Zentrale.« »Du bist wirklich ein Ekel, Gallatan«, zischte die füllige Magnidin. Der Verwachsene rieb sich vergnügt die Hände. Der Ärger der Frau freute ihn.
»Ich sehe auch keine andere Möglichkeit«, brummte Nurmer. »Das wäre ja auch ein Wunder, wenn du mal eine Idee hättest.« »Ich verbitte mir deine dummen Anspielungen, Curie«, gab der Bruder der ersten Wertigkeit zornig zurück. »Wenn du Streit suchst, wende dich an Gallatan, der versteht sich darauf.« »Ganz recht, Nurmer.« Der kleinwüchsige Mann sah sich in der Runde um. »Was ist? Hat niemand Bedarf?« Arjana Joester musterte ihn abschätzend, ihr Blick war voller Kälte. Herts hatte auf einmal das Gefühl, zu frieren. Rasch wandte er sich ab. Immer wieder war es in den letzten Stunden zu solchen Ausbrüchen gekommen; die Atmosphäre war gespannt. Einerseits wußten die Magniden um die Gefährlichkeit von Deccons Ebenbild, andererseits konnten sie offiziell nichts dagegen unternehmen. Der Umstand, daß ihre Möglichkeiten äußerst begrenzt waren und sie praktisch zur Tatenlosigkeit verurteilt waren, machte sie gereizt. Sie, die nach dem High Sideryt die meiste Macht besaßen, mußten abwarten, konnten nicht selbst aktiv werden und befanden sich in der Defensive, bevor die Gegenseite den Angriff überhaupt eröffnet hatte. Die Gewißheit, sich in Zugzwang zu befinden, lastete schwer auf ihnen. Es gab keinen Bauern, den sie opfern konnten, sie besaßen nur den König. Sie mußten einfach Erfolg haben; erschwerend kam hinzu, daß ihnen der High Sideryt nicht zur Seite stand und notfalls die Verantwortung übernahm. Lyta Kunduran stand auf. »Ich halte diese nervenzermürbende Warterei nicht mehr aus.« »Glaubst du etwa, uns geht es anders?« giftete Herts. »Sieh dir zum Beispiel Ursula an. Denkst du, sie ist aus Terkonitstahl? Nein, das ist Biogewebe. Oder nimm Curie. Was wie ein Panzer aussieht, ist schlicht und einfach Fett.« »Diesmal hast du es zu weit getrieben, du Giftzwerg!« fauchte Curie van Herling, und auch Ursula Grown, die eigentlich zu
intelligent war, um sich derart provozieren zu lassen, schrie: »Das wirst du bereuen, Rumpelstilzchen.« Mit einer Behendigkeit, die keiner den beiden zugetraut hätte, sprangen sie auf und rannten auf Herts zu. Erschreckt registrierte der Verwachsene, daß die Frauen es mit ihrer Drohung ernst meinten. Während er noch überlegte, ob es mit seiner Würde als Magnide und Mann vereinbar war, zu fliehen, waren die beiden heran und fielen wie Rachegöttinen über ihn her. Während Ursula Grown sich damit begnügte, ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen, versetzte Curie van Herling ihm einen Faustschlag, der genau das Kinn traf. Benommen ging er zu Boden. Triumphierend baute sich die rundliche Magnidin neben ihm auf. »Das war ein Denkzettel, Kleiner. Sage so etwas nie wieder, oder du lernst mich kennen.« Sprachʹs und ging hocherhobenen Hauptes zu ihrem Sessel zurück. Die andere Schwester der ersten Wertigkeit hatte bereits wieder Platz genommen und lächelte ihr zu. Diesmal hatten sie es Herts gegeben im wahrsten Sinne des Wortes. Nurmer stand ein wenig hilflos im Raum. Er war aufgesprungen, doch bevor er eingreifen konnte, lag Herts bereits am Boden. Ächzend stand der Verwachsene auf. »Du hast gerade keine gute Figur abgegeben«, sagte Arjana Joester amüsiert. »Was hältst du von einer Nahkampfausbildung?« »Halt den Mund«, schnappte Gallatan Herts. Vorsichtig betastete er Wange und Kinn, dann drehte er sich zu den beiden Schwestern der ersten Wertigkeit um, die ihm gegenüber handgreiflich geworden waren. Seine Augen funkelten. »Das büßt ihr mir noch.« »Ich dulde weder Provokationen noch tätliche Auseinandersetzungen!« brüllte der älteste Magnide entnervt. »Reagiert euch ab, wo ihr wollt, aber nicht hier. Die Zentrale ist tabu! Habt ihr das verstanden?« Das energische Auftreten des Solaners verblüffte die anderen;
automatisch nickten sie, obwohl Nurmers einzige Legitimation darin bestand, derjenige zu sein, der schon am längsten in Amt und Würden war. Ein wenig versöhnlicher gestimmt, fuhr der Kahlkopf fort: »Ihr solltet euch schämen! Ein jeder von euch gehört zur geistigen Elite der SOL, doch ihr benehmt euch nicht besser als das gemeine Pack. Habt ihr denn kein Verantwortungsgefühl? Wenn wir uns wegen Belanglosigkeiten entzweien, ist das Schicksal der SOL besiegelt. Und nicht nur ihr Schicksal, sondern auch das unsrige. Wann begreift ihr das endlich?« Der leidenschaftliche Appell verfehlte seine Wirkung nicht. Ein wenig beschämt senkten die anderen die Köpfe. Nurmer war zwar einer der weniger intelligenten in dieser Runde, aber er hatte recht. Wenn die Einheit der Magniden, die in Wirklichkeit ja nur nach außen hin bestand, gänzlich zerbrach, löste Willkür die bis jetzt noch prinzipiell funktionierende Ordnung ab; dabei ging ihnen nicht auf, daß ihre Herrschaft – zumindest in der Vergangenheit – keinen Deut besser gewesen war als jede andere Diktatur. Ihr einziger Plus war, daß sie etwas von dem Schiff und seiner Technik verstanden. Äußeres Unheil hatten sie abgewendet, inneres dagegen in Kauf genommen. Möglicherweise waren sie einfach zu sehr auf den Raumer und sein Instrumentarium fixiert und hatten darüber vergessen, daß die SOL nicht Selbstzweck war, sondern die Heimat von fast hunderttausend Lebewesen, die ihnen nicht nur geistig nahestanden, sondern auch so waren wie sie, mit allen Stärken und Schwächen. Als kein Einwand erfolgte, wandte sich der Bärtige an die Jüngste im Kreis. »Wenn du dich zurückziehen willst, kannst du das tun, Lyta. Niemand hier wird es dir übelnehmen.« »Ich habe nicht daran gedacht, mich zu drücken, Nurmer. Meine Absicht ist es, unser Problem von der Positronik hochrechnen und auswerten zu lassen.«
»Du machst deinem Spitznamen ›Bit‹ wirklich alle Ehre«, sagte Wajsto Kölsch spöttisch. »Ich fürchte allerdings, daß der Rechner damit überfordert ist. Eine High‐Sideryt‐Kopie und die damit verbundene Problematik dürften ihm fremd sein.« Bevor die Frau etwas erwidern konnte, gab Curie van Herling eine Meldung durch, die sie alle elektrisierte. »Wir haben ihn!« Zank und Streit waren auf einmal vergessen. Wie auf Kommando stürzten alle zu dem Pult, von dem aus die Bildüberwachung gesteuert werden konnte. »Kein Zweifel er ist es!« Ursula Grown hatte sich als erste gefaßt. Sie las die interne Codebezeichnung ab und projizierte den betreffenden Sektor auf einen großen Schirm. Ein Lichtpunkt markierte die Stelle, an dem Deccons Doppelgänger sich im Augenblick befand. »Kommt her und seht euch das an!« Bis auf Curie kamen alle herüber und studierten den Plan. Die älteste Magnidin war in ihrem Element. Mit einem Leuchtzeiger umriß sie die strategisch wichtigen Punkte. »Hier, hier und hier befinden sich Verteiler, durch die er den betreffenden Sektor verlassen kann; daran müssen wir ihn hindern. Desweiteren muß der Antigravlift besetzt werden, der ebenfalls in andere Abschnitte führt. Wir müssen ihm den Weg abschneiden und ihn einkreisen. Ich schlage vor, daß sich alle bis auf Curie und Lyta auf den Weg machen.« Sie sah sich beifallheischend um. »Curie wird den Doppelgänger von hier aus weiter überwachen und uns auf dem laufenden halten, Lyta bleibt in Bereitschaft, falls wir die Unterstützung der Positronik brauchen.« Die anderen nickten beifällig. Rasch wurde vereinbart, wer welche Position übernehmen sollte, dann brachen sie auf. Da sie alle über Bildsprechfunk verfügten, war die Kommunikation untereinander und mit der Zentrale gewährleistet. Es war ein seltsamer Anblick, als die in weiße, wallende Gewänder
gekleideten Magniden zusammen mit ihren Robotleibwachen den Raum verließen und sich wie eine Prozession durch den Gang bewegten. Die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit strahlten verhaltene Zuversicht aus. Die tatenlose Warterei war vorüber, und wenn man es recht betrachtete, standen ihre Chancen, des falschen Deccons habhaft zu werden, nicht einmal schlecht. Allein ihre Kenntnisse von den inneren Strukturen der SOL verschafften ihnen einen nicht zu unterschätzenden Vorteil; das glaubten sie jedenfalls. Sie konnten ja nicht wissen, daß das Duplikat über das gesamte technische Wissen des Originals verfügte, was das Schiff betraf. Ein Katz‐und‐Maus‐Spiel begann. Als hätte der Doppelgänger instinktiv geahnt, daß man ihn verfolgte, hatte er den betreffenden Sektor verlassen, bevor die Magniden eintrafen. Eine regelrechte Jagd begann. Koordiniert von Curie van Herling hatten die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit die Verfolgung aufgenommen. Immer neue Anweisungen kamen aus der Zentrale, so daß die Trupps gezwungen waren, ständig zu rochieren. Zangenförmig bewegten sie sich von verschiedenen Seiten auf seinen Standort zu. Und dann, als sie fast sicher waren, ihn stellen zu können, verlor die Frau ihn in einem Bereich mit Reparaturanlagen aus den Augen. Er war von der Zentrale aus mittels Bildüberwachung nicht mehr aufzufinden. Unauffällig suchten die Magniden den Sektor ab, doch das Duplikat war und blieb verschwunden. Unverrichteter Dinge machten sie sich auf den Rückweg. Alle waren ziemlich niedergeschlagen, es herrschte bedrückendes Schweigen, jeder hing seinen Gedanken nach. Nach einer Weile sagte Arjana Joester in die Stille hinein: »Wir könnten es mit Betäubungsgas versuchen.« »Ist das dein Ernst?« »Warum nicht? Wenn wir die SOL damit fluten, erwischen wir ihn
bestimmt.« »Nein, das ist keine Lösung«, wehrte Nurmer ab. »Außerdem ist die Methode auch nicht sicher«, meinte Ursula Grown. »Er braucht sich nur einen Schutzanzug anzueignen, der über eine eigene Sauerstoffversorgung verfügt.« »Dazu wird er keine Zeit mehr finden.« »Nein, das lehne ich ab«, wiederholte der Älteste in der Runde, diesmal energischer. »Aber was können wir dann tun?« »Nichts, wir müssen warten.« »Ich habe diese Warterei satt.« Gallatan Herts sprang auf und verließ die Zentrale. Einige wären ihm gerne gefolgt, doch sie blieben; teils aus Verantwortungsbewußtsein, teils aus Angst, etwas zu verpassen. Wieder wurde es still. »He, seht mal, wen ich hier habe«, krähte der Verwachsene. Unbemerkt von den anderen war er zurückgekehrt. Er schob einen Mann vor sich her, der nur knapp einen Kopf größer war als er selbst und auch in seinem Alter sein mußte. Sein Äußeres wirkte nicht sonderlich gepflegt, die Kleidung, die er trug, war ihm eine Nummer zu groß, alt und fleckig. Sechs Augenpaare blickten erwartungsvoll auf. »Erinnert ihr euch noch an ihn? Das ist der Mann, der es abgelehnt hat, ein Bruder der dritten Wertigkeit zu werden.« »Ja, ich erkenne ihn wieder.« Nurmer strich über seinen Bart. »Du bist Nockenstamm, nicht wahr?« »Nockemann«, verbesserte der Genetiker. »Hage Nockemann.« Der Kahlkopf nickte bedächtig. »Und was willst du von uns?« Herts ließ den Angesprochenen nicht zu Wort kommen. »Von uns will er nichts. Er will zu Chart.« Nurmer musterte den Wissenschaftler. »Du möchtest den High Sideryt sprechen?« »Ja.« »In welcher Angelegenheit?« »Das möchte ich ihm lieber selbst sagen.«
»Wir können den High Sideryt jetzt nicht stören. Er ist mit einem Problem befaßt.« »Was ich ihm mitzuteilen habe, duldet keinen Aufschub. Es geht um die SOL.« »Gehörst du etwa auch zu diesen 60 Leuten, die sich für die SZ‐2 stark machen?« erkundigte sich Curie van Herling unfreundlich. »Ich gehöre zu keiner Gruppe«, betonte Nockemann. »Du hast gesagt, es geht um die SOL, Hage«, griff Ursula Grown den Faden wieder auf. »Wenn es nicht die Einheit des Raumers betrifft, was dann?« »Meine Erkenntnisse betreffen eine interne Angelegenheit.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Ihr müßt mich zu ihm lassen – es ist von äußerster Wichtigkeit.« »Du mußt uns schon sagen, um was es geht«, sagte Nurmer. »Jeden Tag kommen Leute, die den High Sideryt sprechen wollen. Verständlicherweise hat er andere Dinge zu tun, als sich um irgendwelche Lappalien zu kümmern. Sage uns, was du auf dem Herzen hast. Wenn es wirklich von solcher Dringlichkeit ist, wie du behauptest, werde ich dich persönlich zum High Sideryt bringen.« Hage Nockemann fühlte sich ein wenig unbehaglich, die auf ihn gerichteten Blicke machten ihn unsicher. Das, was er herausgefunden hatte, war eigentlich für keinen größeren Kreis bestimmt, er hatte es Deccon unter vier Augen sagen wollen. Er überlegte und zwirbelte gedankenverloren an seinem Schnurrbart. Sollte er die Magniden einweihen? Wie es aussah, führte der Weg zum Führer der SOLAG nur über sie; immerhin hatte er die Zusage, doch noch persönlich mit Deccon sprechen zu können. Den Ausschlag gab aber, daß die Sache hochbrisant war und keinen Aufschub duldete. »Du hast mein Wort«, bekräftigte Nurmer, der das Zögern des Wissenschaftlers falsch deutete. »Also gut.« Nockemann gab sich innerlich einen Ruck. »Es geht um den High Sideryt. Von ihm existieren Doppelgänger.«
Der Kahlkopf sank ächzend in seinem Sessel zurück, Kölsch stieß hörbar die Luft aus. Herts pfiff schrill und mißtönend, was ihm einen verweisenden Blick Ursula Growns eintrug. »Doppelgänger?« echote Arjana Joester. »Woher weißt du das?« fragte Curie van Herling schnell. »Ich habe sie selbst gesehen!« »Sie gesehen?« Nurmer war fassungslos. »Willst du behaupten, es sind mehrere?« Nockemann nickte. »Deiner Frage entnehme ich, daß ihr von einem Duplikat wißt. Ist es so?« Die Magniden bestätigten. Sie sahen ein, daß es keinen Zweck hatte, dem Genetiker etwas vorzumachen. Der Fall war so schwerwiegend, daß irgendwelche Ausflüchte fehl am Platz waren. Der Wissenschaftler fühlte sich dagegen ein wenig erleichtert. Da die Anwesenden schon mit der Problematik vertraut waren, war es für ihn einfacher, sie zu überzeugen. »Zwei habe ich persönlich gesehen, doch nach meinem Dafürhalten werden es in Kürze zehn Kopien sein.« Nurmer gab einen erstickten Laut von sich. »Sag, daß das nicht wahr ist«, krächzte er. Alle Farbe war aus seinem runzligen Gesicht gewichen. Er wirkte auf einmal müde und alt, älter jedenfalls, als er in Wirklichkeit war. »Hast du Beweise dafür?« »Ja.« »Die Frauen!« stieß Ursula Grown hervor. »Hängt es mit diesen Frauen zusammen, mit diesen Zehnlingen?« »Ich denke schon.« »Sag uns, was du weißt, Hage«, bat Nurmer. Ausführlich berichtete der Galakto‐Genetiker, was er herausgefunden und welche Schlüsse er daraus gezogen hatte. Nachdem er geendet hatte, war es eine Weile still in dem gewaltigen Raum. Die Mienen der Magniden drückten Besorgnis und
Betroffenheit aus. Derat prekär hatten sie sich die Situation nicht vorgestellt. Dieser eine falsche Deccon, von dem sie gewußt hatten, hatte ihnen schon schwer zu schaffen gemacht, nun wurden sie gar mit zehn Duplikaten konfrontiert. Das Fatale daran war, daß sie laut Aussage des Wissenschaftlers nur durch eine komplizierte Untersuchung vom Original zu unterscheiden waren. Rein theoretisch war es zwar möglich, jeden, der als High Sideryt auftrat, um eine Blut‐ und Gewebeprobe zu bitten, bevor man einen Befehl befolgte, aber in der Praxis war das völlig indiskutabel. Zudem durfte nicht publik werden, daß es diese Doppelgänger gab; es würde zum Untergang der SOLAG und zum totalen Chaos führen. »Du hast eine schreckliche Wahrheit herausgefunden, Hage«, sagte Nurmer mit rauher Stimme. »Ihr glaubt mir also?« »Ja, es ist einleuchtend.« »Wenn ihr ganz sichergehen wollt, könnt ihr Blödel abfragen«, bot der Genetiker an. »Er hat alles gespeichert.« Der älteste Bruder der ersten Wertigkeit bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick. »Blödel?« »So nenne ich die Positronik in meinem Labor«, gestand er ein wenig verlegen. »Ich denke, das wird nicht nötig sein; wir vertrauen dir auch so.« Die anderen nickten zustimmend. »Was tun wir nun?« Ursula Grown knetete nervös ihre Hände. »Können wir überhaupt etwas unternehmen?« »Das einzig Vernünftige, was wir tun können, ist, Chart zu unterrichten«, meinte Kölsch. »Er ist nicht nur der High Sideryt, sondern auch derjenige, der am meisten betroffen ist. Er soll entscheiden, was geschehen soll.« »Das ist auch meine Meinung«, brummte Nurmer. »Ursula und
Hage, ihr kommt mit mir.« Die beiden standen auf. Im gleichen Augenblick stieß Curie van Herling, die immer wieder mal einen Blick auf die Bildüberwachung warf, einen spitzen Schrei aus. »Was ist denn?« fragte Ursula Grown unwillig. »Der falsche Chart – da!« »Und wenn schon – es ist einer von zehn. Laß ihn laufen.« »Warum versuchen wir es nicht noch einmal?« Arjana Joesters Augen funkelten. »Es ist nicht einzusehen, daß er uns jedesmal entwischt. Wenn wir einen von ihnen haben, wäre das für uns sehr von Vorteil. Ich könnte mir vorstellen, daß wir einiges erfahren würden, wenn ich ihn verhöre.« »Das glaube ich auch.« Herts lachte meckernd. »Und wie ich dich kenne, hätten wir es nach deiner Befragung nur noch mit neun Duplikaten zu tun.« Die Frau lächelt kalt. »Damit könntest du recht haben.« »Nein, wir überlassen Chart die Entscheidung. Kommt, ihr beiden.« Arjana Joester machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl, doch Nurmer kümmerte sich nicht darum. Gemeinsam mit Ursula und dem Genetiker verließ er die Zentrale. * Ein wenig scheu blickte Nockemann sich um. Der große Raum wirkte düster; das klobige schwarze Mobiliar verstärkte diesen Eindruck noch. Bilder oder Spiegel fehlten völlig, dafür waren die Wände mit Teppichen bedeckt. Es gab eine Vielzahl von technischen Einrichtungen, deren Bedeutung ihm zum größten Teil fremd war. Alles strahlte Kälte und Unpersönlichkeit aus; selbst der inaktive Bildschirm wirkte in dieser Umgebung aggressiv und drohend – ein
riesiges starres Auge, das ihn zu durchbohren schien. Er fror plötzlich. Der Hüne saß in einem thronähnlichen Sessel, der auf einem der stufenförmigen Podeste stand. Im Halbkreis dahinter hatten sieben Robots Aufstellung genommen. Sie verharrten völlig reglos, was ihre Gefährlichkeit aber nur unterstrich. Der Genetiker schauderte bei dem Gedanken daran, daß sie sich bei einer falschen Bewegung von ihm binnen Sekundenbruchteile in todbringende Kampfmaschinen verwandeln würden. »Was gibt es?« Die Stimme klang grollend wie das Donnern eines fernen Gewitters. »Kennst du diesen Mann noch, High Sideryt? Es ist Hage Nockemann.« Nurmer hatte absichtlich die offizielle Anrede gewählt. Sie sollte dem Wissenschaftler gegenüber dokumentieren, daß auch die Magniden Deccon als oberste Instanz ansahen. Ursula Grown blinzelte ihm unauffällig zu; sie war ebenfalls der Ansicht, daß das vertrauliche »Chart« hier fehl am Platz war. Der massige Mann neigte bejahend den kahlen Schädel. »Dann erinnerst du dich vielleicht auch noch daran, daß Hage Galakto‐Genetiker ist. Er hat etwas herausgefunden, was für uns und die SOL von größter Bedeutung ist.« Der Magnide machte eine auffordernde Handbewegung. »Du wolltest dem High Sideryt selbst berichten. Nun hast du die Gelegenheit dazu.« »Also, Hage, ich höre.« »Nun, vielleicht hat mein Vorredner ein wenig übertrieben, High Sideryt.« »Ach …« »Ich meine, was die Bedeutung angeht.« »Interessant.« Ein abschätzender Blick traf die Magniden. »Du bist also wegen einer Lappalie zu mir gekommen?« »Nein, mit so etwas würde ich dich natürlich nie behelligen …«
Nockemann wand sich wie ein Aal. »Ich dachte nur, es würde dich interessieren.« »Was ist das?« Für Nurmer und die Frau war das Verhalten des Wissenschaftlers absolut unverständlich. Ursula Grown versetzte ihm einen Rippenstoß. »Nun rede endlich, Mann«, zischte sie. »Du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten. Der High Sideryt frißt niemanden.« Das feiste Gesicht des schwergewichtigen Mannes verzog sich zu einem Lächeln. »Nein, ich fresse niemanden, und ich schlage auch keinen. Also, heraus mit der Sprache. Was hast du ermittelt?« »Es betrifft dich direkt«, sagte der kleine Solaner zögernd. »Und das macht dich befangen, ja?« »Ehrlich gestanden – ja.« »Du kannst offen reden. Ich habe keine Geheimnisse vor den Brüdern und Schwestern der ersten Wertigkeit.« »Also gut. Es geht um die Zehnlinge, die wir an Bord genommen haben. Ich war dabei, als die Frauen geborgen wurden, mußt du wissen.« »Und?« »Du hast sie Alpha genannt, und wie du weißt, sind sie verschwunden.« »Ja, und?« »Mir gelang es, das Gewebe einer dieser Frauen zu untersuchen.« Der Hüne beugte sich vor. »Du weißt also, wo die Frauen sich jetzt aufhalten?« »Nein, ich weiß es nicht. Ich habe die Probe entnommen, bevor sie untertauchten.« »Du solltest allmählich zur Sache kommen, denn ich habe nicht unbegrenzt Zeit, wie du dir sicherlich denken kannst.« »Natürlich. Wie gesagt, ich habe eine Zellprobe einer dieser Alphas untersucht und dabei festgestellt, daß sie trotz ihres
menschenähnlichen Aussehens völlig andersartig ist.« »Inwiefern?« »Sie ist eigentlich gar keine Frau.« »Also ein Mann?« »Nein, weder das eine noch das andere, weder Tier noch Pflanze. Sie besitzt keine Chromosomen.« »Seltsam, wirklich sehr seltsam.« Der Mann in dem thronähnlichen Sessel wiegte den Kopf. »Und was schließt du daraus?« »Daß es ein solches Geschöpf eigentlich nicht geben dürfte.« »Das ist auch meine Meinung. Hast du noch weitere Erkenntnisse gewonnen?« »Bis zu diesem Zeitpunkt nicht.« Verstört blickten sich die beiden Magniden an. Was war nur auf einmal in Nockemann gefahren? »Ich danke dir jedenfalls für deine Information. Halte mich auf dem laufenden, Hage. Für unsere Wissenschaftler habe ich immer ein offenes Ohr.« »Dann darf ich mich also jetzt entfernen?« »Natürlich.« Der Hüne winkte jovial. Hage Nockemann hatte es auf einmal eilig, die Klause zu verlassen. Als er zu den Magniden kam, raunte er: »Kommt! Schnell!« Die beiden waren völlig perplex, als er sie unterhakte und zum Ausgang führte. »Was soll das denn? Du mußt …« »Ich muß nur dem High Sideryt gehorchen, und er hat mich entlassen«, sagte der Genetiker schnell. »Da wir zusammen gekommen sind, gilt das auch für euch.« Der Hüne lachte dröhnend. »Hage hat ganz recht! Ab mit euch!« »Aber …«
»Nein, laßt mich jetzt allein. Ich muß in Ruhe über alles nachdenken.« »Wie du meinst.« Aus zusammengekniffenen Augen blickte er ihnen nach, bis sich das Schott hinter ihnen schloß. Seinem unbewegten Gesicht war nicht zu entnehmen, welche Gedanken ihn bewegten. * »Bist du denn auf einmal übergeschnappt?« fauchte Ursula Grown, als sie draußen auf dem Gang standen. »Warum hast du dem High Sideryt diesen belanglosen Unsinn erzählt?« »So belanglos war das nicht«, verteidigte sich Nockemann. »Natürlich war es das«, ergriff nun auch Nurmer Partei. »Du weißt von seinen Doppelgängern, und anstatt ihn darüber zu informieren, tischt du ihm eine Geschichte über die Zehnlinge auf. Du selbst hast gesagt, daß sie keine Rolle mehr spielen und wahrscheinlich tot sind.« »Das stimmt«, gab der Genetiker unumwunden zu. »Allerdings hatte ich meine Gründe, nicht alles zu sagen, was ich weiß.« »Aber uns hast du es gesagt.« Die Frau blickte ihn forschend an. »Oder hast du uns belogen?« »Nein, ihr seid neben mir die einzigen, die die Wahrheit kennen.« »Dann verstehe ich nicht, warum du gegenüber Deccon nicht offen warst. Abgesehen davon, daß er der High Sideryt ist, ist er am meisten betroffen.« »Das stimmt.« »Sag nicht immer ›das stimmt‹« erregte sich Ursula Grown. »Was hat dich bewogen, den High Sideryt mit einer Ausrede abzuspeisen?« »Müssen wir das hier diskutieren?« »Ja! Ich will jetzt und sofort eine Antwort, auf dein unerklärliches
Verhalten haben.« »Ich bin zu spät gekommen.« »Was soll das heißen?« erkundigte sich Nurmer. »Der High Sideryt, den wir gesehen haben, war ein Doppelgänger«, sagte der Genetiker resignierend. »Du bist von Sinnen«, gab die Magnidin empört zurück. »Weißt du überhaupt, was du da sagst?« »Ja, irgendein Duplikat hat den Platz des echten Deccon eingenommen.« »Aber das ist völlig unmöglich, du mußt dich irren.« Erregt fuhr sich Nurmer über den kahlen Schädel. »Wir hätten es doch bemerken müssen. Er kannte doch uns beide und sogar dich.« »Das will ich nicht einmal abstreiten, obwohl er uns nicht namentlich angesprochen hat.« »Dich schon.« »Sicher, nachdem du mich vorgestellt hast.« Ursula Grown winkte energisch ab. »Lassen wir das einstweilen dahingestellt. Woher nimmst du die Gewißheit, zu behaupten, daß der High Sideryt in der Klause ein Duplikat war?« Sie machte eine theatralische Handbewegung. »Hast du nicht selbst behauptet, daß die Doppelgänger sich rein äußerlich nicht vom Original unterscheiden und nur durch eine Blut bzw. Gewebeanalyse zu erkennen sind?« »Das ist richtig, doch in diesem Zusammenhang solltet ihr euch daran erinnern, wie ich zu der Gewebeprobe des falschen Deccon gekommen bin.« Nockemann holte tief Luft. »Fällt es euch ein?« »Die Kratzer auf seinem Kopf«, hauchte die Frau. »Zwei Kratzer, die geblutet haben müssen und zu verschorfen beginnen.« »Zwei Kratzer auf seinem kahlen Schädel. Ich habe sie ebenfalls gesehen, ihnen aber keine Bedeutung beigemessen.« Hage Nockemann fühlte keinen Triumph in sich aufsteigen, als er sagte: »Glaubt ihr mir nun endlich?«
Er erhielt keine Antwort. Die Magniden waren blaß geworden, Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen. Sie waren keine Dummköpfe, aber eine solche Situation überforderte sie einfach. »Das ist das Ende!« Nurmer senkte den Kopf. Ursulas Worten hatte er nichts mehr hinzuzusetzen. ENDE Im nächsten Atlan‐Band blenden wir von der SOL um zur SZ‐2. Die Solzelle wird durch eine mysteriöse Einwirkung am Start gehindert und auf dem Planeten Break‐2 festgehalten. Um den Flug zum Ysterioon dennoch fortsetzen zu können, wird ein schwieriges Projekt in Angriff genommen – man verwandelt eine Korvette in DAS NICKELSCHIFF … DAS NICKELSCHIFF‐ so lautet auch der Titel des Atlan‐Bandes 543. Der Roman wurde von Peter Griese geschrieben.