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Die Erben des Todes Von H. K. Bulmer Deutsche Erstveröffentlichung 1. Die Scheibenwischer quietschten ein letztes Mal über die Windschutzscheibe und gaben ihren Geist auf. Die Asphaltdecke der Straße und die Telefonmasten am Straßenrand verschwanden hinter einem silberglitzernden Regenvorhang. Roy Tulley zog den brandneuen Cadillac auf die niedrige Böschung hinauf, stellte den Motor ab und blinzelte heftig. Durch die Seitenfenster sah er die Reflexionen der vier Scheinwerfer, die im Wolkenbruch hüpften. »Und was jetzt?« fragte Graham Pike. Er war der Beifahrer. »Es war doch deine Idee, die Nacht durchzufahren«, erwiderte Tulley gleichmütig. »Wenn wir diesen Schlitten vorzeitig an der Westküste abliefern, ist uns doch ein Bonus sicher«, antwortete Pike. Blitze zuckten, und der Donner krachte. »Und es war ja auch deine Idee«, fuhr Tulley ruhig fort, »diese gottverlassene Straße am Rand der Welt zu benützen, wo sich nicht mal mehr die Füchse und Hasen…« »Aber dieser Kerl hat doch geschworen, das sei die beste Route! Und er hat auch gesagt, wir könnten mindestens zehn Prozent Benzin sparen…« »Das ist eben immer der Ärger mit dir, Gray. Du bist viel zu leichtgläubig. Du schluckst alles, was man dir erzählt.« »Und du bist der Elektroniker, Roy. Du müßtest doch diese Scheibenwischer im Handumdrehen reparieren können.« »Einfach großartig!« Allmählich begann sich Tulleys kühler Gleichmut aufzuwärmen. »In der Beziehung haben die leichtgläubigsten Menschen die geringsten Skrupel. In dir, Gray Pike, zeigt sich ein ganz gemeiner Zug. Du bist ebenso Fachmann wie ich. Aber du wirst natürlich naß, wenn du die Scheibenwischer reparierst.« Sie knurrten einander an mit der Kameradschaftlichkeit von
Rivalen, die sie seit Beginn ihrer Schulzeit auch gewesen waren. Sie hatten im selben Klassenzimmer gesessen, derselben Lehrerin zugehört – oder auch nicht –, in der gleichen Mannschaft gespielt, vom Wissen desselben Tutors auf der Universität profitiert, wenn auch jeder auf seine Art, und nach dem Studium hatten sie am gleichen Tag im gleichen Computerwerk die Arbeit aufgenommen und waren am gleichen Tag der vergangenen Woche gefeuert worden. Und unablässig prasselte der Regen herunter. »Ein toter Punkt also«, stellte Pike gähnend fest. Tulley sah erst ihn an, dann in den Regen hinaus und endlich auf den Rücksitz. »Wenigstens haben sie uns einen Caddy gegeben.« »So naß wirst du schließlich auch wieder nicht, Roy.« »Viel zu naß. Ah, das wird eine lange Nacht!« »Wir könnten ja vielleicht würfeln.« »Ha!« Tulley schniefte vor Verachtung. »Mit dir? Mit dem ausgekochtesten Kerl der nördlichen Halbkugel, der jeden Trick kennt?« »Was kann ich dafür, daß ich zwei oder drei lumpige Tricks kenne?« Beide waren große, schlacksige junge Männer, die nicht zu denjenigen gehörten, die sich leicht unterkriegen ließen. Irgendwo an dieser Westküste lag für sie eine Möglichkeit zu einem frischen Start, einem neuen Leben bereit; davon waren sie überzeugt. Ihre Eltern in Sharon waren tolerant genug gewesen und hatten gewußt, wann man dem Übermut der Jugend – wie sie den unbekümmerten Optimismus ihrer Söhne nannten – keine Zügel anlegen durfte. Und sie hatten nur gemeint, es sei höchste Zeit, einmal seßhaft zu werden. Pike und Tulley waren beide reif genug, daß sie ihren Eltern für eine solche Einstellung dankten. »Na schön.« Roy Tulley beschloß, sich wieder einmal als Narr zu erweisen und es mit Graham Pike zu riskieren. Sie konnten ja wirklich nicht die ganze Nacht untätig herumhocken. »Wenn du mich aber betrügst, Gray, dann gnade dir Gott!« »Ich und einen Freund betrügen?« tat Gray entrüstet. »Du, Graham Pike, bist du und kennst dich selbst verdammt genau!« Pike lachte und warf die Münze. Sie blitzte einmal kurz auf, als sie in den Reflexwinkel der Scheinwerfer geriet; dann fiel sie auf den Wagenboden und wurde mit dem Fuß abgedeckt.
»Kopf«, sagte Tulley, wußte aber sofort, daß er falsch gewählt hatte. »Leider, Roy«, meinte Pike und nickte voll besorgter Befriedigung. »Pech gehabt. Du mußt hinaus.« Tulley schlug seinen Kragen hoch und stieg aus. Er empfand es als persönliche Beleidigung, daß der Regen so unaufhörlich auf ihn eindrosch. Er hob die Motorhaube auf. »Ein Glück, daß wenigstens die Maschine noch da ist«, murmelte er. »Ist schon eine gewisse Beruhigung.« Plötzlich leuchteten riesige Scheinwerfer im nächtlichen Regen auf, und ein riesiger, sehr lauter Laster fuhr neben ihnen mit quietschenden Reifen und zischenden Luftdruckbremsen heran. Eine Bullenstimme rief durch das Fenster des Führerhauses. »Habt ihr Schwierigkeiten? Braucht ihr Hilfe?« Tulley schaute nach oben, und der Regen prallte von seinem Gesicht ab. Er war perplex. In der Dunkelheit der Wolkenbruchnacht war der Fahrer unsichtbar, aber Tulley wunderte sich, wieso er seinen Heiligenschein schief aufgesetzt hatte. »Nur die Scheibenwischer!« schrie er zurück. »Nichts Ernstliches!« Der Fahrer öffnete die Tür und stieg herunter. Er war groß und überragte Tulley fast um Handbreite, und die ungewöhnlich breiten Schultern unter dem kurzen Mantel unterstrichen die nur mühsam gebändigte Gorillakraft in ihm. »Dann wollen wir mal schauen«, sagte er. Der Strahl einer Taschenlampe spielte über Tulley, schwang zum Cadillac hinüber und verhielt auf Pikes weißem Gesicht am Fenster. »Seid ihr nur zu zweit?« Ein vager Schauer lief Tulleys Rückgrat entlang. Krachend fiel die Klappe der Ladebrücke herunter. Schatten bewegten sich. Die Größe und Umrisse der Leute dort konnte er nicht genau ausmachen, aber sie sahen sehr merkwürdig aus… Pike tat einen lauten Schrei, riß die Tür auf und raste wie ein erschreckter Hase den schwarzen Asphalt entlang. Etwas drückte sich an Tulley vorbei, das wie ein Windhund lief und ein schlabberndes, saugendes Geräusch von sich gab. Tulley schrie. Da waren auch schon diese Dinger über ihm.
Keulen droschen auf ihn ein, aber dann und wann tat er doch einen flüchtigen Blick in die Runde; schleimige Körper, die so groß waren wie Ochsen, bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Zwillingsbündeln von seltsamen Ranken, die sich über den Boden schlängelten. Andere Ranken sprossen aus den obersten Abschnitten der Dinger, aus Fühlerspitzen schossen Augen, aus anderen Ohren oder mit Sägezähnen besetzte Mäuler, und wieder andere lieferten die Keulen, die auf Roy Tulley einschlugen, bis für ihn die Lichter auslöschten. Alles drehte sich um ihn, als er wieder zu sich kam, und er hatte das Gefühl, jemand – oder etwas – habe ihm den Kopf abgenommen und verkehrt wieder angenäht. Mißtrauisch öffnete er die Augen und fand sich im Innern eines Lastwagens; das Aluminiumwellblech war nackt und kahl. Er lag auf dem Boden des Laderaumes, und die Hände hatte man ihm mit einem seidigen, netzähnlichen Seil gefesselt. Er hörte Stöhnen und Flüche und eine Frau schrie grell, was sein eigenes Gefühl hysterischen Unbehagens noch verstärkte. Er war splitterfasernackt. Die Dinger setzten sich auf die tentakelartigen unteren Ranken zurück und verhielten sich ruhig. Ihre Haut war nun von einem tiefen Rosa, und aus weit offenen Poren quoll eine Flüssigkeit, die, wie Tulley vermutete, sie befähigte, wie Schnecken über den Boden zu kriechen. Aber ihre Geschwindigkeit war alles andere als schneckenhaft. Er erinnerte sich genau daran, wie sie an ihm vorbei und hinter Pike dreinhetzten. Acht Leute befanden sich im Laster, und alle waren nackt und aneinandergefesselt, und alle schienen dem Eindruck zu unterliegen, daß sie unter einem grausamen Alptraum litten. Pike war an einen stämmigen Mann gefesselt, dessen Bauch faltig herunterhing und auf dessen Brust ein Wust grauer Haare wuchs. Neben ihm befanden sich zwei junge Mädchen. Sie schluchzten zum Steinerweichen und klammerten sich aneinander wie junge, verschüchterte Äffchen. »Alles in Ordnung mit dir, Gray?« würgte Tulley hervor. Pike rollte ein Auge in seine Richtung. »Blöde Frage«, brummte er. »Sag mal… Spinnen wir?« »Nein. Das ist alles wirklich. Die sind’s auch.« Pike machte eine Kopfbewegung zu den fünf Ungeheuern.
Zwei Leute sahen wie ein Ehepaar aus. Sie drängten sich aneinander, hatten die Köpfe gesenkt und sagten kein Wort. Dann war noch die Frau da, die kreischte. Sie war eine vollbusige Blondine, deren Perücke verrutscht war. Tränen hatten in ihrem Make-up tiefe Rinnen gegraben. Sie wiegte sich ununterbrochen vor und zurück. Tulley faßte seine Eindrücke kurz zusammen: »Nicht viel Kraft im zweiten Glied, Gray.« »Interferenz«, bemerkte Pike. »Wir bleiben am Ball.« Es war ja nicht anders zu erwarten, als daß er sich sofort der Situation anpaßte und das tat, was nötig war. Der Laster hielt an. Die Monstren scheuchten die Leute hinaus. Aneinandergefesselt, taumelten und fielen sie über die Heckklappe. Innen war es nicht unangenehm kalt gewesen, aber jetzt drosch der eisige Regen auf sie ein, und der Wind fegte nadelscharf um ihre nackten Flanken. In der regenverhangenen Dunkelheit vermochte Tulley nichts zu erkennen außer unendlichen Weiten eines schwarzen Nichts. Der Laster fuhr von der Straße weg, schaukelte und holperte die Böschung hinauf und folgte einer mit schlammigem Wasser gefüllten rauhen Fahrspur. Die Ungeheuer trieben die Menschen mit Knüppelschlägen hinterher. Pike zerrte an den silbrigen Seidenteilen, die um seine Handgelenke lagen. »Das Zeug ist unheimlich kräftig. Ich kann es nicht abreißen.« »Wenn du’s so ohne weiteres könntest, hätten sie uns ja nicht damit gefesselt.« Mitten in einem schlammigen Nichts blieb der Laster stehen. Zwei Männer entstiegen dem Fahrerhaus. Der eine, der Fahrer, war für einen Augenblick zu sehen, als er durch den Scheinwerferstrahl ging. Er hatte etwas Merkwürdiges an sich. Er trug einen schwarzen, tief in die Stirn gezogenen Schlapphut. Der andere Mann hatte so etwas wie einen Fliegerhelm ältester Bauart auf, einen solchen, den man wie eine Wollmütze über die Ohren zog, aber aus Leder. Darauf schimmerte Metall. Die beiden verschwanden und erschienen wenig später wieder neben dem Laster. Der Fahrer stieg ein, der andere trat zurück und machte schwingende Bewegungen mit den Armen. Der Laster setzte sich im ersten Gang in schaukelnde Bewegung. Die Schwärze jenseits des Lastwagenaufbaus erschien Tulley
noch schwärzer als die Finsternis der regentriefenden Nacht. Ihm schien, als er nackt, frierend und an die anderen vor Kälte zitternden Menschen gefesselt dastand, daß der Laster in eine stockfinstere Leere hineinfuhr. Und dann hielt Tulley vor Staunen den Atem an. Vor dem Laster war keine Regenfahne zu sehen. Er rollte langsam weiter, und die vordere Stoßstange verschwand. Dann folgte die Motorhaube. Die Räder wurden unsichtbar. Die langen Well-Aluminiumflanken des Lasters schienen von einem gigantischen, unmenschlichen Maul verschlungen zu werden. Die hysterische Frau hörte zu schreien auf. Alle schauten entgeistert zu, und keiner konnte es glauben, was er sah. Dann verschwand das ganze, lange Gelenkfahrzeug in dieser dunklen Leere, die ein Tunnel zur Hölle zu sein schien. Der Mann brüllte etwas, und die Ungeheuer ließen ihre Ranken über die aufgeweichte Erde kriechen. Sie zwangen die Menschen, dem Laster zu folgen. Jetzt sah Tulley genau, daß es hier tatsächlich eine undruchdringliche Schwärze gab, die den Regen ausschloß, eine solide, dunkle Wirklichkeit, einen Tunnel, eine Tür von der Erde ins… ins Irgendwo. Eine Keule drosch auf Roy Tulleys Rücken ein, und so betrat er das Portal der Dunkelheit.
2. »Es hat gar keinen Sinn zu sagen, daß ihr es nicht glaubt«, erklärte Pike den beiden jungen Mädchen gereizt. »Es ist so. Wir sind hier, wo immer dieses Hier auch sein mag.« Sie drängten sich eng aneinander. Tulley schaute sich um. Er stimmte völlig mit dem überein, was Graham gesagt hatte, aber es war verdammt schwierig, sich damit abzufinden. Der Himmel war noch immer wolkenverhangen. Kein Stern war zu sehen, aber der Regen hatte aufgehört. Wenigstens das war etwas Positives, wofür man dankbar sein mußte. Ein sanfter Nachtwind umschmeichelte sie, nachdem das Dröhnen der schweren Lastermaschine aufgehört hatte. Wieder mußten sie sich in eine Reihe stellen und an Bord klettern. Die dicke Blondine hatte zu kreischen aufgehört; sie rückte sogar ihre Perücke zurecht; schließlich machte sie sich’s sogar so bequem wie möglich und lehnte sich an ein paar Segeltuchsäcke.
»Komisch«, sagte Pike zu Tulley, als sie sich auf den Boden setzten. »Immer scheint doch in solchen Situationen eine verängstigte Blondine herumzugeistern.« Tulley war sich bereits darüber klar geworden, welche Haltung Graham einzunehmen gedachte, denn sie war der seinen ziemlich ähnlich. Solange sie gesund und kräftig waren, würden sie ihren Humor und kühlen Kopf bewahren, alles so hinnehmen, wie es kam, und dabei versuchen, aus den Dingen das Beste zu machen. Der Laster ruckte wieder an, und Tulley schaute zurück. Die Straße war lange nicht so gut wie die guten alten US-Straßen, die sie hinter sich gelassen hatten, und der Laster schaukelte und rumpelte. Sie überholten ein Gefährt, ein ganz seltsames Ding, und Tulley musterte es entgeistert. Es sah fast aus wie eine riesige Muschelschale, und vier spindelige, riesige Räder überragten die Muschel und schienen schrecklich zu eiern. Aus einem Kamin stieg dicker Rauch oder Dampf auf, der mit Funken durchsetzt war. Das alles war genau zu sehen, weil eine golden glühende Lampe an einer Art Angelrute über dem Wagen hing. »Was, zum Teufel, ist denn das?« wollte Pike wissen. Er war direkt gekränkt, weil ein derart überzüchteter Mechanismus so glatt über eine so mangelhafte Straße glitt, während ein solider US-Laster, ein Meisterstück moderner Ingenieurkunst, holperte und schaukelte. Ehe Tulley noch antworten konnte, schleuderte der Laster und schien dem Muschelschalenwagen den Weg versperren zu wollen. Ungeheuer ließen sich aus dem Wagen gleiten und schwärmten über das Muschelschalenfahrzeug, zerschlugen drei der zierlichen hohen Räder und brachten zwei neue Gefangene mit. Man zog sie aus. Sie wehrten sich erbittert und schlugen um sich, bis ein Keulenschlag sie zur Ruhe brachte. Einer war ein junger Mann mit einem gesunden, frischen Gesicht, und der andere Gefangene stellte sich als ausnehmend hübsches Mädchen heraus, so daß Tulley und Pike mitleidig und voll zorniger Bewunderung pfiffen, als man ihr die Kleider vom Leib riß. Ihr langes, dunkelrotes Haar lag auf weichen Traumschultern, die dort rote Male aufwiesen, wo die Ungeheuer nach ihr gegriffen hatten. Tulley überlegte, ob er es jetzt wagen sollte oder nicht; er entschloß sich, es nicht zu tun, und so kümmerte er sich unter der Assistenz der anderen um die Neuankömmlinge. Als das Mädchen die tiefgrünen Augen mit den goldenen
Flimmerflöckchen öffnete, zuckte sie zurück. Sie sagte etwas, das niemand verstehen konnte, denn die Worte waren eine Reihe fließender Silben, die mit plätschernder Musik untermalt waren. Pike lächelte. Er hielt ganz sanft ihre Hand und sagte langsam: »Mach dir keine Sorgen. Wir kommen aus dieser Geschichte heraus.« Darauf antwortete sie mit einem sprudelnden Wortschwall. »Versteht das einer von euch?« wandte sich Tulley an die anderen. Keiner meldete sich. »Eine solche Sprache habe ich noch nie vorher gehört«, sagte der Ehemann, der seine Frau fest an sich drückte. »Und ich spreche außer englisch noch französisch, spanisch und deutsch. Vielleicht handelt es sich um eine orientalische Sprache.« »Hinter dem Bambusvorhang werden solche Wagen ebensowenig hergestellt wie in Detroit«, erwiderte Tulley lakonisch. Wieder fuhr der Laster plötzlich langsam dahin, wieder rutschten die Monstren über die Heckplanke, und wieder wurden weitere Gefangene zu den anderen geworfen. Diesmal war es ein Ehepaar mittleren Alters mit zwei Söhnen. Pike nickte ihnen zu. »Die werden uns nützen, wenn die Zeit kommt.« »Ja«, meinte Tulley. »Aber… wie kommen wir wieder zurück?« Diese Frage schob Pike beiseite, da er gewohnt war, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, sogar in einer so absolut unmöglichen Situation. »Erst müssen wir mal diese rosa Schneckenungeheuer abschütteln. Dann überlegen wir. Wenn ich nur wüßte, wieviel Zeit wir haben.« Als der Laster erneut anhielt und sie wieder mit Zuwachs rechneten, wurden sie heruntergetrieben. Sie standen am Straßenrand, als der Laster auf die grasige Böschung hinauffuhr. Die Dunkelheit war einem perlmuttfarbenem Lichtschimmer gewichen, und durch den Wolkenvorhang fielen vereinzelte Strahlen. Etwa eine halbe Meile entfernt stand ein Gebäude, das aus Spitztürmchen, Erkern, Brustwehren, Zinnen und Schießscharten zu bestehen schien, die sich alle nach einem konischen Zentralturm ausrichteten, von dem Fahnen wehten. »Hast du in Kansas jemals so was gesehen?« »Nein, niemals!«
Die Leute von der Erde und die von diesem neuen Ort starrten verängstigt und apathisch vor sich hin, als sich der Laster langsam weiterbewegte. Wieder einmal zeigte sich das schwarze Viereck äußerster Leere vor der vorderen Stoßstange. Wieder einmal ruckte der Laster langsam durch und verschwand Stück für Stück. Als er völlig verschwunden war, trieben die Ungeheuer die Menschen mit Keulenschlängen hindurch. Tulley sah neben der schwarzen Öffnung eine Konsole, von der dicke Kabel zu einer rotbemalten Kiste mit grellfarbenen Klemmen führten. Er hörte ein Summen. Aus dieser roten Kiste kamen Energiefluten von ungeheurer Voltzahl. Als er in die schwarze Öffnung trat, zog sich sein Magen zusammen. Er fühlte einen scharfen Schmerz durch seinen Kopf schießen. Da schrie er; taumelnd bewegte er sich vorwärts. Und dann vernahm er erschreckend deutlich ein schnappendes Surren – in seinem Kopf. Er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und schluckte heftig. Ihm war, als habe eine brutale, zu allem entschlossene Kraft ihm ein Stück der Schädeldecke abgenommen und sein Gehirn mit einer weißglühenden Stahlstange umgerührt. »Roy, was ist los? Du siehst ja ganz grün aus!« »Nichts ist los. Mir geht es ausgezeichnet – in diesem Irrsinn hier.« »Ich wollte doch nicht…« Sonne fiel schräg auf sie herunter. Um sie herum erstreckte sich eine weite Ebene, an deren Rand ein Fluß blitzte und Bäume zu erkennen waren. Ein warmer Wind spielte in ihren Haaren. Sie blinzelten einander an. »Aber jetzt ist doch Nacht!« wimmerte die ängstliche Blondine. »Dort, wo wir herkommen, war Nacht.« Von dort, wo die Bäume standen, näherte sich eine Staubwolke. Ihr voran ließ sich eine Reihe schwarzer Punkte erkennen, und Metall blitzte. »Wir kriegen Gesellschaft«, stellte Pike fest und beschattete die Augen. Tulley besah sich genau die Stelle, wo er – nun, irgendwie mußte er sich ja ausdrücken – in diese Welt getreten war. In ihm festigte sich die Überzeugung, daß es nicht die Erde war, die er sein Leben lang gekannt hatte. Der Mann mit dem ledernen Fliegerhelm und den
enganliegenden dunkelbraunen Kleidern hatte inzwischen die rote Kiste fertig verpackt. Er legte einen Schalter um, und das schwarze Viereck, das vorher offensichtlich als Tor von irgendwoher nach hierher gedient hatte, verschwand. Es war ungefähr so, als gehe ein Licht aus. Der Mann nahm die rote Kiste und die Konsole an Trageriemen und transportierte sie zum Fahrerhaus des Lasters. Selbst in diesem Moment fassungslosen Staunens überlegte sich Tulley, wie es nur möglich war, Konsole und Generator zur Herstellung dieses Durchgangs zu verwenden, beide Geräte aber gleichzeitig auch selbst durchzubringen. Er schwor sich, das herauszufinden, nachdem er mit den Ungeheuern abgerechnet hatte. Die Staubwolke nahm an Umfang zu. Es mußten vier Reiter sein. Doch dann hielt Tulley plötzlich den Atem an. Nahmen die seltsamen Dinge, die ihm nun zustießen, gar kein Ende mehr? Er hatte Reiter erwartet und sah auch Reiter; aber er hatte selbstverständlich mit Pferden gerechnet, vielleicht mit Cowboys, die sich nach diesem Gelenkwagenlaster umsehen wollten. Und statt dessen… »Nein!« schrie die Blondine. »Verjagt sie!« Vier Tiere rasten ihnen in einer Staubwolke entgegen. Sie hatten scharlachfarbenes Fell, riesige, fürchterliche Köpfe mit heraushängenden Zungen und scharfe gelbe Zähne. Ihre sechs Beine trommelten auf den Boden, als wollten sie die ganze Erde zu Staub zermahlen. Auf hohen, reichgeschmückten Sätteln, die vor Edelsteinen funkelten, saßen grotesk-großartige Reiter. Jeder trug eine schwere Lanze mit einem flatternden Wimpel. Diese Lanzen zielten mit langen, scharfen Spitzen auf die um den Laster gescharten Leute. Aber die Männer, falls man sie überhaupt als Menschen bezeichnen konnte, riefen allgemein erschütternden Unglauben hervor. Ihre Beine waren kurz, dick und so gebogen, als seien sie genau in einem Stück nach der Sattelform geschnitzt worden. Die Körper bildeten ein krasses Mißverhältnis zu den Beinen; sie waren massig und breitbrüstig, und die mächtigen Schultern schienen den mit Schulterplatten verstärkten Kettenpanzer sprengen zu wollen. Und wie sahen erst die Gesichter aus! Sie waren ledrig-braun, mit wuchtigen Hakennasen und riesigen, blitzenden Augen unter dunklen, buschigen Augenbrauen. Solche Gesichter hatte man in Zeiten des Aberglaubens an Tempelsäulen
angebracht, um die noch böseren Dämonen zu verscheuchen. Die Reiter trugen hohe Helme mit goldenen Schuppen, von denen scharlachfarbene, grüne und gelbe Federn wehten. Um die Taille und an Sattelgurten hing eine recht seltsame Waffenmischung. »Wwwa!« machte Pike und zog sich ein wenig zurück. »Freund oder Feind?« Die Monstren mit ihren Rankenbündeln zögerten nicht. Silbrige Netze flogen durch den hellen Sonnenschein. Sie öffneten sich zu leise zitternden Kreisen und fielen auf die vier Reiter und ihre Tiere hinunter. Es gab ein schreckliches Durcheinander von Beinen und riesigen Staubwolken; die Männer wurden aus ihren Sätteln gezerrt, und die Tiere verhedderten sich auf dem Boden. Die Bestien schwangen ihre Keulen, und es dauerte einige Zeit, bis die seltsamen Krummbeiner in ihren Rüstungen überwältigt waren. Geschickt streiften die Tentakel ihnen die Rüstung, die Kleider und die Waffen ab. Das Ganze wurde in den Lastwagen geworfen. Alle Gefangenen wurden hineingetrieben, und alle waren mit den Silberseilen gefesselt. Tulley warf einen Blick auf den Berg scharfer Waffen. Pike sah es und nickte. Der Laster setzte sich wieder in Bewegung. Sehr bald blieb er erneut stehen, und alle mußten aussteigen. Die Szenerie war dieselbe wie vorher. Die rote Kiste und die Konsole wurden aufgestellt, und das schwarze, unergründliche Portal aus spukhafter Energie war da. Langsam schob sich der Laster durch. »Wahrscheinlich fangen sie hier keinen mehr ein«, meinte Pike. »Die gehen doch tatsächlich von einem Ort zum anderen, um Leute gefangenzunehmen. Wenn ich nicht so fasziniert wäre, würde ich Zeter und Mordio schreien.« »Wofür wollen die uns eigentlich?« fragte die Blonde. Sie hatte sich mit einem Stück Segeltuch über das Gesicht gewischt und sah jetzt großartig-grotesk aus. »Keine Ahnung«, antwortete Tulley. Ahnungen hatte er sehr wohl, nur waren sie alles andere als erfreulich. »Mir scheint das eine Sklavenjagd zu sein«, bemerkte der Ehemann. Er sah noch immer außerordentlich entsetzt drein. »Ich bin Historiker«, sagte er. »An der Universität von Kansas City, und die Ereignisse ergeben allmählich ein klares Bild. Ich bin Bill Chilson, und das hier ist meine Frau Betty. Wir waren eben zum
Dinner in einem Rasthaus an der Autobahn. Der Laster hier…« Er konnte nicht weitersprechen. »Irgendwie kommen wir aus der Sache sicher wieder heraus, Mr. Chilson«, sagte Tulley, und das meinte er auch. Nur wußte er natürlich noch nicht, wie er das schaffen sollte. »Es muß doch einmal eine Chance für uns geben.« »Ihr müßt nur ständig bereit sein, ganz plötzlich zu rennen«, erklärte Pike voll wilder Entschlossenheit. Die vier kurzbeinigen Reiter kamen ungeheuer schnell wieder zu Bewußtsein, und jeder konnte sehen, welche Barbaren sie noch waren und wie geschwind sich ihre urweltlichen Kräfte wieder auffüllten. Sofort schlugen sie heftig um sich, um ihre Fesseln zu sprengen, denn sie wollten selbst mit nackten Händen die Ungeheuer angehen. Sie waren von grimmiger Entschlossenheit, die für sich selbst sprach, und ihre meisterliche Überlegenheit zog niemand in Zweifel. Aber die Keulen sausten ununterbrochen auf alle nieder, die sich wieder in einer Reihe aufstellen mußten und durch das Tor gezwungen wurden. Als sie sich dem schwarzen Nichts näherten, wurde einer der Reiter von einem Monstrum zusammengeknüppelt. Der Mann prallte gegen Tulley, der sofort einen Arm um die dicke lederhäutige Taille legte, um ihn zu stützen. Dabei spürte er ungeheuer kräftige Muskeln. »Aushalten, Freund«, sagte er mit einer Stimme, in die er seine ganze Freundlichkeit legte. »Nimm’s leicht. Unsere Zeit kommt schon noch.« Die Antwort kam in einem tiefen dröhnenden Baß und war kaum verständlich. Tulley lächelte; er konzentrierte seine ganze Persönlichkeit auf dieses Lächeln. Der Reiter lächelte ein wenig mühsam zurück, als schmerze es ihn. Die dünnen Lippen über einem dichten schwarzen Bartwust verzogen sich, und um den Mund herum zeigten sich tiefe Falten. Wie Tulley mit dem Krummbein durch das schwarze Tor ins Nichts ging, so führte Pike das rothaarige Mädchen aus dem Muschelschalenwagen. Die silberseidigen Fesselsträhnen hatten sich inzwischen miteinander verwirrt, aber sie hatten genug Spielraum, um sich noch einigermaßen frei bewegen zu können. Der Gefährte des Mädchens ging an dessen anderer Seite. Er hatte bisher noch kein Wort gesprochen und sah entsetzlich mutlos drein.
Und nun traten sie in eine bunte Welt. Von Felswänden und aus der üppigen Vegetation schlugen ihnen helle, glänzende, grelle Farben entgegen, und aus allen Spalten und Ritzen der Felsen sproß es. Die Sonne war der reinste Hochofen. Der Laster knirschte über lockere Felsbrocken und groben Kies und machte dabei einen höllischen Krach. Die Gruppe bestand jetzt aus achtzehn Menschen von drei verschiedenen Orten, und so gingen sie den steinigen Pfad entlang, der zwischen reichfarbenen Klippen dahinführte. Der Laster strebte dem Sattel entgegen, der etwa eine halbe Meile vor ihnen lag. Der Mann mit der roten Generatorkiste und der Schaltkonsole schritt aus, als sei das Gewicht der Geräte nur eine Kleinigkeit für ihn, aber die rosahäutigen Monstren mit ihren rankenhaften Gehwerkzeugen taten sich auf den Steinen sehr schwer. Tulley beobachtete sie voll boshafter Befriedigung, wenn sie die holprigsten Stellen umgingen. Er vermutete, daß sie ebenso wie Schnecken schlüpfrige Wege bevorzugten. Das gemeinsame Elend wirkte völkerverbindend, und sie halfen einander, so gut sie konnten, über die steilsten, schwierigsten Stellen. Sie keuchten einen Hang hinauf. Tulley, der einem der jungen Mädchen von der Erde half, bückte sich unauffällig und hob mit der freien Hand einen scharfen Stein auf. Damit begann er an seinen Fesseln zu sägen. Das silberfarbene Seidenseil erwies sich jedoch als ungeheuer zäh. Dann nahm er sich einen dünnen Strang vor und schabte an ihm herum. Bald verschwand der Laster hinter dem Bergsattel. Sofort brach ein Höllenlärm los; man hörte Schüsse, ein Knistern und Zischen, schrille Schreie und das Aufheulen eines Motors, das als tausendfaches Echo von den Felsen zurückkam. Sofort stürmten die Ungeheuer dem Hügelkamm entgegen. Aus ihren offenen Poren strömten Fluten einer klebrigen Flüssigkeit, womit sie ihre Ranken und Tentakel schmierten. Sie rannten an den Leuten vorbei nach oben. Der Mann ließ seine beiden Geräte fallen, riß einen glänzenden Gegenstand heraus, der einer Taschenlampe glich, und hetzte dem Sattel entgegen. Tulley sägte voll verzweifelter Entschlossenheit weiter an seiner Fessel. Das Seidenseil widerstand dem Stein. Pike und einige der anderen folgten seinem Beispiel. Endlich hatte er doch den ersten Strang geschafft und begann sofort mit dem nächsten. Die
Schüsse von der anderen Seite des Sattels verdichteten sich zu Salven und verloren sich dann wieder zu Einzelschüssen. Flammen schossen in den Himmel hinauf; dicker Rauch stieg auf. Tulley schaute nach oben und sah Männer über dem Kamm erscheinen. Nun fielen all seine Hoffnungen in sich zusammen. Diese Männer rannten taumelnd, stolpernd und stürzend, gejagt von den Ungeheuern, die erbarmungslos auf sie eindroschen. Im Nu waren sie umringt; die Kleider wurden ihnen vom Leib gerissen, und dann fesselte man sie mit dem teuflischen Seil, das man mit einem scharfen Stein nicht durchschaben konnte. Nun entdeckte eines der Ungeheuer, was Tulley tat. Es blubberte einen Wutschrei, schlug wütend auf ihn ein, so daß Tulley erst der Stein aus der Hand fiel. Dann stürzte er selbst gegen einen Felsblock. Roy Tulley hatte das Gefühl, in einem Funkenregen zu stehen und die ganze Welt auf sich fallen zu fühlen; er verlor das Bewußtsein.
3. »Komm, trink das mal«, kam Pikes Stimme von irgendwoher jenseits des Horizonts. Gehorsam richtete er sich, von Pikes Arm gestützt, auf, doch die Augen hielt er geschlossen. Gierig schlürfte er das lauwarme Wasser. Sein Kopf dröhnte. Sein ganzer Körper schmerzte. Endlich wagte er es, die Augen zu öffnen. Über ihnen standen Sterne in Konstellationen, von denen er noch nie etwas gehört hatte, und sie funkelten wie die Orden unterentwickelter Länder. Die Leute waren noch immer nackt und drängten sich in einem umzäunten Lager zusammen. Neben ihm stand ein Napf mit lauwarmem Wasser. Pike lehnte sich zurück. »Die haben dich ja ganz schön zugerichtet, Roy«, sagte er. »Das spüre ich.« An seiner anderen Seite hockte ein krummbeiniger Reiter, dessen wildes Gesicht vor grimmigem Rachedurst funkelte. »Das hier ist Fangar«, erklärte ihm Pike. »Wir haben dich gemeinsam hierher geschleppt.« »Vielen Dank.« Tulley hielt sich nicht mit dem Gedanken auf, was sonst mit ihm passiert wäre. »Wo sind wir denn eigentlich?«
»Sie brachten uns für die Nacht in dieses Lager, und sie scheinen es früher schon benutzt zu haben. Draußen liegen allerhand Knochen herum.« Ein Kommentar erschien unnötig. Tulley nahm noch einen Schluck Wasser. »Und der Laster?« »In die Luft geblasen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit den Leuten zu reden, die sie da eingefangen haben. Aber sie scheinen irgendwie anders zu sein. Menschen sind es, daran besteht kein Zweifel. Aber sie wollen mit uns nichts zu tun haben. Sie bleiben für sich.« »Wenn sie den Laster gesprengt haben, sind sie vielleicht nicht ganz so hilflos wie wir.« »Jetzt sind sie es aber.« Fangar bemerkte etwas im Ton einer Kreissäge, und dann ging die Stimme wieder in seinen dröhnenden Baß über. »Du hast ja vollkommen recht, Fangar«, meinte Pike. »Wenn wir dich nur verstehen könnten, dann wäre das eine große Hilfe für uns.« Fangar machte die Geste des Halsabschneidens, dann eine Kopfbewegung zu den Palisaden. Tulley nickte. »Klar. Aber wie?« Er breitete die Hände aus. Dann verging einige Zeit, die sie dazu benützten, auf dem harten Boden ein wenig zu dösen. Es war nicht kalt, und allmählich festigte sich in Tulley das Gefühl, daß er doch am Leben bleiben würde. Sein Kopf und sein ganzer Körper waren voller Beulen, aber blutende Wunden hatte er nicht. Die Keulen der Ungeheuer waren recht wirksam; leider. Es schien wenig Sinn zu haben, über die Situation nachzugrübeln. Irgendwie mußten sie flüchten. Die Flucht hatte Vorrang vor allem anderen. Am Morgen wurde bei Sonnenaufgang eine dünne Brühe in Dosen ausgegeben, und Tulley schluckte dankbar seinen Anteil. Es war schwierig, die ineinander verknoteten Fesseln zu entwirren, um die Gefangenen auszusortieren. Die Monstren banden einige der Gefangenen los und stießen sie zu zwei langen Reihen zusammen. Tulley, Pike, Fangar und das rothaarige Mädchen stellten sich so ungeschickt an, daß sie zusammengebunden in die Reihe gestoßen wurden. Neben Tulley und neben Pike gingen zwei Männer von der Gruppe, die den Laster gesprengt hatten. Dem Mädchen und Fangar gegenüber trotteten Kreaturen, bei deren Anblick Tulley blinzelte.
Beschreiben konnte er sie nicht. Sie sahen aus wie eine blasphemische Kreuzung zwischen Insekten und Krabben, hatten harte Chitinpanzer und Augen, die am Ende langer Stengel saßen. Allmählich konnte Tulley sich zusammenreimen, was vermutlich geschehen war. Tulley kannte sich in der Literatur gut aus, und er hätte die Meinung keinesfalls von der Hand gewiesen, daß sich eine weniger in sich gefestigte Persönlichkeit voll verzweifeltem Grauen von diesen Wesen abgewandt hätte. Der Mann, der arrogant neben Pike und unmittelbar vor Tulley einherschritt, war ein Riese mit einem rötlichen Schnurrbart in einem brutalen Gesicht. Der andere neben Tulley war jünger, groß und stark, und sein Körper war über und über mit Narben bedeckt. Bis jetzt hatten sie noch kein Wort gesprochen, aber endlich tat der Mann neben Tulley den Mund auf. »Meine Füße bringen mich noch um, Wayne. Wann werden wir einen Versuch machen?« Ohne den Kopf zu drehen, antwortete der andere mit schneidender Stimme: »Die kriegen ihr Fett noch, Corny, und das gründlich. Ich persönlich reiße ihnen eine Ranke nach der anderen aus, und Siegler möge mir helfen, es den Tob’kliaks gründlich heimzuzahlen.« Es war ein Schock für Tulley, daß er die beiden verstehen konnte. Sofort wandte er sich an sie. »He, könnt ihr zwei mich verstehen? Was geht hier eigentlich vor?« Mit jedem Wort wuchs seine eigene Erregung. »Wer sind denn all diese komischen Gestalten?« »Klappe halten, du Bauer«, antwortete der Mann an Tulleys Seite sehr unfreundlich. »Aber hört doch mal…«, begann Tulley voll enthusiastischer Neugierde. »Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten«, fuhr ihn Corny an, sah ihn aber dabei nicht an. »Ja, aber…« Corny streckte ein Bein aus, so daß Tulley darüber stolperte; erst Pike, dann Fangar fingen ihn ab. Der Mann hinter Tulley, der Gefährte des rothaarigen Mädchens, wurde aber zu Boden gerissen. Jetzt gab es ein richtiges Durcheinander. Die Monstren, die Wayne Tob’kliaks genannt hatte, ringelten sich blubbernd zusammen, plusterten sich auf und schlugen mit ihren Keulen wahllos auf Arme, Beine und Köpfe ein.
Tentakel mit Krallen zerrten Tulley brutal in die Höhe. Er wurde in die Reihe zurückgestoßen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Sie folgten einem staubigen Pfad, der sich zwischen verstreuten Felsblöcken hinschlängelte. Aus feuchten Spalten und Ritzen schoß ein Aufruhr an Vegetation. Die Hitze brannte mit unheimlicher Wucht auf sie nieder. Ein Ding rannte die Reihe entlang. Tulley sah sich um und bereitete sich auf alles vor. Er wußte, daß die Ungeheuer und die seltsamen Tiere, die ihm bisher begegnet waren, nichts Außergewöhnliches waren, wenn man sie als Nachtmahre einschätzte; leider mußte er sich der Tatsache stellen und mit ihr fertig werden, daß diese Dinger echt und Teil der Realität waren, und daß all das, was hier passierte, ihm geschah. Und dann starrte er den Neuankömmling an, schätzte ihn ab, überlegte und ordnete Eindrücke und Tatsachen in seine entsprechenden Gehirnfächer ein. Es waren eigentlich zwei. Die untere Hälfte war ein massiver Torso mit wundervoll muskulös ausgestatteten Beinen, die nackt und von zitronenfarbener Haut waren; der Kopf war sehr klein, hatte einen ausnehmend flachen Schädel und ein idiotisches Gesicht und sah auf den großartigen, breiten Schultern einfach grotesk aus. Auf dem Nacken des Wesens hockte eine kleine koboldartige Kreatur mit einem verhutzelten Körper und Schrumpfbeinen, aber der Kopf war groß, schön gewölbt und von eindrucksvollen Gesichtszügen. Die krummen Beine endeten in langen, beweglichen Zehen, die in den Ohren ihrer Reittiere steckten. Das Hutzelmännchen trug einen goldfarbenen, blitzenden Metallhelm, in dem sich die Sonne spiegelte. Ein ziemlich kräftiger Geruch nach trocknendem Hanf ging von diesem Doppelwesen aus. Tulley würgte heftig. Pike wagte kaum zu atmen. »Vertreibt den Gestank!« keuchte er, weil er keine Luft mehr in die Lungen bekam. »Das ist ein filziger Dal-Lount!« erklärte Wayne zornig, überheblich und voll Ekel. »Ich habe zwar noch nie einen gesehen, aber Geschichten habe ich genug von ihnen gehört.« Die Kleider, die der Schrumpfkobold trug, glitzerten vor Gold und Edelsteinen. Tulley sah auch Waffen. In der linken verhutzelten Hand des Reittieres, am Ende eines verkümmerten Armes, lag eine Peitsche, die auf die Rücken der Gefangenen
niedersauste. Der koboldhafte Dal-Lount spuckte eine lange Reihe von Silben aus, die vorwiegend aus harten Konsonanten bestanden und sehr fremd in Tulleys Ohren klangen. Und dann verstand er folgendes: »Weiter, ihr Unrat! Bewegt euch, oder ich ziehe euch die Haut von euren elenden Rücken im Namen des Schwarzen Herrn persönlich!« Jede Flüchtlingsgruppe hörte sich in der eigenen Sprache angesprochen, und deshalb ließ sich deutlich eine raschere Fortbewegung feststellen. Die Tob’kliaks gingen dem Dal-Lount beflissen aus dem Weg. Sie schienen Wesen, die noch monströser waren als sie selbst, zu respektieren. Tulley eilte mit dem Rest weiter, wurde von Pike mitgezerrt und zog seinerseits den Mann aus dem muschelförmigen Wagen mit. Vor ihnen öffnete sich ein Ausblick zwischen den Felsen. Hier begannen die Tob’kliaks Viererreihen zu bilden, und damit sie möglichst nahe beisammen standen, droschen sie fleißig auf sie ein. Festgepreßt in der schwitzenden Masse gelang es Tulley, den Mann mit dem ledernen Fliegerhelm zu beobachten, der die rote Generatorkiste und das Kontrollgerät nach vorne brachte und sorgfältig an einen Felsblock lehnte; damit blockierte er das Ende des Pfades. Tulley paßte auch genau auf, in welcher Reihenfolge Schalter umgelegt und Skalen eingestellt wurden, und dann sah er, wie sich das schwarze Nichts vor dem Felsblock formte. Diesmal wurde jedoch die Öffnung in eine andere Welt nur etwa drei Meter hoch und gute zwei Meter breit. Sie pulsierte. »Sobald ihr euch in Bewegung setzt, müßt ihr rennen!« schrie der Dal-Lount in englischer Sprache. »Und rennt, was ihr könnt, sonst müßt ihr sterben!« Jeder fühlte die Spannung. Und jeder wußte, daß eine unglaubliche Gefahr auf ihn wartete. Sie hatten keine Ahnung, welcher Art diese Gefahr war, und dieses Nichtwissen vermittelte ihnen ein Gefühl erschreckender Angst. Pike sah Tulley an, schluckte heftig und versuchte zu grinsen. Zwei von den Tob’kliaks verschwanden mit tiefrosafarbenen Ranken und Tentakeln durch die Schwärze. Dann begannen die Gefangenen durchzurennen, die von den zu beiden Seiten aufgestellten Tob’kliaks mit Keulenschlägen angetrieben und von einem Monstrum als Nachhut gehetzt wurden. Es waren viel mehr Gefangene, als Tulley geglaubt und je gesehen hatte. Vielleicht
wurde dieses Palisadenlager als Depot benutzt. Der Dal-Lount mußte wohl auch dort gewesen sein. Tulley raste durch das schwarze Loch, wo eigentlich ein solider Felsen hätte sein müssen. Die Sonne brannte noch immer herunter, aber auf nur schwach wahrnehmbare Art hatte sich einiges verändert. Die Schatten lagen falsch, und das sah grotesk aus. Der Boden war lockerer Silbersand, auf dem die Fußabdrücke derer zu sehen waren, die vor ihm drübergegangen waren. Der hohe Himmel wirkte wie eine polierte Messingscheibe, vor der dunkle Flecken schwebten. Nichts war in dieser unendlichen Weite zu sehen als silbriger Sand und die dunklen Punkte, die sich drohend vor dem gleißenden Himmel abhoben. Dann waren alle durch. Tulley sah den Mann mit dem Lederhelm vorbeirasen, er schleppte die rote Generatorkiste, und der Mann, der den Lastwagen gefahren hatte, trug die Kontrollkonsole. Sie hetzten durch, als sei ihnen eine ganze Herde Teufel auf den Fersen. Sie schienen sich deshalb so zu beeilen, weil sie ihre Geräte aufstellen mußten, um aus dieser Welt flüchten zu können. Ihre ruckartigen, wenig koordinierten Bewegungen, die nervöse Eile der Monstren und die schrillen Schreie des Schrumpfkobolds Dal-Lount unterstrichen die entsetzliche Angst, die die Szene beherrschte. Für Roy Tulley schien es das wichtigste Streben aller Welten zu sein, diesem Ort zu entrinnen. Die schwarzen Punkte drehten sich, verhielten und schossen herunter. Der Dal-Lount riß eine Waffe aus dem Gürtel und legte an. Ein purpurfarbener Strahl schoß heraus und verschmorte die herunterschießenden Dinger. Tulley konnte nicht genau sehen, was sie waren, aber er hörte ihr hohes, durchdringendes Kreischen. Die Schwingen schlugen grün und indigofarben im Sonnenlicht und sahen spukhaft schrecklich aus. Am Ende langer, sich entrollender Tentakel sah er messerscharfe Krallen, scheußliche, furchtbar gefährliche Greifwerkzeuge, hängen. Dann sah er, wie eines dieser Dinger über einem Gefangenen schwebte, nach den silbrigen, netzartigen Fesseln schnappte und ihn kreischend in die Luft entführte. Tulley rannte über den Silbersand und fühlte sich so hilflos wie ein kleines Kind.
Der Fahrer und der Mann mit dem Lederhelm schossen nach oben. Grünbeschwingte Ungeheuer fielen aus dem Himmel, verschmorten oder brannten lichterloh. Und dazu kreischten sie schrill. Aber immer neue Ungeheuer tauchten aus dem Himmel, und immer wieder gelang es einem, sich ein Opfer aus den Reihen der rennenden Gefangenen zu schnappen. Auch den Mann mit dem Lederhelm erwischte es. Er zappelte noch schwach, als er in den Klauen des Untiers hing. Seine Waffe fiel zu Boden. Tulley bückte sich schnell und hob sie auf. Er brüllte, zerrte an seinen Seilen, zog Pike und Fangar mit sich und auch den Mann, der hinter ihm herrannte. »Schneide doch die Seile durch, du Idiot!« brüllte Wayne. Rennend musterte Tulley die Waffe. Sie sah wie eine große Stablampe aus, hatte einen Griff, eine Linse, einen Abzug. Ungeschickt, weil er ja nicht mit der Waffe umgehen konnte und keinen damit verletzen wollte, nahm er einen Knoten ins Linsenvisier und drückte ab. Ein Purpurstrahl zuckte heraus, und das Seil verkohlte und fiel ab. »Die unseren doch auch, du Dummkopf!« Dann war Pike frei, und er löste auch den folgenden Mann aus seinen Fesseln. »Und jetzt schneide Fangar los«, bat er und reichte Pike die Waffe zurück. Wayne und Corny waren wütend, und auch die anderen wollten befreit werden. Die Kolonne bewegte sich kaum mehr weiter. Grünbeschwingte Monstren schossen mit fangbereiten Krallen durch die Luft. Tulley duckte sich. Der Mann hinter ihm schrie und entschwand dann in die Luft. »Schnell!« brüllte Wayne. Blut brannte in seinem Gesicht. Pike lief die Reihe entlang und schnitt Wayne aus seinen Fesseln, dann auch Corny, drehte sich um – dann nahm ihm Wayne die Waffe aus der Hand, ungefähr so, wie wenn ein bulliger Ringer einem Kind eine Zuckerstange abnimmt. »Vielen Dank, mein Sohn, jetzt sind wir an der Reihe!« Tulley hätte nie geglaubt, daß ein schwarzes Nichts ein Himmel der Zuflucht sein könnte. Er raste hinter Fangar durch, und Pike schleppte das rothaarige Mädchen mit. Sie hatte gesehen, wie der Mann, mit dem sie gefangengenommen wurde, in die Luft entführt wurde, und ihr Gesicht war vor Entsetzen aschgrau geworden. Für Trauer, Bedauern und Untätigkeit war jetzt jedoch keine Zeit. Man mußte, wollte man sich selbst retten, in dieses
schwarze Loch tauchen.
4. Orange- und ockerfarbener Nebel trübte sein Blickfeld. Er hörte Schreien und Kreischen, das dumpfe Knacken riesiger Kiefer, roch den Duft zerquetschter Orchideen, fühlte das elastische Schaukeln moorigen Bodens unter seinen Füßen. Er rannte keuchend weiter, prallte im Nebel auf Fangar und fühlte seine Füße in das Moor sinken, als er stehenblieb. »Wo, zum Teufel, sind wir denn überhaupt?« »Dort jedenfalls nicht, wohin sie uns bringen wollten«, antwortete Pike und atmete schwer dabei. »Meiner Ansicht nach hat eine Panik sie überfallen, und da haben sie dann ihr schwarzes Simsalabim an der verkehrten Stelle aufgestellt.« »Oder sie haben uns in die verkehrte Dimension geschickt«, warf Wayne wütend ein, als er aus dem Nebel auftauchte. Wie ein riesiger Klotz stand er da und fingerte an der Purpurstrahlwaffe herum. Nun kam auch Corny keuchend an – zusammen mit ein paar anderen aus Waynes Gruppe. Pike hielt das Mädchen fest, dem es, wie Tulley bemerkte, gar nichts auszumachen schien, daß es einen kräftigen jungen Mann gab, der auf sie aufpaßte. »Dimension?« sagte Pike. »Oh«, antwortete Tulley. »Ja… Es paßt doch, oder?« Vorsichtig gingen sie über den schwankenden Boden, machten große Bogen um Pfützen stinkenden Wassers, aus denen die Dämpfe und Nebel stiegen, und der Lärm um sie herum ging immer weiter, wenn er auch von den rötlichen Schwaden gedämpft wurde. Und dann warf Pike auf einmal Tulley das Mädchen zu, der es geschickt auffing. Pike sprang Wayne an und schleuderte den dicken, häßlichen Kerl so weg, daß er auf dem Bauch am Boden landete. »Was soll das wieder Verrücktes sein!« schimpfte Wayne. Dann sahen alle die Blume. Sie schloß gerade ihre fast zwei Meter hohen Blütenblätter. Zuerst hatten sie wie ein wunderschöner riesiger Stern auf dem Boden gelegen, und aus dessen Mitte hatte ein einzelner, dicker, hoher, scharlachfarbener Stempel herausgeragt. Jetzt klatschten die Blütenblätter
aneinander wie Zimbeln. Das Mädchen schrie. Wayne kam taumelnd in die Höhe und fluchte, weil er voller Schlamm war, legte die Purpurstrahlwaffe auf die Blume an und verwandelte sie in einen schleimigen Brei. Zitternd trampelte er auf den Resten der vernichteten Blume herum. Er bedankte sich jetzt ebensowenig wie vorher, als er Pike die Waffe abgenommen hatte, aber er sagte: »Du bist flink, mein Sohn, das muß man dir lassen. Ich habe dieses Teufelsding nicht gesehen. Vergessen werde ich es dir nie.« Die kleine Gruppe versuchte sich in dem orangefarbenen Nebel zu orientieren. Tulley fühlte sich im Moment ziemlich bedrückt, da sie schon in allernächster Nähe weitere dieser Blumen sahen, deren Blütenblätter noch auf dem Boden ausgebreitet waren. Der scharlachfarbene Stempel schien leise zu zittern, als wolle er die Witterung der Menschen. aufnehmen. Ungeheuer vorsichtig umgingen sie diese gefährlichen Ungeheuer. Und jetzt wußten sie auch, was dieser Lärm, das Schreien, kreischen und Knacken von Kiefern zu bedeuten hatte. Es war schauerlich. Wie viele der Gefangenen mochten schon von diesen Blumen aufgefressen worden sein? »Diesmal haben die Tob’kliaks einen großen Fehler gemacht«, stellte Wayne fest. »Hast du Glück gehabt, Corny?« Der jüngere Mann hob den Kopf und sah Wayne an. Langsam drehte er sich um wie eine Wetterfahne. Tulley beschrieb seinen Gesichtsausdruck sehr zutreffend damit, daß er ihn ekstatisch und von fast besessener Versunkenheit nannte. »Nichts.« Corny kam zurück von dort, wo er im Geiste gewesen war. »Teufel.« Wayne stampfte auf den wabbeligen Boden. »Nun ja, Portale treten ja meistens gehäuft auf. Es muß hier in der Nähe ein anderes sein. Und wir werden es auch finden.« Er wandte sich an Pike und das Mädchen. »Ich bin Djeen Wayne Gnurland delt’Frond. Ihr nennt mich Wayne. Und du?« »Graham Pike, das hier ist Roy Tulley, und der hier heißt Fangar.« Und dann sprach auch zu Tulleys Erstaunen das Mädchen. Es klang schön und fließend, wenn auch traurig, erschüttert und entsetzt, weil ihre Zivilisation sie nicht gelehrt hatte, daß es einen solchen Horror geben könne. »Sie sagt, sie heißt Poylee«, erklärte Wayne. »Ihr Vater wurde
von den Dingern vorher weggeholt. Ich habe keine Ahnung, welche Dimension das war. He, Corny, weißt du es?« »Nein. Von Irunium sind wir jedenfalls sehr weit weg, das darfst du mir glauben.« Wayne fluchte lange und erbittert. »In den Dimensionen gestrandet!« rief er. »Und ausgerechnet mir muß das passieren!« »Du bist nicht gestrandet, Wayne«, erklärte Corny beleidigt. »Vergiß nicht, daß ich bei dir bin.« »Das vergesse ich schon nicht«, brummte Wayne. »Aber ich weigere mich, an das andere zu denken, das du vorschlägst. Das ist nämlich unanständig.« »Jedenfalls haben wir diese Tob’kliaks und den Dal-Lount abgeschüttelt«, meldete sich ein anderer von Waynes Männern. »Ich nehme an, die sind jetzt Blumenfutter, hahahaha!« Das war wohl, wie Tulley sich sagte, die Art dieser Leute. Sie wußten, worum es ging, und mit ihrer ungebärdigen Zähigkeit konnten sie mit den Dingen leichter fertig werden als er. Aber warum sollte er es nicht auch können? Er würde es können. Basta. Wayne strich sich durch seinen rötlichen Bart. »Ich möchte nicht wissen, was die Contessa jetzt im Augenblick sagt. Sie wartete doch darauf, daß ich ihr eine Ladung… hm, ist ja egal. Das ist jetzt alles mit den Sklaventreibern dahin. Möge Siegler sie verrotten lassen!« Poylee klammerte sich an Pike. Sie war sehr erschöpft, aber er stützte sie mannhaft; und offensichtlich sehr gern. Etwas später half ihm auch Tulley dabei, als er ihren anderen Arm um seine Schultern legte. Corny blieb wieder stehen und drehte sich langsam. »Was tut er denn?« fragte Tulley einen gelbhaarigen Jungen mit verkniffenem Mund und einer Narbe, die von seinem Nabel bis zum linken Hüftknochen reichte und so aussah, als sei die Verletzung nicht ganz ungefährlich gewesen. »Er sucht natürlich ein Portal«, erwiderte Gelbhaar verächtlich. »Wir müssen einen Weg durch die Dimensionen nach Hause finden – nach Irunium… mein gegenwärtiges einziges Zuhause«, fügte er hinzu und lachte zynisch. »Irunium und die Stadt der Diamanten – mein Zuhause!« Und dann schrie Corny plötzlich, hörte zu rotieren auf und starrte auf eine Stelle im Nebel, die nur wenige Schritte entfernt
war. Alle schauten Corny an. Gelbhaar trat einen Schritt zurück, und die ruhig daliegenden Blütenblätter stellten sich wie betende Hände auf und umschlossen ihn. In der Blume begann nun ein erbitterter Kampf. Corny war inzwischen schon weitergerannt wie ein Bluthund, der einer Spur folgt; Wayne rannte ihm mit seinen Männern nach, und Fangar folgte ihnen. Gelbhaar hatte keine Zeit mehr zu einem Schrei, dann klatschten die Blumenblätter zusammen und begannen zu schmatzen. Es klang grauenhaft. »Wir müssen doch etwas tun!« schrie Tulley. Er ließ Poylee los, und Pike fing das arme Mädchen gerade noch auf. Die Blume wand sich. Tulley griff nach dem Rand eines Blütenblattes und zog aus Leibeskräften, bis er schwitzte, aber dann entglitt ihm das Blatt und schnellte klatschend zurück. »Oh, verdammt«, fluchte er, versuchte es aber noch einmal. Diesmal gelang es ihm, das Blatt fast zur Hälfte herunterzubiegen; er schob sein Knie darüber, um es noch weiter herunterzudrücken, und die Muskeln an seinen Armen wölbten sich. Das Blut pochte vor Anstrengung in seinem Kopf. Er schaute in die Blume hinein… Gelbhaar war tot. Und er war außerdem von den anscheinend ungeheuer wirksamen Verdauungssäften dieser Menschenfresserblume schon halb verdaut. Der Oberkörper fiel vornüber und gegen Tulleys Arme. Tulley schrie. Es sah gespenstisch aus, als der Oberkörper sich ganz vom halbverdauten Unterkörper löste und sich zwischen zwei Blütenblättern einklemmte; und Tulley konnte sich vor Entsetzen kaum mehr bewegen. Aber dann sah er etwas in Gelbhaars Locken blitzen, und im nächsten Moment fiel ein juwelenbesetztes Band vor ihn auf den schwankenden Boden. Tulley zog nun endlich seine Hand zurück, ehe sie von der Blume angefressen wurde, griff nach dem Juwelenband und ließ sich vor Entsetzen erschöpft in den Schlamm sinken. Er zitterte am ganzen Körper. Pike half ihm in die Höhe. »Roy! Um Himmels willen, was ist, Roy?« »Ist schon… in Ordnung. Es war nur… der arme Teufel. Weißt du, das kann… uns allen passieren. Aber für ihn… ist es zu schnell gekommen.« »Was ist denn das?« Pike deutete auf das Juwelenband. »Das hat er in seinem Haar gehabt.«
»Na, das ist ja gut!« Pike griff danach, um es genau anzusehen. »Das sieht ja aus, als könnten wir uns damit in San Franzisko ein gemütliches Sofa kaufen mit einem schönen Haus drum herum und einem gemütlichen Fußschemel für uns beide, der ein Leben lang vorhält.« Er sah sich nach den anderen um und schnitt eine Grimasse. »Im Geburtstagsanzug gibt’s keine Taschen«, meinte er und legte das Band um seinen Kopf. »Und jetzt müssen wir schauen, daß wir die anderen einholen.« Poylee sagte etwas mit vor Erregung scharfer Stimme. »Was?« staunte Pike. »Hey, Poylee, ich kann ja verstehen, was du sagst! Roy, stell dir vor, ich verstehe sie!« In diesem Moment tauchte Waynes dunkler Schatten, ein verschwommener Umriß, aus dem orangefarbenen Nebel auf. »He, Pike! Kommt ihr mit uns?« »Klar, Wayne! Natürlich kommen wir mit euch!« Wayne grunzte nur, als sie von Gelbhaars grauenhaftem Tod erzählten. Dann sah er aber das Juwelenband in Pikes Haar. »Wenigstens hast du seinen Translator gerettet. Nun, Pike, mein Sohn, das Ding behältst du. Wenn man’s bei Licht besieht, ist es für dich viel nützlicher als für die Menschenfresserblume.« »Vielen Dank, Wayne«, antwortete Pike. Sie verstanden ganz genau, wie wertvoll dieses Geschenk war. »Und jetzt rückt mal ein bißchen zusammen. Corny schickt uns durch eine Dimension, von der er hofft, daß sie uns auf den richtigen Weg bringt.« »Ich bin mir aber nicht ganz klar, wo es ist«, wandte Corny ein. »Ich glaube nicht, daß wir auf dem myxotischen Agravationsvektor von Durostorum sind, aber…« Seine Miene erhellte sich, als er seinen professionellen Gedankenflug in Worte umsetzte. »Wenn ich ein paar neue dimensionale Loci mitbringen kann, dann werden die Akademiker…« »Mach doch endlich weiter«, drängte Wayne. »Und sei wenigstens ein bißchen dankbar dafür, daß ich so viel Vertrauen zu dir habe und dich nicht an die Kette lege.« Er schüttelte den Kopf. »Ich muß wohl verrückt sein, daß ich überhaupt einem vertraue, aber als Mitglied der Porteurakademie hast du ja sogar das Vertrauen der Contessa, und das muß mir genügen.« »Es gibt nicht viele, die besser sind als ich«, erklärte Corny gekränkt. »Nicht einmal Soloman…«
»Jetzt mach doch endlich weiter!« brüllte ihn Wayne an. Tulley, dessen Beine bis zu den Waden voll Schlamm waren, hatte das kleine Zwischenspiel genossen. Waynes Ton sagte ihm sehr zu, denn Corny war schrecklich eingebildet; er schien sich einer Lage bewußt zu sein, die ihn deutlich von den anderen seiner Gruppe unterschied und ihn über sie hinaushob. Was aber nun geschehen sollte, wußte Tulley nicht. Er hatte nur eine recht häßliche Vermutung. Sie standen da in den orangefarbenen und ockerschimmernden Nebeln, und einer nach dem anderen verschwand. Als Tulley unmittelbar hinter Fangar an die Reihe kam, spürte er ein unangenehmes Prickeln, dann ein klirrendes Einschnappen, und schließlich verzeichnete er ein Gefühl, als weiteten sich die Horizonte. Er prallte auf Fangar, der mit der Geschmeidigkeit einer Katze herumwirbelte, um ihn mit Eisenarmen aufzufangen. »Was ist denn nur mit dir los, Roy?« fragte Pike besorgt. »Mein Kopf!« Jetzt schienen auch noch Dämonen darin zu graben. Die anderen eilten hinter Corny her über einen grasigen Abhang der neuen Dimension, einem Wasserlauf entgegen. Gestützt von Fangar, folgte Tulley. Und was dann geschah, verwischte sich für Roy Tulley. Er spürte einen Schmerz, der sich zur Unerträglichkeit verstärkte, etwa so, als drücke ein immer höher werdender Berg auf seinen Geist, und dabei geschah etwas sehr Paradoxes: Irgendwelche Kräfte versuchten seinen Geist zu öffnen, ihn zu befreien und aufnahmebereit zu machen für die Winde der Welten. Sie schlüpften durch eine Reihe von Dimensionen, und Corny wurde immer zuversichtlicher. Schließlich kamen sie auf eine breite Straße, und in der Ferne ließ sich eine Stadt erkennen. Für Roy Tulley verschwammen die Dächer und Türme in einem grauen Nebel voller Schmerz, und nur vage erkannte er Menschen auf den Feldern und Tiere, die die Straße entlangzockelten. »Das ist City Prime in Brorkan«, erklärte Wayne und lächelte dabei befriedigt. Dieses Lächeln sah leider ebenso brutal aus, wie sein Meckern klang. »Dort können wir den Agenten der Contessa finden. Du hast es geschafft, Corny selbst, wenn du dabei den Steelcho Tulley fast umgebracht hättest.« Sein wieherndes
Lachen schien auch ein Ausdruck der Freude über die Sonne einer bekannten Dimension zu sein.
5. Ein Bad, eine Rasur, eine sehr umfangreiche, aus saftigem Fleisch bestehende Mahlzeit, garniert mit köstlichen Früchten und braunem, duftendem, ein bißchen krümeligem Vollkornbrot, die mit beträchtlichen Mengen goldenen Weines hinuntergespült wurde, dann ein breites Bett mit weichen Kissen und zehn Stunden Vergessen im Schlaf… Danach blinzelte Roy Tulley in den Nachmittagssonnenschein eines neuen Tages und fühlte sich wieder als Mensch. Der Schmerz in seinem Kopf hatte nachgelassen, und ein Aspirin, meinte er, würde ihn sicher vollends vertreiben. Er sprang aus dem Bett. Man hatte sie in einem der vielen Gästezimmer der Karawanserei untergebracht – Tulley kannte den brorkanischen Namen dafür nicht –, und jetzt schob er das Fenster auf, um in den Hof hinunterzuschauen. Gelb wie dicke Sahne lag der Sonnenschein auf den Pflastersteinen; überall war Stroh und Dung verstreut; Hühner kratzten darin herum, und ein Hund flöhte sich. Ein Stallknecht striegelte geduldig ein recht merkwürdig aussehendes Tier, das dem Sattel nach zu schließen wohl als Reittier benutzt wurde. Das Tier rollte große Augäpfel, was Tulley nicht besonders gefiel, und der kräftige Schwanz mit der stachelscharfen Spitze, der ununterbrochen von einer Seite zur anderen peitschte, war noch weniger nach seinem Geschmack. Der Stallknecht schlug mit einem Lappen nach dem Schwanz und machte dazu »kch, kch!« Die in der warmen Nachmittagssonne aufsteigenden Gerüche waren für Tulley eine Offenbarung. Er stemmte das Kinn auf die aufgestützten Hände, um zu lauschen und zu beobachten. Ein flachshaariges Mädchen mit langen Zöpfen, einem gestickten, langen Rock und einem kurzen Jäckchen darüber, das ihre braunen Arme freiließ, kam zum Brunnen heraus. Sie schwenkte ihre Eimer und pumpte dann kräftig, so daß ein dicker, schimmernder Wasserstrahl aus dem Rohr schoß. Der Stallknecht schrie etwas, und das Mädchen antwortete, aber darüber wurde der Bursche zornig, warf den Lappen auf den Boden und stampfte
darauf herum. Und Roy Tulley lachte dazu. Wenn niemand Gray Pike das Translatorband gestohlen hatte, das er, Roy Tulley, der Menschenfresserblume entrissen hatte, dann könnte er verstehen, was diese Leute sagten. Aber er hatte kein Bedürfnis, jetzt sofort Pike, Poylee oder Fangar zu suchen. Nein, jetzt nicht. Jetzt wollte er seine Ruhe haben, sich noch ein bißchen erholen, diese neue Welt auf sich einwirken lassen. Er beobachtete einen Mann in einem langen, scharlachfarbenen, mit Goldlitzen besetzten Gewand, das über den Boden streifte; sein Hut war weiß, scharlachrot und gold und sah einer Mitra ähnlich. Würdig wandelte der Mann über den Hof. In einer Hand hatte er ein offenes Buch, in dem er las; gleichzeitig spitzte er die Lippen und machte allerhand Verbeugungen. Er sah überlegen, pompös und mit dem Stolz auf die guten Dinge seiner Erde vollgestopft aus, aber Tulley hielt ihn für einen strohköpfigen überheblichen Esel, den man nicht einmal zur Arbeit gebrauchen konnte. Er betrat eine Hütte, einen Anbau des Haupthauses, das aus Latten, Matten und Putz zu bestehen schien. Die Fenster waren aber groß und hatten auch große Scheiben. Der Pferdeknecht rieb wieder an dem Tier herum und pfiff dazu nach Art der Stallburschen leise zwischen den Zähnen. Eine tollkühne Katze marschierte in den Hof, worauf vier Hunde vom Flöhen abließen und der Katze nachsetzten, die mit einem Sprung auf dem Dach der Hütte war, in die der Mann in der scharlachfarbenen Robe getreten war. Und jetzt entstand einiger Tumult, bis eine fröhliche Person mit rotem Gesicht und muskulösen Armen einen Eimer Wasser auf die Katze ausleerte. Nun kam aus den Hofschatten der Sonnenuntergangsseite ein Mann, der sich gründlich umschaute und zum Haupttor schritt, dessen beide Flügel an die Mauer zurückgelegt waren. Er war ungefähr der größte Mann, den Tulley seit einiger Zeit gesehen hatte, er trug ein dunkelgrünes Hemd und eine rostbraune Tunika, die zahllose Taschen mit breiten Klappen besaß. Seine schweren braunen Schnürstiefel sahen aus, als seien sie für den Gebrauch von Generationen bestimmt. Über der Tunika lagen gekreuzte Riemen, die mit Beuteln behängt waren, und auch am Gürtel baumelte eine Reihe größerer und kleinerer Beutel. Im Gürtel steckte eine Colt 45 Automatic, und die anderen Waffen,
deren Griffe er sah, konnte Tulley nicht genau erkennen. Auf dem Rücken hatte der Mann einen riesigen Rucksack, und dazu trug er noch ein Ding, das man auf der Erde eine Flinte genannt hätte, das auf Brorkan vermutlich aber eine Art Todesstrahlenwaffe war. Was Tulley unter den zahlreichen Gepäckstücken des Mannes jedoch am meisten auffiel, weil es irgendwie nicht ganz dazu paßte, war ein langes, schmales Schwert. Aus der gegebenen Entfernung sah das Gesicht viereckig, braun und energisch aus; dazu gehörten eine lange, gebogene Adlerschnabelnase und helle, fröhliche Augen. Mit ausgreifenden Schritten ging der Mann durch das Tor. Ein seltsamer Bursche. Dann ritt ein Mädchen in die Karawanserei ein. Aus verschiedenen Türen kamen Leute herausgestürzt, um dem Neuankömmling aufzuwarten und zu Diensten zu sein. Für Tulley war jetzt allerdings der Zauber gebrochen. Das Mädchen stieg vom Reittier ab. Die Kleine war ja recht hübsch, aber Tulley fühlte sich nicht in der richtigen Stimmung zum Mädchenjagen, und außerdem war er noch nie ein ausgesprochener Schürzenjäger gewesen – so wie andere Leute, die er hätte mit Namen nennen können. In diesem Moment kamen Graham Pike und Poylee in das Zimmer. Verstehen konnte Tulley nur Pikes Gruß, und Tulley gähnte seinen Freund zur Begrüßung an. »Wie steht’s mit einem Frühstück?« erkundigte er sich. Beide lachten ihn an. Pike trug Hosen und eine Art Hemdbluse aus Sackleinwand und Poylee einen langen Rock mit Jäckchen der gleichen Art, wie Tulley es bei dem wasserholenden Mädchen gesehen hatte. Jetzt bemerkte Tulley erst, daß er noch immer nichts anhatte. Seit man ihn splitterfasernackt durch die Dimensionen hetzte, hatten sich seine Moralbegriffe einigermaßen geändert. Aber jetzt hüpfte er doch ins Bett und zog die Decke bis zum Hals hinauf. »Ja…?« fragte er. »Das Abendessen kommt bald, Roy, und dazu kannst du dann, wenn du willst, Frühstück sagen. Ich habe schon einiges erfahren. Wir sind in eine Sache hineingerutscht, die uns stinkreich machen kann, wenn wir unsere Karten richtig ausspielen. Und jetzt paß mal auf…« Tulley legte sich behaglich zurück und schloß die Augen. Graham war schon wieder einmal bereit, im Handumdrehen zum Millionär zu werden. »Du halte dich lieber an die Elektronik«,
hatte er dem Freund schon viele hundertmal gepredigt, aber Pike wollte ja niemals auf ihn hören. »Hier scheint es einen ganzen Haufen Dimensionen zu geben. Wayne und Corny nennen es so. Millionen und Abermillionen, und alle um uns herum, so wie wir dasitzen…« Poylee nickte und tätschelte Pikes Hand. Das Mädchen sah jetzt wesentlich frischer aus, und Tulley hätte gerne gewußt, ob Gray Pike wieder einmal seinen unwiderstehlichen Charme hatte spielen lassen. Skrupel quälten ihn ja nie, wenn Roy Tulley auch zugeben mußte, daß er nie etwas Unehrenhaftes hatte feststellen können. Zu Schaden würde Poylee also vermutlich ebensowenig kommen wie Pikes frühere Freundinnen. »Es ist ziemlich schwierig, von einer Dimension in eine andere zu gelangen«, fuhr Pike fort. »Wir sind durch diese schwarze viereckige Öffnung gekommen, über die Wayne nicht sprechen will. Aber Corny ist ein phantastischer Bursche. Sie nennen ihn einen Porteur. Er hat die Fähigkeit, Menschen und Dinge von einer Dimension in eine andere zu bringen. Das geschieht durch Tore oder Portale, so wie wir hierher gekommen sind.« »Ich bin am Verhungern«, lenkte Tulley ab, weil er auf Pikes Phantastereien nicht eingehen wollte. »Sag mal, fühlst du dich von so was nicht überwältigt?« drängte Pike, den die kühle, sachliche Feststellung eines leiblichen Bedürfnisses maßlos enttäuschte. »Das ist doch einfach märchenhaft!« »Klar. Natürlich. Mir würde im Moment eine tüchtige Portion Speck mit Eiern und eine große Kanne Kaffee aber mehr Interesse entlocken.« »Ah… äh… dich erwürge ich noch mit bloßen Händen!« Aber nun sprang Poylee sehr erregt auf, und sie brauchten einige Minuten, bis sie sie wieder beruhigt hatten. Sie war ein süßes, ernsthaftes kleines Ding, und sie schien Pike anzubeten. Tulley überlegte sich allerdings, wie viel oder wie wenig sie von allem mitbekam, was um sie herum geschah. Sie hatte keine Chance, gegen Pikes Charme aufzukommen, den Gray Pike kannte er. Nun ja, wenn beide damit glücklich waren… Sie gingen hinunter in den Hauptraum der Karawanserei, um dort ihr Abendessen einzunehmen. Tulley trug ein sackleinenes Gewand, das dem Pikes glich. Auch Wayne war so gekleidet, und das paßte ihm ganz und gar nicht. Er schob sein brutales Gesicht
ganz nahe an das verängstigte des Hausherrn, blies die Backen auf und rollte die weit aufgerissenen Augen, so daß er wie ein chinesischer Teufel aussah. »In diesen Fetzen kann ich nicht ’rumlaufen«, schimpfte Wayne und gestikulierte dazu erregt. »Mir scheint, das Gold und die Diamanten der Contessa genügen dir nicht! Nein, du willst mehr haben. Nun, laß dir eines sagen: Wenn ich nicht bis morgen früh für mich und meine Leute bessere Kleider habe, dann lasse ich dich in die Minen der Contessa schicken! Nein, bei Siegler, sie wird dich sogar ins Große Grün verbannen!« »Jawohl, Euer Exzellenz, bis zum Morgen, jawohl!« versicherte der Hausherr beflissen und rollte die Augen. »Jawohl, bis morgen früh haben Euer Exzellenz das Allerfeinste an Kleidung, das City Prime bereitstellen kann!« Wayne kam an ihren Tisch. In Tavernen fühlte er sich offensichtlich zu Hause. Er ließ Drinks auffahren und kniff den Kellnerinnen in die runden Kehrseiten. Tulley stellte sich vor, wie er wohl mit den Mädchen der amerikanischen Organisation Freiheit für die Frau zurechtkäme; vermutlich würde er sich dort leise wie ein Kätzchen und zuvorkommend wie ein Staubsaugervertreter benehmen. Und dann fiel ein schräger Sonnenstrahl auf sein Gesicht und leuchtete es bis in die letzte Falte aus, so daß die ganze arrogante Brutalität und Herrschsucht an die Oberfläche kamen, die in dem Mann steckten. Jetzt war Tulley gar nicht mehr so sicher, daß er mit den amerikanischen Frauen zurechtkäme. Niemand nahm von Fangar Notiz, der ebenso wie die anderen ein Sackleinwandgewand trug. Das, was ihn von den anderen unterschied, waren die grotesken Proportionen seines Körpers – und doch, Tulley fand auch die äußere Erscheinung des Mannes nicht abstoßend. Fangar war ein Mann wie jeder andere. Pike lachte zu einem von Waynes Witzen, Corny mummelte an einem Fisch herum und spuckte eine Gräte auf den Boden. Corny mochte das sein, was Pike einen Porteur nannte. Gut, vielleicht war das etwas, aber es hob ihn noch lange nicht über andere Leute hinaus. Das Mädchen, das vorher in die Karawanserei eingeritten war, nahm zusammen mit ihrer Dienerschaft das Abendessen in ihren eigenen Wohnräumen ein. Tulley konzentrierte sich auf das Essen, den Wein und die funkelnden Kupferpfannen und -kannen
an den Wänden – und auf eine der Kellnerinnen, die ein Gesicht hatte wie ein vollreifer Pfirsich. Von ihr erfuhr er auch, daß das Gasthaus den Namen Zur freundlichen Maus führte, und das gefiel ihm ebenso gut wie die herrschende Atmosphäre. Hier konnte man sich vom Leben in New York oder Los Angeles erholen und seine Muskeln für das grimmige Stadtleben stärken. »Wenn ihr mich fragt, dann war es nur eine Bande von Amateuren«, sagte Wayne, obwohl ihn niemand gefragt hatte. Er lehnte sich zurück, setzte eine brutal-geniale Miene auf und spielte mit einem Weinkrug. »Fünf Tob’kliaks für uns alle! Die hatten ein Glück, daß sie uns nicht mehr in die Quere kamen, nachdem ich unsere Fesseln durchtrennt hatte!« Tulley schaute zu Pike hinüber, aber dieser verräterische Kerl hatte seinen Arm um Poylees Taille gelegt; mit der freien Hand knackte er die Nüsse auf seinem Teller und fütterte damit Poylee. Und Poylee war von den Ereignissen zutiefst erschüttert, handelte nun nahezu wie ein Automat und reagierte auf eine Art, die, wie sie fühlte, Pike von ihr erwartete. War sie erst wieder zu Hause auf Queran, dann konnte sie sich von einem tüchtigen Arzt behandeln lassen, bis sie wieder sie selbst wurde. »Wir haben viele Leute verloren«, sagte Corny. »Und die ganzen Waren. Die Contessa…« »Die Contessa kannst du mir überlassen, Corny. Wenn wir uns erholt haben, teile ich eine Gruppe zusammen und hole mir die ganzen Waren wieder zurück. Wenn du’s nicht kannst, dann finde ich schon einen Porteur, der unsere ganzen Spuren nach rückwärts verfolgt.« Cornys Miene verriet gekränkte Entschlossenheit. »Ich kann das schon.« Dann lenkte er auf ein anderes Thema über. »Dem Hauswirt traue ich nicht. Er ist neu. Als wir zuletzt durch Brorkan kamen, gab’s einen richtigen Aufruhr. Da warfen wir den Orangenkarren um, hetzten die Pferde in den Fluß und…« »Der Hauswirt, dieser Schnüffler Jalonz, nimmt das Gold der Contessa an. Es wird also gehorchen, oder für ihn gibt’s nur noch das Große Grün und den Kohlfleck!« Aber das rauhe, ungestüme Wesen Waynes und seiner Gefährten wurde von den anderen im Raum kaum zur Kenntnis genommen. Es waren Reisende, die für eine Nacht blieben, Leute, die von City Prime auf einen Drink und eine kurze Unterhaltung gekommen waren, ein paar andere, die als Pensionsgäste hier
wohnten, und das alles war eine ziemlich gemischte Gesellschaft. Fangar und Corny schienen zu streiten, und sie verstanden einander; aber Tulley konnte nur Corny verstehen. Die Debatte wurde allmählich lauter und übertönte die Unterhaltung der anderen. Viele Gesichter waren dem Fenstertisch zugewandt. Dann kam der Hauswirt Jalonz und wischte die Hände an der Schürze ab. Zwei Köche folgten ihm mit einem großen Tablett, auf dem etliche Töpfe standen. »Du affenschwänziger, buckliger, bocksgesichtiger Pavian!« schrie Corny und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Schüsseln tanzten. Fangars Antwort, ein explosives Gemisch aus Spuckkonsonanten, verstand Tulley nicht, der Pike einen Blick zuwarf. »Gray, gib mir den Translator. Ich muß wissen, was da gespielt wird.« »Äh… ich bin jetzt eben bei der allerschönsten Völkerverständigung«, wandte Pike ein. »Du gibst es her!« Tulley riß das Juwelenband aus Pikes Haar und befestigte es an seinem Kopf. In diesem Moment sprang Fangar auf, schnappte sich Cornys Translatorband und rammte es auf seinen Kopf. Seine balkendicken schwarzen Augenbrauen sahen aus wie zwei Schnurrbarte. »Du rachsüchtiger Peitschenknaller! Dich rolle ich zusammen und esse dich zum Frühstück auf, du!« Fangar sprach mit der Sicherheit eines Mannes, der seinen Platz auf der Welt kannte, und damit degradierte er Cornys bissige Giftigkeit zu einem Insektenstich. Hinter Fangars Sicherheit steckte Stärke, die auch dann nicht in Frage gestellt wurde, als er sich Cornys Translatorband aneignete. Und jetzt konnte er zu allen Leuten sprechen, damit sie seine Ansicht und seinen Ehrenkodex kennenlernten. »Ich bin kein untertäniger Mann«, erklärte er in würdigem Stolz. »Ich diene denen, die mir dienen, und mit denen teile ich Mühe und Dankbarkeit. Diesem kleinen, quäkenden, kläffenden Köter Corny diene ich nicht für eine Handvoll Edelsteine, die er von seiner Contessa hat, welche er so entsetzlich fürchtet!« »Du wirst, verdammt noch mal, das tun, was ich dir sage!« bellte Corny. »Bei der Macht des Allmächtigen, Pegu, du vergißt, daß du mit einem Reiter von Wilgegen sprichst!«
»Was bedeutet schon deine kleine Hinterwäldlerdimension! Ich bin Mitglied der Porteurakademie der Contessa die Montevarchi! Und das heißt schon was zwischen den Dimensionen!« »Reiß deine Klappe nicht so weit auf, sonst regnet’s dir noch hinein«, riet ihm Fangar drohend, stand dabei auf und warf – unabsichtlich – den Tisch dabei um. Corny versuchte Fangar einen Fausthieb zu versetzen. Tulley sprang auf, aber Fangar hatte schon ausgeholt, so daß Corny ein paar Meter in den Raum hineinflog und dabei schauerlich heulte. Ein paar Leute liefen herbei, und etliche Töpfe sausten an verschiedene Schädel. Pike lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Corny schien seine Ansichten abrupt geändert zu haben, rappelte sich mühsam auf und rannte, als er wieder fest auf den Beinen stand, zur Tür hinaus. Fangar, den eisige Wut gepackt hatte, stürmte hinterher. »He, Fangar!« schrie Tulley und folgte dem krummbeinigen Jäger. »Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber wir haben schon einiges gemeinsam erlebt. Nimm doch das alte Stinktier nicht tragisch, mein Freund. Vielleicht können wir den Burschen noch einmal brauchen.« »Er hat einen Reiter von Wilgegen beleidigt, mein Freund!« rief Fangar und rannte dabei weiter. »Deinen Rat schätze ich sehr, mein Freund, aber diesem elenden Wurm muß eine Lektion erteilt werden!« Sie rannten die Straße entlang, wichen gerade noch den Karren aus, die in die Höfe anderer Gasthäuser einfuhren, liefen um zahlreiche Hunde, Katzen und kleine Kinder herum, die ihre eigenen Kriege ausfochten, und versuchten, den Eimern schmutzigen Wassers auszukommen, die von Putzmägden in den Rinnstein geleert wurden. Die Schatten tauchten die eine Straßenseite in düstere Dunkelheit, und die andere glühte rot wie poliertes Kupfer im Licht der Abendsonne. Fangar kam Corny immer näher. Diese kurzen krummen Beine rasten mit erstaunlicher Geschwindigkeit dahin, und Tulley mußte ordentlich keuchen, um ihm auf den Fersen zu bleiben. Die anderen Gäste vom Gasthaus Zur freundlichen Maus jagten ebenfalls hinter Corny drein, und der rannte immer weiter. Endlich gelang es Tulley, mit einem beachtlichen Spurt Fangar einzuholen und ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. Sprechen konnte er nicht, weil er erst wieder zu Atem kommen mußte. Jetzt blieb auch Corny stehen, der auch keine Luft mehr hatte
und Fangar und Tulley entgegensah. Sein Gesicht drückte bösartigen Triumph aus, Machtdünkel und Verschlagenheit. »Fangar, so bleib doch endlich stehen!« keuchte Tulley. Aber Fangar versuchte Tulleys Hand abzuschütteln; es gelang ihm nicht, denn Tulley krallte sich fester ein und stemmte seine Füße in den Holzsandalen gegen eine kleine Unebenheit, und Fangars Holzsandalen machten klickediklack, weil er nicht mehr vom Fleck kam. Und dann rollten beide über den Boden. In diesem Moment sah Tulley einen hämisch grinsenden Corny; was er tat und sagte, ja, was er dachte – das wußte Tulley nicht, sondern er sah nur… Und da war wieder der Schmerz in seinem Schädel, dieses Gefühl des Fallens, der Desorientierung, als werde er von den Winden aller Welten mitgerissen und herumgewirbelt und… »Er hat uns in eine andere Dimension portiert!« rief Fangar. »Er hat uns in eine andere Welt geschwindelt!« Und dann hatte diese neue Welt schon Roy Tulley in einer klebrigen Umarmung gefangen.
6. Es war dunkel. Es war heiß. Und es war sehr naß. Es war, kurz ausgedrückt, scheußlich unbehaglich und sehr klebrig. Tulley spuckte einen Mundvoll Schlamm aus, drehte sich um und versuchte aufzustehen. Seine Füße rutschten jedoch auf einer ganzen Lage Bananenschalen aus, und er fiel wieder platt auf das Gesicht. Fangar vollführte neben ihm etwa die gleichen Bewegungen, fluchte aber kräftig dabei und beschrieb in etwa Cornys späteres Geschick. Das klang so ungeheuer sicher, daß Tulley unwillkürlich zusammenzuckte. Er kroch in die Richtung von Fangars Stimme, stürzte dabei wiederholt in Pfützen und Tümpel unterschiedlicher Konsistenz, die er aber in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Jedenfalls war das klebrige Zeug kalt, obwohl Luft und Wasser unangenehm warm waren. Sie klammerten sich aneinander und kämpften sich gemeinsam in eine aufrechte Stellung. Es roch nach kaltem Imbiß und heißem
Eintopf, nach Reis, Bananen und Orangen, die um sie herumschwammen, und überall rieselten und gluckerten Wässerchen und rauschten Wasserfälle. »Wo, bei allen eiszähnigen Zitzimmas, sind wir hier gelandet?« schrie Fangar in den Nachthimmel hinauf. Keine Sterne waren zu sehen, denn die Wolkendecke schien ziemlich dicht zu sein. Ein warmer Wind umfächelte sie, der auch gelegentlich einmal ein wenig Sand oder Unrat aufwirbelte. »Eiszähnige Zitzimmas, das klingt ja richtig wild«, meinte Tulley voll Bewunderung. »Das sind die Berge, die bis in den Himmel ragen und mit ewigem Eis und Schnee bedeckt sind, und sie rahmen den Schlund der Hölle ein«, erklärte ihm Fangar. »Oh…« »Nicht, Freund Roy, daß ich glaube, dort seien wir. Eher denke ich, wir sind in einem Irrenhaus gelandet.« »Und sind wir’s nicht, dann bin ich jedenfalls bald der nächste Anwärter darauf«, antwortete Tulley, und damit sprach er die Wahrheit. Jetzt begriff er erst, was Wayne gemeint hatte, als er zu Corny in der Dimension der Kannibalenblumen sagte, er wolle lieber nicht an die anderen Dinge denken, weil sie unanständig seien. Dann hatte Wayne mit Hilfe seines Porteurs nach einem Portal gesucht. Er hatte es gut gehabt. Tulley weigerte sich, daran zu denken, daß er ohne einen solchen Porteur irgendwo zwischen den Dimensionen gestrandet war. Aber genau das war nun sein Schicksal, wie auch das Fangars. »Von diesen Dimensionen weiß ich überhaupt nichts«, sagte Fangar. »Mir scheint aber, daß die Leute von einer zur anderen flattern, wie die Bienen von Blume zu Blume. Also müssen wir bald einmal mit anderen Dimensionsreisenden zusammentreffen. Was wir jetzt im Moment brauchen, ist anständige Kleidung, Unterkunft, Essen, Waffen und ein Reittier.« »Ihr Reiter habt, scheint mir, eine enge Bindung zu euren – hm – Pferden?« »Pferde… Diese Translatoren spielen einem manchmal üble Streiche, Roy. Wir nennen unsere Reittiere Oitas. Die Reiter von Wilgegen haben ihre Oitas glorreich durch dreitausend Jahre ihrer Geschichte und Vorgeschichte geritten. Der Donner der Hufe ist der hallende Schrei der Ehre.« »Hm. Das ist natürlich eine Idee«, gab er zu. »Vielleicht für den
einen oder anderen ein bißchen primitiv, aber ich glaube zu wissen, wie du’s meinst, mein Freund Fangar. Und vielen Dank.« Es war kein leeres Wort für Tulley, denn er verstand, was Fangar meinte. Er war sich vermutlich besser klar über die Realitäten einer barbarischen Welt, und die Probleme des unmittelbaren Überlebens meisterte er sicher auch brillanter als der an Auto, Kühlschrank, Fernsehen und den Drugstore und den Supermarkt an der nächsten Straßenecke gewöhnte Tulley. Allerdings muß hier zugegeben werden, daß Tulley keineswegs verweichlicht, sondern von überdurchschnittlicher Anpassungsfähigkeit war. Und jetzt schwor er sich, daß er sich dem, was auf ihn zukommen würde, in bestem Sportgeist stellen und diesem krummbeinigen, barbarischen Reitersmann zeigen würde, daß es auch auf der Erde noch richtige Männer gab… »Ich müßte ja eigentlich dir danken, Roy«, erwiderte Fangar. »Wir beide schwindeln uns schon durch, Fangar. Und einen Porteur oder eines dieser elektronischen schwarzen Tore werden wir auch finden. Und bis dahin, mein Freund, werden wir herzhaft lachen…« Hatte er damit nicht vielleicht doch ein wenig übertrieben? »Ich entschuldige mich ja nie«, dröhnte Fangars Baßstimme, »aber irgendwie muß ich mich ein bißchen verrechnet haben, als ich hinter Corny herjagte. Du hast dann gesehen, was mir entging – daß er uns in eine andere Dimension schicken würde, sobald er ein Portal…« »Vergiß es. Wir sind jetzt hier. Was stand alles auf deiner Einkaufsliste? Kleidung, Essen, Unterkunft, Reittiere…« »Und Waffen!« Sie machten sich, einander gegenseitig stützend, auf den Weg über glitschige Hänge und um sumpfige Tümpel. In der Ferne rumpelte etwas und erschütterte die heiße Luft. Sie blieben stehen und lauschten mit schräggelegten Köpfen. »Wenn ich jetzt auf Wilgegen wäre, dann würde ich schwören, daß dies nur der Donner von Hufen sein kann«, flüsterte Fangar mit seiner tragenden Baßstimme. »Vielleicht ist es ein Gewitter.« »Nein… Moment mal… Schau!« In der Ferne tauchten Lichtpunkte auf, eine ganze Prozession vielfarbiger Lichter, die durch die Nacht zogen, und als sich die Lichter von einer Seite zur anderen bewegten, wurde das
Donnern der Hufe immer lauter, dann verhallte es wieder langsam. Der Strom der Lichter ging noch eine Weile weiter, bis ein letzter Stern blinzelte und zusammen mit dem Echo des letzten Hufschlags in der Ferne verging. »Reiter?« fragte Fangar sehnsüchtig. »Kennst du etwas auf Wilgegen, das diesem klebrigen Haufen hier gleicht?« »Nein.« »Na, dann komm«, sagte Tulley. »Wenn es Pferde waren, dann konnten sie auf diesem rutschigen Zeug nicht so galoppieren.« »Ich komme mit, Roy. Geh nur du voran.« Sie rutschten und stolperten durch die klebrige Dunkelheit, bis Tulleys Fuß an eine Ziegelmauer stieß. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, bückte er sich und tastete mit den Händen das Hindernis ab. Es war eine niedrige Mauer, die wohl verhindern sollte, daß das Erdreich weggeschwemmt wurde, und davor wuchs dünnes Gras. Und dann sah Fangar auch ein Licht. Vorsichtig schlichen sie weiter. Das Licht fiel durch einen Spalt im Vorhang vor einem einzelnen Fenster in einem kleinen Ziegelhaus mit flachem Dach und ohne Kamin. Statt einer soliden Tür gab es eine mit Fellen behangene Lattentür, die unter Fangars Berührung nach innen schwang. Sie traten ein. Das Licht kam von einer auf dem Boden stehenden Talgschüssel. Felle lagen auf den Ziegeln, und an den Wänden hingen Dreizacks in verschiedenen Längen und ein langer Speer. Verschiedene andere Gegenstände lehnten an der gegenüberliegenden Wand, und in einem Haufen aus Fellen und Matten bewegte sich etwas. Eine Frau kreischte. Ein Mann lachte. Eine magere weiße Hand erschien zwischen den Fellen, zog eines hinauf und bedeckte einen Schopf schwarzen Haares. Wieder kreischte die Frau. Fangar bewegte sich ganz leise. Tulley sah, daß er seine Holzsandalen ausgezogen hatte. Er nahm den langen Speer, wog ihn in der Hand und nickte Tulley zu. Der bückte sich, schüttelte die Schulter des Mannes in den Fellen und sagte: »Äh… entschuldigen Sie bitte…« Der Mann reagierte mit dem Tempo eines verängstigten Hasen. Nackt sprang er auf. Die Frau öffnete den Mund zu einem Schrei, und dann blitzte das lange Messer in der Hand des Mannes Tulley
entgegen. Tulley ließ sich seitlich wegfallen und sah, daß Fangar den Speer so hielt, daß er zwei Fingerbreit vor dem Magen des Mannes schwebte. Das Messer entfiel der Hand des Mannes. »Ruhig bleiben, du Dummkopf«, sagte Fangar mit einer Gelassenheit, die Tulley staunen machte. Aber die Frau kreischte mit voller Stimme. »Ruhig, Frau«, sagte Fangar wieder, ließ den Speer geschickt einen schwingenden Bogen beschreiben, klatschte mit der flachen Seite auf den nackten Schenkel der Frau und kehrte zum Magen des Mannes zurück. Tulley bewunderte seinen Kumpanen aufrichtig wegen so viel Geschicklichkeit. »Was wollt ihr? Wir sind arme Leute und arbeiten an den Fässern…« »Ah!« sagte Tulley, dem einiges klar zu werden schien. »Tötet uns nicht!« schrie die Frau, die nun aus dem Bett sprang. »Wir sind ja nur kleine Leute und tun keinem was zuleide!« »Und das Messer, Weib, das Messer?« flüsterte Fangar drohend. »Wir fürchten uns vor Dämonen und Unholden, die durch die Nacht schleichen, und auch vor Räubern und Banditen.« Der Mann hob das Kinn. Er hatte einigen Stolz, das sah man; und Tulley dachte darüber nach, wie unangenehm es für ihn sein mußte, wenn Fremde mitten in der Nacht bei ihnen eindrangen. »Die tun uns nichts«, wandte er sich an Fangar. »Wir haben ihnen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, und das ist ja nun wirklich kein Wunder. Vielleicht können sie uns helfen.« »Ja«, versicherte ihnen die Frau eifrig. »Jung bin ich ja nicht mehr, aber früher war ich mal eine Wagenlenkerin, bis mir ein Pfeil meine Beinsehnen verletzte. Jetzt versorgen wir die Fässer und Bottiche. Aber ich weiß, was ihr wollt und kann…« Fangar schüttelte den Kopf. Er grinste Tulley amüsiert an. »Ich bin ein Reiter…«, begann er, doch dann schüttelte er wieder den Kopf. Er mußte sich erst – so wie Tulley – an den Gedanken der anderen Dimensionen gewöhnen. »Wir brauchen eine Unterkunft für die Nacht, und ihr müßt uns sagen, was wir wissen wollen.« »Es ist nicht leicht, zu den Schätzen von AmounRa zu kommen«, erwiderte die Frau eifrig. »Viele haben es versucht und endeten auf den flachen Dächern von Apen, wo ihnen die Vögel Augen und Gedärme aus dem Leib rissen,«
»Wir suchen keine Schätze, ihr zwei«, antwortete Fangar und lachte leise. »Zieht euch an und gebt uns etwas zu trinken. Wir sind keine Räuber.« Der Mann hieß Jezd und die Frau Ratha vom Schwarzen Haar, und der Name traf auch zu, denn ihr Haar war schwarz und glänzend wie Rabengefieder. Sie zogen sich an und brachten den beiden je einen Becher mit einem süßsäuerlichen, angenehm schmeckenden Getränk, an dem Tulley vorsichtig nippte, da er dem Alkoholgehalt nicht traute. Fangar dagegen trank den Becher leer und bat sofort um Nachschub. Erleichtert füllte ihn Ratha nach. Die Atmosphäre in dem kleinen Ziegelhaus entspannte sich deutlich. »Keine Kinder?« erkundigte sich Fangar freundlich. Jezd spreizte die Hände, und Ratha gab die Antwort: »Wenn und sobald AmounRa will. Hier ist es sehr einsam, wenn man an den Bottichen zu arbeiten hat. Fremde sehen wir selten. Seid ihr wirklich keine Räuber?« »Nein, wir sind Reisende von weither. Erzählt uns von diesem Land.« Ratha schien in diesem Haus die Tonangebende zu sein, denn auch jetzt war sie schnell mit einer Antwort zur Hand. »Von den Bergen könnt ihr nicht gekommen sein, denn dort hätten euch die Löwen die Haut abgezogen. Und Waffen habt ihr auch keine. Also kommt ihr auch nicht von den Ebenen. Vielleicht vom Fluß?« »Möglich«, erwiderte Tulley, der nie gerne sämtliche Karten ausspielte; das hatte er von Pike gelernt. Da sie mit nichts als nur einem Gewand aus Sackleinen und hölzernen Sandalen in dieser Welt gelandet waren, mußten sie ihren Verstand tatkräftig einsetzen. Der Beginn des Abenteuers war nicht besonders vielversprechend, aber Tulleys Vertrauen in Fangar wurde immer größer. »Wir suchen Dienst beim Höchsten des Landes«, erklärte Fangar eindrucksvoll. »Wir sind in allen großen Künsten geschickt.« Ratha vergoß vor Staunen ein wenig Wein, und Jezd zog die Beine an. »Dann müßt ihr direkt nach Hamoun gehen«, empfahl ihnen Ratha. »Im Tempel von AmounRa werdet ihr diese Männer finden, die von eurer großen Weisheit profitieren können. Wir sind nur einfache Leute.«
Tulley begriff sofort, was Fangas wollte, als er fragte: »Sprechen wir eure Sprache gut?« »Ja. Ist es denn nicht die eure? Wie wäre das möglich?« Fangar legte eine Hand auf das Translatorband in seinem Haar, das ebenso verborgen war wie das Tulleys. »Natürlich«, antwortete er und lachte. »Und wenn ich einen Dienst von jemandem erbitte, dann leiste ich auch einen. Für diesen Wein, etwas Essen und Obdach für die Nacht werden wir einen Morgen lang mit euch an den Bottichen arbeiten.« »In Ordnung!« rief Ratha vom Schwarzen Haar sofort. »Zwei Paar starker Arme werden uns sehr nützlich sein. AmounRa sei Lob und Dank!« Fangar und Tulley schliefen wie glückliche Säuglinge in jener Nacht, und als sie am Morgen aufstanden, war herrlicher Sonnenschein, ein richtig blaugoldener Tag. Nach einem ausgiebigen Frühstück gingen sie mit Jezd und Ratha zu den Bottichen hinaus, wo sie unter Jezds Leitung arbeiteten, bis die Sonne hoch im Zenit stand. Ihre Beine waren mit blaßfarbenem Zitronenmus bedeckt, und ihre Körper rochen nach Bananen, Orangen und anderen ihnen unbekannten Früchten, deren Duft sie gierig in sich einsogen. Die riesigen Bottiche waren bis obenhin gefüllt, und ihr Inhalt kochte in der heißen Sonne dieser Dimension vor sich hin. Dahinter breitete sich eine endlose Ebene aus, die mit dünnem Gras und den winzigen Sternen gelber Blüten bedeckt war. Bis zum fernen Horizont war sonst nichts zu sehen. Auf der anderen Seite schlängelte sich ein Fluß entlang, dessen Wasser in die Bottiche geleitet wurde. Bäume sahen sie nirgends, aber an diesem Horizont erkannten sie sehr hohe, schneebedeckte Berggipfel. Und große, majestätisch in großen Höhen schwebende Vögel. »Ihr müßt den Fluß entlanggehen«, riet ihnen Ratha und reichte ihnen eine Tasche mit Brot und einen Lederbeutel mit Wein. »Wir haben nicht viel, aber das, was wir haben, teilen wir gerne mit euch. Und wenn ihr zum Tempel kommt, dann sagt AmounRa ein Gebet für uns.« Das versprach Fangar feierlich. »Wir danken euch für eure Gastfreundschaft, die wir als gutes Zeichen nehmen… Wie nennt ihr eure Welt, die AmounRa, Hamoun und Apen hat?« »Warum?« fragte Ratha vom Schwarzen Haar verwundert. »Ra, natürlich.«
7. »Allmächtiger Pegu!« rief Fangar. »Diese Sonne brennt ja viel schlimmer herunter als meine Sonne von Wilgegen!« »Ja«, pflichtete ihm Tulley bei, der neben ihm durch den Staub stapfte. »Und sie ist auch viel heißer als die vom Mittelwesten.« Sie folgten den Flußwindungen, an die sie sich halten wollten. Sie wußten nicht, wie der Fluß hieß, denn ihre Gastgeber der letzten Nacht hatten seinen Namen nicht erwähnt. Er war mehr als eine halbe Meile breit und rollte träge dahin. An den sumpfigen Ufern wuchsen Binsen und Unkraut, und viele Wasservögel machten ein schreckliches Geschrei. Aber die weite Ebene, über die sie gingen, war hart und staubig. Die Holzsandalen rieben ihre Füße auf. Tulley holte tief Atem. Er sah zum Himmel, blickte auf den Fluß und den Vögeln nach; er wischte sich den Schweiß vom Gesicht und stapfte weiter. Irgendwie begriff er, was dieses Leben zu bieten hatte, und er akzeptierte es. Wie ließ sich damit die Enge eines Labors oder eines Büros vergleichen, in dem man über Schaltschemen schwitzte oder einen Computer mit Daten fütterte? Er fand dieses neue Leben wundervoll. »Und weil ich eben daran denke«, brach Fangar in seine Gedanken ein, »sie haben uns da eine ganze Tasche Brot mitgegeben. Das muß in dieser Kultur ein Riesengeschenk sein.« »Der Vogel von heute früh, Obst und Gemüse an den Bottichen – Weizen wird eben anderswo angebaut.« »Genau.« Die Translatoren übersetzten nahezu wortwörtlich, und bald hatte Tulley begriffen, daß Fangar kein ungebildeter bäuerlicher Barbar war. Barbar vielleicht, aber er kam aus einer Kultur, die die feineren Dinge des Lebens zu schätzen wußte. Manchmal wurde seine Ausdrucksweise fast poetisch. Und würde ein Wilder, der schwert- und lassoschwingend hinter den Jagdtieren herprescht, von denen er sich ernährt, »genau« zur Antwort geben? Tulley mußte laut lachen. Fangar warf ihm einen Blick zu, als er so auf seinen kurzen, gebogenen Beinen dahinschritt. »Jawohl, mein Freund, dieser Tag ist zum Lachen geschaffen. Denn wir sind von unseren
Heimatwelten abgeschnitten, und doch leben und atmen wir; wir haben zu essen, unsere Gesundheit und Stärke, und wir haben die sichere Gewißheit, daß wir einen Porteur und ein Portal finden werden, um nach Hause zu kommen. Der Allmächtige Pegu würde es nicht anders haben wollen.« Ratha vom Schwarzen Haar hatte ihnen nur wenig über diese Dimension erzählt, aber jetzt erinnerten sie sich jedes einzelnen Wortes. Und dann sprachen sie von ihren eigenen Welten, von Wilgegen und der Erde, und so lernten sie einander immer besser verstehen. Tulley erzählte auch von Pike und seiner Sorge um den Freund – und natürlich auch um Poylee. »Ich glaube, dein Freund Pike kann recht gut für sich selbst sorgen, Roy. Ich kam zu der Meinung, daß er und Wayne sich irgendwie zusammentun. Damit ist dann auch für Poylee gesorgt.« Das Ungesagte ließ Tulley in der Luft hängen und klammerte sich an das Gesagte. Der Fluß plätscherte vorbei, die Wasservögel stritten zwischen den Binsen, und ein warmer Wind fächelte die in der Hitze glühende Ebene. Fangar erzählte Tulley von den verschiedenen Reittieren, die er gehabt, von den Waffen, die er geführt hatte, und allmählich kamen beide zu der Ansicht, daß es in den verschiedenen Dimensionen Waffen gab, von denen sich ein gewöhnlicher Sterblicher gar keine Vorstellung machen konnte. Um die Zeit, da Tulley geglaubt hatte, die Sonne müsse nun allmählich hinter dem Horizont verschwinden, stand sie immer noch auf vier Uhr nachmittags; sie legten eine Rast ein. Fangar fing einen Wasservogel, machte auf primitive, jedoch wirksame Art Feuer, indem er einen Holzstock ununterbrochen drehte, und briet den Vogel so geschickt wie ein alter Waldläufer. Tulley half, so gut er konnte, und drehte den Spieß. Der Vogel schmeckte köstlich. Dann tranken sie vom Wein und aßen ein Krüstchen Brot dazu. Und als Tulley sich die Lippen leckte und aufschaute, sah er vier in Rüstungsteile gekleidete Männer mit schmutzigen weißen Hemden darunter aus den Binsen kriechen. Sie trugen kurze Bronzeschwerter und hatten geflochtene Schilde, und ihre hakennasigen Gesichter mit den glitzernden Augen drückten deutlich die Vorfreude auf das kommende Schlachtfest aus. »Fangar!« schrie Tulley, sprang auf und stieß dabei Weinflasche und Brottasche um.
Aber der krummbeinige Reiter brauchte keine Warnung, sondern schnellte mit einem wilden Schrei in die Höhe. Im Nu hatte er den Schild des ersten Angreifers weggeschoben und seine Schwerthand ergriffen. Der Mann schrie. Und dann rannte Tulley wie ein Wahnsinniger mit zwei kreischenden Banditen hinter sich davon. Es war eine verrückte Jagd. Wie hätte Tulley auch Fangars Beispiel folgen sollen? Sein Freund war an solche Dinge gewöhnt, während sich Tulley nur einen raffinierten elektronischen Schaltkreis ausdenken konnte. Klar, auch das war manchmal eine befriedigende Beschäftigung, wenn man anschließend ein handliches, leistungsfähiges Apparätchen geschaffen hatte; im Schwertkampf hatte er jedoch recht wenig Erfahrung. Bis vor kurzem wenigstens. Seine Sandalen hatte er schon längst verloren, und so rannte er barfuß weiter. Immer wieder hielt er Ausschau nach etwas, das ihm dienlich sein könnte. Da sah er einen großen Stein, dann eine Mulde, die mit den unkrautüberwucherten Resten einer zusammengebrochenen Hütte gefüllt war. Er bückte sich, hob einen Ziegel auf, zielte und warf. Der Ziegel verfehlte sein Ziel. Der rennende Mann wurde jedoch noch wütender und schwang sein Bronzeschwert. Tulley fand einen neuen Stein, und diesmal traf er den Verfolger im Gesicht. Und dem zweiten Verfolger warf er einen Stein gegen die Brust. Dann konnte er die beiden ordentlich verprügeln, denn von zivilisierten Gedanken war nun nichts mehr in ihm. Barbarische Angst verlieh seinem Arm Stärke, und sein Gehirn schaltete damit gleich. Seine Muskeln schwollen unter dem Einfluß der gesteigerten Adrenalinproduktion, und als er wieder einigermaßen zu sich kam, lag der zweite Mann bewußtlos am Boden. Dann schrie ihm Fangar eine Warnung zu, weil der erste inzwischen wieder zu Bewußtsein gekommen war und sein Schwert schwang. Tulley schloß jetzt keinen Kompromiß mit seiner zivilisierten Seele mehr, sondern warf einen großen Stein, der den Angreifer am Kopf traf. Der Mann fiel um und blieb liegen. Endlich konnte Tulley wieder Atem holen, aber nun wurde ihm übel. Im nächsten Moment war Fangar bei ihm, der ihm begeistert auf die Schulter schlug und dazu ein bronzenes Schwert schwang. »Du hast gut gekämpft, Roy! Und du sagtest mir doch, du seist
kein großer Kämpfer.« »Äh…«, würgte Tulley und setzte sich. Ihm war sehr seltsam zumute. »Aber getötet hast du sie nicht«, fuhr Fangar fort. »Jetzt muß ich sie eben erledigen.« Und das tat er sehr schnell und geschickt. Das war also die Zivilisation, wenn man die äußerste Schale abzog. »Roy«, sagte Fangar, »sie hätten uns doch getötet… Nun, du hast mir gesagt, daß du an solche Arbeit nicht gewöhnt bist. Da, wo wir sind, ist sie nötig – wenn wir überleben wollen. Und das wollen wir doch beide, nicht wahr?« Tulley vermochte nicht zu antworten. Zitternd saß er da, während Fangar die Waffen, Rüstungsteile und Kleider zusammensuchte und das übrige wegwarf. »Wir sind auf Ra, Roy, nicht auf deiner Erde, nicht in meinem Wilgegen. In meiner Welt wäre ich anders mit diesen Banditen verfahren, nur tot wären sie dann auch gewesen.« Tulley sah auf. »In meiner Welt hätte die Gaskammer, der elektrische Stuhl, der Strang, die Guillotine auf sie gewartet. Ja, du hast recht. Das Gesetz…« »Wir müssen unser eigenes machen. Ra ist keine Welt der Vergnügen, Roy.« Sie wuschen im Fluß die schmutzigen weißen Hemden und die abgenutzten Stoffhosen. Das war ziemlich viel Arbeit. Dann sortierte Fangar die Rüstungsteile aus und stellte zwei Harnische zusammen, die in der Hauptsache aus etwas schadhaften Kettenhemden bestanden, welche an den Schultern ziemlich knapp saßen, aber nützlich werden konnten. »An diesen Banditen haben sie recht locker gehangen«, stellte Fangar fest. »Vielleicht wachsen die Menschen von Ra noch ein wenig.« Ihm reichte das gewaschene Hemd bis zur Taille, Tulley bis zur Hüfte. Von den restlichen Dingen schnallte sich Fangar ein Paar Beinschienen an, die an seinen krummen Beinen ziemlich seltsam wirkten. Die Halsbergen konnte man ein wenig nachlassen, denn sie hatten im Nacken einen Riemenverschluß, aber Fangar mußte den Schnallendorn ins allerletzte Loch stecken. Und da er damit rechnete, daß sie weiteren Banditen begegnen würden, machten sie sich in voller Rüstung auf den Weiterweg. Aber noch immer stand die Sonne auf vier Uhr. »Der Tag ist
hier ja wohl länger«, bemerkte Tulley, der schwer an seinen beiden Schwertern und dem geflochtenen Schild schleppte. Aber schon zog ihn Fangar hinunter. Auf dem Fluß erschien eine bemalte Barke, die mit goldenen Bannern geschmückt war. Musikfetzen wehten zu ihnen herüber. Sie blieben in Deckung, bis die Barke verschwunden war. Dann legten sie eine Rast ein, weil Tulley fürchtete, von der ungewohnten Sonne starkes Kopfweh zu bekommen. Sie suchten sich dazu eine Stelle am Fluß aus, an der früher einmal große Bottiche gestanden haben mußten, weil jetzt noch zahlreiche primitive Wasserleitungen zu erkennen waren. Üppiges Unkraut wuchs dort, und darin quäkten, kämpften und quiekten allerhand Tiere. »Hier scheint die Zivilisation ziemlich zu verkommen«, meinte Fangar. »Nach dem, was Ratha erzählte, dachte ich, es existiere eine starke Aristokratie, eine mächtige Armee und eine Arbeiterklasse.« »Ich will auf gar keinen Fall wieder zum Sklaven werden«, erklärte Tulley und lehnte sich behaglich an die sonnenwarmen Ziegel. »Die Tob’kliaks haben mir das entschieden abgewöhnt.« Fangar lachte. »Mir auch. Auf Wilgegen haben wir keine Sklaven, obwohl wir die Wichtigkeit der Arbeit verstehen.« Tulley erzählte Fangar von den Arbeiterproblemen seines Landes, vom Sport, von Motorrad- und Autorennen, von Flugzeugen, New York und dem Empire State Building, von den Atom-U-Booten und der Raumfahrt. Und saß er nun auch hier auf Ra, so ließ ihn doch das pulsende amerikanische Leben nicht los, weil es zu seiner Heimat gehörte, von der er durch weiß Gott wie viele Dimensionen getrennt war. »Und du mußt mich in Garazond, meiner Heimat in Wilgegen, besuchen«, sagte Fangar. »Ich weiß, man kann auf einer Welt nicht alles wissen und kennen, gar nicht zu reden von den anderen Dimensionen. Aber du sollst es gut bei mir haben.« »Ich komme gerne einmal. Aber du solltest auch das gute alte Amerika sehen. Ich bin neugierig, was du dazu sagst.« Endlich schien die Sonne untergehen zu wollen, und die Hitze ließ etwas nach. Die Nacht würde jedoch warm bleiben. Ehe das Licht ganz verblaßte, holte Fangar noch ein Abendessen aus den Binsen, und dann aßen und schliefen sie, diesmal in den Ruinen eines alten, halbzerfallenen Ziegelschuppens, der sie vor
Späheraugen schützte. Hufedonnern von zahllosen Reittieren weckte sie am folgenden Morgen. Bronze glitzerte und funkelte im Morgensonnenschein, aber Ratha hatte sich über solche Dinge geflissentlich ausgeschwiegen. »Wagen!« rief Tulley. Ein endloser Strom von Wagen mit hohen Fronten und Rädern, die reich mit Federn dekoriert waren, raste in einer wehenden Staubwolke an ihnen vorüber. Metall klirrte, und zahllose Glöckchen bimmelten. Die Zugtiere schienen durch den Staub zu schwimmen. Von den Rädern der Wagen flogen Funken, und die Rücken der Tiere bewegten sich in langen, schlangenähnlichen Windungen. In einer Symphonie aus Räderrollen und Hufedonnern rasten sie dem Horizont entgegen, stromabwärts, nach Hamoun und den märchenhaften Schätzen des AmounRa entgegen. »Gehen sie als Freunde oder Feinde?« fragte Fangar. Tulley wußte es auch nicht, doch er hatte das vage Gefühl, daß dieses Wagenheer auf dem Weg war, die Schätze des AmounRa aus ihrem uralten Heiligtum zu rauben und sie als fürstliche Beute mit zurückzunehmen über die mageren Lande der großen, unfruchtbaren Ebenen.
8. Eilig setzten sie ihren Marsch fort, und fast ihr einziges Gesprächsthema war der Wagenzug, der sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben hatte. Fangars barbarischer Instinkt neigte dazu, Tulleys irrationaler Annahme beizupflichten, daß der Wagenzug Feindschaft gegen Hamoun bedeutete. Was jedoch Hamoun und Apen, die Zwillingsstädte, getan hatten, diese Feindschaft zu verdienen, wußten sie nicht. Je weiter sie jedoch flußwärts kamen, desto mehr Anzeichen für eine verfallende Zivilisation erkannten sie. Verlassene Farmen, unkrautüberwucherte Bottiche, verlassene, im Unkraut fast verschwindende Feldgeräte, abgebrannte Hütten – alles sprach hier von Gewalttaten. Die noch bewohnten Siedlungen umgingen sie, denn sie hatten kein Verlangen nach einem Zusammentreffen mit anderen
menschlichen Wesen. Allmählich begann wieder kultiviertes Land, und nun mußten sie sich entscheiden, ob sie sich an die große Ebene oder an den Fluß halten wollten. Fangar entschloß sich für den Fluß, da sie sonst durch Felder und Farmen mußten, um zur Stadt zu kommen. Tulley pflichtete ihm bei. Den ganzen Tag hindurch trotteten sie weiter. Allmählich begann Tulley wieder zu fühlen, daß seine Beine ihm gehörten, während die Füße noch irgendwo in heißen Gruben zu rösten schienen. Sein Rücken gewöhnte sich jedoch relativ schnell an das Scheuern des bronzenen Kettenhemdes. Fangar murmelte gelegentlich etwas von Schnecken, doch mit seinen krummen Beinen legte er ein ganz erhebliches Tempo vor. Gegen Abend sahen sie nach ein paar kurzen Essenspausen den Rauch. Er stieg, von züngelnden Flammen durchsetzt, hoch in den Himmel hinauf und wälzte sich dann unter dem Druck eines Fallwindes ihnen entgegen. Sie husteten und keuchten und waren überzeugt, daß die Städte vor kurzem in Brand gesteckt worden waren. Nun hielten sie sich näher denn je an den Fluß, um beim ersten Gefahrenzeichen hineinspringen zu können. Rechts von ihnen sahen sie in einiger Entfernung Menschen über die Felder rennen. Viele trugen Bündel, andere Kinder, Töpfe und Pfannen, Betten und Hühner. Niemand schien eine Waffe zu haben. Tulley und Fangar warteten in einem Binsendickicht auf das Ende der traurigen Prozession, doch sie schien kein Ende nehmen zu wollen. Es war eine Pilgerfahrt des Entsetzens. Rauch hüllte sie manchmal ein, und dann blies ein scharfer Windstoß wieder die Luft rein. Die Menschen zerstreuten sich, flohen, ließen ihre Habseligkeiten fallen. Tulley hörte sie schreien, wenig später vernahm er auch das harte Klipp-klapper-diklapp zahlreicher Hufe, das Rattern von Rädern. Wagen rasten in die Flüchtlingsmassen hinein. Pfeile flogen, Bronze blitzte, Rauch stieg da und dort in Säulen und dicken Wolken auf. »Diese elenden Banditen!« knurrte Fangar und hob sein Bronzeschwert. Ein alter Mann mit langem, grauem Hart taumelte ihnen entgegen. Seine Kleider waren voll Staub und Schmutz. Zwei junge Burschen führten ihn und zogen ihn mit sich, und immer wieder schauten sie ängstlich nach rückwärts. Dann raste ein Wagen mit flatternden Federn heran. Tulley sah harte, wilde, mitleidlose Gesichter, die sich über die Brüstung
beugten. Einer führte die Zügel mit der Geschicklichkeit eines altrömischen Wagenlenkers. Ein anderer legte einen Pfeil auf seinen Bogen und schoß ihn ab. Er traf den alten Mann an den Fersen, und mit einem Schrei stürzte er zu Boden. Die beiden Burschen versuchten ihn aufzuheben; ihre Gesichter waren vor Angst verzerrt. Mit einer Entschlossenheit, die Tulley kalte Schauer über den Rücken jagte, legte der Bogenschütze einen neuen Pfeil auf, zielte… Da raste Fangar aus der Deckung des Binsengestrüpps dem Wagen entgegen und ließ sein Schwert über dem Kopf kreisen. Der Bogenschütze wurde von seiner Beute abgelenkt und nahm diese neue seltsame Erscheinung aufs Korn. Tulley sah deutlich ein asiatisch geschnittenes Gesicht, sah auch, wie die Finger den Griff lockerten, und dann ließ Fangar sein Schwert fliegen und tat einen seitlichen Satz. Der Pfeil teilte nur die Luft dort, wo Fangar gewesen war, aber das Bronzeschwert landete mit der Spitze in der nackten Kehle des Bogenschützen. Er konnte nicht einmal mehr schreien, denn sein Kopf baumelte ein wenig, und dann hing auch schon der ganze Mensch zur Hälfte über den Wagenrand. Der andere riß die Zügel an, so daß der Wagen ins Schleudern geriet und umfiel. Die Tiere schlugen um sich und brüllten. Aber Fangar war ein geschickter Kämpfer. Mit seinem nächsten Schwertstreich erledigte er zwei weitere Männer. Als Tulley den Wagen erreichte, wischte Fangar seelenruhig sein Schwert an der bunten Kleidung des Wagenlenkers ab. Die beiden jungen Burschen kamen langsam näher. »Ist schon gut«, sagte Fangar mit merkwürdig weicher Stimme. »Wir können aber nicht hierbleiben. Vielleicht kommen noch mehr von ihnen.« »Ich… danke dir«, sagte nun auch der alte Mann und sah zu Fangar auf. »Du bist ein Räuber und Bandit, aber du hast einem Mitmenschen geholfen.« »Keine Zeit für Dankeshymnen«, brummte Fangar, griff hinunter und hob den alten Mann vom Boden auf seine Arme. »Wir gehen zum Fluß hinunter… Roy, du nimmst die Pfeile und Bogen, die Schwerter und alles, was uns nützlich sein kann. Die Kleider kannst du zurücklassen.« Noch ziemlich benommen gehorchte Tulley. Die Tiere zerrten
den Wagen herum und suchten sich zu befreien. Es waren keine Pferde, aber Tulley hatte jetzt keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Er suchte die Pfeile und Bogen zusammen, fand ein Schwert und drei lange Speere. Und dann blieb er verblüfft stehen. Der Wagenlenker war eine Frau gewesen. Das Blut entströmte noch immer ihrem Körper. Um den Hals lag ein wundervolles Juwelenhalsband. »Gray Pike würde es mir nie verzeihen…«, sagte Tulley, verlagerte seine Last ein wenig und bückte sich nach dem Schmuckstück. Auch der Krieger, der so asiatisch ausgesehen hatte, war reich mit kostbaren Steinen geschmückt. Als er nun den anderen nachrannte, überlegte sich Tulley, warum Fangar ihm befohlen hatte, die Kleider zurückzulassen. Es waren wunderbare weiße, mit gehämmerten Goldstreifen besetzte Gewänder; die Mäntel bestanden aus bunten Federn, und die Bronzehelme mit dem arroganten Spitz und dem praktischen Visier waren viel besser als die Kettenhemden, die sie trugen. Und die Korsage der Wagenlenkerin und ihre goldenen Schulterplatten sahen aus, als würden sie einen guten Preis einbringen. Aber Tulley tat, was sein Freund ihn geheißen hatte und ließ die Kleider zurück. Schweigend hielten sie sich so lange in den Binsen verborgen, bis der letzte Wagen vorübergerast war. Endlich stand Fangar auf und sah sich um. Rauch lag über dem Flußufer. »Sie sind weg«, stellte er fest. »Wie sollen wir dir danken, Herr Bandit?« fragte einer der jungen Burschen. Er trug ein gelbes Gewand mit einem Gürtel aus Juwelen. Sein hellbraunes Haar lag glattgeschnitten um sein Gesicht, und um seinen Mund war noch kaum die Andeutung eines Flaums zu erkennen. Er sprach schüchtern, höflich und zurückhaltend – verständlich unter den gegebenen Umständen. Der andere Bursche sah noch jünger aus, wirkte aber irgendwie reifer. Gekleidet war er ähnlich wie der andere Junge, aber sein Haar sah so aus, als habe man ihm einen Topf über den Kopf gestülpt und dann einen Rasenmäher darauf angesetzt. Sein Gesicht war schmutzig. »Was soll denn das Gerede von Räubern und Banditen?« sagte Tulley. »Wir sind keine, sondern einfache Reisende…« »Nicht ganz so einfache Reisende«, berichtigte Fangar würdig. »Aber ihr seid wie Räuber gekleidet!« »Ah, natürlich. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung mit
Leuten, die uns dort drüben die Kehlen aufschlitzen wollten. Wir mußten ihnen leider die Waffen und die Kleider abnehmen.« Die beiden jungen Burschen rissen vor Staunen die Augen auf, und der alte Mann winkte müde ab. »Ich hätte nicht auf dich hören sollen, Akun. Mein Platz ist am hohen Altar im Tempel…« »Die hätten dich umgebracht, ohne nur einmal zu überlegen…« »Immer noch besser als zu wissen, daß ich meine Getreuen betrogen habe«, sagte der Mann voll unendlicher Trauer. Der ältere der beiden Burschen gab aber nicht nach. »Hamoun erlebt eine schlechte Zeit. Aber das ist noch lange kein Grund, daß wir alle sterben sollen.« »Ich bin ganz naß und fühle mich sehr unbehaglich«, sprach nun der andere Junge, mit sanfter, melodischer Stimme. Sofort half ihm der ältere aus dem Fluß heraus. Tulley bemerkte, wie frisch und schön das Gesicht war, wie edel der Schwung der Lippen und Wangen, wie bezaubernd die langen Wimpern. Tulley streckte eine hilfreiche Hand aus. »Komm, mein Junge, halte dich fest.« Und diese Hand schloß sich fest um eine schmale, weiche Hand, und dann streifte sie an einen unmißverständlichen Hügel unter dem gelben Gewand… Tulley lächelte. Schließlich hatte er doch noch ein Vögelchen getroffen, das ganz anders aussah wie alle Vögelchen, denen er bisher begegnet war. Ha! Wie würde sich der trickreiche Graham Pike darüber wundern! »Aber verhaltet euch still, bis wir bestimmt wissen, daß sie weg sind«, flüsterte Fangar und kroch mit seinem Waffenarsenal ein Stück weiter und nickte ihnen dann zu, sie könnten nachkommen. Das Mädchen beehrte Tulley mit einem langen Blick, senkte dann die Augen und bekam rote Wangen. Tulley kannte diese Scham nicht, sondern lachte fröhlich vor sich hin und kroch über die Uferböschung. Es war kein sehr erfreulicher Anblick, der sich ihnen bot, und sie hatten alle Hände voll zu tun, um den Leuten zu helfen, die am Boden lagen und der Hilfe bedurften. Das Mädchen und der alte Mann wollten die Leute nicht im Stich lassen, ehe sie alles getan hatten, was sie tun konnten. Als sich Tulley einmal streckte, um seine verkrampften Glieder zu lockern, vernahm er erneut Räderrollen. Aus dem Rauch tauchten vier Tiere auf, die einen Wagen zogen, in dem sich nur
ein Insasse befand. Viele gefiederte Pfeile staken im Leder des Wagens, und eines der Tiere war verwundet. Es waren kleine Tiere mit spitzen Ohren, weichen Schnauzen und zierlichen Köpfen. Ihr Fell war weich und fein, und die Hufe hatte man scharlachrot angemalt und dann so glatt poliert, daß sie noch durch Staub und Blut glänzten. Der Wagenlenker, eine Frau, warf die Arme hoch. »Alles ist vorüber!« rief sie mit rauher Stimme. »Die Hyktrosianer sind weg, und mit ihnen das Leben von Hamoun!« Wie betrunken stieg die Wagenlenkerin ab und streckte eine Hand aus. Tulley sah einen breiten Blutstreifen an ihrer linken Seite. Ihr langes blondes Haar fiel in Wellen über die Schultern. Ihre Bronzerüstung war verbeult und glanzlos; als sie wieder sprechen wollte, sank sie in sich zusammen. Sie wuschen sie mit Wasser, das sie in einem Helm aus dem Fluß holten. Als sie wieder die Augen öffnete, sagte das Mädchen, dem Tulley aus dem Fluß geholfen hatte: »Oh, Nomee, das ist ein schrecklicher Tag für Hamoun und Apen, aber wenigstens lebst du noch!« »Und wenn wir sie nicht schnellstens in den Palast zurückbringen, wird sie nicht weiterleben«, sagte der alte Mann. »Akun, du mußt fahren. Lara, du hilfst Nomee in den Wagen. Es geht schon irgendwie, und du mußt es schaffen. Fahre sofort zum Palast. Wir werden so schnell wie möglich folgen. Diese beiden Männer werden mir sicher helfen.« »Räuber?« fragte Nomee erstaunt. »Sicher…« »Sei still, Nomee«, sagte das Mädchen Lara und legte der anderen einen Finger auf die weißen Lippen. »Sie sind keine richtigen Räuber. Sie helfen uns. Und nun müssen wir uns beeilen.« Langsam fuhr der Wagen weg. Das Mädchen Nomee mußte jeden Stoß der ungefederten Räder schmerzhaft spüren. Lara versuchte sie so gut zu schützen, wie es möglich war. Tulley runzelte nachdenklich die Brauen. In welche Sache war er nun da hineingeschlittert? Lara und Nomee. Zwei Mädchen. Und dieser graubärtige Patriarch und der junge, temperamentvolle Akun. Vielleicht hatte Fangar recht. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, quer durch die Dimensionen wieder einen Weg nach Wilgegen und zur Erde zu finden.
Und er stützte den alten Mann, als sie durch den Rauch den Zwillingsstädten Hamoun und Apen entgegengingen.
9. »Ich weiß immer noch nicht, weshalb du nicht wolltest, daß ich die Kleider der Wagenlenker mitnehme«, sagte Tulley und streckte sich auf dem breiten behaglichen Bett. »Du wußtest doch auch nicht, daß wir so auf die Füße fallen würden.« Man hatte sie im Palast von Hamoun in großartigen, wenn auch ein wenig heruntergekommenen Räumen einquartiert. Der Palast war ein herrlicher, weitläufiger Bau aus gebrannten Ziegeln und hatte zahlreiche lange Korridore und große Höfe, massive Mauern und riesige Skulpturen. Weiche Teppiche bedeckten die Böden. Die Männer von Hyktros hatten eine breite Bresche in die Mauer geschlagen, und wie man ihnen erzählte, war der Kampf kurz, heftig und blutig gewesen. Dann waren die Hyktrosianer in das innere Heiligtum eingedrungen und hatten den Schatz von AmounRa geraubt. Tulley und Fangar hatte man bis jetzt noch nicht zu diesem Heiligtum gebracht. Allmählich kehrten die Einwohner von Hamoun und Apen wieder zurück. Die Städte besaßen zahlreiche schattige Prachtstraßen und Höfe, und viele Kanäle zweigten vom Fluß ab, so daß es eigentlich recht angenehm kühl war. Der meiste Rauch des Vortages stammte vom Brand der langen Pontonbrücke, die die beiden Städte miteinander verband und über den Fluß Oo führte. Der alte Amoundei hatte ihnen erzählt, die Hyktrosianer hätten sie aus reiner Bosheit angezündet. Der alte Mann hatte sich ziemlich schnell wieder erholt. Akun, der Junge, erklärte, sein Name bedeute in der Sprache längst toter Ahnen »Von Amoun geliebt und ihm treu ergeben«. In der Dimension Ra war er Hoherpriester, aber irgendwie schien sich der alte Mann etwas unbehaglich zu fühlen. Nun ja, der ganze Palast war ein wenig verlottert. Den Leuten schien das jedoch wenig auszumachen. Die Männer trugen wilde Lockenfrisuren, und die Frauen sahen wie Schlampen aus. Viele der riesigen Gebäude zeigten Verfallserscheinungen. Statuen zerfielen, und ihre Fassung aus Gold und leuchtenden Farben blätterte ab.
»Warum wir diese Kleider nicht genommen haben?« Fangar lachte. Er hatte sich erstaunlich schnell auf die veränderten Verhältnisse eingestellt. »Das waren doch Feinde. Was meinst du, was die Leute uns angetan hätten, wenn sie uns in den Kleidern ihrer Erbfeinde gefangen hätten?« Das verstand Tulley natürlich recht gut. »Ja, da hast du sehr schnell geschaltet. Aber wir müssen noch vieles rasch und gründlich überlegen, um aus der Situation zu profitieren. Und überdies haben die Hyktrosianer nicht sehr viel geplündert.« »Das verstehe ich. Sie kamen ja auch, um den berühmten Schatz zu rauben. Jetzt weißt du auch, was Ratha vom Schwarzen Haar gemeint hat. Ein paar Palastwächter genügten, um sie vom Raub dieser Klunkerchen abzuhalten, nachdem sie doch die beabsichtigte Beute hatten.« Er schenkte sein Weinglas aus einem goldenen Krug voll und trank genießerisch. »Ich bin nur neugierig, wann die Hauptstreitmacht nachzieht. Diese Wagenleute sind keine Reiter.« Amoundei hatte ihnen voll Bitterkeit erklärt, daß die Streitkräfte der Wagenlenker von Hamoun und Apen entmutigt geflohen und die beiden Städte praktisch schutzlos zurückgelassen hatten. Schnelle Wagen waren ihnen gefolgt, um sie zu jagen, zu überholen und schließlich die Streitkräfte der Hyktrosianer zu stellen und den Schatz des AmounRa zurückzugewinnen. In den folgenden Tagen normalisierte sich das Leben wieder einigermaßen, und die Bewohner der Paläste und Tempel erwarteten stündlich Nachrichten über den Stand des Kampfes, der sich draußen auf der großen Ebene abspielte. Tulley versuchte inzwischen herauszufinden, was dieser große Schatz des AmounRa eigentlich war. Er sprach mit vielen Leuten, doch keiner schien es zu wissen – oder sagen zu wollen. Viel Zeit verbrachte er bei Amoundei in seinem Kuppelsaal auf dem Dach des Haupttempels. Hier gab es ganze Reihen von Tontafeln, dünnen Elfenbeinscheiben, Papyrusrollen und Büchern, die alle mit Hieroglyphen bedeckt waren, von denen Tulley gar nichts verstand. Es gab seltsame Geräte aus Holz und Bronze, Retorten und Töpfe, Schädel und Skelette, Amulette und Zaubergeräte, die, wie der Hohepriester ihm erklärte, alles heilen würden, woran er je im Leben gelitten hatte oder leiden würde und die ihn todsicher auch – nach allem, was er hörte – zurückgezaubert haben könnte in die Dimension von Kansas.
Abwarten! Allmählich lernte er Amoundeis große Weisheit und Geduld schätzen. Er nahm seine Pflichten gegenüber dem Tempel und AmounRa außerordentlich ernst. Akun, sein hoherpriesterlicher Schüler, wurde ihm auch zum Freund. Von den beiden Mädchen Nomee und Lara sah Tulley nichts. Er hatte nur erfahren, daß sie keine Schwestern waren. Wie er hörte, regierten seit fünftausend Jahren in Hamoun Könige, und Lara und Nomee waren deren Töchter. Die Väter und Brüder waren mit den schnellen Streitkräften draußen auf der Ebene, um die Wagen von Hyktros zu jagen. Hyktros selbst war ein großes und mächtiges Reich, und man brauchte Wochen, um diese riesige Ebene zu durchqueren. »Sie müssen da draußen irgendwo einen Hauptstützpunkt haben«, erklärte ihm Akun, der sich entsetzlich darüber grämte, daß er nicht aktiv in den Kampf hatte eingreifen können. Tulley beruhigte ihn ein wenig damit, daß er doch den Hohepriester gerettet habe, aber Akun beschwerte sich darüber, daß ihn seine Familie in den Tempel gesteckt habe, obwohl er doch viel lieber Wagenlenker geworden wäre. »Es ist doch ein gutes Leben, Akun«, tadelte ihn Amoundei sanft. »Wir haben sehr viel Geheimnisse zu lernen.« »Dieser Stützpunkt…«, sagte Fangar. »Da gibt es wohl Lagerhäuser, Ausrüstung, Lebensmittel und Wasser, große Fahrzeuge und viele Nagare, nicht wahr?« Akun nickte. »In Hyktros haben sie eine ausgezeichnete Nagarezucht. Nur sind die unseren besser, schneller und ausdauernder.« Aber Fangar schien trotzdem enttäuscht zu sein. Tulley verstand ihn. Fangars Enttäuschung rührte daher, daß er nun über eine Kultur gestolpert war, die keine Reittiere hatte, und das empfand Tulley als amüsant, wenn nicht ironisch. Fangar hatte weder die Kleider der Wagenlenker gewollt, noch ihre Nagare. Mit einem Blick hatte er erkannt, daß ihr Rückgrat nicht kräftig genug war, um sein Gewicht tragen zu können. Tulley, der sich in der Literatur vorzüglich auskannte, war anderer Ansicht und beschloß, ernstlich mit Fangar zu reden, sobald die Zeit dafür reif war. Die Männer, welche die Falschmeldung gebracht hatten, die Wagenstreitkräfte der Zwillingsstädte seien auf der großen Ebene vernichtet worden, waren entkommen. Bei dem Gedanken, was
ihnen geschehen würde, fände man sie erst, zuckte Tulley zusammen. Fangar unterrichtete ihn im Gebrauch des Schwertes. Das klang recht einfach, aber nachts wälzte sich Tulley oft schlaflos vor Muskelschmerzen auf seinem Bett. Der Schüler des Reiters schwitzte im Übungshof und schwang sein Bronzeschwert gegen Übungspuppen und Fangar. Anders war es beim Bogenschießen. »Da habe ich schon ein bißchen herumprobiert«, erklärte er seinem Lehrmeister. Vor einem guten Jahre hatte er nämlich seine Leidenschaft für das Bogenschießen entdeckt und sich eine komplette Ausrüstung mit Fiberglasbogen, Köchern mit Spezialpfeilen und sogar Visiereinrichtungen gekauft. Ihm hatte es besonders Spaß gemacht, mitten ins Schwarze zu treffen, und das ohne Visierhilfe. Jetzt griff er also nach dem Bogen. Er war sehr gut und aus vielen Holzschichten hergestellt und mit Elfenbein eingelegt und hatte eine Reflexkurve; diese Waffe war typisch für die Wagenkämpfer. Er probierte neugierig die Kraft des Bogens aus. »Hm. Er hat einen ganz schönen Zug«, stellte er fest. »Aber ich glaube, ich werde damit fertig.« Als Mitglied der Nationalen Bogenschützengesellschaft, die im Jahr 1878 gegründet wurde, hatte er sogar bei Wettbewerben mitgetan. Er zog die anspruchsvolleren York-Runden den amerikanischen Runden vor. Und jetzt legte er einen Pfeil auf den Bogen, ein sehr schön gearbeitetes Stück mit Gockelfedern, und spannte ihn langsam. »Nein, nein, nein!« explodierte Fangar, griff nach dem Bogen, legte Daumen und Finger um Pfeil und Bogensehne – das war der asiatische Griff, den auch der eine Wagenlenker mit dem asiatisch geschnittenen Gesicht angewandt hatte – und ließ den Pfeil schwirren. »So mußt du’s machen!« Der Pfeil traf das mit Stroh ausgepolsterte Ziel. »Hast du gesehen?« Tulley spürte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Fangars Pfeil steckte im Innersten der drei schwarzen Kreise, die die weißen umgaben. Das Zentrum war leuchtend rot. »Und wenn ich jetzt einen Pfeil direkt ins Rote schicke, wirst du mir dann glauben?« fragte Tulley. Fangar lachte schallend, weil er an die Schwertübungen dachte.
Mit den geschmeidigen Bewegungen eines geübten Bogenschützen spannte Tulley den Bogen und ließ den Pfeil fliegen. Er bediente sich des europäischen Griffs, bei dem der Bogen vom Kinn weggeschoben wird. Sobald er voll gespannt ist, wird der Pfeil abgeschossen. Er landete genau im roten Punkt. »Allmächtiger Pegu!« schrie Fangar. Sollte er nun über Tulleys Erfolg wütend sein oder ihm um den Hals fallen? Er entschied sich für den Mittelweg und drosch Tulley mit so viel Anerkennung und Kraft auf die Schulter, daß dieser taumelte. »Das hast du fein gemacht!« brüllte er begeistert. Tulley rieb sich die gemarterte Schulter und grinste. Die Rache dafür kam, als Fangar seinen Schüler wieder mit dem Schwert im Übungshof herumhetzte. Später, als Tulley in einem heißen Bad seinen Muskelkater pflegte, schwor er seinerseits Fangar Rache, sobald sich eine Gelegenheit dazu böte. Als er sich noch im warmen Wasser aalte, kam Akun in das Badehaus gerannt, wedelte mit den Armen und sah unglücklich drein. »Die Armee!« schrie er. Zwischen den Türspalten erschienen Köpfe, und dann kamen immer mehr Männer dazu. Diese Soldaten waren nicht mit den Wagen ausgezogen und dürsteten nun nach Neuigkeiten. »Die Armee ist vernichtet!« heulte Akun. »Die beiden Könige sind erschlagen, die Prinzen tot! Alle Wagen sind gebrochen! Alles ist verloren! Alles ist verloren!«
10. Tulley wußte inzwischen so viel über die Wagenkämpfer von Ra, daß er begriff, was das entsetzliche Wort bedeutete: »Alle Wagen sind gebrochen!« Das war eine noch schlimmere Tatsache als die, daß die Könige erschlagen waren. Aufruhr herrschte in den Städten. Bürger und Sklaven versammelten sich an den Toren, als die jammervolle Prozession der schwer angeschlagenen Wagen nahte. Tulley sah die Wunden, das Blut, die Angst. Und er sah auch die hinkenden Nagare, die Wagen, die man allen Schmuckes beraubt hatte, die kaum mehr rollen konnten. Er erlebte die Heimkehr einer geschlagenen Armee und die Vernichtung des Stolzes eines ganzen Volkes. »Damit könnten sie erledigt sein«, flüsterte Tulley seinem Freund Fangar zu, als sie mit Akun auf einem Balkon standen und
den Einzug der traurigen Kolonne beobachteten. »Sie haben wirklich Prügel gekriegt«, pflichtete ihm Fangar bei und griff fester um sein Schwert. »Einmal fielen die Reiter von Garazond in einen Hinterhalt derer von Witzleln. Wir waren vom Blutverlust und von der Erschöpfung betrunken, als wir zurückkehrten, aber wir erholten uns wenigstens wieder von unserer Scham. Wir ritten hinaus und nahmen die Reiter von Witzleln auseinander.« »Und das werden wir mit den Wagen von Hyktros auch tun«, erklärte Akun. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen waren rot und verschwollen. Aber sein eisiger Stolz war zurückgekehrt. »Ihr müßt aber irgendwie wieder anfangen«, meinte Fangar halb verlegen, halb vorwurfsvoll. Sein Kampfinstinkt und sein alter Reitergeist hatten neue Impulse empfangen. Unten am Fluß herrschte größte Verwirrung. Da die Pontonbrücke verbrannt war, versuchte man die Flut der Zurückkehrenden mit Fähren zu meistern. Jeder wollte übersetzen, und es gab ein entsetzliches Gedränge. Das paßte Fangar ganz und gar nicht. Er rannte also zum Fluß hinunter, und Tulley sah ihn heftig gestikulieren. Er trug jetzt ebenso wie Tulley ein gelbes Gewand mit Ledergürtel, und deshalb war er nicht zu übersehen. Die Wagenbesatzungen beschimpfte er fürchterlich, nannte sie Feiglinge, Disziplin- und Ehrlose, die nicht wüßten, wie sie sich zu benehmen hätten, statt daß sie voll Stolz sich an ihre Waffen klammerten und verbissen weiterkämpften. Aber leider ließen sich die Wagenkämpfer von Apen und Hamoun in keine Kampfstimmung hineinreden. Sie fluchten auf ihn und drehten ihm die Rücken zu. Schließlich kehrte Fangar wütend zurück und erklärte Tulley genau, was er mit ihnen tun würde, wären es seine Männer auf Wilgegen. »Die müßten einmal den Schnee der eiszähnigen Zitzimmas schmecken!« »Laß sie doch in Ruhe, Fangar«, redete ihm Tulley zu. »Sie haben eben keinen Mut mehr.« Amoundei hob seine zitternden Hände zu einem Segen für die geschlagene Armee. Natürlich verstand Tulley, was Fangar so erregte. Ihm ging es ähnlich, wenn dumme Leute elektronische Geräte vernichteten, weil sie sie nicht verstehen konnten. Fangar war ein Krieger, und die Niederlage seiner Freunde von Ra empfand er wie eine eigene Schande.
Ein schlankes, schwarzhaariges Sklavenmädchen in einem sauberen braunen Gewand flüsterte Akun etwas ins Ohr und verschwand wieder. Akun lächelte mühsam, und dieses Lächeln verzerrte sein kummervolles Gesicht zu einer grotesken Grimasse. »Wenigstens eine kleine gute Nachricht«, meldete er. »Nomee ist auf dem Weg der Besserung. Sie will mit uns sprechen.« »Nun, dann wollen wir sofort gehen«, befahl Amoundei, raffte die Röcke seines gelben Gewandes und lief die Stufen hinab. Sie überquerten zahlreiche Straßen und Kanäle, und die blauen Schatten blieben zurück, als sie in den hellen Sonnenschein von Ra hinaustraten. Der Königspalast war aus Ziegeln gebaut und durch zahlreiche Anbauten im Lauf der Jahrhunderte zu einem riesigen Irrgarten geworden. Braungekleidete Sklaven führten sie durch die langen Korridore. Die Bewohner von Hamoun hatten im allgemeinen blonde Haare, die von Apen dunklere; die Insignien von Hamoun waren in den Farben Orange auf Weiß gehalten, die von Apen in Smaragd auf Weiß. Die Prinzessin Nomee von Hamoun ruhte auf einem breiten Diwan mit geschnitzten Leoparden als Beinen. Dicke Kissen stützten sie, und Sklaven fächelten ihr mit riesigen Federn frische Luft zu. Sie war noch ziemlich blaß, aber ihre Miene sprach von fiebriger Erregung. »Und was muß jetzt getan werden, Amoundei, Hoherpriester von Hamoun und Apen?« fragte sie und zerrte an der golddurchwirkten Diwandecke. »AmounRa in seiner Weisheit hat eine Antwort für alles…« »Und wie lautet seine Antwort auf eine geschlagene Armee, ein aufsässiges, unglückliches Volk, auf bankrotte Finanzen, einen Thron ohne König? Und wie ist seine Antwort auf die Machinationen von Torozei, der nicht nur meinen, sondern auch Laras Thron besetzen will?« Zum erstenmal hatte Tulley damit von Palastintrigen gehört, und das widerte ihn an. »Sicher, Torozei ist ein Blutsverwandter, aber während du und Lara lebst, hat er keinen Anspruch auf die Throne. Immer, wenn in der Vergangenheit ein König auf beiden Thronen saß, gereichte das ihm und den Städten zum Unheil. Du regierst so lange in Hamoun, bis du einen Gefährten nimmst und damit einen neuen König schaffst, wie es AmounRas und des Volkes Wille ist.«
»Er schmiedet aber ein Komplott mit den Edlen und den Kriegern, und er gibt meiner Familie die Schuld an diesem Unglück.« Tulley war sehr beeindruckt. Das Mädchen hatte Mut und war offensichtlich fest entschlossen, ihr Recht auf den Thron zu verteidigen – und das mit einer so schweren Wunde in der Seite, die jeden Erdenmann für Monate im Krankenhaus festgehalten hätte. »Deine Familie, Nomee, besteht jetzt nur noch aus dir selbst«, erklärte Amoundei mit einem respektvollen Seufzer. Es war natürlich sehr hart, so etwas sagen zu müssen. »Wir wollen nicht von dem sprechen, was alles andere zum Spott machen würde«, entgegnete Nomee nach einer Pause. »Warum stellst du dich nicht dem Notwendigen, Amoundei? Hast du Angst vor dem berechtigten Zorn AmounRas?« »Wenn AmounRa mich für meine Sünden strafen will, so unterwerfe ich mich ihm. Ich bin der Hohepriester und habe eine Sonderstellung vor und zwischen den Thronen. Ohne mich seid ihr nur Blasen an der Oberfläche des Oo, und ohne euch bleibt mir nichts übrig, als auf die Vernichtung durch Hyktros oder ein anderes Volk zu warten, das den Bogen zu spannen und den Speer zu werfen versteht.« »Du sprichst die Wahrheit, aber du mußt die allerletzte Wahrheit sprechen, Amoundei! Du mußt davon reden, daß wir den Schatz von AmounRa verloren haben und nun dem Verhängnis ausgeliefert sind, das damit über unser Land gekommen ist.« Tulley fühlte körperlich den Schatten dieses Verhängnisses. Dieses Volk hatte keinen Lebenswillen mehr, nachdem der heilige Schatz geraubt worden war. Nur in der Prinzessin Nomee brannte ein fiebriger Hunger. Wenigstens sie plante noch. Nun trat Tulley vor. »Sagt mir«, bat er, »worin besteht der fabelhafte Schatz des AmounRa? Ich möchte euch helfen.« Alle hielten den Atem an oder runzelten erschreckt die Brauen. Deshalb fuhr er eiligst fort: »Ihr müßt wissen, daß ich über einige Kräfte verfüge, ebenso wie mein Gefährte Fangar. Wir teilen eure Sorge, nicht aber eure Verzweiflung. Weise Männer sagen, daß man hoffen dürfe, solange man lebe. Überlegt euch diese Worte und erzählt mir vom Schatz des AmounRa, damit ich euch helfen kann in einer Stunde, da ihr Hilfe nötig braucht.«
Roy Tulley hatte nicht umsonst so viele Bücher gelesen, und jetzt hatte er auch noch den Mund ziemlich voll genommen. Fangar starrte ihn entgeistert an, als rechne er nun damit, daß ihm aus Nase und Ohren Funken stieben müßten. Amoundei und Nomee berieten sich leise miteinander, warfen Tulley und Fangar dann und wann einen Blick zu und riefen endlich Akun zu sich. »Du gehst sofort zur Prinzessin Lara und bittest sie, hierherzukommen. Du kannst ihr sagen, weshalb. Beeile dich!« Akun nickte und rannte davon. Tulley fühlte eine ungeheure Spannung in sich. Spielte er seine Karten nun falsch aus, dann konnte er wohl nie mehr zur Erde zurückkehren. Fangar war offensichtlich bereit, bei ihm mitzutun; schließlich war die Anregung zu dem, was er gesagt hatte, von seinem Freund und Gefährten ausgegangen. Akun kehrte wenig später mit Lara zurück. Sie trug eine lange weiße Robe, die sich wie ein Kissen bauschte, im Oberteil jedoch so eng anlag, daß man sie eindeutig als Mädchen erkennen konnte. Ihr mißhandeltes Haar war wenigstens teilweise mit einem großartig funkelnden Diadem besteckt. Tulley hätte schwören mögen, daß die Steine nicht echt waren, aber dann machte er sich selbst klar, wie wenig es einer Prinzessin anstünde, angeberische Imitationen zu tragen. Sie warf ihm einen Blick unter gefurchten Brauen zu und setzte sich ohne zu lächeln neben Nomee. Zwei Prinzessinnen, die vor AmounRa, allen Göttern und Männern unbedingt gleichwertig waren, unterhielten sich wie Freundinnen miteinander. Das war nicht unbedingt selbstverständlich. »Ich hoffe, du weißt, was du tun willst, Roy«, flüsterte ihm Fangar aus dem Mundwinkel heraus zu. »Das glaube ich zu wissen. Diese Leute sind ungeheuer erschüttert. Sie brauchen nun einen Halt und einen ganz neuen Standpunkt, um ihren verletzten Stolz neu aufflammen zu lassen. Du und ich, Fangar, mein schwertgewaltiger Freund, wir beide werden ihnen diesen Standpunkt verschaffen.« Und dann riß ein dröhnender Gongschlag sie aus ihren Gedanken. Ein Riese von einem bronzefarbenen Sklaven hatte den Hammer geschwungen, und ehe noch die hallenden Töne als Echo zurückkamen, öffneten sich die Türen, und zwei reichgeschmückte Sänften wurden hereingebracht. Lara und
Nomee wurden vorsichtig in die Sänften gesetzt, und dann trotteten die Träger davon. Amoundei folgte ihnen in stolzer Haltung, jedoch mit brütender Miene. Akun wandte sich an Tulley. »Wir gehen jetzt zum Tempel in Hamoun, denn von dort wurde der Schatz geraubt. In zwei Tagen wäre er, beim Sterben des Mondes, über den Fluß zum Tempel in Apen gebracht worden. Komm.« Sie folgten der mit beträchtlicher Geschwindigkeit dahineilenden Prozession von Sklaven, Akolythen, Leibwächtern, Tanzmädchen, gelbgekleideten Priestern und anderen Leuten, die aus allen Bogengängen des Palastes herbeiströmten. »Sie tun alles, um die Scham des heutigen Tages vergessen zu können«, bemerkte Fangar. »Ich wäre jetzt nicht gern ein Wagenlenker von Ra, ein Soldat oder ein Sklave, der die Nagare versorgt, aber morgen…« Tulley fielen alte Märchen aus seiner Kinderzeit ein, und er konnte das Diadem der Prinzessin Lara nicht vergessen. Und überhaupt versorgte ihn die Literatur mit einigen guten Ideen, als er so die heißen Straßen entlangeilte, auf deren Balkonen sich die Frauen zusammendrängten, um der Prozession zuzuschauen. In Ra mußte es einiges zu verdienen geben; vielleicht nicht nur einiges, sondern ein schönes Vermögen. Schon jetzt lag das juwelenbesetzte Halsband des Wagenlenkers in Stücke zerlegt in seiner Gürteltasche. Und das war nur der Anfang. Der Tempel erinnerte Tulley lebhaft an die gewaltigen Säulentempel des alten Ägypten auf der Erde. Überhaupt glich die Zivilisation von Ra in vielen Dingen der Nilzivilisation. Die singenden Priester, die federfächerschwingenden Akolythen und die Speere und Schilde tragenden Garden erstiegen die dreihundertneunzig Stufen zum Hauptportal des Tempels. Überall standen hohe Statuen herum. Sie hatten Vogel-, Löwen- und Nagareköpfe und sahen düster und in langen, mehrfachen Reihen auf die Sterblichen herab. Farbe und Vergoldung schimmerten noch in der Sonne, aber sie blätterten an verschiedenen Stellen ab. Staub hatte sich in den Ecken der Treppenstufen angesammelt. Die Säulen hatten groteske Kapitelle und unterschieden sich gewaltig von den graziösen, anmutigen Formen des klassischen Griechentums. Tulley tappte einigermaßen erregt die unendlich lange Treppe hinauf, und sein Herz schlug nicht nur wegen der vielen Stufen so
schnell. Sie zogen durch Hallen und Höfe, bis sie riesige Tore aus Bronze und Gold erreichten. Die meisten Prozessionsteilnehmer hatten sich in die Seitengänge und Höfe zurückgezogen, denn nur die zwei Sänften, ein halbes Dutzend Priester und die zwei Fremden durften das Heiligtum betreten. Mit einem hallenden Gongschlag öffneten sich die Türen. Sie betraten ein riesiges Gewölbe aus Schatten und Geheimnis, in dem zahllose Säulen wie die Bäume in einem Urwald standen. Die Augen schweiften von Bildern zu Skulpturen, und überall blitzten köstliche Juwelen und edle Schätze. Trotzdem hockten die Schatten in allen Ecken. Langsam schritt Amoundei mit seinen Priestern vorwärts. Akun blieb bei Tulley und Fangar und den anderen Nichtpriestern. Die beiden Prinzessinnen glitten aus ihren Sänften und nahmen zwei goldene Throne ein, die ihren Platz zwischen zwei Säulenreihen hatten. Eine lange Barriere aus Elfenbein sperrte diesen Platz ab. Vor der Barriere blieben die Priester stehen, hoben ihre Arme und senkten die Köpfe, und über ihre Rücken spielten die zuckenden Flammen von Fackeln. Der ganze Raum zwischen den Säulen, vor denen die Throne standen, war mit einem langen Purpurtuch verhängt, das an goldenen Stäben von hoch oben bis zum Boden hing. Silberschnüre mit dicken Quasten lagen in den Händen junger Priester in gelben Gewändern, die erwartungsvoll die Blicke auf Amoundei gerichtet hatten. »Nur die Leere bleibt!« rief Amoundei mit hoher schwankender Stimme. »Hier enthüllen wir für die Augen von zwei unbekannten Fremden, die Männer von hoher Ehre sind und AmounRa Ehre erweisen wollen, das Yonaphren des hohen Tempels des AmounRa. Leer und ohne das Licht des Linaphren ist der heilige Ort. Öffne dich! Öffne dich! Öffne dich! Laßt die Fremden sehen die Glorie und die Scham von Hamoun-Apen!« Mit zartem, goldenem Klirren und Klingeln öffneten sich die Purpurvorhänge. 11. Tulley sah dunklere Flecke auf dem Purpur der Vorhänge und
wußte, daß sie vom Blut kamen. Und dann tingelte jedes Haar, jedes Nervenende wie unter einem elektrischen Stromstoß. Eine blendende Helle schmerzte seine Augen, aber mehr noch als der körperliche Schmerz war etwas Lähmendes, das sich auf seinen Geist legte. Die Pein spießte ihn auf; jedes Orientierungsvermögen verließ ihn, und Fangar mußte ihn auffangen. Er sah und hörte nichts mehr, vermochte nichts mehr zu riechen, und sein Gehirn schien nach außen zu drängen, zu explodieren. Die Welt um ihn herum verlor jede Bedeutung. Und doch – durch den Nebel dieses Deliriums spürte er ein Licht, das sich in sein Innerstes bohrte. Er wußte nicht, woher es kam, spürte nur einen grünlichen Nebel, ein Flackern kühler Farben… Seltsam… Und dann war alles vorüber. Er stand, gestützt von Fangar, vor dem Tempel, und Akun musterte ihn ängstlich. »Gesegnet sei AmounRa«, sagte Amoundei ehrfürchtig. »Er hat ihn besessen. Nun hat er mir den verlorenen Glauben wiedergegeben.« Tulley fühlte sich wohl, denn aller Schmerz war verflogen. Er war Roy Tulley, der Freund von Graham Pike. Amoundei übertrieb ein bißchen. Aber es war gut, ein wenig in die Geheimnisse des Universums zu schnuppern und es zum Schwingen zu bringen… »Sie sagen, dunkle Geheimnisse seien um das Yonaphren. Auch ohne das Linaphren besitze es merkwürdige Kräfte.« Tulley wurde sich allmählich darüber klar, was der Schatz des AmounRa für dieses Volk bedeutete. Wenn man das Linaphren raubte, aber die unschätzbaren Werte, die es schmückten, zurückließ, dann mußte dieses Idol unbeschreibliche Kräfte besitzen. Er war sich auch einigermaßen darüber klargeworden, was er tun konnte, und mit Fangars und Amoundeis Hilfe arbeitete er seine Pläne aus. Eine solche Manifestation wie die seine war im Heiligtum noch nie verzeichnet worden, und dessen Geschichte reichte viertausend Jahre in die Vergangenheit zurück. Der Hohepriester war von diesem Erlebnis zutiefst erschüttert. »Viertausend Jahre«, sagte Tulley ein wenig später zu Fangar. »Die Vorfahren dieses Volkes müssen einmal aus meiner Dimension gekommen sein. Es ist gar nicht anders möglich. Und das Yonaphren muß ein Portal in andere Dimensionen sein. Die
dunkleren Menschen hier gleichen den Ägyptern meiner Erdengeschichte. Man sagt, sie seien in grauer Vorzeit über den Atlantik in mein Land gekommen. Wenn sie dorthin kamen und dann durch ein Portal schritten – du meine Güte! Es paßt alles recht gut zusammen.« »Wenn ihr eine solche Zivilisation in eurer Dimension habt, Roy, dann mußt du doch auch etwas verstehen von den Wagen, den Schwertern und…« »Moment! Das liegt ja schon viertausend Jahre zurück, und wir haben inzwischen Fortschritte gemacht. Das Volk von Ra jedoch nicht, und ich kenne auch den Grund dafür. Sie haben kein Eisen. Eisen und Stahl, die billiger und besser sind als die Bronzewaffen, brachten das Ende der Wagenzeit. Eiserne Rüstungen widerstanden den fliegenden Pfeilen. Und dann kam man auf die Idee, Menschen auf Pferde zu setzen. Nun entstand die Reiterei – eure Reiter, Fangar. Damit wurden doch die Wagen überflüssig.« »Möglich«, knurrte Fangar. »Aber diese Nagare sind als Reittiere zu gar nichts nütze.« »Für dich vielleicht. Aber wir müssen etwas tun. Mir ist völlig klar, daß das Linaphren das Geheimnis der dimensionalen Tore ist. Du weißt, Fangar, daß ich darauf anders reagiert habe als einer von euch. Ich gebe zu, daß mich dieser Gedanke schreckt, aber ich glaube es!« »Und ich glaube es auch, Roy! Du hast diese seltsame Kraft, von einer Dimension in die andere überzugehen… Deshalb müssen wir das Linaphren zurückholen. Also müssen wir Hyktros überfallen. Wir kennen ihre Wagen. Wir müssen die Menschen hier nun wieder zum Kampf anfeuern. Nur sie können sich nun selbst helfen.« »Eine höllische Situation«, stellte Tulley fest. »Da strandet man in den Dimensionen, und die einzige Möglichkeit, nach Hause zu kommen, ist die, sich mitten in einem feindlichen Reich einzunisten!« Ihre wichtigste Aufgabe war nun die, den Leuten ihren Stolz und ihren Kampfesmut zurückzugeben. Tulley wußte auch schon, wie er das anstellen konnte. Akun mußte eine Menge Tontöpfe sammeln und Sklaven an die Arbeit schicken, die Kupferdraht zogen. In Nomees Palast stellte man in einem ruhigen Hof lange Reihen von Kupferkesseln auf, die aus Privatwohnungen, Palastküchen und Läden stammten. Akun nahm Tulleys
Weisungen entgegen und beauftragte sämtliche Kupferschmiede des Landes, eine ganz bestimmte Art Kessel herzustellen, die innen einen vorstehenden Deckelrand hatten. Und dann erkundigte sich Tulley nach den heißen Schwefelquellen, die flußaufwärts im Tal der Schädel lagen. »Überall blubbert es aus dem Boden, und üble Gerüche steigen auf«, sagte Amoundei. »Stimmt«, pflichtete ihm Tulley bei und gab seine Befehle. Im Morgengrauen brach eine Karawane zu den Schwefelquellen auf. Es waren zahlreiche Wagen, die hoch mit Eimern und Behältern jeder Art beladen waren. Ein Priester führte den Zug an, denn Akun war zu wertvoll, als daß man ihn vielleicht opfern konnte. Semoun, der Priester, wurde beauftragt, einen Teil des Wassers aus den jüngsten Schwefelquellen verdunsten zu lassen und mit dem Rest sehr sorgfältig umzugehen. Fangar erklärte er dann, was er zu tun gedachte. Er wollte Daniell-Zellen bauen, eine ganze Menge. Poröse Tontöpfe sollten dazu in die Kupferkessel gesetzt werden; ein Zinkstab mußte in die Mitte des porösen Topfes gesetzt und dann dieser Topf mit dem konzentrierten Schwefelwasser aufgefüllt werden. »Und dann schließen wir diese Zellen zu langen Reihen zusammen. Eine Zelle erzeugt 1,1 Volt, und damit kann man einen ganz netten Schlag bewirken.« Fangar murmelte etwas von Wagen, die er nachsehen müsse, und ging davon. Tulley rief ihm nach: »Und wegen dieser Wagen werden wir auch was tun müssen. So sind sie hoffnungslos, aber wir kriegen sie schon hin.« Und dazu lachte er schallend. Fangar brachte Natunza, den letzten General der Wagenstreitkräfte, mit in den Palast und versuchte ihn zu überreden, seine Leute zusammenzuholen, um sie wieder mit Mut und Kampfesfreude zu erfüllen. Natunza weigerte sich, denn er glaubte nicht an einen Erfolg, da es ohne den Schatz des AmounRa keinen geben könne. »Wir holen ihn zurück«, erklärte Tulley hitzig. Fangar blies die Wangen auf. »Er ist ein guter Mann, Roy. Aber wir müssen ihm erst beweisen, daß es möglich sein wird.« Was Tulley ein wenig zu schaffen machte, war das fehlende Eisen, denn ohne Magnet konnte er nur die Hälfte der Tricks seiner Branche vorführen. Aber dann fiel ihm doch einiges ein, und mit Amoundeis Hilfe schloß er etliche Statuen an seine
Batterien an. Diese Statuen bekamen Kupferstäbe in die Hände, so daß praktisch der ganze Tempel ein elektrischer Stromkreis wurde. An jenem Abend ergab sich ein neues Problem für Tulley, das von Lara und Nomee. Natürlich mochte Tulley beide, und sie waren ja auch zauberhaft. Er war im Palast von Apen eingeladen, wo ihn Lara in ihren Privatgemächern erwartete. Sie war weich und ganz Frau und trug ein lockeres, weißes, durchsichtiges Gewand. Sie aßen Früchte und tranken goldenen Wein und unterhielten sich. Die Pläne gingen gut vorwärts, und bald würde man die Städte wieder aufbauen können. Die Trauerfeier für ihren toten Vater sollte dann stattfinden, wenn die Doppelstadt ihre Funktionen wieder erfüllte. Tulley ließ sich’s wohl sein und bewunderte Laras sanfte Kurven. Sie trug ein Vermögen an Juwelen um ihren Hals, und auch ihr Haar funkelte von Edelsteinen. Sie war eine schöne, üppige Frau mit zitternden Lippen und feuchtglänzenden Augen. »Wenn alles vorüber ist, Roy, und der Schatz sich wieder im Tempel der Zwillingsstadt befindet, dann brauche ich einen König für den Thron von Apen. Ich glaube, ich brauche nicht lange zu suchen.« Tulley schluckte heftig. Er mochte Lara, wenn auch nicht gerade auf diese Art. »Ich weiß, du hast seltsame Kräfte«, fuhr sie fort. »Du hast mir das Leben gerettet, und ich vertraue dir. Du hast die Eigenschaften eines Mihar, eines Helden, der es verdient, meinen Thron zu teilen.« »Erst müssen wir den Schatz zurückholen«, wich Tulley aus. »Dann sehen wir weiter.«
12. Nach Rücksprache mit Amoundei wählte Tulley für die Ausführung seines Planes, auf den sich alle Hoffnung gründete, den Tag des Wasserdankes. Er hatte unermüdlich gearbeitet, um seine Batterien so wirkungsvoll wie nur möglich einzusetzen, und er hatte die Stromkreise sogar mit primitiven Schaltern ausgerüstet, um Strom sparen zu können. Fangar dagegen beschäftigte sich mit den Wagen, den Nagare und dem Geist der Soldateska.
Beide fühlten sich in Hamoun zu Hause, und deshalb lag ihnen auch so unendlich viel daran, die Stimmung in der Bevölkerung wieder zu heben. Aber die Leute begingen die Feierlichkeiten nur mit halbem Herzen, denn sie waren über das Entsetzen noch nicht weggekommen. Trotzdem sollte dieser Tag die große Wende bringen. Im äußeren Tempelhof, wo die hohen Statuen standen, die Tulley an seine Batterien angeschlossen hatte, fand die wichtigste Feier statt. An ihr nahm auch Semoun teil, der eisern darüber schwieg, daß er vom Tal der Schädel Schwefelwasser gebracht hatte. Amoundei wandte sich hauptsächlich an die Wagenlenker, denn sie waren es, die überzeugt werden mußten, wenn der Rest folgen sollte. Sie schämten sich ein wenig, waren traurig und mißmutig. Erst sprach er von der Niederlage, aber dann sagte er: »AmounRa hat euch nicht verlassen. Er hat nicht das Licht seiner Sonnenscheibe von euch genommen. In seinen ewigen Augen seid ihr noch immer die tapferen Männer von Hamoun und Apen, und wenn er euch seine Gnade schenkt, dann wird er euch heute ein Zeichen geben, mit dem er von euch Respekt und Gehorsam wie in alten Zeiten fordert. Empfängt einer von euch das Zeichen, dann soll er in den Hof des Zornes gehen, und wer es nicht empfängt, begebe sich in den Hof der Letzten Dinge, damit er sich dort wieder dem Dienst an AmounRa zuwenden möge.« Den Anfang machte Natunza, der General der Wagenkämpfer. Ihn bedachte Tulley mit einem hübsch abgerundeten Stromstoß, so daß er, als er die Hand in die der Statue legte, einen Rekordsprung tat. Und dann schrie er laut und gellend. Und er zitterte und konnte nicht loslassen. Tulley hätte schwören mögen, daß aus seinem Haar blaue Funken zuckten. Als Tulley den Strom abschaltete, ließ Natunza los, doch zu schreien hörte er noch lange nicht auf. Tulley lachte in sich hinein. Das war nun auch seine Chance, wieder zur Erde zurückzukehren. Fangar wußte allerdings nicht recht, was er daraus machen sollte, aber auch er war beeindruckt vom Resultat; den Wagenkämpfern, die alle ihren Stromstoß erlebten, ging es nicht anders. Dann mußte Tulley zu Nomee, um ihr zu berichten. Die
Prinzessin hatte ihre Dienerschaft aus ihren Privaträumen verscheucht und Roy Tulley in einem roten, ärmellosen Gewand empfangen; ihre Arme waren reich mit Diamanten geschmückt, und sie sah zweifellos sehr eindrucksvoll und begehrenswert aus. Tulley fiel Lara ein. »Amoundei ließ mich wissen, daß dein Zauber ungeheuer wirksam ist. Du bist ein großer Wunderwirker«, begann sie. Tulley hatte gewußt, daß es so kommen mußte. Wenn man ein Zeichen von einem Gott bekommen wollte, mußten immer Wunder herhalten. Und dabei hatte man doch schon im alten Babylon mit elektrischen Funken gearbeitet… Sie unterhielten sich lange. Nomee war anders als Lara, ganz Frau, aber irgendwie aufgeschlossener und interessierter. Sie war die Diana, Lara die Aphrodite. Bei diesem Gedanken mußte Tulley lachen. An der Mythologie stimmte etwas nicht. »Ich glaube, Nomee, wir können jetzt wieder eine Armee aufbauen«, sagte er. »Fangar ist ein großer Krieger, ein Miliar…« »Du bist es auch, Roy. Wenn der Schatz des AmounRa sicher in Hamoun-Apen zurück ist, kommen wieder fröhliche Tage, und ich brauche einen König. Ich fühle mich einsam, und mein Körper sehnt sich nach einem Gefährten. Ich denke, Roy Tulley, der könntest du sein.« Verrückt, sich gleich zwei auf einmal anzulachen, dachte er. »Erst wollen wir den Schatz zurückholen, dann sehen wir weiter«, antwortete er ihr ebenso wie Lara. »Ich bin Nomee, eine Prinzessin von Ra, und Lara ist die einzige, die ich als Gleichgestellte anerkenne. Ich brauche einen Gefährten, der meiner würdig ist, und du hast von AmounRa das Zeichen bekommen. Du bist solch ein Mann!« Tulley versuchte sich zurückzuziehen, doch das wollte sie nicht, im Gegenteil. Sie zog ihn an sich, legte seine Hände auf ihre Brust und küßte ihn. Dieser Kuß war lang, leidenschaftlich und feucht und erschütterte ihn einigermaßen. Als er sich endlich zurückzog, um wieder Atem zu holen, musterte er sie voll Bewunderung. »Und jetzt führe mein Heer zum Sieg, Roy!« rief sie. »Mit dir und Fangar als Führer meiner Wagen fürchte ich nichts!« Ja, es war nicht einfach, gleich zwei Prinzessinnen in einer Doppelstadt zu beeindrucken. Ihm gefielen beide, aber eine überstürzte Entscheidung war nicht seine Art. Was würde man zu
Hause in Amerika dazu sagen? Dann traf er sich wieder mit Fangar, der inzwischen eine Organisation auf die Beine gestellt hatte. Die Wagen wurden zu Dutzenden zusammengefaßt, die man Squadron nannte. Sechs Squadronen bildeten ein Regiment, zehn Regimenter ein Bataillon. Für irdische Militärs war das zwar ein Witz, aber hier ging es nicht anders. Die meisten Wagenkämpfer hatten das Zeichen des AmounRa empfangen, und die restlichen, die sich im Hof der Letzten Dinge versammelt hatten, wurden von Tulley eigens vorgenommen. Jeder bekam seinen Stromstoß verpaßt, so daß er der Heimat aus vollem Herzen Treue, Ergebenheit und dem Feind Rache schwor. Wenig später meldete Natunza voll Stolz und Feuer die neu aufgeflammte Begeisterung der Streitkräfte. Sie sprachen mit ihm die künftigen Angriffspläne durch und wälzten strategische Probleme, die sie nach dem alten Grundsatz lösten: Getrennt marschieren, vereint schlagen. Und nun nahm sich Tulley des Wagenproblems an. Die meisten Wagenführer waren Mädchen, die ihre Sache sehr geschickt machten. Die Wagen liefen geradeaus hervorragend, denn sie hatten große Räder. Wenn sich aber selbst die tüchtigste Wagenfahrerin anschickte, am Ende des Übungshofes umzukehren, ergaben sich immer Schwierigkeiten, weil sie sehr viel Platz zum Wenden brauchte. Tulley zeichnete für seine Begleitung – Amoundei, Natunza, Akun und natürlich Fangar – mit einem Stock in den Sand, wie er sich Kriegswagen vorstellte. Die Räder, meinte er, müßten viel kleiner sein und auch viel weiter nach rückwärts versetzt werden. Damit ließe sich eine größere seitliche Beweglichkeit erzielen. Es klang zwar einigermaßen einleuchtend, doch Fangar ließ sich nur widerstrebend dazu herbei, einen Versuch zu machen. In den folgenden Tagen waren sie eifrig mit dem Bau eines Modellwagens beschäftigt. Natürlich mußte ihn Tulley fahren, um ihnen die Vorteile vorzuführen. Herunterfallen durfte er nicht, und mehr war von einem ungeübten Wagenlenker auch nicht zu erwarten. Der Wagen war fertig. Tulley bestieg ihn und ließ seine Nagare anlaufen.
13. Nur herunterfallen durfte er nicht. Ha! Die Nagare zogen ab, als seien sie mit Dynamit gefüttert worden. Sie waren als Quadriga eingespannt worden, was zwar weniger vorteilhaft war, aber viel eindrucksvoller aussah. Der Wagen hüpfte und schleuderte, und Tulleys Knie zitterten wie beim ersten Wellenreiten. Aber er klammerte sich so eisern an seine Zügel, daß er nicht einmal bei einer scharfen Kehre hinausgeschleudert wurde. Als er dann mit schnaubenden Nagaren und butterweichen Knien beim Komitee vorfuhr, warteten schon Sklaven mit Decken für die schweißnassen Tiere. »Na?« fragte er und sprang mit einem kühnen Satz aus dem Wagen. »Das hast du fein gemacht, Roy«, sagte Fangar, sein treuer Gefährte, und klatschte ihm anerkennend den Rücken. Auch die anderen waren des Lobes voll, wenn Tulley natürlich auch immer wieder unterstrich, daß mit dem neuen Wagen erst noch viel geübt werden müsse, ehe man ihn einsetzen könne. Dann machte auch Natunza einen Versuch, der ebenso gut endete. »Deine Idee stammt von AmounRa persönlich«, erklärte der würdige General. »Nur die Götter können sich ein so nobles und kluges Gefährt ausdenken.« »Na klar«, meinte Roy Tulley dazu. Wie sollte er auch einem erfahrenen General widersprechen? Und dabei hatte er sich doch nur der Zeichnungen von assyrischen und ägyptischen Wagen erinnert. Nun mußte sich Tulley aber auch noch mit der Natur seiner Feinde, den Hyktrosianern, befassen. Sie lebten jenseits der großen Ebene und waren ein reiches, mächtiges Volk. Sie würden vermutlich bald wieder zum Fluß Oo kommen, und dann würden ihre Wagen wohl alles zerstören. Deshalb verwendeten Tulley und Fangar viel Arbeit und Nachdenken an die Pläne, die Streitkräfte nicht nur für die Abwehr zu schulen, sondern sie auf Attacken gegen die Hyktrosianer vorzubereiten. Diese Idee wurde den Wagenkämpfern tagtäglich eingetrommelt. Sie würden und mußten die Wagen von Hyktros vernichten! Manchmal wachte Tulley nachts schwitzend aus dem Schlaf auf, weil er Angst vor der übernommenen Verantwortung hatte. Unter
den Wagenlenkerinnen hatte er ein nettes, tüchtiges Mädchen gefunden, das stählerne Muskeln und sanfte Kurven, lange, herrlich geformte Beine und schönes blondes Haar hatte. Sie hieß Oolou – nach dem Fluß Oo. Sie betete ihn an und bemutterte ihn wie eine Henne ihre Küken. Er rechnete sich aus, daß sie als Liebespaar ein vorzügliches Wagenteam abgeben müßten. Die Erinnerungen an Lara und Nomee legte er auf Eis. Natürlich wußten die beiden Prinzessinnen von Oolou, denn nichts entging ihnen, was sich in ihren Palästen abspielte, aber eine einfache Wagenlenkerin stellte für sie kein Problem dar. Der Appetit eines Mannes hatte mit Politik nichts zu tun. Außerdem glaubten sie fest an die Verführungskräfte ihrer Körper. Tulley unternahm auch allerhand Versuche, die Wagen zu federn. Schließlich benützten sie dazu aufgeblasene Blasen von Farmtieren, die von flachen Brettern an Angeln zusammengedrückt wurden. Der Erfolg dieser Federung sprach für sich selbst. Da Tulley weder aus Hamoun noch aus Apen stammte, trug er weiße Kleider mit orange- und smaragdfarbenen Streifen. Zu weißen Hosen, die er hoch über die Schenkel hinaufschlug, hatte er eine weiße Weste an. Bald waren seine Beine schön braun, und er fühlte sich in dieser Aufmachung recht wohl. Er hatte es sich auch zur Gewohnheit gemacht, eine Bronzerüstung anzulegen, wenn er auch vom üblichen Bronzehelm alle Federn bis auf zwei entfernte. Er sah sehr gut, ein wenig arrogant und äußerst eindrucksvoll aus. Oolou war auch manchmal eifersüchtig und rollte die Augen. Dann jagte Tulley sie ins Bett, wo er ihr zeigte, wer der Herr und Meister war. Mit dem Schwert konnte er dank Fangars Unterricht recht geschickt umgehen. Er fertigte auch eine Kollektion von Bogen, Köchern und Pfeilen an. Einer der Bogen war ein ausgesprochenes Meisterwerk. Mit ihm traf Tulley mitten aus voller Fahrt jeden Pfeil mitten ins Rote. So ausgerüstet, fuhr er mit Oolou oft auf die weite Ebene hinaus, und immer mehr genoß er das Leben unter den Wagenkriegern von Ra. Sie hatten stets drei Ersatzköcher mit Pfeilen dabei, die außen am Wagen angeschnallt waren, und einige Speere ragten immer über die Wagenbrüstung hinaus. Sollte ihnen zufällig ein Feind in die Quere kommen, so brauchte der sich über die Zukunft keine Gedanken mehr zu machen.
In ausgedehnten Diskussionen mit Natunza und anderen neuernannten Generälen legte man Taktik und Strategie fest, Fangar war zum Heerführer bestimmt worden, und er verlangte, daß jeder einen Treueeid auf AmounRa und alle übrigen Götter ablegen mußte. Sonst sei er nicht interessiert. Natürlich entsprach man seinem Wunsch, und in einer großartigen Zeremonie wurde die ganze Streitmacht vereidigt. Auch die beiden Prinzessinnen waren anwesend, und sie stellten beglückt fest, daß das ganze Heer von einem neuen, stolzen Geist beseelt war. Dann ließ die Sommerhitze nach; darauf folgte eine Regenzeit, die den Fluß Oo anschwellen ließ. Wenig später fand die Ernte statt, und dann begannen die traditionellen Kriegszüge. Unermüdlich exerzierte Tulley mit seinen Kriegern, bis alle mit der Zuverlässigkeit erstklassiger Roboter funktionierten. Das konnte er jedoch nur deshalb erreichen, weil die Leute wieder einen Sinn dahinter erkannten. Eines Tages belud Tulley einen Wagen mit Wein, Brot und feinen Kleidern und einer Tasche Geld, das nur in geringer Menge in Umlauf war. Dann ließ er noch einen Esel an den Wagen binden, und so machte er sich auf den Weg zu Ratha vom Schwarzen Haar und zu Jezd, ihrem Mann, um zu sehen, wie es ihnen ginge. »Das sind wir ihnen schuldig«, sagte er zu Fangar, der zurückblieb, um seine Reitertruppe zu schulen, die er aufgestellt hatte. Ausbleiben wollte Tulley eine Woche, und er nahm Lenoum, seine Squadron und Fangars Segenswünsche mit. Es war eine Art Manöver; nachts bezogen sie irgendwo ein Lager und fuhren bei Tag. Sie schossen und suchten überall am Weg Ziele für ihre Pfeile. Gegen Abend des zweiten Tages näherten sie sich der Ziegelhütte und den Bottichen, wo Tulley und Fangar nach Ra gekommen waren. Tulley fühlte sich glücklich und zufrieden, denn das Leben war gut zu ihm gewesen. Er war geachtet und geliebt und einer der mächtigsten Männer dieser Nation. Aber plötzlich spürte er leichte Kopfschmerzen, und im nächsten Moment meldete Oolou fremde Wagen. Durch die Abenddämmerung näherten sich sehr rasch große Staubwirbel. Lenoum schrie und riß seinen Bogen in die Höhe. »Das ist Torozei, der Verräter! Möge AmounRa sein Gesicht von ihm abwenden!«
Ein Pfeil traf die Wagenbrüstung, und Oolou riß an den Zügeln. Mit selbstmörderischer Geschwindigkeit rasten die beiden Wagen aufeinander zu. Sie rasten an den Bottichen entlang. Pfeile flogen. Menschen schrien. Nagare wieherten und schnaubten. Staub stieg in Wolken auf. Tulley schoß fünf Pfeile ab, und dann raste der Wagen in einer scharfen Kurve davon. Oolou blutete aus einer Halswunde, in der ein Pfeil stak. Er griff nach den Zügeln, um den Wagen anzuhalten, aber die unruhigen Tiere waren zu nervös, und der Wagen geriet ins Schleudern. Dann flog er hinaus. Weg… weg… weg… dachte er nur noch. Ein grellweißer Lichtfleck sauste ihm entgegen, und dann umschloß ihn das Grün der Bottiche. Sein Geist schrie vor Schmerz und Enttäuschung, und etwas schnappte in seinem Kopf, und der Schmerz wurde immer unerträglicher. Dann rollte er Hals über Kopf über grobes Pflaster. Kinder und Hühner rannten schreiend und gackernd davon… Er wußte sofort, was geschehen war.
14. Mit melodiöser Stimme sang Bobby Travers vor sich hin, als er die glänzende Klinge seines Schwertes liebevoll polierte. Er hielt sie in das Licht, das durch die Fenster des Gasthauses Zur Freundlichen Maus fiel und bewunderte den Glanz des geölten Stahls. Düster hockte Roy Tulley auf einer Bank und hatte den Kopf auf die Fäuste gestützt. Vor ihm stand ein Krug Wein, dem er weitere folgen zu lassen gedachte. Seine Bronzerüstung lag in einer Ecke seiner Schlafkammer neben der von Bobby Travers, und jetzt trug er ein am Hals offenes blaues Hemd zu unauffälligen Hosen. Selbstverständlich hatte er versucht, nach Ra zurückzufinden, aber es war ihm nicht gelungen. Immer wieder wanderte er durch City Prime von Brorkan, aber selbst die Kinder und die Hühner musterten ihn merkwürdig. Bobby Travers war nett zu ihm. Er war ein junger Mann mit einem etwas trotzigen Mund und Kinn, aber er schien Tulley zu mögen. »Sie werden bald hier sein, Roy«, sagte er. »Mein Bruder
ist zwar ein Ekel, und wenn er mit Wayne beisammen ist, dann geht es immer ziemlich haarig her. Aber sie lassen uns in den Dimensionen nicht verrotten.« »Ich bin deiner Contessa ja Dank schuldig und dir auch, aber ich will zurück…« Das war tagein, tagaus sein Lied. »Dazu brauchst du aber einen Porteur, Roy.« Darüber, daß er selbst über solche Kräfte verfügen könnte, schwieg er sich lieber aus. Irgendwie hatte er Angst, davon zu sprechen. »Oder ein Porvone-Lebens-Portal, ein PLP«, fuhr Travers fort. »Sie ziehen damit ja eine ganz schöne Schau auf. Die Schiffe von Durostorum und die Jäger von Jundagai werden Augen machen, wenn Wayne mit seinen Burschen ankommt!« »Ja«, sagte Tulley und wußte nicht, wozu er »ja« gesagt hatte. »Und du bist wirklich überzeugt, Graham Pike nie gesehen zu haben?« »Nie. Mein Posten ist hier, um den Fluchtapparat zu vervollständigen. Ich erwarte aber keinen Ärger. Es müßte alles glattgehen, weil die von Durostorum und Jundagai nichts von den Dimensionen wissen. Brorkan weiß aber davon. Ein wundervoller Arbeitsplatz für uns.« »Die Leute scheinen sich aber nichts daraus zu machen.« »Die Leute interessieren uns auch nicht. Hier zählen nur die Burgherren, die Slikitters und die dimensionalen Händler.« Zwei Wochen waren vergangen, und nichts hatte sich gerührt. Er machte sich Sorgen um Oolou. Sie durfte nicht sterben! Travers hatte ihm versprochen, daß Wayne und seine Männer mit diesem PLP zurückkehren würden, das ein Gerät ähnlich dem zu sein schien, das die Tob’kliaks benützt hatten; auch die Porteure sollten dabei sein. Und so würden sie ihm helfen, nach Ra und zu Oolou zurückzukommen. Und Oolou… Nein, Oolou durfte nicht sterben… Von Bobby Travers erfuhr Tulley auch, was geschehen war, seit er Brorkan verlassen hatte. Wayne war beauftragt worden, ein Porvone-Lebens-Portal zu besorgen, und einer der Kahnführer der Contessa sollte das andere Ende des Portals sichern und alles nach Durostorum bringen. Hatte die Contessa erst ein PLP, dann wäre alles anders. Leider wußte Travers nichts von Graham Pike oder Poylee. Nach über einem Monat Wartezeit wurde auch Travers
ungeduldig. Aber plötzlich fuhr ein Landrover vor der Freundlichen Maus vor, gefolgt von einem dreiachsigen Panzerwagen, aus dessen Turm eine 40-mm-Kanone und ein bulliges Gesicht herausschauten. »He, Bobby, laß all deinen Kram zurück und hüpfe an Bord! Die Hölle ist los! Wir müssen sofort weg von hier!« Im Landrover saß ein Mann in blauem Hemd, der einen roten Schal um den Kopf geschlungen hatte. Neben ihm hockte ein Mann mittleren Alters, der sehr müde aussah und kahlköpfig war und ein sackähnliches Gewand anhatte. Auf dem Rücken war ein großes offenes Auge eingestickt. Er hatte einen Eisenkragen um den Hals, von dem eine glitzernde Kette zum dritten Mann im Landrover führte. Der trug ein braunes Hemd und Hosen mit schmalen roten Streifen. Sein Gesicht sah hart aus, und Tulley überlief es kalt, als er diese Augen bemerkte. Ganz hinten hockte noch ein Wesen; es sah aus wie ein Frosch und hatte keilförmige rasierte graugelbe Wangen mit blauen Schatten. Das Wesen trug rötliche Rüstungsteile und einen Helm, von dessen Spitze ein Stück getrockneter Haut mit Haaren wehte. Die Kreatur hielt einen Speer aufrecht vor sich und klammerte sich mit der anderen Hand an ein Schwert. »Aha, du hast noch keinen Honschi gesehen, was?« fragte Travers lachend. »Die sind ganz in Ordnung. Der Contessa treu ergeben, gute Soldaten und so. Feuerwaffen und Energiegewehre dürfen sie allerdings nicht haben. Verstehst du?« Der Wirt jammerte seiner Rechnung nach, die, wie Travers ihm zurief, von der Contessa bezahlt werden sollte. Aber schließlich warf er ihm doch einige goldene Münzen zu, als sie ihre Sachen aus dem Gasthaus holten. Und dann fuhren sie auch schon. Der Mann mit dem Eisenkragen sagte wenig später etwas zum Fahrer, der kräftig hupte, und dann verschwand er im Panzerwagen. Er verschwand einfach. Tulley war aufgeregt. Eigentlich müßte er doch an der Stelle, wo der Panzerwagen verschwand, ein Licht gesehen haben. Ja, die Andeutung eines Lichtschimmers hatte er auch bemerkt, nur besaß dieser keinen grünlichen Rand. Und dann spürte Tulley etwas, das ihm wie ein Tritt in die verlängerte Kehrseite vorkam, und in diesem Moment folgte der Landrover dem Panzerwagen. Sie rollten durch einen Wald mit einem Bach im Hintergrund, und die Maschinen verursachten kaum Lärm. Der
Mann neben Tulley brachte eine schwere Automatic zum Vorschein, und die Kanone im Turm des Panzerwagens schwang von einer Seite zur anderen. »Hört mal«, sagte Tulley. »Ich wollte ja eigentlich in eine ganz andere Richtung. Kann mich euer Porteur nicht nach Ra durchschieben?« »Keine Zelt jetzt«, erwiderte Travers ernst. »Aber Ra kannst du von jeder Dimension aus erreichen, die ein Tor dafür hat. Jetzt mußt du warten, bis wir in Sicherheit sind.« Sie durchquerten noch einige Dimensionen – Wüsten, Steine und Farmland, und dann glaubte Tulley für einen Augenblick sogar, wieder in Ra zu sein. Doch dann sah er die See. Grau und in langen Wellen reichte sie von einem Horizont zum anderen. Sie folgten einer Fahrspur, die am schmalen Strand entlangführte und der Linie von Dünen und Klippen folgte. Der Himmel war trüb und grau, aber Tulley bemerkte hoch oben eine rasche Bewegung. Auch der Fahrer bemerkte sie und schrie vor Entsetzen. Ein Felsblock löste sich und rollte auf die Fahrspur herunter; das geschah fast lautlos, und der Stein traf den Panzerwagen über dem Mittelrad. Der Wagen kam von der Spur ab und verschwand im nächsten Moment im Meer. Ein paar Blasen stiegen auf. »Was, zum Teufel, ist da los?« schrie Bob Travers. »Und ich dachte, das sei eine sichere Dimension?« Der Mann in der braunen Kleidung schoß mit seiner Automatic auf die dunkle, rennende Gestalt oben am Hügelkamm. Und da kam auch schon der zweite Felsbrocken herunter. Der Fahrer gab Gas, so daß der riesige Stein platschend in die See stürzte. Auch Bobby schoß nun, aber die dunklen Gestalten rasten den Hügel herunter. Sie sahen aus, als trügen sie Schuppenpanzer, von denen grünliche und purpurne Lichter reflektiert wurden. Sie schienen mit Dreizackgabeln ausgerüstet zu sein. Und dann bog der Landrover von der See ab und raste landeinwärts; Tulley bemerkte noch, daß ein Dreizack flog, aber der Wagen hopste so, daß ihm fast Hören und Sehen verging. Erst als sie die Fischleute hinter sich hatten, sah er, daß dem Porteur ein Dreizack im Hals steckte, der auf geradezu unanständige Art federte. »Laß ihn hinausfallen, Zeppi«, sagte der Mann neben Tulley.
»Ein toter Porteur nützt uns nichts.« »Wie sollen wir jetzt durch die Dimensionen kommen?« schrie Travers. »Wir sehen zu, möglichst schnell zur Contessa zu gelangen«, versprach der Fahrer. »Hoschoo«, sagte plötzlich der Honschi. Da bemerkten sie erst, daß auch ihn ein Dreizack getroffen hatte, den er sich selbst aus der Wunde zog. Sein grünliches Gesicht war noch grüner als vorher, und sein Kopf pendelte schlaff hin und her. Dann kippte der Honschi plötzlich über den Wagenrand und blieb als lebloser Haufen auf dem Gras liegen. »Diese Fischteufel wissen, wo sie einen treffen müssen. Im Hals nämlich«, sagte Chriva gehässig. Und in diesem Moment fiel Tulley wieder Oolou ein, die einen Pfeil im Hals stecken hatte… Er mußte unbedingt nach Ra zurück und, wenn möglich, irgendwie auch Graham Pike wiederfinden. Tulley wußte zwar, daß er so etwas wie die Kräfte eines Porteurs besaß, aber wie er sich dieser Kräfte bedienen sollte, ahnte er nicht einmal. Irgendwie fürchtete er diese Kraft, die ihn zu einem Monstrum stempelte. Aber wenn er mit ihrer Hilfe nach Ra zurückkehren könnte, würde er sie bedenkenlos einsetzen – Monstrum oder nicht.
15. »Wayne und Charnock müßten da sein«, sagte Chriva und fuhr noch ein wenig schneller. »Sobald sie mit der Contessa zusammentreffen und wir sicher im Lager sind, können wir zusammenpacken und nach Irunium heimkehren.« Tulley fielen die Kannibalenblumen im Moor ein, und wie Gelbhaar von der Diamantenstadt auf Irunium gesprochen hatte, ehe die Blume ihn gefressen hatte. »Ich will nach Ra, nicht nach Irunium«, sagte Tulley. »Klar, Roy«, antwortete Travers, der seine Automatic reinigte und bei jedem Hopser des Wagens in die Höhe schoß. »Die Contessa hat ja die besten Porteure aller Dimensionen. Ab und zu paßt es ihr, sie ein bißchen herumzuschicken.« Zeppi steckte einen Schlüssel in die Tasche zurück. Er hatte damit den Eisenkragen des Porteurs aufgesperrt; er wickelte die
glitzernde Kette um seinen linken Arm und schob den Kragen in die Tasche. Den toten Porteur stieß er mit dem Fuß aus dem Wagen. Tulley fühlte sich wie ein Stein. Er schwieg und saß unbeweglich da. »Ihr Valcini schätzt die Porteure nicht genug, Zeppi«, sagte Chriva. »Ihr Akademiker seid dabei die allerschlimmsten. Lehrt Siegler denn nicht, daß jedes Werkzeug sauber und glänzend sein muß? Die Porteure sind ja auch ein Werkzeug für euch.« »Laß Siegler aus dem Spiel, Chriva.« »Gern. Ich freue mich auf Charnock. Der hatte Glück, weil er nach Durostorum durfte.« »Je früher wir nach Hause kommen, desto besser«, maulte Travers. »Mein Bruder schuldet mir etliche hundert Dollar in Gold. Er würde sich besser beeilen, sie mir zurückzuzahlen.« Diese Leute waren Abenteurer zwischen den Dimensionen, und sie versuchten auf ihre Art, das Geschick des Honschi und des toten Porteurs zu vergessen, denn auch ihnen würde eines Tages das gleiche blühen. Der Fahrer sprach so, als habe er das Leben bereits soweit durchschaut, daß er es verachten könne. Tulley sah ihn genauer an und bemerkte an dessen Ohren, von denen goldene Ringe hingen, hellere Flecke, als seien sie mit etwas bedeckt gewesen, so daß sie von der Sonne nicht ganz gebräunt werden konnten. »Wir sind bald im Tal«, versicherte Chriva dem ungeduldigen Travers. »Der Plan für die Rückkehr nach Durostorum klappte nicht ganz, und da mußten sie über Jundagai gehen. Deshalb brauchte man dich nicht. Je eher wir aber von dieser Dimension Faddafreyev wegkommen, desto lieber ist’s mir.« »Durostorum wäre viel einfacher gewesen, weil das Portal direkt über dem Gasthaus Zur Freundlichen Maus liegt.« Die weiten Flächen der Grasebenen erinnerten Tulley an Ra, wo sich auch die weite Ebene von einem Horizont zum anderen erstreckte. Nur der unmittelbare Vordergrund war anders. »Da ist ja das Tal«, sagte Chriva. »Die See liegt direkt dahinter.« Sie fuhren jetzt über das spuren- und weglose Gras. Ein Pavillon kam in Sicht, der teilweise hinter Felsen verborgen war. Zwei der Kahnführer der Contessa traten vor und hielten ihre Waffen auf den Landrover gerichtet. »Montevarchi!« schrie Chriva. »He, Goltan, Quendal, wir sind
hier!« Die beiden Kahnführer traten an den Wagen heran und sahen das Blut und den grünen Lebenssaft des Honschi. Ihre Mienen zeigten deutliche Angst. »Wo ist der Panzerwagen, der Porteur, der Wächter?« fragten sie. Chriva sah verlegen drein. »Diese frechen Fischleute haben uns aus dem Hinterhalt überfallen. Wir haben sie verloren.« »Diese Fischleute bringen uns noch alle um«, sagte der eine Wächter. »Die Contessa… Ich werde ihr die Nachricht nicht überbringen.« »Ich auch nicht«, wehrte sich der andere sofort. »Was ist denn los?« fragte Chriva. »Schnell, erzählt doch!« Goltan, der eine Kahnführer, schaute zu Boden. Was er dann sagte, überraschte Tulley. »Stecke deine Ohren an, Chriva. Wenn du der Contessa so nachlässig gekleidet unter die Augen kommst, wird sie vermutlich einen Honschi holen, der dir sofort den Kopf abschlägt.« »Unsinn!« fuhr Chriva auf. »Was ist denn passiert?« Aber er nahm aus seiner Tasche ein Paar Spitzohren aus flexibler Plastik, die er über seine eigenen Ohren schob. »Wir kommen nicht zu Wayne und Charnock durch. Die Xlotls, diese Fischmenschen, haben sie umzingelt. Wir wissen nur, daß sie kaum mehr Munition haben, und sie können nicht ausbrechen.« »Das ist doch nicht zu glauben! Und was ist mit euren Kräften?« »Soloman…« Ein Valcini in braunem Hemd und brauner Hose kam vom Pavillon gelaufen. »Geh lieber gleich hinein. Chriva, wenn dir dein Leben lieb ist, dann beeile dich!« Zeppi fluchte entsetzlich auf Siegler und Ottor und vielsilbige Ungeheuer. Dann fuhr der Landrover an, am Pavillon vorbei und über eine Felsschulter ins Lager. Es bestand aus etwa sechs Zelten und einer rauchlosen Kochgrube. Honschi sah Tulley nicht. Chriva sprang aus dem Wagen; Leute rannten vorbei, und es herrschte ein richtiges Durcheinander. »He, Roy!« Tulley riß es ordentlich, als er Graham Pikes Stimme vernahm, und er sprang sofort aus dem Landrover. Frauen schrien, Staub wirbelte auf, aber alles war bedeutungslos, als er nach Pikes kräftigen Armen griff. »Gray, du alter Pferdedieb! Bin ich froh, daß dir’s gutgeht!« »Dank der Contessa. Das ist ein wunderbares Mädchen, Roy.
Einfach fabelhaft! Wenn sie nicht wäre, würde ich auf Jundagai schon längst verrotten!« Sie erzählten. Dann tingelte ein goldenes Glöckchen, und alle schwiegen und starrten zu einem Seidenzelt hinüber, von dem sich die Klappe hob. Eine Frau kam heraus. Als Tulley sie sah, geschah etwas erschreckend Merkwürdiges mit ihm. Sein ganzes Innere tat einen Satz, als hätten sich seine sämtlichen Batterien im Tempel von AmounRa auf einmal in sein Rückenmark entladen, in seine Gedärme, in die letzte Zelle seines Gehirns. Sie trug eine weißseidene Robe, die bis auf den Boden fiel. In ihrem kunstvoll frisierten dunklen Haar funkelten Juwelen. Ihr weißes, glattes Gesicht wirkte sehr jung, und ihre violetten Augen leuchteten verführerisch! Ihr Rosenknospenmund war süß und rot. Sie überfiel Tulley geradezu, so daß er den Atem anhalten mußte. Ein Schmerz brannte wie ein Stich unter seinen Rippen. Mit einer geistesabwesenden Geste rieb sie das linke Handgelenk mit der rechten Hand. Ihre Stimme war glatt sie Syrup. »Was soll dieser Lärm?« Dann sah sie Chriva und Zeppi. Sie lächelte, und die Sonne ging auf. »Ah! Ihr seid also zurück. Dann können wir wieder portieren.« Chriva kniete nieder und senkte den Kopf. »Nein, Contessa, es tut mir leid. Der Porteur… Die Fischleute haben ihn umgebracht. Wir konnten nichts tun. Ein Hinterhalt. Und auch die Wächter…« Sie runzelte die Brauen, und die Sonne verschwand hinter Eiswällen. »Der Porteur ist tot? Das ist nicht möglich! Ich bin die Contessa Perdita Francesca Cammachia di Montevarchi, und solche Dinge passieren mir nicht. Und nicht in meinen Dimensionen! Du bist ein Lügner. Sag, daß du lügst.« Wie betäubt schüttelte Chriva den Kopf. »Es ist so, Contessa…« Sie stieß mit dem Fuß zu, und der Mann rollte auf die Seite. Dann hob sie die Hände wie zu einem Fluch. Eine Todesahnung hing über dem Tal. Lange starrte sie auf den im Staub liegenden Chriva. »Ich will dich nicht töten lassen, Chriva, denn du bist ein loyaler Kahnführer. Deshalb wirst du bereit sein, dein Leben einzusetzen, wenn wir gegen die Xlotls kämpfen, denn das ist nun unsere einzige Rettung.« Zeppi, der sich im Hintergrund gehalten hatte, atmete
erleichtert auf. Chriva kam taumelnd in die Höhe. »Ich diene der Contessa di Montevarchi mit einer Ergebenheit, die keiner in Frage stellen darf. Ich werde kämpfen…« Doch das interessierte die Contessa schon nicht mehr. Sie kehrte ins Zelt zurück, und als sie verschwunden war, gingen auch alle anderen. Pike zog Tulley mit sich. »He, Roy, wir warten darauf, daß die Leute der Contessa uns in eine andere Dimension bringen. Wir sind hier gestrandet.« Das berührte Tulley nicht. »Vergiß nicht, Gray, daß ich auch zwischen den Dimensionen gestrandet bin.« »Na, vielleicht. Aber die Contessa kann niemand schlagen. Sie wird einen Weg finden, uns nach Irunium zu bringen.« »Nach Irunium, Gray?« »Natürlich. Das ist eine fabelhafte Dimension, Roy. Die Contessa hat dort eine Organisation, die die größten Kapitalisten unseres Landes vor Neid erblassen ließe.« »Mir wäre jetzt aber ein Schluck und ein Happen lieber. Dann kannst du mir erzählen, was dir alles passiert ist.« Als sie dann Wein tranken, erzählten sie. Pike hatte die Delikatessen Frankreichs auf der Erde und eines Dutzends anderer Dimensionen gekostet. Dann kam Poylee dazu, und Roy küßte sie vor Wiedersehensfreude. Sie lächelte und setzte sich zu ihnen. »Wir glaubten nicht, daß wir dich wiedersehen würden«, fuhr Pike fort. »Corny fand einfach das Portal nicht mehr. Auch Wayne versuchte es. Nun, Corny kam dann um, und mich fing man und verkaufte mich als Sklaven nach Jundagai. Das war nicht angenehm. Man benützte mich als Jagdbeute in einer für reiche Nichtstuer veranstalteten Jagd, und ich mußte dauernd rennen, weil andere mit Flinten hinter mir her waren. Das war einfach entsetzlich.« Nun, solche Dinge hatte Tulley denn doch nicht erlebt… »Und dann sah ich Leute, denen ich zurief, sie sollten mir helfen, die Contessa würde es ihnen vergelten. Einer der Männer ließ einen Hund los, der mich in ein Bein biß. Und da kam durch ein Portal die Contessa und erschoß die Hunde, die Jäger und Rov Rangga, den Jagdherrn, und ich war gerettet. Damals hatten wir viele Porteure, aber ein paar undankbare Mädchen, die sie auf der Akademie ausgebildet hatte, liefen
davon. Sie hießen Zelda und Jorine. Dann hatten sie nur noch einen Porteur namens Harllon. Selbst Charnocks Porteur, ein Monstrum namens Gangly, war durchgebrannt.« Ja, so war es. Leute, die die unschätzbare Gabe hatten, Menschen und Material durch ein Portal zu bringen, wurden »Monstrum« genannt. »Die Contessa war sehr gut zu Poylee und mir.« »Bist du einer ihrer Kahnführer?« »Noch nicht. Ich will der Contessa aber dienen. Man kann dabei viel Beute machen, Roy, und unmenschlich reich werden. Du solltest sehen, welche Steine die Contessa aus ihren Minen ausgraben läßt. Mensch, dir würden die Augen aus dem Kopf fallen!« »Und«, fügte Poylee hinzu, »die Paläste hier sind wundervoll. Dieser Luxus! Zu Hause in Queran gibt es so etwas nicht. Ich war dort gar nicht glücklich, und das Leben in Irunium mit Gray oder auch in einer anderen Dimension ist genau das, was ich brauche. Ja, ich will auch der Contessa dienen.« »Na, die hat ja auf euch allerhand Eindruck gemacht«, stellte Tulley fest. Es ließ sich leider nicht ableugnen, daß auch er… »Wenn wir nicht die Fischleute besiegen und Harllon erreichen, haben wir auch keinen Porteur. Im Lager bei Wayne gibt es auch kein Portal. Aber die Contessa wird schon eine Möglichkeit finden. Und erzähle du jetzt, wie es dir ergangen ist.« Das tat Tulley, doch er sagte nichts davon, daß er glaubte, selbst die Kraft des Portierens zu besitzen. Vielleicht war alles doch nur Zufall gewesen… Und in dieser Nacht wurde er aus dem Schlaf gerissen und zur Contessa befohlen. Kein Licht brannte im ganzen Lager, aber als er den Vorraum des riesigen Seidenzeltes betrat, war dieses taghell erleuchtet. Die Contessa saß auf einem mit Leopardenfell bezogenen Diwan. Ein kupferhäutiger halbnackter Sklave reichte Wein und Süßigkeiten, und das Parfüm war so stark, daß sich Tulley bald benommen fühlte. Von irgendwoher kam leise, sinnliche, im Augenblick erregende Musik, die man aber sofort wieder vergaß. Selbstverständlich wirkte die Szenerie auf Roy Tulley, den Empfindsamen. Er konnte seine Augen nicht mehr von der Contessa nehmen. Auch die Prinzessin Nomee hatte er in einer ähnlichen Situation gesehen, nur hatte die eine häßliche Wunde
in der Seite. Er dachte auch an Lara und vor allem an Oolou, aber von da an hörte er für einige Zeit mit dem bewußten Denken auf. Die Stimme dieser Frau war leise, weich, sehr angenehm und schuf eine intime Atmosphäre. Der Wein schläferte Tulley ein. Noch nie hatte er eine Frau gesehen, die intensiver lebte, mehr versprach, geheimnisvoller wirkte und eindeutiger einlud als die Contessa. »Gray hat mir von deinen Abenteuern in Ra erzählt, Roy. Du scheinst dort eine gute Zeit gehabt zu haben. Gray hatte nicht soviel Glück.« »Sie haben ihn gerettet, und das werde ich nie vergessen…« »Ah, Roy, ich freue mich, daß du dankbar sein kannst. Ich bin von Leuten umgeben, die mir das Wenige verweigern, um das ich sie bitte. Ich bin eine Frau, Roy, und muß meine Kräfte und Fähigkeiten so gut wie möglich einsetzen. Die Schwierigkeit allein, meine Minen in Irunium zu leiten… Aber ich wollte nicht über mich reden. Dieser Idiot Corny hat dich nach Ra geschickt, nicht wahr?« Er nickte. »Und wer hat dich nach Brorkan zurückgebracht?« Hm. Das war eine überaus verfängliche Frage. Er stotterte, wand sich, riß sich zusammen. Sie saß halb über ihm, sah ihn an, beugte sich zu ihm hinunter, näher, immer näher, bis er von ihrem Duft und ihrer weiblichen Ausstrahlung wie vergiftet war. Er hob die Arme, doch sie lachte und zog sich zurück. »Ich mag dich, Roy, denn du bist ein Mann. Ich brauche einen starken Mann, auf den ich mich verlassen kann. Ich muß nach Hause zurückfinden und Hilfe aus meiner eigenen Dimension anfordern…« Er schüttelte den Kopf. Er schwitzte und hatte einen dicken Klumpen in der Kehle. »Aber ja, Roy! Ich weiß es doch. Soloman weiß es. Er ist sehr krank. Aber er fühlt einen anderen Porteur, wenn ihm einer in die Nähe kommt. Und du bist in seiner Nähe, Roy!« »Soloman? Ich verstehe nicht…« »Roy, nicht viele Menschen besitzen diese wundervolle Gabe, wenn sie auch in vielen latent vorhanden ist. Sie erfahren ihr Leben lang nichts davon. Ich erinnere mich eines Mannes namens Robert Infamy Prestin, den ich einmal um Hilfe bat. Er behandelte mich so infam, wie sein Name sagte, auch seine Freunde David
Macklin, Alec Macdonald, Fezium, Scobie Redfern – sie alle hassen mich und wollen mich vernichten.« »Aber ich hasse Sie doch nicht, ich liebe…« »Seht! Soloman wird dir helfen. Ich weiß, du kannst es tun. Es muß getan werden. Du, Roy Tulley, bist ein Porteur! An dir hängt nun unser aller Schicksal. Du wirst uns alle von dieser Dimension nach Hause zurückportieren!«
16. In einer Ecke des mit Vorhängen abgeschlossenen Alkovens des Seidenzeltes hockte ein lächerliches Wesen in rotsamtenen Kleidern und einer blauen Samtkappe, deren glänzende Feder an der Spitze abgebrochen war. Obenauf lag das von einer Spitzenrüsche umgebene eiserne Halsband, und eine leichte, glitzernde Kette schlängelte sich wie eine Natter über den Teppich. Der verschrumpelte Körper war zugedeckt, nur der riesige Kopf blieb frei. Ein innerer Druck schien ihn sprengen zu wollen. Entgeistert und seiner eigenen Gefühle höchst unsicher starrte Tulley das groteske Wesen an. Die Contessa tauchte ein Tuch in eine Wasserschale und wischte damit den Schädel des Wesens ab. »Soloman, mein kleiner Soloman, sprich doch zu mir. Geht es dir wieder besser? Oh, Soloman, das kannst du mir doch nicht antun!« Das von Alter und Erfahrung geschrumpfte Gesicht zuckte, und die dunklen, geheimnisvollen Augen schlossen sich. »Soloman, der Latente ist hier! Er will uns helfen. Lehre ihn deine Kunst, ein bißchen davon wenigstens. Nur durch ihn können wir nämlich zurückkehren, und dann besorgen wir die besten Ärzte aller Dimensionen und dir besten Medizinen für dich. Soloman, mein lieber Soloman, höre mir zu und hilf mir!« »Ja… er ist… ein Latenter…«, wisperte Soloman mühsam. »Er kann… portieren…, wenn er… lernen will…« »Roy, Soloman ist der größte Porteur aller Dimensionen. Du mußt ihm aufmerksam zuhören, damit du von ihm lernst. Dann wirst du uns alle in Sicherheit bringen.« Dann ging sie, und Tulley war, als sei ein Licht erloschen. Er beugte sich über den kleinen Mann und wischte ihm mit dem
feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn. »Kannst du das Portal hier im Lager fühlen?« »Hä?« fragte Tulley und blickte sich um. Er sah keinen Lichtfleck, keinen kühlgrünen Schimmer. »Nein«, antwortete er. »Ah!« Auf den dünnen Lippen erschien Schaum, und Tulley wischte ihn ab. »Versuche es. Neben deinem linken Fuß. Es ist ein großes Portal, eine Tür nach Uphasarum. Du mußt es fühlen können.« »Nein, nichts.« »Sag mir, was du fühlst.« Das erzählte Tulley. Soloman stöhnte. »Und du kamst von Ra?« »Ja.« »Und deine eigene Welt, deine Dimension?« »Erde.« Soloman stellte noch viele Fragen, und Tulley spürte ihren Ernst und antwortete ebenso ernst. Wenn er schon ein Mutant war, dann wollte er auch ein guter sein. »Ich kann dir helfen, Roy Tulley; meine eigene Kraft ist durch meine Krankheit geschwächt. Aber durch dich… Ra, sagtest du?« Er rollte die Augen und atmete mühsam, als sei er in Trance, und sein Körper zitterte. »Und jetzt läute«, sagte er nach einer Weile. Ein kupferhäutiges Mädchen glitt herein, sah Soloman an und verschwand wieder. Fünf Minuten später kam die Contessa. »Nun, mein kleiner Soloman, ist es gelungen?« »Er ist ein polarisierter Porteur. Von der Erde, wo er geboren ist, nach allen anderen Dimensionen. Und zurück zur Erde von allen Dimensionen aus. Auch von Ra. Aber sonst nirgends.« »Nein, das ist nicht möglich!« rief die Contessa. »Das kann ich nicht zulassen!« Sie war sehr blaß, und sie sah Tulley mit ihren violetten Augen so vorwurfsvoll an, daß er sich seines Versagens schuldhaft bewußt wurde. »Ich muß aber zu Wayne und Charnock durchkommen, denn sie haben ein Porvone-Lebens-Portal! Das muß und will ich haben! Ich habe zu viel eingesetzt, als daß ich jetzt einen Mißerfolg ertragen könnte! Die Porvone wissen nicht, was ich getan habe, und sie dürfen es auch nie erfahren. Du mußt einen Weg zurück durch die Dimensionen finden! Du mußt!« »Nach Ra…«, wisperte Soloman. Seine ganze Kraft war dahin. »Graham hat mir erzählt, du bist der Chef eines großen Heeres in Ra. Ihr habt viele Wagenkämpfer.« Er nickte, und sie schüttelte
Soloman. »Soloman, mein kleiner Soloman, schnell, sage mir, wo ist das nächste Portal nach Ra? Es muß ganz nahe sein. Soloman, sage es doch, sage es schnell!« Langsam und unter Aufbietung seiner letzten Kräfte sprach Soloman. »Es gibt… ein Portal nach Ra. Zwei Meilen weg… Ich spüre es ganz schwach… Es muß groß sein… Ich könnte es sonst nicht mehr fühlen…« »Zwei Meilen!« Stolz richtete sich die Contessa auf. »Soloman, du bist der beste Porteur aller Dimensionen! Du bist wundervoll, mein kleiner Soloman!« Schnell erteilte sie die nötigen Befehle. Der Landrover mit Chriva als Fahrer, dem vollbewaffneten Graham Pike, Soloman auf einer Bahre, Roy Tulley in seiner Bronzerüstung der Wagenkämpfer von Ra – und natürlich der Contessa raste aus dem Tal hinaus. Tulley blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken, aber ein Gedanke ließ ihn doch nicht los: Was hatte die Contessa von ihm verlangt? Sie war eine großartige Frau, die Lara, Nomee und Oolou in sich vereinte. Sie war ganz und ausschließlich Frau. Aber sie verlangte von ihm, er müsse die Wagen von Ra ihr dienstbar machen. Sie verlangte diese hart erarbeiteten Wagen von Ra, die sie durch die Dimensionen fahren sollten. Sie verlangte, daß er diese Streitkraft, dieses wundervolle Heer, ihr zur Verfügung stellte, und sie wollte damit machen, was sie wollte! Selbst Pike war sich darüber im klaren. »Der Contessa dienen, das ist das höchste Ziel dieser Dimensionen, Roy! Das mußt du doch einsehen«, redete er ihm zu. »Sie ist…« Tulley schüttelte den Kopf. »Wie sollen meine Wagenkämpfer Hyktros besiegen können, wenn sie im Kampf gegen die Xlotls vernichtet werden?« fragte er. »Wie kann ich ihnen zumuten, einer Fremden zu dienen, wenn es um den Schatz von AmounRa geht, den sie zurückholen wollen? Gray, ich kann und darf sie nicht schamlos betrügen!« »Das ist doch kein Betrug, Mensch, und sie werden sich wieder erholen. Du kannst den Schatz zurückholen. Er ist ja auch kein materielles Ding.« »Es ist auch nicht materiell, was du von mir verlangst…« Der Landrover holperte durch eine weite Grassee, die nicht die Ebene von Ra war. Tulley prägte sich genau die Richtung ein. Sie
entspräche einem Fluß abwärts in Ra, auf die Zwillingsstadt zu. Ach, wie schwierig war doch die Entscheidung! Er schalt sich selbst einen Verräter… »Ich kann nicht, Gray. Ich kann einfach nicht!« »Aber denke doch daran, daß Poylee und ich gestrandet sind. Wir waren doch so lange Freunde, Roy. Jetzt kannst du mich doch nicht einfach verlassen?« Tulley wußte, daß die Wagenkämpfer nur auf ihn warteten und alles tun würden, was er verlangte, denn sie hatten das von AmounRa empfangene Zeichen nicht vergessen. Die Contessa schien alles gehört zu haben, denn sie wandte sich süß lächelnd zu Tulley um. »Denke doch an den Stolz deiner Wagenkämpfer, Roy! Diese Fischleute sind Infanterie, sie haben nur ihre Dreizacks, ihre Speere und Netze, laufen auf Flossenfüßen und werfen ihre Speere mit Flossenhänden. Ihre Körper haben Schuppen und stinken nach Fisch. Ist es ihr Recht, daß sie mich daran hindern, meine Aufgabe in den Dimensionen zu erfüllen? Sagt dir dein Blut nicht, was du zu tun hast, Roy Tulley? Bin ich nicht eine Frau, und verdiene ich nicht deine Hilfe und Treue eher als sonst jemand in allen Dimensionen?« Ja, seine Wagenkämpfer konnten es schaffen. Ein schneller Überfall, ein Pfeilregen – beim Allmächtigen Pegu, es konnte gelingen! Fangar würde sicher mittun und seine Wagen und Reiter gegen jene in den Kampf werfen, die die Contessa aufzuhalten versuchten. »Na, schön, wir werden es tun«, seufzte er schließlich. »Ich hoffe nur, daß wir noch rechtzeitig kommen, denn jetzt müßten die Streitkräfte von Ra gegen die eigenen Feinde zu Felde ziehen.« Dann hielt der Landrover, und die Contessa reichte Tulley eine merkwürdige Waffe, die jener der Tob’kliaks glich. »Kämpfe für mich, Roy! Greife mit all deinen Wagen an. Wenn du der Contessa Perdita di Montevarchi dienst, dienst du viel höheren Zielen als denen, die du kennst.« Dann sprach sie leise mit Soloman. Tulley sah das Portal – ein grelles, weißes Licht mit einer grünlichen Aura. Und es war ein großes Portal. Er raffte alle Kraft in sich zusammen, wie Soloman es ihn gelehrt hatte, und dann wußte er trotzdem nicht, wie alles geschah. Er fühlte nur einen kurzen, heftigen Schmerz; sein Geist schrumpfte und weitete sich, er fühlte eine unkörperliche Zeit – und dann stand er wieder
auf der großen Ebene von Ra mit dem Fluß Oo, dessen Wasser an die Ufer schlugen, und ihm entgegen stürmten die Wagenkämpfer von Hamoun-Apen. So hatte die Contessa es geplant, und genauso war es gekommen. Fangar brachte seinen Wagen zum Stehen. »Roy!« schrie er. »Roy!« Es war früher Morgen, und die letzten Sterne verblaßten am Himmel. Das Stampfen der Hufe kam immer näher, und die Wagen knarrten ein wenig. Man hatte eben das Nachtlager abgebrochen. »Oolou!« schrie Tulley, als Fangar aus dem Wagen sprang. »Oolou! Wo ist Oolou?« »Sie war schwer verletzt, aber sie wird wieder gesund. In Hamoun erholt sie sich unter Laras persönlicher Fürsorge. Aber du… beim Allmächtigen Pegu, wir dachten schon, du seist über die eiszähnigen Zitzimmas hinausgeraten!« »Nun, so ähnlich war es ja auch.« Roy Tulley erzählte Fangar, was er inzwischen erlebt hatte. Nichts verschwieg, nichts beschönigte er. »Und wenn wir der Contessa helfen, Fangar, dann wird sie auch uns helfen. Das hat sie versprochen, und ich habe ihr versprochen…« Fangar starrte ihn entgeistert an. »Hast du vergessen, was dem Volk der Schatz des AmounRa bedeutet, Roy? Das hier ist für eine Weile unsere Heimat, bis wir das getan haben, was wir uns vornahmen, Roy.« Tulley schluckte heftig und kaute am versteckten Vorwurf des Verrats herum. »Ich weiß, Fangar. Aber da ist auch Gray Pike mit Poylee. Sie sind auch gelandet. Und Wayne ebenso. Sie haben uns geholfen, Fangar, und jetzt müssen wir ihnen helfen.« Fangar strich sich den Bart, dann nickte er. »Du hast dieses Wagenheer geschaffen, Roy. Das vergesse ich niemals. Und du hast diesen Leuten ihre Selbstachtung, ihr Selbstvertrauen wieder zurückgegeben. Sie sind dir einiges schuldig.« Er lachte. »Fischleute, sagst du? Infanterie? Die haben wir sofort. He, du dort! Natunza und die Generäle sollen sofort kommen, und rufe Lenoum herbei!« Bronzetrompeten schickten ihre Rufe durch das Morgengrauen, und die Generale versammelten sich. Alle dankten AmounRa für Tulleys Rückkehr. Lenoum hätte ihn am liebsten umarmt. doch
dann besann er sich und brachte ihm einen wundervollen Salut dar. Tulley erzählte ihnen, was zwischen ihnen und dem Kampf gegen Hyktros lag. »Wenn wir die Fischleute besiegt haben, nehmen wir uns mit noch blutigen Schwertern die Hyktrosianer vor. Wir sind uns der göttlichen Hilfe von AmounRa sicher, das weiß ich. Er wird Blitz und Donner schicken, um uns zu helfen. Seht!« Tulley gab einen Schuß aus seiner Energiewaffe ab. Ein Purpurblitz schoß heraus, verbrannte das Gras und ließ das Wasser des Oo als Wolke in die Luft steigen. »Seht!« Sie stimmten ihm zu. Man ließ rasch einen Wagen für ihn kommen, der von einem vollbusigen Mädchen mit stählernen Muskeln gefahren wurde. Mit ein paar Worten berichtete Fangar seinem Freund, daß Ratha vom Schwarzen Haar und Jezd gesund und munter seien, und Torozei entkommen war, die Freunde aber unverletzt blieben. Und dann stand Tulley neben dem Portal. Soloman half ihm. Er schickte die Wagen in kleinen Gruppen durch, aber nach einiger Zeit wurde der bohrende Schmerz so unerträglich, daß er schon das Durchschleusen unterbrechen wollte. Doch plötzlich ließ der Schmerz nach, und Tulley bekam Spaß an dieser Arbeit. Immer schneller ging es, und den Schluß bildete er mit seinem eigenen Wagen. Über ihnen hing der düstere Himmel von Faddafreyer. Sie schlugen die Zügel über die Rücken der Nagare und drängten vorwärts. Vier volle Köcher hingen an Tulleys Wagen, und sechs scharfe Speere und drei Bogen hatte er. Innen an der Wagenverkleidung waren noch etliche Bronzeschwerter befestigt. Sein eigenes Schwert war dabei. Und dann hatte er die Purpurstrahlwaffe der unbekannten Dimension. Und so raste er mit seiner eigenen ihm treu ergebenen Garde hinter dem Landrover drein. Sie waren eine stolze, von ihrem Sieg überzeugte Streitmacht. Bald sahen sie das Lager der Xlotls vor sich. Die Fischmänner stellten sich mit ihren Waffen auf, und ihre Speere und Dreizacks funkelten im ersten Frühlicht. Sie formten Regimenter und Divisionen. Vom Wagenheer erschollen Bronzetrompeten. Die äußeren Regimenter schwärmten weit aus, die Mitte mit Tulley stürmte
vorwärts. Das war die Taktik der Wagenkämpfer, die mühsam erarbeitet und ausgefeilt worden war. Erst unmittelbar vor den Linien der Fischmänner brachen sie nach links und rechts auseinander, und aus den Wagen schoß ein Sturm an Pfeilen. Dreizacks flogen zu kurz. Schreie gellten. Und zahllose Pfeile dezimierten die überraschte Infanterie. Aber Tulley stellte natürlich fest, daß die Pfeile nicht ewig reichen konnten. Er legte den Bogen weg und zog die Energiewaffen. Die ließ er die feindliche Reihe entlang spielen. Sie löste sich in ein Nichts auf, und als die Waffe leergeschossen war, griff er wieder nach dem Bogen. Endlich begannen die Fischmänner zurückzugehen. Nun hörte Tulley auch Gewehrschüsse. Wagen rasten den Fliehenden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach, und zahllose Pfeile rissen große Lücken in die schuppigen Massen. Ein Fischgesicht wurde von den Rädern seines Wagens überrollt. Dann waren sie in der Menge der Geschlagenen. Tulley warf den Bogen weg und griff nach einem Speer. Die Nagare rasten immer weiter und ließen sich von nichts aufhalten. Unaufhörlich schwang Tulley seinen Speer. Dann sah er vor sich eine grobe Barrikade, die aus Erde, Bündeln und Ballen bestand. Dahinter schossen Männer mit Gewehren. Er sah Wayne, der in seiner schwarzen Rüstung noch riesiger wirkte als sonst; er schoß hinter den fliehenden Fischmännern drein. Dann sah er noch einen braungesichtigen Mann mit einem riesigen schwarzen Bart, und der schwang ein riesiges Zweihänderschwert. »Beim Schwarzen Naspurgo, die Contessa hat es wieder einmal geschafft! Sie hat wieder Hilfe von den Dimensionen geholt!« Ein Zwerg mit bronzefarbener Haut und fuchsrotem Haar saß mit blutigen, bandagierten Beinen auf einem Bündel und feuerte einen Colt .45 ab. »Jawohl, Charnock! Die Dimensionen spucken direkt die Wunder aus!« »Hör zu schreien auf und schieß lieber!« bellte ihn Wayne an. Tulley wich einem Dreizack aus, stach mit dem Speer zu und jagte weiter. Der Fischmann kreischte nur und fiel rücklings um. Fangar flog in seinem Wagen vorbei, und ihm folgte die Kavallerie auf Nageren. Es sah großartig aus, wie sie mit eingelegten Lanzen dahinsprengten. Tulley griff wieder zum Bogen, da einige Fischleute versuchten,
die Barrikaden zu erklettern. Einer drängte sich sogar hinter dem bärtigen Riesen durch, der den Zweihänder schwang. Daneben hackte ein bis zu den Hüften nackter, breitschultriger, muskulöser Riese mit einer langen Axt um sich, und der schrie jetzt eine Warnung. »Hinter dir, Charnock!« Charnock wirbelte herum, und ein getroffener Fischmann taumelte zurück. Doch immer mehr kamen nach; Dreizacks flogen, und der Mann mit der Axt wurde von einem getroffen. Dessen bärtiges Gesicht drückte unheimliche, rasende Wut aus. »Mensch, Lacey, hinter dir sind sie auch!« brüllte Charnock. Lacey schwang seine Axt, wich einem Dreizack aus und stolperte. Gleichzeitig traf aber seine Axt, doch immer mehr Fischmänner quollen hinter den Barrieren heraus. Charnock und Lacey kämpften nun Rücken an Rücken. Dann schwang Tulley seinen Wagen herum und schickte seine Pfeile in die Schuppenleiber. »Danke, Kamerad!« rief der Mann Lacey. Er salutierte mit seiner langen Axt. Tulley sah, daß sie ein dänisches Fabrikat war. Und dann raste Tulley schon wieder weiter den Flüchtlingen nach. Später traf er an den Barrikaden mit Fangar, Pike, Wayne, Charnock und den anderen zusammen. Der Landrover wurde von einem strahlenden Chriva herangefahren. Bobby Travers sprang heraus, rannte auf Wayne zu und brüllte. Die Contessa entschwebte dem Auto in einem Wirbel weißer Roben, und sie kam schnurstracks auf Tulley zu. Sie lächelte ihn verführerisch an, und in ihrem Lächeln lag die Süßigkeit des Honigs sämtlicher Dimensionen. »Roy, das hast du großartig gemacht! Aber mein armer Soloman ist bewußtlos, doch er wird sich wieder erholen. Wayne!« Jetzt wurde ihr Ton scharf. »Endlich sind wir wieder vereint. Und du, Charnock…« Unter den am Boden liegenden Bündeln erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie schaute lange und genau hin. »Na, dann hast du mir endlich doch noch das PLP gebracht. Das ist gut. Damit hast du vieles wieder gutgemacht. Und jetzt ruft Harllon herbei. Wir wollen nach Irunium zurückkehren.« Pike hatte Poylee seinen Arm um die Hüfte gelegt. »Roy, das ist ja kaum zu glauben«, sagte er. »In Sharon zu Hause würden sie’s uns nicht abnehmen, wenn sie uns jetzt so sähen!«
Wayne unterhielt sich mit Bobby Travers. »Dein Bruder ist umgekommen, Bobby. Ich konnte nichts tun. Er wurde von einem elenden Schnüffler namens Cy Yancey erschossen. Dadurch wurden wir ja auch aufgehalten – von diesem Yancey und seinem Begleiter. Der hieß Olan. Sie nahmen die Mädchen Zelda und Jorine mit. Ich weiß nicht, wohin sie kamen und wo sie jetzt sind, aber ich hoffe, Siegler möge sie in der Hölle verrotten lassen!« »Mein Bruder«, flüsterte Bobby Travers traurig. »Er ist tot.« »Siehst du, Roy, wir haben viele Feinde in den Dimensionen.« Die Contessa schien noch gewachsen zu sein, und sie barst fast vor Vitalität. Und die Männer, die sie nacheinander ansah, schienen vor ihr zusammenzuschrumpfen. »Du hast mir gut gedient, Roy. Das werde ich dir nie vergessen; du und dein Freund Pike – durch euch beide bin ich in der Lage, wieder nach Irunium zurückzukehren…« »Und ich muß meine Wagen wieder nach Ra zurückbringen«, antwortete Tulley. Er musterte die Contessa nachdenklich. Sie hatte sich ein wenig verändert; sie hatte die schmachtende Schwüle verloren, und jetzt fühlte er deutlich die Härte des Diamanten dort, wo er sie am wenigsten vermutet hätte. »Kommst du denn nicht mit nach Irunium?« fragte Pike eifrig. Er lachte Poylee an. »Denke doch an deine Zukunft!« »Ich muß meine Wagen zurückbringen, Gray.« »Kannst du das allein tun, Roy?« Das sagte die Contessa so, als sei sie tatsächlich daran interessiert. »Wenn es dir gelingen sollte, dich durch die Dimensionen nach Irunium durchzuschlagen, dann bist du jederzeit willkommen, Roy. Und du, Gray, sollst bei mir einen Ehrenposten erhalten; du und deine Poylee.« »Das werde ich natürlich versuchen, und wenn es das letzte ist, was ich je tun kann«, versprach Roy Tulley eiligst. Natunza war inzwischen herangefahren. »Du befehligst das Heer, Natunza. Die Verwundeten werden eingesammelt. Wir gehen zurück, und der Schatz des AmounRa wird bald unser sein!« »Nimm wenigstens die Strahlenwaffe mit, Roy«, sagte Pike. »Nein, vielen Dank. Wir verlassen uns auf unsere Bogen und Pfeile und auf unsere Wagen. Damit können wir die Hykrosianer besiegen. Keine Angst!« Fangar strich seinen Bart. »Das können wir, beim Allmächtigen Pegu, das können wir! Erst müssen wir aber unsere Ausstattung erneuern. Wir brauchen große Mengen von Pfeilen und Speeren,
viele Bogen und Wagen. Dieses Zwischenspiel war doch ein ziemlicher Rückschlag für uns…« »Ja, vielleicht. Aber unsere Leute wissen nun, daß sie siegen werden. Sie haben ja selbst gesehen, was die Wagen von Ra vollbringen können. Und das war jetzt erst der Anfang.« »Aber, Roy…«, sagte Graham Pike erstaunt und bekümmert. »Leb wohl, Gray. Wir werden uns sicher wieder einmal sehen.« Er gab seiner Wagenlenkerin Latha ein Zeichen, und sie ruckte an den Zügeln der Nagare. Mit wehenden Federn fuhr der Wagen an, und die Bronzebeschläge schimmerten. Tulley hob eine Hand. »Lebt wohl!« rief er. Und dann verschwand Roy Tulley aus dieser Welt in jene Dimension, in der er noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Er kehrte zurück zu den Wagen von Ra.
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