Buch: Stella, der Fee und Regentin des Rosa Reichs, droht Gefahr und mithin dem ganzen Land. Mark, der Lügner, Dieb und...
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Buch: Stella, der Fee und Regentin des Rosa Reichs, droht Gefahr und mithin dem ganzen Land. Mark, der Lügner, Dieb und Betrüger, hat das Ver trauen der Zauberin erschlichen. Unter dem Vorwand ihr stets zu Dien sten zu sein, bringt er sich heimlich in den Besitz ihrer Zauberkünste und missbraucht diese. Doch Stella, obwohl in ein Bäumchen verwandelt, lebt weiter. Mit Hilfe des Mädchens Jessica nimmt sie den Kampf gegen Mark auf, hilft dem Scheuch und dem tapferen Löwen aus ihrer Not und auch allen anderen Freunden, die Gäste der großen Feier sein wollten und schließlich Opfer der falschen Fee wurden. Spannung und Abenteuer in reichem Maße bietet der vierzehnte Band der Zauberland-Reihe.
Nikolai Bachnow
Die falsche Fee
Aus dem Russischen von Aljonna und Klaus Möckel Einbandgestaltung und Illustrationen von Hans-Eberhard Ernst
© LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt GmbH 1. Auflage 2000 Leipzig Satz und Repro: XYZ-Satzstudio, Naumburg Druck und Binden: Offizin Andersen Nexö Leipzig Printed in Germany ISBN 3-89603-061-2
Erster Teil Der Mann am Baum
EIN HILFERUF Stella, die gute und schöne Fee, ritt auf ihrem Ross Eschno über Land. Als Herrscherin des Rosa Reiches wollte sie von Zeit zu Zeit mit eigenen Augen sehen, wie es um ihr Volk stand, ob die Leute glücklich oder un zufrieden waren. Sie besuchte Dörfer und Städte, mischte sich verkleidet unter die Menschen und unterhielt sich mit ihnen. Auch diesmal hatte sie wieder mit Handwerkern und Kaufleuten gesprochen, Fischer und Bau ern bei der Arbeit beobachtet. Sie hatte allerhand erfahren und sich über zeugt, dass es den Leuten gut ging. Darüber freute sie sich. Eschno, ein silbergrauer Hengst mit weißer Blesse, trabte gemächlich dahin. Wie stets hatte er seine Herrin über Hügel und durch Täler getra gen, er war ausdauernd und schnell. Man konnte sich mit ihm auch un terhalten, denn wie alle Tiere im Zauberland beherrschte er die mensch liche Sprache. Allerdings redete er manchmal etwas zu viel, hatte sogar einen Hang zum Philosophieren. »Unsere Reise hat sich gelohnt«, sagte die Fee und Eschno wollte gera de ausführlich antworten, da wurden sie aufgestört. Ein lauter Klageruf erscholl aus einiger Entfernung. Es war ein langgezogenes, schrilles »Hi ilfe! So helft mir doch!«
Die Fee brauchte Eschno nicht erst aufzufordern, er jagte von ganz al lein los. In gestrecktem Galopp stürmte er querfeldein zu einem Wäld chen mit Buchen und Eichen. »Hilfe!«, ertönte es wieder, »zu Hilfe!« Sie setzten über niedriges Buschwerk und drangen in das Wäldchen ein. Die Rufe kamen von weiter hinten und schnell hatten die beiden eine dicke Eiche erreicht, bei der sich ihnen ein verblüffendes Bild bot. Von einem Ast hing, an den Füßen festgebunden und mit dem Kopf nach unten, ein schmächtiger Bursche. Er mochte neunzehn oder zwan zig Jahre alt sein, hatte geflickte Kleider an und borstiges braunes Haar. Er zappelte und bog sich, weil er mit den Händen nach oben oder we nigstens an den Baumstamm gelangen wollte. In seiner unglücklichen Lage stieg ihm das Blut zu Kopf, besser gesagt, es drängte abwärts, so dass er knallrot im Gesicht war. Eschno machte schnaubend Halt und Stella rief: »Was um Himmels willen ist dir armem Kerl zugestoßen? Wer hat das getan?« »Räuber«, würgte der Bursche hervor. »Sie haben mir alles weggenom men. Bindet mich rasch los, bitte!« Die Fee murmelte ein paar Worte und berührte den Burschen mit ih rem Zauberstab. Sofort lösten sich nicht nur die Stricke von seinen Fü ßen, er schwebte auch, mit den Beinen nach unten, sanft zu Boden. »Wer bist du?«, fragte Stella. »Erzähle, wie das passiert ist.« »Bist du eine Zauberin?«, wollte der junge Mann seinerseits wissen. Er schien verblüfft. »Etwas Ähnliches, aber ich pflege nichts Böses zu tun. Du brauchst al so keine Angst vor mir zu haben. Berichte jetzt.« »Nun ja, wie soll ich beginnen…« Der Bursche war ganz offensichtlich noch geschwächt und durcheinander. »Ich heiße Mark und bin, wie ihr an meinen Kleidern seht, nicht gerade reich. Wir wohnen in den Bergen, in einer kargen Gegend. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch sehr klein war, der Vater brachte die Familie gerade mal so mit dem Flechten von Weidenkörben durch.«
»Das muss ein wackerer Mann sein«, sagte die Fee, »denn bestimmt bist du nicht das einzige Kind.« »Ganz und gar nicht. Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern. Weil ich der Älteste bin, musste ich übrigens von zu Hause weg. Der Platz in unserer Hütte reichte hinten und vorn nicht mehr. Ich habe meine Sie bensachen zusammengepackt, meinen Stock genommen und einen Beu tel mit ein paar Kupfermünzen eingesteckt, die ich im Laufe der Jahre gespart hatte. Vater schenkte mir noch ein Silberstück, seinen einzigen Schatz. Aber dann haben mich diese Banditen überfallen.« Marks Stim me klang kläglich. »Banditen hier, ich bin erstaunt«, mischte sich Eschno ein. »Die Be wohner unseres Landes werden Schwätzer genannt, weil sie ein munteres Mundwerk besitzen, doch Raub und Mord sind ihnen fremd. Wie sahen die Wegelagerer denn aus?« »Sie waren kräftig, zerlumpt und hatten struppige Bärte«, erwiderte Mark. »An mehr erinnere ich mich nicht, es ging alles so schnell. Viel leicht kamen sie von jenseits der Grenze.« »Das könnte sein, die Grenze ist nicht weit von hier«, stimmte die Fee zu.
»Jedenfalls haben mir diese Schufte alles weggenommen, auch die kleinste und schäbigste Münze.« Mark zeigte seine leeren Taschen. »Und was willst du nun tun?«, fragte Stella. »Ich werde in die Hauptstadt gehen und um eine Anstellung am Hof unserer Herrscherin bitten. Bei ihr kann ich bestimmt eine Menge lernen. Vielleicht habe ich Glück.« Ein sonderbares Glitzern zeigte sich in Marks Augen. »Wenn du dich bei unserer berühmten Herrscherin bewerben willst, musst du Klugheit, Zuverlässigkeit und Geschick in vielen Dingen beweisen«, wandte Eschno skeptisch ein. »Ihr kennt euch in der Hauptstadt wohl gut aus?«, fragte der Bursche. »Ja, ein wenig«, erwiderte Stella, die nicht verraten wollte, wer sie war. »Aber die Worte meines Pferdes sollten dich nicht hindern, dein Glück zu versuchen. Und damit es dir etwas leichter wird, nimm dieses Gold stück. Du kannst dir dafür etwas zu essen und bessere Kleidung kaufen.« Sie gab Mark eine Münze, die der Bursche, überrascht von so viel Großmut, mit unterwürfiger Geste und einem »Dankeschön, vielen tau send Dank« entgegennahm. Dann klopfte sie Eschno zum Zeichen des Aufbruchs gegen die Flanke und sprengte in schnellem Galopp davon.
MARK ENTPUPPT SICH An den Hof zurückgekehrt, rief Stella ihre Ratgeber und wichtigsten Diener zusammen. Sie berichtete von ihrer Reise und erteilte die not wendigen Anweisungen, damit hilfsbereite Menschen in ihrem Land belobigt, bedürftige unterstützt werden konnten. Sie schilderte auch den Vorfall mit Mark und ordnete Ermittlungen an, um die Schuldigen zu finden. Als alles in Gang gebracht war, gab sie sich erst einmal der ver dienten Erholung hin. Eschno allerdings hatte Zweifel an der Darstellung des Burschen. Zwar konnte er nicht leugnen, dass Mark am Baum gehangen hatte, in einer Lage, die unzweideutig schien, doch etwas an dem jungen Mann gefiel ihm nicht. Wenn er an den Hof kommt, werde ich ihn im Auge behalten, dachte das Pferd.
Tatsächlich tauchte Mark wenige Tage später in neuer, aber nicht prot ziger Kleidung in der Stadt auf und bewarb sich bei Hof. Er tat sehr verwundert, als er in Stella die Frau wiedererkannte, die ihn in jenem schlimmen Augenblick von seinen Qualen erlöst hatte, doch dem Pferd schien dieses Erstaunen gespielt. Bestimmt hatte der Bursche schon da mals begriffen, wen er vor sich hatte. Stella dagegen vertraute Marks Worten und bot ihm zunächst eine nie dere Arbeit an. Da er sich jedoch in der Küche und im Garten tollpat schig anstellte, beschäftigte sie ihn schließlich in ihrer Bibliothek. Denn obwohl der Bursche, wie er erzählt hatte, aus armem Haus stammte, konnte er lesen und schreiben, kannte sich recht gut in der Literatur des Rosa Landes aus. Am Ende machte ihn Stella, die noch nie einen so wissbegierigen und tüchtigen Bibliothekar gehabt hatte, sogar zu ihrem Sekretär. Nur ein Raum war Mark, wie auch allen anderen Dienern, verboten: die Kammer, in der die Zauberbücher lagen. Sie war mit fünf Schlössern gesichert, die Schlüssel verwahrte Stella in ihrem Zimmer auf. Im Grun de befürchtete sie freilich nicht, dass jemand in die Zauberkammer ein dringen könnte, denn erstens hatte das seit Jahrhunderten kein Mensch gewagt und zweitens genügte es nicht, die Zauberformeln zu lesen. Sie wirkten nämlich nur, wenn sie auf bestimmte Art miteinander verknüpft wurden. So bedeutete zum Beispiel »Kifax kito horitek« für sich allein genommen genauso wenig wie »Korani dreimal kataprista«. Sagte man aber: »Kifax dreimal kataprista, horitek korani kito«, so konnte, wer dazu einen Zauberstab schwang, aus einer Katze einen Tiger machen oder umgekehrt. Bei »Kataprista kito kifax« wurde aus einem Baumstamm ein Krokodil, bei »Dreimal horitek korani« aus Sand beste Schlagsahne und so weiter. All diese Kombinationen hatte die Fee im Kopf, denn als Kind hatte sie die Formeln endlos pauken müssen. Nur wenn sie jetzt, da sie schon älter war, etwas vergaß, stieg sie in den untersten Keller hinab, wo, wie derum hinter fünf Schlössern, neben einem Ersatzzauberstab die Perga mentrolle lag, auf der alles festgehalten war. Aus diesen Gründen schien es ganz unmöglich, dass ein Unbefugter sich ihre Zauberkunst aneignete, und das war auch gut so. Was hätte ein
Bösewicht anrichten können, wenn ihm der Trick gelungen wäre, jegli ches Brot in Stein zu verwandeln oder die Nachbarn in Fledermäuse. Einmal, vor Jahren, hatte Stella einen Lehrling gehabt, einen gewissen Pet Riva, und obwohl der ein guter Mensch gewesen war, hatte schon er eine Menge Schaden angerichtet. So leid es der Fee damals getan hatte, sie musste ihn vorzeitig aus der Lehre entlassen. Er war dann Fischer geworden und half den Leuten bisweilen durch das, was bei ihm an Zau berei hängen geblieben war. Aber noch jetzt verwechselte er die Formeln und man war nie sicher, ob mit seiner Hilfe nicht alles noch schlimmer wurde. Der Hengst Eschno, als er eines Tages auf der Wiese einem Kaninchen mit Schweinerüssel begegnete, eine Missbildung, unter der das kleine Tier sehr litt, erinnerte sich auch sofort an jenen Pet und dachte, er sei ins Rosa Land zurückgekehrt. Doch das Kaninchen versicherte ihm, kein alter Fischer habe ihm das angehext, sondern ein junger, gut gekleideter Mann. An der Beschreibung erkannte das Pferd unschwer Stellas Sekre tär Mark wieder. Der Mann heuchelt Unterwürfigkeit und Treue, dachte Eschno, doch er hat etwas ganz anderes im Sinn. Er plant irgendeine Gemeinheit. Offenbar kennt er einige Zaubertricks. Warum hat er uns nie davon erzählt? Ein paar Tage später verwandelten sich einige Apfelbäume im Schloss garten in fleischfressende Pflanzen, denen mehrere Vögel und sogar eine Katze zum Opfer fielen. Niemand begriff, wie das hatte geschehen kön nen, lediglich Eschno hegte einen Verdacht. Aber diesmal fehlten alle Beweise und so wagte es das Pferd noch nicht, Stellas Vertrauten anzu klagen. Die Fee wiederum begnügte sich damit, die Bäume zurückzuver wandeln. Auf den Gedanken, dass Mark die Schlüssel sowohl zur gehei men Kammer als auch zum untersten Keller entwendet und nachge macht hatte, kamen beide nicht. Doch genauso verhielt es sich. Mark war keineswegs der freundliche und harmlose junge Mann, für den er sich ausgab. Zwar stimmte, dass er aus einer kinderreichen Familie stammte, doch die hatte auf vieles ver zichtet, um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Er hatte es ge dankt, indem er immer mehr Geld verlangte und sich zu guter Letzt mit den wenigen Ersparnissen der Eltern aus dem Staub machte. Danach war es ihm freilich nicht besonders gut gegangen. Als Spieler und Betrü
ger hatte er sich recht und schlecht durchgeschlagen und dafür mehr als einmal Prügel bezogen. Dann hatte er von Stellas Zauberkünsten gehört und einen teuflischen Plan gefasst. Wenn es ihm gelang, nur einen Teil ihrer Tricks zu erlernen, würde er bestimmt reich und mächtig werden, sich jeden Wunsch erfül len können. Am besten wäre es, die Fee ganz auszuschalten, damit sie ihm nicht in die Quere kommen oder ihn gar bestrafen konnte. Mark wusste, dass es nicht leicht sein würde, an Stella heranzukom men, deshalb ließ er sich etwas Besonderes einfallen. Nachdem er gehört hatte, dass die Fee öfter über Land ritt, spionierte er nicht nur ihre Wege aus, er opferte auch seine letzten Kupfermünzen, damit ihn ein ehemali ger Kumpan genau in dem Augenblick verkehrt herum am Baum fest band, da sie in der Nähe vorbeikam. Gewandt, wie er war, hätte er sich durchaus selbst befreien können, wäre der Plan misslungen. Doch alles klappte und dem gewitzten Gauner fiel es nicht schwer, die Arglosigkeit der Fee auszunutzen. Zu Hilfe kam ihm, dass sie sich gerade auf eine wichtige Staatsangelegenheit konzentrieren musste. Ein Jubilä um nahte: vor tausend Jahren war die Hauptstadt des Rosa Landes ge gründet worden und Stella wollte ein großes Fest ausrichten. Sie war ganz damit beschäftigt, all ihre Freunde im Zauberland: den Weisen Scheuch, den Eisernen Holzfäller, den Tapferen Löwen, das Mädchen Jessica von jenseits der Weltumspannenden Berge und viele andere ein zuladen. Mark bekam die entsprechenden Briefe diktiert, so dass er über alles Bescheid wusste. Das Fest erforderte viel Vorbereitung und um manches musste sich die Fee selbst kümmern. Deshalb war sie häufig mit und ohne Eschno un terwegs, bestellte Dekorationen, prüfte neue Stoffe, verhandelte über die Abfolge des Festmahls und die Unterbringung der Gäste. Mark nutzte ihre Abwesenheit aus, um sich mit den Zauberbüchern in aller Ruhe zu befassen. Zwar wagte er es nicht, sie zu stehlen – man hät te es merken können, bevor er die wunderbare Feenkunst beherrschte –, doch er schrieb alles auf, was ihm wichtig schien. Insbesondere kopierte er die Hinweise auf der Pergamentrolle.
Zwischendurch machte er sich mit großer Heimlichkeit ans Experi mentieren. Er versuchte Wasser in Wein zu verwandeln, Baumäste in Würmer und Schlangen. Manches ging zunächst schief. Einmal hexte er eine Spinne herbei, die ihn ins Bein biss, so dass er drei Tage lang nur humpeln konnte, und als er ein Kaninchen zum Fuchs machen wollte, wuchs dem Mümmelmann stattdessen ein Rüssel. Anfangs amüsierte sich Stellas Sekretär köstlich über das Tier, dem durch diese ungewohnte Belastung ständig der Kopf nach unten rutschte, doch dann begriff er, wie weit er noch von seinem Ziel entfernt war. Außerdem hatte er nicht mehr viel Zeit. Wenn es dem Hengst Eschno, der ihm von Beginn an unfreundlich begegnet war, erst gelang, die Fee gegen ihn einzunehmen, konnte er seine Pläne vergessen. Ich muss das argwöhnische Ross aus dem Weg schaffen, sagte sich Mark, aber so, dass niemand einen Verdacht schöpft. Ich darf es weder versteinern noch in ein anderes Tier verwandeln, denn im zweiten Fall könnte es mich verraten, im ersten wäre es eine Art Denkmal und würde Fragen auslösen. Am besten, ich entledige mich seiner ganz. Ich muss nur überlegen, wie ich es machen soll.
ESCHNOS VERSCHWINDEN Eines Morgens, als Eschno ruhig auf der Weide graste, näherte Mark sich ihm von hinten, ununterbrochen die schreckliche Formel: »Kadelera Hexenohr, stirb, verdirb im tiefsten Moor« vor sich hin murmelnd. Es war ein Zauberspruch, den Stella einst gleichfalls hatte lernen müssen, den sie aber sofort wieder vergessen hatte. In seinen wichtigen Teilen war er dem grusligsten ihrer Spukbücher entnommen. Der Sekretär machte dabei sein freundlichstes Gesicht. Falls der Hengst sich ihm zuwandte, wollte er ihn nicht durch eine finstere Miene verschrecken. Das Pferd hatte ihn allerdings schon von weitem entdeckt und spreng te, noch bevor Mark etwas sagen konnte, unlustig davon. Es wollte mög lichst wenig mit diesem Mann zu tun haben. »Bleib stehen, wir zwei müssen miteinander reden«, rief Stellas Sekre tär. Sein Spruch wirkte nur aus der Nähe. »Du hext den Kaninchen Rüssel an, du verwandelst Apfelbäume in fleischfressende Pflanzen. Ich werde nicht mit dir reden, sondern mit meiner Herrin. Du hast dich in ihr Vertrauen eingeschlichen, doch ich werde ihr die Augen öffnen.« Eschno hielt sich vorsichtig in einiger Ent fernung.
»Wer hat dir nur eingeredet, dass ich hinter diesen Gemeinheiten stek ke«, erwiderte Mark scheinheilig. »Ich verstehe doch gar nichts vom Zaubern. Da sind fremde und finstere Kräfte am Werk, die wir gemein sam bekämpfen sollten.« »Fremde und finstere Kräfte? Dich hat das Rüsselkaninchen beschul digt, also versuch nicht, dich herauszureden.« »Das arme Tier ist durch seine Verwandlung ganz wirr im Kopf«, rief Mark. »Glaub mir, ich bin unschuldig. Denkst du, ich würde durch derlei Kinkerlitzchen meine gute Stellung bei der Fee aufs Spiel setzen?« Eschno ließ sich durch solcherlei Reden nicht täuschen, kam aber et was näher. Und vielleicht wäre er trotz allem in die Falle gegangen, hätte in diesem Augenblick nicht der Koch nach Mark gerufen. Er wollte sich mit dem Vertrauten der Fee über das Mittagsmenü beraten. Unwillig ließ Mark von seinem Vorhaben ab – er musste auf eine ande re Gelegenheit warten. Dich krieg ich schon noch, dachte er. Da Eschno sich nicht gleich entschließen konnte, mit Stella über den Fall zu spre chen, sondern erst noch Beweise sammeln wollte, hatte er Zeit, einen neuen Anlauf zu nehmen. Zupass kam ihm dabei, dass unvermutet jener Kumpan im Schloss auftauchte, der ihn damals am Baum festgebunden hatte. Er hieß Nedwin und hatte die Belohnung für seine Tat längst durch die Gurgel gejagt. Nun verlangte es ihn nach mehr. Schließlich bekleidete sein Bekannter eine hohe Stellung am Hof. Mark war dieser Besuch zunächst gar nicht recht. »Bist du verrückt, hier zu erscheinen«, fuhr er Nedwin an. »Wenn man dich bei mir sieht, könnte man glauben, ich würde mit sonstwem verkeh ren.«
»Mit sonstwem? Spricht man so von alten Freunden? Wenn ich beden ke, was du mir zu verdanken hast.« »Na gut, du hast mir einen Gefallen getan«, gab Mark zu. »Aber das Ri siko lag ganz bei mir und ich habe dich bezahlt. Was willst du noch?« Nedwin verzog grinsend sein breites Gesicht. »Bezahlt? Dass ich nicht lache. Hätte ich gewusst, welche Karriere du durch meine Hilfe machst, hätte ich eine ganz andere Belohnung gefor dert. Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend.« »Du willst Geld?«, fragte Mark. »Einige Goldfüchse musst du schon springen lassen.« Mark kam ein Gedanke. Dieser unverschämte Gauner würde sich wundern. Doch vor her konnte man ihn vielleicht für die eigenen Pläne einspannen. Er murmelte: »In Ordnung, ich will nicht knausrig sein. Der Beutel mit Gold hier soll dir gehören, wenn du mir einen weiteren Dienst erweist. Einen beschei denen Dienst, der nur ein bisschen Verschwiegenheit erfordert.« Er klimperte mit einem kleinen Lederbeutel voller Münzen. »Verschwiegenheit, das klingt nach einem guten Geschäft.« Der Kum pan grinste erneut. »Was soll ich tun?«
Mark senkte die Stimme. Den Beutel als Anzahlung opfernd, erklärte er Nedwin flüsternd, was zu machen war. Am nächsten Morgen – Stella war mit Staatsangelegenheiten beschäf tigt – stapfte ein Bauer den Weg zur Wiese entlang, auf der sich Eschno tummelte. Es war Nedwin, der tat, als sei er auf dem Nachhauseweg. Er trug schwer an einem Korb voller weißer Zuckerblumen. Der Hengst näherte sich neugierig, denn Zuckerblumen, vor allem die weißen, die herrlich süß schmeckten, gehörten zu seiner Lieblingsnah rung. Nedwin setzte den Korb ab und wischte sich die Stirn. »Was für eine Last«, stöhnte er. »Am liebsten möchte ich den Korb auf der Stelle ausschütten.« »Das würden dir deine Tiere zu Hause gewiss verübeln«, sagte Eschno. »So ein prächtiges Futter gibt es nicht alle Tage.« »Auf meiner Wiese wächst genug davon«, behauptete Nedwin. »Meine Karnickel und der Esel haben es schon über. Wenn sie dagegen das saf tige Grün auf deiner Wiese sehen würden…« Der Hengst wunderte sich. »Wieso lässt du nicht deinen Esel den Korb tragen?«, wollte er wissen. »Mein Esel… äh…«, Nedwin begann zu stottern. »Er hinkt, hat sich einen Dorn eingetreten«, fügte er hinzu. Eschno überlegte. »Hast du es noch weit?«, fragte er. »Bis hinter den Wald.« Nedwin seufzte. »Ich schlage dir einen Handel vor«, sagte das Pferd. »Wenn du mir ei nen Teil deiner Zuckerblumen überlässt, trage ich dir den Korb bis hin ter den Wald. Außerdem könntest du dein Futter mit dem saftigen Grün meiner Wiese auffüllen.« Nedwin hatte nur auf ein solches Angebot gewartet. »Das würdest du für mich tun?«, vergewisserte er sich scheinheilig. »Sonst würde ich’s ja nicht anbieten. Im Gegensatz zu deinen Tieren mag ich diese Blumen sehr.«
»Wenn es so ist, bedien dich ruhig«, erwiderte Nedwin und kippte den Korb zur Hälfte aus. Eschno konnte sich nicht länger zurückhalten, er langte kräftig zu. Während Nedwin vorgab, Gras für seine Kaninchen zu rupfen, schnurpste das Pferd mit vollem Maul. Unvermittelt aber wurde es schrecklich müde. Die Beine knickten ihm ein und es sank betäubt zu Boden. In diesem Moment trat Mark in Erscheinung, der sich den miesen Trick ausgedacht hatte. Den Ersatzzauberstab in der Hand, entwendet aus Stellas Keller, kam er hinter einem Gebüsch hervor. »Na, wie hab ich das gemacht«, rief ihm Nedwin entgegen. »Wenn das kein wirksames Schlafmittel ist! Eine ganze Tüte voll habe ich in das Futter gemischt.« »Schon gut, ich bin mit dir zufrieden«, erwiderte Mark, »aber stör mich jetzt nicht, sonst vergesse ich die Formel.« Und das Pferd mit dem Stab berührend, murmelte er seinen schrecklichen Spruch: »Kadelera Hexen ohr, stirb, verdirb im tiefsten Moor.«
Eine Flamme zuckte auf, schwarzer Rauch hüllte die Gruppe ein und als er sich verzog, war der Hengst verschwunden. Nur die beiden Män ner standen noch am Wiesenrand, neben dem halbvollen Korb und dem Haufen ausgekippter Zuckerblumen. »Alle Achtung«, sagte Nedwin, »das hast du einmalig sauber hinge kriegt.« »Wir sind noch nicht fertig. Wir müssen noch die Spuren beseitigen. Sammle das Futter wieder ein und trage es in den Wald.« »Kommandiere mich nicht so herum. Erst will ich mehr Geld.« »Du hast deine Anzahlung bekommen«, sagte der Sekretär ärgerlich. »Erst wenn die Arbeit ganz getan ist, erhältst du den Rest.« Doch Nedwin, der die rechthaberische Art seines Kumpans nicht lei den wollte, begann zu streiten. Bei dem, was er für Mark geleistet habe, sei die Anzahlung lächerlich gering gewesen, und bevor er den Rest erle dige, verlange er einen zweiten, größeren Beutel mit Goldstücken. Für jemanden, der zaubern könne, sei das doch kein Problem. Nedwin ereiferte sich, hätte seine Zunge aber besser im Zaum halten sollen. »Du hast Recht, für mich gibt es kein Problem«, rief Mark am Ende wütend. »Für dich dagegen durchaus, du wirst es gleich merken! Kande larix Krötensumpf, wandle dich zum Eichenstumpf!« Er schwang den Stab und erneut bildete sich eine große schwarze Wolke. Aus Nedwin aber war, kaum dass der Rauch sich verzog, ein alter, halb verrotteter Baumstumpf am Wegesrand geworden. Mark versetzte ihm einen Tritt. »Das hast du nun davon, du Narr. Wärst mir noch gefährlich gewor den.« Er spuckte aus und begann das Futter mit dem Schlafmittel einzu sammeln, das ihn hätte verraten können. Alles hat wunderbar geklappt, dachte er, jetzt bin ich so weit, dass ich die Fee selbst überrumpeln und ausschalten kann.
UNERWARTETE SCHWIERIGKEITEN
Doch das war nicht so leicht, wie er es sich im Überschwang seines er sten Triumphes vorstellte. Was würde zum Beispiel geschehen, wenn Stella, die als feenhaftes Wesen einen sechsten, ja vielleicht siebenten Sinn besaß, das Schlafmittel im Essen bemerkte und ihrerseits ihre Zau berkunst einsetzte? Mark zweifelte nicht daran, dass er dann den Kürze ren zog. Er musste unbedingt vermeiden, dass sie Verdacht schöpfte. Um weitere Erkundigungen einzuholen, führte er einige Gespräche mit dem Koch. Er gab vor, um Stellas Sicherheit besorgt zu sein. »Sie bewegt sich am Hof und in der Stadt so frei, als könnte ihr nie et was passieren«, klagte er. »Dabei gibt es bestimmt tausend Neider im Land, die ihr gern eins auswischen oder sogar ihren Platz einnehmen würden.« Der Koch lachte. »Du siehst Gefahren, wo keine sind. Unsere Herrin ist unverletzbar. Waffen oder Gift können ihr nichts anhaben.«
»Das beruhigt mich sehr«, erklärte Mark, obwohl ihm diese Auskunft gar nicht gefiel. »Trotzdem. Der fleischfressende Baum kürzlich im Gar ten zeigt, dass ringsum geheimnisvolle Kräfte vorhanden sind, die uns vielleicht schaden wollen. Schließlich befinden wir uns nicht irgendwo, sondern im Zauberland.« »Da magst du Recht haben.« Der Koch wurde nachdenklich. »Den noch ist die Fee auch in diesem Fall sicher. Zauberei kann ihr gleichfalls nichts anhaben, das weiß jeder am Hof. Diese Fähigkeit, genau wie ihre ewige Jugend, ist ihr noch von Hurrikap verliehen worden, dem Schöp fer allen Landes zwischen den Weltumspannenden Bergen.« Mark hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Mit solch einer Nachricht hatte er nicht gerechnet, sie traf ihn härter als jeder Faust schlag. Wie sollte er nun seine ehrgeizigen Pläne verwirklichen? Hatte er Stellas Pferd und seinen Kumpan etwa ganz umsonst aus dem Weg ge räumt? »Das habe ich nicht gewusst. Wenn es so ist, brauche ich mir wirklich keine Sorgen zu machen«, murmelte er und beendete schnell das Ge spräch. In sein Zimmer zurückgekehrt, warf er sich dann aufs Bett und biss vor Wut mehrmals ins Kissen. Das war für ihn schon früher ein Mittel gewesen, mit Zorn und Verzweiflung fertig zu werden. Erst am nächsten Morgen war Mark wieder in der Lage, klare Überle gungen anzustellen. Nein, ich gebe nicht auf, sagte er sich, auch der fe steste Panzer hat eine schwache Stelle. Ihm fiel ein, dass er früher, bei einem Streifzug durchs Land, einmal auf einen Einsiedler gestoßen war, der behauptet hatte, gegen jeden und alles ein Mittel zu kennen, sogar gegen übersinnliche Kräfte. Der Zufall wollte es damals, dass er diesem Mann, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, aus der Patsche half. Er hatte ihn aus einer Felsspalte gezogen, in die der Einsiedler gerutscht war. Ihn werde ich aufsuchen, dachte Mark, er ist mir noch etwas schul dig. Inzwischen hatte die Fee Eschnos Verschwinden bemerkt. Der Hengst war weder im Stall noch auf der Weide zu finden, keiner hatte ihn in den letzten Tagen gesehen. Obwohl mit anderen Dingen beschäftigt – so eben trafen die ersten Antworten auf ihre Einladungen zum Jahrtausendfest ein –, zeigte sie sich sehr besorgt.
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie zu Mark, »ist es in all den Jahren nur ein einziges Mal passiert, dass Eschno von der Weide fortlief. Er hatte sich mit einer Stute zusammengetan, die zu einem Bauernhof in der Nähe gehörte, und kam erst nach einer Woche wieder. Aber ich habe schon den Stallburschen hingeschickt. Dort ist er nicht.« »Dann wird er einem anderen Pferdefräulein den Hof machen«, gab der Sekretär zur Antwort. »Du solltest ihm nicht so viele Freiheiten las sen, er ist schließlich nur ein Vierbeiner.« »Eschno ist ein Freund und Gefährte. Hoffentlich ist ihm nichts zuge stoßen. Ich werde meine Diener ausschicken, um ihn aufzuspüren, wo immer er sein mag.« Mark warf sich in die Brust. »Wenn du dir schon solche Sorgen machst, lass mich nach ihm suchen. Ich weiß am besten, wie viel dir der Hengst wert ist, und werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zu finden.« »Nein, nein«, erwiderte die Fee, »die Vorbereitungen zum Fest sind in vollem Gange und ich brauche dich hier.« Doch Mark, der seine guten Gründe hatte, die Stadt zumindest für kurze Zeit zu verlassen, bedrängte sie so, dass sie am Ende nachgab. Keiner wäre wie er in der Lage, behauptete er, dem Pferd auf die Spur zu kommen, wenn es sich irgendwohin zurückgezogen hätte oder gar ent führt worden sei.
»Also gut«, sagte Stella, »nimm zwei Tage frei und bring meinen treuen Eschno zurück. Bist du übermorgen aber noch nicht wieder da, schicke ich die Stallburschen und Diener los.« Der Sekretär verlor keine Zeit, er brach sofort ins Gebirge auf, wo der Einsiedler wohnte. Keinen Gedanken verschwendete er an Eschno, der nach seiner Meinung bestimmt längst im Moor ertrunken war. Der Weg zur Hütte des Alten jedoch war nicht leicht zu finden. Mark erinnerte sich nur noch an zwei kantige Felsbrocken am Fuße eines bewaldeten Hügels, hinter denen ein Pfad zu einer armseligen Behausung führte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er diese mächtigen Findlinge plötzlich vor sich sah. Er stieß auf den Pfad und schritt hügelan. Da stand die Holzhütte zwi schen Büsche geduckt; sie kam ihm mit ihren schiefen Wänden noch erbärmlicher vor als damals. Ihr Bewohner dagegen hatte sich kaum ver ändert. Sein Bart war genauso struppig, sein Gesicht rotgebrannt und sein Körper wie eh und je in Felle gekleidet. Er saß vor dem Haus auf einer Bank und blickte Mark entgegen. Stellas Sekretär blieb vor ihm stehen. »Ich grüße dich, Alter«, sagte er. Der Einsiedler erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken. »Wer bist du, Fremder, und was führt dich hierher?« »Erkennst du mich nicht wieder?«, fragte Mark. »Ich bin’s doch, dein Retter. Es ist zwar schon eine Weile her, aber du kannst kaum vergessen haben, dass ich dich dort hinten aus einer Felsspalte befreite.« »Stimmt, das habe ich nicht vergessen. Damals wäre ich fast verdurstet und verhungert.« »Na siehst du.« Mark fühlte sich bestätigt. »Und heute statte ich dir nun einen Besuch ab.« Der Alte zeigte sich wenig erfreut. »Wer mich besucht, tut das nicht ohne Grund. Er will etwas von mir.« Mark lachte.
»Sei nicht so misstrauisch. Ich möchte nur eine Auskunft und die ko stet dich nichts. Im Gegenteil, ich bin bereit, dafür zu zahlen. Außerdem – habe ich mich seinerzeit etwa lange bitten lassen, als du Hilfe brauch test?« »Es gibt Auskünfte, die kosten nichts und sollten doch hier drin ver wahrt bleiben«, der Einsiedler klopfte sich gegen den Kopf. »Aber wenn du nun einmal hier bist, komm in die Hütte und nimm Platz. Du sollst nicht sagen können, der Alte aus den Bergen sei undankbar.« Sie traten ein und Mark erschien der rußige Raum noch winziger als früher. So kleine Zimmer war er nicht mehr gewohnt. Er quetschte sich auf die Ofenbank. »Hier, trink«, sagte der Einsiedler und stellte ihm einen Krug mit einer braunen schäumenden Flüssigkeit hin. »Was ist das?« »Bier aus den Säften des wilden Apfelbaums. Trink!« Der lange Weg hatte Mark durstig gemacht, er nahm einen tiefen Zug. Das Bier war frisch. Es schmeckte säuerlich, aber nicht schlecht. »Du willst also etwas über Stella wissen«, stellte der Alte fest. Mark war verblüfft. »Wie kommst du darauf?« »Ich schaue ins Licht und ich blicke in den Schatten«, erwiderte der Einsiedler, »ich lausche dem Wind und höre auf den Regen. Mir fliegt so manches zu, was anderen verborgen bleibt.« »Ich denke, du erkennst mich kaum wieder.« Der Alte gab keine Antwort. Mark merkte, dass er sich anfangs nur verstellt hatte. »Wenn du schon alles weißt, verrate mir, ob es ein Mittel gegen Stellas Zauberkraft gibt«, sagte er entschlossen. Der Einsiedler schüttelte den Kopf. »Ich rate dir ab!« »Keine Ausflüchte. Du bist mir einen Gefallen schuldig.«
»Ich wünschte, mein Bier würde Klarheit in deinem Kopf schaffen«, murmelte der Einsiedler. Mark wurde ungeduldig. Er fasste den Alten beim Arm. »So klar wie jetzt war mein Kopf lange nicht.« »Allen ist bekannt, dass Stellas Zauberkraft durch nichts und nieman den gebrochen werden kann…« Der Einsiedler zögerte. Der Satz war noch nicht zu Ende gesprochen, Mark begriff es. »Aber?«, fragte er. »Du bist es also«, flüsterte der Alte. »Die Sterne zeigten mir an, das ei ner kommen wird, dem ich Auskunft geben muss, weil es das Schicksal so will. Sie sagten aber auch, dass er in sein Verderben rennt.« »Papperlappap! Rück endlich mit deiner Weisheit heraus.« »Es gibt etwas, das Stella die Fähigkeit zum Handeln für kurze Zeit nimmt«, gab der Alte leise zu. »Ich denke, bei ihr wirken weder Gift noch Waffen«, wandte Mark ein.
»Libellen«, murmelte der Einsiedler. »Getrocknet und zerrieben. Feen sind vom Stamm der Libellen. Eine Prise Pulver ins Mahl und sie sind vor Entsetzen gelähmt.« Marks Augen leuchteten auf. Er erhob sich so hastig, dass er den Tisch umstieß. »Das ist es«, rief er laut, »so werde ich’s packen. Wo bekomme ich das Pulver her?« »Lass ab«, murrte der Einsiedler, »tu’s nicht.« »Wie komme ich an das Pulver, na red schon«, drängte Mark. Der Alte zuckte die Achseln. »Keiner hat bisher danach gefragt. Du musst es dir selbst zubereiten.«
EIN LÖFFEL KOMPOTT Noch am gleichen Abend versuchte sich Mark als Libellenfänger. Auf seinem Rückweg machte er am erstbesten Teich Halt, zog Schuhe und Strümpfe aus und watete ins Schilf. Die in großer Anzahl herumschwir renden, grün-, rot- und blaugeflügelten Insekten zu schnappen, schien ihm ein Leichtes, setzten sie sich doch immer wieder auf Halme oder Seerosenblätter. Aber ob er nun mit der Hand nach ihnen griff, ihnen seine Mütze überstülpen wollte oder gar die Jacke auf sie warf, es gelang ihm nicht, auch nur eins der flinken Tierchen zu packen. Im Gegenteil, sie machten sich offenbar lustig über ihn. Seine Füße patschten im Schlamm, die Jacke fiel ins Wasser und dann tauchte er sogar selbst bis zu den Hüften ein – alles ohne Erfolg. Schließlich gab er es auf. Ent täuscht und wütend watete er wieder an Land. Ich werde mir ein Nachtlager suchen und morgen weitermachen, dach te er. Die Aufgabe muss zu lösen sein.
Für ein paar Kupfermünzen mietete er sich in einem Wirtshaus ein und dort kam ihm eine glänzende Idee. Im Hausflur sah er einen Kescher liegen, wie man ihn zum Schmetterlingsfang benutzt. Das war ohne Zweifel das richtige Werkzeug. Am Morgen zog er erneut los, diesmal mit dem Kescher, den er dem Wirt abgekauft hatte. Wieder narrten ihn die Libellen – er musste sich länger als eine Stunde plagen, bevor er das erste Exemplar erwischte. Dafür war es besonders groß. Er stürzte sich mit einem Freudenschrei darauf, packte und tötete das hilflos zuckende Tierchen. Dann steckte er es in eine kleine Büchse. Von da an verhielt er sich geschickter, so dass sich der Behälter langsam füllte. Hunger und Durst quälten ihn, er war pudelnass und mit Schlamm beschmiert, aber hoch zufrieden. »Nun krieg ich sie, nun hab ich die Fee im Sack«, murmelte er vor sich hin. Endlich glaubte Mark genügend Libellen gefangen zu haben, um das Pulver herzustellen. Er warf den Kescher weg, säuberte sich, so gut es ging, und trat den Heimweg an. Damit sich die Insekten zerreiben ließen, mussten sie freilich noch getrocknet werden. Deshalb legte er sie zu Hause zwischen die Seiten mehrerer dicker Bücher. Er nahm die Bände mit in sein Zimmer und legte sie oben auf seinen Kleiderschrank. Wenn er den Raum verließ, schloss er ihn sorgfältig ab, denn niemand sollte etwas merken. Der Fee gegenüber gab er sich zerknirscht. »So sehr ich mich auch bemüht und überall herumgefragt habe, nie mand konnte mir etwas über Eschnos Verbleib sagen. Freilich erzählen einige Bauern, dass ein Wolfsrudel durch die Wälder streift. Es soll schon Kühe und sogar Pferde gerissen haben.« »Mein treuer Freund von Wölfen zerfleischt«, rief Stella entsetzt, »das kann nicht sein! Man hätte Kampfspuren gefunden.« »Ein silbergrauer Hengst ist in der Schwarzen Schlucht gesehen wor den, wo sich die Wölfe oft aufhalten«, log Mark. »Ich habe kaum den Mut, es zu berichten, aber alle Zeichen deuten auf eine furchtbare Bluttat hin.« Tränen schossen der Fee in die Augen, sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Eschno, mein lieber Eschno«, murmelte sie, »ein solch schreckliches Ende darf dir nicht zugedacht sein.« Und wieder an Mark gewandt: »Aus welchem Grund sollte mein Freund in diese Schlucht gelaufen sein? Ich kann einfach nicht daran glauben. Trotzdem danke ich dir für deine Be mühungen. Ich werde Jäger ausschicken, vielleicht finden sie mehr her aus.« Sie rief die Jäger und erteilte die nötigen Befehle. Mark aber hatte jene Zeit gewonnen, die er für die Ausführung seiner finsteren Pläne brauch te. Jeden Tag prüfte er die Libellen zwischen den Buchseiten. Es dauerte nicht lange und sie waren so ausgetrocknet, dass sie schon beim Anfas sen zerfielen. Sie konnten leicht zerrieben werden. Würde das so entstandene Pulver ausreichen, Stella tatsächlich zu läh men? Ich muss mich anhand eines Versuchs selbst überzeugen, dachte der Sekretär. Er schüttete etwas von dem Zaubermehl in ein Tütchen und ging in die Schlossküche. Der Koch bereitete gerade das Abendbrot: ein Spargelcremesüppchen, ein Fleischpastetchen mit Weißbrot, ein Ananas-Erdbeerkompott zum Nachtisch – viel zu essen brauchte die Fee nicht.
»Das ist ja wieder mal über alle Maßen lecker«, lobte Mark. »Darf ich ein bisschen von der Pastete kosten?« »Untersteh dich zu naschen«, erwiderte der Koch, »diese Speisen sind nur für unsere Herrin.« »Wie die Suppe duftet!« Stellas Sekretär beugte sich über den Koch topf. »Weg, weg vom Herd. Das fehlte noch, dass du die Nase reintauchst.« Wenn es ums Essen der Fee ging, kannte der Koch kein Pardon. »Diese köstlichen Erdbeeren! Die süßen Ananasscheiben!« Mark fin gerte unbemerkt das Tütchen mit dem Libellenmehl aus dem Ärmel und schüttete den Inhalt ins Kompott. Im Fruchtsaft löste sich das Pulver sofort auf. Der Koch war mit der Suppe beschäftigt und merkte nichts. Mit bei den Händen scheuchte er Mark davon. »Wirklich, du bist heute einmalig langweilig, verstehst keinen Spaß«, beschwerte sich Mark. Er hatte sein Werk getan und zog sich aus der Küche zurück. In der Bibliothek begann er dann Bücher zu ordnen. In Wahrheit wartete er aber nur darauf, dass die Fee ihr Abendbrot ein nahm. Durchs Schlüsselloch konnte er sie genau beobachten. Doch Stella, traurig wegen Eschno, rührte kaum etwas an. Sie nippte am Wein, nahm einen Löffel Suppe und stocherte zerstreut in der Paste te herum. Die Dienerin, die das Menü auftrug, sagte: »Der Koch lässt ausrichten, dass die Suppe mit süßer Mandelmilch an gerichtet ist, eine besondere Delikatesse.« »Ich habe keinen Hunger«, murmelte Stella. »Die Pastete ist mit Honig und Rotwein zubereitet. Sie besteht aus zar testem Kalbfleisch. Eine Kreation, die der Koch zum bevorstehenden Fest anbieten will.« »Schmeckt sehr gut, ausgezeichnet«, lobte die Fee, ohne auch nur den kleinsten Happen in den Mund zu schieben. »Der Nachtisch ist die Krönung. Ausgewählte Früchte aus dem Süden des Landes, verfeinert mit den Säften des Dreiobstbaums und garniert mit frischem Eierschaum.«
»Hier, iss du«, sagte die Fee und schob der Dienerin die Kompott schüssel hin. So hatte sich Mark die Probe nicht vorgestellt. Beinahe hätte er hinter seiner Tür einen lauten Fluch ausgestoßen. Er hielt sich gerade noch zurück. »Willst du’s nicht doch mal versuchen, Herrin?« Die Frau schob ihr das Schüsselchen vorsichtig wieder hin. »Na gut, meinetwegen.« Die Fee nahm ihren Silberlöffel und führte ei ne Erdbeere zum Mund, eingetaucht in den süßen rötlichen Saft. Mark, das Auge ans Schlüsselloch gepresst, platzte fast vor Spannung. Als Stellas Zungenspitze die Flüssigkeit berührte, geschah noch nichts, als die Fee jedoch die ganze Erdbeere in den Mund steckte, erstarrte sie mitten in der Bewegung. »Herrin, was ist mit dir?«, fragte die Dienerin erschrocken. »Nichts, das heißt, da war so ein lähmender Schmerz. Dieses Kom pott…« »Der Koch hat es über den grünen Klee gelobt. Dem werd ich was er zählen.« Die Dienerin, dick aber energisch, nahm die Schüssel wieder an sich. »Koste du selbst«, bat Stella sie. »Es muss dieser Saft sein.«
Die Dienerin kostete vorsichtig, machte »hm…m« und nahm einen zweiten Löffel Kompott. Ihr schmeckte es vorzüglich. »Ich kann beim besten Willen nichts Schlechtes an dem Dessert fin den«, murmelte sie. »Es muss an mir liegen«, sagte die Fee. »Ich habe heute keinen Appetit. Nimm alles mit und iss es, wenn du möchtest, selber.« Mark hatte genug gesehen, er zog sich aus der Bibliothek zurück und lief in sein Zimmer. »Morgen wird es geschehen«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild, »mor gen bin ich am Ziel meiner Wünsche.«
EINE NEUE FEE Mark hätte die Fee am liebsten so hinweggehext, dass, genau wie bei Eschno, niemand etwas merkte. Das konnte allerdings nur gelingen, wenn er beim nächsten und entscheidenden Versuch mit ihr allein war. Bei den Mahlzeiten waren immer die Dienerin, der Koch oder sonst je mand vom Hof in der Nähe. Falls sie ihn bei seinem Werk beobachteten, konnte es großen Ärger geben. Zwar beherrschte er seine Sprüche inzwi schen so gut, dass er sich zutraute, auch weitere unbequeme Personen unschädlich zu machen, aber wenn das nicht auf Anhieb gelang und ei ner entkam, würde Mark womöglich das Volk gegen sich aufbringen. Der Sekretär überlegte, wie er es anstellen sollte, Stella das Mittel un beobachtet zu verabreichen, und schließlich kam ihm die Idee, das Libel lenpulver in eine Flasche mit köstlichem Kirschsaft zu schütten. Es löste sich auf, ohne Spuren zu hinterlassen. Er suchte sich einen Tag aus, an dem es sehr heiß war. Als die Fee einmal das Schloss verließ, um bei einem Spaziergang im nahen Wäldchen Kraft zu schöpfen, näherte er sich ihr und bot ihr von dem Getränk an. Da Stella Durst hatte, nahm sie es dankend entgegen. Sie trank sogar viel mehr als sonst. Während sie für gewöhnlich nur zwei, drei kleine Schlucke nahm, tat sie diesmal einen langen Zug. Plötzlich jedoch wurde sie totenbleich, ein Zucken ging durch ihren Körper und die Flasche entglitt ihrer Hand. »Was…«, stam melte sie erschrocken, bevor eine seltsame Starre von ihr Besitz ergriff
und sie steif wie ein Brett zu Boden stürzte. Eine so starke Wirkung hat te selbst Mark nicht erwartet – beinahe hätte er den günstigen Augen blick verpasst. Schnell aber besann er sich, zog den Zauberstab aus der Tasche, berührte Stella damit und murmelte die lange geübten Worte: »Bocksgehörn und Hexenzeh, Orix, torix, Hass und Neid, Schließt den Kreis der Dunkelheit. Brecht die Macht der stolzen Fee!« Kaum war der Spruch getan, ertönte ein unheimliches Geräusch über Marks Kopf, es war ein Stöhnen, Wispern und Lachen aus Geistermund. Starker Wind kam auf, ergriff den federleichten Körper der Fee und schaukelte ihn knapp über dem Erdboden hin und her. Wenn Mark al lerdings gedacht hatte, Stella würde, wie Eschno, einfach verschwinden, so hatte er sich geirrt. Zwar löste sich ihre Gestalt vor seinen Augen flimmernd in Nichts auf, doch als sich der Sturm gelegt hatte und die Geräusche verstummt waren, wuchs plötzlich dort, wo die Fee gerade noch von dem Kirschsaft getrunken hatte, ein kleiner Baum mit rosa Blüten. Von seinen Blättern aber lösten sich Wassertropfen wie dicke Tränen. Mark wagte es nicht, näher an den Baum heranzutreten oder ihn gar anzufassen. Er zog den Kopf ein und machte sich eiligst davon. Erst im Schloss kam ihm zu Bewusstsein, dass ihm die Herrscherin des Rosa Reiches nun nicht mehr im Weg stand. Ich habe es geschafft, dachte er, jetzt bin ich es, dem man zu Diensten sein wird. Ich werde den rosa Baum fällen und verbrennen lassen. Und er nahm sich vor, schnell zu handeln. Ursprünglich hatte Mark das Zaubern nur erlernen wollen, um ein Le ben in Saus und Braus führen zu können, nun jedoch ergriff ihn die Gier nach Macht. Warum, sagte er sich, soll ich nicht nach Höherem streben und an die Stelle der Fee treten. Lange genug war ich ein Lakai, fortan will ich ein Herr sein. Und nicht nur ein Herr, sondern der Herrscher. Das Rosa Land braucht sowieso einen neuen Regenten.
Doch konnte er denn einfach vors Volk treten und sich zum König er klären? Man kannte ihn noch viel zu wenig und manche hielten ihn so wieso für einen Emporkömmling. Weder die Berater noch die Bürger und Bauern würden ihn wählen, wenn für die Fee ein Nachfolger ge sucht würde. Vielleicht würden sie ihn sogar verdächtigen, an Stellas Verschwinden beteiligt zu sein. Sie alle aber mit Gewalt zu unterwerfen, traute sich Mark noch nicht zu. Dafür reichten die Zauberkunststücke, die er sich angeeignet hatte, nicht aus. Es musste eine andere Lösung geben. Zwei Tage und zwei Nächte saß Mark über den Zauberbüchern und der Pergamentrolle, die er nun unge niert studierte, konnte ihn doch keine Fee mehr im Keller oder in der geheimen Kammer überraschen. Die Diener und Berater aber trauten sich nach wie vor nicht einzutreten, weil sie annahmen, dass ihre Herrin nur vorübergehend abwesend sei. »Sie wollte ins Land der Zwinkerer, eine Angelegenheit für unser Fest regeln«, sagte Mark zum Koch. »Bestimmt ist sie bald wieder da.« Am dritten Tag wusste er endlich, was er zu tun hatte. Es gab eine Möglichkeit, die Macht zu übernehmen, ohne dass es im geringsten auf fiel. Dazu musste er allerdings etwas sehr Ungewöhnliches tun. Er muss te sich selbst in die Fee Stella verwandeln. Es konnte nur um Mitternacht geschehen und er brauchte einige Ge genstände aus dem Besitz der Herrscherin dazu. Einen ihrer Gürtel, ein Paar Schuhe, einen mit Edelsteinen besetzten Ring. Vor allem aber benö tigte er die Krone, die sie auf dem Kopf gehabt hatte. Das freilich war ein Problem. Das meiste konnte sich Mark aus dem Zimmer der Fee besorgen – das Krönchen nicht. Sie hatte es getragen, als er sie verhexte. Vergeblich durchwühlte er alle Truhen und Schränke nach einer zweiten Krone. Schließlich fand er in einer ihrer Schubladen wenigstens eine silberne Haarspange. Er hoffte, dass sie dem Zweck gleichfalls dienen würde. Als die Uhr zwölf geschlagen hatte und im Schloss alles in tiefem Schlaf lag, schlich Mark in Stellas Zimmer, ordnete die Gegenstände im Kreis und breitete ein schwarzes Tuch darüber. Mit Kohle malte er einen zweiten Kreis auf den Fußboden, in dessen Mitte er sich selbst stellte. Er
deutete mit dem Zauberstab erst auf sich, dann auf das Tuch und mur melte: »Kollomerka Nesselkraut, Weißer Nebel, schwarze Nacht, Zeige, Zauber, deine Macht, Füg mich ein in ihre Haut!« Im nächsten Augenblick wurde der Raum in flammend rotes Licht ge taucht, das Tuch hob sich und die Gegenstände der Fee flogen durch die Luft. Mark verspürte einen stechenden Schmerz im Kopf, in den Armen, den Beinen, im gesamten Körper. Er wurde zusammengestaucht, aus dem Kreis geschleudert und es war, als würden ihm die Knochen einzeln gebrochen. Er stieß einen Schrei aus, ein Wehgeheul, das durchs ganze Schloss hallte. Dann wurde er ohnmächtig. Als Mark wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden. Licht erhellte das Zimmer, Männer und Frauen in Nachthemden oder Morgenmänteln standen um ihn herum. Es waren Stellas Diener und Berater. Einer beug te sich über ihn und fragte ängstlich: »Was ist mit dir, Herrin? Du hast laut geschrien und wir finden dich ohne Bewusstsein vor. Wir haben gar nicht gewusst, dass du von deiner Reise zurück bist. Fühlst du dich nicht wohl?«
Mark brauchte einige Sekunden, bevor er die Anrede »Herrin« begriff. Die Verwandlung hatte also stattgefunden. Er gab keine Antwort, son dern verlangte: »Bringt mir einen Spiegel!« Eine Dienerin holte eilig den geforderten Gegenstand. Mark, obwohl noch schlapp und taumelig, setzte sich auf. Verblüfft betrachtete er das Gesicht vor sich, das er doch erwartet hatte: Es war täuschend ähnlich. Ja, aus dem Spiegel schaute ihn die Herrscherin des Rosa Landes an, Stella. Nur dass ihre Augen etwas starrer waren als bei der echten Fee, ihr Körper gröbere Formen hatte. Aber das war minimal und würde kaum jemandem auffallen. »Geht in eure Räume zurück«, sagte Mark, »und legt euch wieder hin. Ich habe eine lange Reise hinter mir, bin etwas erschöpft, aber es ist nichts Ernstes.« »Du warst ohnmächtig, bist wohl zusammengebrochen, Herrin«, wand te der Hofarzt ein, »ich müsste dich untersuchen.« »Jetzt nicht. Ich bin wieder wohlauf und möchte endlich schlafen. Ihr werdet sehen, morgen ist alles wie vorher.« Der Hofarzt hatte anscheinend Bedenken, zog sich aber mit den ande ren zurück. Ein kleines Mädchen jedoch, Tochter einer Dienerin und vom nächtlichen Lärm wach geworden, fragte: »Wo hast du denn deine Krone gelassen?« Tatsächlich hatte Mark keine Krone auf, sondern trug eine silberne Spange im Haar. »Ich… ich hab… sie ist mir leider abhanden gekommen«, erwiderte er. Als die Leute, verwundert miteinander flüsternd, endlich gegangen wa ren, saß Mark noch lange vor dem Spiegel. Dass er die Gestalt der Fee angenommen hatte, erfüllte ihn mit Genugtuung, denn nun konnte er seine Pläne ungehindert in die Tat umsetzen.
DAS ROSA BÄUMCHEN
Eine zweite Krone hatte Stella nie besessen. Seit Jahrhunderten war die Fee mit der einen ausgekommen, die all die Zeit nichts von ihrem Glanz verloren hatte. Mark jedoch wusste das nicht und suchte weiter in sämtli chen Truhen und Schränken nach einem Ersatz. Als er einsehen musste, dass es den nicht gab, ließ er die Goldschmiede der Stadt zu sich rufen und beauftragte sie, Entwürfe für eine neue Krone vorzulegen. »Sie soll prächtiger als die alte sein«, verlangte er, »und ich möchte sie zu unserem großen Fest einweihen. Wer mir den besten Entwurf vorlegt, bekommt den Auftrag und eine hohe Belohnung.« Einige Goldschmiede hätten sich die alte Krone gern noch einmal an geschaut, um vergleichen zu können, aber Mark behauptete, dass sie in einen tiefen See gefallen sei. »Lasst eure Fantasie spielen«, sagte er, »wir werden sehen, was dabei herauskommt.« Im übrigen ging das Leben am Hof weiter wie gewohnt, lediglich dem Personal in seiner Nähe fiel auf, dass sich die Fee verändert hatte, lau nisch und herrisch geworden war. »Nichts mache ich ihr mehr recht«, klagte ein Zimmermädchen, »mal habe ich einen Fleck übersehen, obwohl gar keiner da ist, mal habe ich die Fenster nicht richtig geputzt. Das ist nicht mehr die frühere Stella.« »Sie ist es, aber ihr Geschmack hat sich gewandelt«, erklärte der Koch. »Früher aß sie wenig, jetzt viel, früher liebte sie Süppchen und Pasteten, jetzt verlangt sie deftige Fleischportionen. Sie trinkt Bier und sogar Schnaps. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.« Die Berater beschwerten sich, weil ihnen die Fee nicht mehr zuhörte, sondern selbstherrlich entschied, die Schneider wunderten sich, dass sie plötzlich nur noch in Samt und Seide gehen wollte. Dem Förster aber fiel das rosa Bäumchen am Waldrand auf, das bittere Tränen weinte. So etwas hatte selbst er, der weit herumgekommen war, noch nicht gesehen. »Da steckt Hexerei dahinter«, behauptete Mark, »du darfst dich nicht von dem schönen Aussehen blenden lassen. Nimm die Axt, fälle und verbrenne den Baum.«
»Es ist aber ein seltenes Gewächs«, wandte der Förster ein. »Gerade deshalb. Wer weiß, wie es sich vermehrt, wenn wir nichts da gegen tun.« Der Förster nahm die Axt und ging zum Waldrand. Das Bäumchen tat ihm leid und er zögerte lange, bevor er zum Schlag ausholte. Doch die Fee hatte es beföhlen und so war es wohl notwendig. Mit gewohnt kräf tigem Hieb wollte er seine Arbeit erledigen, doch was war das? Die Axt drang nicht in den Stamm ein, sondern prallte heftig zurück. Auch beim zweiten und dritten Versuch hatte der Förster keinen Erfolg, hätte sich stattdessen beinahe selbst verletzt. Bei jedem Schlag aber gab der Baum einen deutlichen Seufzer von sich. Der Förster lief ins Schloss zurück und berichtete. »Du hast Recht, Herrin, es scheint ein gefährlicher Zauber in dem Baum zu stecken.« »Dann beeile dich. Ruf einen Holzfäller zu Hilfe und versuche es mit der Säge.«
Aber auch die Säge konnte nichts ausrichten und als die beiden Männer das Bäumchen ausgraben wollten, mussten sie feststellen, dass seine Wurzeln stark und fest bis in tiefste Tiefen reichten. Wütend eilte Mark nun selbst zum Waldrand. Er schickte die Männer weg und griff eigenhändig nach der Axt. Doch er erreichte genauso we nig wie der Förster und der Holzfäller. Im Gegenteil, beim Zurückfedern schlug ihm das Beil heftig gegen das Knie und er sank mit einem Auf schrei zu Boden. »Na gut, wenn ich dich auf diese Art nicht bezwingen kann, dann eben anders«, schrie Mark. »Ich werde dich mit einem Zaun umgeben, damit niemand mehr an dich heran kann. Einsam und verlassen sollst du deine Tränen vergießen.« Er kehrte ins Schloss zurück und gab Anweisung, einen hohen, festen Bretterzaun um das Bäumchen zu ziehen, damit es nicht nur für jedermann unerreichbar, sondern auch den Blicken verbor gen blieb. Als das erledigt war, kam Mark ein neuer Gedanke. Die ersten Entwür fe für die Krone lagen vor. Einer übertraf den anderen, was Glanz und Kostbarkeit betraf, und nachdem der ehemalige Sekretär den ausgewählt hatte, der ihm die größte Pracht verhieß, sagte er sich: Warum soll ich mich eigentlich nur mit »Fee« und »Herrin« anreden lassen, »Königin« wäre besser. Jawohl, ich werde mir diesen erhabenen Titel zulegen und
mich feierlich krönen lassen. Vielleicht lasse ich mir auch ein neues Schloss errichten, das mächtiger und prunkvoller ist als das jetzige. Zu diesem Zweck kam ihm das geplante Fest ganz recht. Zunächst hatte er es absagen wollen: Die Freunde der Fee schienen ihm lästig und die Feier mit viel zu viel Mühen verbunden. Doch wenn er seinen Ruhm damit erhöhen konnte, wollte er die Last auf sich nehmen. Die Vorberei tungen waren sowieso schon weit gediehen, der Termin nahe herange rückt. Falls er jetzt alles abblasen würde, wäre das Erstaunen im ganzen Zauberland groß. Man würde sich fragen, was mit Stella los sei. Nein, er durfte nicht zurückweichen, musste die Gelegenheit vielmehr zum eige nen Vorteil nutzen. Nur eins störte Mark in seinem Triumph immer wieder – der Gedanke an das rosa Bäumchen. Gewiss, er hatte es eingezäunt, so dass es nicht mehr zu sehen war, er hatte sogar ein Schild anbringen lassen, welches den Bewohnern des Landes wegen angeblicher Lebensgefahr verbot, den Zaun zu überklettern oder gar zu zerstören, doch ihm selbst nützte das wenig. Er wusste, das Bäumchen war da, er hörte es im Traum manch mal stöhnen und sah seine Tränen von den Blättern zu Boden fallen.
Zweiter Teil Ein Fest mit Hindernissen
EIN BRIEF MIT ROSA SCHRIFT
Jessica stand vor dem Haus der Eltern und hielt nach ihrer Mutter Aus schau, die einkaufen gegangen war. Das Mädchen langweilte sich, hatte aber auch keine Lust, Schularbeiten zu machen. Plötzlich fiel ihr etwas vor die Füße. Es war ein Brief und bevor sie ihn aufhob, schaute sie ver blüfft nach oben. Über ihr saß auf einem Platanenast ein großer Vogel. Er hatte einen spitzen, gekrümmten Schnabel und scharfe Krallen. Es war ein Adler. Jedes andere Kind wäre erschrocken, doch Jessica begriff sofort, dass es mit diesem Vogel eine besondere Bewandtnis hatte. »Ist der Brief für mich? Hast du ihn fallen lassen?«, fragte sie. »Fallen lassen? Ich habe ihn dir zugeworfen. Er enthält eine Einladung. Heb ihn bitte auf und lies.« Der Adler krächzte zwar mächtig, beherrsch te aber die menschliche Sprache. »Du kommst aus dem Zauberland, stimmt’s?«, murmelte Jessica. »Du bist über die Weltumspannenden Berge geflogen.« »Stimmt. Und es war gar nicht leicht, dich zu finden. Zum Glück kann ten dich die Störche in der Gegend. Aber nun lies und sag mir deine Antwort.« Jessica schlitzte das Kuvert mit dem kleinen Finger auf, nahm das Blatt Papier heraus, das sich darin befand und entfaltete es. Stockend entzif ferte sie die mit rosa Tinte geschriebene Botschaft: »Liebe Jessica, obwohl wir uns noch nicht persönlich kennenlernen konnten, weiß ich, dass du eine Freundin des Zauberlandes bist und uns schon oft geholfen hast. Deshalb möchte ich dich recht herzlich zur Tausendjahrfeier unse rer Hauptstadt einladen. Sie beginnt am Tag des Weißen und des Blauen Sterns. Über deine Zusage würde ich mich sehr freuen. Stella, Herrscherin des Rosa Landes.«
Noch nie hatte Jessica einen solchen Brief, zudem von einer so hohen Persönlichkeit erhalten. Vor Stolz und Aufregung brachte sie kein Wort heraus. »Na«, fragte der Adler, »kann ich ausrichten, dass du kommst?« »Wa… wa… wann ist das, der Tag des Weißen und des Blauen Sterns?« Der Adler legte den Kopf schief. »Von heute an in genau drei Wochen.« »Das wäre ein Freitag«, überlegte das Mädchen laut, »dann kommt das Wochenende, danach sind zwei Tage Schule, für die ich irgendwas erfin den müsste, schließlich folgt wieder ein Feiertag – ich hab mir das ge merkt, weil wir da in den Zoo wollten…« »Zoo«, unterbrach der Adler sie, »was ist das?« »Das kann ich dir jetzt nicht erklären.« Jessica war verlegen. »Ich muss das alles bedenken, weil meine Eltern sonst Schwierigkeiten machen. Dass die Einladung aus dem Zauberland kommt, nehmen die mir näm lich nicht ab.« Dass man ihm das Wort »Zoo« nicht erklären wollte, schien den Adler zu verstimmen. Er spannte einmal kurz die mächtigen Flügel und dräng te: »Kommst du nun oder nicht?«
»Ja«, erwiderte Jessica schnell. »Sag der Fee, dass ich mich freue und sehr geehrt bin. Auch dir vielen Dank. Ich werde eine Möglichkeit fin den.« »Können wir dir noch irgendwie helfen?«, fragte der Adler etwas ver söhnt. »Es wäre schön, wenn ihr mich drüben, ich meine am Muschelmeer, abholen würdet«, gab Jessica zur Antwort. »Ich nehme wie immer den Zaubertrog.« »In Ordnung, wird organisiert.« Der Adler, der über den fliegenden Trog Bescheid wusste, schwang die Flügel. »Viele Grüße an alle, viele, viele Grüße!«, rief Jessica ihm nach. Die Mutter kam um die Ecke. »Mit wem redest du denn?«, fragte sie verwundert. »Ach nichts. Nur mit mir.« »Jetzt führt das Kind auch noch Selbstgespräche«, sagte die Mutter kopfschüttelnd. »Hast du schon Schularbeiten gemacht?« »Nein, ist ja noch Zeit.« »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Die Mutter ging ins Haus. Jessica setzte sich an die Hausaufgaben, sie musste unbedingt für Schönwetter sorgen. Um Stellas Einladung folgen zu können, war es nämlich notwendig, einen Besuch bei ihrem Großvater Goodwin zu organisieren. Er würde das Spiel mitmachen. Er war der einzige, der wusste, dass es wirklich eine Fee namens Stella gab. Vor vielen Jahren hatte er einige Zeit in der berühmten Smaragdenstadt im Zauberland gelebt, sich dort sogar selbst für einen Zauberer ausgegeben.
Drei Wochen später hatte Jessica ihren Willen durchgesetzt, war mit Goodwin auf dem Weg zu den Bergen, die das Zauberreich umschlos sen. Der Großvater lenkte ein altes, klappriges Auto über holprige Wege und das Mädchen hielt angestrengt Ausschau. Mit einem Mal rief sie: »Dort hinten muss es sein. Ja, bei den Büschen ist es.« »Ich hab trotz allem ein schlechtes Gewissen«, murrte Goodwin. »Wenn dir etwas zustößt!« »Was soll mir denn zustoßen?«, erwiderte Jessica. »Es ist doch immer alles gut gegangen.« »Deine Eltern würden mir das nie verzeihen. Und mit Recht.« »Dann komm doch mit und pass auf mich auf. Mit dir zusammen wär’s besonders schön.« Doch das wollte der Großvater auf keinen Fall. Wenn man’s genau nahm, hatte er sich damals in der Smaragdenstadt ziemlich blamiert. Au ßerdem galt die Einladung nur seiner Enkelin. Sie stiegen aus, schlossen den Wagen ab und legten das letzte Stück Weg zu Fuß zurück. Der Trog, den die Hexe Gingema einst erschaffen hatte, lag versteckt hinter Gestrüpp und war ganz mit Sand zugeweht. Sie buddelten ihn aus. »Sieht aus, als würde er jeden Augenblick in zwei Teile brechen«, be mängelte der Großvater. »Ich hatte wenigstens noch die Gondel.« Er hatte das Zauberland seinerzeit mit einem Heißluftballon verlassen. »Steig mal rein, dann merkst du, wie stabil er ist«, riet Jessica. »Um keinen Preis der Welt!« »Na ja, dann starte ich jetzt. Am Muschelmeer warten sie vielleicht schon auf mich.« Das Mädchen kletterte in den Trog. »Hast du deine Stullen dabei?«, fragte Goodwin. »Die hast doch du noch in der Hand.« Jessica lachte. »Ach ja, hier, nimm sie.« Der Großvater wollte ihr das Paket zureichen, stolperte aber über eine Wurzel und fiel auf den Trog. Und da geschah es. Bevor er sich noch aufrichten konnte, erhob sich das hölzerne Ge fährt mit einem Satz in die Luft. Goodwin lag quer über dem Trog, der schnell an Höhe gewann.
»Halt, warum bist du gestartet?«, rief er verzweifelt. Jessica war gleichfalls erschrocken. Sie hielt Goodwin fest, damit er nicht herunterfiel. »Du bist gestartet«, erwiderte sie aufgeregt. »Du hast das Gesicht den Bergen zugewandt, das ist das Startzeichen. Bitte zapple nicht so, sonst kippt der Trog noch um und wir liegen gemeinsam unten.« Inzwischen waren sie so weit oben, dass ein Sturz beiden sehr schlecht bekommen wäre. Obwohl der Trog unter der Last ächzte und knarrte, stieg er immer höher, flog auf die Bergkämme zu. »Er soll uns zurückbringen«, rief der Großvater, »gib den Befehl, um zukehren!« »Man kann dem Trog keine Befehle geben«, sagte Jessica. »Sobald er gestartet wird, bringt er seine Passagiere über das Gebirge hinweg zum Ufer des Muschelmeers. Von dort aus fliegt er dann wieder zurück.« Der Großvater sagte nichts mehr. Er kniff die Augen zu, um nicht in die Tiefe blicken zu müssen, und versuchte, ganz still zu liegen. Jessica hielt ihn mit beiden Händen an der Jacke. Doch lange konnten sie es in dieser Lage beide nicht aushalten. Goodwin überlegte, ob er sich fallen lassen sollte, um wenigstens Jessica zu retten. Dann erwachte aber sein Lebenswille wieder und er beschloss, einen letzten Versuch zu wagen. Vorsichtig zog er die Beine an. Es ge lang ihm, ein Knie auf den Trogrand zu bringen. Der Trog neigte sich gefährlich zur Seite und Jessica schrie: »Was machst du, Opa? Hör auf damit!« Goodwin verlagerte sein Ge wicht, so dass ihr Gefährt sich wie ein Boot wieder aufrichtete. »Lass mich jetzt los und halte dich selber am Trogrand fest«, sagte er. »Erst die eine, dann die andere Hand. So ist’s gut.« Er drehte den Ober körper und rutschte mit dem Hintern in die Trogmulde. Da er ein biss chen dick war, musste er sich hineinquetschen. Schließlich zog er die Beine nach. »Bravo, Opa«, rief Jessica, »du hast’s geschafft!« »Na ja, man war ja mal Artist«, erwiderte Goodwin bescheiden. In der Tat war er viele Jahre mit einem Zirkus über Land gezogen.
Der Trog hatte das Gebirge erreicht. Grün- und braungefleckt lag die Landschaft unter ihnen. Man sah einen Fluss, den Grand River, auf dem Jessica beim allerersten Mal ins Zauberland gelangt war. Als Gefangene der Wassermänner, die damals dem schrecklichen Seemonster dienten. Nun wagte es auch der Großvater wieder, den Blick nach unten zu richten. Ein paar Bergziegen waren zu sehen, klein wie Ameisen, auch ein Adler kreiste in der Tiefe. Es handelte sich aber nicht um Stellas Bo ten. »Ist das nicht herrlich«, rief Jessica, »die Täler und Schluchten, die win zigen Bäume. Auf einer Bergspitze liegt sogar Schnee. Leider geht die Fahrt viel zu schnell.« »So schnell, dass man Ohrensausen kriegt«, bestätigte der Großvater. »Und alles umsonst. Wenn ich daran denke, dass ich den gesamten Weg wieder zurück muss.« »Doch nicht gleich. Wenn du schon mit mir hinfliegst, kannst du auch ein paar Tage im Zauberland bleiben.« »Auf keinen Fall. Lieber nehme ich die Tortur in dieser Wackelkiste so fort wieder auf mich.« Sie landeten sanft am weißen Sandstrand des Muschelmeeres, an einer Stelle, die Jessica schon kannte. Einmal war sie von Delfinen mit dem gläsernen Tauchboot der Seekönigin hier abgeholt worden, ein anderes Mal von Dickhaut, dem Elefanten. Der Strand war leer. Kein Mensch außer ihnen weit und breit, auch kein Tier. »Ich muss hier warten«, sagte Jessica und sprang aus dem Trog. »Scha de, dass du gleich wieder wegwillst.« Goodwin, dem alle Knochen wehtaten, kletterte gleichfalls aus dem Gefährt. »Ein bisschen Gesellschaft kann ich dir ja noch leisten.« Er schaute sich neugierig um. »Hier ist nicht viel los«, erklärte Jessica. »Höchstens ein paar kleine Fi sche im Wasser, aber mit denen kann man nichts bereden.« »Vielleicht sind wir noch gar nicht im Zauberland«, vermutete der Großvater.
»Natürlich sind wir da. Hinter den Bergen fängt es doch an.« »Steigen wir dort auf den Sandhügel«, schlug Goodwin vor. »Da haben wir einen besseren Überblick.« Sie stapften auf den Hügel, der nichts als eine Düne war, und setzten sich hin. Es war warm, die Sonne schien und das Muschelmeer breitete sich flimmernd zu ihren Füßen aus. Nach einer Weile bekam Jessica Hunger, aber der Großvater hatte bei seinem Sturz auf den Trog das Stullenpaket fallen lassen. »Und wenn es im Trog liegt?«, überlegte Jessica laut. »Bestimmt nicht. Das hätten wir gemerkt«, erwiderte der Großvater. Da Jessica nichts zu tun hatte, lief sie trotzdem hin. Natürlich verge bens. Ein paar Sträucher mit roten Beeren wuchsen in der Nähe und sie kostete. Nein, das brachte nichts, die Beeren waren ungenießbar. Nach dem sie es, ohne Erfolg, noch bei einem anderen Strauch versucht hatte, kehrte sie zu der Düne zurück. Doch als sie den Hügel wieder erklom men hatte, war der Großvater verschwunden.
EIN EIGENARTIGER EMPFANG Der Weise Scheuch, Herrscher der Smaragdenstadt, und seine Frau, die lustige Puppe Betty Strubbelhaar, reisten mit einer Kutsche ins Rosa Land. Vor einiger Zeit, als es darum gegangen war, im Urwald das Volk der Smaragdenbienen zu retten, waren sie mit einem Ballon geflogen, aber fast ums Leben gekommen. Sie waren aus großer Höhe abgestürzt. Das wollten sie nicht noch einmal riskieren.
Unterwegs fielen dem Scheuch allerhand dramatische Begebenheiten ein. »Dort drüben, jenseits des Flusses, liegt der Kupferwald. Weißt du noch, wie wir dort nach Silbermoos suchten, weil uns Pet Riva gesagt hatte, es würde Tote zum Leben erwecken?« »Ja. Aber in Wirklichkeit wurden alle müde davon. Er hatte es mit Goldmoos verwechselt.« »Und weiter vorn ist die Furt, wo ich mit unserem Freund Din Gior den Fluss überquert habe, als uns Pet in Riesen verwandelt hatte. War das eine Überschwemmung!« »Erinnere mich bloß nicht daran«, rief Betty. »Dieser hinterhältige Dra chenkönig war schuld. Er hat uns all die Unwetter geschickt. Es war die schlimmste Zeit, die ich in der Smaragdenstadt erlebt habe.« Nach einer Weile machten sie Rast und während der Kutscher im Gras schnarchte, pflückte Betty einen Strauß Blumen. Eine Margerite leuchte te besonders schön vor ihren Augen, doch als sie hinfasste, um sie vor sichtig abzuknicken, hatte sie nur Gras in der Hand. Die Prinzessin schüttelte den Kopf, denn dieselbe Blume blühte jetzt ein Stück weiter weg. Wieder griff Betty vergeblich zu und plötzlich dämmerte es ihr. Die Blume lag abgerissen am Boden und für Sekunden hatte die Prinzessin ein Schwänzchen und einen winzigen braunen Rücken gesehen. Da trieb ein Mäuschen ein Spiel mit ihr. »Na warte«, sagte Betty und machte einen Satz nach vorn. Doch erfolg los, die Maus war schon weitergehuscht. Von einem Maulwurfshügel aus reckte sie der Puppe ihr spitzes Mäulchen entgegen. »Was soll das? Geht man so mit Freunden um?«, piepste sie. »Das gibt’s nicht – Larry Katzenschreck!« »Und ob es das gibt. Die Welt ist klein, man begegnet sich immer wie der«, fiepte der Mäuserich. Larry Katzenschreck war nicht irgendwer, sondern ein guter Bekann ter. Er war schon mit den gerissensten Katzen und sogar mit Schlangen fertig geworden, daher der gewaltige Name. Mit seinem Mut und seiner Gewitztheit war er dem Scheuch, Betty und den anderen mehr als einmal zu Hilfe gekommen.
»Gewiss ist es kein Zufall, dass wir uns hier treffen«, sagte Betty, als sie sich begrüßt hatten. »Der Mäusefunk übermittelt so manche Nachricht. Auch die vom Fest im Rosa Land. Das ist nicht ohne Interesse für uns, denn dort wird es eine Menge köstlicher Abfälle geben. Wenn man dann noch erfährt, dass Gäste aus dem ganzen Zauberland, darunter aus der berühmten Smarag denstadt, zu Stella unterwegs sind…« Inzwischen hatte sich der Scheuch mit lautem Hallo zu ihnen gesellt. Er schlug dem Mäuserich vor, den letzten Teil der Strecke mit ihnen in der Kutsche zurückzulegen. »Deinen Füßen wird es bekommen und schneller geht’s auch«, sagte er. Larry Katzenschreck hatte das nicht anders erwartet. »Bei den holprigen Wegen hier brauche ich aber ein weiches Kissen«, verlangte er. »Wenn du willst, kannst du sogar auf meinem Schoß sitzen«, bot Betty an. So erreichten die drei gemeinsam Stellas Schloss, das bereits festlich herausgeputzt war. Bunte Lampions hingen überall, Blumengirlanden
waren über den Türen angebracht und am Haupttor prangte ein Schild mit goldener Aufschrift: TAUSEND JAHRE HAUPTSTADT DES ROSA LANDES –
EIN WILLKOMMEN UNSEREN GÄSTEN!
»Das ist ein sehr schönes Schild«, befand der Scheuch. »Ich freue mich schon auf das Wiedersehen mit Stella.« »Ja, ja, nicht schlecht«, pflichtete Larry bei. »Trotzdem werde ich mich jetzt verdrücken. Im Gegensatz zu euch habe ich nämlich keine Einla dung.« Es hatte etwas verstimmt geklungen und Betty ging sofort darauf ein. »Bleib hier, du wirst doch nicht beleidigt sein. Du und Stella, ihr kennt euch ja noch gar nicht, wie sollte sie dir da eine Einladung schicken.« »Ich bin nicht beleidigt«, erwiderte der Mäuserich, »obwohl Stella mei nen Namen eigentlich kennen müsste. Ich habe mich aber in der weite ren Verwandtschaft für ein paar Übernachtungen angemeldet. Denen muss ich sagen, dass ich angekommen bin.«
»Na, das wird wohl noch einen Augenblick Zeit haben.« Der Scheuch hielt Larry zurück. Sie stiegen aus, doch zu ihrem Erstaunen erschien niemand zu ihrer Begrüßung. Erst nach einer Weile tauchte eine Dienerin auf dem Schlosshof auf. »Wir kommen aus der Smaragdenstadt«, erklärte der Scheuch, »wir sind eingeladen.« Die Dienerin war neu, sie kannte Betty und ihren Mann nur aus Erzäh lungen. »Ach, du bist der Weise Scheuch«, sagte sie, nachdem sie die Einladung studiert hatte. »Herzlich willkommen. Die Fee lässt sich entschuldigen, sie hat jetzt leider keine Zeit. Sie bereitet sich auf die Krönung vor.« »Auf die Krönung?«, fragte Betty erstaunt. »Ja. Die Fee hat beschlossen, sich anlässlich des Jubiläums zur Königin krönen zu lassen.« »Wirklich?« Der Scheuch fand das sehr ungewöhnlich. »Wir waren anfangs gleichfalls überrascht«, erwiderte die Dienerin. »Sie wird ihre Gründe haben«, sagte die Prinzessin versöhnlich. »Gut. Dann zeig uns bitte unsere Zimmer.« Der Scheuch war der fe sten Überzeugung, sie würden, wie schon früher, im Schloss wohnen. Der Dienerin schien die Sache peinlich. »Ihr müsst zum ›Hirsch‹ fah ren«, erklärte sie. »Das ist ein Gasthaus im Zentrum.« »Ins Gasthaus sollen wir?«, fragte der Scheuch nun noch verblüffter. »Ja, dort sind Zimmer reserviert. Die Fee hat es so angeordnet. Und jetzt wollt ihr mich bitte entschuldigen, ich muss zurück.« Sie ver schwand im Haus. Betty und der Scheuch schauten sich verdutzt an. Larry Katzenschreck sagte ein wenig schadenfroh: »Das war wohl nicht der Empfang, den ihr erwartet hattet?« »Nein«, gab Betty zu, »so kennen wir Stella gar nicht.« »Dann wollen wir mal sehen, wie es weitergeht«, fiepte der Mäuserich. »Was mich betrifft, so habe ich ja mein Quartier schon. Da ich nun weiß, wo ihr zu finden seid, verabschiede ich mich.« Er machte sich davon, kroch ins erstbeste Mauseloch.
Der Kutscher wendete und sie rollten in Richtung Gasthaus. Der Scheuch war nicht eingebildet, aber wie ein Herrscher, der eine im Zau berland so bekannte Stadt und das Land der Käuer regierte, fühlte er sich nicht behandelt. Seine Frau versuchte ihn zu beruhigen. »Stella hat bei dieser Riesenfeier den Kopf voll. Morgen, wenn wir uns erholt haben, werden wir zu ihr gehen und dann sieht wieder alles ganz anders aus.« Im Gasthaus jedoch erwartete sie eine große Freude. Aus einem Fen ster im ersten Stock schaute ein rundes Gesicht mit einem Trichter auf dem Kopf heraus. »Der Eiserne Holzfäller ist schon da«, rief Betty und winkte ihm aufge regt zu. Auch der Scheuch strahlte übers ganze Gesicht. Der Freund, genauso begeistert, winkte zurück und kam gleich darauf die Treppe heruntergepoltert. Beglückt lagen sich die drei in den Armen. »Du wohnst also gleichfalls nicht im Schloss«, stellte der Scheuch fest. »Nein. Ich habe die Fee noch nicht zu Gesicht bekommen.« »Genau wie wir. Ist der Tapfere Löwe schon eingetroffen?« »Ich glaube nicht«, erwiderte der Holzfäller, »aber mein Herz sagt mir, dass er unterwegs ist.« »Der Löwe wird bestimmt im Schloss übernachten«, vermutete Betty. »Er braucht ja kein Zimmer, sondern kann sich einfach irgendwo im Park ausstrecken.«
WAS DEM LÖWEN WIDERFUHR Der Tapfere Löwe kam, wie üblich, zu Fuß ins Rosa Land. Zwar musste er vom Tierreich bis hierher ein gutes Stück Wegs zurücklegen, aber er war langes Laufen gewohnt. Er war auch zeitig genug aufgebrochen, um pünktlich in der Hauptstadt zu sein. Unterwegs dachte er an den Scheuch, Betty Strubbelhaar, den Holzfäller und vor allem an Jessica, die er sehr liebte. Bestimmt hatten sie alle eine Einladung erhalten. Hoffent lich vergaß man nicht, das Mädchen vom Strand des Muschelmeers ab
zuholen, wo sie immer mit dem Zaubertrog landete. Die Fee hat alles bedacht, sie wird jemanden hinschicken, sagte er sich. Da der Löwe die Straßen meist nur in Gesellschaft von Menschen be nutzte, sonst aber querfeldein rannte, gelangte er zunächst zu Eschnos Wiese. Er hätte dem Pferd gern guten Tag gesagt, denn sie kannten sich seit Jahren. Doch der Hengst war nicht da. Nur ein paar Ziegen spran gen angepflockt herum. Als sie den König der Tiere erblickten, mecker ten sie laut vor Schreck und hätten sich am liebsten losgerissen. Der Löwe beruhigte sie. »Kennt ihr mich denn nicht?«, fragte er. »Ich bin ein Freund von Stella und nicht gekommen, euch zu verspeisen. Ich habe eine Einladung zum großen Fest. Also tut mir den Gefallen und benehmt euch wieder nor mal.« Die Ziegen besannen sich etwas, sie meckerten nicht mehr ganz so laut. Freilich hielten sie so viel Abstand wie möglich zu der Raubkatze. »Wenn ihr nun schon mal hier seid«, fuhr der Löwe fort, »dann sagt mir doch, wieso Eschno nicht auf der Weide ist. Um diese Zeit trifft man ihn sonst meistens hier an.« »Eschno ist verschwunden, vor drei Wochen bereits.« Die älteste Ziege raffte sich zu einer Antwort auf. »Verschwunden? Wohin?« Der Löwe verstand nicht.
»Das weiß niemand. Er war plötzlich weg und ist nicht wieder aufge taucht«, erwiderte die Ziege. »Sonderbar.« Der Löwe wunderte sich noch mehr. »Jetzt gehört die Wiese uns«, meckerte nun eine der jüngeren Ziegen. »Heute sind wir an dieser Stelle, morgen an einer anderen. Überall dort, wo gutes Futter wächst. Bloß hinter den Zaun dürfen wir nicht.« »Hinter welchen Zaun?« »Hinter den um das rosa Bäumchen«, sagte die Ziege. »Er steht dort, wo die Weide zu Ende ist. Am Waldrand.« Der Löwe begriff auch diesmal wenig. Der Zaun und das rosa Bäum chen interessierten ihn nicht. Diese Ziegen schwatzen alles Mögliche, wenn der Tag lang ist, dachte er. Ohne weiter zuzuhören, lief er zum Schloss. Doch auch er wurde nicht von der Fee empfangen. Im Gegenteil, als sie ihn vom Balkon aus im Hof erblickte, zog sie sich schnell zurück. Durch den Torwächter ließ sie ihm dann ausrichten, sie hätte keine Zeit und würde ihm morgen einen Boten schicken. »Morgen beginnt, soviel ich weiß, das Fest«, sagte der Löwe, »da wird sie erst recht keine Zeit für mich finden. Aber sei’s drum. Wo soll ich übernachten?« »Du bist ein Tier und wirst einen Platz im Freien finden«, erwiderte der Wächter.
Der Löwe fand diese Worte nicht gerade höflich; immerhin war er König im Tierreich, ein Freund und eingeladen. Er hielt sich aber zu rück. »Dann sag mir wenigstens, ob der Weise Scheuch, der Eiserne Holzfäl ler und Jessica schon da sind«, erkundigte er sich. »Einige Herrschaften sind im ›Hirsch‹ untergebracht. Von einer Jessica weiß ich nichts.« Vor Enttäuschung stieß der Löwe ein kurzes Gebrüll aus, so dass der Torwächter erschrocken zurückwich. »Ich kann wirklich nichts dazu sagen«, stotterte er. »Ich möchte mit der Fee sprechen«, verlangte der Löwe entschlossen. »Da… das geht nicht. Ich hab’s doch schon erklärt.« »Lass mich durch, bevor ich wütend werde.« Der Torwächter gab zitternd den Weg frei und der Löwe rannte die Schlosstreppe hinauf. Er durchquerte mehrere festlich geschmückte Säle und traf im letzten auf die Fee, die mit ihrer Garderobe beschäftigt war. Einige Zofen standen um sie herum und bedienten sie. Der Löwe kannte keine einzige, denn die falsche Stella hatte die Zeit genutzt und das mei ste Personal ausgewechselt. Von den früheren Angestellten waren nur noch der Koch und eine alte Dienerin da. »Verzeih, dass ich so hereinplatze, liebe Fee«, hechelte der Tapfere Löwe, ohne auf das Erschrecken der Anwesenden zu achten. »Ich möch te dich nicht von deinen wichtigen Geschäften abhalten, aber es geht um Jessica. Ich muss unbedingt wissen, ob du sie eingeladen hast.« Aus seiner Zeit als Sekretär erinnerte sich Mark an verschiedene Briefe, die er hatte schreiben müssen. Darunter war einer an diese Raubkatze gewesen und einer an ein Mädchen aus der Menschenwelt. Er machte gute Miene zum bösen Spiel. »Beruhige dich, lieber Löwe«, erwiderte er, »Jessica ist eingeladen wor den. Schließlich wissen wir, wer unsere Freunde sind. Entschuldige auch, dass ich mich im Moment wenig um meine Gäste kümmern kann. Ich hoffe, dir ist ein Nachtlager, ein gutes Mahl und frisches Wasser angebo ten worden.«
»Das nicht, aber ich finde mich schon zurecht.« Der Löwe war zu stolz, im Nachhinein etwas anzunehmen. »Nur noch eins: Wer holt Jessi ca vom Muschelmeer ab, wo sie mit dem Zaubertrog landet?« Diese Frage war Mark unangenehm, er hatte sich absichtlich nicht um das Mädchen gekümmert. Was ging ihn die Kleine an, er brauchte sie nicht. Zwar hatte der Adler, der für ihre Benachrichtigung zuständig gewesen war, das Muschelmeer erwähnt, doch Mark hatte ihn abgewim melt. Sie würden jemanden hinschicken. Das war allerdings nicht ge schehen. »Keine Sorge«, behauptete er nun wider besseres Wissen, »das geht in Ordnung.« Und weil ihm nichts anderes einfiel: »Die Adler bringen das Mädchen her.« »Wunderbar, jetzt bin ich beruhigt.« Der Löwe wandte sich zum Ge hen. »Bringt dem Gast wenigstens einen Trunk Wasser«, rief Mark halbher zig. »Danke, ich bediene mich am Brunnen.« »Das ist ein guter Gedanke«, pflichtete die falsche Fee eifrig bei. Sie war froh, diese gefährliche Raubkatze wieder loszuwerden. Der Löwe trank sich am Hofbrunnen satt und lief dann in die Stadt, um seine Freunde zu begrüßen. Als er im Gasthaus eintraf, gab es ein großes Hallo.
»Hat Stella wenigstens dir ein Quartier im Schlosspark angeboten?«, er kundigte sich Prinzessin Betty. »Nein. Sie scheint ganz mit der Vorbereitung des Festes beschäftigt zu sein. Sie war anders als sonst, ist ein bisschen dicker als früher, prunkvol ler gekleidet und nicht mehr so herzlich.« »Eigenartig, dass sie sich plötzlich zur Königin krönen lassen will«, murmelte der Scheuch. »Das ist ihr gutes Recht, nach all den Jahren«, sagte der Holzfäller, »und dass sie nicht mehr so herzlich ist, bilden wir uns gewiss nur ein. Hauptsache, es wird ein schönes Fest, an dem alle ihre Freude haben.«
DER SANDMOLCH Jessica stand verdutzt auf der hohen Düne, von der man einen weiten Blick nach jeder Seite hatte. Sie hielt angestrengt Ausschau – kein Groß vater Goodwin zu sehen. Wo in aller Welt war er hin? »Opa, wo steckst du?« Sie legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief, so laut sie konnte. Doch es kam keine Antwort. Einen Moment lang dachte Jessica, der Großvater sei in dem herrli chen Meerwasser schwimmen gegangen, aber das konnte nicht sein. So weit draußen, dass sie ihn nicht mehr sah, war er auf keinen Fall. Hoffentlich ist er nicht ertrunken, dachte sie und wurde vor Schreck ganz blass. Sofort fiel ihr jedoch ein, dass dann irgendwo seine Kleider liegen müssten, schließlich geht man nicht angezogen baden. Sie schaute sich erneut um – weder Hose noch Jacke, weder Hemd noch Schuhe. Nur eine Glasscherbe blinkte etwas weiter weg im Sand. Obwohl das bestimmt keine Bedeutung hatte, rannte Jessica hin und stellte fest: Es war gar keine Scherbe, sondern Opas alte Taschenuhr. Er musste sie verloren haben. Im Dünensand bleiben keine Abdrücke zurück, wenigstens nicht, wenn der Wind Zeit hat, sie zu verwehen. Doch Jessica war nur kurz weg ge wesen und so entdeckte sie eine kaum noch wahrnehmbare Schleif spur,
die in Richtung Riedgras führte. Ob Großvater Goodwin überfallen und verschleppt worden war? Sie hob die Uhr auf und folgte der Spur. Der Boden wurde fester, der Sand war nicht mehr so tief, hier und da spross bereits Gras und Jessica konnte nun an den geknickten Halmen erkennen, wo der Großvater entlanggeschleift worden war. Denn dass es sich um ihn handelte, war ihr klar. Auch dass er die Strecke nicht von allein, vielleicht kriechend, zurückgelegt hatte. Selbst wenn er das in sei nem Alter geschafft hätte – warum sollte er so etwas machen? Schließlich gelangte sie in höheres Gras und hörte ein Schnaufen. Es klang nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Tier. Jessica legte sich hin und robbte vorsichtig weiter. Ein leichter Wind wehte ihr entgegen und sorgte dafür, dass der Räuber keine Witterung aufnehmen konnte. Ein Räuber aber war es, das stand fest. Als Jessica nämlich das Riedgras vor sich auseinanderbog, erblickte sie eine Sandkuhle, in der starr und steif der Großvater lag. Neben ihm jedoch wälzte sich, zufrieden schnüffelnd, ein doppelt so großer brauner Wurm mit breitem Maul, Barthaaren und mindestens acht winzigen Füßen.
Jessica legte sich sofort ganz flach auf den Boden und hielt den Atem an. Ob der Opa tot war? Bestimmt wollte dieser große Sandmolch, oder was es sonst sein mochte, ihn fressen. Ihr Pech war, dass sich in diesem Augenblick der Wind drehte. Der Molch hob schnuppernd den Kopf und richtete, wie eine Robbe, den Oberkörper auf. Er stieß einen Gurgellaut aus und kroch auf sie zu. Jessica wartete nicht erst ab, bis er bei ihr war. Sie sprang auf und rann te davon. Der Molch freilich, so plump er auch aussah, war schneller als sie. Halb auf dem Bauch gleitend, halb die kleinen Füße gebrauchend, raste er hinter ihr her, kam immer näher. Jessica fürchtete im Sand erst recht verloren zu sein und lief auf die Berge zu. Dennoch holte der Molch sie ein. Er flog geradezu heran. »Hilfe«, rief Jessica, obwohl niemand in der Nähe war, der es hätte hö ren können. Dann stolperte sie über einen Stein und klatschte lang hin in einen Busch. Sie glaubte ihr letztes Stündlein gekommen. Doch der Molch packte sie nicht, sondern stoppte so jäh, dass er eine Bremsspur ins Erdreich schrammte. Er stieß einen Schmerzensschrei aus und blieb liegen. Seine Barthaare sträubten sich. Jessica rappelte sich auf und rannte weiter. Sofort spürte sie den Atem des Tieres, das um den Busch herumgekrochen war, wieder hinter sich. Erneut tauchten Sträucher auf und das Mädchen hatte keine Zeit, ihnen auszuweichen. Sie warf sich mitten ins Blättergewirr und diesmal folgte ihr der Molch. Bei einem anderen Busch dagegen stoppte er genauso plötzlich wie beim ersten Mal. Keuchend blieb Jessica stehen, ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Offenbar scheute der Räuber vor bestimmten Sträuchern zurück, während ihm andere nichts ausmachten. Sie schaute sich den Busch, in dem sie stand, genauer an. Dornen hatte er nicht, aber stark riechende Beeren. Es waren die gleichen roten und ungenießbaren Beeren, die sie vorhin gekostet hatte. Jessica, obwohl noch zitternd, nahm eine Handvoll Beeren und warf sie nach dem Sandmolch. Mit einem Knurrlaut sprang das Tier zurück. »Du scheinst dich vor dem Zeug zu fürchten«, sagte das Mädchen, »na warte!« Sie zerdrückte einige Beeren, rieb sich damit Hände und Gesicht
ein. Der Saft brannte leicht auf der Haut, der Geruch stieg ihr säuerlich in die Nase, aber alles in allem war es erträglich. Jessica nahm all ihren Mut zusammen und trat, weitere Büschel der roten Früchte in den Hän den, einen Schritt nach vorn. Entsetzt schniefend wich der Molch vor ihr zurück. »Wirklich, du magst diese Beeren nicht«, murmelte Jessica, »sie verder ben dir den Appetit. Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Aber du hast Opa Goodwin in deiner Gewalt und deshalb kriegst du mich nicht so schnell los. Hoffentlich hast du ihn nicht totgemacht.« Ihr schossen die Tränen in die Augen. Die Hände vorgestreckt und ab und zu eine Beere zerdrückend, trieb Jessica den Sandmolch bis zur Kuhle mit dem Großvater zurück. Das Tier fletschte die Zähne, es gurgelte und stieß wilde Klagelaute aus, doch das nützte ihm nichts. Das Mädchen vertrieb ihn auch aus der Kuhle selbst und kniete sich neben Goodwin auf den Boden. Sie legte das Ohr an seine Brust – ein Glück, sein Herz schlug noch.
»Wach auf, Opa«, rief Jessica und schüttelte den Alten. Als das nichts half, ohrfeigte sie ihn ein bisschen, versuchte es dann mit Mund-zu Mund-Beatmung. Aber erst als sie ihm die Beeren unter die Nase hielt, kam er mit einem Niesen zu sich. Er richtete sich auf und fragte: »Wo ist die Robbe? Sie hat mich gebissen.« Er zeigte ihr den Arm, auf dem noch der Abdruck zweier Zähne zu sehen war. »Das Vieh hockt dort im Gras«, erwiderte Jessica, »aber es ist bestimmt keine Robbe. Es wollte uns beide fressen. Robben gehen nicht so auf Menschen los.« »Soll es sein, was es will, ich werde ihm zeigen, wer hier wen frisst.« Der Großvater erhob sich taumelnd. »Setz dich lieber wieder hin, Opa«, bat Jessica. »Das Tier hatte dich be täubt und du bist noch viel zu schwach. Außerdem würden wir selbst zu zweit nicht mit ihm fertig werden. Bloß weil ich einen Strauch mit Bee ren entdeckt habe, die es absolut nicht mag, konnte ich uns retten.« Und sie berichtete, was passiert war.
Erst jetzt begriff der Großvater, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Ihm begannen noch im Nachhinein die Knie zu zittern. Auf Jessicas Vorschlag hin rieb auch er sich Gesicht und Hände mit dem roten Bee rensaft ein, obwohl ihm das sichtlich unangenehm war und er mehrfach dabei niesen musste. Dann kehrten sie zu ihrer Düne zurück. Der Sand molch, der wegen des entgangenen Mahls jämmerlich quiekte, folgte ihnen nicht. Auf der Düne gab Jessica dem Großvater die Uhr zurück. Es ging bereits auf den Abend zu und noch war niemand gekommen, das Mädchen abzuholen. »Deine Stella hat dich versetzt«, sagte Goodwin, »am besten, du fliegst mit mir zurück nach Hause. Hätte ich gewusst, dass es hier so gefährlich ist, hätte ich dich gar nicht erst weggelassen.« »Zu Hause ist es auch gefährlich«, widersprach Jessica. »Denk nur mal, wieviele Kinder von Autos überfahren oder von Gangstern umgebracht werden. Stella hat mich eingeladen und du weißt doch noch von früher, was für eine Ehre das ist.« »Autos sind trotzdem was anderes als solche Ungeheuer«, brummte der Großvater. Er wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber daran gehin dert, denn Jessica sprang unvermittelt auf und begann mit beiden Armen zu winken. Sie hatte gar nicht weit entfernt auf dem Meer eine Schar Delfine gesehen. »Hierher, hier bin ich!«, rief sie. Zunächst kümmerten sich die Delfine nicht um die beiden, dann schwamm einer von ihnen aber doch näher heran. Es war Floy, ein alter Bekannter. Jessica watete ihm ein Stück entgegen, während der Großva ter beunruhigt am Ufer stehen blieb. »Floy, ich wusste, dass du mich abholst«, sagte das Mädchen. Floy zeig te sich über alle Maßen erstaunt, sie zu sehen. »Ich kann’s nicht glauben. Ist das wirklich die kleine Jessica?«, schnarr te er. »Wieso kannst du das nicht glauben? Wenn sie es dir nicht mitgeteilt hätten, wärst du doch nicht hier.« Aber in diesem Punkt hatte sich Jessica geirrt. Der Delfin und seine Freunde waren rein zufällig in der Gegend.
»Und das gläserne Boot liegt auch nicht in der Nähe?«, fragte Jessica dennoch hoffnungsvoll. »Ich muss dich enttäuschen. Mit dem Glasboot ist die Seekönigin un terwegs«, erwiderte Floy. Jessica ließ den Kopf hängen. »Dann ist es nicht zu ändern. Dann muss ich weiter hier warten.« Floy beriet sich mit seinen Gefährten. »Wenn ihr ein wenig Mut habt, könnten wir euch auf dem Rücken ans andere Ufer tragen«, schlug er vor. »Von dort ist es nicht mehr weit zum Rosa Land.« Goodwin, der sich gleichfalls ein paar Schritte ins Wasser gewagt hatte, wehrte sofort ab. »Das wäre viel zu gefährlich und nass würde man auch. Und was heißt übrigens ihr? Was mich angeht, so muss ich nach Hause. Ich fliege mit dem Trog zurück.« »Wirklich? Und wie soll Jessica auf ihrem Heimweg über die Weltum spannenden Berge kommen, wenn du den Trog nimmst?«, fragte Floy verschmitzt. Das hatte sich Goodwin nicht überlegt. Er gab keine Antwort. »Opa kann mich ja in ein paar Tagen hier wieder abholen«, schlug Jes sica vor. »Auf keinen Fall! Du denkst wohl, ich fliege mit diesem unheimlichen Ding dauernd hin und her? Noch ein einziges Mal und dann nie wieder! Du aber kommst mit mir zurück. Du siehst ja, es geht nicht anders.« Jessica überlegte. Da sie den Großvater nicht verärgern wollte, griff sie zu einer List. »Ich glaube, das funktioniert nicht«, wandte sie ein. »Du hast doch ge merkt, wie schwer der Trog an der doppelten Last trug. Wie er ächzte. Vielleicht stürzt er ab, wenn wir wieder zu zweit einsteigen.« So ungern der Großvater dieses Argument auch hörte, es leuchtete ihm ein. Er sträubte sich noch eine Weile, gab sich aber schließlich geschla gen. Die Gefahr, mit der Enkelin abzustürzen, erschien ihm größer als das Risiko, auf den Delfinen zu reiten. Die Nacht jedoch in der Nähe des
hungrigen Sandmolchs zu verbringen, war ihm trotz aller roter Beeren erst recht unheimlich. »Ihr habt mich überzeugt«, seufzte er, »ich muss mich fügen. Wer hätte gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch mal ins Zauberland gerate. Wenn ihr uns beide also übersetzen wollt, soll es geschehen.« Jessica fiel ihm um den Hals. »Ich hab gewusst, dass du mit zu Stella kommst, Opa, ich hab’s immer gewusst.«
ESCHNO ERWACHT Eschno schlug die Augen auf, begriff aber nicht, was geschehen war. Er befand sich in einem Wald mit hohen Bäumen und Lianen, der von ei nem Gewirr unbekannter Tierstimmen erfüllt war. Etwas Furchtbares war ihm widerfahren, jemand hatte einen Fluch gegen ihn ausgestoßen, irgendeine Zauberformel, daran erinnerte er sich, sonst aber an nichts. Nicht wann das gewesen war, nicht wo, nicht einmal an seinen Namen. Wo gehöre ich hin, dachte Eschno, wer war mein Herr und wer hat mir solchen Schaden zugefügt? Er wusste nur eins: In diesem Wald war er noch nie gewesen.
In Wirklichkeit hatte der Hengst Glück im Unglück gehabt. Als er noch wachen Sinnes gewesen war, hatte er, einen Anschlag Marks be fürchtend, zweimal am Tag jungen Ginster genascht, der gegen böse Sprüche helfen sollte. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte zwar nicht ausge reicht, das Unheil abzuwenden, sie hatte ihm aber das Leben gerettet. Statt in den Sumpf zu stürzen, wie es Stellas Sekretär wollte, und dort jämmerlich zu ersaufen, war Eschno im Urwald gelandet. Er hatte mehr oder weniger sein Gedächtnis und sehr viel Kraft verloren, hatte wo chenlang in Ohnmacht dahingedämmert, doch umgekommen war er nicht. Der Hengst erhob sich und versuchte mit den Blicken das Dickicht zu durchdringen. Hier bin ich keineswegs zu Hause, überlegte er erneut, hier gibt es ja kein bisschen Platz zum Rennen und Springen. Er fand einen Pfad durchs Gestrüpp und folgte ihm. Nach einer Weile gelangte er zu einem Tümpel. Wenigstens konnte er hier seinen Durst stillen.
Eschno trank, bis er genug hatte, und betrachtete dabei sein Spiegel bild. Sein Hang zum Philosophieren war ihm geblieben, deshalb starrte er ins Wasser und sagte: »Du bist ein Gespenst, Pferd mit der Blesse auf der Stirn, nichts als ein graues Gespenst.« Plötzlich schob sich über seinen Kopf im Tümpel ein runder kanin chengroßer Körper mit sechs staksigen Beinen und eine Stimme krächz te: »Das gibt es nicht. Ein Pferd mitten im Urwald und dazu eins, das Selbstgespräche führt.« Eschno blickte auf. In einem Netz zwischen zwei Ästen über ihm hing eine riesige braune Spinne und glotzte ihn an. »Entschuldige, wenn ich dich gestört haben sollte«, sagte der Hengst. »Wusst ich doch, dass du höflich bist. Im Gegensatz zu mir, hihi. Ge stört hast du mich aber nicht. Ich saß nur da und habe gedöst. Wie kommst du hierher?« »Wenn ich das wüsste.« Eschno schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich kenne weder meinen Namen noch den Ort, wo ich mich früher aufhielt. Hier war ich jedenfalls noch nie. Vielleicht kannst du mir den Weg aus dieser Wildnis zeigen.« Die Spinne kratzte sich den Kopf. »So wahr ich Minni heiße, ich kenne den Weg nicht. Wohne schon zu lange auf diesem Baum. Du aber bist ein komischer Gaul. Warum weißt du nichts mehr von dir?« »Ich erinnere mich, dass jemand einen Spruch gegen mich getan hat«, sagte Eschno. »Dann war alles dunkel.« »Zauberei, hihi, Zauberei«, freute sich die Spinne. »Darüber kann ich nicht lachen.« Der Hengst sah nicht gerade glück lich aus. »Solltest du aber. Wenn man verzaubert wird, kann man auch wieder entzaubert werden. Das wussten schon meine früheren Gefährten, die alten Riesenspinnen aus dem Spinnental.«
»Im Moment nützt mir das bloß nichts«, wandte Eschno ein. Die Spin ne schwieg, sie schien nachzudenken. »Kannst du mir denn gar nicht weiterhelfen?«, drängte Eschno. »Ich helfe nie jemandem«, krächzte Minni, »das ist mein Prinzip. Ich fange meine Opfer ein und gebe Acht, dass niemand mich schnappt. Du freilich bist zu groß, als dass ich dir mein Netz überstülpen würde, und andererseits keine Gefahr für mich. Immerhin geht mir da was durch den Kopf.« »Wenn du mir nicht helfen willst, kann mir auch gleich sein, was dir durch den Kopf geht.« Eschno war gekränkt. »Nicht so schnell. Seit Jahren sitze ich hier im Urwald und schlage mir den Bauch mit Riesenschmetterlingen voll. Ich könnte mal eine Luftver änderung gebrauchen. Lass mich bei dir aufsitzen und wir reiten ins Freie.« »Ich denke, du weißt den Weg nicht.« »Die Richtung, in die wir gehen müssen, kann ich dir immerhin verra ten«, erklärte Minni. Dem Pferd blieb keine große Wahl. Mit einigen dickblättrigen Pflanzen den größten Hunger stillend, sah es zu, wie die Spinne ihr Netz zusam menrollte und es sich unter den Bauch klebte – eine originelle Trans portmethode! Dann hielt es still, damit das sonderbare Tier ihm auf den Rücken springen konnte. »Nun vorwärts, immer auf die Sonne zu«, sagte Minni. Der Hengst setzte sich in Bewegung, obwohl er nicht wusste, ob er der Spinne vertrauen konnte. Doch schon bald sollte sich Minnis Nützlich keit erweisen. Als vor ihnen eine dicke Liane von einem Ast herunter hing, zwickte sie Eschno so heftig in die Flanke, dass er einen Sprung zur Seite machte und gleich noch über ein paar niedrige Büsche setzte. »Bist du verrückt, mich so zu kneifen?«, wieherte das Pferd er schrocken. »Schau mal zurück!« Eschno wandte den Kopf und sah gerade noch, wie sich die angebliche Liane enttäuscht auf den Baum zurückzog. Es war eine Riesenschlange.
»Danke«, sagte er verlegen. »Nichts zu danken. Das war ganz in mei nem Interesse.« Minni, die bei den Sprüngen Mühe gehabt hatte, sich auf seinem Rücken zu halten, lockerte ihren Griff. Ein Rudel Paviane tauchte auf und begleitete sie ein Stück. »Wo will das lahme Pferd mit dieser großen Giftspinne hin?«, fragte ein vorlautes Äffchen. »Dorthin, wo man Leute, die dumme Fragen stellen, auf dem Rost brät«, erwiderte Minni. Die Paviane begannen beleidigt zu kreischen und bewarfen die beiden mit Nüssen. Eschno musste Fersengeld geben. Als er die Affen endlich abgehängt hatte, beschwerte er sich. »Ich hab mir fast die Seele aus dem Hals gepustet, um das Rudel los zuwerden. Du solltest deine Zunge im Zaum halten.« »Ach was, die verdienen es nicht anders. Außerdem sind wir auf diese Weise gut vorangekommen.« Eschno schüttelte unwillig den Kopf, trabte aber wieder los. Bis Minni zischte: »Vorsicht, keinen Schritt weiter!« »Was ist denn nun wieder los?«, fragte das Pferd, erstarrte jedoch im gleichen Moment vor Schreck. Vor ihm löste sich eine große Raubkatze aus dem Geflecht der Schlingpflanzen und Zweige. Mit Riesensätzen stürmte ein Leopard auf die beiden zu. Eschno wollte davonstürzen, aber wohin? Überall war Dickicht und auf dem Pfad hinter ihnen wäre er sehr schnell eingeholt worden. »Gib’s ihm mit den Hufen«, krächzte Minni, »halt ihn auf.« Sie selbst war im Nu weg, auf dem erstbesten Baum. Eschno erhob sich laut wiehernd auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen nach dem Leoparden. Verblüfft blieb der Räuber ste hen, drückte sich an einen Busch. Minni, von oben, schrie: »Na los, du Feigling, greif doch an, lass dir eins vor die Schnauze don nern!«
Der Leopard knurrte und kletterte auf einen Ast. Eschno begriff, dass er einen günstigen Ausgangspunkt für den Angriff suchte. Von oben konnte ihm das Raubtier auf den Rücken springen und an der Kehle packen. Er wich so weit zurück, wie es ging. Dennoch wäre der Hengst verloren gewesen, hätte Minni den Leoparden nicht abgelenkt. Sie trommelte mit ihren sechs Füßen gegen den Baum, auf dem sie saß, und rief: »Lass dich nicht einschüchtern, Pferd. Das ist ein Feigling. Gib’s ihm!« »Halt du dich da raus, Missgeburt«, knurrte der Leopard, »sonst bist du zuerst dran.« »Missgeburt? Ich? Hat man je so eine Unverschämtheit gehört? Und das von der schäbigsten Katze im ganzen Wald.« Der Leopard war wütend, strafte die Spinne nun aber mit Nichtach tung. Er duckte sich zum Sprung auf Eschno. Doch Minni zu unterschätzen war ein Fehler, das hatte schon manch einer vor ihm erfahren müssen. Sie befand sich inzwischen genau über
dem Raubtier und im Moment, da es von seinem Ast los schnellte, schleuderte sie ihr Netz herab. Wie bei allen Spinnen vom Spinnental war sie darin ein Meister. Zwar schoss der Leopard durch die Luft, doch er erreichte sein Ziel nicht. Stattdessen landete er in einem Gespinst von zähen elastischen Fäden. Sie klebten an ihm, wickelten ihn ein und waren so fest, dass sie höchstens ein Stier hätte zerreißen können. Die Raub katze heulte auf, kratzte und biss – gefangen war sie trotzdem. »Damit du Ruhe gibst, werd ich dir erst einmal eine Spritze verpassen«, sagte Minni. Sie eilte blitzschnell vom Baum herab und bohrte ihm ihren Stachel in den Hintern. »Willst du ihn töten?«, fragte Eschno, dem noch die Knie zitterten. »Iwo, Katzenfleisch schmeckt mir nicht und er wollte sich ja bloß ein bisschen Nahrung sichern, wie alle Welt.« »Wie mitfühlend du bist. Die Nahrung wäre ich gewesen. Dank jeden falls, dass du mir das Leben gerettet hast.« »Nichts zu danken«, erwiderte die Spinne wie schon bei der Riesen schlange. »Es war ganz in meinem Sinne. Ich hab nicht so oft die Mög lichkeit, die Gegend von einem Pferderücken aus zu betrachten.« Nach diesem Zwischenfall trabten sie weiter, ließen die betäubte Raub katze einfach liegen. Geschickt und mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, holte Minni vorher allerdings noch ihr Netz ein. »Ein herrlich stabiles Netz«, stellte Eschno fest. »Wenn du wüsstest, wer alles schon darin gezappelt hat. Sogar einen Blechmann habe ich mit so einem Netz gefangen.« »Einen Blechmann?« In Eschnos Kopf klang etwas an. »Ja. Er nannte sich der Eiserne Holzfäller. Ein Freund des Scheuch und des Tapferen Löwen. Den Scheuch hatte ich übrigens auch schon in meinen Fängen.« Der Hengst blieb stehen. »Die Namen kenne ich. Die muss ich früher schon mal gehört haben.« »Das ist kein Wunder«, sagte Minni, »sie sind sogar im Urwald be kannt.«
Endlich lichtete sich der Wald und eine weite Ebene mit Gras und niedrigen Büschen lag vor ihnen. Eschno wieherte freudig. »Das gefällt mir schon besser.« Inzwischen war es dunkel geworden und sie mussten sich einen Schlaf platz suchen. Sie fanden ihn zwischen einigen schützenden Sträuchern. Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle und morgens wachte die Spinne als erste auf. Sie kroch auf einen Baum, hielt Ausschau. Dann weckte sie den Hengst. »Dort drüben ist ein Fluss«, zischelte sie, »und wo Wasser ist, leben Menschen. Vielleicht kommst du von dort.« »Gehn wir hin?«, fragte Eschno. »Zum Fluss ja, zu den Menschen nicht unbedingt. Wenigstens was meine Person betrifft«, erwiderte Minni. »Dann müssen wir uns wohl trennen«, sagte Eschno. »Ich glaube, da kommen schon welche.«
DIE BEGEGNUNG MIT KIM
Der Tapfere Löwe hatte nicht, wie seine Freunde, im Gasthaus über nachtet, sondern sich einen Platz im Freien gesucht. Am Waldrand, die Baumkronen und den Sternenhimmel über sich, fühlte er sich wohl. Nach dem anstrengenden Tag, dem langen Laufen und den Gesprächen war er sehr müde. Ohne gestört zu werden, schlief er fest bis zum Mor gen. Kaum war die Sonne aufgegangen, sprang der Löwe auf die Füße und lief zu einem nahen Bach, um zu trinken. Das Wasser war klar und schmeckte ausgezeichnet. Und jetzt ins Schloss, dort wird man bestimmt ein Frühstück für mich haben, dachte er. Er trabte los, doch plötzlich drang ihm ein Wispern und Seufzen ans Ohr. Erstaunt wandte der Löwe den Kopf. Er sah einen Bretterzaun, der einen kleinen Platz eingrenzte. Was hinter dem Zaun war, blieb seinem Blick verborgen. Der Löwe näherte sich neugierig der Abgrenzung. Durch eine Ritze zwischen den Brettern entdeckte er ein Bäumchen mit rosa Blättern und Blüten. Das Seufzen und Wispern kam direkt aus den Zweigen. Auch Wassertropfen, Tränen gleich, fielen von den Blättern zur Erde. Der Herrscher des Tierreichs wunderte sich. Wieso hatte man ein so hübsches und seltenes Gewächs eingezäunt? Ihm fiel ein, dass schon die Ziegen gestern von diesem Baum gesprochen hatten. Er versuchte mit seinem scharfen Gehör, dem Wispern auf die Spur zu kommen. Lange verstand er nichts, aber dann entschlüsselten sich ihm doch einzelne Wörter: »Verdorben… verloren… wiedergeboren. Verkauft und verraten… dem Land zum Schaden«, glaubte er zu vernehmen und kurz darauf: »Eschno, mein Lieber, wo bist du?« Vor allem dieser letzte Satz war deutlich zu verstehen und der Löwe wunderte sich noch mehr über den sprechenden Baum. Warum verlang te er nach dem Pferd? Er ging um die Eingrenzung herum und sah erst jetzt das Schild, das wegen Lebensgefahr verbot, über den Zaun zu klet tern. Das ist alles sehr sonderbar, sagte er sich, ich muss mit meinen Freunden darüber sprechen.
Er wurde abgelenkt, denn ein Kaninchen hoppelte aus dem Wald auf die Wiese. Es schien blind und taub zu sein, kam direkt auf ihn zu. Der Löwe überlegte einen Augenblick lang, ob er es fangen und zum Früh stück verspeisen sollte, doch er war Gast im Rosa Land und es ziemte sich nicht, hier auf Jagd zu gehen. Zudem bemerkte er, dass es kein rich tiges Kaninchen war. Das Tier torkelte ein wenig, weil ein großer Rüssel es immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte. Es kam ohne Scheu heran und blieb vor ihm stehen. »Willst du zu mir? Hast du keine Angst vor einem Löwen?« »Warum sollte ich?«, sagte das Tier. »Ich bin so erschöpft und unglück lich, dass es mir nichts ausmacht, gefressen zu werden.« »Na, na.« Bei dem Herrscher des Tierreichs regte sich Mitleid. »Was ist los mit dir, warum redest du so?« »Siehst du nicht den Rüssel, den ich mit mir herumschleppen muss? Ich kann weder springen noch richtig fressen und alle lachen mich aus. Ein Wunder, dass mich der Fuchs noch nicht erwischt hat.« »Ein Bäumchen, das seufzt und wispert, ein Kaninchen, das mit einem Rüssel herumläuft – ich bin schon etwas verblüfft«, gab der Löwe zu. »Die Natur hat eigenartige Einfälle.« »Die Natur, da irrst du gewaltig!« Fast schien das Kaninchen über so viel Begriffsstutzigkeit zu lachen. »Nein, Da ist schlimmste Hexerei im Spiel. Der Sekretär ist an allem schuld.« »Welcher Sekretär?«, fragte der Löwe. »Wen meinst du?« »Stellas Sekretär. Er hat sich ins Vertrauen der Fee geschlichen und be sitzt Zauberkräfte. Du bist wohl nicht von hier?« »Nein, ich bin Gast bei eurer großen Feier. Ich kenne Stella allerdings schon lange. Dass sie jetzt einen Sekretär hat, wusste ich nicht.« »Er hat mir den Rüssel angehext und Eschno, den silbergrauen Hengst, beiseite geschafft, dem ich davon erzählt hatte. Da bin ich mir sicher.« Nun war der Löwe schockiert. Was er hören musste, war kaum zu glauben. »Inzwischen ist der Sekretär aber selbst verschwunden«, fügte das Ka ninchen hinzu. »Angeblich befindet er sich auf Reisen.«
Der Löwe wusste nicht, was er von dieser Geschichte halten sollte. Sie unterhielten sich noch über das rosa Bäumchen, und das Kaninchen erklärte, es sei erst vor kurzem hier gewachsen. Dann beklagte es erneut sein Schicksal. »Warum sprichst du nicht mit der Fee darüber?«, fragte der Löwe. »Sie versteht sich doch aufs Zaubern und kann dich von dem Rüssel befrei en.« »Unsere Herrscherin hat sich sehr verändert. Es ist schwer, an sie he ranzukommen, denn sie gibt keine Audienzen mehr. Einmal habe ich sie im Park getroffen und ihr mein Leid geklagt. Sie lachte mich nur aus.« »Stella hat dich ausgelacht?«, rief der Löwe. »Was du erzählst, klingt sehr unwahrscheinlich. So kenne ich die Fee nicht.« »So wahr ich Kim heiße«, erwiderte das Kaninchen, »jedes Wort von mir stimmt. Das macht mich ja so traurig.« Nach diesem Gespräch trennten sie sich. Das Kaninchen Kim bedank te sich für das Verständnis, das ihm entgegengebracht worden war, und der Löwe versprach, Stella so bald wie möglich die Angelegenheit vorzu tragen. »Sie wird dir bestimmt helfen«, versicherte er. Er eilte zum Schloss, merkte aber gleich, dass dort weder an ein Tref fen mit der Fee noch an ein Frühstück zu denken war. Die Sonne stand inzwischen höher und die Menschen versammelten sich bereits zum großen Umzug. Hell gekleidet, mit Sonnenhüten auf den Köpfen, bun ten Wimpeln und Luftballons in den Händen, warteten sie darauf, dass es losgehen sollte. Es gab festlich geschmückte Kutschen, Spruchbänder zu Ehren der Stadt, des Landes und der gütigen Fee Stella, Tanzkapellen und Trommler. Auch Kioske wurden entlang der Straßen aufgebaut, durch die der Zug führen sollte, doch verkaufte man im Augenblick noch nichts. Auf jeden Fall war selbst für den Löwen bei diesem Ge tümmel kein Durchkommen zur Fee. Es hieß, sie sei in ihren Gemä chern, ließe niemanden zu sich und bereite sich auf die Zeremonie der Krönung vor. Der Löwe versuchte in die Schlossküche zu gelangen, wo das Festessen für den Abend bereitet wurde, doch überall standen Wächter, die erst in
den letzten Wochen eingestellt worden waren. Sie versperrten ihm den Weg und er hatte keine Lust, sich zu streiten. Schließlich gab er es auf und lief ins Gasthaus zu seinen Freunden. »Du kannst mein Frühstück haben«, bot sofort der Eiserne Holzfäller an, den der Löwe vor dem Haus beim Ölen seiner Gelenke traf. »Du weißt, dass ich wegen meiner Beschaffenheit kaum etwas zu essen brau che.« Der Weise Scheuch und Betty Strubbelhaar traten gerade aus der Tür und schlossen sich seinen Worten an. Auch sie benötigten ja keinerlei Nahrung. »Das Frühstück gehört zur Übernachtung«, erklärte die Puppe. »Wes halb soll es zurückgehen, wo wir es doch überhaupt nicht angerührt ha ben.« So kam es, dass der Herrscher des Tierreichs sechs gebratene Eier mit Speck, drei Würstchen, sechs mit Schinken belegte Brötchen, sechs Ho nigbrote, eine große Käsestulle und zum Nachtisch drei Ananastörtchen verspeiste. Dazu trank er abwechselnd Kirschsaft und Schokoladen milch. Der Wirt, als er die abgeschleckten Teller sah, wunderte sich sehr über den Appetit seiner drei Gäste.
Zwischendurch berichtete der Löwe von dem rosa Bäumchen und sei ner Begegnung mit dem Rüsselkaninchen Kim. »Habt ihr schon von diesem Sekretär und seinen angeblichen Zauber künsten gehört?«, wollte er wissen. Die Freunde verneinten. »Nur von dem Bäumchen hinter dem Bretterzaun hat uns der Wirt er zählt«, sagte der Scheuch. »Es soll richtige Tränen weinen.« »Mir kam es vor, als würde der Baum sprechen«, erwiderte der Löwe. »Er scheint um Eschno zu trauern, der ja verschwunden sein soll.« »Ich hoffe wirklich, dass wir bald Stella nach all diesen Dingen fragen können«, murmelte der Holzfäller. Mittlerweile waren sie in den Wirtshausgarten gegangen. Der Löwe er kundigte sich gerade nach Jessica, die immer noch nicht in der Stadt ein getroffen war, da senkte sich von einem hohen Baum ein Adler zu ihnen herab. »Entschuldigt, dass ich mich einmische«, quarrte er, »aber ihr habt so eben den Namen dieses Mädchens aus dem Menschenland erwähnt. Ist es richtig, dass ihr auf sie wartet?« »Das kann man wohl sagen«, rief der Löwe. »Seit Elli, der Fee des Tö tenden Häuschens, hatten wir keine so gute Freundin jenseits der Welt umspannenden Berge. Stella versicherte mir gestern, dass sie eingeladen ist, aber sie ist noch nicht da.« »Ich frage, weil ich es war, der ihr damals die Einladung überbracht hat«, erklärte der Adler. »Ich wollte mich auch darum kümmern, dass sie vom Muschelmeer abgeholt wird, doch die Fee war dagegen. Sie würde das selbst in die Hand nehmen.« »Mir hat sie gestern gesagt, die Adler würden Jessica herbringen«, ent gegnete der Löwe. »Das ist sonderbar. Davon müsste ich etwas wissen!« Die Freunde sahen sich betroffen an. »Stella hat so viel im Kopf, sie wird etwas verwechselt haben«, murmel te schließlich der Holzfäller. »Aber das hilft Jessica nicht.« Nun zeigte sich auch Betty besorgt.
»Am liebsten würde ich zum Meer laufen und nachsehen.« Der Löwe, der sich inzwischen im weichen Gras niedergelassen hatte, sprang wieder auf. Obwohl ebenfalls beunruhigt, hielt ihn der Scheuch zurück. »Du würdest viel zu lange brauchen. Vergiss nicht, dass du um das Meer herum müsstest.« Er wandte sich dem Adler zu. »Aber da wirklich etwas schiefgegangen zu sein scheint, könnten wir vielleicht dich bit ten…« »Er ist stark, doch nicht so stark, dass er Jessica tragen könnte«, wandte der Löwe ein. »Gewiss hat er auch keine Lust, einen so weiten Flug zu unternehmen«, fügte der Holzfäller hinzu. »Gerade heute, wo das Fest beginnt.« Doch der Adler breitete schon die Flügel aus. »Fest oder nicht, ich sehe, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Was für eine Blamage für unser Land, wenn wir das Mädchen mutterseelenal lein am Strand sitzen lassen, die Gefahren dort gar nicht gerechnet. Ihr habt Recht, tragen kann ich eure Jessica nicht, aber in den Bergen woh nen ja meine Verwandten, die Riesenadler. Sie werden uns helfen, wenn es notwendig sein sollte.« Und ohne eine Antwort oder neue Einwände abzuwarten, erhob er sich in die Lüfte. »Es gibt im Zauberland allerhand Gefahren, aber auch überall gute und hilfreiche Freunde«, sagte der Scheuch und diese Worte waren seiner Weisheit würdig.
ALTE BEKANNTE Jessica machte es nichts aus, nass zu werden, sie hielt sich an Floys Rük kenflosse fest und jubelte laut, wenn er zu einem Sprung über die Wellen ansetzte. Goodwin dagegen, auf einem Delfin namens Fiet hockend, ächzte und jammerte:
»Nicht so schnell, ich falle ins Wasser. Nicht so hoch springen, ich stürze ab.« Dabei hatte er allerdings stets ein Auge auf seine Enkelin, gab Acht, dass ihr nichts zustieß. Insgesamt war die Reise lustig und verging wie im Fluge. Damit es nicht so anstrengend wurde, machten sie immer wieder mal auf Inseln Halt, wo es Trinkwasser gab und sie sich an Früchten – Apfelsinen und Bananen – satt essen konnten. Einmal begegneten sie einigen Haien, gefährlichen und finsteren Burschen, die Jessica und ihren Großvater liebend gern zum Abendbrot verspeist hätten. Doch das Delfinrudel nahm Floy und Fiet samt ihren Passagieren in die Mitte und so wagten die Räuber keinen Angriff. Zwischendurch erkundigte sich Jessica nach alten Bekannten, der See königin Belldora, der Meerjungfrau Kira und natürlich nach Prim, dem Kraken, der damals extra aus einem der großen Ozeane vom Storch Klapp geholt worden war, um beim Kampf gegen das Schmutzmonster zu helfen. »Seit unser Meer wieder sauber ist, Pflanzen und Fische atmen können, geht es ihnen allen gut«, erwiderte Floy. »Prim hat sich so wohl bei uns gefühlt, dass er ins Muschelmeer übergesiedelt ist. Er wohnt jetzt bei den Korallenbäumen in der Nähe des Unterwasserschlosses.« Die Delfine dagegen wollten wissen, ob Jessica etwas von Chris Tall gehört hätte, Ellis Sohn, und vom Käptn Charlie Black. Vor allem der Seemann hatte ja seine ganze Erfahrung gegen das Monster und die hin terhältigen Wassermänner in die Waagschale geworfen. »Chris schreibt mir manchmal, er will Schiffsbauingenieur werden«, be richtete Jessica. »Von Charlie habe ich längere Zeit nichts gehört. Er hat sich wahrscheinlich endgültig auf seinem Atoll niedergelassen.« So verging die Zeit und es wurde Nacht. Der Mond schien und tau send Sterne glitzerten. Ehe sie sich’s versahen, hatte die Gruppe das an dere Ufer erreicht. Ein Fluss führte ins Landesinnere; Floy und Fiet be schlossen, ihre Passagiere noch ein Stück stromaufwärts zu tragen, wäh rend die übrigen Delfine im Meer zurückblieben. Der Süßwassergehalt des Stroms machte ihnen zu schaffen. An einer Flusskrümmung setzten die beiden Jessica und ihren Großva ter ab.
»Weiter schaffen wir’s nicht«, sagte Floy, »aber hier ist eine unbewohn te Fischerhütte, hier könnt ihr erst einmal ein paar Stunden schlafen. Morgen seid ihr dann schon bald im Rosa Land. Ihr braucht nur quer feldein nach Süden zu gehen. Bestimmt helfen euch die Leute, schnell in die Hauptstadt zu kommen.« Jessica und Goodwin sprangen an Land. »Dank, vielen Dank«, rief das Mädchen, »bestimmt sehen wir uns bei Gelegenheit wieder.« Der Großvater schloss sich ihren Worten an und winkte den Delfinen zu, solange noch eine Flosse im Mondschein blink te. Dann gingen beide in die Hütte, die mit Betten, einem Tisch und ei nem Ofen ausgestattet war. Brennholz lag bereit; offenbar war die Un terkunft nicht nur für Fischer, sondern auch für Wanderer gedacht, die ein Dach überm Kopf brauchten. Für sie beide jedenfalls kam alles wie gerufen. Sie zogen sich aus und während Jessica gleich unter die Bettdecke kroch, heizte der Großvater den Ofen an, damit die nassen Sachen trockneten. Schon zehn Minuten später schliefen er und seine Enkelin so fest, dass weder Donner noch Blitz sie geweckt hätten. Am Morgen waren die beiden fast gleichzeitig wach. »Wir müssen weiter, sonst verpassen wir noch das Fest«, rief Jessica. Sie fanden Konserven im Schrank und wenn ihnen auch Brot fehlte, für ein bescheidenes Frühstück reichte es. Wasser aus dem klaren Bach hin term Haus diente ihnen als Getränk.
Von der Hütte führte ein Weg den Fluss entlang und bog dann nach Süden ab. Es war die Richtung, die ihnen Floy genannt hatte, und sie schritten kräftig aus. Auf einmal sagte der Großvater: »Da kommt uns ein Pferd entgegen.« »Ein Pferd ohne Reiter«, bestätigte Jessica. »Bestimmt will es zum Fluss, um zu trinken.« Der Vierbeiner näherte sich ihnen und sie entdeckten eine braune Rie senspinne auf seinem Rücken. »Nein, das gibt’s nicht«, murmelte Jessica. »Du hast Recht. Eine Spinne, groß wie ein Waschbär, auf einem Pferd, das hab ich noch nicht mal im Zirkus gesehen.« »Das meine ich nicht«, entgegnete Jessica, »ich will sagen, dass ich diese Spinne kenne.« »Dieses grässliche Insekt? Wie kann man so etwas kennen?« »Nicht so laut«, flüsterte Jessica, »Minni hat scharfe Ohren. Grässlich ist sie übrigens nicht, nur schrecklich dickköpfig.« Pferd und Spinne standen nun vor ihnen. Eschno grüßte höflich und fragte: »Könnt ihr uns sagen, wohin dieser Fluss führt?« »Ans Muschelmeer«, erwiderte Jessica, »wir kommen von dort.« »Wohnt ihr am Meer?« Bevor die beiden antworten konnten, mischte sich Minni ein. »Das wohl kaum«, zischelte sie. »Ich bin diesem Mädchen bereits be gegnet. Sie gehört zu der Strohpuppe, von der wir vorhin sprachen und stammt aus dem Menschenreich.« »Stimmt«, gab Jessica zur Antwort. »Minni und ich, wir hatten schon das Vergnügen. Allerdings ist nicht ganz richtig, dass ich zum Weisen Scheuch gehöre, ich bin nur mit ihm befreundet. Dagegen stamme ich tatsächlich aus dem Menschenreich und das hier ist mein Großvater. Wir sind von Stella eingeladen, der Herrscherin des Rosa Landes.« Bei diesen Worten horchte der Hengst auf. »Rosa Land… Stella… Das erinnert mich an etwas.«
Minni kicherte. »Hihi, vielleicht kommst du von dort.« Und sie erklärte: »Dieses son derbare Pferd hat das Gedächtnis verloren und ist im Urwald gelandet. Wahrscheinlich durch Zauberei.« »Wenigstens scheinst du körperlich keinen Schaden genommen zu ha ben«. Der Großvater wollte dem Hengst Mut machen. »Anfangs fühlte ich mich ziemlich schwach, aber dann kehrten meine Kräfte zurück«, erwiderte Eschno. »Wenn du wirklich verzaubert bist, musst du mit uns zur Fee kom men«, sagte Jessica. »Die weiß bestimmt Rat.« »Meinst du?« Das Pferd zweifelte noch. »Und ob ich das meine. Sie ist bekannt dafür. Wo willst du denn sonst hin?« »Im Grunde habe ich kein Ziel«, gab Eschno zu. Minni schien von Jessicas Vorschlag wenig angetan. »Sieht aus, als wolltet ihr mir mein Reittier abspenstig machen«, warf sie ein. »Nein, nein, es wird ja nicht mehr weit sein und wir haben gute Beine.« Goodwin wollte die Spinne, die ihm nicht ganz geheuer schien, beruhi gen.
»Es war nur ein Angebot«, fügte Jessica hinzu, »ihr könnt es euch ja überlegen. Jetzt müssen wir aber weiter, wir wollen zum großen Fest, das in der Hauptstadt gefeiert wird.« Sie wartete noch einen Augenblick und setzte sich dann in Bewegung. Der Großvater folgte ihr eilig. Pferd und Spinne dagegen blieben stehen. Sie schienen sich nicht schlüssig zu sein, was sie tun sollten. Nach einer Weile erreichten Opa und Enkelin ein Dorf mit rosa gestri chenen Häusern. Eine Frau mit einem Kopftuch gleicher Farbe schaute aus einem Fenster und Jessica erkundigte sich höflich, ob sie nun im Rosa Land wären. »Ja, ihr habt vor fünf Minuten die Grenze überschritten«, erwiderte die Frau. »Ist es noch weit bis zur Hauptstadt?«, wollte der Großvater wissen. »Zu Pferd eine Stunde.« »Wir haben aber kein Pferd«, sagte Goodwin. »Gehört das da hinten nicht zu euch?«, fragte die Frau. Tatsächlich kam Eschno hinter ihnen her. »Nein… das heißt, vielleicht doch«, murmelte Jessica. Die Frau schüttelte den Kopf. »Ihr müsst doch wissen, ob das euer Pferd ist oder nicht.« Sie wandte sich ins Haus zurück. Eschno, diesmal ohne seine Reiterin Minni, kam eilig näher. »Ich hab mir’s überlegt«, wieherte er, »ich folge euch zur Fee Stella.« »Wo hast du denn die Spinne gelassen?«, fragte Goodwin. »Sie ist freiwillig zurückgeblieben. Ganz plötzlich. Da flog ein Adler am Himmel, vor dem hat sich Minni im Gebüsch versteckt.« »Ein Adler«, rief Jessica, »wo flog er hin?« »Ich weiß nicht. Er schien etwas zu suchen.« »Er hat mich gesucht«, sagte Jessica entschieden. »Es war bestimmt der Adler, der mir die Einladung gebracht hat. Wahrscheinlich war er am Muschelmeer.« Der Großvater dämpfte ihre Begeisterung.
»Und wenn schon. Ein Adler könnte weder dich noch mich tragen.« »Aber ich kann das«, schnaubte Eschno. »Auf mir könnt ihr zu zweit reiten.« »Du würdest uns beide tragen?«, vergewisserte sich Goodwin. »Warum denn nicht. Wenn ihr mich zur Fee bringt.« Die Spinne schien ihnen wirklich nicht folgen zu wollen, vielleicht hat te sie Geschmack am Fluss und dem Buschwerk gefunden, jedenfalls zeigte sie sich nicht mehr. Mit einiger Mühe kletterten Jessica und ihr Großvater auf Eschnos Rücken. Begleitet von den Blicken der Dorfbe wohner, die meist rosa Hemden oder Hosen trugen und wie alle Leute im Zauberland ziemlich klein waren, trabte das Pferd mit seinen Reitern davon.
DER FESTUMZUG Bei den Festumzügen war die Fee bisher stets an der Spitze geritten. Sie hatte eins ihrer schönen Seidenkleider getragen und das Krönchen aufs lange Haar gesetzt. Mark hätte es gern ebenso gehalten, doch er konnte nicht reiten. Deshalb hatte er eine mit Gold beschlagene Karosse bauen lassen, die von sechs Pferden gezogen wurde. Von zwei Leibwächtern hinten und einem neben dem Kutscher bewacht, fühlte er sich sicher. Niemand aus dem Volk konnte ihn belästigen und mit irgendwelchen Wünschen zu ihm vordringen. Hinter der Kutsche marschierten, in Frack und rosa Zylinder, die Bera ter und obersten Hofdiener, danach kam eine Blaskapelle und erst dann folgten zwei Wagen mit allerhand Gästen. Ihnen schlossen sich Hand werker, Bauern und Fischer an, deren Delegationen nicht nur aus der Stadt, sondern aus allen Ecken des Landes kamen. Ihrem Berufsstand entsprechend, trugen sie volkstümliche Trachten und führten bunte Wimpel mit sich. Der Zug hätte sich längst in Bewegung setzen sollen, aber Mark hielt alle auf, weil er im Schloss erst noch seine neue Krone probieren wollte. Sie war mit Gold und Diamanten so überladen, dass sie ihm beim Tra gen bestimmt Kopfschmerzen verursachen würde, doch er konnte sich
nicht entschließen, etwas Gold abzuschleifen oder einige der Edelsteine wieder entfernen zu lassen. Gegen Mittag ging es endlich los. Die Kapelle, die mit ihren Melodien schon in der Zwischenzeit für Unterhaltung gesorgt hatte, spielte das Lied: »Wir feiern heut das große Fest« und Marks Pferde ruckten an. Gleich darauf trabten auch die Rösser los, die den Wagen mit dem Scheuch und seinen Freunden zogen. Der Löwe hielt nach wie vor un ruhig nach Jessica Ausschau, doch waren alle von dem bunten Bild ge fesselt, das sich ihnen bot. Insbesondere Betty Strubbelhaar bewunderte die Fantasie, mit der die Kostüme geschneidert und die Wagen ausge schmückt worden waren. Gestartet waren sie am Schloss, nun ging es die Straße zur Stadt hinun ter. Überall standen winkend Leute und die Freunde winkten eifrig zu rück. Trotzdem sagte der Eiserne Holzfäller, der kein Freund von gro ßem Prunk war: »Warum hat sich die Fee bloß diese protzige Karosse fertigen lassen? Auf ihrem Pferd früher gefiel sie mir besser.« »Man erzählt, dass sie seit Eschnos Verschwinden kein Ross mehr be stiegen hat«, erwiderte der Scheuch.
»Schlimmer finde ich, dass sie offenbar niemanden an sich heranlässt«, sagte Betty. »Und was man über das rosa Bäumchen berichtet, ist auch eigenartig.« »Heute Nachmittag, wenn wir unsere Geschenke überreichen, wird sie bestimmt mit uns sprechen«, versicherte der Scheuch. Seine Frau und er hatten ein Armband mit den schönsten Smaragden im Gepäck, die in den letzten Jahren im Land der Käuer gefunden worden waren. Der Holzfäller stimmte zu. Sein Geschenk war eine wunderbar ge schnitzte kleine Statue, genannt »Die Waldprinzessin«. Der Löwe wollte ein Gemälde schenken, das der berühmteste Künstler im Tierreich, ein Schimpanse, gemalt hatte. Eine Affendelegation hatte es inzwischen hergebracht. Gerade betonte er, dass er die Fee am Nachmittag ganz bestimmt über alles befragen würde, da mischte sich eine piepsige Stimme ins Gespräch. »Reden könnt ihr vielleicht mit dieser Stella«, sagte Larry Katzenschreck, der unbemerkt zu ihnen in den Wagen geschlüpft war. »Ob ihr aber eine befriedigende Antwort bekommt, ist mehr als fraglich.«
»Was heißt ›diese Stella‹ und warum sollte sie uns keine befriedigende Antwort geben?« Betty war über Larrys Auftauchen nicht im Geringsten verwundert. »Genaues weiß ich auch nicht«, erwiderte der Mäuserich, »doch gibt es ein Geheimnis um die Fee. Gerrit, der Enkel einer meiner Schwägerin nen, ist häufig unauffälliger Gast in ihren Gemächern und was er berich tet, klingt wie ein böser Spuk.« »Ein Spuk? Was berichtet er denn?« Nicht nur Betty Strubbelhaar, auch die andern drei spitzten die Ohren. Man sah Larry an, dass er seine Zuhörer gern noch ein wenig auf die Folter gespannt hätte. Er schnupperte herum, strich sich die Schnurr barthaare, tat, als suche er die richtigen Worte. »Na, nun red schon«, forderte ihn der Löwe ungeduldig auf. »Das ist nicht so leicht zu erklären. Also die Fee liest, wenn sie allein ist, stundenlang in ihren Zauberbüchern und der Pergamentrolle. Sie sagt alle möglichen Formeln auf, als hätte sie ihre Kunst vergessen, und führt Selbstgespräche.« »Was hat das mit bösem Spuk zu tun?«, fragte der Scheuch. »Selbstge spräche führe ich gleichfalls.« »Aber du guckst bestimmt nicht dauernd in den Spiegel, als wärst du über dich selbst verwundert, du nennst dich nicht Mark und hast keine Angst, entlarvt zu werden.« »Wie meinst du das, entlarvt?« Der Holzfäller war höchst erstaunt. »Gerrit behauptet, Stella würde ständig Sätze vor sich hin murmeln wie: ,Ich muss aufpassen, dass niemand etwas merkt, ich muss noch vor sichtiger sein.«, sagte Larry. Die Freunde schwiegen überrascht. Nach einer Weile fragte der Scheuch: »Dein Verwandter… ich meine, er hat das doch nicht etwa erfunden?« »Vielleicht will er sich nur wichtig machen«, ergänzte der Eiserne Holz fäller. Larry war pikiert.
»Ihr traut Mäusen wohl sonst was zu! Warum sollte Gerrit das erfin den? Übrigens hat auch Linda, seine Schwester, einiges bemerkt. Am Tag, als Stellas Sekretär Mark verschwand, ging er ins Zimmer der Fee und kam nicht wieder heraus. Drinnen aber wurden Zauberformeln ge sprochen, es war, als ob jemand laut aufschrie, es krachte und polterte. Leider konnte Linda nichts sehen. Sie hatte Angst und ist davonge huscht, ohne weiter zu warten.« »Das klingt ja…« Betty sprach zögernd aus, was nicht nur sie dachte. »Das klingt, als hätte die Fee diesen Sekretär verschwinden lassen.« »Niemals«, rief der Eiserne Holzfäller, »so etwas traue ich ihr auf kei nen Fall zu!« Der Scheuch überlegte. »Es hört sich schrecklich an, aber vielleicht hat sie den Verstand verlo ren. Wenn man alles zusammennimmt und bedenkt, dass sie sich in ih ren Selbstgesprächen Mark nennt, könnte man zu dieser Schlussfolge rung kommen.« Der Löwe hielt es nicht mehr aus. »Wir müssen etwas unternehmen«, brüllte er, »wir können nicht länger warten, nicht einmal bis zum Nachmittag.« Er machte Anstalten, vom Wagen zu springen. Doch in diesem Augenblick setzte sich ein großer Vogel zu ihnen auf die Wagen wand. Es war der Adler, mit dem sie am Morgen im Wirts hausgarten gesprochen hatten.
»Sie kommen«, krächzte er, »Jessica hat ihren Großvater mit, sie wer den gleich eintreffen. Und noch jemand ist bei ihnen, ich verrate bloß nicht, wer. Alle werden überrascht sein.«
FREUNDE LÄSST MAN NICHT IM STICH Eschno hatte mit seinen beiden Reitern kaum das Dorf verlassen, als Jessica den Hengst schon wieder zum Stehen brachte. »Halt an«, rief sie, »da fliegt der Adler, von dem du sprachst. Ich er kenne ihn; er und kein anderer hat mir die Einladung zugestellt.« Sie winkte so heftig mit den Armen, dass sie fast vom Pferd gefallen wäre. Der Adler war im Nu bei ihnen. »Da bist du ja«, quarrte er erleichtert. »Ich dachte schon, du bist vom Sandmolch gefressen worden oder im Muschelmeer ertrunken. Was für ein Glück! Ich hätte mir’s nie verziehen.« »Alles halb so schlimm«, erwiderte Jessica. »Gewiss hattest du einen Grund, so spät zu kommen. Das hier ist übrigens mein Großvater und das ein sehr freundliches Pferd. Leider weiß es nicht mehr, woher es stammt. Es hat sein Gedächtnis verloren.« Erst jetzt wandte sich der Adler, der seine scharfen Augen bisher nur auf das Mädchen und Goodwin gerichtet hatte, dem Hengst zu. »Aber das ist Eschno!«, krächzte er verblüfft. »Du kennst mich?« Das Pferd zeigte sich erfreut. »Eschno nennst du mich? Der Name kommt mir bekannt vor.« »Die Blesse auf der Stirn, deine ganze Erscheinung, es gibt keinen Zweifel«, sagte der Adler. »Jedermann im Rosa Land kennt dich und weiß, dass du Stellas Ross bist, auf dem sie so gern ausreitet. Im Grunde müsstest du mich gleichfalls kennen, doch das ist jetzt nicht so wichtig. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt und warum bist du weggelaufen?« »Wahrscheinlich ist er gar nicht weggelaufen«, erwiderte Jessica an Eschnos Stelle. »Minni, die Riesenspinne, die vorhin bei ihm war, vermu tet, er sei verhext worden. Sie kam mit ihm aus dem Urwald.« Der Adler schien für einen Moment abgelenkt.
»Die Spinne Minni war bei euch, dieses Biest? Sie soll mir bloß nicht in die Fänge geraten.« »Minni ist etwas schwierig, aber deshalb brauchst du sie nicht zu be schimpfen«, wandte Eschno ein. »Im Urwald hat sie mir ein paarmal das Leben gerettet.« »Sie hat vor Jahren eine meiner Töchter getötet, als sie ihre ersten Flugversuche machte. In ihrem Netz gefangen, betäubt und ausgesogen. Das verzeih ich ihr nie.« Eschno vermied es zu antworten. Solche Argumente waren schwer zu widerlegen. »Lassen wir das.« Der Adler hatte sich gefangen. »Ich freue mich jeden falls sehr, dass Eschno wieder da ist. Auch unsere Herrscherin wird über alle Maßen glücklich sein. Sicherlich gibt sie dir das Gedächtnis zurück.« »Nach allem, was ich früher von ihr gehört habe, wird sie das bestimmt tun«, mischte sich zum ersten Mal Goodwin ein. »Mein Opa kennt sich im Zauberland aus«, erklärte Jessika. »Er hat längere Zeit in der Smaragdenstadt gelebt.« Den Adler schien das weniger zu interessieren. »So? Das wusste ich nicht.« Und lebhafter fügte er hinzu: »Ich fliege dann gleich wieder los und überbringe die guten Nachrichten.« »Hat das Fest schon begonnen? Kommen wir zu spät?«, fragte Jessica noch schnell.
»Im Augenblick wird der Umzug im Gange sein. Wenn Eschno einen kleinen Galopp einlegt, bekommt ihr das Ende noch mit.« Der Hengst hatte neuen Mut gewonnen. »Na, dann haltet euch mal gut fest«, rief er fröhlich. Er sprengte los, dem Adler nach, der gleichfalls gestartet und natürlich schneller war, zumal er keinerlei Last tragen musste. Es dauerte nicht lange und er war ihren Augen entschwunden. Eschno konnte sich nach wie vor an nichts erinnern, war aber dennoch ausgelassen. Die Nachricht, Stellas Pferd zu sein, gab ihm Stärke und Zuversicht. Ohne Goodwin, der klagte, er würde einen wilden Ritt auf keinen Fall überstehen, wäre er wie der Sturmwind über Felder und Wie sen gesaust. So hielt er sich zurück. Etwa nach einer Stunde kamen sie in der Hauptstadt an. Inzwischen hatte der Adler die Freunde benachrichtigt und war zur Spitze des Zuges geflogen, der sich dem Stadtzentrum näherte. Er flat terte neben Marks Karosse her. Die Leibwächter, die Auftrag hatten, niemanden an die Fee heranzulassen, wussten nicht, wie sie sich verhal ten sollten. Auf einen Vogel waren sie nicht eingestellt. »Was willst du?«, fragte Mark und gab sich Mühe, ein freundliches Ge sicht zu machen. »Ich habe eine großartige Nachricht für dich, Herrscherin, du wirst überrascht sein.« »Eine Überraschung«, fragte Mark misstrauisch, »welche?« »Vielleicht sollte ich noch ein Weilchen mit der Antwort warten«, krächzte der Adler. »Sie müssen bald hier sein.« »Ach was. Wenn’s eine gute Nachricht ist, will ich sie gleich hören. Wer ist bald hier?« »Eschno«, platzte der Adler heraus. »Der Hengst ist wieder aufge taucht. Er kommt mit Jessica hierher, unserem Gast aus dem Menschenland. Und mit ihrem Großvater.« Die Nachricht traf die falsche Fee völlig unvorbereitet. Sie wurde ganz bleich. »Eschno… das ist unmöglich!«
»Er ist es, ich hab mit ihm gesprochen. Leider hat er sein Gedächtnis verloren. Er kannte nicht einmal seinen Namen.« »Aber wie…« stotterte Mark, »ich meine, wo war er die ganze Zeit?« »Offenbar im Urwald. Mehr weiß ich auch nicht. Eschno wird in Kür ze selbst berichten.« Der Adler schwenkte ab, er wollte seine Neuigkeit noch anderen erzählen. Mark war völlig verstört. Wieso hatte seine Zauberkunst nicht gewirkt und was würde geschehen, wenn Eschno hier auftauchte? Ob der Hengst wirklich vergessen hatte, was passiert war? Dann musste unbe dingt verhindert werden, dass er seine Erinnerung wiederfand. Er wand te sich an einen der Leibwächter: »Nimm dir drei zuverlässige Leute und fang den Hengst ein, bevor er die Stadt erreicht. Ich vermute, dass er verhext ist und Unheil anrichtet.« »Was sollen wir mit dem Mädchen und ihrem Großvater machen?«, fragte der Mann, der die Worte des Adler gehört hatte. »Setzt sie gleichfalls fest, sie könnten angesteckt sein. Ich muss das erst überprüfen«, flüsterte Mark. Der Leibwächter sprang ab und verschwand in der Menge. Kurz dar auf verließ er die Stadt mit drei Kerlen, die jeder einen Amboss zehn Meter weit hätten schleudern können. Aber auch der Tapfere Löwe, der die Szene beobachtet hatte, sprang vom Wagen und rannte zu den To ren. Er konnte es nicht mehr erwarten, Jessica zu begrüßen. Mittlerweile hatten Eschno und seine Reiter den Schlosspark erreicht. Sie ließen ihn jedoch seitlich liegen, um schnell in die Stadt zu gelangen. Sie sahen den Leibwächter mit seinen Leuten kommen und das Pferd trabte fröhlich auf die Männer zu. »Halt«, rief der Leibwächter, »bleibt sofort stehen!« »Warum?«, fragte Eschno erstaunt. »Wir wollen zur Fee. Ist etwas pas siert?« »Sie sind es«, sagte der Leibwächter zu seinen Männern. »Packt sie, legt ihnen Fesseln an.« Eschno wollte protestieren, war aber so überrascht, dass er nur ein er schrockenes Wiehern hervorbrachte. Schon hatten ihm die Männer zwei starke Lederschlingen über den Kopf geworfen und sie fest zugezogen.
Als er einen Satz zurück machte und dabei den Huf hob, streiften sie ihm eine kleinere Schlinge geschickt ums rechte Hinterbein. »Ihr Banditen«, rief Jessica, »was tut ihr da! Wir haben kein Geld. Wes halb überfallt ihr uns?« Sie hielt sich verzweifelt an Eschnos Mähne fest, um nicht herunterzufallen. Goodwin vermochte sich nicht zu halten, er krachte zu Boden und verlor das Bewusstsein. Man konnte nicht behaupten, dass ihm der Zau berlandbesuch bisher viel Angenehmes gebracht hätte. Zwei der Männer hielten den Hengst fest, der wütend schnaubte und aufzubrechen suchte, der dritte packte Jessica am Bein und zog sie vom Pferd. »Von wegen Banditen«, sagte der Leibwächter. »Es wird euch nicht ge lingen, uns Schaden zuzufügen. Ihr denkt wohl, wir wüssten nicht, dass ihr verhext seid.« »Wir sind nicht verhext, sondern von Stella eingeladen«, rief Jessica. »Wir wollen niemandem schaden. Was habt ihr mit meinem Opa ge macht? Ich muss ihm helfen.« Sie riss sich los und kniete neben Good win nieder. Der Alte kam zu sich, sah seine Enkelin und beschwerte sich: »Was hast du uns bloß eingebrockt? Was wollen die? Mir tut furchtbar der Kopf weh. Wäre ich nur zu Hause geblieben.« Bevor Jessica antworten konnte, schrie der Leibwächter: »Schluss jetzt, genug gefaselt. Ihr kommt mit, sonst kriegt ihr unsere Knüppel zu spüren. Später wird euch die Fee verhören, dann könnt ihr euch rechtfertigen.« Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er Goodwin einen Fußtritt. Die Sache hätte schlecht für die drei geendet, wäre nicht plötzlich der Löwe quer übers Feld herangejagt. Er sah Jessica in Gefahr und stieß ein so schreckliches Gebrüll aus, dass Marks Leute vor Angst zu schlottern begannen. So stark sie waren – sie ließen den Hengst los und rannten davon. Um besser laufen zu können, warfen sie auch ihre Knüppel weg. Der Leibwächter, der noch einen Augenblick gezögert hatte, hetzte hin ter den Männern her.
Eschno wollte sich gleichfalls zur Flucht wenden, denn die Raubkatze schien ihm nicht weniger gefährlich als die vier Banditen, aber Jessica hielt ihn zurück. »Das ist doch ein Freund, der uns zu Hilfe kommt. Der Tapfere Löwe! Erkennst du ihn denn nicht?« Goodwin hatte sich wieder aufgerappelt und unterstützte sie. »Bleib hier, er tut uns bestimmt nichts. Vor einiger Zeit hat er uns im Menschenland besucht und mir sogar im Zirkus geholfen. Ein feiner Kerl!« Der Löwe kam mit einem solchen Tempo an, dass er sie fast umge rannt hätte. In letzter Sekunde stoppte er vor Jessica. »Was wollten die hier?«, brüllte er. »Sie hatten Knüppel und sahen nicht wie Spaziergänger aus. Haben sie euch etwas zu Leide getan?« »Nicht direkt«, erwiderte das Mädchen, »anscheinend wollten sie uns einsperren. Sie sprachen von einem Verhör durch die Fee.« »Ein Verhör durch die Fee? Das waren bestimmt Betrüger. Ich werde ihnen zeigen, wer hier wen einsperrt.« Der Löwe brüllte erneut laut auf, so dass sich Jessica und ihr Großvater die Ohren zuhielten. »Beruhige dich«, sagte das Mädchen, »du bist ja noch rechtzeitig ge kommen und uns ist nichts passiert. Jetzt will ich dich aber erst einmal drücken. Wir haben uns überhaupt noch nicht begrüßt.« Sie fiel ihm um den Hals und Goodwin schüttelte ihm die Pfote. Eschno aber schnaubte:
»Der Tapfere Löwe, der Tapfere Löwe… Sind wir uns etwa schon mal begegnet?« »Klar sind wir das, Eschno«, gab der Löwe zur Antwort. »Ich bin doch öfter Gast im Rosa Land. Wir alle hier haben uns Sorgen um dich ge macht und ich bin sehr froh, dass du zurückkehrst. Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen.« Das hatten die vier in der Tat. Zufrieden, dass nichts Schlimmeres ge schehen war und sie sich endlich getroffen hatten, strebten sie der Stadt zu und berichteten einander dabei von ihren Erlebnissen. Immer deutli cher wurde, dass mit Stella, auf die besonders Eschno seine Hoffnungen setzte, etwas nicht stimmte. »Und wenn die Männer mit den Knüppeln doch keine Betrüger, son dern tatsächlich von der Fee ausgeschickt waren?« Goodwin zeigte sich am misstrauischsten. »Am besten, wir gehen zu ihr und fragen sie«, erklärte der Löwe. »Das hatte ich mir sowieso vorgenommen und jetzt erscheint es mir notwen diger als je zuvor.«
DER HINTERHALT
Der Zug war fast an seinem Ziel, dem Marktplatz, angelangt, als der Leibwächter heranhechelte. Seine Männer waren unterwegs zurückge blieben. Sie hatten keine Lust, sich nach dieser Pleite der Fee zu zeigen. »Hast du deinen Auftrag ausgeführt?«, wollte Mark wissen. »Ja, das heißt, nicht ganz…«, stotterte der Leibwächter. »Wir hatten den Hengst schon an der Leine, da überfiel uns dieser Löwe.« »Ein Löwe?« Mark erinnerte sich an die Raubkatze gestern. Er schielte nach hinten, nach dem Wagen mit den Gästen. »Ja. Hast du ihn nicht brüllen gehört? Er war schrecklich in seiner Mordlust.« »Ich habe nichts gehört«, sagte Mark. »Hier haben die Kapellen gespielt und die Leute gejubelt. Aber was heißt das, wir hatten ihn schon an der Leine. Habt ihr das Pferd etwa wieder laufen lassen?«
»Was hätten wir denn gegen den Löwen ausrichten sollen«, erwiderte der Leibwächter kleinlaut. »Diese Bestie hätte uns zerrissen. Wir mussten uns zurückziehen.« Mark lief rot im Gesicht an. »Wenn der Löwe mich angreifen würde, würdest du dich auch zurück ziehen, wie?«, zischte er. »So was nennt sich nun Leibwächter. Ein jäm merlicher Feigling bist du. Hast auf der ganzen Linie versagt. Ver schwinde jetzt, geh mir aus den Augen, bevor ich dich zur Strafe in einen Stock verwandle. Doch glaube nicht, dass wir miteinander fertig sind. Wir zwei sprechen uns später.« Er unterbrach sich, um Luft zu holen, die Wut brachte ihn um. Doch bevor er weiterschimpfen konnte, ertönte ein lautes Wiehern. Rufe er schallten wie: »Da ist ja Eschno! Stellas Hengst ist zurück! Eschno ist wieder da!« Der Leibwächter zog den Kopf ein und verdrückte sich. Mark aber forderte den Kutscher auf, anzuhalten: »Stop! Ich will sehen, ob es sich tatsächlich um Eschno handelt.« Die Karosse stand still und der ganze lange Zug geriet ins Stocken. Der Hengst trabte mit seinen Reitern heran. Neben ihm schritt würdevoll der Tapfere Löwe. Jessica dagegen hatte Betty Strubbelhaar entdeckt, die genau wie die anderen nach ihr rief und eifrig winkte. Das Mädchen rutschte vom Pferderücken und lief zu ihnen. Goodwin, froh, endlich wieder seine Beine gebrauchen zu können, stieg gleichfalls ab. Eschno verhielt den Schritt, aber der Löwe murrte: »Na los, gehn wir erst mal zu Stella.« Die beiden erreichten die Karosse. Mark, so schwer es ihm fiel, tat, als sei er hochbeglückt. »Eschno! Du bist es wirklich. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Was fällt dir ein, mir nichts, dir nichts, wegzulaufen? Wo hast du dich herumgetrieben?« »Ich war im Urwald, mehr weiß ich nicht. Ich habe mein Gedächtnis verloren.«
»Wie sonderbar«, sagte Mark. »Was führt dich in den Urwald? Wilde Tiere hätten dich zerfleischen können. Hast du denn gar keine Ahnung, wie du dort hingekommen bist?« »Nicht die geringste«, erwiderte Eschno, »leider.« Mark war insgeheim sehr erleichtert über diese Antwort, gab sich aber bekümmert. »Dass du nichts mehr von uns weißt, ist traurig. Zum Glück hast du trotzdem zu uns zurückgefunden. Du bist wieder da und das ist die Hauptsache.« Nun mischte sich der Löwe ein. »Einige Freunde Eschnos vermuten, dass er einem bösen Zauber un terliegt. Wir alle haben großes Vertrauen zu dir, gütige Fee. Bestimmt kannst du den Bannspruch von deinem Pferd nehmen, damit es sich wieder an die Vergangenheit erinnert.« Mark warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Du scheinst zu glauben, dass es sich hier um eine einfache Sache han delt. Aber Zaubern ist eine Kunst und sehr schwierig dazu. Man ist allen möglichen Gefahren ausgesetzt. Um Eschno zu helfen, bedarf es großer Anstrengungen.« Der Löwe, obwohl verwundert über die barsche Antwort, entschuldig te sich: »So war das nicht gemeint, Stella. Natürlich weiß ich, dass du all deine Kräfte und Fähigkeiten brauchst, um den Zauber rückgängig zu machen. Doch wer soll helfen, wenn nicht du?« »Na gut.« Mark zwang sich, einzulenken. »Ich werde mein Möglichstes tun. Doch es wird einige Zeit dauern. Lass mich jetzt mit Eschno allein, damit ich mich seiner annehmen kann.« Der Löwe wollte wenigstens noch eine Frage klären. »Am Schloss haben einige Männer auf Eschno gelauert. Sie behaupte ten, von dir geschickt zu sein, und wollten ihn einsperren. Sie hatten Knüppel und Stricke mit, waren ziemlich brutal…« Mark tat sehr empört:
»Von mir geschickt? Was für eine Unverschämtheit! Diese Männer wa ren Lügner und Banditen. Sie wollen Unruhe schüren, um unser wun derbares Fest zu stören.« Obwohl der Löwe noch nicht ganz überzeugt war, gab er sich zufrie den. Nachdenklich kehrte er zu seinen Freunden zurück. Die falsche Fee dagegen überlegte verzweifelt, wie sie mit Eschno verfahren sollte. Ihn ein zweites Mal verschwinden zu lassen, war schlecht möglich. Nach der wundersamen Heimkehr des Hengstes hätte das zu viel Aufsehen erregt. Ich werde ihn vorerst in einen Stall bringen, wo keiner außer mir an ihn heran kann, dachte sie. Sie kamen zum Marktplatz, wo die meisten Verkaufsstände aufgebaut waren und ein Riesengetümmel herrschte. Musik erscholl aus Lautspre chern, Hochrufe auf den großen Tag wurden ausgebracht, Luftballons stiegen in den Himmel. Jessica war über alle Maßen glücklich, dieses Schauspiel nicht verpasst zu haben. Gemeinsam mit ihren Freunden kletterte sie auf ein Bretterpodest, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Sie sah die farbenfroh gekleideten Bewohner des Rosa Lan des, die Gruppe um Gruppe heranrückten, blickte auf die geschmückten Wagen, und jubelte den Feiernden zu. Der Umzug war nun zu Ende, aber das Fest begann erst richtig. Der Löwe, der nicht aufs Podest gesprungen war, schaute Stellas Ka rosse nach, neben der Eschno einhertrottete. Ein- oder zweimal wandte das Pferd den Kopf und sein Blick hatte etwas Hilfeheischendes. Unschlüssig setzte sich der Löwe erneut in Trab. »Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?«, fragte Großvater Good win, der auf der untersten Stufe des Podests Platz genommen hatte. »Ich habe keine Ruhe. Ich möchte sehen, was sie mit Eschno anstel len.« »Was sollen sie groß mit ihm anstellen«, sagte Goodwin. »Mir scheint, du selber hast ihn Stella ans Herz gelegt.« »Stimmt schon. Trotzdem bin ich besorgt.« Goodwin erhob sich.
»Mir ist hier zu viel Trubel. Ich komme ein Stück mit.« Obwohl ihm die Knochen wehtaten, wollte er den Löwen nicht allein lassen. Zumal Jessica voll beschäftigt war. Sie liefen in einiger Entfernung hinter der Karosse her, darauf bedacht, nicht von der Fee oder ihren Bediensteten bemerkt zu werden. Am Stadtrand beschleunigte Mark das Tempo und Goodwin konnte nicht mehr mithalten. »Sitz auf«, schlug der Löwe vor, »und halte dich gut fest.« Goodwin, der sich nicht gerade mit Freude an den Ritt auf dem Delfin erinnerte und auch auf Eschnos Rücken ziemlich durchgeschüttelt wor den war, zögerte. »Sie wollen zum Schloss. Meinst du wirklich, dass wir ihnen dorthin fol gen müssen?« »Du kannst ja zu den anderen zurückgehen. Ich will nicht auf halbem Weg umkehren.« »Na gut, im Stich lasse ich dich nicht.« Jessicas Großvater schwang sich auf den Rücken der Großkatze und packte sie mit beiden Händen an der Mähne.
Sie kamen zum Schlosstor, das von zwei Wächtern bewacht wurde. Die Kutsche verschwand innerhalb der Mauern. »Die brauchen uns nicht unbedingt zu sehen«, sagte der Tapfere Löwe. »Bleib hier bei der Hecke, ich versuche unbemerkt hineinzugelangen.« Goodwin stieg ab und ließ sich hinter der Hecke ins Gras fallen, die ihn vor den Blicken der Wächter schützte. Er war ziemlich erschöpft. »Sei vorsichtig«, erwiderte er, »und lass mich nicht so lange warten.« Der Löwe lief in weitem Bogen zum Schloss. Es gelang ihm, bei den Gärten über die Mauer zu setzen. Er schlich zu den Pferdeställen, konn te Eschno aber nicht entdecken. Wo hatte ihn die Fee untergebracht? Der Löwe sprang aufs Stalldach. Geduckt erreichte er einen Seitenflü gel, von dem aus er in den Schlosshof schauen konnte. Die Karosse stand in der Nähe des Brunnens und der Kutscher schirrte die Pferde aus. Einer der Leibwächter verließ gerade einen niedrigen, aus schwarzen Quadern gefertigten Bau, der in alten Zeiten als Kerker gedient hatte. Er besaß nur diese eine Tür und einige kleine vergitterte Fenster. Gefangene wurden dort schon lange nicht mehr festgehalten. Hatten sie Eschno etwa in dieses Verlies gesperrt? Der Löwe konnte es nicht glauben. Der Leibwächter verriegelte die Tür des Gebäudes und ging ins Schloss. Ein Wiehern drang aus dem Verlies, war aber so schwach, dass nur die scharfen Ohren des Löwen es vernahmen. Ich möchte bloß wissen, was Eschno dort drin soll, dachte er. Über mehrere Dächer gelangte er zu dem früheren Gefängnis. Aber er fand keine Möglichkeit, einzudringen. Der Löwe versuchte es nebenan im Turm. Hier gab es Schießscharten, durch die er sich zwängen konnte. Über eine Wendeltreppe gelangte er nach unten. Eine Tür aus dicken Holzbohlen führte ins Nebengebäude. Auch sie war verschlossen, aber alt und morsch. Dreimal warf sich der Löwe dagegen, dann zerbrach sie. Er sauste durch den Spalt und landete in einem stockdunklen Raum. Die Augen der Raubkatze gewöhnten sich schnell an die Finsternis, für sie war es kein Problem, ihre nächste Umgebung zu erkennen. Aber außer einer zweiten Tür seitlich, vier Steinwänden, einem mit Stroh bedeckten Boden und einer hohen Decke gab es nichts zu sehen. Nur hören konnte der Löwe zu seiner Freude etwas, und zwar ein Schnauben, Stampfen und Wiehern jenseits der gegenüberliegenden Wand.
»Bist du das, Eschno?«, fragte er.
»Ja, ich. Man hat mich hier angebunden. Und wer bist du?«
»Der Löwe. Ich bin Stellas Kutsche gefolgt. Es war nicht einfach, dich
zu finden.« »Gut, dass du nach mir gesucht hast«, schnaubte der Hengst, »danke! Ich glaube, sie haben Übles mit mir vor. Und noch etwas: Diese Fee ist nicht Stella.« »Was erzählst du da?« Nun war der Löwe doch verblüfft. »Wie kommst du denn darauf?« »Sie halten mich in diesem Loch fest, in das kaum ein Lichtstrahl dringt«, wieherte das Pferd, »statt mir einen anständigen Stall zu geben. Aber das nur nebenbei. Als wir vorhin ins Schloss kamen, hat sie ein paar Worte mit den Wächtern gewechselt und da lichtete sich für Au genblicke das Dunkel meiner Erinnerung. Ich erkannte die Stimme wie der, die mich mit dem Bannspruch belegt hat. Sie gehört keinesfalls Stel la, sondern ihrem Sekretär.« »Du musst dich irren!«, rief der Löwe. »Stellas Sekretär ist auf Reisen und ein Mann.« »Ich kann mir’s auch nicht erklären«, erwiderte Eschno, »doch ich er innere mich jetzt wieder an meine liebe Herrin. Wer weiß, was ihr zuge stoßen ist. Unmöglich, dass sie sich so verändert hat.« Der Löwe kam ins Grübeln, denn ihm fiel ein, was Larry Katzen schrecks Verwandte beobachtet hatten. Zum Grübeln blieb allerdings keine Zeit. »Es wäre schön, wenn du mich hier herausholen könntest«, schnaubte der Hengst. »Das ist leichter gesagt als getan. Die Wände sind aus Stein und die einzige Tür außer der, durch die ich gekommen bin, führt in einen ande ren Raum.« »Versuch trotzdem, sie zu öffnen«, bat Eschno. »Vielleicht kommst du von dort aus weiter.« »Okay«, sagte der Löwe, »ich werde mir Mühe geben.« Er prüfte die Tür, die genauso morsch war wie die vorherige. Mit aller Kraft warf er sich dagegen. Diesmal gaben die Bohlen sofort nach. Zum Nachteil frei
lich der tapferen Raubkatze, denn sie sauste nicht nur durch das Holz, sondern auch in eine tiefe, halb mit Wasser gefüllte Grube, die sich un mittelbar hinter dem Eingang befand.
HILFE IN DER NOT Den Freunden fiel die Abwesenheit Goodwins und des Löwen zunächst nicht auf; sie waren viel zu sehr mit dem Fest beschäftigt. Bis Jessica plötzlich sagte: »Wo ist denn Großvater hin?« »Der Löwe ist auch weg«, stellte der Eiserne Holzfäller fest. »Dabei sollten wir doch gerade an einem Tag wie heute alles gemeinsam ma chen.« Larry Katzenschreck, der auf Prinzessin Bettys Schoß saß und seine Augen überall hatte, fiepte: »Ich glaube, die beiden sind Stellas Karosse gefolgt.« »Warum denn das«, fragte der Scheuch erstaunt, »und warum hast du uns nichts davon gesagt?«
»Ich hab euch nichts gesagt, weil ihr von dem Schauspiel gefesselt wart. Was aber den ersten Teil deiner Frage angeht, so sprachen die beiden über Eschno. Ich vermute mal, dass sich der Löwe für ihn verantwort lich fühlt, seit er ihn vor den Banditen gerettet hat.« Der Holzfäller legte die Hand an die Axt. »Wenn es so ist und vielleicht neue Gefahr droht, müssen wir ihm zu Hilfe eilen.« Betty Strubbelhaar sagte beschwichtigend: »Wir sollten nichts übereilen. Wahrscheinlich kommen die beiden bald wieder, und wenn nicht, sind sie bei Stella im Schloss. Was soll daran gefährlich sein. Außerdem wollen wir dort sowieso hin. Gehn wir ins Gasthaus und holen die Geschenke.« »Larry und Jessica könnten ja noch hier warten«, fügte der Scheuch hinzu. Der Holzfäller war einverstanden und Jessica, die gern weiter dem Ge schehen auf dem Marktplatz folgen wollte, stimmte gleichfalls zu. Nur Larry äußerte sich nicht. Kaum waren die drei jedoch verschwunden, piepste er: »Es genügt, wenn einer die Stellung hält. Ich schaue mich ein bisschen um.« Ohne auf eine Antwort zu warten, huschte er davon. Durch die Kanalisation gelangte er zum Stadtrand. Das ging schneller, als wenn er die überfüllten Straßen benutzt hätte. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis der Mäuserich das Schloss erreicht hatte. Hinter der Hecke entdeckte er Goodwin, der eingeschlafen war. Mit dem Schwänzchen kitzelte er ihn an der Nase. Jessicas Großvater fuhr mit einem Niesen auf. »Was ist los? Hast du Eschno gefunden?« Er glaubte, der Löwe sei zu rückgekehrt. Larry strich sich die Barthaare. »Sieht aus, als würdest du mich mit einer großen gelben Katze ver wechseln.« »Mit einer Katze? Ach, du bist es, Larry. Wo ist der Löwe?« »Das frage ich dich«, erwiderte die Maus.
»Er wollte ins Schloss, um Eschno zu suchen. Er müsste längst wieder da sein. Ich glaube, ich hab geschlafen.« Goodwin machte ein schuldbe wusstes Gesicht. »Du hast geschnarcht wie der Drachenkönig, der zum Glück das Zeit liche gesegnet hat«, bestätigte Larry. »Das ist aber kein schmeichelhafter Vergleich«, beschwerte sich Goodwin. »Ist mir so rausgerutscht, entschuldige. Was willst du jetzt tun?« »Vielleicht sollte ich mal bei den Torwächtern nachfragen«, murmelte Jessicas Großvater. »Das halte ich für keine gute Idee«, fiepte der Mäuserich. »Die Wächter werden zu Stella laufen und wer weiß, was dann passiert. Besser, ich schau mich mal nach dem Löwen um. Mauern und Wachen sind für mich kein Hindernis.« Er ließ Goodwin stehen und rannte zum Tor. Die Wächter, auf ihre Lanzen gestützt, dösten vor sich hin. Larry warf sich so heftig gegen den Lanzenschaft des einen, dass die Waffe wegrutschte und der Mann auf die Nase fiel. Wütend sprang er wieder auf und fing an, seinen Kamera den zu beschimpfen.
»Lass gefälligst solche dummen Scherze!« Der andere verteidigte sich und es entbrannte ein heftiger Streit. Un behelligt huschte Larry zwischen den beiden hindurch in den Schlosshof. Am Brunnen stand die Karosse. Ein paar Spatzen pickten Körner und Weißbrotreste auf. »Habt ihr Eschno gesehen?«, fragte der Mäuserich. »Eschno, ist das der mit den schönen großen Pferdeäpfeln?«, erkundig te sich ein winziger Sperling. »Kennt ihr Eschno nicht, Stellas silbergrauen Hengst, der wochenlang verschwunden war?« Larry war erstaunt. »Der Kleine ist noch nicht lange genug auf der Welt, um etwas von Eschno zu wissen«, erklärte ein älterer Spatz. »Ich glaube aber, dass die Fee den Hengst in den ehemaligen Kerker gebracht hat. Wir sind vor kurzem hergeflogen und ich habe noch seinen Schwanz gesehen.« Larry flitzte zum alten Verlies; er hatte keine Mühe, einen Gang unter der Mauer hindurch zu finden. Im Innern des Gebäudes angelangt, fiepte er: »Löwe, bist du hier?« Als Antwort ertönte ein wütendes Fauchen. Wasser plätscherte und hinter irgendwelchen Mauern wieherte aufgeregt ein Pferd.
Das Fauchen kam aus der Tiefe und die Maus merkte, dass der Löwe in der Klemme steckte. Vorsichtig tastete sie sich zum Rand einer Grube vor. Von unten leuchteten ihr zwei smaragdgrüne Augen entgegen. »Was ist los, übst du dich im Schwimmen?«, fragte Larry. »Bist du das, Katzenschreck? Ich möchte dich mal in so einer Grube sehen, im Wasser bis zum Hals.« »So groß und macht solche Dummheiten«, sagte Larry. »Wie bist du da reingeraten?« »Na wie schon – ich wollte Eschno befreien. Sie haben ihn nebenan eingesperrt. Konnte ich wissen, dass hier so ein Wasserloch ist?« Der Löwe heulte fast. »Da bist du in keiner guten Lage«, stellte Larry fest, der erst jetzt die ganze Gefahr begriff. »Aber so gern ich dir helfen würde, ich weiß nicht, wie. Ich kann höchstens zu Stella gehen.« »Auf keinen Fall. Eschno behauptet, dass es nicht die echte Stella ist.« Nun hätte der Mäuserich allerhand Fragen gehabt, doch der Löwe be schwor ihn, keine Zeit mehr zu verlieren. »Benachrichtige die Freunde«, sagte er. »Der Scheuch wird Rat wissen. Er ist der einzige, der helfen kann. Beeil dich!« »Das wird aber dauern«, wandte Larry ein. »Hältst du denn noch so lange durch?« »Ich werd’s versuchen«, sagte der Lö we. »Wenn es gar nicht anders geht, brülle ich um Hilfe. Die im Schloss werden mich trotz allem nicht gleich umbringen.« Larry verließ das Gebäude auf dem selben Weg, auf dem er gekommen war. Die Wächter dösten erneut und diesmal nahm er sich nicht die Zeit, ihnen eins auszuwischen. Schnurstracks rannte er zu Goodwin. Doch kurz bevor er den Alten erreicht hatte, passierte nun ihm
etwas höchst Unangenehmes. Ein Schatten senkte sich blitzschnell auf ihn herab und ehe er noch einen Piepser von sich geben konnte, war auch er gefangen. In einem großen Netz, das der Mäuserich unmöglich zerreißen konnte.
Dritter Teil
Das wandernde Bäumchen
VERWIRRENDE EREIGNISSE
Mark war froh, den Festumzug hinter sich zu haben, denn Eschnos un vermutete Rückkehr hatte ihn gewaltig erschreckt. Wieder in seinem Zimmer, holte er sofort die Zauberbücher aus dem Regal. Vielleicht gab es einen Trick, dem Hengst die Sprache zu nehmen, so dass er nie etwas würde verraten können. Doch er kam nicht dazu, die richtigen Formeln herauszusuchen. Der Leibwächter, der beim Abfangen des Pferdes so versagt hatte, klopfte aufgeregt an die Tür. »Du musst schnell kommen, Herrin. Im alten Verlies spukt es.« »Du wieder? Ausgerechnet du wagst es, mich zu stören? In einem Au genblick, da ich mich auf die Krönung vorbereite?« Mark griff wütend nach dem Zauberstab. »Bitte hab Nachsicht, Herrin. Es ist wegen Eschno. Er faucht und brüllt. Du sagtest doch, dass er verhext ist. Ich glaube, er hat sich in ein wildes Tier verwandelt.« Am entsetzten Gesicht des Leibwächters merkte Mark, dass wirklich etwas geschehen sein musste. Er entschloss sich, selbst nachzuschauen. »Na gut, ich komme«, sagte er. »Aber wehe, du erzählst Unsinn.« Sie liefen zum Kerker und der Leibwächter schloss ängstlich die eiser ne Tür auf. Zur Verstärkung winkte er ein paar Bedienstete heran. Tatsächlich drang aus der Tiefe der Gewölbe ein leises Fauchen und Kratzen. Außerdem plätscherte Wasser. »Bleibt hier und lasst keinen durch«, befahl die falsche Fee. »Ich will sehen, was los ist.« Sie murmelte die Worte »Lux, lurifux, luxor« vor sich hin und beschrieb mit dem Zauberstab einen kleinen Kreis. Sofort hatte sie eine hell leuchtende Lampe in der Hand. Die Geräusche kamen nicht aus dem Raum mit dem Hengst, sondern von rechts, wo es zum Turm ging. Vorsichtig folgte Mark den Lauten. Gleich darauf merkte er, was vorgefallen war. Ein Tier musste in die alte, für unerwünschte Besucher gedachte Grube gefallen sein. Aber wie war es hier hereingekommen?
Mark trat an den Grubenrand und leuchtete nach unten. Verblüfft schaute er auf den Löwen, der ihm seit gestern schon zweimal in die Quere gekommen war und geblendet die Augen schloss. »Du bist also das Gespenst, das im Kerker spukt«, sagte er. »Wie hast du es geschafft, hier einzudringen?« »Das erzähle ich dir, wenn du mich aus dieser Falle holst«, knurrte der Löwe. »Ach ja?«, lachte Mark spöttisch. »Vielleicht finde ich es aber auch oh ne deine Hilfe heraus. Schließlich ist Stella ein kluges Köpfchen.« »Falls du überhaupt Stella bist!«, brüllte der Löwe ungestüm. »Was hast du mit Eschno vor? Warum sperrst du ihn in ein Kerkerloch?« Diese unvorsichtigen Worte hätte er sich allerdings besser verkniffen. Mark, der dem Löwen ohnehin misstraute, begriff, dass er Verdacht ge schöpft hatte, ihm womöglich auf der Spur war. Zum Glück war der Vierbeiner nun selbst gefangen. »Na warum wohl?«, höhnte er. »Aus dem gleichen Grund, aus dem ich dich in dieser Grube sitzen lasse, bis du verhungerst oder ersäufst. Ich könnte dich in einen Holzklotz verwandeln, aber du hast dich schon selbst erledigt.« Der Löwe ärgerte sich über seine Unbeherrschtheit, doch es war nicht mehr zu ändern. »Ich habe Freunde, die mich suchen werden«, fauchte er. »Mach dir keine falschen Hoffnungen, ich räume alle aus dem Weg, die sich mir entgegenstellen. Vielleicht bin ich wirklich nicht die echte Stella, aber ich besitze ihre Zauberbücher. Heute werde ich mich zur Königin des Rosa Landes krönen lassen und dann nach eigenem Gutdünken un beschränkt herrschen.« »Du niederträchtige Hexe«, brüllte der Löwe, »wenn ich dich zu fassen kriege, zerfleische ich dich.« Er stieß sich mit den Hinterpfoten vom Grund ab, sodass er ein Stück aus dem Wasser emporschnellte. Aller dings bei weitem nicht hoch genug, um den Gegner zu packen. Hilflos rutschte er wieder zurück. »Wild bist du, aber nicht besonders klug«, stellte Mark fest. »Mal sehen, wie lange du durchhältst. Ab und zu werde ich nach dir schauen. Jetzt
aber erst einmal adieu, ich habe noch einiges vor.« Er entfernte sich von der Grube und verließ den Raum. Mit dem Leibwächter war er etwas ausgesöhnt. »Eschno scheint von bösen Geistern besessen zu sein«, sagte er zu ihm, »du hast richtig gehandelt, mich zu benachrichtigen. Es ist sehr traurig, aber wir müssen ihn weiter gefangen halten, sonst verwandelt er sich in ein reißendes Tier und richtet viel Unheil an. Jedenfalls kann nur ich ihm helfen. Keiner außer mir darf das Verlies betreten. Bewacht das Haus gut!« Der Leibwächter versicherte eilfertig, dass sie niemanden durchlassen würden, nicht einmal die kleinste Maus. »Sichert auch den Turm daneben, damit keiner von dorther eindringt«, befahl Mark, der sich noch immer fragte, wie der Löwe in den Kerker gelangt war. »Es wird geschehen, wie du es verlangst, Herrin«, erwiderte der Leib wächter. Mark war zufrieden und kehrte ins Schloss zurück. Unterwegs überleg te er aber, dass der Löwe nicht als einziger Verdacht geschöpft haben könnte. Immerhin war er mit dem Herrscher der Smaragdenstadt und dem König der Zwinkerer befreundet. Ich muss diese lächerliche Stroh puppe, diese Blechfigur und auch die Kleine aus dem Menschenland im Auge behalten, sagte er sich, sie könnten mir gefährlich werden. Nach denklich stand er am Fenster seines Zimmers und schaute auf den Schlosshof. Doch mitten in seine Gedanken hinein geschah etwas Ei genartiges. Täuschte er sich oder sah er richtig, dass neben dem Brunnen ein Bäumchen wuchs? Ein rosa Bäumchen, zierlich und von ungewöhn licher Schönheit. Es spross direkt vor seinen Augen aus dem Boden, und zwar so schnell, dass es nur durch Zauberei geschehen konnte.
ZUM GLÜCK GIBT ES MINNI »Ein kleiner Happen, aber ich werde ihn mir schmecken lassen«, lispelte die große braune Spinne. Sie zog das Netz mit Larry Katzenschreck zur Baumkrone hoch, wo sie sich niedergelassen hatte, und hängte es an
einen Ast. »Zapple du nur«, fügte sie hinzu, »deine Kraft wird dich bald verlassen. Bei einer Beute wie dir kann ich mir die Giftspritze sparen.« Der Mäuserich begriff sehr schnell, dass die Hampelei sinnlos war. Dieses grässliche Vieh hatte ihn in der Gewalt und er musste das Schlimmste befürchten. »Hör mal«, begann er und sah sich nach einer Masche um, die so groß war, dass er hindurchschlüpfen konnte, »du kannst mich nicht einfach auffressen, denn du würdest ewige Schuld auf dich laden.« »Ewige Schuld? Was soll dieser Unsinn? Wegen einer Maus wie dir macht sich doch niemand Gedanken.« »Und ob man sich Gedanken macht«, widersprach Larry. »Ich bin Kat zenschreck, der berühmteste Mäuserich im ganzen Zauberland. Ich war schon in Burgen und Schlössern zu Gast, habe mit Herrschern und Zau berern an einer Tafel gespeist.« »Nun halt mal die Luft an, Kleiner«, sagte Minni. »Du und mit Herr schern gespeist? Einige Brosamen hast du vielleicht vom Boden aufge klaubt, wenn überhaupt.« Larry wollte energisch protestieren, doch in diesem Moment kam Goodwin angerannt, der die Szene beobachtet hatte. »Larry, was ist mit dir?«, rief er von unten. »Lebst du noch?« Die Spinne kam ein paar Äste den Baum herab. »Wer schreit dort unten? Ist das nicht der Großvater, der mir mein Reitpferd weggenommen hat? Was hast du mit dieser Maus zu schaf fen?« »Du bist es, Minni«, sagte der Alte erfreut. »Ich dachte schon, ein xbeliebiger Räuber hätte unseren Freund Larry geschnappt und umge bracht.« »Euer Freund Larry, wie soll ich das verstehen?«, fragte Minni missmu tig. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es nicht einfach sein würde, ihre Beute zu behalten. Goodwin erzählte, was er von Larry wusste. Er berichtete von der sonderbaren Fee, dem Scheuch, von Prinzessin Betty, dem Holzfäller, dem Löwen und vor allem von Eschno, der in Gefahr war. Der Mäuse
rich gab von oben seinen Kommen tar dazu. Er beschrieb auch, in welch schlimmer Lage sich der Löwe be fand. Der Spinne brummte der Schädel von all diesen Schilderungen. An den Löwen hatte sie nicht die besten Erinnerungen, von ihm wäre sie einmal beinahe erledigt worden. An dererseits hatte er sie dann am Leben gelassen. Und es ging um Eschno, den sie echt ins Herz geschlossen hatte. »Die Maus in meinem Netz wollte dem Pferd helfen, auf dem ich gerit ten bin?«, vergewisserte sie sich. »Wenn ich es dir sage«, rief Larry. »Der Hengst ist in einem Kerkerloch eingesperrt. Wenn er nicht befreit wird, kann es ihm übel ergehen.« »Na gut, ich lasse dich laufen«, ent schloss sich Minni. »Obwohl ich ziemlichen Kohldampf habe.« Sie öffnete das Netz. Larry, der keine weite Masche ge funden hatte, war mächtig erleich tert. Er sauste wie der Blitz den Baum hinunter und kroch unter ei nen Stein. Von dort aus rief er: »Um deinen Hunger zu stillen, soll test du ins Schloss übersiedeln. In der Vorratskammer kannst du dir den Bauch wochenlang vollschlagen, ohne dass es jemand merkt.« Minni nahm den Vorschlag ernst.
»Meinst du? In einem Schloss wollte ich schon immer mal wohnen.« »Aber erst müssen wir dem Löwen aus der Patsche helfen«, erinnerte Jessicas Großvater. Mittlerweile trafen die ersten Gäste im Schloss ein, die zur Krönungs feier wollten. Auch der Scheuch und seine Freunde rollten mit ihrer Kut sche heran. Sie hatten sich beeilt, denn sie begannen sich ernsthaft Sor gen um Goodwin und den Löwen zu machen. Als sie erfuhren, was pas siert war, erschraken sie sehr. »Wir müssen sofort mit Stella sprechen, damit sie unseren Freund aus dieser abscheulichen Grube holt«, rief Betty. »Ich bezweifle, dass sie es tut«, erwiderte Larry, der sich wieder unter seinem Stein hervorgewagt hatte. »Nach allem, was wir inzwischen über sie wissen, kann man ihr nicht mehr trauen.« »Wenn es sein muss, werde ich sie mit der Axt dazu zwingen.« Der Holzfäller schien zum Letzten entschlossen. »Stella hat Wachen und Leibwächter«, wandte Goodwin ein, »und sie verfügt über Zauberkräfte. So leicht kannst du sie nicht zwingen.« Jessica, die am meisten um die Raubkatze bangte, sagte beschwörend: »So streitet doch nicht. Wenn wir noch viel Zeit verlieren, kann es für den Löwen zu spät sein.« Die anderen wussten das auch, doch was sollten sie tun. Alle schauten auf den Scheuch, der bisher geschwiegen hatte. Von ihm erwarteten sie einen Rat. Eine Lösung zu finden, war in der Tat schwierig. Der Scheuch dachte so angestrengt nach, dass ihm die Nadelköpfe aus dem Scheitel traten. Schließlich sagte er: »Trotz aller Bedenken – wir sollten gemeinsam ins Schloss gehen und die Fee zur Rede stellen. Fraglich ist allerdings, ob sie uns vor den Krö nungsfeierlichkeiten empfangen wird. Deshalb müssen wir noch etwas anderes versuchen. Minni könnte dem Löwen aus der Grube helfen.« Minni, die auf dem untersten Ast ihres Baumes saß, lispelte: »Hab ich mir doch gedacht, dass ihr mich braucht. Aber ich steh der großen gelben Katze nur bei, weil es um Eschno geht.«
Der Scheuch ging nicht erst auf ihre Worte ein. »Du musst über die Dächer laufen, damit man dich nicht bemerkt. Lar ry kann dir zeigen, wo du den Löwen findest.« »Danach zeigst du mir aber noch die Vorratskammer«, sagte die Spinne zum Mäuserich. Bei dem Gedanken, mit Minni auf den Dächer herumzuklettern, war Larry nicht ganz wohl. Doch er sah ein, dass der Löwe nur so gerettet werden konnte. »Okay, machen wir uns auf die Beine«, stimmte er zu. Sie brachen auf. Während der Scheuch und seine Freunde zum Schlosstor eilten, strebten die Maus und Minni der Mauer in der Nähe des Kerkers zu. Larry achtete darauf, dass zwischen ihm und der Spinne stets etwas Abstand blieb. Über die Mauer erreichten die beiden den Turm und Larry fiepte: »Vorhin bin ich unten rein. Dafür scheinst du mir zu groß und zu un geschickt. Wir müssen es von oben versuchen.« »Wer von uns ungeschickt ist, hat sich ja am Baum erwiesen«, gab Minni zur Antwort. »Ich vermute, dass du Mühe haben wirst, am Turm hochzukommen. Wir sehen uns drinnen wieder.« Sie lief ohne Schwierigkeiten an der Turmmauer hoch bis zur ersten Schießscharte und war verschwunden. Larry, der ihr nicht folgen konnte und wollte, suchte sich ein Mauseloch. In dem felsigen Raum, den der Löwe als erstes im Verlies betreten hatte, trafen sie sich wieder.
»Die Grube, in der unser Freund sitzt, ist nebenan«, erklärte der Mäu serich, »holen wir ihn heraus.« »Du wirst kaum etwas dazu beitragen«, entgegnete Minni. »Aber war um ist er so still?« »Es hat zu lange gedauert, bis du endlich die Treppe herunterkamst«, revanchierte sich die Maus. »Das Warten erschöpft jeden.« Der Löwe hatte sie gehört und sagte: »Ich bin nicht erschöpft, ich spa re Kräfte. Wer ist da? Du, Larry? Hast du was erreicht?« »Ja. Ich habe Minni mitgebracht. Wir wollen dich befreien.« »Ich tu’s nicht so sehr deinet-, sondern Eschnos wegen«, fügte die Spinne hinzu. »Danke für deine Offenheit. Ich bin dir trotzdem verbunden«, murrte der Löwe. »Na gut. Ich werfe dir jetzt mein Netz hinunter, damit du daran hoch kletterst. Das schaffst du hoffentlich. Nach oben ziehen kann ich dich nicht, du bist zu schwer.« »Wie willst du denn das Netz festhalten?«, mischte sich Larry ein. »Da zu bist du nicht stark genug.« Obwohl Minni für ihre Größe durchaus ungewöhnliche Kräfte besaß, sah sie das ein. Zumal sie auf dem glatten Boden wegrutschte. Sie schau te sich im Raum um und entdeckte einen Haken in der Wand. »Versuchen wir es mit dem«, sagte sie. Sie lief an der Wand empor und schlang das Seil, das fest genug war, zwei fette Schweine in der Schwebe zu halten, mehrfach um den Eisenhaken. Wieder am Boden, hielt sie es mit dem Maul, stemmte die Beine, so gut es ging, in den Stein und warf das Netz in die Grube. »Du musst das Netz ein Stück hochziehen«, riet Larry, »dann kann es der Löwe als Leiter benutzen.« »Immer diese Besserwisserei«, zischte Minni, nahm aber das Seil kür zer. »Jetzt los!«, rief sie. Der Löwe krallte sich in die Maschen und kletterte nach oben. Zwei mal rutschte er zurück, zog die Spinne fast bis an den Rand der Grube und wurde nur durch den Haken gehalten. Das Mauerwerk hinter Minni
knirschte beängstigend. Eschno, der jenseits der Wände die Geräusche hörte, schnaubte und fragte: »Bist du das, Löwe?« Seine Stimme war kaum zu vernehmen. Der Herrscher des Tierreichs war viel zu beschäftigt, um zu antworten. Langsam kroch er nach oben und es gelang ihm, die Vordertatzen genau in dem Augenblick über den Grubenrand zu bringen, als der Haken nachgab. Ein Stein brach krachend aus der Mauer und Minni hätte bei nahe das Seil losgelassen. Sie hielt es aber fest und der Löwe konnte sich mit letzter Kraft zu ihr hochziehen. »Das werd ich dir nie vergessen«, keuchte er. Larry fiepte: »Ich hab wohl keinen Anteil daran? Hab Minni schließlich hergeführt.« »Dir bin ich ebenso dankbar.« Der Löwe, nass und schmutzig, erholte sich etwas. »Löwe, bist du das?«, wollte erneut der Hengst wissen. »Ich bin’s. Im Moment kann ich nicht zu dir kommen, aber wir holen dich raus. Hab Geduld.« »Du kannst dich auf uns verlassen, denn ich möchte bald wieder mal auf dir reiten«, fügte die Spinne krächzend hinzu.
DIE SPRECHENDEN KOHLKÖPFE Mark stürzte auf den Hof zu dem rosa Bäumchen, um das sich bereits einige Diener und die ersten Gäste versammelten. »Zurück«, rief er, »zurück! Es ist verhext und kann euch schaden.« »Ein so wunderbares Gewächs?«, fragte ungläubig eine Frau, die ihrer Kleidung nach aus dem Reich der Springer kam. »In seinen Zweigen rauscht es wie Musik. Fast könnte man meinen, es spricht.« »Das ist alles nur Täuschung, hört nicht hin!« Mark versuchte die Leute wegzudrängen. Der Scheuch und seine Freunde kamen durchs Tor. Sie gesellten sich zu der Gruppe und Betty Strubbelhaar sagte:
»Was für ein schönes Bäumchen. Hat nicht der Löwe erzählt, dass ein gleiches schon am Waldrand steht?« »Es soll sprechen und sogar weinen«, rief Jessica. »Vielleicht weint das hier auch.« »Ich weine oder weine nicht, Ich trag ein menschliches Gesicht«, sang das Bäumchen. Die Worte waren freilich so leise, dass die Umste henden nur ein Summen hörten. Der Förster eilte herbei, der seinerzeit das rosa Bäumchen hatte fällen sollen. Er wandte sich an Mark: »Ich wollte gerade Meldung erstatten. Das Bäumchen am Waldrand ist verschwunden. Nur der Zaun steht noch.« »Ihr habt es gehört, diese Pflanze ist kein gewöhnliches Gewächs. Sie scheint zu wandern und ist gefährlich«, rief Mark erneut. »Wer weiß, was der Baum alles anrichten kann.« Er winkte seine Leibwächter herbei und wies auch die anderen Diener an, Platz zu schaffen. Langsam wurden die Leute vom Hof gedrängt. »Ich bin nicht gefährlich, Ich bin hier zu Haus. Ich jage die falsche Fee hinaus«, sang leise das Bäumchen. Nur Betty und Jessica hatten es vernommen, die noch nahe genug standen. Sie trauten ihren Ohren nicht. Der Holzfäller, der ein großer Kenner von Bäumen war, sagte: »Warum soll diese Pflanze so schrecklich sein, Stella? Sie kommt mir sehr freundlich und fast wie ein lebendes Wesen vor.« Mark warf ihm einen scheelen Blick zu. »Das ist ja gerade die Hinterlist. Wir dürfen uns von dieser Freundlich keit nicht täuschen lassen.« Die Tatsache nutzend, dass alle auf den Baum starrten, zückte er heimlich seinen Zauberstab und sprach flü sternd die Worte: »Schwefel, Teer und Höllenbrand, Leg im Kreis, Um das Reis Eine hohe Feuerwand!«
Urplötzlich züngelten Flammen rings um das Bäumchen auf, bildeten einen heißen, undurchdringlichen Wall. Betty konnte gerade noch aus dem Feuerkreis zum Scheuch springen, Jessica dagegen war eingeschlos sen. Erschrocken drängte sie sich so dicht wie möglich an den Baum. »Da habt ihr’s«, schrie Mark, »er schickt Flammen aus, um euch zu verbrennen. Wir werden den Hof absperren, damit ich diesen Hexen baum bändigen kann.« »Jessica ist in dem Kreis«, rief Goodwin. »Wir müssen sie retten!« Der Scheuch machte einen Schritt auf die Flammen zu, wurde aber von Betty zurückgerissen. Das Stroh, aus dem sein Körper bestand, hätte sofort Feuer gefangen. Großvater Goodwin wollte ebenfalls durch die lodernde Glut, prallte jedoch vor der gewaltigen Hitze zurück, die ihm Haut und Haar verseng te. »Bist du verletzt, Jessica?«, krächzte er mit vom Rauch erstickter Stim me. »Mir geht es gut, die Flammen erreichen mich nicht«, ertönte es hinter dem Feuervorhang hervor. »Halt aus, wir werden den Brand löschen.« Goodwin rannte nach Ei mern, um im Brunnen Wasser zu schöpfen. Der Eiserne Holzfäller sagte entschlossen: »Gebt mir eine feuchte Decke, ich hole Jessica heraus. Mir macht ein bisschen Wärme nichts aus.« Jemand reichte ihm eine nasse Pferdedecke, doch schon beim ersten Schritt erstarrte er mitten in der Bewegung. Weder konnte er sprechen, noch Fuß oder Hand rühren. Mark brüllte: »In dem Baum steckt ein böser Geist! Er hat den Holzfäller gelähmt! Kommt alle von hier weg in den Krönungssaal. Ich will versuchen, den Zauber zu brechen.« In Wirklichkeit war er es gewesen, der den Holzfäller mit einem leise gemurmelten Spruch gebannt hatte. So sind er und das Mädchen schon mal ausgeschaltet, dachte er.
Eine Panik brach aus; alles rannte ins Schloss. Nur der Scheuch, Betty und Goodwin blieben unschlüssig stehen. Sie wussten nicht, was sie ma chen sollten. »Ich hab es deutlich gehört: Das Bäumchen hat gesungen, dass es nicht gefährlich, sondern hier zu Hause ist«, flüsterte Betty. »Es will die falsche Fee verjagen.« »Gefährlich ist nur diese Stella«, gab der Scheuch ebenso leise zur Antwort. »Ich habe beobachtet, wie hässlich sie das Gesicht verzog, als der Holzfäller Jessica aus dem Kreis holen wollte. Dann hat sie irgend was in sich hineingemurmelt. Ich glaube, sie hat unseren Freund ver hext.« »Wenn es sich so verhält, ist Jessica vielleicht bei dem Bäumchen siche rer«, murmelte ihr Großvater. »Wahrscheinlich«, bestätigte Betty. »Aber Vorsicht, Stella schaut her. Sie scheint uns zu misstrauen.« Mark kam auf die drei zu. »Es hat keinen Zweck zu warten, es ist zu riskant. Bitte geht zu den anderen ins Schloss.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Aber der Holzfäller!«, erwiderte der Scheuch. »Die Kleine hinter den Flammen!«, rief Goodwin. »Überlasst das mir. Der fremde Zauber ist sehr stark, doch ich werde alles tun, um ihn zu besiegen.« »Wir bleiben hier«, erwiderte der Scheuch entschieden. »Wir können unsere Freunde nicht im Stich lassen.« Mark beschloss, keine Rücksicht mehr zu nehmen. »Ich habe euch gewarnt, doch ihr wollt nicht hören. Ich beobachte euch schon eine ganze Weile und sehe, dass ihr mir hinterherschnüffelt.« Er zück te seinen Zauberstab. »Hox, fox, kaneris! Zu Kohlköpfen sollt ihr werden!« Ein Blitz zuckte auf, warf die drei zu Boden. Dumpfer Schmerz durchdrang sie, dann verloren sie das Bewusstsein. Im nächsten Augen blick rollten drei Kohlköpfe über den Hof. Jessica, die durch das Feuer hindurch alles hatte verfolgen können, war starr vor Schreck. Sie mochte nicht glauben, was da geschah, und wäre beinahe durch die Flammen gesprungen. Aber die Hitze trieb sie zurück.
Mark dagegen war sehr zufrieden mit sich. Meine Zauberkünste klap pen, dachte er, jetzt bin ich unbesiegbar. Zumal ich diesen Scheuch, die Puppe, die sich seine Frau nennt, und den Eisenmann ausgeschaltet ha be. Auch den Alten, der früher mal in der Smaragdenstadt geherrscht haben soll. Eschno ist eingesperrt, der Löwe sitzt in der Falle und um das Mädchen aus dem Menschenland werde ich mich später kümmern. Soll sie mitsamt diesem rosa Baum von der Glut geröstet werden. Er rief einen Diener herbei und befahl ihm, die Kohlköpfe zum Koch zu bringen. Er solle eine schmackhafte Suppe daraus machen. Dann kehrte er ins Schloss zurück. Der Diener wunderte sich, dass plötzlich drei Kohlköpfe im Hof he rumlagen, brachte sie aber in die Küche. »In Ordnung, sie scheinen ganz frisch zu sein«, sagte der Koch. »Ich werde sie in die Gemüsesuppe schneiden, die ich für das Festmahl zube reite.« Als der Diener gegangen war, nahm er ein großes Messer und setzte zum Schnitt an. Der erste Weißkohl aber sprang vom Tisch und rief:
»Vorsicht, du Hohlkopf, Ich bin kein Kohlkopf!« Der Koch fuhr erschrocken zurück. Dass im Zauberland die Tiere spra chen, war nicht überraschend, doch Gemüse, welcher Art auch immer, hatte noch nie geredet. Kein einziges Wort. Dieses aber beleidigte ihn sogar. Nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, griff er nach der zweiten Krautknolle. Erneut wollte er ein Stück absäbeln, sie jedoch entwischte dem Messer und beschwerte sich: »Kannst du nicht hören, dummer Tropf Du hast wohl selber Kohl im Kopf.« Dem Koch wurde die Sache unheimlich, dennoch schnappte er sich den dritten Weißkohl, hielt ihn diesmal fest und setzte die Klinge an. »Das fehlte noch, dass mir das Gemüse Vorschriften macht«, murmelte er. Der Kopf jedoch glitt auch diesmal zur Seite und schrie: »Weg mit dem Messer, lass es sein, Ich schwör’s, du schneidest dich selbst ins Bein!« Nun hatte der Koch genug. Mit diesem Gemüse stimmt etwas nicht, sagte er sich, ich greife mir lieber ein paar andere Krautköpfe. Wer weiß, was mir sonst noch zustößt. Er brachte die drei Kohlköpfe in die Vor
ratskammer und schnitt welche in den Suppenkessel, die ihm nicht wi dersprachen. Nach und nach beruhigte er sich. Er kostete die Suppe und fand, dass sie ausgezeichnet schmeckte. Das aber war die Hauptsache.
TUMULT IN DER SPEISEKAMMER Als der Löwe wieder zu Kräften gekommen war, sagte er: »Wenn wir etwas für Eschno tun wollen, müssen wir die falsche Fee entlarven und die richtige finden. Die Hexe, die mich in dieser Grube verrecken lassen wollte, hat nur Stellas Gestalt angenommen, da gibt es keinen Zweifel mehr.« »Machen wir uns davon und sprechen dann weiter«, schlug Larry vor. »Vielleicht kommt sie zurück und tut uns etwas an, so wie dem armen Hengst. Dann säßen wir erst recht in der Patsche.« Sie wollte durch ein Mauseloch verschwinden, doch Minni hielt sie mit den Vorderfüßen am Schwanz fest. »Moment, du wolltest mir noch die Vorratskammer zeigen.« »Typisch Spinne. Denkt in so einem Augenblick nur daran, sich den Wanst vollzuschlagen.« »Vorsicht mit deinen Bemerkungen, Mäuschen. Falls du mich weiter hin reizt, könnte ich vergessen, wie berühmt du angeblich bist«, lispelte Minni. »Hört auf zu streiten«, murrte der Löwe. »Wenn hier einer Hunger hat, dann bin ich das. Aber wir müssen uns unbedingt mit den Freunden beraten. Nehmen wir den Weg über die Dächer, das ist am ungefährlich sten. Du, Larry, kannst auf meinen Rücken steigen. Du hältst dich ein fach an meinem Fell fest. Vielleicht kommen wir ja sogar an der Speise kammer vorbei.« Die Spinne war einverstanden und Larry wollte sich’s nicht mit den beiden verderben. Er hatte keine Ahnung, wo die Vorräte lagen, hoffte aber auf seine Spürnase. Sie zwängten sich durch die Türen, die der Löwe anfangs zerschlagen hatte, und kletterten die Wendeltreppe zu den Schießscharten hoch.
»Wo sind der Scheuch und die anderen jetzt?«, fragte die Raubkatze. »Sie wollten ins Schloss, um die Fee zur Rede zu stellen«, erwiderte Larry. »Damit sie dich und Eschno freilässt.« »Dann befinden sie sich bestimmt in großer Gefahr. Die Hexe wird nicht auf ihre Wünsche eingehen.« »Es sind viele Gäste im Schloss, da kann ihnen nichts passieren«, er klärte der Mäuserich. Vom Dach des Kerkers aus konnten sie in den Schlosshof blicken. Er war menschenleer. Nur vor dem Verlies lümmelten zwei Wächter herum. »Da unten könnt ihr lange auf mich warten, ihr Schafsköpfe«, murmel te der Löwe. Die Spinne, die in eine andere Richtung geschaut hatte, zischelte: »Am Brunnen scheinen sie ein Feuer gemacht zu haben.« »Wozu denn das?«, fiepte Larry. Er war kein Freund von Flammen. Zwischen ihnen und dem Feuer standen ein paar Kutschen, mit denen Gäste gekommen waren. Deshalb entdeckten die drei weder das rosa Bäumchen noch Jessica.
»Vielleicht wollen sie zur Feier des Tages einen Ochsen am Spieß bra ten«, vermutete der Löwe und leckte sich die Lippen. Er wäre liebend gern in den Hof gelaufen, wusste aber, dass er dort von jedermann gese hen werden konnte. »In der Speisekammer findest du bestimmt auch, was du brauchst«, wisperte die Spinne, »gehn wir weiter.« Über die Pferdeställe gelangten sie zu einem Seitenflügel des Schlosses. Ein Dachfenster stand offen. Sie nutzten die Gelegenheit und stiegen ein. Larry, der inzwischen vom Rücken des Löwen herabgesprungen war und wieder die eigenen Beine benutzte, fiepte: »Wir müssen vorsichtig sein. Hier könnten sich Katzen herumtreiben.« »Ich denke, du wirst so leicht mit ihnen fertig«, spottete Minni. »Klar werde ich mit ihnen fertig. Aber nur, weil ich Augen und Ohren offen halte.« »Wenn du bei uns bleibst, wird sich kaum eine Katze an dich heranwa gen«, beruhigte ihn der Löwe. Über eine Treppe stiegen sie weiter nach unten. Verschiedene Türen gingen seitlich ab, doch nirgendwo roch es nach Käse oder Geräucher tem. »Wann kommen wir denn endlich an die Vorratskammer?«, fragte un geduldig die Spinne. »Die Speisen werden normalerweise in Räumen aufbewahrt, wo es kühl ist«, gab Larry zur Antwort. »Wir müssen noch ein Stück abwärts.« Sie schlichen eine zweite Treppe hinab und stießen auf ein paar Diener, die Stühle zum Krönungssaal trugen. Um nicht entdeckt zu werden, wi chen sie in einen Nebenraum aus. Feinste Stofftapeten und Gobelins hingen an den Wänden und Minni brachte es nicht über sich, den Ort zu verlassen, ohne wenigstens einmal auf dem Kronleuchter geschaukelt zu haben. Es erinnerte sie an die Baumwipfel im Urwald. Indessen war Larry voraus ins nächste Zimmer geeilt und direkt einer Magd vor die Füße gesprungen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und rief: »Eine Maus, eine Maus im Salon!«
Larry hatte natürlich keine Zeit, die Situation zu erklären, er flüchtete zurück zum Löwen. Die Magd verfolgte den Mäuserich mit einem Be sen, fand sich aber unvermutet einem großen Raubtier gegenüber, das zwar beruhigend die Tatze hob, aber gerade deshalb sehr gefährlich wirk te. Als noch eine kaninchengroße hässliche Spinne vom Kronleuchter herabplumpste, sank sie mit einem Seufzer zu Boden und fiel in Ohn macht. »Schnell weg von hier, bevor es einen Aufruhr gibt«, sagte diesmal der Löwe. Sie rannten durch mehrere Räume, sausten einige Treppen hinauf und hinunter und befanden sich plötzlich auf einer schmalen Galerie. Hinter einem geschnitzten Geländer hervor schauten sie in den Krönungssaal. Der Saal war groß und bereits ziemlich mit Gästen gefüllt. Das waren angesehene Persönlichkeiten aus der Hauptstadt und dem gesamten Ro sa Reich, aber auch Delegationen aus anderen Gegenden des Zauberlan des. Vorn stand auf einer Bühne der Thron, ein kostbar verzierter Sessel, in dem die falsche Fee sitzen sollte, aber bisher noch nicht Platz ge nommen hatte. Nur zwei Berater in gelben Umhängen hatten sich rechts und links davon auf samtbeschlagenen Stühlen niedergelassen. Aufseher patrouillierten vor den Türen, Bedienstete eilten hin und her, schleppten weitere Stühle heran, geleiteten die Leute zu ihren Plätzen. Links war eine Tafel mit Geschenken aufgebaut. Diener nahmen sie von den An kömmlingen entgegen, die sich in ein großes Buch eintragen mussten. »Hier ist anscheinend nur willkommen, wer kostbare Spenden über reicht«, fiepte Larry.
Gerade wurde von zwei Affen das Geschenk aus dem Tierreich über geben, jenes farbenprächtige Gemälde des berühmten SchimpansenKünstlers, und die Umstehenden brachen in ein bewunderndes Ah und Oh aus. Der Löwe dagegen murrte: »Wir haben extra einen Wettbewerb ausgeschrieben, um uns des gro ßen Festtages würdig zu erweisen. Hätte ich gewusst, was geschieht, hät te ich darauf verzichtet und stattdessen die Freunde vor Stella gewarnt. Aber außer uns scheint ja keiner etwas zu merken.« Das stimmte allerdings nicht. In der letzten Zeit war vielen Leuten im Rosa Land Stellas verändertes Gebaren aufgefallen und so mancher wunderte oder ärgerte sich darüber. Dass Mark, der Sekretär, ihren Platz eingenommen hatte, ahnte freilich niemand. Der Scheuch, der Eiserne Holzfäller und die anderen waren noch nicht im Saal. In den vorderen Reihen waren einige Stühle frei, wahrscheinlich sollten sie dort Platz nehmen. »Die Sache gefällt mir nicht«, murmelte der Löwe. »Ich geh mal runter und erkundige mich beim Einlassdienst.« »Das ist zu gefährlich. Warte lieber noch ab. Wenn ich mich umschaue, fällt das weniger auf«, schlug der Mäuserich vor. »Ich komme mit. Vielleicht finden wir endlich die Speisekammer.« Die Spinne war sofort dabei. »Wir sind gleich wieder zurück«, versprach Larry.
Die beiden zogen ab. Über eine Wendeltreppe erreichten sie einen breiten Gang, der zum Saaleingang führte. Aus der entgegengesetzten Richtung aber drangen Essensgerüche zu ihnen, die nur sie mit ihren feinen Nasen wahrnahmen. Minni wandte sich sofort nach dieser Seite. »Na endlich«, nuschelte sie. »Wir wollten den Scheuch suchen«, erinnerte Larry. »Wer sagt denn, dass er und die anderen sich nicht ein wenig stärken, bevor sie der falschen Fee die Meinung geigen.« Larry wollte einwenden, dass höchstens Jessica und ihr Großvater Nahrung brauchten, ließ es aber sein. Der Käseduft, der ihn erreichte, war zu verlockend. Sie kamen an der Küche vorbei, aus der es nach Braten, Suppe, Mehl speisen und Kuchen roch. Gleichzeitig wurde jedoch lärmend mit Töp fen, Pfannen und Hackmessern hantiert. »Hier haben wir keine Ruhe zum Speisen«, fiepte der Mäuserich. »Ver suchen wir es in der Vorratskammer.« Eine Küchenhilfe kam in weißer Schürze und mit einer Kiste Möhren aus einer Tür weiter hinten. »Nicht unbedingt mein Geschmack«, sagte Minni, »aber dort muss es sein.« Die Tür war nur angelehnt und sie konnten ohne weiteres eintreten. Sogleich gingen ihnen die Augen über. Ein riesiger Raum, von dessen Decken Schinken, Würste aller Art und dicke Speckseiten herabhingen. Butter und Schmalz wurden in Bottichen aufbewahrt, auf langen Tischen standen Käseglocken. Weinfässer waren gestapelt und in verschiedenen Kisten lag Gemüse. Minni lief nicht nur das Wasser im Mund zusammen, es begann ihr ge radezu von den Lippen zu tropfen. Wie der Blitz lief sie die Wände hin auf zur Decke, verhielt bei einem Schinken, wechselte zu einer Salami über und wählte schließlich eine fette Blutwurst als Mahl aus. »Hier kriegt mich keiner so schnell weg.« Sie hing ihr Netz auf, setzte sich hinein, zog die Wurst heran und begann laut zu schmatzen. »Kannst du mir mal ein Stück Speck herunterwerfen?«, bat der Mäuse rich.
»Speck? Keine Zeit. Na gut, ich werd ihn vorkosten.« Die Spinne holte eine Speckseite heran, schlug sich aber zunächst selbst den Bauch damit voll. Erst auf Larrys nochmaliges Drängen hin riss sie ein Stück ab und warf es hinunter. Speck, Wurst und eine Käserinde, die Larry auf einem Regal entdeckte, schmeckten herrlich. Die beiden fühlten sich im siebenten Himmel, ver gaßen Zeit und Raum. Doch unvermutet begann es in einer der Gemü sekisten zu rumoren und eine Stimme sagte: »Das knabbert und schlabbert,
Das nagt und schleckt,
Doch keiner, der unsere Not entdeckt.«
Larry hob den Kopf. »Was war das? Hat da nicht jemand gesprochen?« »Gesprochen? Nein. Irgendwas ist umgefallen«, lispelte Minni, die sich nicht gern beim Essen stören ließ. Wieder rumorte es in der Kiste; diesmal noch lauter. »Das mampft und schlingt, Das füllt sich den Bauch. Vergisst die Zeit Und die Freunde auch.« »Dort in der Kiste ist jemand versteckt«, flüsterte Larry. »Hörst du es denn nicht? Es ist, als ob er uns meint?« »Ja, ich hör’s«, erwiderte die Spinne, »und es klingt ziemlich unver schämt. Wahrscheinlich eine Ratte. Sie soll bloß das Maul halten, denn Ratten fresse ich besonders gern.« Minni begann erneut zu schmatzen. »Nein, es war von Freunden die Rede«, widersprach Larry. »Die Stim me hat Recht. Wir müssen nach dem Scheuch suchen.« In diesem Moment fiel die Kiste um und mehrere Kohlköpfe rollten über den Boden. Aber weder eine Ratte noch sonst ein Wesen war zu sehen, von dem man einen Laut erwarten konnte. »Da siehst du, dass wir uns alles nur eingebildet haben«, behauptete Minni. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist Hexerei im Spiel. Am besten, wir kehren zum Löwen zurück und beraten uns mit ihm. Vielleicht sind der Scheuch, Betty und die anderen inzwischen im Saal.«
Wie zur Antwort rollte ein Kohlkopf auf Larry zu und blieb vor ihm liegen. Er hatte offenbar große Mühe, einige letzte Worte hervorzubrin gen: »Lauf nicht weg,
Katzenschreck.
Der Scheuch ist hier,
Er steht vor dir.«, flüsterte er und verstummte. Er schien damit alle Kraft aufgebraucht zu haben, die ihm noch verblieben war.
DIE WUNDERBLÜTE Jessica schmiegte sich eng an das Bäumchen, von dem nicht nur ein zar ter Duft, sondern auch eine sanfte Kühle ausging. Die Flammen, die nach wie vor um sie herum loderten, konnten ihr nichts anhaben. Zu gleich war sie aber noch immer von dem erschüttert, was sie jenseits der Feuerwand beobachtet hatte. All ihre Freunde und auch ihr Großvater schienen verhext oder auf andere Art verloren. Sie selbst jedoch war gefangen. Was sollte sie bloß tun? Erstaunlicherweise verdorrte das rosa Bäumchen trotz der Hitze nicht, blühte im Gegenteil noch auf. Ein leichtes Klingen lag in seinen Zweigen und deutlicher als vorher vernahm Jessica seine Stimme: »Hab keine Angst, Jessica. Ich freue mich, dass du meiner Einladung gefolgt und nun bei uns bist. Alles wird gut werden.«
Das Mädchen zuckte zusammen. »Bist du das, Stella? Wo steckst du? Gerade hast du draußen auf dem Hof so schreckliche Dinge getan.« »Hast du noch immer nicht gemerkt, dass im Schloss eine falsche Fee ihr Unwesen treibt? Ich singe doch die ganze Zeit davon. Es ist Mark, ein junger Mann, dem ich zu unser aller Schaden vertraut habe. Er will mich vernichten und hat meine Gestalt angenommen. Zum Glück konn te ich mich in dieses Bäumchen verwandeln.« Obwohl Jessica, genau wie ihre Freunde, in den letzten Stunden schon sehr an der anderen Stella gezweifelt hatte, musste sie diese Nachricht erst verdauen. »Aber das ist ja furchtbar«, rief sie. »Schlimm ist es schon, doch nicht aussichtslos. Zum Glück bist jetzt du bei mir, du kannst uns alle retten.« »I…ich?«, stotterte Jessica. »Was soll ich denn machen? Ich bin klein und schwach und dieser Mark kann zaubern.« »Nicht gut genug«, flüsterte das Bäumchen. »Siehst du die rosa Blüte an meinem Wipfel? Es ist mein Krönchen, das er mir hätte abnehmen müs sen, um mich ganz zu vernichten. Ich beuge mich jetzt zu dir herunter und du brichst sie ab.« In der Tat trug das rosa Bäumchen an seinem obersten Zweig eine rosa Blüte, die sich mehr und mehr zu entfalten schien.
»Warum soll ich denn diese Blüte abbrechen, wenn sie deine Krone ist?«, fragte Jessica. »Vielleicht bist du dann erst recht verloren.« »Nein. Zwar sterbe ich, aber wenn du alles so machst, wie ich es dir sa ge, werde ich wieder auferstehen.« Jessica schwieg und Stella erklärte ihr, was sie zu tun hatte. Außer der rosa Blüte sollte sie einen Zweig des Bäumchens an sich nehmen, der sie unbeschadet durchs Feuer geleiten würde. »Der Zweig wird dir bei allen Schwierigkeiten helfen«, sagte die Fee, »die Blüte aber die weiteren Anweisungen zu unserer Rettung geben.« So sehr Jessica dem Bäumchen vertraute, ganz wohl war ihr nicht, als sie, den Zweig in der Hand und die Blüte an die Brust gedrückt, mitten durch die Flammen ging. Doch sie versengten ihr kein einziges Härchen. Dankbar wandte sich das Mädchen zurück und erschrak erneut. Das Bäumchen verlor zusehends seine Blätter und verdorrte. Jetzt bin ich ganz allein, dachte Jessica. Aber das war sie nicht. Die Blü te flüsterte: »Gut gemacht. Nun berühre mit deinem Zweig den Holzfäller.« Natürlich, der Eiserne Holzfäller! Gelähmt und mit starrem Blick stand er einsam mitten im Hof. Jessica lief zu ihm und berührte ihn mit dem Zweig. Sofort erwachte er aus seiner Erstarrung, schaute verblüfft auf die Pferdedecke, die er in den Händen hielt, und brummte: »Was soll denn das? Hast du mir das nasse Ding gegeben?« »Nicht ich«, erwiderte das Mädchen, »im Gegenteil. Du hast die Leute darum gebeten, weil du mich damit aus den Flammen holen wolltest.« Der Holzfäller schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Richtig! Aber wie ich sehe, hast du dich inzwischen selbst befreit. Was war mit mir los? Was ist mit Eschno und wo sind die anderen?« Jessica erklärte ihm alles, was sie wusste, so gut und schnell sie ver mochte. Der Eisenmann fiel von einem Erstaunen ins nächste, seine Empörung wuchs mit jeder Sekunde. »Also hat sich unser Verdacht voll und ganz bestätigt«, rief er aus. »Es handelt sich gar nicht um Stella, sondern um einen Schwindler, der an der Stelle seines Herzens einen Stein zu tragen scheint. Betty und den Scheuch in Kohlköpfe zu verwandeln! So eine Gemeinheit!«
»Und meinen lieben Opa Goodwin«, fügte Jessica seufzend hinzu. »Wo ist der Tapfere Löwe?«, fragte der Holzfäller. »Wir müssen ihn su chen und diesem Mark die Maske vom Gesicht reißen.« »Vergiss nicht, dass er dich schon einmal gelähmt hat«, sagte Jessica. »Vielleicht solltest du dich lieber verstecken.« »Verstecken, wenn meine Freunde in Gefahr sind? Niemals!« Eine sanfte Stimme meldete sich zu Wort, sie drang aus der rosa Blüte. »Gib ihm ein Blatt von deinem Zweig, es wird ihn schützen.« Jessica gab dem Holzfäller ein Blatt. »Soll er mit mir kommen?«, fragte sie. »Das würde zu sehr auffallen. Er soll in den Krönungssaal gehen und dort ohne Furcht abwarten.« »Und was muss ich tun?« »Du musst die Zauberbücher suchen. Sie lagen in den Geheimkam mern, aber Mark hat sie an sich gebracht. Bestimmt bewahrt er sie in seinen Gemächern auf, die vorher meine waren.« »Was mache ich, wenn ich ihm begegne?«, wollte das Mädchen wissen. »Versuche ihm auszuweichen. Seine Macht ist noch nicht gebrochen«, erwiderte leise Stella. Jessica und der Holzfäller trennten sich. Während der Eisenmann, das rosa Blatt fest in der Hand haltend, geradewegs zum Krönungssaal schritt, lief das Mädchen zu einem Nebeneingang des Schlosses. Doch wo befanden sich die Gemächer der Fee? Jessica war noch nie hier gewe sen und die vielen Türen, Treppen, Gänge verwirrten sie. »Zum ersten Stockwerk«, flüsterte die Stimme, »durch den Spiegelsaal und den Gelben Salon.« Jessica folgte den Anweisungen, ließ sich weder durch die prachtvollen Gemälde und Wandteppiche noch durch die kostbar geschnitzten Möbel oder die herrlichen Kronleuchter ablenken. Sie verweilte nur kurz im Spiegelsaal, wo ihr von allen Seiten ein kleines Mädchen in Jeans und TShirt entgegenblickte, das in der einen Hand einen Zweig, in der anderen eine rosa Blüte trug. Als Jessica den Gelben Salon durcheilt hatte, sagte die Stimme:
»Nun muss ich dich verlassen. Mark hat einen Sperrkreis um meine Gemächer gezogen, den ich erst sprengen kann, wenn ich meine volle Kraft zurückerhalte. Such jetzt die Bücher. Wenn du sie gefunden hast, wähle das wichtigste aus, du erkennst es an einem weißen Stern auf dem Einband. Schlage die Seite 11 auf, dort steht ein Spruch, den du laut le sen musst. Dann lege die Blüte genau an dieser Stelle ab und schließe das Buch wieder. Danach kannst du beruhigt in den Krönungssaal gehen.« »Oje«, stöhnte Jessica, »hoffentlich merk ich mir das alles und schaffe es auch.« Sie schaute auf die rosa Blüte, deren Kelch sich für einen Au genblick öffnete. Das schöne Gesicht Stellas blickte sie an und die Fee murmelte: »Du wirst es schon schaffen.« Dann verstummte sie und der Kelch schloss sich. Drei Türen lagen vor Jessica. Sie drückte vorsichtig die Klinken herun ter. Die Zimmer waren verschlossen, doch hinter der zweiten Tür wurde ein Stuhl gerückt und jemand fragte: »Wer ist da?« Jessica sprang zurück und verbarg sich in einer Nische. Sie machte sich so klein wie möglich. Die Tür wurde geöffnet und die falsche Stella schaute heraus.
»Was denn, keiner da? Ich hätte geschworen, jemanden gehört zu ha ben«, sagte sie. Ein Diener in Goldlivree kam den Gang entlang. »Die Ratgeber bitten dich zu kommen, Herrin. Der Saal ist bis auf we nige Plätze gefüllt und alles Nötige vorbereitet. Der Oberste Berater, der die Krönung vornehmen wird, wartet schon.« »Gut«, antwortete Mark, »ich bin so weit.« »Und noch eine gute Nachricht. Das gefährliche rosa Bäumchen ist verdorrt.« Marks Gesicht strahlte vor Freude. »Großartig«, rief er, »meine Kunst hat den bösen Zauber besiegt. Nun wird niemand mehr unsere Feier stören.« »Ja, Herrin«, stimmte der Diener eilfertig zu. Der falschen Fee fiel noch etwas ein: »Was ist mit dem Mädchen, das im Feuer gefangen war?« »Das Feuer ist erloschen«, erwiderte der Diener, »das Mädchen offen bar weggelaufen.« Mark schien nicht ganz zufrieden, schwieg aber. Er schloss die Tür hinter sich ab und folgte dem Diener. Jessica atmete auf, das war knapp gewesen. Sie kam aus ihrem Versteck und trat an das Zimmer heran, das Mark soeben verlassen hatte. Wie sollte sie es öffnen? Vielleicht hilft mir der Zauberzweig, dachte das Mädchen. Sie nahm ihn und berührte damit das Türschloss. Es knackte, doch der Riegel sprang nicht zurück. Stattdessen verdorrte ein Teil der Blätter. »Du darfst nicht absterben, ich brauch dich bestimmt noch«, flüsterte Jessica, berührte das Schloss aber trotzdem ein zweites Mal. Diesmal knackte es lauter, die Tür freilich blieb zu und der Zweig ver lor fast alle Blätter. »Es hilft nichts, ich kann nicht mittendrin aufgeben«, murmelte Jessica und steckte den Rest des Zweiges in das Schloss. Mit einem Knall sprang die Tür auf. Die letzten Blätter zerfielen zu Staub, aber das Mädchen achtete nicht mehr darauf. Es stand schon mitten im Raum.
EINE MISSLUNGENE KRÖNUNG
Larry Katzenschreck war völlig verblüfft, er konnte es einfach nicht fas sen. »Das da will mein Freund, der Weise Scheuch, sein?«, sagte er. »Das ist unmöglich.« Minni, an einem Stück Wurst nagend, ließ sich an ihrem Seil herab und betrachtete den Kohlkopf misstrauisch von allen Seiten. »Sehr sonderbar. Selbst wenn man weiß, dass es schon im Spinnental einen Zauberer gab, der Möhren in wohlschmeckende Erdhörnchen verwandeln konnte und umgekehrt.« »Liefere uns einen Beweis, dass du der Scheuch bist«, verlangte der Mäuserich von dem Weißkohl. Statt einer Antwort rollte eine zweite große Knolle heran und krächzte: »Goodwin bin ich, Gemüse geworden. Bin fast am Ende, Die Fee will mich morden.« Nun war Larry echt erschrocken und auch die wahrlich hartgesottene Spinne schien erschüttert. Zumal sich ein dritter Kohlkopf aus der Men ge löste: »Mich, Betty, hat sie Gleichfalls verwandelt. Fast wär’n wir schon In der Suppe gelandet.« »In der Suppe?« Larry war außer sich. »Unsere lustige Prinzessin Strub belhaar? Hast du das gehört, Minni?« »Ich bin nicht taub«, lispelte die Spinne. »Aber als wir uns trennten, waren noch Jessica und der Holzfäller bei den dreien. Ob die falsche Fee sie ebenfalls zu Kohl gemacht hat?« Larry kam ein grusliger Gedanke. »Hoffentlich nicht zu Blutwürsten oder Speckseiten«, murmelte er. »Red keinen Unsinn.« Minni hörte auf zu kauen.
Sie warteten auf ein weiteres Wort oder Zeichen, doch kein Kohlkopf kam mehr herangerollt. Und wenn alles nur ein Trick der falschen Fee war? »Nein«, sagte Larry, »das kann nicht sein. Ich glaube jetzt wirklich, dass es sich um unsere Freunde handelt. Warum sollte diese Hexe sich einen Trick ausgedacht haben? Sie konnte doch nicht wissen, dass wir ausge rechnet hierher in die Speisekammer kommen.« Sie überlegten, was zu tun sei, denn gegen Zauberei waren sie macht los. »Vor allem müssen wir sicherstellen, dass diesen drei Kohlköpfen nicht noch mehr zustößt«, fiepte Larry schließlich. »Und wenn der Koch mit dem Messer auftaucht? Was sollen wir dann tun?«, fragte Minni. »Wir müssen die drei solange verstecken, bis ihnen jemand hilft.« »Aber wo? Hier sind sie in jeder Kiste gefährdet und falls sie am Boden liegen bleiben, erst recht.« Larry dachte nach. »Am wenigsten riskieren sie in deinem Netz. Du ziehst dich damit in den äußersten Winkel zurück und hängst es an die Decke. Dort findet es niemand so schnell. Ich laufe inzwischen zum Löwen.« Minni war einverstanden und sie verfuhren entsprechend. Die Spinne suchte sich mit den Kohlköpfen die dunkelste Ecke der Vorratskammer aus und der Mäuserich flitzte an der Küche vorbei zur Galerie des Krö nungssaals zurück. Dort erlebte er freilich eine neue Überraschung: Der Löwe war nicht mehr am alten Ort. Larry musste seine Äuglein eine gan
ze Weile hin und her huschen lassen, bis er ihn entdeckte. Er saß im Saal unter den Gästen genau der Bühne gegenüber, auf welcher der Thron stand. Neben ihm hatte der Eiserne Holzfäller Platz genommen und beide schienen sie mutig der Gefahr trotzen zu wollen, die von der fal schen Fee aus ging. Denn soeben betrat Mark in einem kostbaren Um hang den Raum und obwohl ihn prasselnder Beifall in Hochstimmung versetzte, merkte er sofort, dass etwas schief lief. Wie hatten es der Löwe und der Holzfäller geschafft, in den Saal zu gelangen? Ich knöpfe mir die beiden nach der Veranstaltung vor, sagte er sich und nahm auf dem Thron Platz. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich sein Gesicht vor Ärger ganz grau färbte. Der Oberste Ratgeber trat vor die Menge und hielt eine kurze Rede. Er verwies auf die Geschichte der Hauptstadt, betonte nochmals den feierli chen Anlass der Veranstaltung und schilderte Stellas Verdienste um das Rosa Land. »Sie hat es zu dem gemacht, was es heute ist«, sagte er, »ein friedliches und wohlhabendes Reich, aus dem das Unrecht verbannt wurde. Aus diesem Grund ist längst überfällig, dass wir unsere Herrin endlich zur Königin krönen.« Er winkte einen Diener herbei, damit der ihm auf ei nem goldenen Tablett die Krone reichte, die Mark hatte fertigen lassen. Unter dem erneut aufbrausenden Applaus der Gäste wollte er sie der falschen Fee aufs Haupt setzen. In diesem Augenblick rief eine laute blecherne Stimme: »Halt! Diese Krönung darf nicht stattfinden!« Es war der Eiserne Holz fäller. Er war aufgesprungen, um seiner Empörung Ausdruck zu verlei hen. Der Oberste Ratgeber zuckte zusammen. Fast wäre ihm die Krone aus der Hand gefallen. Mark aber schrie wütend: »Wer wagt es, unsere Zeremonie zu stören? Wer besitzt die Unver schämtheit…« »Ich bin es, der Holzfäller«, unterbrach ihn der Eisenmann mit fester Stimme, »Herrscher im Land der Zwinkerer und ein alter Freund Stellas. Du aber bist nicht Stella. Du hast sie verhext und bist in ihre Haut ge schlüpft!«
Diese Anschuldigung war so ungeheuerlich, dass ein tiefes Schweigen eintrat. Viele der Gäste kannten den Holzfäller als eine angesehene Per sönlichkeit, die noch nie gelogen hatte und in der Öffentlichkeit nichts Unbedachtes von sich gab. Einige hatten in letzter Zeit auch Verände rungen an der Fee bemerkt. Dennoch war es schwer, die Anschuldigung für wahr zu halten. Mark brach das Schweigen durch ein schrilles Gelächter. »Unser guter alter Holzfäller«, rief er höhnisch, »sein Gehirn ist einge rostet! In der Tat, er muss verrückt geworden sein, wenn er solche Be schuldigungen ausspricht. Ja, er hat sein Hirn lange nicht mehr geölt und das bringt sein Denken durcheinander. Lassen wir uns durch diesen ar men Kranken nicht stören und fahren wir mit der Zeremonie fort.« »Niemals!« Ein Brüllen erscholl und hallte in vielfachem Echo durch den Saal. »Seid ihr denn alle blind und taub? Seht ihr nicht, wie hässlich und machtgierig diese so genannte Fee ist, wie egoistisch und ruhmsüch tig? Ich, der Tapfere Löwe, Herrscher im Tierreich, versichere euch, dass Stella sich niemals zur Königin krönen lassen würde, sie hätte das gar nicht nötig. Ich bin Gast wie ihr, aber ich verdächtige die Kreatur auf dem Thron, ein Verräter zu sein. Eine Hexe oder ein böser Zauberer. Sie hat die echte Stella verbannt, ihrem Hengst Eschno das Gedächtnis ge nommen, den Holzfäller für einige Zeit gelähmt und meine Freunde verwandelt. Mich wollte sie gleichfalls vernichten, doch ihre Pläne wer den nicht gelingen.« Obwohl der Löwe noch nicht alle Zusammenhänge kannte und für den Moment keine Beweise vorlegen konnte, zeigten seine Worte Wir kung. Als König der Tiere wurde er überall im Zauberland respektiert. Mark war bleich vor Wut. Er entriss seinem Ratgeber die Krone, setzte sie sich aufs Haupt und schrie: »Ich bin trotz allem die Königin, ich habe es mir schwer erkämpft! Ihr beiden aber werdet gleich meine Macht zu spüren bekommen.« Und seinen Zauberstab gegen die Freunde zückend, fügte er hinzu: »Hox, tox, kalibru, Totengebein, Nacht und Vergessen, Staub sollt ihr sein!«
Doch so schrecklich der Fluch auch klang – nichts geschah. Der Löwe hatte die Pranke auf die Schulter des Holzfällers gelegt und so waren beide durch das Blatt des rosa Bäumchens geschützt. »Kalibru, terti«, heulte Mark, »ihr Geister im Rund, werft diese zwei in den Höllenschlund!« Er ging einen Schritt auf seine Feinde zu, wurde aber von einer unsichtbaren Kraft zurückgestoßen. Die schwere Krone polterte zu Boden. Der Löwe konnte sich nicht länger beherrschen. Obwohl der Holzfäl ler ihm erklärt hatte, dass sie dem Zauber nur mit Hilfe des Blattes wi derstehen würden, sprang er aus dem Stand auf die falsche Fee los. »Dir werd ich zeigen, wer hier in den Höllenschlund geworfen wird«, brüllte er. Es hätte ihn das Leben kosten können, doch Mark kam nicht mehr zu einem neuen Hexenspruch. Nur den schweren Thronsessel konnte er noch packen und ihn dem Löwen entgegenschleudern. Dabei traf er das Tier an seiner empfindlichsten Stelle, der Nase. Es sah die Sterne tanzen und war für Augenblicke ganz benommen. Mark aber, völlig verunsi chert, weil seine Sprüche nicht gewirkt hatten, wandte sich zur Flucht. Er rannte aus dem Saal, schlug die Tür hinter sich zu und hatte nur eins im Sinn – zurück zu seinen Zauberbüchern zu gelangen, aus denen er neue Kraft zu schöpfen hoffte.
DIE ZAUBERBÜCHER Jessica ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen. Wo waren die Bü cher, vor allem das mit dem weißen Stern auf dem Einband? Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere, Schmuck glitzerte in einer Schale. Sie zog ein paar Schrankschubladen heraus – Wäsche, irgendwelcher Krims krams, sonst nichts. Dieser Mark wird sie nebenan aufbewahren, dachte das Mädchen und lief zu einer Verbindungstür. Sie ließ sich ohne Pro bleme öffnen, aber auch hier war das Gesuchte nicht zu entdecken. Er ist im Krönungssaal, ich habe genügend Zeit, sagte sich Jessica. Dennoch war sie aufgeregt, konnte sich einfach nicht zur Ruhe zwingen. Die rosa Blüte fiel ihr aus der Hand und sie wäre beinahe draufgetreten.
»Entschuldige, Stella«, flüsterte sie, als sie die Blüte wieder aufgehoben hatte, »bitte entschuldige.« Die dritte Tür war verschlossen und das nahm sie für ein gutes Zei chen. Aber der rosa Zweig existierte nicht mehr und die Blüte schien keine Macht über das Schloss zu besitzen. Wenn Mark den Schlüssel bei sich trug, war alles umsonst gewesen. »Hätte ich bloß den Holzfäller mit seiner Axt hier«, murmelte Jessica und begann zu suchen. Sie fand den Schlüssel weder im Schreibtisch noch in einem der Schränke, die sie hastig durchwühlte. Als wäre ich ein Einbrecher, fügte sie bei sich hinzu und überlegte, wo sie zu Hause so etwas verstecken würde. In einer Blumenvase, in der Standuhr? Nein, dieser Mark war schlauer. Verschiedene Blumentöpfe standen auf den Fensterbrettern und Jessi ca stocherte mit einem Brieföffner in deren Erde herum. Es brachte nichts, aber als sie die Töpfe anhob, war einer unten ausgehöhlt. In der Höhlung lag der Schlüssel. Das Mädchen atmete auf. Die Tür war im Nu geöffnet und die Bücher diesmal schnell gefunden; sie standen seitlich in einem Regal. Jessica nahm das mit dem weißen Stern heraus und setzte sich damit an den Tisch. Sogleich erschrak sie jedoch von neuem. Sie hatte die Seite verges sen, die sie aufschlagen sollte. Zehn, dachte sie, nein fünfzehn, nein neun und klappte das Buch zögernd auf. Sie legte die rosa Blüte hin und be gann laut zu lesen: »Fankiri, kreizilum deri.« Es war schwer, diese Worte, die mit Hand ge schrieben waren, zu entziffern. »Nessalkum, erwache, Schwarzer, zum Leben!« »Erwache, Schwarzer, zum Leben?« Jessica war sich nicht sicher, ob sie die richtige Seite gewählt hatte. Dennoch legte sie die rosa Blüte in das Buch und klappte es vorsichtig zu. Ein gewaltiges Rumoren ertönte, ein Sausen und Brausen erhob sich im Zimmer und urplötzlich wuchs aus dem Nichts ein großer schwarzer Stier. Er stampfte mit den Füßen, schnaubte wild, rollte mit blutunterlaufenen Augen und starrte sie an. »Um Himmels willen, nein«, rief Jessica, »was hab ich da gemacht! Geh wieder weg, ich brauche dich nicht!«
Doch der Stier stand da und dachte gar nicht daran zu verschwinden. Jessica nahm die rosa Blüte aus dem Buch, drückte sie an die Brust und flüsterte: »Hilf mir, Stella, bitte, bitte hilf mir.« Es verging eine gewisse Zeit, ehe etwas passierte, dann jedoch begann sich der Stier ganz langsam zu verflüchtigen. Er wurde durchscheinend und löste sich schließlich in Luft auf. Ein Mühlstein fiel Jessica vom Herzen, sie streichelte dankbar die Blü te, die freilich einen Schein blasser geworden war. Ich tu ihr weh, dachte das Mädchen, beim nächsten Mal muss ich es richtig machen. Sie schlug die Seite 13 auf. Sieben und dreizehn sind die wichtigsten Zauberzahlen, überlegte sie, aber die sieben war es nicht, das weiß ich genau. Auf dieser Seite waren allerhand undeutliche Zeichen gemalt und die Worte dazwischen lauteten: »Horipax albi, schwindendes Licht, Glas oder Wasser, verflossnes Gesicht.« Jessica wusste nicht viel damit anzu fangen, legte aber die Blüte an die entsprechende Stelle und las das vor, was sie entziffern konnte. Sie schloss das Buch, doch nichts ereignete sich. Die Fee hat gesagt, dass ich einfach in den Krönungssaal gehen soll, wenn alles geschafft ist, überlegte Jessica und wollte schon aufbrechen.
Dann jedoch fiel ihr Blick auf den Spiegel. Sie konnte sich nicht mehr darin sehen. »Ich bin unsichtbar geworden«, murmelte das Mädchen fast ehrfürchtig und überprüfte das Ergebnis anhand eines zweiten Spiegels. »Ob es das ist, was die Fee wollte? Vielleicht sollte ich noch ein Weilchen abwarten, um zu erfahren, was vor sich geht.« Sie setzte sich wieder an den Tisch, stützte den Kopf auf die Hände und harrte aus. Zunächst passierte nichts, doch mit einem Mal klappte das Buch auf dem Tisch von selbst wieder auf und die Blüte rutschte heraus. Aufge schlagen aber war die Seite 11! »Elf«, rief Jessica, »natürlich, die Seite elf! Wie dumm ich war, das zu vergessen. Danke, Stella, ich verwechsle dauernd was.« Sie nahm noch mals die Blüte in die Hand, die fast alle Farbe verloren hatte, und studier te die neue Formel. Etwas stotternd, mit dem Finger jedem Wort fol gend, damit nichts verloren ging, begann sie laut und fast andächtig: »Sens marilosa – dies ist der Spruch der Sprüche. Marilosa sens – bring zurück aus den dunkelsten Tiefen, wo der Geist regiert, der das Unheil gebiert, die Gestalt, die einzig mir gehört.« Sie hatte gerade die letzte Silbe buchstabiert, als die Tür aufflog und Mark in ihrem Rahmen stand. Verblüfft starrte er auf das Mädchen. Sein Gesicht verzerrte sich und ein Wutschrei entrang sich seiner Kehle. Jessica hatte nicht mit seinem Erscheinen gerechnet, dennoch handelte sie entschlossen. Sie legte die Blüte schnell ins Buch und klappte es zu. Dann sagte sie: »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, ich habe mich in dem gro ßen Schloss verlaufen.« »Wie bist du in das Zimmer gelangt?« »Es war offen«, schwindelte Jessica mit unschuldiger Miene. »Offen? Niemals! Was fällt dir ein, in diesen geheimen Büchern zu schnüffeln. Ich werde dich…« Er stürzte sich auf sie, ohne seinen Satz zu beenden. Doch Marks Zeit als falsche Fee war abgelaufen. Ein Sirren und Wis pern ertönte, ein Wind erhob sich im Raum, der zum gleichen Sturm anschwoll wie damals, als der Sekretär Stellas Gestalt angenommen hatte.
Er wurde von unsichtbaren Fäusten gepackt, geschüttelt, durch die Luft gewirbelt und schließlich zu Boden geworfen. Mit Staunen sah Jessica, wie sich sein Körper verformte, knochiger und männlicher wurde, wie sich sein Gesicht veränderte, die Nase breiter, das Kinn eckiger, die ein zelnen Züge gröber gerieten. Der Mann, der plötzlich dalag, bäumte sich auf, er schrie und strampelte mit aller Macht. Bis die Geräusche im Zimmer verstummten und er sich am Ende ohnmächtig hinstreckte. Am Tisch aber stand, mit ihrem Krönchen auf dem Kopf und etwas bleich, Stella. Es war die echte, das Mädchen sah es nicht nur an ihrer feineren, zierlichen Figur, sondern auch an ihrem gütigen Blick. Jessica sprang auf und warf sich ihr in die Arme. Sie brachte keinen Ton heraus. »Ist ja gut«, flüsterte die Fee und strich ihr übers Haar. »Mit deiner mu tigen Hilfe haben wir es geschafft.« »Ich hatte die Hälfte vergessen und hab so viel falsch gemacht.« »Dafür hattest du ja mich«, erwiderte Stella. »Du hast nicht aufgegeben und das ist die Hauptsache.« Es gab noch eine Menge zu tun. Schon stürmte der Löwe heran, der Eiserne Holzfäller folgte, der Oberste Ratgeber eilte herbei, Bedienstete kamen und sogar Larry Katzenschreck fand sich ein, der die Szene im Saal von der Galerie aus beobachtet hatte. Jessica musste wieder und wieder erklären, was geschehen war, während die Fee lächelnd dabei stand, den Bericht bestätigte oder manchmal ein bisschen korrigierte. »Was soll mit diesem verräterischen Sekretär geschehen?«, fragte der Oberste Ratgeber. Er machte sich große Vorwürfe, dass er die falsche Fee so lange für die richtige gehalten hatte. »Führt ihn hinaus aufs Feld, er kann uns nicht mehr schaden und dort er wartet ihn noch eine unangenehme Überraschung«, gab Stella zur Antwort. »Wir dürfen Eschno nicht vergessen«, mahnte der Löwe, »er ist noch immer eingesperrt.« »Mein treuer Hengst«, sagte die Fee, »ich werde ihn sofort befreien und ihm sein Gedächtnis zurückgeben.« »Dieser Bandit hat den Scheuch und Betty Strubbelhaar verhext«, krächzte der Holzfäller, »sie sind zu Kohlköpfen geworden und vielleicht noch immer in Gefahr, als Gemüse serviert zu werden.«
»Genau wie Großvater Goodwin!« Jessica brach in Tränen aus. Larry wollte etwas erklären, aber der Tumult war so groß, dass man seine leise Stimme nicht hörte. »Ich kümmere mich darum«, versprach die Fee. Sie nahm den Zauber stab, der Mark aus der Hand gefallen war, und murmelte ein paar Worte. »Nun wird alles Verwunschene wieder zu sich finden«, versicherte sie.
DAS ENDE EINES ALPTRAUMS Minni war in ihrer Ecke eingedöst. Larry kam nicht zurück und sie hatte vergeblich versucht, den Kohlköpfen einige Fragen zu stellen. Sie zwei felte schon daran, sie wirklich sprechen gehört zu haben. Sie hockte da und träumte, aber nicht, wie sonst üblich, vom Schaukeln im Wind und von Leckerbissen, sondern von einem schweren Gewicht, das an ihrem Bein hing. Zugleich war ein Zappeln und Gedränge um sie her. »Was geht denn jetzt los?«, beschwerte sich die Spinne und erwachte. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was passiert war. Ne ben ihr strampelten eine Vogelscheuche, eine Puppe mit schwarzem Haar und ein kleiner dicker Mann herum. Er vor allem zog das Netz nach unten. »Also wart ihr es doch«, zischelte Minni. »Wo sind wir, um Himmels willen? Was ist geschehen? Wer sollen wir gewesen sein?«, fragten die drei Gestalten, die nichts zu begreifen schie nen. »Ihr seid in meinem Netz«, erklärte die Spinne ungewohnt sachlich, »hier wart ihr am sichersten. Offenbar habt ihr euch zurückverwandelt, denn ihr wart drei Kohlköpfe.« »Kohlköpfe, wir?« Der Scheuch mochte so etwas Erniedrigendes nicht glauben. »Ihr müsst euch doch daran erinnern. Ihr lagt unten bei dem übrigen Gemüse und habt mit uns gesprochen«, sagte Minni. Betty schien sich als erste zu entsinnen. »An der Sache ist was dran. Ein Koch war mit einem Messer hinter mir her. Ich habe ihm erklärt, dass ich nichts zu essen bin.«
»Ich gleichfalls«, fügte Goodwin hinzu. »Es roch nach Braten und ich hab dem Koch die Meinung gegeigt. Aber jetzt will ich runter. Hier oben wird mir schwindlig.« Nach und nach wurde nun auch dem Scheuch bewusst, welchem Alp traum sie ausgesetzt gewesen waren. Die Erinnerung an das Geschehene kehrte zurück, zumal Minni mit dem aushalf, was sie erlebt hatte. »Lass uns runter«, rief Goodwin erneut, »ich muss zu Jessica!« »Wir müssen dem Löwen helfen und dem Holzfäller«, fügte Betty hin zu. »Wir dürfen nicht aufgeben, bevor die falsche Fee entlarvt ist«, unter strich der Scheuch. Die Spinne ließ sie an ihrem Strick hinab und folgte ihnen. Sie fragte sich vor allem, wo Larry blieb. Sie eilten den Gang zum Krönungssaal entlang und trafen einige sehr aufgeregte Gäste. »Wir sollen uns im Hof versammeln, der Oberste Ratgeber will zu uns sprechen, etwas Unerhörtes muss sich zugetragen haben«, riefen die Leute. Gleich darauf stießen sie auf den Löwen, den Holzfäller und Jessica, die ihnen die letzten Ereignisse schilderten. Die Freunde lagen sich in den Armen und beglückwünschten einander. Nur Larry und Minni ver
drückten sich, verfolgten die Dinge von sicherer Position aus. Der Mäu serich in einer Mauerritze, die Spinne auf einem Baum. Auf ihrem silbergrauen Hengst ritt Stella auf den Hof. Die beiden hiel ten sich zunächst im Hintergrund, während der Ratgeber dem verblüff ten und entsetzten Publikum die Vorgänge schilderte. Dann sprach die Fee selbst. Sie sagte, dass sie untröstlich sei, sich so habe täuschen zu lassen. Durch Jessicas Tapferkeit jedoch sei die Gefahr gebannt worden. Es gab einen Riesenbeifall und das Mädchen wurde bis über die Ohren rot. »Jetzt aber wollen wir weiterfeiern«, schloss Stella, »nur die Krönung entfällt. Ich muss mich nicht Königin nennen lassen, um zu regieren.« Auch das fand die ungeteilte Zustimmung. Viele Gäste, Diener und insbesondere die Ratgeber fragten sich, warum sie nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen waren, als noch die falsche Fee geherrscht hatte. Die Menge stand beisammen und diskutierte, Stella jedoch hob Jessica zu sich aufs Pferd. »Wir zwei wollen uns noch etwas anschaun. Zur Erheiterung gewis sermaßen. Eschno wird gleichfalls seine Freude daran haben.« »Was denn?«, fragte Jessica gespannt. »Das wirst du gleich sehen.«
Sie ritten los. Auf der Wiese, auf der Eschno früher so gern geweidet hatte, hielten sie an. Am Waldrand standen zwei Männer. Sie sahen abgelumpt aus und stritten miteinander. »Der eine ist Mark«, stellte Jessica fest, »ich werde nie vergessen, wie sich vor meinen Augen seine Gestalt veränderte. Aber wer ist der ande re?« »Den anderen kenne ich«, wieherte Eschno. »Es muss ein Kumpan von Mark sein. Er hat mich mit Zuckerblumen angelockt, einem Futter, dem ich leider nicht widerstehen konnte. Dann wurde mir schlecht und wahr scheinlich haben die beiden mich verhext.« »Mark allein hatte sich die Zauberformeln angeeignet«, sagte die Fee, »der andere hat ihm nur geholfen, dich zu betäuben. Dann hat der Kum pan seinen Lohn gefordert und wurde von meinem Sekretär in einen Baumstumpf verwandelt. Ich hab das – als ich noch ein rosa Bäumchen war – von einem Kaninchen erfahren, dem er einen Rüssel angehext hatte.« Die Männer stritten nicht mehr, sie prügelten sich. Mark war offen sichtlich der Schwächere, er musste harte Schläge einstecken. Schließlich lief er davon. Sein Kumpan rannte mit einem Knüppel hinter ihm her. Das Kaninchen, von dem soeben die Rede gewesen war, kam über die Wiese gehoppelt. Es war nicht mehr verunstaltet, hatte den grässlichen Rüssel endlich los. Es freute sich sehr, Eschno und die Fee wohlbehalten zu sehen. »Du hast diesen Mark als Erster durchschaut, Kim«, schnaubte Eschno. »Warum hab ich deinen Verdacht bloß nicht Stella mitgeteilt? Wir hätten uns die ganze Not ersparen können.« »Du glaubtest leider, noch abwarten zu müssen«, erwiderte das Kanin chen. »Du hast ja Recht, aber ich wollte erst weitere Beweise sammeln«, er klärte der Hengst. Jessica, die längst vom Pferd gesprungen war, kniete sich hin, um Kim zu streicheln.
»Jedenfalls haben wir alle noch mal Glück gehabt und sind mit einem blauen Auge davongekommen, wie mein Großvater sagen würde. Du zum Beispiel bist wieder ganz normal und so schön kuschelig, dass ich dich am liebsten mit nach Hause nehmen würde.« »Ich fasse es als Kompliment auf«, mümmelte Kim, »doch das lassen wir besser. Jetzt, wo ich gesund geworden bin, kriegt mich sowieso kei ner von hier weg. Besuch lieber du mich, wenn du das nächste Mal im Zauberland bist.« »Das tu ich ganz bestimmt, aber zunächst bleib ich ja noch ein biss chen«, gab Jessica zur Antwort. Sie fügte hinzu: »Falls Stella mich haben will.« »Das möchte sein.« Die Fee lächelte. »Du kannst bleiben, solange du Zeit hast. Auch deine Freunde sind herzlich eingeladen. Ab heute wohnt ihr im Schloss, dort ist genügend Platz. Und wenn du mit deinem Groß vater ins Menschenland zurückkehrst, werde ich persönlich dafür sorgen, dass ihr ein Geleit bis zu den Weltumspannenden Bergen bekommt.« Eschno gab sein Einverständnis durch lautes Wiehern kund. Wenn Jes sica wollte, würde er gern selbst zur Begleitung gehören und sie auf sei nem Rücken bis zur Grenze des Zauberlandes tragen.
Inhalt Buch: .......................................................................................................... 2
Erster Teil – Der Mann am Baum 6
EIN HILFERUF .......................................................................................... 7
MARK ENTPUPPT SICH ....................................................................... 11
ESCHNOS VERSCHWINDEN ............................................................. 16
UNERWARTETE SCHWIERIGKEITEN .......................................... 22
EIN LÖFFEL KOMPOTT...................................................................... 29
EINE NEUE FEE..................................................................................... 34
DAS ROSA BÄUMCHEN ....................................................................... 40
Zweiter Teil – Ein Fest mit Hindernissen 44
EIN BRIEF MIT ROSA SCHRIFT ........................................................ 45
EIN EIGENARTIGER EMPFANG ..................................................... 52
WAS DEM LÖWEN WIDERFUHR..................................................... 58
DER SANDMOLCH ................................................................................ 64
ESCHNO ERWACHT.............................................................................. 71
DIE BEGEGNUNG MIT KIM.............................................................. 79
ALTE BEKANNTE.................................................................................. 86
DER FESTUMZUG.................................................................................. 93
FREUNDE LÄSST MAN NICHT IM STICH..................................... 98
DER HINTERHALT.............................................................................. 107
HILFE IN DER NOT............................................................................. 115
Dritter Teil – Das wandernde Bäumchen 121
VERWIRRENDE EREIGNISSE ......................................................... 122
ZUM GLÜCK GIBT ES MINNI.......................................................... 125
DIE SPRECHENDEN KOHLKÖPFE .............................................. 132
TUMULT IN DER SPEISEKAMMER ............................................... 139
DIE WUNDERBLÜTE.......................................................................... 148
EINE MISSLUNGENE KRÖNUNG................................................. 155
DIE ZAUBERBÜCHER ........................................................................ 160
DAS ENDE EINES ALPTRAUMS ..................................................... 166
Inhalt ...................................................................................................... 171