Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 563 Die Landschaft im Nichts
Die Feuermenschen von Horst Hoffmann Entdeckung im Inne...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 563 Die Landschaft im Nichts
Die Feuermenschen von Horst Hoffmann Entdeckung im Innern einer Sonne Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den August des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord stattgefunden. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. So geschieht es auch auf dem weiteren Weg zur Kugelgalaxis Ploohnei, als die SOL in ein Miniuniversum verschlagen wird, das die »Landschaft im Nichts« enthält. Während die SOL einen Kampf um Sein oder Nichtsein zu bestehen hat, widmet sich Atlan weiter den Rätseln der Landschaft im Nichts
und stößt dabei auf DIE FEUERMENSCHEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide auf der Landschaft im Nichts. Sanny, Hage Nockemann und Vorlan Brick - Atlans Begleiter. Doc Wright - Anführer der Feuermenschen. Tompall B. Hickock - Ein Revolverheld. Breckcrown Hayes - Der High Sideryt gibt den Befehl zum Kampf gegen die Geister-SOL. Brooklyn - Sie macht eine Entdeckung im Innern einer Sonne.
1. Der Spieler sah auf, als der Revolvermann durch die Flügeltür des Saloons kam, kurz stehenblieb, um sich umzuschauen, und dann an die lange Theke trat. »Whiskey!« brach die dunkle, rauhe Stimme das urplötzlich eingetretene Schweigen. Der Pianist hatte die Finger von den Tasten genommen und hinter dem Klavier vorsorglich Deckung gesucht. Dolly, die die Gäste eben noch trällernd in Stimmung gebracht hatte, verschwand hinter dem Bühnenvorhang. Der Barkeeper schob dem Killer ein Glas zu. »Wenn Tompall B. Hickock Whiskey sagt, meint er eine Flasche!« fuhr der ihn an. Blitzschnell zog er den Colt und drückte dem Kleineren die Mündung unter die Nase. »Wo sind die Kerle?« »nn … noch nicht da, Tompall!« zeterte der Verängstigte. »Noch nicht da? Wer, zum Teufel, glauben sie zu sein, daß sie Tompall B. Hickock warten lassen!« »Der dort wartet auch auf sie!« sagte der Barkeeper schnell. Er deutete zum Spieler hinüber. »Frag ihn.« Tompall nahm die Flasche mit und zog sich mit dem Stiefel einen Stuhl heran. Außer dem Spieler saß niemand am Tisch. Der Revolvermann knallte die Flasche auf die runde Platte, drehte sich halb zum Pianisten um und gab einen Schuß aufs Klavier ab. »Weiterspielen!«
Erst als die verstimmten Tasten eine Melodie klimperten, drehte Tompall sich zum Spieler um. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er legte den Colt vor sich auf den Tisch, nahm einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel den herabgelaufenen Whiskey aus dem Dreitagebart. »Du wartest auf sie?« Der Spieler nickte lächelnd. »Wie lange schon?« Der Spieler zuckte mit den Schultern. »Woher wissen wir eigentlich, daß sie kommen werden?« Der Spieler runzelte die Stirn. »Du redest nicht viel, eh? Es gab drei Kerle in Tombstone, die redeten noch viel weniger, als ich sie umgelegt hatte. Wie viele werden es sein?« Der Spieler zeigte vier Finger. »Vier Kerben in meinem Colt«, grinste Tompall. »Ich habe Zeit. Sie werden doch kommen, oder?« »Deshalb«, sagte der Spieler ruhig, »sind wir ja alle hier.«
* Atlan und Vorlan Brick lagen flach in einer kleinen Mulde zwischen zwei hochaufragenden Felsnadeln. Hinter sich wußten sie das Massiv mit der Höhle, in der der Shift versteckt war und Sanny und Nockemann warteten. Auf einem Plateau etwa dreißig Meter unterhalb der Mulde stand ein Fahrzeug der Metallmenschen aus der Nebelzone. Mehrere im Licht der Abendsonne dunkelrot schimmernde Gestalten schwärmten aus. Sie waren bewaffnet und schienen ihr Ziel ganz genau zu kennen. »Sie wissen, wo der Shift ist«, flüsterte Brick. Der Pilot hatte seinen Kombistrahler in beide Hände genommen und zielte auf den Gleiter. »Wahrscheinlich haben sie ihre Artgenossen noch nicht verständigt. Wir können nicht zusehen, wie sie zur Höhle marschieren, Atlan. Schaffen wir sie uns vom Hals.«
»Irgendwie«, entgegnete der Arkonide, »leben sie.« »Irgendwie, ja«, versetzte Brick. »Bis sie nicht so funktionieren, wie sie es sollen, und einfach ausgelöscht werden wie die Nockemann-Kopie.« Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, löste der Solaner den Strahler aus. Die grelle Energiebahn fuhr in das Fahrzeug und brachte es zur Explosion. Die Metallmenschen blieben entsetzt stehen oder warfen sich geistesgegenwärtig in Deckung. Wie sie reagierten, wie sie sich bewegten, alles das machte es schwer, an Projektionen zu denken, an Kunstgeschöpfe – oder was immer sie in Wirklichkeit waren. Atlan fluchte, als die Gegner sich sammelten und zum Versteck heraufblickten, das nun keines mehr war. Die ersten Schüsse fauchten und schlugen in die Felsen ein. Atlan und Brick robbten zurück, bis sie sich aufrichten und eine bessere Deckung suchen konnten. »Du bist ein Narr!« warf der Arkonide seinem Begleiter vor. »Das mag schon sein. Auf jeden Fall verkaufe ich meine Haut so teuer wie möglich. Seit einer Woche fliehen wir vor den Metallenen von einem Versteck zum anderen, und wenn wir ihnen nicht ein für allemal klarmachen, daß sie uns in Ruhe lassen sollen, ist dieser ganze verdammte Alpenin nicht groß genug für uns!« Die ersten Metallmenschen hatten den Hang erklommen und tauchten zwischen den Felsnadeln auf. Brick feuerte wieder. Atlan verwünschte ihn, mußte aber einsehen, daß es jetzt um das nackte Leben ging. Die Energiestrahlen, die in das Gestein schlugen und es verflüssigten, waren real. Er schoß, bis fünf Angreifer reglos in der Mulde lagen. »Wir müssen zur Höhle zurück«, drängte Brick. »Es waren acht Kerle, die aus dem Gleiter stiegen. Also haben wir es mit noch dreien zu tun. Diese fünf hier sollten uns nur aufhalten.« Atlan sah vor seinem geistigen Auge abermals den MetallNockemann, den sie aus dem Gefängnis befreit hatten, sah, wie sich dessen Körper von unten her langsam auflöste, und hörte seine
letzten Worte – die Aufforderung, nach dem geheimnisvollen Zentralkegel der Landschaft im Nichts zu suchen. Nur dort würde man die Antworten auf alle Fragen und eine Lösung der inzwischen unübersehbar gewordenen Probleme finden. Wer garantierte ihm dafür, daß jene Macht, die einen Menschen einfach auslöschen konnte, die Getöteten nicht ebenso leicht wieder zu neuem unheimlichem Leben zu erwecken vermochte? »Komm endlich!« rief Brick. »Ich möchte nur wissen, was in dich gefahren ist. Diese Gegner existieren nur halbwegs wirklich – aber wirklich genug, um uns allen den Garaus machen zu können!« Atlan folgte dem Piloten einen Hang hinab. Weiter ging es durch eine schmale Schlucht, an deren Ende das Massiv mit der Höhle aufragte. Sie hatten den Aufstieg, einen wie in den Fels hineinmodellierten Stufenpfad, gerade erreicht, als sie die drei Metallmenschen auch schon vor der Höhle sahen. Neben deren Eingang gegen das Gestein gepreßt, gaben sie Schüsse ab. Blitzschnell stießen sie vor, feuerten in das Versteck und warfen sich zurück, bevor ihnen die Abwehr vom Shift aus entgegenschlug. »Ein Treffer, und wir können unseren Weg zu Fuß fortsetzen«, knurrte Brick. Die Metallmenschen waren aufmerksam geworden und nahmen jetzt ihn und Atlan unter Beschuß. In der einsetzenden Dunkelheit standen die Strahlbahnen wie straff gespannte Schnüre aus reiner Energie in der Luft. Von einer Deckung in die andere hetzend, arbeiteten die beiden Männer sich mühsam vor, bis nur noch freies Gelände zwischen ihnen und den Gegnern war. Brick zielte auf einen der drei, als Hage Nockemann überraschend aus der Höhle trat und wild um sich zu schießen begann. Er traf einen Metallmann, doch bevor er die Waffe gegen den zweiten richten konnte, wurde er von hinten gepackt und von den Beinen gerissen. Stählerne Arme legten sich um seinen Hals. »Werft eure Waffen weg und kommt langsam her!« hörte Atlan. »Macht keine Dummheiten, oder euer Freund stirbt! Nehmt endlich
Vernunft an und laßt euch von uns zurück nach Metallstadt bringen, wo ihr wieder unsere Gäste sein sollt!« Gäste! Atlan ballte eine Faust und schüttelte sie den Metallmenschen entgegen, als könnte er sie damit beeindrucken. Was hatte Nockemann dazu getrieben, die Höhle zu verlassen? Wenn sein Leben nicht gefährdet werden sollte, blieb gar nichts anderes mehr übrig, als der Aufforderung nun Folge zu leisten. »Laßt ihn los!« schrie der Arkonide. »Wir haben von eurer Stadt genug! Wir sehen uns lieber in anderen Teilen dieser Welt um, wie ihr uns selbst vorgeschlagen hattet, bevor …« »Das ist doch sinnlos!« erregte sich Brick. »Das war einmal, oder warum haben sie den Energieschirm über der Stadt aufgebaut!« Er rief zu den Bewohnern der Landschaft im Nichts hinauf: »Gebt ihn frei, dann lassen wir euch laufen!« Die Antwort bestand aus schlecht gezielten Schüssen. Atlan duckte sich hinter den letzten Felsen vor der freien Zone und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Sein Kopf fuhr in die Höhe, als er Nockemanns Schrei hörte. Der Galakto-Genetiker hatte sich losgerissen und kam den Hang heruntergelaufen. Beide Metallmenschen richteten ihre Waffen auf ihn. Atlans Hand mit dem Strahler zuckte nach oben, doch er wußte, daß sein Schuß um Sekundenbruchteile zu spät kommen mußte. Als er schon glaubte, Nockemann zusammenbrechen sehen zu müssen, lösten die beiden Metallmenschen sich urplötzlich auf. Atlan fing Nockemann auf. Brick stand neben ihm und nickte grimmig. »Abgeschaltet«, sagte er nur.
* Brick saß schweigend hinter den Kontrollen des Shifts und steuerte
den Flugpanzer wenige Meter über der zerklüfteten Gebirgslandschaft ostwärts – weiter fort von der Nebelzone und Metallstadt. Für eine lange Zeit sagte niemand etwas. Der jüngste Schock steckte allen noch in den Gliedern. Schließlich war es Hage Nockemann, der das Schweigen brach. »Ich mußte einfach aus der Höhle«, sagte er. »Wir konnten doch nicht riskieren, daß sie uns den Shift zusammenschmolzen.« »Aber daß sie dich umbrachten«, warf Atlan ihm vor. »Ich konnte nicht wissen, daß ihr von der Erkundung zurück wart!« »Nein, Hage. Aber die Metallmenschen wollten uns lebend. Sie hätten nicht gewagt, auf den Shift selbst zu schießen. Wäre er explodiert …« »Sie haben auf uns geschossen«, sagte Sanny. »Ihr widersprecht euch. Ihr bringt keine Logik mehr in eure Äußerungen, schon seit Tagen nicht mehr.« Und ist das ein Wunder? dachte Atlan. Die Libellenmenschen empfingen Collinia Brackfaust und ihre Begleiter mehr als freundlich – um anschließend deren Space-Jet zu besetzen und von ihr aus das Feuer auf uns zu eröffnen. Die Metallmenschen begrüßten uns überschwenglich als ihre Gäste – um uns festzuhalten und uns nach der geglückten Flucht bis hierher nachzusetzen. Jeder hier scheint uns willkommen zu heißen und dann plötzlich wie ausgewechselt zu reagieren! Welcher Sinn steckte dahinter? Weshalb lösten sich die beiden Metallmenschen ausgerechnet in dem Moment auf, in dem Nockemann schon so gut wie tot war? Welche Rolle spielte Tdibmufs, dieser geheimnisvolle Hominide, der angeblich gegen das Böse kämpfte? »Ich denke«, unterbrach Sanny Atlans Gedanken, »daß wir von den Metallmenschen nichts mehr zu befürchten haben. Ich möchte
die Voraussage wagen, daß die Metallmenschen nicht ohne Grund von uns abließen. Andere werden sich an ihrer Stelle um uns kümmern.« »Sie ließen nicht von uns ab«, meldete sich Brick wieder zu Wort. »Sie wurden dazu gezwungen.« Atlan sah von der zierlichen Molaatin zum Piloten hinüber. Nockemann zuckte die Schultern. »Es hat keinen Sinn, über Sinnlosigkeiten zu spekulieren«, sagte der Arkonide. »Wir sollten uns daran erinnern, daß wir trotz allem ein klares Ziel haben.« »Dieser Zentralkegel«, brummte Vorlan Brick. »Der 650 Meter hohe Turm in fünfzig Kilometern Entfernung von unserem ersten Versteck, den uns die Optiken der ausgeschleusten Spionsonde zeigten.« Atlan nickte. Der Shift tauchte in eine Schlucht ein, deren Wände zu beiden Seiten steil in die Höhe wuchsen. Bei allem Bemühen, soviel Raum wie möglich zwischen sich und die Metallstadt zu bringen, fiel es keinem der vier ein, das Gebirge zu überqueren. Sie hielten sich nach wie vor an seiner Südflanke. Atlan rief sich das Bild in Erinnerung, das die Kunstwelt vom Weltraum aus geboten hatte – falls man in diesem Miniaturuniversum noch von einem Weltraum reden konnte. Es gab nur die Landschaft im Nichts und deren Sonne. Die Kunstwelt breitete sich auf einer exakten Scheibe aus, deren Durchmesser 1822 Kilometer betrug. Die Basisscheibe war 12,7 Kilometer dick. Das Gebirge teilte die Landschaft in eine Nord- und eine Südhälfte. Es reichte vom westlichen bis zum östlichen Ende und hatte Erhebungen von bis zu 4800 Meter Höhe. Genau in der Mitte, südlich vom Alpenin, war das Gebilde entdeckt worden, von dem Brick sprach. »Wir können nur Vermutungen anstellen«, antwortete Atlan. »Ob es der Zentralkegel ist, wird sich erst noch zeigen.« »Warum fliegen wir nicht einfach hin?« fragte Nockemann.
»Ich beneide dich um deine Geradlinigkeit!« seufzte Brick. »War ja nur ein Vorschlag«, gab der Genetiker leicht gereizt zurück. »Aber ob wir uns weiterhin jagen lassen oder …« »Darum geht es doch gar nicht, Hage«, sagte Atlan. »Erstens bin ich dafür, daß wir uns für diese Nacht noch ein Versteck suchen und morgen feststellen, ob die Metallmenschen tatsächlich die Verfolgung aufgegeben haben. Zweitens sind wir von der SOL, von der FRESH und vom zweiten Shift abgeschnitten. Breck hat die SOL in den Ortungsschatten der Sonne zurückgezogen, unsere SOL. Die andere ist spurlos verschwunden. Der Funkkontakt ist abgerissen. Von der FRESH wissen wir nicht einmal, ob sie sich noch auf dieser Welt befindet und ob Ursa, Folia, Herster und Wallbert sie erreichen konnten. Wir sind auf uns selbst gestellt, bis wir wieder von den anderen hören. Inzwischen kann dort alles mögliche geschehen sein!« »Also abwarten«, konstatierte Nockemann. »Das meinst du doch damit, oder?« »Drittens«, fuhr der Arkonide fort, »haben wir noch viel zu wenige Informationen über den Zentralkegel. Bevor wir nicht mehr wissen, ist es sinnlos, sich ihm auch nur zu nähern. Viertens und letztens dürften die Metallmenschen sich sehr genau ausrechnen können, daß wir ihn uns früher oder später ansehen wollen. Sie brauchten dort nur auf uns zu warten. Damit sind die eigentlichen Absicherungen noch gar nicht angesprochen, mit denen sich jene gegen unliebsame Besucher schützen werden, die dies alles hier kontrollieren.« »Ein Chaos kontrollieren«, stellte Brick fest. »Ich interpretiere nur das, was uns Metall-Nockemann sagte.« Dabei fiel es schwer, nicht voreilig Schlüsse zu ziehen. Die SOL war auf dem Weg zur Nachbargalaxis gewesen, nachdem in AllMohandot eine Friedenszelle hatte geschaffen werden können, als das Unbegreifliche geschah. Als man schon glaubte, in der Randzone von Ploohnei in den Normalraum zurückzustürzen, gab
es keine Sterne mehr. Das Schiff war in einem Miniatur-Universum herausgekommen. Panik brach aus. Völlig verzweifelte Solaner suchten ihr Heil in der Flucht, verließen die SOL in Beibooten und stießen in etwa einhundert Lichtjahren Entfernung ans vermeintliche Ende dieses Kosmos. Dann war Chybrain erschienen – wieder einmal in einem Augenblick höchster Not. Nur Sanny konnte seine Botschaft empfangen, die aus einem Koordinatenpunkt und der Warnung vor einem Schalter bestand. Erinnerungen an die rätselhaften Vorkommnisse waren wach geworden, die dazu geführt hatten, daß Sternfeuers und Cpt'Carchs Bewußtseine ihre Körper verließen und mit Insider zum urplötzlich aufgetauchten Doppeldiskus des Materielosen überwechselten, den sie als Oggar bezeichnet hatten. Das Schiff, Oggars HORT, war mit unbekanntem Ziel verschwunden. Vorher jedoch erhielt Atlan von dem Materielosen die Zusicherung, daß man sich beim Schalter wiederbegegnen würde. Die Rätsel waren nicht weniger geworden. Im Gegenteil hatte es die Verantwortlichen in der SOL fast um den Verstand gebracht, als Insider später wie selbstverständlich in der Zentrale auftauchte und versicherte, das Schiff nie verlassen zu haben. Nach Atlans Kenntnisstand mußte er auch jetzt noch an Bord des Fernraumers sein. Hayes hatte sich dazu entschlossen, die von Sanny übermittelten Koordinaten anfliegen zu lassen. Das Ergebnis war bekannt. Nach der Rückkehr in den Normalraum hatte man die Landschaft im Nichts mit ihrer Sonne vorgefunden, die von jenen Solanern, die der Faszination des »Paradiso nirwana« als erste erlagen, Super getauft wurde – von den Skeptischen dagegen Einauge. Erste Beiboote waren gelandet. Solaner begegneten den Libellenmenschen. Atlan traf auf den geheimnisvollen Tdibmufs und erlebte seine Abenteuer in der Metallstadt, während über der Landschaft im Nichts die Geister-SOL auftauchte und ein Kampf
SOL gegen SOL entbrannte, bis Hayes sich zurückzog. Obgleich noch niemand einen rechten Sinn in dieses Geschehen zu bringen vermochte, war dem Arkoniden doch klar, daß hier nach einem lange vorbereiteten Plan vorgegangen wurde. Jemand – oder etwas trieb ein makabres Spiel mit der SOL und ihrer Besatzung. War es da noch allzuweit hergeholt, an Hidden-X zu denken – den geistigen Faktor der Roxharen, den Verantwortlichen für das Treiben der Ysteronen in Bumerang und All-Mohandot? Atlan zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung zu richten. Diese Spekulationen brachten nichts ein. Er wußte es, doch immer wieder ertappte er sich bei dem Versuch, ein Puzzle zusammenzusetzen, zu dem ihm die meisten Bausteine noch fehlten. »Ich denke, wir können uns hier irgendwo ein Versteck suchen«, sagte er zu Brick, als die Schlucht sich öffnete und in einen Talkessel mündete, der von Felsen umrahmt war, auf deren Kuppen schattenhaft hohe Bäume zu erkennen waren. Brick ließ den Shift kommentarlos sinken. Unter einem Überhang kam das Fahrzeug zum Stillstand. Brick schaltete alle Systeme außer der passiven Ortung und der Funkanlage aus. »Wenn ihr heute nacht doch nichts mehr vorhabt«, sagte er, »stört es ja wohl niemanden, wenn ich mich für einige Stunden aufs Ohr lege. Weckt mich, wenn die SOL sich meldet.« Er ließ die Rückenlehne seines Sitzes ein Stück einfahren, streckte die Beine von sich und machte es sich bequem. Nockemann sah Atlan schulterzuckend an und kauerte sich ebenfalls so gut wie möglich zusammen. Sie waren noch nicht eingeschlafen, als der Funkempfänger ansprach, und es war nicht die SOL, die sich da meldete, sondern Tdibmufs. Sanny drehte die Verstärker so weit auf, daß die Stimme des Geheimnisvollen in Atlans Ohren schmerzte: »Es tut mir leid, Freunde! Ich kann wegen der Vorkommnisse in
der Metallstadt nur um Entschuldigung bitten. Ich habe dafür gesorgt, daß ihr von dort aus jetzt nicht mehr behelligt werdet. Die bösen Mächte sind nun aber wohl endgültig vertrieben. Ich lade euch nochmals herzlich zu einem friedlichen, erholsamen Aufenthalt auf der Landschaft im Nichts ein – für unbegrenzte Zeit. Sagt das auch euren Freunden im Schiff. Sie sollen sich alle erfreuen. Ich schäme mich für das Verhalten der Metallmenschen und möchte euch helfen, falls ihr der Hilfe bedürft. Bitte teilt mir euren Standort mit!« Der Spruch wiederholte sich noch zweimal, bis Sanny abschaltete. »Blind abgesetzt«, sagte sie. »Tdibmufs weiß anscheinend nicht, wo wir uns befinden, und ich bin dafür, es ihn auch nicht wissen zu lassen. Ich traue ihm nicht.« »Also geben wir keine Antwort?« fragte Brick. »Besser nicht«, warnte die kleine Molaatin abermals. »Keine Antwort«, entschied der Arkonide. »Tdibmufs hat uns bisher nicht viel Glück gebracht. Nach jeder seiner Versicherungen, das Böse sei nun eliminiert, gerieten wir in neue Schwierigkeiten. Wir bleiben bis zum Morgen hier und sehen dann weiter.« »Na denn – gute Nacht!« wünschte Brick. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich würde bestimmt besser schlafen, wenn ich etwas Ordentliches zu essen hätte.« »Du kannst ja aussteigen und Beeren sammeln. Ich garantiere dir dafür, daß alles, was hier wächst, uns so gut bekommt wie Evas Paradiesapfel dem guten Adam.« »Und wo, bitte, ist die Schlange?« Niemand antwortete darauf. Brick und Nockemann schlossen die Augen, und nach nur wenigen Minuten bewies das Schnarchen des Piloten, daß dieser tatsächlich schlief. »Ich vertrete mir draußen etwas die Füße«, flüsterte Atlan nach einer Weile Sanny zu. »Kommst du mit?« »Ich bin nicht müde«, antwortete sie. »Und in diesem Panzer komme ich mir wie eingesperrt vor.«
Sie kletterten aus dem Shift und verschlossen das Außenluk. Die Luft war angenehm frisch und voller würziger Gerüche. Atlan atmete tief ein und streckte die Arme von sich. »Eine Welt des Friedens«, flüsterte Sanny, »solange man nicht in sie hineinblicken kann.« »Du meinst, sie berechnen.« »Ja.« Atlan sah einen mannshohen Felsblock, stieg hinauf und setzte sich auf die Kuppe. Er legte den Kopf in den Nacken und suchte vergeblich nach Sternen. Dann stutzte er. »Sanny, sieh dir die Bäume dort oben auf den Hängen an. Sie waren doch vorhin noch nicht so groß.« »Sie wachsen«, flüsterte sie. »Das muß eben erst begonnen haben. Man sieht es mit bloßem Auge.« Vormals so hoch wie ausgewachsene irdische Tannen, hatten die Gewächse inzwischen schon deren doppelte Größe erreicht. Und es hörte nicht auf. Atlan sah wahrhaftig, wie sich die Spitzen in die Höhe schoben, die weit ausladenden Äste sich verbreiterten und über den kleinen Talkessel vorarbeiteten. Sein Kopf fuhr herum. Es geschah auf allen Seiten. Selbst dort, wo bei der Landung noch nichts zu sehen gewesen war, erhoben sich Baumriesen. Einige standen nur zehn, fünfzehn Meter hoch über dem Shift. Ihre Wurzeln sprengten Gestein auseinander. Große Brocken kamen dumpf polternd herab. Einer von ihnen traf den Shift. »Die Äste wachsen über uns hinweg«, flüsterte Sanny entsetzt. »Sie werden uns wie eine grüne Decke unter sich begraben.« Nockemann und Brick, vom Steingepolter aus ihren Träumen gerissen, kamen aus dem Shift und starrten fassungslos in die Höhe. »Was soll das nun wieder?« knurrte der Pilot. »Will man uns hier ersticken? Atlan, einige Salven aus unserem Thermogeschütz sollten dem Spuk schnell ein Ende bereiten.« »Und uns verraten.« Der Arkonide schüttelte den Kopf, während
er noch versuchte, einen Sinn in diese neue, unglaubliche Entwicklung zu bringen. »Du machst Witze, oder? Das geschieht doch nicht zufällig. Also weiß man längst, wo wir sind.« »Nicht unbedingt, Vorlan. Und solange ich mir dessen nicht sicher bin, möchte ich's nicht darauf ankommen lassen.« Die Bäume wuchsen weiter, während die Männer sich unterhielten. Nach Minuten nur war vom Himmel nichts mehr zu sehen. »Ohne Gewaltanwendung kommen wir hier nicht mehr heraus«, schlug sich Nockemann auf Bricks Seite. »Diese Möglichkeit bleibt uns immer noch. Hage, ich will wissen, was da oben vor sich geht, ob der plötzliche Riesenwuchs nur auf den Rand dieses Kessels begrenzt ist oder sich unbegrenzt fortsetzt. Er kann auf dieser Welt etwas Natürliches sein, hier wundert mich absolut nichts mehr. Er kann aber auch von jemandem gesteuert sein. Dann sollten wir diesen Jemand suchen und ihn uns vorknöpfen. Denkt daran, daß wir Informationen brauchen.« Nockemann lachte trocken. Seine Finger zwirbelten am Schnauzbart. »Die dieser Unbekannte uns gibt, was? Vielleicht ist es sogar unser Freund Tdibmufs.« Atlan sprang vom Felsen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir werden sehen, Hage. Vorlan und du, ihr bleibt hier und wartet auf unsere Rückkehr. Wir halten über die Armbandfunkgeräte Kontakt zueinander. Sollte Sanny und mir etwas zustoßen, schießt ihr euch eine Lücke in das Baumgewirr über dem Tal und kommt mit dem Shift.« »Das ist nicht dein Ernst«, entfuhr es Nockemann. »Du willst allein mit … Sanny?« »Sie ist die kleinste von uns und kann durch Lücken schlüpfen, vor denen wir anderen kapitulieren müßten.« Die beiden Solaner sahen ein, daß es zwecklos war, den
Arkoniden noch umstimmen zu wollen. Sanny erklärte sich damit einverstanden, ihn zu begleiten. Sie stiegen noch einmal in den Shift, um sich auszurüsten. Wieder im Freien, sah Atlan sich um und deutete auf eine Halde herabgekommenen Gerölls. »Dort steigen wir hinauf«, erklärte er. »Bist du soweit, Sanny?« »Dickschädel«, brummte Brick. »Aber dennoch viel Glück. Sobald wir länger als eine Viertelstunde auf eine Nachricht von euch warten müssen, beginnen wir mit dem Feuerwerk.« »Die Bäume wachsen nicht mehr«, stellte Nockemann fest. »Ein meterdickes Laub- und Nadeldach über uns reicht ja auch wohl«, schimpfte Brick.
2. Die Pendeltür vom Saloon flog auf. Am ganzen Leib zitternd kam ein schmächtiger, kleiner Mann herein, von dessen Gesicht unter dem viel zu großen Hut so gut wie nichts zu sehen war. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, breitete die Hände aus und schrie: »Die Daltons kommen! Macht alle, daß ihr in eure Häuser kommt! Sie sind schon in der Stadt!« Um die Mundwinkel des Spielers zuckte es. Tompall B. Hickock sprang auf, machte einen Satz auf den Mann zu und drückte ihm den Colt unter das Kinn. »Sag das noch einmal!« »Die … die … Daltons! Und – das ist noch nicht alles!« »Was denn noch?« »Im Telegraphenbüro hörte ich, daß auch die James-Bande …« Tompall stieß ihn von sich und gab ein paar Schüsse in die Luft ab. »Die Fremden gehören mir! Ich werde diesen Bastarden zeigen, wer der beste Schütze im Westen ist! Wo steckt euer Sheriff?« »Sheriff Wayne ist im … im Gefängnis. Er hat sich selbst
eingesperrt, und genau das werde ich jetzt auch tun!« Der Schmächtige rannte ins Freie. Tompall zog sich den breitkrempigen Hut tief in die Stirn »Weiterspielen!« befahl er dem Pianisten, der hinter dem Klavier lag. »Ich habe nichts von Aufhören gesagt. Kein Grund zur Panik, meine Herrschaften. Tompall trägt seine Angelegenheiten auf der Straße aus. Holt den Leichenbestatter und sagt ihm, daß es Arbeit für ihn gibt. Vier Särge für die Daltons und zwei für die James-Brüder!« Der Spieler blickte ihm nach, als er den Saloon verließ. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Lippen. »Whiskey!« sagte er in die Stille hinein.
* Atlan half Sanny das letzte Stück den Abhang hinauf. Als beide die Felsen erklommen hatten und durch eine winzige Lücke auf den tief unter ihnen liegenden Shift hinabblicken konnten, brauchte die Molaatin eine Verschnaufpause. Der Ästeteppich über dem Tal mochte wahrhaftig an die fünf Meter dick sein. Nach oben hin verjüngten sich die meisten der Bäume. Atlan pfiff durch die Zähne, als er Stämme mit Durchmessern von 25 bis 40 Metern sah. Ihre Höhe schätzte er auf gut und gerne zweihundert Meter. Der unheimliche Wald erstreckte sich über ein ausgedehntes Hochplateau, in dem der Kessel mit der sich ihm anschließenden Schlucht den einzigen erkennbaren Einschnitt bildete. »In welche Richtung gehen wir?« erkundigte sich Sanny. »Wir haben nicht viel Auswahl«, befürchtete Atlan. »Zunächst einmal dorthin, wo es ein Durchkommen gibt.« Das war leicht gesagt. Auch wenn Unterholz hier weitgehend fehlte, machten herabhängende Äste die Fortbewegung fast unmöglich. Atlan fand erst nach langem Suchen eine Bresche. Sanny
lief ein Stück vor, zwängte sich unter Zweigen durch und rief, wenn der Arkonide ihr folgen sollte. Er benutzte ein Vibratormesser, um die gröbsten Hindernisse zu beseitigen. Meistens jedoch kehrte die Molaatin kopfschüttelnd zurück. Die völlige Dunkelheit erschwerte die Orientierung noch zusätzlich. Atlan und Sanny trugen jeweils eine Stablampe. Dennoch wußte Atlan nach einer halben Stunde nicht mehr, woher sie gekommen waren. »Ich finde den Weg wieder«, versicherte die Molaatin. »Das müßten die Solaner sehen«, erklärte Atlan. »Bäume, die an terranische Birken erinnern, haben hier Blätter so groß wie der Superrhabarber aus unseren hydroponischen Tanks.« Weiter ging es durch das Dickicht. Zum Glück schien es keine tierischen Bewohner dieser Zone zu geben, die ebenfalls vom plötzlichen Riesenwuchs betroffen waren. Atlan schwitzte, obwohl es kühl war. Sanny betätigte sich auf bewundernswerte Weise als Kundschafterin. Immer wieder fand sie nun neue Lücken. Und sie war es auch, die die Lichtung als erste entdeckte. »Komm hierher, Atlan!« rief sie, durch einen Blättervorhang von ihm getrennt. »Hier haben wir Platz und …« »Was?« fragte er, alarmiert durch ihr abruptes Verstummen. »Wir sind nicht allein! Da sind … Menschen, die glühen und brennen! Feuermenschen, Atlan!« Der Arkonide zerschnitt das Dickicht, und noch bevor er die Lichtung betrat, sah er die leuchtenden Gestalten durch das Blattwerk.
* Es waren vielleicht zwei Dutzend. Ihr Anblick jagte Atlan einen eisigen Schauder über das Rückgrat. Sanny stand ganz ruhig in der Mitte der freien Zone und streckte eine Hand nach ihm aus, als er
sie endlich erreichte. »Feuermenschen«, wiederholte die Molaatin leise. »Wie können sie leben? Sind sie ganz aus Feuer?« »Wir werden sie danach fragen«, flüsterte Atlan zurück. »Und ich garantiere dir, sie werden uns genau wie die Libellen- und die Metallmenschen in reinem Interkosmo antworten.« Er drückte Sannys Hand und bedeutete ihr, sich nicht zu bewegen. Die Gestalten kamen näher. Sie begannen, Atlan und Sanny einzukreisen. Einem Impuls folgend, hob der Arkonide das Mädchen auf seine Schultern. Die Fremden hatten eindeutig menschliche Umrisse. Atlan konnte keine Art von Kleidung an ihnen feststellen, ihre Körper glühten von Kopf bis Fuß. Kleine Flammen züngelten und tanzten auf ihren kahlen Schädeln, den Fingerspitzen, den Zehen. Und nun war auch schon die Hitze zu spüren, die von ihnen herüberschlug. Noch ließ sie sich ertragen, doch wenn sie sich weiter näherten … Schweigend zogen die Feuermenschen ihre Kreise um die beiden Gefährten. Das alles wirkte irgendwie feierlich, fast wie eine Prozession. Ein Knistern wie von Glut und Flammen war das einzige Geräusch. Kein Wind erhob sich, kein Rauschen in den mächtigen Wipfeln. Es war, als stünde die Zeit still, als sei diese Lichtung eine Insel der Bewegung in einer erstarrten Welt. Plötzlich teilte sich der Kreis. Zu einer Seite hin wichen die Unheimlichen zurück, während sie sich von der anderen an Atlan und Sanny heranschoben. »Sie wollen uns in eine bestimmte Richtung drängen«, flüsterte der Arkonide. »Vermutlich zu ihrer Siedlung oder ihrem Anführer.« Er konnte beim besten Willen keinen unter den Glühenden ausmachen, der sich auf irgendeine Weise von den anderen unterschied. Seltsamerweise blendete ihn das Feuer nicht. Er konnte auch für längere Zeit hinsehen, ohne Schaden zu nehmen. »Wir sollten tun, was sie verlangen«, sagte Sanny. »Vorlan und Hage werden ihre Ankündigung wahrmachen und
uns mit dem Shift suchen, wenn wir uns nicht melden.« Atlan zögerte. Dann streckte er vorsichtig eine Hand aus und deutete auf einen der Feuermenschen. »Kannst du mich verstehen? Ich möchte mit dir reden.« Der Glühende zeigte keinerlei Reaktion. Auch seine Artgenossen gaben durch nichts zu verstehen, ob sie die Worte überhaupt wahrgenommen hatten. Atlan zuckte resigniert die Schultern. »Jedenfalls greifen sie auch nicht gleich an«, sagte er mit einem Schuß Galgenhumor. Er sprach in das Funkgerät: »Vorlan, Hage? Wir haben etwas gefunden, menschliche Fackeln. Sie wollen uns offenbar irgendwohin führen. Sie sind friedlich, also unternehmt nichts, hört ihr?« »Menschliche Fackeln?« kam es aus dem Empfängerteil. »Atlan, bist du sicher, daß dir nichts fehlt?« »Ziemlich, Vorlan. Wir gehen jetzt mit ihnen. Ende.« Er unterbrach die Verbindung, legte die Hände auf Sannys Beinchen und ging in die gewiesene Richtung. Am Rand der Lichtung wurde im sich anschließenden Dickicht ein schmaler Pfad erkennbar. Atlan sah sich kurz um. Die Feuermenschen hatten sich geteilt. Etwa die Hälfte von ihnen folgten im Gänsemarsch. Die anderen waren rechts und links im Gestrüpp auszumachen. Wo sie die teilweise meterdicken Äste berührten, versank das Holz in Glut und Asche, loderten die Riesenblätter nur für eine Sekunde auf, um zu feinem Staub zu zerfallen. Beeindruckt setzte der Arkonide seinen Weg fort. Der Pfad war auf die gleiche Art und Weise entstanden, wie die Feuermenschen sich jetzt ihren Raum schufen. Fast knöcheltiefer schwarzer Staub auf dem moosbewachsenen Waldboden bewies es nachhaltig. »Ob sie für das Wachstum verantwortlich sind?« fragte Sanny. »Es behindert sie nicht – nur uns.« »Hoffen wir, daß ihr Anführer nicht so schweigsam ist wie die anderen«, murmelte Atlan.
Wundern, dachte er dabei, würde ich mich nicht mehr, wenn wir wirklich plötzlich vor Tdibmufs stünden! Zumindest in diesem Punkt täuschte er sich. Vor einem steilen Felshang war der Pfad zu Ende. Der Wald dehnte sich zu beiden Seiten der Wand weiter aus. Einige der sie flankierenden Feuermenschen waren plötzlich vor ihnen und stellten sich ihnen in den Weg. »Wir sollen warten«, stellte Sanny fest. »Bist du dir immer noch sicher, den Rückweg zu finden?« »Ich finde zurück.« Die Feuermenschen umringten die beiden abermals, und wieder kamen sie nicht näher als auf sieben, acht Meter heran. Die von ihnen ausgehende Hitze ließ sich gerade noch ertragen. Atlan konzentrierte sich auf die Felswand. Er kniff die Augen zusammen und konnte nun hinter den vor ihm stehenden Glühenden den dunklen Eingang einer Höhle ausmachen. Für Minuten geschah überhaupt nichts. Dann, als es bereits wieder Zeit wurde, sich bei Brick und Nockemann zu melden, stieß Sanny einen leisen Pfiff aus. »Was siehst du von da oben?« fragte Atlan leise. »Eine neue Gruppe. Viele Feuermenschen. Sie kommen aus der Höhle heraus und …« Atlan sah es nun selbst. Diejenigen, die den Weg und die Sicht versperrt hatten, wichen zur Seite. Der Höhleneingang schien von innen heraus zu glühen. Zehn, fünfzehn leuchtende Gestalten traten ins Freie – und die letzte von ihnen übertraf alle anderen in jeder Hinsicht. »Das muß der Anführer sein«, flüsterte Sanny. Er kam auf Atlan zu, ein wandelnder Feuersturm. Um seinen Kopf war eine flammende Korona. Sämtliche Gliedmaßen schienen aus flüssiger Glut zu bestehen, aus der weiße, blaue und gelbe Flämmchen züngelten. Wie die anderen, hatte das Geschöpf kein Gesicht im herkömmlichen Sinn. Zwei nebeneinanderliegende
dunkle Flecke, schwarzen Kohlen gleich, mochten die Augen sein. Unter ihnen war nur ein waagrechter, immer wieder verschwimmender Streifen. Ein Mund? Ich möchte sie einmal sehen, dachte Atlan, wenn es Tag ist – oder sie ihr ganzes Feuer abgegeben haben. Der Anführer der unheimlichen Schar blieb fünf Meter vor dem Arkoniden stehen. Atlan schätzte seine Größe auf gut zwei Meter, womit er um einen Kopf größer war als seine Artgenossen. Der Feuermann hob eine Hand und deutete auf die beiden Gefährten. »Es ist gut, daß wir euch schnell gefunden haben«, hörte Atlan in einwandfreiem Interkosmo. »Wir werden euch helfen. Dazu sind wir da. Ich bin Atlan, der Solaner!«
* Atlan war nur für einen Moment verblüfft. Nach dem MetallNockemann hatte er im Grunde etwas Ähnliches geradezu erwarten müssen. Deshalb wunderte er sich nicht so sehr darüber, daß sich der Feuermensch mit seinem Namen vorgestellt hatte, sondern über den Zusatz: Atlan, der Solaner! Der so Bezeichnete winkte. Die anderen Feuermenschen zogen ihren Kreis weiter auseinander, wie zu einer Arena, in deren Mitte nun plötzlich drei Felsen von etwa einem Meter Größe zu sehen waren. Atlan folgte der Aufforderung, setzte Sanny sanft auf einem der Brocken ab und nahm selbst auf dem zweiten Platz. Atlan, der Solaner, setzte sich ihnen gegenüber hin. Nun fehlt nur noch, daß jemand eine Friedenspfeife bringt! fiel es dem Arkoniden spontan ein. Atlan, der Solaner. War die verblüffende Ähnlichkeit eines der Metallmenschen mit Nockemann mit einer Menge guten Willens
noch als phantastischer Zufall hinzunehmen gewesen, so ließ sich diese Hypothese nun nicht mehr halten. Atlans Wunsch, sein Gegenüber bei Tageslicht zu sehen, wurde noch stärker. Fast war er sicher, ein Gesicht zu sehen zu bekommen, das dem seinen bis ins letzte Detail glich. Auf dieser Landschaft im Nichts leben Duplikate von uns, dachte er. Vielleicht nur von jenen, die diese Welt betraten – möglicherweise aber auch von Hayes, den Stabsspezialisten, allen Solanern. Sie waren nicht perfekt. Das traf nicht nur darauf zu, daß sie sich in den Reihen nicht wirklich menschlicher Gestalten fanden. Atlan, der Solaner – nicht Atlan, der Arkonide! Wer immer diese Kopien schuf, schien sich nicht die Mühe gemacht zu haben, sehr tief in das Wesen der Originale eingedrungen zu sein. Atlan riß sich zusammen. Er hoffte nach wie vor, daß ihm der Anführer der Feuermenschen einige Fragen beantwortete. »Atlan, der Solaner«, dehnte er. »Ich habe schon von dir gehört.« Er fragte sich noch, was plötzlich in ihn gefahren war, als der Feuermensch sich halb aufrichtete und sich zu ihm herüberbeugte. Atlan hätte schwören mögen, daß seine »Augen« tiefschwarz wurden. »Wirklich? Das hast du wirklich?« Es gab keinen Zweifel, der Bursche war angenehm berührt. Atlan beschloß, das einmal begonnene Spiel weiterzutreiben. Er nickte. »Wer hätte das nicht? Frage meine kleine Freundin. Atlan, der Solaner, ist ein berühmter Mann. Wir haben nur ein kleines Problem. Mein Name ist ebenfalls Atlan. Ich rechne mir das zur Ehre an. Aber um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, werde ich dich anders benennen. Der richtige Name für dich wäre Feuerchef. Du bist der Herr des Feuers, der Feuerchef.« »Ein schöner Name, den ich gern annehme«, entgegnete die
Gestalt. »Fein. Dann laß uns jetzt miteinander reden. Ihr wollt uns helfen? Dann habt ihr den Riesenwuchs des Waldes also nicht herbeigeführt?« »Der Wald ist so, wie er ist«, entgegnete der Feuerchef. Atlan glaubte, so etwas wie Nichtbegreifen aus seiner Stimme herauszuhören. »Soll das heißen, ihr kennt ihn nicht anders?« fragte Sanny. »Der Wald ist so, wie er ist.« »Ihr habt ihn nicht wachsen lassen?« »Der Wald ist so …« »… wie er ist«, vollendete Atlan für den Feuerchef. Er blickte Sanny schulterzuckend an. Eine Ahnung beschlich ihn, daß sie von diesen Leuten nicht allzu viel würden erfahren können. »Wenn das stimmt«, sagte Sanny, »wenn sie ihn wirklich nicht anders kennen, dann existieren sie erst seit wenigen Stunden!« »Stimmt das, Feuerchef?« wandte der Arkonide sich wieder an den Flammenden. Er erhielt keine Antwort darauf. Vielmehr sagte der Feuerchef: »Es wird Zeit für uns. Euer Fahrzeug ist unter Blattwerk gefangen. Wir sind hier, um es und eure Freunde zu befreien. Ihr müßt euren Weg fortsetzen.« Woher wußten sie denn von dem Shift, von Nockemann und Brick! »Wir existieren nur zu dem Zweck, euch vier und euer Fahrzeug zu befreien und euch den Weiterflug zu ermöglichen«, erkläre der Feuermann nochmals. »Laßt uns also keine Zeit mehr verlieren.« »Moment!« Atlan unternahm einen weiteren Versuch. »Großer Feuerchef Atlan Solaner, ich kann nicht glauben, daß du nur zu diesem einen Zweck geschaffen wurdest. Du bist weise und klug. Sicher weißt du dann auch, wohin wir weiterfliegen müssen.« »Ich weiß nichts«, lautete die Antwort. Der Flammende erhob sich wie eine Lohe, die von einem Windstoß hochgewirbelt wurde.
»Zum Zentralkegel! Wir müssen zum Zentralkegel der Landschaft im Nichts! Sag uns, was du darüber weißt!« Diesmal klang die Stimme des Feuermenschen fast traurig, als er abermals beteuerte, nichts zu wissen. »Laßt ihn, Atlan«, sagte Sanny. »Er tut mir leid.« »Kommt jetzt!« forderte der Feuermann. »Meine Leute und ich sind in der Lage, euch durch den Wald zu führen. Wir schaffen eine Schneise für euch.« »Wer ist Tdibmufs?« fragte der Arkonide schnell, als sich die leuchtenden Gestalten bereits wieder zu einer Prozession formieren. »Wer ist der Schalter?« Der Feuerchef zuckte nur seine flammenden Schultern und setzte sich in Bewegung. Sanny schüttelte den Kopf, ihr Blick war fast vorwurfsvoll. »Wenn wir ihnen jetzt nicht folgen«, sagte sie leise in das Knistern hinein, »lassen sie uns glatt hier stehen. Sie sind doch wie Roboter – aber eben auch anders, beseelt und verletzlich.« »Das Ergebnis einer Berechnung?« fragte Atlan mit leichtem Sarkasmus. »Ich kann sie ebenso wenig oder ebenso gut berechnen wie die Metallmenschen oder jeden anderen Bewohner der Landschaft im Nichts.« Sie senkte die Stimme. »Dieser Mann tut mir leid, Atlan. Er lebt und weiß doch, daß er nicht lebt.« Der Arkonide mußte sich mit dieser rätselhaften Auskunft zufriedengeben. Die Feuermenschen brannten sich bereits ihren Weg durch das Dickicht. Wo sie hintraten, loderte es kurz auf, um in Glut und Asche zu versinken. Nur der Feuerchef wartete noch. Atlan unterrichtete Nockemann und Brick im Shift und kündigte ihnen knapp an, auf welchen Anblick sie sich gefaßt zu machen hatten.
*
Die Pendeltür des Saloons flog auf. Die wenigen Gäste, die noch an ihren Tischen ausgeharrt hatten, drehten die Köpfe und sahen, wie Tompall taumelte. Er mußte sich auf das Klavier stützen. Der Kopf des Pianisten lugte zur Hälfte hinter dem Kasten hervor. »Whiskey!« schrie Tompall den Barmann an. Er fing die Flasche mit der linken Hand auf und goß ihren Inhalt über die rechte Schulter, wo das Hemd in Blut getränkt war. Der Spieler erhob sich. Er sah sich die Schußwunde an. »Die Kugel steckt noch drin, Tompall. Besser, einer holt den Doc aus dem Bett.« »Ach was!« Tompall schwankte zu einem Tisch. »Vier Särge für die Daltons, zwei für die James-Brüder! Und was ich vergessen habe: noch vier für die Fremden!« »Du hast die Bande erledigt?« erkundigte ein Besucher sich schüchtern. Tompall lachte rauh. »Eine Kugel für jeden. He, wer sagte, daß du aufhören sollst?« Der Pianist war schnell wieder auf seinem Hocker. Auf der Bühne kam Dolly Pardon hinter dem Vorhang hervor, rückte die weiße Perücke zurecht und schwang ihre sehenswerten Beine. Tompall grinste breit, fing eine zweite Flasche auf und setzte sie an den Mund. »Freibier für alle!« rief der Spieler. Mit eleganten Bewegungen begab er sich zu seinem Tisch zurück und nahm zwei Kartenhäufchen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es dauert jetzt nicht mehr lange. Sie sind auf dem Weg hierher. Tompall, du wirst dich zurückhalten.« Der Revolvermann kniff die Augen zusammen, beugte sich ein Stück vor und fragte zwischen den Zähnen hindurch: »Was werde ich? Wer sagt mir das?« »Jemand, der es gut mit dir meint. Du kannst sie später haben. Zuerst wird gespielt.«
»Um was?« »Um vieles.« Tompall ließ sich auf einen Stuhl fallen und spreizte die Beine von sich. Lange sah er den Spieler an. »Wer bist du, eh? Nimmst dich verdammt wichtig. Ich kannte zwei Kerle in Laramie, die taten das auch, bis …« »Du sie umgelegt hast.« Wieder huschte dieses Lächeln über des Spielers feingeschnittenes Gesicht, aber Tompall war es, als grinste ihn ein Totenschädel an. Er konnte diesem Mann nicht in die Augen sehen, drehte sich um, ballerte aufs Klavier und schrie: »Weiterspielen! Wer hat was von Aufhören gesagt!« »Der kann nicht mehr, das siehst du doch!« rief Dolly von der Bühne. »Tragt ihn weg! Dann singst und spielst du jetzt für ihn, Schätzchen!« Nur einer klatschte beifällig, als Dolly Pardon auf dem Hocker Platz nahm und ihr erstes Lied zum Besten gab.
3. Brick und Nockemann erwarteten die Rückkehrer und ihre phantastischen Begleiter mit angeschlagenen Waffen. Oft genug sahen sie sich kopfschüttelnd an, und es war schon ein unheimlicher Anblick, der sich ihnen bot, als ein Dutzend flammender Gestalten mit Atlan und Sanny an der Spitze den Hang herunterkamen. Zunächst war nur ein Glühen oben am Rand des Talkessels zu sehen gewesen. Dann fingen Bäume Feuer und knickten um wie Streichhölzer. Eine einzige Flammenwand nahm binnen Sekunden das ganze herabhängende Astwerk mit sich, das den Weg vorher blockiert hatte. »Allmählich beginne ich mich zu fragen«, brummte Brick, »ob hier
irgend etwas in der Luft ist, das uns alle noch in den Wahnsinn treibt. Das sind doch Halluzinationen, oder?« Er wurde eines Besseren belehrt, als Atlan mit Sanny auf der Schulter vor ihm stehenblieb. Die Feuermenschen blieben zurück – mit einer Ausnahme. »Darf ich vorstellen«, sagte der Arkonide. »Atlan Solaner, der hiesige Feuerchef.« »Atlan … Solaner«, stammelte Nockemann. »Wir nennen ihn Feuerchef. Hättet ihr etwas dagegen, eure Strahler wieder zurückzustecken?« Nur zögernd kamen die Solaner der Aufforderung nach. Mißtrauisch begutachtete Brick den Feuermenschen und dessen Anhänger, die sich am Rand des Kessels nicht von der Stelle rührten. Atlan hob Sanny von der Schulter. Die Molaatin blieb zwischen ihm und dem Feuerchef stehen und blickte die Männer erwartungsvoll an. »Nun macht nicht solche Gesichter«, lachte der Arkonide. »Unser Freund und seine Leute haben uns den Weg freigebrannt und werden gleich auch das Laubdach über uns einäschern. Dann können wir starten. Wir warten nicht mehr bis zum Morgen.« »Das ist alles?« wunderte sich Nockemann. »Sie haben euch einfach hierher zurückgebracht? Einfach so?« »Sie leben angeblich nur zu diesem Zweck.« »Das ist nicht ganz richtig«, kam es da überraschend vom Feuerchef. Atlan runzelte die Stirn. »Nicht? Aber du sagtest doch selbst, daß …« »Worte zählen nur für den Augenblick. Du fragtest nach dem Zentralkegel, Atlan. Ich möchte euch helfen, ihn zu finden und zu erreichen.« »Aber eben noch wußtest du nichts von ihm!« »Ich kann euch nichts über den Zentralkegel sagen, aber ich weiß,
wo ihr mehr über ihn erfahren werdet.« »Und wo soll das sein?« »Nehmt mich in eurem Fahrzeug mit, und ich werde euch führen.« Brick machte einen Schritt zurück und streckte abwehrend die Hände von sich. »Den mitnehmen? Der Kerl schmilzt uns doch die ganze Einrichtung zusammen – und uns genauso!« »Ich weiß nicht recht«, sagte Atlan zögernd. Der Feuermensch kam näher. Auch Atlan und Nockemann wichen zurück. Nur Sanny blieb stehen, den Kopf in den Nacken gelegt, bis der Feuerchef nur noch einen Schritt vor ihr stand. »Er ist nicht mehr heiß«, erklärte die Molaatin. »Er scheint abgekühlt zu sein.« »Ihr seht es«, bestätigte der Flammende. »Ich verspreche euch, in eurem Fahrzeug keinen Schaden anzurichten, wenn ihr mich mitnehmt und das müßt ihr, wenn ihr sicher ans Ziel gelangen wollt.« »Das ist nicht wahr«, stöhnte Brick. »Atlan, sag, daß das alles nur ein verrückter Traum ist. Er soll uns gefälligst sagen, wo wir diese Informationen bekommen können, und uns dann in Ruhe ziehen lassen.« Sanny drehte sich zu ihm um, die kleinen Fäustchen in die Seiten gestemmt. »Vorlan Brick, du hast kein Recht, so über ihn zu reden. Ich vertraue ihm.« »Ich denke, wir nehmen ihn mit«, erklärte Atlan. Brick riß den Mund auf, setzte zweimal zu einer heftigen Entgegnung an, schluckte sie hinunter und winkte nur noch ab. Nockemann zwirbelte an seinem Schnauzbart herum und zuckte die Schultern. »Wenn wir im Fahrzeug sind«, verkündete der Feuerchef, »werden meine Feuermenschen das Dickicht über dem Tal verbrennen.«
Dabei blieb es. Brick und Nockemann bestiegen den Shift als erste. Ihnen folgte Sanny. Atlan machte dem Feuerchef eine einladende Geste. Der Leuchtende folgte den anderen mit großer Selbstverständlichkeit. Atlan war nicht sehr überrascht, als er die kleinen Flämmchen auf seinem Körper erlöschen sah. Als er das Luk hinter sich schloß, saß der Feuerchef auf einem Metallsessel und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Seine Umrisse waren nun bereits viel deutlicher zu erkennen, schwach auch erste echte Konturen eines menschlichen Gesichts. Es war warm, aber nicht heiß. »Immerhin sparen wir Energie«, erging sich Brick in Sarkasmus. »Eine menschliche Heizung hat nicht jeder an Bord.« Atlan schwieg und beobachtete, wie die Feuermenschen den Hang wieder hinaufkletterten und sich vom Rand des Kessels aus auf das Holz- und Laubdach warfen. Wo sie auftrafen, fuhren gewaltige Flammenlohen in die Höhe und brachen ganze Fladen brennenden Grüns aus dem Dickicht. Die Feuermenschen, die dort einbrachen und den Halt verloren, stürzten in die Tiefe und verwandelten sich auf dem Fels in lodernde Lachen sich verflüssigender Glut. »Sie sterben«, sage Atlan bestürzt. »Das macht dir gar nichts aus?« »Weshalb denn?« fragte der Feuerchef zurück. »Dafür lebten sie doch.« »Und du?« Er erhielt keine Antwort. Als das überhängende Dickicht vollkommen aufgelöst war, startete Brick den Shift und ließ ihn senkrecht in die Höhe steigen, bis er einige Dutzend Meter über den Wipfeln der Riesenbäume war. »Und jetzt? Welche Richtung, Chef Atlan Solaner?« »Dorthin.« Wie eine überdimensionierte Kompaßnadel wies der Arm des Feuerchefs die Richtung. Brick brummte etwas Unverständliches und flog los. Atlan warf einen letzten Blick zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du sagst gar nichts mehr?« fragte er den sehr schweigsam gewordenen Nockemann. »Ich halte es für das beste«, antwortete dieser. »Denn ich habe eine große Angst.« »So? Welche?« »Daß sich später einmal, wenn wir wieder normal geworden sind, irgend jemand an all das dumme Zeug erinnert, daß wir von uns geben. Stell dir nur vor, irgendwer schreibt einmal eine Chronik über die Abenteuer der SOL, und Millionen lesen von Libellenmenschen, Metallmenschen, Feuermenschen …« »Wer sich darauf einließe«, stellte der Arkonide schmunzelnd fest, »müßte entweder verrückt sein oder ein Genie. Aber immerhin, bevor Rhodan mit der STARDUST zum Mond flog, erfanden die zeitgenössischen Autoren noch ganz andere Geschichten – Science Fiction, Horror, Wildwest …« »Was ist das, Wildwest?« erkundigte sich Brick. »Die Vorstellung phantasiebegabter Schreiber und Filmemacher von der Besiedelung Nordamerikas mit allem, was ihrer Meinung nach dazugehörte: Indianerüberfälle, Schießereien in Saloons, Goldgräberschicksale, berühmte Revolverhelden, und so weiter …« Der Feuerchef drehte sich um. Atlan erschrak ein wenig, als er feststellen mußte, wie sehr sein Gesicht nun schon dem seinen glich. »Du meinst Revolvermenschen?« »Ja«, sagte der Arkonide verblüfft. »Die gibt es hier auch«, erklärte der Feuerchef. »Dort, wo wir jetzt hinfliegen.«
* Brick steuerte blind, nur auf die Kursangaben des Feuerchefs angewiesen. Unter dem Shift zogen unbekannte Gebiete der Landschaft im Nichts dahin. Man war noch über dieser
unglaublichen Welt, aber wo? Sämtliche Navigationseinrichtungen versagten hier. Als der Morgen graute, tauchte die Stadt am Horizont auf, der kein durch Oberflächenkrümmung bedingter Horizont war, sondern einfach die Grenze, bis zu der die atmosphärische Lufttrübung eine klare Sicht gestattete. »Das«, sagte der Feuerchef, »ist unser Ziel, Brisbee.« Was aufgrund seiner Ankündigung bereits zu vermuten gewesen war, wurde zur Gewißheit, als Brick den Shift vor der Stadt sinken und über einigen außerhalb gelegenen Holzschuppen in geringer Höhe kreisen ließ. »Da sind Pferdewagen«, staunte Atlan, »eine alte Postkutsche ohne Räder! Und dort – eine Schmiedewerkstatt. Bei allen Planeten, wirklich und wahrhaftig ein Wildwestdorf!« »Brisbee«, bestätigte der Feuerchef. »Hier leben die Revolvermenschen.« »Wenn mir jemand sagen könnte, was das darstellen soll, wäre ich dankbar«, brummte der Pilot. »Und wo soll ich überhaupt landen?« »In der Stadt«, wies der Feuerchef ihn an. »Auf der Straße.« »Aber da ist niemand zu sehen.« »Sie werden uns begrüßen, wenn wir gelandet sind«, versicherte der Leuchtende. Atlan, dem wieder einmal die phantastischsten Spekulationen im Kopf herumspukten, sah sich gezwungen, seinen Begleitern weitere Erklärungen abzugeben. Die meisten Solaner konnten mit Cowboys, Saloons, Postkutschen und allem, was noch dazugehörte, nichts anfangen. Einige Nostalgiker mochten sich auf dem Schiff alte Videos angesehen haben, Brick und Nockemann aber mit Sicherheit nicht. Brick steuerte das Fahrzeug in die einzige Straße. Rechts und links davon waren Spielkasinos zu sehen, ein Barbierladen, das Büro des Sheriffs, eine Postkutschenstation, ein Saloon wie aus den kitschigsten Wildwestfilmen, die Atlan vor mehr als zwei
Jahrtausenden gesehen hatte. Und nur er hatte eine wirkliche Erinnerung an diese Zeit! Auf keinem anderen Planeten des Universums hatte es jemals solche Ansiedlungen gegeben. Die Schilder trugen die originale englische Beschriftung! Es sind meine Erinnerungen, die hier in Szene gesetzt wurden! machte sich der Arkonide klar. Aber wozu? Er hatte weitergesprochen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Jetzt fragte Nockemann: »Und keine echte Wildweststadt ohne die dazugehörigen Revolvermänner? Das heißt, wir müssen uns auf einiges gefaßt machen. Wenn eines dieser Fossile auftaucht und uns seine Kugeln um die Ohren jagt …« »Wir können davon ausgehen, daß wir zunächst so freundlich empfangen werden wie von den Libellenmenschen und in der Metallstadt, Hage. Dieser Ablauf scheint hier überall gleich zu sein. Wenn die Stimmung gegen uns umschlägt, haben wir hoffentlich genug erreicht, um Brisbee schnell wieder verlassen zu können.« Er legte den Gefährten seine Überlegungen dar und versuchte zu ergründen, woran er sich bezüglich der amerikanischen Pionierzeit noch nachhaltig erinnerte. »Wenn ich recht behalte«, erklärte er, »wird uns der Empfang vor dem Saloon bereitet. Mir imponierten die Daltons und die JamesBrüder, die zwar Gesetzlose waren, aber Berühmtheiten. Ich meine, ich konnte nie akzeptieren, was sie getan haben. Eine Zeitlang wurden sie als Volkshelden verherrlicht, die die Postzüge überfielen und die Beute anschließend unter die Armen verteilten. Die Wirklichkeit war ganz anders. Aber sie waren eben Berühmtheiten. Wahrscheinlich werden sie uns also begegnen. Es gab einen berühmten Schauspieler, der zum Inbegriff des rauhbeinigen Sheriffs überhaupt wurde, John Wayne. Fangt weder mit ihm noch mit den Banditen Streit an. Wenn sie so auftreten, wie ich sie in Erinnerung habe, genügt ein falsches Wort, und die blauen Bohnen
…« »Was?« fragte Brick. »Eine zeitgenössische Bezeichnung für Revolverkugeln. Lande vor dem Saloon, Vorlan. Wichtig ist, daß wir zusammenbleiben.« Und Doc Holiday? Wyatt Earp? Buffalo Bill? Atlan erkannte die Gefahr, die darin bestand, daß er sich schon jetzt auf etwas versteifte, das am Ende ganz anders kommen konnte. Alles, was er in seinem Unterbewußtsein vielleicht kunterbunt durcheinanderwarf, mochte hier Wirklichkeit geworden sein. Brick ließ den Shift auf der Straße aufsetzen und auf den Gleisketten bis zu dem Gebäude weiterrollen, das ihm von Atlan gezeigt wurde. »Wir müssen jetzt aussteigen«, sagte der Feuerchef. Brick schaltete den Antrieb ab. Atlan und Sanny trugen noch ihre kleinen Funkgeräte. Brick und Nockemann rüsteten sich entsprechend aus. Der Empfänger des Shifts blieb aktiviert, so daß die Gefährten über ihn alarmiert werden konnten, sollte die SOL sich melden. Atlan verließ das Fahrzeug als erster, gefolgt vom Feuerchef. Die Straße war menschenleer. Niemand zeigte sich. Dafür drang aus dem Saloon das Geklimper eines total verstimmten Klaviers. Vor einer Bar ein Stück weiter die Straße hinauf waren sechs Pferde angepflockt. Dann taumelte jemand durch die Pendeltür. Der Mann, bucklig und gerade anderthalb Meter groß, hing mit dem Arm an einem der Flügel, in der Hand eine halbvolle Flasche. »Das sind …« Er schraubte sich schwankend in die Höhe, drehte sich um und schrie in den Saloon: »Sie sind da! Die Fremden sind mit der Wells-Fargo-Postkutsche gekommen!« Atlan wußte nicht mehr, ob er weinen oder lachen sollte. Diese Karrikatur einer Wildweststadt war echt, so echt wie die Whiskeyfahne des Buckligen, die ihm entgegenschlug – und doch in dieser ganzen Umgebung so völlig widersinnig.
»Sie halten den Shift für die Postkutsche«, seufzte er. »Feuerchef Atlan Solaner, was werden sie in dir sehen?« »Fragt nicht so dumm«, knurrte der Mann, der dort stand, wo der Feuerchef eben noch zu sehen gewesen war. Er war derselbe, ganz ohne Zweifel, aber wie hatte er sich verändert! Jetzt im vollen Tageslicht, hatte er sein Glühen vollständig verloren – und war Atlans perfektes Ebenbild. Er legte den Zeigefinger der rechten Hand auf seine Brust. »Gut, daß ihr Doc Wright bei euch habt, Grünschnäbel. Ohne mich wäre eurer Leben keinen Cent mehr wert.« »Doc … was?« entfuhr es Nockemann. Er schüttelte den Kopf, setzte sich auf den hölzernen Gehsteig und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ruft mich wieder, wenn das vorbei ist.« Hinter ihm flog die Pendeltür auf. Eine Figur trat aus dem Saloon, die der legendären Buffalo-Bill-Wildwestshow entsprungen sein mußte. Der Mann spuckte aus, schob sich mit einem Finger den breitkrempigen Hut aus der Stirn, stemmte die Fäuste über den beiden Revolvern in die Hüften und schnitt eine wüste Grimasse. »Was ist nun mit euch?« fragte er rauh. »Kommt ihr jetzt rein, oder muß Tompall B. Hickock euch erst Beine machen?« Tompall B. Hickock? Atlan hatte einen Wild Bill Hickock gekannt, aber ein Tompall? »Und das ist der freundliche Empfang, mit dem du rechnetest, Atlan?« fragte Brick sarkastisch. »Doc Wright« blickte schon ungeduldig drein. Atlan sah sich dazu gezwungen, die Initiative zu ergreifen. »Diese Leute hatten eben eine besondere Art von Freundlichkeit«, sagte er. »Doc, du hast uns Informationen über den Zentralkegel versprochen.« »Habe ich. Ihr müßt um sie spielen.« »Was, bitte?« fragte Brick, dem Nervenzusammenbruch nahe. »Wenn das stimmt, was ich befürchte, bedeutet das Poker«, seufzte der Arkonide. »Na los schon, kommt, Jungs!«
Nockemann stand auf. Atlan und Sanny traten an Tompall vorbei. Auch Doc Wright wurde eingelassen, doch als Brick und Nockemann folgen wollten, stellte sich der Revolvermann ihnen breitbeinig in den Weg, die Hände nun auf die Colts gelegt. »Nur die drei«, knurrte er. »Ihr vertretet euch draußen die Füße.« »Aber …!« Blitzschnell waren Tompalls Pranken mit den Revolvern oben. Das kalte Metall der Mündungen drückte sich unter Bricks und Nockemanns Nasen. »Ist das deutlich genug, Bastarde? Wir brauchen euch hier nicht mehr! Haut ab!« Wieder beim Shift, den sie nach dem Verlassen versiegelt hatten, starrten die beiden Solaner wütend zur Pendeltür hinüber, die noch in den Angeln schwang. Im Saloon schien nun Hochstimmung zu herrschen. Als ob ein Bann gebrochen wäre, ertönten Jubelrufe, klirrten Gläser und spielte das verstimmte Klavier zu einer alles andere als lieblichen Frauenstimme. »Freundlicher Empfang, und wir müssen unter allen Umständen zusammenbleiben«, schimpfte Brick. »Weißt du, was, Hage? Wir setzen und jetzt in den Shift und richten das Geschütz genau auf diesen Eingang dort. Und wenn der Kerl Atlan und Sanny auch nur ein Haar krümmt, dann …!« »Dann was?« Nockemann seufzte. »Ich sage dir etwas anderes, Vorlan. Wenn wir schon einmal hier sind, sehen wir uns in der Umgebung um. Erstens können wir in der SOL dann erzählen, wie's auf der Erde im Wilden Westen zugegangen ist, und zweitens …« Nockemann ballte die Fäuste. »Zweitens finden wir vielleicht jemanden, der uns unterstützt, wenn's losgeht. Bei allen lausigen Planeten, es bleibt nicht beim Kartenspielen. Wir hocken auf einem Pulverfaß!« »Da kommen Leute.« Nockemann sah es. Aus den verschiedensten Gebäuden strömten Männer und Frauen – die Männer in Stiefeln, weiten Leinenhosen,
karierten Hemden und Westen, die Frauen in langen Kleidern. »Sie starren uns an wie zwei Außerirdische«, brummte Brick. »Was wir brauchen, sind zünftige Kleider, wie sie sie tragen – und diese Revolver. Wie heißen sie noch?« »Colts. Einverstanden, Vorlan. Wir statten dem Sheriff einen Besuch ab. Der ist nach Atlans Worten eine Art Dorfpolizist und wird uns wohl weiterhelfen.« Sie machten sich auf den Weg und konnten sich kaum der Leute erwehren, die plötzlich auf sie einstürmten und sie zu Whiskey, dubiosen Vergnügungen, zu einem Ritt oder Kuchen und Kaffee einladen wollten. Sie mußten regelrecht fliehen und glaubten, aufatmen zu können, als sie die Tür des Sheriffbüros von innen hinter sich zuwarfen. Die Stimme aus dem Hintergrund nahm ihnen diese Illusion: »Nehmt die Flossen hoch und dreht euch ganz langsam um!«
4. »In Ordnung, Breck«, sagte Brooklyn alias Solania von Terra ungeduldig. »Das hast du uns jetzt schon zweimal eingeschärft. Wir stoßen aus der Korona heraus und sehen uns nach der Geister-SOL um – mit aller gebotenen Vorsicht, versteht sich. Wir werden keine Extratouren unternehmen, sondern wie brave Kinder zurückkehren, falls wir nichts finden.« Die Kommandantin der SOL-Zelle Zwo warf ihren Begleitern einen Blick zu, als wollte sie sagen: »Wofür hält der uns eigentlich?« Hayes, auf einem der Bildschirme neben den Kontrollen der startbereit in ihrem Hangar stehenden Space-Jet zu sehen, verzog keine Miene. »Ihr kommt auch umgehend zurück, falls ihr die andere SOL ausmacht, Solania. Ich sage das nicht zum Spaß. Ich versuche, mich in euch hineinzuversetzen. Einmal draußen, könntet ihr auf den
Gedanken kommen, die Landschaft im Nichts anzufliegen und dort nachzusehen, warum wir seit Tagen nichts mehr von Atlan und den anderen hören.« »Fein, daß du uns diesen Idealismus zutraust, Breck. Wir halten uns an die Order. Noch etwas?« Hayes lächelte schwach. »Nichts mehr. Ihr seid in dreißig Sekunden draußen. Und … paßt bitte auf euch auf.« »Keine Funksprüche, die den Standort der SOL verraten könnten. Wir sind eher zurück, als das Hangarschott sich wieder hinter uns schließen kann.« »Viel Glück«, wünschte der High Sideryt noch und schaltete sich aus. Brooklyn lehnte sich im Kontursitz zurück und sah die anderen drei der Reihe nach an. Dennis Tom und Marlene Lünz waren ehemalige Ahlnaten, ein Pärchen, das Rätsel aufgab. In der SZ-2 wurde gemunkelt, beide hätten verborgene telepathische Fähigkeiten, weil sie fast nie ein Wort miteinander sprachen, wenn sie zusammen waren. Brooklyn war das nur recht. Olaf Lundvar, der vierte im Bunde, würde vermutlich einen neuen persönlichen Rekord aufstellen, wenn er für länger als zwei Minuten einmal den Mund halten konnte. Manchmal war er unerträglich. Er zeigte eine Phantasie wie ein Zwanzigjähriger, dabei war er viermal so alt, doch immerhin ein hochqualifizierter Techniker – sozusagen Mann für alles. Er war eine von Brooklyns »Entdeckungen«, deren berühmteste Insider darstellte – wenngleich die Ex-Magnidin mittlerweile darüber nicht mehr sehr glücklich sein konnte. Sie machte sich insgeheim Vorwürfe. Nachdem Bjo Breiskoll den Beweis dafür geliefert hatte, daß der Insider an Bord der SOL nicht der echte gewesen war, stand nun eindeutig fest, daß Insider doch mit Sternfeuer und Cpt'Carchs Bewußtseinen auf Oggars HORT übergewechselt war.
Der Katzer hatte hinter einer Wandverkleidung in Insiders Kabine einen zwei Meter hohen Parabolspiegel entdeckt, der nichts anderes darstellte als eine Miniaturausgabe des gigantischen Hohlspiegels im 18. Planeten des Glutauge-Systems. Auch er hatte nur aus reinem Nickel bestanden und eine undefinierbare Strahlung abgegeben. Nickel jedoch stand nach den Erlebnissen der Solaner in All-Mohandot für Hidden-X. Mit der Vernichtung des Spiegels hatte sich die Lage an Bord der SOL wieder normalisiert. Die Besatzung war von dem Bann befreit, der sie befallen hatte. Der falsche Insider existierte nicht mehr. Ein akustisches Signal der Hangarkontrolle kündigte das Ende des Countdowns an. Brooklyn schüttelte die Gedanken von sich und konzentrierte sich auf den Start. Das Hangarschott glitt nach oben. Nur starke Sichtfilter verhinderten, daß die Stabsspezialistin und ihre Begleiter von der wabernden Helligkeit der Sonnenkorona geblendet wurden. Gravo-Felder hoben die Space-Jet mit dem Eigennamen STARBRIDE sanft an und schoben sie in den Weltraum. Brooklyn zündete den Antrieb und schaltete auf Autopilot. Die Flugdaten bis zum Austritt aus der Korona waren von SENECA überspielt worden. Die Jet machte einen Satz vom Mutterschiff fort, der von den Andruckabsorbern mühelos aufgefangen wurde. Brooklyn streckte die Beine von sich, wie um zu demonstrieren, daß für sie im Augenblick nichts zu tun blieb, als das Unglück geschah. Wie in einen übermächtigen Sog geraten, wurde das Beiboot aus seinem Kurs gerissen. Marien Lünz schrie gellend auf. Brooklyn berührte instinktiv die Taste in der Kontrolliste der Lehne, die die Gurte hervorschießen und sich um ihren Körper legen ließen. Die STARBRIDE vollführte weitere unkontrollierte Sprünge. Nur das gedämpfte Wabern über der transparenten Kuppelhaube zeigte an, daß sie sich nach wie vor in der Korona Supers befand. Im Funkempfänger waren verzerrte Stimmen zu hören. Brooklyn
starrte entsetzt auf die außer Rand und Band geratenen Anzeigen und schnappte nach Luft. »Was ist das?« schrie sie. »Olaf, du verstehst mehr davon als ich! Was hat das zu bedeuten?« Seine Stimme war kaum noch zu hören im unvermittelt einsetzenden Knistern und Krachen. Metall ächzte. Die Schiffszelle wurde heftig gerüttelt. »Wir haben eine Flugetappe gespeichert!« brüllte der Techniker in das Chaos hinein. »Anscheinend macht unser Antrieb mit, aber nicht die Navigation!« »Was soll das heißen?« Die Antwort war nicht mehr zu verstehen. Ein weiterer Ruck ging durch das Schiff. Brooklyn kämpfte gegen die Panik an, die sie ergriff, als sie die STARBRIDE immer tiefer in die Sonne hineinstürzen sah. Ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein, hatte sie instinktiv sämtliche Schutzschirme aktiviert. Aber was nützte das, wenn sie … »Es zerreißt uns!« schrie Marlene. »Tut doch etwas! Schaltet auf manuelle Steuerung!« »Blockiert!« schrie Brooklyn zurück. Der Schweiß perlte ihr von der Stirn. »Dieses verdammte Ding läßt sich nicht …« Der Rest ging in Tosen und Brausen und in einem Meer aus Licht unter. Die Raumfahrer wanden sich in den Gurten, zuckten und tobten, bis eine gnädige Ohnmacht sie umfing. Das Beiboot wurde von entfesselten Gewalten hin und her geworfen, war nur noch ein Spielball von Licht- und Feuerstürmen, ein Nichts in der Glut der Sonne, die einmal Rettung bedeutet hatte. Und dann war Stille …
* Der Preis dafür, daß die SOL tief in der Sonnenkorona vor einer
Ortung sicher war, bestand darin, daß sie ihrerseits auch keine Ortungen anstellen konnte. Hayes ging unruhig in der Hauptzentrale auf und ab. Immer wieder blickte er auf die Zeitanzeigen. Er hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei dem Unternehmen gehabt und Brooklyn nur widerwillig seine Zustimmung zur Erkundung des sonnennahen Raumes gegeben. »Nun mach dich nicht selbst verrückt, Breck«, sagte Vera Eysen mit leisem Vorwurf. Die Ortungstechnikerin, die für die Dauer von Curie van Herlings Abwesenheit deren Platz eingenommen hatte, schwenkte ihren Sitz vor einer Monitorgalerie herum. »Du solltest Brooklyn schon etwas mehr Vertrauen entgegenbringen.« »Sie hätten längst zurück sein müssen«, antwortete Hayes, ohne sie anzusehen. »Dann haben sie gute Gründe, damit noch zu warten.« »Nenne mir nur einen einzigen.« Sie zuckte die Schultern. Eine halbe Stunde überfällig! Hayes setzte sich und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Ihm entgingen die Blicke nicht, die die anderen ihm zuwarfen, wenn sie glaubten, er wäre mit sich beschäftigt. Vor allem Uster Brick konnte sich nicht verstellen. Die Trennung von seinem Zwillingsbruder war für ihn eine gänzlich neue Erfahrung. Und wenn es nur die Trennung gewesen wäre! Aber seit einer Woche hatte man kein Lebenszeichen von den auf der Landschaft im Nichts Gestrandeten mehr erhalten. Für den Funk galt das gleiche wie für die Ortung. Es mußte schon ein sehr starker Impuls aus nächster Nähe eintreffen, um empfangen werden zu können. Wir sind blind! dachte Hayes verbittert. Blind und taub! Der Stimmungsumschwung an Bord, noch vor Tagen mit großer Erleichterung aufgenommen, wurde nun zum zusätzlichen Problem. Die Solaner waren nun dazu bereit, gegen die Geister-SOL zu kämpfen. Alles war ihnen lieber, als noch weitere Tage in der
Sonnenkorona zu stehen. Aus einigen Abteilungen wurden Unruhen gemeldet. Eine Panik würde unvermeidbar sein, wenn nicht etwas Entscheidendes geschah. Hayes winkte Uster Brick zu sich heran. Der Pilot sprang auf, als hätte er seit langem nur auf dieses Signal gewartet. Sein Blick drückte aus, was er sich vom High Sideryt erhoffte. »Was könnte Brooklyn zugestoßen sein, Uster?« fragte Hayes. »Vermutlich gar nichts, Breck. Vera hat recht. Das Ausbleiben der STARBRIDE muß nichts Schlimmes zu bedeuten haben. Ich könnte mir vorstellen, daß sie die andere SOL entdeckt haben und beobachten, um mit so vielen Informationen wie möglich zurückzukommen.« Aber etwas ganz anderes lag ihm auf der Zunge. Hayes sprach es für ihn aus: »Wir hätten sie nicht schicken sollen, oder? Wir hätten uns selbst hervorwagen sollen, ganz gleich, ob die Parallel-SOL nur darauf wartete oder nicht.« »Ich kann dir nicht widersprechen, Breck«, lautete Bricks Antwort. Gallatan Herts mischte sich ein: »Wir haben einen Kompromiß gemacht, so sehe ich die Sache.« »Und die Solaner?« »Wir führen das Schiff«, sagte Herts schroff. Hayes argumentierte nicht mit ihm. Er sah die stumme Bitte in Usters Augen. Unwillkürlich mußte er an die ständigen kleinen Reibereien zwischen ihm und Vorlan denken, wenn sie sich gegenseitig auf den Arm nahmen, ging es nun um ihren Größenunterschied, um ihre Qualitäten als Piloten oder um ihr Lieblingsthema, die Frauen. Hayes hatte das Gefühl, daß ihn alle Besatzungsmitglieder des Schiffes anstarrten, als verlangte jeder Mann und jede Frau jetzt eine Entscheidung von ihm. Er erhob sich und sagte schwer: »Sie sind nun einmal draußen – und wir dazu verdammt, auf ihre
Rückkehr zu warten. Ich gebe ihnen noch eine Stunde. Sind sie dann nicht zurück, teilen wir die SOL.« »Wenn Brooklyn tatsächlich auf unseren Gegner gestoßen sein sollte«, sagte Herts, »und es zu einem Feuerüberfall gekommen wäre, hätten wir das auf jeden Fall geortet.« Noch ahnte er nicht, daß er damit quasi eine Prophezeiung aussprach.
* Brooklyn schlug die Augen auf. Benommen schüttelte sie den Kopf, sah sich erstaunt um und stellte fest, daß sie, halb vom Sitz gerutscht, in den Sicherheitsgurten hing. Die Erinnerung traf sie schlagartig: Mit einem Ruck schob sie sich bis zur Rückenlehne zurück. Die Space-Jet war in die Sonne gestürzt, immer tiefer in die Glut und die Hitze hinein. Völlig außer Kontrolle geraten, hatte sie von den tobenden Gewalten zerrissen zu werden gedroht. »Aber … wir sind draußen!« stammelte die Ex-Magnidin. Sie wußte nicht, was während ihrer Ohnmacht geschehen war. Sie sah nur, daß die Lichtfilter heruntergefahren waren und die Instrumente wieder normale Werte zeigten. Die STARBRIDE trieb in der Schwärze des Weltraums! »Marlene, Dennis, Olaf! Hört ihr mich! Wir haben es geschafft! Wir sind aus der Sonne heraus!« Lundvar kam als erster der drei zu sich. Nacheinander begannen sich dann auch die beiden anderen zu bewegen. Lundvar beugte sich im Sitz nach vorne und schüttelte fassungslos den Kopf. »Das kann nicht sein, Brooklyn. Das wäre ein zu verrückter Zufall.« »Aber du siehst es doch! Oder wo ist die Sonne?« »Ja, Brooklyn. Wo ist sie?«
Sie stutzte. Wollte er sie zum Narren halten? Dann erst begriff sie. »Wir müßten sie sehen«, flüsterte Marlene. »Die Sonne und die Landschaft im Nichts. Oh mein Gott!« »Und das da«, sagte ihr Partner, »sind keine fernen Sterne.« Er deutete auf einige der gleißend hell schimmernden Punkte um die Space-Jet herum. Sie waren in allen Richtungen zu sehen. »Aber …« Brooklyn lachte unsicher. »Aber wo sind wir dann?« Lundvar bewies nun, daß er seine Phantasie nicht eingebüßt hatte. »Es gibt nur eine Erklärung«, meinte er. »Es hat uns abermals verschlagen. Wir befinden uns in einem anderen Kosmos, wahrscheinlich in einem Paralleluniversum.« Er blickte die anderen provozierend an und nickte bekräftigend. Marlene tippte sich bezeichnend gegen die Stirn. »Du hast eine andere Deutung?« erkundigte sich Lundvar. »Schön, gehen wir ganz systematisch vor. Es ist auszuschließen, daß wir angegriffen wurden, als die Jet außer Kontrolle geriet. Hier.« Er tippte einige Sensoren an. Auf einem Bildschirm erschienen Buchstabenreihen und Zahlenkolonnen. »Unser Antrieb ist in Ordnung. Er arbeitete auch noch, als die Steuerung verrückt spielte. Es handelt sich einwandfrei um einen technischen Defekt am Boot. Keine Fremdeinwirkung, sondern ein Fehler der Technik. Schwer zu verdauen, aber ihr seht, so etwas gibt es auch in der SOL.« Brooklyn winkte ungeduldig ab. »Meinetwegen ist es so. Aber das sagt uns nicht, wo wir sind. Hör mir mit deinem Paralleluniversum auf, Lundvar. Marlene, versuche, die SOL anzufunken.« »Das ist doch sinnlos!« wehrte Lundvar ab. »Wenn ihr mich fragt, sollten wir uns einen dieser Lichtpunkte aus der Nähe ansehen, wenn ich den Defekt behoben habe.« »Wie lange wirst du schätzungsweise brauchen?« »Höchstens eine Viertelstunde.« »Einverstanden.«
Marlene Lünz schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nichts, Solania. Die SOL meldet sich nicht.« »Versuche es weiter. Viel mehr können wir ja ohnehin nicht tun.« Die Ex-Magnidin störte es nicht mehr, daß man sie mit ihrem wirklichen Namen ansprach – Solania von Terra. Die Zeiten, in denen sie ihn verbergen mußte, waren vorbei. »Ich will es eurer Verwirrung zugute halten, daß keiner von euch überhaupt erst auf die Idee kam, das Nächstliegende zu tun«, sagte Dennis Tom. Brooklyn sah ihn irritiert an. »Wovon redest du? Das Nächstliegende ist …« »… festzustellen, welche Ausdehnung unser angebliches Paralleluniversum hat. Ich habe hier die Werte, und ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir stecken.« »Wo?« So wie er sie ansah, wünschte Brooklyn sich, die Antwort nie hören zu müssen. Dennis deutete abermals auf die Lichtpunkte. »Wir befinden uns im Innern einer gigantischen Hohlkugel. Diese Lichtpunkte sind keine Objekte, sondern Öffnungen in dieser Kugel. Durch eine gelangten wir hier herein.« »Aber das ist doch verrückt!« »Das Licht, das wir sehen«, fuhr Tom unbeirrt fort, »ist das Feuer der Sonne. Wir werden es alle akzeptieren müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Wir befinden uns im Innern der Sonne Super. Wir sind tatsächlich in sie hineingestürzt – und sie ist hohl. Der Durchmesser der Hohlkugel entspricht mit ziemlich genau 1,4 Millionen Kilometer fast exakt dem der Sonne.« »Eine hohle Sonne!« lachte Lundvar. Er unterbrach seine Arbeit. »Und da heißt es, ich sei der Phantast!« »Das ist noch nicht alles, Olaf. Hier, sieh dir die Analysen selbst an. Über neunzig Prozent der Innenschale unserer ›Sonne‹ besteht aus blankem …«
»Nickel!« brachte Brooklyn tonlos hervor. »Nickel«, bestätigte Tom. »Und was das bedeutet, dürfte uns allen klar sein.«
5. Doc Wright alias Feuerchef alias Atlan, der Solaner, kam aus dem Hinterzimmer zurück, in das er sich für wenige Minuten zurückgezogen hatte. Atlan staunte nicht schlecht, als sein Ebenbild sich nun einen Stuhl heranzog und an den Spieltisch setzte. Doc Wright war in Cowboykleider geschlüpft. Von seinen Hüften baumelten zwei Colts in verzierten Holstern herab. Er schlug die Beine übereinander und nickte freundlich. »Wir können jetzt anfangen.« Sanny saß neben dem Arkoniden, und ihnen gegenüber der Spieler, der Atlan in diesem ganzen Zirkus am meisten verwirrte. Der Mann war hager, glattrasiert, sehr gepflegt und schweigsam. Sein schwarzer Anzug war maßgeschneidert. Aber Atlan hatte keine Erinnerung an irgendein Vorbild, nach dem dieser Fremde hätte geschaffen worden sein können. Welche Rolle spielte er also? Atlan gewann den Eindruck, daß alle anderen Wildwestfiguren in Brisbee nur Beiwerk waren. Er würde mit diesem Mann um die in Aussicht gestellten Informationen zu spielen haben. Dabei zweifelte er nicht daran, daß sein Gegner alles das über das Pokerspiel und dessen Regeln wußte, das ihm selbst bekannt war – mit allen erlaubten und unerlaubten Tricks. Der Spieler blickte ihn abwartend an, mit ausdruckslosem Gesicht, eben dem berühmt-berüchtigten »Pokerface«. »Ich spiele nicht ohne meine Freunde«, sagte der Arkonide hart. »Holt sie herein, dann bin ich bereit.« »Du spielst jetzt!« fuhr Tompall ihn an, der sich breitbeinig hinter ihm aufgebaut hatte.
Der Spieler machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Misch dich hier nicht ein, Tompall. Ich dachte, das wäre zwischen uns geklärt.« Was? dachte Atlan. »Hör zu, Spieler!« grunzte Tompall. »Das paßt mir nicht!« Er stieß Atlan etwas Hartes in den Rücken. »Los jetzt! Tompall sagt nie etwas zweimal!« Blitzschnell war Atlan in der Höhe, wirbelte herum und schlug mit der linken Hand den Colt zur Seite. Bevor Tompall sich's versah, krachte die Faust des Arkoniden gegen sein Kinn. Tompall taumelte zurück, wobei er zwei Tische mitriß. Noch im Fallen zog er den zweiten Revolver. Aber da war Atlan schon über ihm und zerrte ihn am Hemd in die Höhe. Im nächsten Moment fand er sich auf der polierten Theke wieder. Atlan holte Schwung und ließ ihn bis an das andere Ende gleiten. Flaschen und Gläser zersprangen klirrend am Boden. Tompall landete unsanft zwischen zwei Gästen. »Noch jemand, der Streit sucht?« fragte der Arkonide in die Runde. Einige Männer klatschten Beifall und grinsten höhnisch über Tompalls Mißgeschick. Dolly am Klavier warf Atlan betörende Blicke zu. Der Barkeeper kam hinter der Theke zum Vorschein und bewaffnete sich mit Schaufel und Handfeger. »Also schön.« Atlan setzte sich wieder an den Spieltisch. Doc Wright verzog beeindruckt den Mund. In einer Hand schwenkte er ein Bündel Geldscheine. »Zehntausend Dollar für dich«, sagte er. »Ich strecke sie dir vor. Nun die Regeln. Für jede weiteren tausend Dollar, die du dazugewinnst, hast du eine Frage frei.« Er kicherte. »Selbstverständlich kriege ich das Geld später wieder von dir zurück. Ich kann dir also nur raten, gut zu spielen – verdammt gut.« Sollte das eine Drohung sein? Und woher hatte er die Scheine?
Atlan nahm sie entgegen und befühlte sie. Selbst das Papier schien echt zu sein, geradewegs aus der amerikanischen Notendruckerei. Er versuchte nicht mehr, sich darauf einen Reim zu machen. Mit Sanny an seiner Seite sollte es ihm nicht schwerfallen, jedes Spiel zu gewinnen, wenn die Karten es nur irgendwie zuließen. »Ich fange nicht ohne meine Freunde an«, wiederholte er. »Damned, bist du störrisch!« rief Doc Wright ungehalten aus. »Auch das gehört zu den Regeln. Ihr beide gegen uns zwei. Deine Freunde bleiben draußen! Was soll ihnen schon geschehen? Sieh dich um! Außer Tompall haben dich alle freundlich empfangen, und genauso geht es Brick und Nockemann. Da, dein Sprechgerät. Rufe sie damit und überzeuge dich selbst!« Sanny nickte dem Arkoniden zu. Er rief über Funk nach den Ausgesperrten. Es dauerte eine Weile, bis Nockemann sich meldete und versicherte, daß es keinerlei Schwierigkeiten für ihn und Brick gäbe. Sie wollten sich etwas in der Stadt umsehen und dann zum Shift zurückkommen. »Beruhigt?« fragte der Spieler. Atlan zuckte die Schultern und warf einen Blick zurück auf Tompall. »Nicht beruhigt«, sagte Atlan, »aber je eher wir hier fertig sind, desto besser für uns. Wer gibt?« Höflich lächelnd reichte ihm der Spieler die Karten. Atlan mischte wie ein alter Routinier und teilte aus.
* »So ist es recht«, sagte der ganz in dunkles Leder gekleidete Jüngling mit dem zerknautschten Hut und dem Stern auf der Weste, nachdem Hage Nockemann das Armbandgerät ausgeschaltet hatte. »Stört eure Freunde jetzt nicht beim Spiel. Um sie kümmere ich
mich später, wenn ihr am Galgen baumelt.« Nockemann und Brick sahen sich an. Beide hatten die Hände noch über den Kopf gehoben. Das Gewehr des Jungen senkte sich um keinen Zentimeter. Er war höchstens achtzehn Jahre alt und grinste frech und verschlagen. Brick bog vorsichtig den rechten Zeigefinger nach unten. »Nun mach keinen Unsinn, Junge. Bist du hier der Sheriff?« »Sheriff? Ich?« Der Halbwüchsige kicherte albern. »Wegen dem Stern, eh? Den habe ich dem alten Trottel dort drinnen abgenommen. Nur so zum Spaß, versteht ihr? Und zum Spaß werde ich euch und eure Freunde auch hängen sehen. Ihr kennt mich nicht?« »Müßten wir das?« fragte Brick Nockemann. »Ich bin Billy, und jedermann kennt Billy the Kid!« »Ja!« rief es aus einer Zelle. »Das verzogenste, dümmste und schießwütigste Bürschchen im ganzen Westen! Nehmt euch vor ihm in acht, Leute! Der …« Für einen Moment nur war Billy unaufmerksam. Brick stürzte vor, schlug den Gewehrlauf zur Seite und riß den Jüngling von den Beinen. Dann lag er über dem Knie des Piloten und bekam vielleicht die erste ordentliche Tracht Prügel in seinem Leben. Nockemann hob das Gewehr auf, begutachtete es und berührte dabei versehentlich den Abzug. Er erschrak fast zu Tode, als die Ladung losging und dort, wo die Kugel einschlug, der Putz von der Wand gesprengt wurde. »Himmel!« entfuhr es ihm. »Das Ding funktioniert wirklich! Wenn er damit auf uns geschossen hätte …!« Brick wurde von Billy in den Arm gebissen, schrie auf und starrte entgeistert auf die dunkelrot anlaufenden Zahnabdrücke unter dem Ärmel der Kombination. Nockemann löste vor lauter Schreck noch einen Schuß aus. Billy war auf den Beinen und rannte zur Tür. Von draußen war Stimmengewirr zu hören, dann Billys Gekreische: »Kommt her, Leute! Die Kerle haben den Sheriff erschossen!«
»Das kann doch nicht wahr sein!« knurrte Brick. »Ich glaube, wir sollten schleunigst zum Shift zurück.« Sie folgten dem Knaben ins Freie. Die Straße war wie leergefegt. In etwa dreißig Metern Entfernung stand Billy, die Arme von sich gespreizt. Köpfe von Schaulustigen lugten halb hinter Säulen oder aus Fenstern hervor. »Ich gebe euch eine Chance!« schrie Billy. »Ihr könnt beide gleichzeitig gegen mich antreten! Zieht jetzt!« »Verdammt, Vorlan, du hättest ihm auch die Revolver abnehmen sollen. Was tun wir?« Sie hatten schon etwas getan, nämlich genau das Falsche, indem sie vorsichtig weitergegangen und in der Mitte der Straße stehengeblieben waren. Aber woher sollten sie auch schon gewußt haben, was ein Pistolenduell in einer Wildweststadt war? »Zieht endlich, ihr feigen Kojoten!« »Wir haben keine Wahl mehr, der macht ernst«, flüstere Nockemann. »Wir paralysieren ihn.« »Es scheint hier so zu sein, daß der eine den anderen ungestraft erschießen darf, wenn der erst einmal die Waffe gezogen hat«, flüsterte Brick zurück. »Warum sonst ist er so versessen darauf, daß wir's als erste tun?« »Zieht, oder soll ich euch tanzen lassen?« Die Solaner wunderten sich noch darüber, was Billy wohl damit meinte, als die Kugeln auch schon vor ihnen in den Staub peitschten. Nockemann schrie auf und sprang von einem Fuß auf den anderen. Brick blieb stehen, preßte die Lippen aufeinander und sah sich für eine Weile an, wie Billy johlte und lachte, während die Kugeln zwischen seinen Beinen pfiffen. »Jetzt reicht es!« Brick riß den Kombistrahler aus dem Gürtel, schaltete blitzschnell auf Lähmung und feuerte. Eine Kugel pfiff an seinem linken Ohr vorbei. Dann lag Billy the Kid im Staub. Bei den Häusern wurde Raunen laut. Ganz langsam kamen die
Bewohner von Brisbee aus ihren Verstecken und scharten sich um den Paralysierten. Brick und Nockemann traten vorsichtig hinzu. Auch der Genetiker hatte nun seine Waffe in der Hand. »Billy ist tot!« schrie jemand. »Der Fremde war schneller als Billy!« »Was soll das?« knurrte Brick. »Er ist doch nicht tot, ihr Narren! Untersucht ihn, dann …« Er kam nicht weiter zu Wort. Starke Arme griffen nach ihm und hoben ihn in die Höhe. Brick und Nockemann wurden auf Schultern und im Triumph durch Brisbee getragen. »Anscheinend haben wir ihnen einen Gefallen getan«, rief Nockemann. »Vorlan, hier bist du ein Held, wenn du einen anderen tötest!« »Im Augenblick soll mir das egal seih, Hage! Ich wünsche mir nur das eine, wieder im Shift zu sitzen – oder besser noch in der SOL!« Aber dazu, dachte er grimmig, müßten wir sie alle lähmen!
* Die Pendeltür des Saloons flog auf. Ein völlig außer Puste geratener Mann stolperte bis zur Theke, sah sich um und goß sich den Inhalt aller erreichbaren Gläser in die Kehle, ehe er schrie: »Die … die … Fremden! Einer von ihnen hat Billy umgelegt!« Atlan sprang auf. Der Name Billy allein genügte, um in ihm ungute Assoziationen auszulösen. Natürlich hatte er die Schüsse gehört, aber nicht die Solaner damit in Zusammenhang gebracht. »Was hat er?« kam Tompall, der sich mit einem Messer in seinen Rücken geschlichen hatte, seiner Frage zuvor. Er starrte den Mann an der Theke ungläubig an. »Billy, the Kid?« »Der Fremde war viel schneller als er! So einen Schuß habe ich überhaupt noch nie gesehen. Billy fiel um, ohne daß es krachte! Und er hat keine Schramme abbekommen, rührt sich aber nicht mehr!« »Es gibt keinen Schnelleren als mich!« brüllte Tompall, warf das
Messer fort und stürmte aus dem Saloon. »Setz dich wieder hin«, sagte der Spieler ruhig. »Dein Blatt.« Atlan hielt seine fünf Karten noch in den Händen. Auf dem Tisch lag ein kleiner Haufen Geldscheine, die er mit Sannys Hilfe schnell hatte gewinnen können. Die Molaatin konnte als Paramathematikerin leicht jede Kartenhand »berechnen« und Atlan durch einen oder zwei verdeckte Tritte gegen das Schienbein bedeuten, ob er mithalten durfte oder nicht. Atlan legte die Karten ab. »Wir spielen weiter, sobald ich zurück bin«, erklärte er abweisend. »Meine Geduld ist zu Ende. Ich muß wissen, was draußen vorgeht.« »Das ist schade«, sagte Doc Wright. »Du hast so viele Antworten gewonnen …« »Aber noch keine erhalten! Das holen wir nach, wenn ich zurück bin.« Er griff nach dem Geld und steckte sich die Scheine ein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm er Sanny bei der Hand und verließ den Saloon. »Wenn du das Spiel unterbrichst, hast du das Recht auf Fragen verwirkt!« schrie Doc Wright hinter ihm her. Er winkte nur ab – und blieb starr vor Schreck stehen, als er Tompall und Brick allein auf der Straße sah. »Zieh!« brüllte der Revolverheld. »Nicht, Vorlan!« rief Atlan. Die Warnung kam zu spät und war überdies überflüssig. Tompall schien an diesem Tag vom Pech verfolgt zu sein. Er riß den Colt aus dem Holster, doch als er abdrückte, kippte die Trommel aus dem Rahmen. Brick paralysierte ihn – und hätte damit nun wohl endgültig unsterblichen Ruhm im Wilden Westen der Landschaft im Nichts erlangt gehabt, wäre Atlan bereit gewesen, auch nur noch für eine Minute länger als unbedingt erforderlich in diesem Tohuwabohu zu verweilen. »Hage!« rief er Nockemann zu, der wie unbeteiligt in einem
Lehnstuhl auf der gegenüberliegenden Veranda saß und die Beine auf ein Geländer gelegt hatte. »Komm her! Wir holen uns jetzt die Antworten!« »Ich bin nicht mehr hier!« kam es von Nockemann zurück. »Macht das allein, ich habe genug.« Er winkte mit einer Flasche herüber und stieß einen Rülpser aus. »Du bist betrunken!« »Und wenn schon! Dieses Tollhaus läßt sich nur betrunken ertragen! Auch einen Schluck? Nein?« Nockemann setzte die Flasche an. Atlan war bei ihm und riß sie ihm aus der Hand. Brick konnte sich mit Mühe der Begeisterungsstürme seiner Bewunderer erwehren. Erst mit einigen gezielten Faustschlägen vermochte er sich einen Weg zu den Gefährten zu bahnen. »Du hörst jetzt auf damit, Hage. Wir gehen in den Saloon und machen dem Spiel ein Ende. Ihr beide haltet mir den Rücken frei. Paralysiert jeden, der Ärger machen will.« »Na endlich«, gab Brick erleichtert von sich. »Ärger«, kicherte Nockemann. »Wo hier doch alle so nett sind? Vorlan ist ein Held, Atlan, wußtest du das schon? Weil er den Jungen gar nicht erschossen hat, aber …« Der Arkonide sah die Pferdetränke am Ende des Geländers. »Hör zu, Hage. Du wunderst dich über die hiesigen Bräuche? Ich zeige dir noch einen.« Als er dem Genetiker wieder aus der Tränke half, schien dieser wenigstens etwas ernüchtert. Er schüttelte sich und fluchte lauthals. »In Ordnung. Sehen wir zu, daß wir's hinter uns bringen. Aber darüber reden wir noch, Atlan!« Sie kehrten in den Saloon zurück. Tompall lag friedlich paralysiert im Staub, von niemandem mehr beachtet. Der Spieler und Doc Wright warteten am Tisch. Brick und Nockemann stellten sich an die Theke und hielten die Strahler auf die Anwesenden gerichtet. Der Saloon hatte sich gefüllt, und immer
noch kamen Schaulustige herein. Eine dichte Menschentraube bildete sich um den Spieltisch. Atlan packte die Geldscheine aus und zählte seinen Gewinn. »Fünfzehntausend«, stellte er fest. »Fünftausend dazugewonnen, also fünf Fragen und fünf Antworten.« Doc Wright machte eine abwehrende Handbewegung. »Vergiß es. Ich sagte doch, daß du das Spiel unterbrochen und das Recht auf Fragen dadurch …« »Dann spielen wir jetzt um dieses Recht! Nur wir beide, Doc!« »Davon war nicht die Rede!« Atlan legte den Kombistrahler vor sich auf die Tischplatte. »Du scheinst nicht begriffen zu haben, daß wir jetzt die Regeln diktieren, Doc. Entweder spielst du mit mir, oder wir knüpfen dich ganz einfach am nächsten Baum auf!« Er drehte sich halb um. »Holt die Stricke!« »Schon gut!« sagte sein Ebenbild schnell. »Ihr würdet es wirklich tun? Verdammt, dann her mit den Karten!« Wright besaß noch ganze dreitausend Dollar, die im Lauf der nächsten halben Stunde den Besitzer wechselten. »Acht Fragen nun«, sagte Atlan. »Ich gebe mich noch nicht geschlagen.« Doc Wright stand auf und zog sich die Wildwestmontur aus. Sanny starrte ihn ungläubig an. Er trug keine Unterwäsche darunter, sondern nur die gleiche Kombination wie Atlan. »Meine Kleider«, knurrte Atlan II. »Die sind tausend Dollar wert – und mein letzter Einsatz.« Der Arkonide zögerte. Bevor der Feuerchef aus dem Hinterzimmer als Westmann verkleidet zurückgekommen war, war er nackt gewesen. Woher hatte er nun diese Kleidung? Was hatte das zu bedeuten? Er wollte sich nicht damit aufhalten, eine Antwort darauf zu finden, die er auch vermutlich nie bekommen würde. Er nickte und teilte die Karten aus. Das Stimmengemurmel im Saloon erstarb.
Dutzende von Augenpaaren waren auf die Hände der Spieler gerichtet. Atlan sah auf sein Blatt – zwei Könige, drei Damen … Doc Wright verzog keine Miene. »Du nimmst wieviel neue?« Keine! Hatte der Arkonide schon auf den Lippen, als Sanny ihn unter dem Tisch leicht anstieß – zweimal. Das hieß, daß der andere bessere Karten hatte. Atlan legte zwei ab und zog zwei neue. Er ließ sie verdeckt und musterte den Doc. Doc nahm nur eine Karte. Für einen Moment nur zuckte es um seine Mundwinkel. Dann grinste er breit und legte für jeden sichtbar auf den Tisch, was er hatte. »Straight!« lachte er triumphierend. »Wenn du mir jetzt mein Geld wiedergeben würdest?« Atlan legte die drei Damen hin, griff nach den verdeckten Karten und drehte sie langsam um. »Vier!« sagte der Spieler, der zurückgelehnt und mit verschränkten Armen dagesessen hatte, als ginge ihn das alles nichts mehr an. »Das ist merkwürdig.« »Was ist an vier Damen merkwürdig, außer daß sie mehr zählen als ein Straight?« fragte Atlan ungehalten. Blitzschnell fuhr die Hand des Spielers unter die Platte und kam mit einem Revolver wieder zum Vorschein. Mit der anderen zog er eine Karte aus dem Stapel. »Diese Dame hier! Du hast falsch gespielt, mein Freund, und dafür bezahlt man hier bei uns mit …« Sein Finger krümmte sich um den Abzug, doch er kam ebensowenig zum Schuß, wie er den Satz vollenden konnte. Brick war da und paralysierte ihn. Der Spieler sank in sich zusammen. Brick machte einen Satz über den Tisch, zerrte ihn in die Höhe und schüttelte ihm die Karten aus den Ärmeln und der Jacke. »Er hat betrogen!« schrie jemand. »Wo ist der Strick! Er soll
hängen!« Atlan riß endgültig der Geduldsfaden. Er griff nach dem Strahler, nickte den Solanern grimmig zu und paralysierte jeden außer Doc Wright, der nicht schnell genug aus dem Saloon heraus war. Wright wollte fliehen. Nockemann stellte ihm ein Bein. »Und jetzt«, sagte Atlan, »wo wir unsere Ruhe haben, wirst du mir die Fragen beantworten und alle Informationen geben, die du uns versprochen hast!« »Das kann ich nicht«, ächzte der Doc. »Nur er hätte es gekonnt, deshalb brachte ich euch ja hierher.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den gelähmten Spieler. »Selbst schuld. Warum mußtet ihr auch …?« »Soll das heißen …?« Atlan starrte den Mann an, drehte sich um und schrie in maßloser Wut die Wände an: »Wer hier in diesem Nest ist denn eigentlich noch normal? Er soll uns über den Zentralkegel Auskunft geben können, er allein? Verdammt, ihr seid alle doch nur Projektionen von Hidden-X!« Er wußte selbst nicht, was plötzlich über ihn gekommen war, und er kam auch gar nicht mehr dazu, sich darüber Gedanken zu machen. Doc Wright war leichenblaß geworden, knickte in den Knien ein und fiel dem Arkoniden in die Arme. Im gleichen Moment flog die Pendeltür auf. Diesmal war es nicht Tompall, der einen schweren Colt auf Atlan richtete und laut brüllte: »Zieh, Fremder!« Die Gestalt in der Westernmontur war niemand anderer als Gammler, Tdibmufs kauziger, verrosteter, einarmiger Roboter! Atlan begriff augenblicklich, daß sich die Situation grundlegend geändert hatte. Ihm schoß durch den Kopf, daß nur er mit seinem unbedachten Ausbruch den Roboter auf den Plan gerufen haben konnte. Und Gammler wartete nicht, bis er oder einer seiner Begleiter die Waffe gegen ihn richten konnte. Er feuerte und traf.
6. »Fertig«, sagte Olaf Lundvar. »Die STARBRIDE wird fliegen wie auf ihrem Jungfernflug.« »Ich wußte nicht, daß du auch witzig sein kannst«, bemerkte Brooklyn, während sie die teilweise erneuerten Systeme einer Überprüfung unterzog. »Bin ich auch nicht – normalerweise.« Dieses und ähnliche Wortgefechte dienten der Ablenkung von den ungeheuren Konsequenzen ihrer Entdeckung. Niemand zweifelte mehr daran, daß man sich tatsächlich im hohlen Innern Supers befand. Das war ebenso akzeptiert wie die Nickelbeschichtung der Innenfläche. Diese ganze Sonne war nichts als ein gigantischer Hohlspiegel, ein weit größerer noch, als der achtzehnte Planet des Glutauge-Systems es gewesen war. Auch auf die Frage, was von hier aus projiziert wurde, gab es kaum mehr als eine mögliche Antwort. Und jeder der vier Raumfahrer wußte, wie wichtig es für die SOL und alle ihre Bewohner war, daß die Verantwortlichen des Schiffes so schnell wie möglich davon erfuhren. »Wir haben keine andere Wahl, oder?« fragte Brooklyn überflüssigerweise, nachdem sämtliche Tests zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen waren. »Wir müssen durch eine dieser Öffnungen zurück.« »Es sind insgesamt siebzehn«, stellte Dennis Tom fest. »Es muß schon ein unglaublicher Zufall gewesen sein, daß wir durch eine von ihnen hereinstürzten. Ich möchte die Wahrscheinlichkeit dafür gar nicht erst nennen, daß wir durch die gleiche wieder herauskommen.« »Als ob das unser größtes Problem wäre«, wehrte die ExMagnidin ab. »Wir sind noch nicht draußen.«
»Dann bring uns raus!« flehte Marien Lünz. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte!« Dennis legte ihr eine Hand auf den Arm. Brooklyn und Lundvar nickten sich knapp zu. »Wir versuchen es mit dem da«, entschied sie. »Das Loch, das uns am nächsten ist.« Die Space-Jet nahm langsam Fahrt auf. Die Lichtfinger der Scheinwerfer durchschnitten die Schwärze und wurden dort, wo sie viele Kilometer neben der Öffnung auftrafen, von dem blanken Nickel nach allen Seiten hin reflektiert. »Das dürfte nicht sein«, überlegte Brooklyn laut. »Die Strahlen müßten gebündelt nach einer Seite hin zurückgeworfen werden.« »Ja«, stimmte Lundvar zu. »Als ob der Hohlspiegel ein Eigenleben besäße.« »Oh, Olaf, bitte!« Inzwischen war bekannt, daß jede der siebzehn Öffnungen einen Durchmesser von etwas weniger als fünf Kilometern besaß. Dennoch waren sie nichts weiter als winzige Leuchtpunkte. Das »Loch« voraus wuchs nur allmählich zu größerer Helligkeit und Ausdehnung an – wenn auch nur in der Wahrnehmung der Solaner. Brooklyn wollte kein unnötiges Risiko mehr eingehen. Es stand mehr auf dem Spiel als nur ihr Leben. Sie hatte ihre Wahl willkürlich getroffen und gab sich nicht der Hoffnung hin, daß das am wenigsten weit entfernte Loch auch das sein mußte, durch das sie ins Sonneninnere verschlagen worden waren. Je näher sie der Öffnung kamen, desto mehr versteiften sich die Raumfahrer. Selbst Lundvar zog es jetzt vor, zu schweigen. Brooklyn stoppte die STARBRIDGE, als die Entfernung nur noch einhundert Kilometer betrug. Sie las die Informationen ab, die die Positronik aus den ständig einlaufenden Meßwerten ableitete. Was sie befürchtet hatte, fand seine Bestätigung. »Eine Vielzahl von unidentifizierbaren energetischen und
hyperenergetischen Strahlungen im Zentrum des Loches«, sagte sie. »Oder kann einer von euch etwas damit anfangen?« »Ich bin lieber still«, erklärte Lundvar. »Wir sind hier hereingekommen und kommen auch wieder hinaus«, meinte Tom. »Laß die Aufzeichner laufen, Solania. In der SOL können sich die Experten dann die Köpfe zerbrechen.« »Wenn wir die SOL jemals wieder …« Brooklyn brach ab und verwünschte sich selbst für ihre Skrupel. In einem Anflug von Trotz beschleunigte sie das Beiboot mit Höchstwerten und jagte es auf das grelle Wabern zu. Die Lichtfilter zogen sich über die Transparentkuppel. Dann ging alles viel zu schnell, um von menschlichen Sinnen noch aufgenommen und verarbeitet werden zu können. Die STARBRIDE schoß in die Glut der Korona hinein, wurde durchgerüttelt und schien unter dem jäh einsetzenden Ansturm entfesselter energetischer Gewalten auseinandergerissen zu werden. Brooklyn hielt den Atem an, fühlte, wie sich die Gurte in ihren Körpern schnitten, und sah die Belastungsanzeigen der Energieschirme in die Höhe schnellen. Als die Jet einen weiteren, verheerenden Stoß erhielt, schloß sie die Augen. Der Antrieb schob sie voran, durch die Gasstürme und Gewalten, für die sie nicht geschaffen war. Es nahm kein Ende, und just in dem Augenblick, in dem die Solanerin bereit war, mit ihrem Leben abzuschließen, wichen die Gasschleier vor dem Bug zur Seite. Die STARBRIDE war im freien Weltraum des Miniatur-Universums. Lundvar war der erste, der seine Sprache wiederfand. »Wir haben es geschafft, Kinder!« rief er enthusiastisch aus. »Bei allen Planeten, wir sind draußen! Und da ist die SOL!« Sie alle sahen die gewaltige Hantel, wie sie majestätisch im Nichts ihre Bahn zog. Brooklyn spürte einen Kloß im Hals und kämpfte gegen die Tränen an. Dieses Schiff, ihre Geburtsstätte und Zuflucht … Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß.
»Unsere SOL steht in der Korona, nicht wahr?« flüsterte Marlene, und es war eine Feststellung, keine Frage. »Breck würde nicht ohne uns aufbrechen. Das ist die andere, die Geister-SOL.« Und wenn es noch einer Bestätigung bedurft hatte, so lieferte das mächtige Schiff sie. Brooklyn reagierte so schnell, wie es einem Menschen eben möglich war. Doch das reichte nicht. Als sie noch den Fluchtkurs programmierte, erfolgte der erste Feuerschlag des unheimlichen Gegners. Brooklyns letzter bewußter Gedanke galt dem Hohlspiegel im Innern der Sonne, den Unmengen von Nickel, Hidden-X. Alles um sie herum versank in einem Meer von blendender Helligkeit.
* Von der Stunde, die Breckcrown Hayes sich selbst als Frist gesetzt hatte, waren 58 Minuten verstrichen, als die Orter ansprachen. Hayes warf Herts einen schnellen Blick zu und erinnerte sich an die letzten Worte, die der Leiter der Hauptzentrale von sich gegeben hatte. Noch bevor er sich vergewissern konnte, daß seine böse Befürchtung zutraf, gab Hayes Alarm für die SOL. Insgeheim hatte niemand mehr damit gerechnet, daß die STARBRIDE vor Ablauf der Frist noch auftauchen würde. Das Abkopplungsmanöver der SZ-2 war vorbereitet, jeder Mann und jede Frau auf ihrem Posten. »Wir fangen etwas auf!« rief Vera Eysen. »Es kommt nur ganz schwach herein, aber das ist ein Notruf! Ein von der Positronik der STARBRIDE ausgelöster automatischer Notruf!« Das beseitigte die letzten Zweifel. Ein solches Notsignal wurde nur gegeben, wenn kein Besatzungsmitglied mehr dazu in der Lage war, sich selbst über Funk zu melden.
»Keine Energieechos mehr!« meldete Herts. »Offenbar hat dem Gegner ein Feuerschlag genügt. Hier kommt die Auswertung. Impulsgeschütz, Breck!« Der High Sideryt ballte die Fäuste. »Dann ist es soweit. Wir holen die Jet. Die SOL bleibt zusammen, bis wir ein klares Bild haben. Uster, bring uns aus der Korona heraus. Diesmal bin ich nicht mehr bereit, irgendwelche Rücksichten zu nehmen. Alle Gefechtsstationen sind zu besetzen. Falls wir dazu gezwungen werden, uns zu teilen, haben die Kommandanten der Zellen völlig freie Hand und nur den Erfordernissen der Situation zu gehorchen. Wir machen dem Spuk ein Ende!« Er hatte das Gefühl, als ob ihm eine zentnerschwere Last von den Schultern fiele. Das Versteckspiel war vorbei. Hayes wußte die gesamte Besatzung des Schiffes hinter sich und seiner Entscheidung, die er so lange vor sich hergeschoben hatte. Genauso klar war ihm jedoch, daß es in diesem bevorstehenden Kampf SOL gegen SOL nur einen Sieger geben würde. Seine Befehle wurden weitergeleitet. Hayes setzte sich neben Brick in den zweiten Pilotensessel. Das Schiff nahm Fahrt auf. Aus den Zentralen der Zellen liefen die Bestätigungen ein. Die SZ-2 konnte innerhalb kürzester Zeit abgekoppelt werden. Uster Brick wirkte ruhig. Nichts verriet, was in diesen Minuten wirklich in ihm vorging. Hayes mußte ihn bewundern, wie er mit Unterstützung SENECAS dieses gigantische Raumschiff fast ohne jede weitere Hilfe aus der Sonnenkorona herausführte. Dann teilten sich die Gasschleier. Auf den Bildschirmen stand die mächtige Hantel der Parallel-SOL. Orter und Massetaster erwachten zu neuem Leben. Die Stabsspezialisten schrien für einen Moment durcheinander, so daß kaum ein Wort zu verstehen war. Hayes sprang auf und lief zu Vera Eysen. »Die STARBRIDE«, sagte die Solanerin hastig. Die Taster zeichneten die Umrisse der Jet auf einen Monitor. »Sie treibt antriebslos im Raum – und ohne Schutzschirme.«
Hayes biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. »Das läßt uns keine andere Wahl«, knurrte er. »SZ-2 abkoppeln! Wir geben ihr Feuerschutz, soweit es uns möglich ist. SZ-1 zum Abkoppeln vorbereiten! Zwo nimmt die Jet auf. Und wir …« Die Geister-SOL ersparte ihm alle weiteren Worte. Ohne Vorwarnung schlugen die Strahlbahnen in die Paratron- und HÜSchirme der SOL ein, noch während Hayes' Anordnungen weitergeleitet wurden. »Sie schleust ihre Beiboote aus!« rief Herts. »Feuer erwidern!« befahl Hayes. »Auf jedes Ziel und mit allem, was uns zur Verfügung steht!« Das Duell der Giganten entbrannte mit mörderischer Wucht. Grelle Energiebahnen durchschnitten die Schwärzte des Alls. »Alle Boote zum Einsatz fertigmachen!« Hayes zuckte leicht zusammen, als die ersten angreifenden Korvetten und Space-Jets des Gegners in atomarer Glut vergingen. Tat er das Richtige? Er war für einen Augenblick nahe daran, seinen Befehl zu widerrufen und nur die Paralysegeschützte einsetzen zu lassen. Die ersten Treffermeldungen belehrten ihn sogleich wieder eines Besseren. Dieser Kampf mußte bis zum bitteren Ende ausgefochten werden. Wer immer die Geister-SOL kommandierte, kannte keine Skrupel – und die eigenen konnten tödlich sein. Die SZ-2 löste sich und nahm feuernd Fahrt auf.
* Brooklyn kam zu sich, als jemand heftig an ihren Schultern rüttelte. Schleier tanzten vor ihren Augen, verwaschene Schemen, aus denen sich erst allmählich ein klares Bild herauskristallisierte. Sie blickte in Lundvars verzerrtes Gesicht – und erschrak heftig. Es gab keine Beleuchtung mehr in der STARBRIDE. Sie war
ausgefallen wie auch die künstliche Schwerkraft. Lundvar hielt sich an der Lehne seines Sitzes fest, um nicht davonzuschweben. Was sein Gesicht und seine Gestalt gespenstisch beleuchtete, waren die Lichter der SOL, die wie eine Wand vor der Jet stand und sich noch weiter heranschob. »Endlich!« rief Lundvar aus. »Hörst du mich jetzt?« Sie nickte benommen, allein von den Gurten im Sitz gehalten. »Die SOL«, flüsterte sie. »Aber … welche?« »Unsere, Brooklyn! Diesmal ist es unsere – vielmehr nur die SZ-2. Der Rest von ihr kämpft gegen die andere.« Sie hatte Mühe, ihn zu begreifen. »Dann hat uns das gerettet?« »Kaum, Brooklyn. Ich war ja selbst ohnmächtig, und Dennis und Marlene sind es noch. Ich kam gerade rechtzeitig zu mir, um die SOL aus der Korona kommen zu sehen. Wir waren doch nicht so weit von ihr entfernt, wie wir gedacht hatten. Der erste Feuerschlag der Geister-SOL traf uns – zwar nicht voll genug, um uns aus dem Universum zu pusten, aber doch so, daß unsere schöne STARBRIDE nicht mehr als ein Wrack ist. Das rettete uns. Sie glaubten, uns vernichtet zu haben, als sie keine Energieechos mehr empfingen.« »Und jetzt kämpfen sie?« Brooklyn sah, wie in der Hülle der SZ-2 eine erleuchtete Öffnung entstand. »Es ist also wirklich dazu gekommen? Olaf, sie müssen wissen, daß das andere Schiff nur eine Projektion ist! Sie müssen alle Waffen einsetzen, auch die schwersten!« »Wir werden es ihnen gleich sagen können.« Lundvar grinste. »Aber nur, um ihr Gewissen zu beruhigen. Sie feuern schon aus allen Rohren. Du siehst es jetzt nicht, weil die SZ-2 genau zwischen uns und der Geister-SOL steht. Hayes scheint sich auf keinen Kompromiß mehr einzulassen.« »Es ist unsere einzige Chance«, sagte sie leise. Schweigend warteten die beiden Solaner, bis die Traktorstrahlen nach der Space-Jet griffen und sie in den offenen Hangar zogen. Als
die Gravo-Felder das Wrack sanft absetzten und das Schott sich schloß, hatten auch Tom und Marlene das Bewußtsein zurückerlangt. Männer und Frauen erschienen und nahmen sie in Empfang. Brooklyn verlor keine Zeit. Sie ließ sich zur nächsten Bordtransmitterstation tragen und war in weniger als drei Minuten in der Zentrale der Kugelzelle. Kurz darauf wußten Hayes im Mittelteil und Wajsto Kölsch in der inzwischen ebenfalls abgekoppelten SZ-1 über ihre Entdeckung im Inneren Supers Bescheid. »Die andere SOL ist lediglich eine Projektion«, fügte Brooklyn ihre Schlüsse hinzu. »Das gleiche muß für die Landschaft im Nichts und alle ihre Bewohner gelten.« »Danke«, sagte der High Sideryt. Sein Gesicht lächelte matt von der Videofläche des Bildschirms herab. »Das macht es uns allen leichter. Es ändert aber nichts daran, daß uns diese Projektion vernichten kann. Daß wir nun endgültig wissen, daß keine wirklichen Lebewesen dort drüben an Bord sind, wird auch jenen Männern und Frauen an den Geschützen die Gewissensbisse nehmen, die bisher lieber vorbeizielten als voll auf die Angreifer zu halten. Kannst du das Kommando wieder übernehmen?« Sie nickte. »Gott stehe uns allen bei, Breck. Aber ich versichere dir, daß von meinen Leuten niemand vorbeizielen wird.« »Weder der Gegner noch wir haben bisher entscheidende Vorteile erringen können«, sagte Hayes. »SENECA hat uns inzwischen aber eine Reihe von Strategien entwickelt, die Erfolg versprechen. Unsere Vorteile bestehen darin, daß wir flexibler sind.« »Und der Vorteil der anderen ist«, hielt Brooklyn ihm entgegen, »daß sie keine Angst um ihr Leben zu haben brauchen.« Sie unterbrach die Verbindung, starrte einen Moment auf die Schirme, auf denen die Scharen ausgeschleuster Beiboote, die Strahlbahnen und die Explosionen zu sehen waren, und wandte sich
an ihre Mannschaft. »Ausweichmanöver programmieren, Abstimmung mit SENECA!« befahl sie. »Angreifende Beiboote vernichten, unsere eigenen bleiben noch in den Hangars! Absolute Priorität hat das Durchschlagen der gegnerischen Schutzschirme. Wir kämpfen nicht gegen die Boote, sondern gegen das Schiff!« Und dort drüben, dachte sie verbittert, werden die gleichen Kommandos gegeben! Die Chancen, daß die SOL Sieger blieb, standen fünfzig zu fünfzig.
7. Gammlers Schüsse fanden ihr Echo im markerschütternden Aufschrei eines Menschen. Und es war Doc Wright, der in Atlans Armen zusammenbrach und leblos zu Boden fiel. Atlan war für Sekunden wie gelähmt. Der kostümierte Roboter machte zwei Schritte auf ihn zu. Aus den Augenwinkeln heraus sah der Arkonide, wie Brick die Molaatin hinter sich schob und den Strahler umschaltete. Nockemann rührte sich nicht. »Er wird keine Fragen mehr stellen«, schnarrte Gammlers Stimme. Er beugte sich über den Toten und gab drei weitere Schüsse auf ihn ab, drehte sich um und verschwand wie jemand, der einen eindeutigen Auftrag bekommen und diesen erfüllt hatte. Brick wollte ihm nachsetzen. Atlan hielt ihn am Arm fest. »Bleib hier, Vorlan«, sagte er erschüttert. »Er hielt ihn für mich.« »Er hat ihn erschossen, und du willst ihn einfach so laufenlassen!« »Wir werden ihn wiederfinden – ihn und seinen Herrn. Doc mußte sterben, weil ich impulsiv diese Frage nach den Spiegelungen stellte, und weil er mir zu ähnlich geworden war. Gammler hat uns, ohne es zu wollen, geholfen. Wir wissen jetzt, daß die Bewohner der Landschaft im Nichts nicht real sind.« »Das haben wir schon lange gewußt.«
Atlan schüttelte den Kopf. Er wirkte geistesabwesend. »Vermutet, Vorlan. Wir waren uns unserer Sache nicht sicher, als wir uns gegen die Metallmenschen wehrten, und auch hier haben wir bis zuletzt insgeheim alle gezweifelt. Erst Gammlers Auftauchen gab uns die letzte Gewißheit.« »Dann ist das alles hier nur von Hidden-X inszeniert?« »Und zwar miserabel, Vorlan. Ich weiß nicht, was dahintersteckt, aber auch das werden wir herausfinden. Hidden-X oder jene, die für es wirken, machten einen Fehler nach dem anderen. Tompall und dieser Spieler zum Beispiel – beide gab es niemals auf der Erde, nur ein Klischeebild in meinem Bewußtsein, das auf stümperhafte Weise realisiert wurde. Doc entwickelte sich zu meinem perfekten Doppelgänger. Gammler sah ihn zuerst, weil ich ihn aufgefangen hatte und vor mich hielt. Er kam gar nicht auf den Gedanken, den Falschen getroffen zu haben und auch mich zu erledigen.« Brick fuhr sich mit einer Hand über den Mund. »Vielleicht«, überlegte er, »sollte das so sein. Tompall versuchte einige Male, uns umzubringen – und hatte jedesmal Pech. Doc zog die Westernmontur aus und wurde zu deinem völligen Ebenbild, gerade bevor Gammler erschien. Vielleicht sollen wir aus irgendeinem Grund nicht hier sterben, und eine Art Sicherheitsschaltung verhindert im letzten Moment …« Atlan winkte ab. Er nickte Nockemann zu und deutete auf den Spieler. »Wir sollten uns nicht darauf verlassen, Vorlan. Wir sehen zu, daß wir von hier verschwinden, und steuern den Zentralkegel an. Unseren Freund nehmen wir mit, und ich will nur hoffen, daß er sich nicht auflöst, ehe er auf meine Fragen geantwortet hat.« Brick gab sich keine Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. Er lud sich den Paralysierten auf die Schulter. Atlan nahm Sanny bei der Hand. Nockemann schüttelte nur den Kopf, brummte etwas vor sich hin und war als erster aus dem Saloon. »Da haben wir die Bescherung«, schimpfte er, als die Pendeltür
hinter Brick zuschwang. »Ich nehme an, Teil Eins der Vorstellung ist endgültig vorüber. Nun folgt der zweite Akt – nach dem überschwenglichem Empfang mit unplanmäßigen Einlagen der allgemeine Stimmungsumschwung gegen uns.« Der Shift war von einer tobenden Meute umringt. Männer hatten zwei Pferde vor ihn gespannt und schlugen mit Latten und Peitschen auf sie ein. Die Tiere wieherten vor Schmerzen. Hufe scharrten im Staub, ohne daß das schwere Panzerfahrzeug sich von der Stelle bewegte. Die ganze Straße wimmelte von Aufgebrachten. Über einen überhängenden Ast des einzigen Baumes in Sichtweite war ein Seil geworfen, dessen Ende zu einer Schlinge geknotet war. Männer, Frauen, selbst Kinder schossen in die Luft und grölten. »Sie haben uns noch nicht gesehen«, flüsterte Atlan den Gefährten zu. »Aber wenn sie es tun, ist der Teufel los. Wir müssen uns den Weg zum Shift freikämpfen.« Er suchte nach Gammler und erwartete insgeheim, auch Tdibmufs irgendwo in der Menge zu finden. Von beiden war weit und breit nichts zu sehen. »Wir paralysieren so viele wie möglich von diesen Verrückten«, sagte Atlan. »Je weniger Gegner uns dann noch bleiben, desto besser stehen unsere Chancen. Vergeßt nicht, daß auch ihre Kugeln vielleicht nur Projektionen sind – aber verdammt tödliche.« Er sah, wie Brick anlegte. »Lähmen, Vorlan! Sie sind Spiegelungen, aber als solche so perfekt, daß sie den gleichen Schmerz und die gleichen Ängste haben wie wirkliche Lebewesen.« »Du verschluckst dich noch einmal an deinen Skrupeln«, knurrte der Pilot. »Möglich, aber es beruhigt das Gewissen.« Sie schossen zugleich. Dutzende Wildwestgestalten sanken zu Boden. Die Strahlen wanderten und dezimierten die Reihen der Rasenden, bis ein Schrei über die Straße gellte: »Da sind sie! Legt sie um!«
»In Deckung!« rief Atlan. Er sah gerade noch, wie Nockemann sich flach auf den Boden warf und Brick mit dem Spieler wieder im Saloon verschwand. Er selbst brachte sich und Sanny mit einem Satz hinter eine Regentonne. Das Revolverfeuer erinnerte ihn an eine Silvesterknallerei. Kugeln pfiffen an ihm vorbei und schlugen in die Wände der Häuser ein. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich die große Tonne in einen Wasserspeier. Pulvergeruch erfüllte die Luft. Atlan nahm den Finger nicht mehr vom Auslöser. Wüste Gestalten rannten in Deckungen und nahmen den Saloon von allen Seiten unter Beschuß. Sanny lag zusammengerollt am Boden und weinte leise. Die Übermacht ist viel zu groß! durchfuhr es den Arkoniden. Für jeden Paralysierten schienen zwei neue Angreifer nachzuströmen. »Es hat so keinen Sinn!« schrie Atlan. »Vorlan, Hage, wir müssen es anders versuchen! Gebt mir Feuerschutz! Ich versuche, allein bis zum Shift durchzukommen!« »Das ist Wahnsinn!« kam es aus dem Fenster, aus dem Bricks Strahler hervorschaute. »Du kommst keine zwei Meter weit!« »Es ist die einzige Möglichkeit! Achtet auf Sanny! Schaltet die Waffen um und setzt die Häuser in Brand! Ich hole euch hier heraus!« Er fand nicht die Zeit, Sanny noch Mut zu machen, denn in diesem Augenblick sah er zwei Gestalten auf einem der gegenüberliegenden Dächer auf ihn anlegen. Er paralysierte sie noch, berührte blitzschnell die Schaltfläche des Strahlers und jagte fast gleichzeitig einen Thermostrahl genau dort in das Dach, wo eben noch seine Gegner gestanden hatten. Das trockene Holz fing Feuer. Entsetzensschreie wurden laut. Für wertvolle Sekunden waren die Schießwütigen auf der Straße kopflos. Atlan war klar, daß der Überraschungseffekt ihm eine gute Chance bot. Er sprang auf, rannte um die Tonne herum und in langen Sätzen auf den Shift zu.
* Das Fahrzeug zu erreichen, war wesentlich einfacher gewesen als das, was ihm nun noch bevorstand. Atlan gab sich keinen Illusionen hin. Die ersten Kugeln pfiffen schon wieder an ihm vorbei oder prallten singend und heulend als Querschläger von der Panzerung des Shifts ab. Atlan warf sich in den Staub und schoß nun wieder mit Paralysestrahlen. Mit der anderen Hand zog er den Impulsgeber aus einer Tasche der Kombination und schob sich weiter bis zum Seitenluk. In unbändigem Zorn rückten nun die Massen gegen ihn vor. Gelähmte türmten sich übereinander und gaben den Nachrückenden Deckung. Brick und Nockemann feuerten ununterbrochen. Mehrere Bauwerke standen schon in Flammen. Atlan fluchte, als er Brick aus dem Saloon treten sah. »Geh zurück!« schrie er. »Du verdammter Narr! Sie durchlöchern dich wie ein Sieb!« »Sieh zu, daß du in den Shift kommst!« schrie Brick zurück und zog glutflüssige Furchen über die Straße. Die Wildwestscharen wandten sich dem neuen Gegner zu. Das verschaffte dem Arkoniden die Atempause, die er noch brauchte. Das Luk schwang auf. Atlan warf sich kopfüber ins Innere des Fahrzeugs, ohne sich noch einmal umzusehen, drehte sich auf engstem Raum und schloß die Öffnung mit einer Hand. Er sah nichts mehr von dem, was draußen vorging, bis er unter der transparenten Kanzelhaube und vor den Kontrollen saß. Er hatte erwartet, daß sich nun alle, die Hidden-X oder dessen Helfer aufzubieten hatten, noch ungestümer gegen den Shift warfen. Statt dessen begannen sie einen Sturmlauf auf den Saloon, in dem gerade Brick und Sanny verschwanden. Nockemann feuerte aus einem Fenster heraus, wobei er die Riemen zerstrahlte, mit denen die beiden Pferde vor den Shift gebunden waren. Wiehernd stoben die Tiere davon.
Und mitten auf der Straße, etwa dreißig Meter entfernt, stand Tompall hinter einer Armeekanone, die wie aus Fort Laramie hierher versetzt wirkte. Tompall hatte jetzt eine Kavallerieuniform an und riß einen Säbel in die Höhe. Atlan hörte ihn förmlich »Attacke« brüllen. Die Kanone machte einen Satz in die Luft. Das Geschoß krachte gegen den Shift, ohne viel Schaden anrichten zu können. Die Panzerung hielt das aus – nicht aber der Saloon, und genau gegen den schwenkte Hickock jetzt das Geschütz. Diesmal blieb Atlan keine andere Wahl. Er startete den Shift, ließ ihn sanft steigen und beschleunigte ihn dann, etwa einen halben Meter über dem Boden, auf die Kanone zu. Tompall konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite werfen, als sie in ihre Einzelteile zerlegt wurde. Atlan kümmerte sich nicht weiter um ihn, drehte den Shift und steuerte ihn geradewegs in die Meute vor dem Saloon. Die Belagerer stoben schreiend in alle Richtungen davon. Das schwere Panzerfahrzeug schob sich durch die Wand und setzte zwischen zermalmten Tischen und Stühlen auf. Atlan öffnete das Luk für die Gefährten, wartete, bis Brick als letzter hineingeklommen war und auch den Spieler an Bord brachte, schloß es und startete erneut – diesmal senkrecht durch das Dach. Im wiedereinsetzenden Kugelhagel gewann das Fahrzeug rasch an Höhe. Brisbee blieb brennend unter ihm und den Gefährten zurück. Brick, Nockemann und Sanny kamen keuchend in die Kanzel und ließen sich in die Sitze fallen. Nockemann wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Ich hätte nicht gedacht, daß wir diesmal mit heiler Haut davonkämen«, seufzte er. »Atlan, wer dieses Brisbee schuf, muß einen wirren Traum von dir aufgeschnappt und realisiert haben. So kann es doch niemals wirklich auf der Erde zugegangen sein!« Der Arkonide lächelte, zum erstenmal wieder seit Stunden. »Nicht ganz so, Hage …«
* Vorlan Brick hatte wieder die Steuerung übernommen. Der Spieler lag zwischen den Sitzen auf dem Boden und begann sich gerade wieder zu rühren. Der Shift bewegte sich über den Südhängen des Alpenin in jene Richtung, die Sanny als die angegeben hatte, in der der Zentralkegel liegen mußte. Diese eher umständlich anmutende Art der Orientierung war die einzige erfolgversprechende – denn dort, wo der Zentralkegel inzwischen zu sehen sein sollte, zeigte sich nichts als triste Einöde. Am Horizont lag die Dunstwolke der Metallstadt. Die Fernsicht war ausgezeichnet, doch der Zentralkegel schien sich in Luft aufgelöst zu haben. »Könnte es sein«, fragte Nockemann unsicher, »daß unsere Gegner nach unserer Flucht aus Brisbee nun ganz genau wissen, wohin wir wollen, und unser Ziel ganz einfach … verschwinden ließen?« »Möglich«, gab Atlan zu. »Er muß dort sein«, beharrte die Molaatin, wobei sie starr in Vorausrichtung blickte. »Ich habe alle Werte über unseren Herflug und auch diejenigen im Kopf, die uns die Spionsonde geliefert hat.« Der Spieler stöhnte, richtete sich auf die Knie auf und rieb sich die Schläfen. »Wir ziehen uns über den Alpenin zurück, bis wir entweder von unserem Gefangenen etwas erfahren haben oder der Kegel wieder auftaucht«, entschied der Arkonide. Brick widersprach diesmal nicht. Atlan machte seinen Sitz für den Spieler frei, hob ihn hinein und hockte sich vor ihn hin. Der Mann schien irritiert über seine Umgebung, war jedoch wieder völlig handlungs- und aufnahmefähig. »Hör zu, mein Freund. Ich habe immer noch einige Informationen
von dir zu bekommen«, sagte Atlan. »Glaube nur nicht, daß ich noch Lust habe, mir irgendwelche Ausflüchte anzuhören. Wir haben die Mittel, dich …« »Nein, nein!« Der Spieler streckte ihm abwehrend die Handflächen entgegen. »Du hast acht Fragen gewonnen. Jetzt stelle sie.« Er sprach hastig, als fürchtete er sich vor etwas, das nicht von den Gefährten ausging. Unwillkürlich mußte der Arkonide an MetallNockemann und dessen plötzliches Mitteilungsbedürfnis denken, kurz bevor er sich auflöste. »Schön. Also erstens: Wer ist der Herr dieses Miniaturuniversums? Wer überwacht und steuert die Landschaft im Nichts?« Der Spieler schlug die Augen nieder. Monoton kam die Antwort über seine Lippen, gerade so, als spräche ein Automat aus ihm: »Der Herr der Landschaft im Nichts ist der Schalter, den niemand kennt.« »Das ist keine Antwort! Wer ist der Schalter?« »Der, den niemand kennt.« Der Spieler streckte zwei Finger der rechten Hand aus, wie um damit anzuzeigen, daß dies nun schon die zweite Frage gewesen sei. »Hör auf, Atlan«, rief Brick über die Schulter. »Wenn er jetzt plötzlich so freigebig mit seinen ohnehin sinnlosen Antworten ist, ist daran für meine Begriffe etwas oberfaul. Du wirst von ihm nichts hören als dieses Gewäsch.« »Abwarten. Spieler, wer ist Tdibmufs?« »Ein freundlicher Herumreisender, ein Freund aller.« »Wieso sprecht ihr hier alle unsere Sprache?« Vier! »Aus Höflichkeit und Gastfreundschaft.« Atlan mußte an sich halten, um seinem derart auskunftsfreudigen Gesprächspartner jetzt nicht zu ohrfeigen. Der Spieler sank immer mehr in sich zusammen. Da war nichts von Aufsässigkeit oder Provokation in seinem Gesicht zu entdecken. Dieser Mann war
nichts weiter als eine Marionette. Fast fühlte Atlan Mitleid für ihn. Obwohl er sich nichts mehr erhoffte, fragte er weiter: »Wer bist du? Welche Rolle spieltest du in Brisbee?« »Die des Spielers, der dir Gelegenheit dazu geben sollte, Fragen stellen zu dürfen.« »Wer seid ihr alle in Wirklichkeit?« »Bewohner der Landschaft im Nichts.« »Wo ist der Zentralkegel, Spieler? Warum können wir ihn nicht mehr sehen?« Sieben! Ein Ruck ging durch den Körper des anderen. Er bäumte sich auf, bewegte zitternd die Lippen, schrie: »Er ist da! Hier oder in 112 Kilometern Entfernung!« »Verdammt, das kann nicht alles sein, Mann! Gibt es auf dieser Landschaft im Nichts ein lebendes Wesen, das keine Spiegelung von Hidden-X ist!« Atlan hatte ihn am Kragen gepackt und in die Höhe gerissen. Wütend starrte er ihn an. Ihre Stirnen berührten sich fast. Der Spieler rang nach Luft. »Ich weiß nichts!« kreischte er. »Nichts, nichts mehr!« »Aber du solltest mir antworten! Wer hat es dir befohlen? Was weißt du über unser Schiff, die SOL? Was weißt du über dieses Universum? Was …?« »Nichts!« Der Schrei gellte in den Ohren der Raumfahrer. Die Augen des Spielers taten aus den Höhlen hervor. Nockemann stieß den Arkoniden an und deutete nur auf den Boden. Dort vollzog sich bereits die Auflösung, wanderte am Körper des Unglücklichen hinauf, erreichte den Hals, griff nach dem Kinn. Als nur noch der Kopf übrig war, gewann der Spieler zum letztenmal Gewalt über sich und schrie: »Der Schalter ist …!« Nockemann wischte mit dem Arm unter dem verschwimmenden Schädel durch die Luft, als erwartete er dort noch auf Widerstand
zu treffen. Er murmelte etwas Unverständliches und ließ sich zurück in den Sitz fallen. »Ende der Darbietung«, kommentierte Brick sarkastisch. »Den Schalter kennt niemand. Tdibmufs ist nur ein freundlicher Reisender und Gammler wohl sein Kofferträger. Alles hier ist in bester Ordnung und vollkommen normal – nur wir nicht.« »Hör auf, bitte«, flehte Sanny, vom Ende des Spielers sichtlich mitgenommen. »Atlan, du hättest nicht wieder nach den Spiegelungen fragen dürfen!« »Er hatte seine Aufgabe erfüllt, worin auch immer sie bestand«, wehrte der Arkonide ab. Er setzte sich, streckte die Beine von sich und legte den Kopf weit in den Nacken. Er sehnte sich nach einigen Minuten Alleinsein, nach Ruhe und … »Habt ihr das gesehen?« fragte er unvermittelt. Nockemann folgte seinem Blick und kratzte sich am Kinn. »Was meinst du?« »Da war etwas, vor der Sonne.« Super stand bereits tief im Westen. Bald würde die Abenddämmerung einsetzen. »Du mußt dich geirrt haben«, murmelte Brick. »Wie ist es? Sehen wir uns noch einmal nach dem Zentralkegel um?« Atlan nickte geistesabwesend. Mit zusammengekniffenen Augen sah er in die untergehende Sonne, während der Pilot den Shift wendete und wieder höhersteigen ließ. Und da war es wieder! »Blitze! Es würde mich zwar auch nicht wundern, wenn hier aus heiterem Himmel ein Gewitter losbräche, aber das ist etwas anderes.« »Ich sehe es auch«, sagte Nockemann. »Und ich weiß, was du jetzt denkst. Du stellst dir vor, daß im sonnennahen Raum gekämpft wird.« »Vergeßt das jetzt!« rief Brick dazwischen. »Dort ist der Zentralkegel!«
* Der Anblick täuschte. Atlan schrieb es Luftspiegelungen oder ähnlichen Einflüssen zu, daß der mächtige Turm jetzt viel näher wirkte, als er wirklich war. Sannys schnell angestellte »Berechnung« sagte dann auch sogleich aus, daß der Zentralkegel nach wie vor mehr als fünfzig Kilometer vom jetzigen Standort des Shifts entfernt sei. »Warten wir den Morgen ab?« wollte Brick wissen. »Ich meine, falls du wirklich daran glaubst, daß in der Nähe der Sonne unsere SOL wieder auf die andere gestoßen ist, könntest du auf die Idee kommen, erst auf den Funkkontakt zu warten. Ich habe es schon versucht. Entweder empfängt uns dort oben niemand, oder sie haben gar keine Gelegenheit dazu, uns zu antworten.« »Und wir wären die letzten, die helfen könnten«, murmelte Atlan. »Nein, Vorlan. Vielleicht ist gerade das unsere Chance, an den Zentralkegel heranzukommen. Vielleicht ist unser Gegner so auf den Kampf im Weltraum konzentriert, daß er die Landschaft im Nichts vorübergehend vernachlässigen muß.« Er nickte entschlossen. »Wir versuchen es, Freunde. Wir werden sehen, wie nahe wir an den Turm herankommen!« Brick schien nichts anderes erwartet zu haben. Er beschleunigte den Shift, jagte ihn über kleinere Gipfel und schließlich die südlichsten Ausläufer des Gebirges. Atlan verzog keine Miene. Er versuchte, sich nach außen hin entschlossen zu zeigen. Tief in ihm aber nagten die Zweifel. Weshalb war der Zentralkegel ihren Blicken entzogen gewesen, um nun wie aus dem Nichts wieder aufzutauchen? Sollten sie ihn anfliegen? War das eine neue Falle? Seine finsteren Befürchtungen erhielten ihre Bestätigung, als sie gerade ein Fünftel der Strecke zum Ziel zurückgelegt hatten.
»Ich habe eine Ortung«, murmelte Brick. »Etwas kommt da auf uns zu und … He, ich sehe es schon!« Er deutete schräg in den Himmel. Aus südlicher Richtung schob sich ein gewaltiges Objekt vor die Sonne, noch hoch über dem eigenen Fahrzeug. Für Sekunden waren nur schemenhafte Umrisse vor dem blutroten Ball zu erkennen. Dann aber, als das Objekt wieder voll sichtbar war, stieß Nockemann heiser aus: »Bei allen Planeten! Das ist eine Plattform, und sie … kommt viel zu schnell heran! Sie fliegt Kollisionskurs!« »Zu einem Zusammenstoß gehören immer zwei«, versetzte Brick. Der Shift sackte in die Tiefe. Sanny schlug sich die Hände vor die Augen. Atlan fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Die Plattform fuhr über den Shift hinweg. Der kurze Augenblick aber, in dem die flache Scheibe von vielleicht einhundert Metern Durchmesser und mit einer Reihe von Aufbauten ganz deutlich zu sehen gewesen war, genügte den Gefährten, um zu begreifen, von wem sie gesteuert wurde. »Aber das ist doch so, als würden Eingeborene der primitivsten Stufe ein Raumschiff fliegen!« entsetzte sich Nockemann. »Sie kommen zurück.« Die Plattform verzögerte, flog einen weiten Bogen und kam, langsam nun, abermals auf den Shift zu. Sie gewann dabei an Höhe. »Ich kann mir denken, was sie vorhaben, Vorlan«, sagte Atlan schnell. »Sie sind wendiger als wir. Wir können zwar einige Ausweichmanöver fliegen, aber letztendlich werden sie doch über uns sein. Gib einen Notruf an die SOL ab!« »Aber ich sagte dir doch, daß es sinnlos …« »Tue es! Was vergeben wir uns, wenn wir's versuchen?« Schulterzuckend kam der Pilot der Aufforderung nach. Die Plattform war heran. Brick hielt die Notruftaste niedergedrückt, während er gleichzeitig versuchte, den Shift noch einmal außer Gefahr zu bringen. Es war sinnlos. Alle seine Manöver wurden quasi ohne Zeitverlust
von der Scheibe mitvollzogen. Dann war sie genau über den Raumfahrern. Das war der Augenblick, in dem sich die Feuermenschen über den flachen Rand stürzten und zu Dutzenden, dann zu Hunderten von ihr herabzuregnen begannen. Sie hatten weder Waffen noch Fallschirme. Mit rudernden Bewegungen versuchten sie, ihren Sturz zu beeinflussen. Viele verfehlten ihr Ziel, doch immer mehr prallten auf die längst aktivierten Schutzschirme und begannen diese dort, wo sie auftrafen, aufzulösen. Sie glühten wie Feuer, wenngleich es noch hell war. Aus entsetzt aufgerissenen Augen mußten die Menschen und Sanny mitansehen, wie die Umrisse der Strahlenden in den Schirmen zerflossen und ihnen die Energien entzogen. Ein feines Netzwerk aus blutroten Linien bildete sich. Erste Lücken entstanden, durch die weitere Angreifer auf die nun ungeschützte Hülle des Fahrzeugs fielen. »Ich kann keine Energie mehr dazugeben!« rief Brick in das urplötzlich einsetzende Knistern hinein, das die Kanzel erfüllte. »Sie entziehen uns alles, was wir haben! Wir können uns nicht mehr in der Luft halten!« »Dann lande!« rief Atlan zurück. Sanny schrie auf, als über ihr die Innenwand dunkel zu glühen begann. »Hat keinen Sinn mehr! Bevor wir unten sind, sind wir geröstet! Wir können nur noch versuchen, auszusteigen!« Aussteigen – in diesem Hagel von immer neuen Feuermenschen, die dort auf der Plattform erst geschaffen zu werden schienen, um in den sicheren Tod zu springen und die verhaßten Gegner dabei mit sich zu reißen … Aber es war auch die einzige Chance, die ihnen noch blieb. Und alles war besser als ein qualvoller Tod im verglühenden Shift.
*
Erneut durchflossen die Impulse das Medium, das menschlichen Sinnen nicht erschlossen war, fand die lautlose Stimme des Meisters den Weg zum Diener, Schalter genannt. Der Schalter wand sich unter den heftigen Vorwürfen seines Herrn, bäumte sich auf gegen die ihm entgegenschlagenden Wogen von Verachtung und Zorn. Indes, es stand ihm nicht zu, den Meister zu unterbrechen, der nun auch für ihn einen Namen hatte. Hidden-X – das stand für ein Machtpotential, das über das Begriffsvermögen seines Dieners weit hinausging; das war Kraft und Stärke, ein unbeugsamer Wille, der Name für Haß und für Rache. Der Schalter hatte darum gefleht, ihn zu erfahren, doch nun, da er ihn kannte, war er nicht klüger als vorher. Er sagte nichts aus über das wirkliche Wesen der Macht. »Schalter!« hallte es dumpf im Bewußtsein des Dieners. »Du hattest Zeit und Gelegenheit, aus den gemachten Fehlern zu lernen! Du hast es nicht getan! Du hast weder die Entwicklung in die von mir gewünschten Bahnen zu lenken vermocht, noch verhindern können, daß sie nun in einer gefährlichen Umkehrung begriffen ist! Durch deine Unfähigkeit hast du den PLAN selbst gefährdet!« »Herr!« begehrte endlich der Schalter auf. »Ich konnte nur in dem Rahmen wirken, der mir durch dich vorgegeben war. Nicht ich habe die Lockmittel ausgewählt, sondern du!« Er bereute den Vorwurf, kaum daß er ihn zu Ende gedacht hatte. Zorn und Haß in noch nie gekanntem Ausmaß drohten ihn zu ersticken. Wie der verzweifelte Schrei eines in aufgepeitschtem Meer Ertrinkenden war sein Flehen: »Verstoße mich nicht, Hidden-X! Vernichte mich nicht! Ich will alles tun, um die Fehler wiedergutzumachen!« Der Schrei verebbte in lautlosem Hall. Stille breitete sich in dem Medium aus, quälendes Warten und Unsicherheit, Angst um die eigene Existenz. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor der Meister antwortete: »Du sollst dich noch einmal bewähren können, doch es ist nicht dein Verdienst, Schalter! Der PLAN muß erfüllt werden. Ich lege es daher nun
in dein Ermessen, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen. Du weißt, worum es geht und was zu tun ist. Alle Mittel stehen dir nun zur Verfügung. Gebrauche sie klug und nimm keine Rücksichten mehr. Ich ziehe mich zurück und werde beobachten! Handle, doch wisse, daß ein Impuls genügt, um dich zu vernichten, solltest du erneut scheitern!« Der Schalter nahm wahr, wie sich Hidden-X grollend von ihm entfernte. Gleichzeitig damit erlosch für ihn der Zugang zum Medium der gespenstischen Kommunikation. Er war erleichtert und bestürzt zugleich, doch schließlich gewann die grimmige Entschlossenheit die Oberhand über alle Bedenken. Der Schalter, nun wieder mit allen seinen Sinnen in der vertrauten Umgebung, richtete den Blick zur Sonne, die als feuriger Ball im Westen unterging. Nur kurz überlegte er, dann wußte er, was er zu tun hatte.
8. »Verluste?« rief Breckcrown Hayes in die Zentrale, ohne den Blick von den Bildschirmen zu wenden, die ihm einen umfassenden Eindruck vom Kampfgeschehen gaben. Hunderte von Mikrosonden waren ausgeschleust und lieferten die Teile zu diesem von SENECA zusammengesetzten Puzzle. »Achtunddreißig Boote!« rief eine Frau. »Davon acht Korvetten, ohne Ausnahme robotgesteuerte Einheiten!« Es war wie ein Wunder, daß auch nach einer guten halben Stunde noch kein einziges Menschenleben zu beklagen war. Kein wirkliches Leben! korrigierte sich Hayes in Gedanken. Und für viele Solaner trug dieses Wunder den Namen SENECA. Nicht nur, daß durch die von der Inpotronik laufend neu ausgeworfenen Strategien der Gegner bereits in arge Bedrängnis hatte gebracht werden können – SENECA steuerte auch direkt die Hunderte von Space-Jets und Korvetten und Lightning-Jets, die, unbemannt, sich plötzlich formierten und Schwerpunktangriffe
gegen die Geister-SOL flogen. Viele erreichten ihr Ziel nicht, doch diejenigen, die durchkamen, rissen empfindliche Lücken in die Schutzschirme des Gegners, in die sofort die Strahlbahnen der eigenen Geschütze schlugen. Erste Treffer hatten klaffende Löcher in die Hülle gesprengt. Hayes war es unbegreiflich, weshalb das Feindschiff sich noch nicht geteilt hatte. Was erhoffte man sich dort drüben davon? Der Vorteil der größeren Schlagkraft wurde durch die relative Unbeweglichkeit den drei Zellen der SOL gegenüber ins Gegenteil verkehrt. Der Kampf wogte noch immer im sonnenahen Raum hin und her. Nur dann und wann trieben zu Wracks geschossene Beiboote ab. Der Schutzschirm über der Landschaft im Nichts stand noch nicht wieder. Die Niederlage des Gegners zeichnete sich von Minute zu Minute deutlicher ab, und je größer die eigene Überlegenheit war, desto verbissener noch kämpften die Solaner. Fast herrschte bereits Hochstimmung in der Hauptzentrale. Alle jene, die sich sonst über Kleinigkeiten zerstritten, standen Seite an Seite und bejubelten jeden Erfolg. Hayes blieb skeptisch. Er hatte gerade in letzter Zeit genügend unliebsame Überraschungen erleben müssen. Er würde erst vom Sieg überzeugt sein, wenn die Geister-SOL vollkommen vernichtet war. Die SZ-1 tauchte aus der Sonnenkorona hervor und raste feuernd auf die Hantel zu. Ihre Schutzschirme glühten unter dem augenblicklich einsetzenden Abwehrschlag auf, ohne ernsthaft gefährdet zu werden. Die SZ-2 stieß nach. Immer wieder zogen sich die drei Teile der SOL in die Korona zurück, um dann aus unerwarteter Richtung ihre Angriffe vorzutragen. Die Reaktion, die Trägheit und Unbeweglichkeit des Gegners, die immer um Sekundenbruchteile verzögerten Ausweichmanöver – all das zeugte von der Unterlegenheit eines künstlich geschaffenen Objekts mit einer ebenso künstlichen Besatzung.
Dennoch blieb dieses Schiff gefährlich. Und nun teilte es sich. Doch auch das geschah ohne Voraussicht in einem denkbar ungünstigen Augenblick. »Darauf haben wir nur gewartet!« rief Gallatan Herts triumphierend aus. SENECAS Stimme ertönte und lieferte neue Anweisungen. Hayes reagierte augenblicklich. Die SZ-1 und die SZ2 schossen zugleich auf eine der abgekoppelten Zellen zu, nahmen sie unter Feuer und trieben sie dem Mittelteil des eigenen Schiffes entgegen. Hayes wartete atemlos, bis die Schutzschirme zusammenbrachen, bevor er das Kommando für die Transformkanonen gab. Im nächsten Moment fanden die Fusionsbomben aus den Zwillingsgeschützen ihr Ziel. Filter schoben sich vor die Optiken, als die gegnerische Zelle in einem atomaren Glutball verging. Der nun losbrechende Jubel war unbeschreiblich. Hayes fuhr herum und starrte die Männer und Frauen um ihn herum an, als sähe er sie zum erstenmal. Er erschrak zutiefst, als ihm klar wurde, welche Aggressionen in jedem von ihnen schlummerten und nun auf einen Schlag freigesetzt wurden. Und er selbst? Es sind keine Menschen dort drüben an Bord! machte er sich klar. Wir vernichten kein Leben! Und wenn es anders gewesen wäre? Wütend auf sich selbst und die anderen, konzentrierte er sich wieder auf den Kampf. Als ob ihre Besatzungen in blinde Panik geraten wären, feuerten die beiden verbliebenen Teile der GeisterSOL nun mit allem, was sie besaßen. Weitere Beibootscharen wurden ausgeschleust. Hayes wurde abgelenkt, als Vera Eysen aufgeregt zu ihm kam und ihm eine Folie reichte. Er zog eine Braue in die Höhe. »Ein Notruf, Breck!« sagte sie heftig, um sich im allgemeinen Durcheinander Gehör zu verschaffen. »Von Atlan!« »Aber wir hatten keine Verbindung mehr, seit …«
»Frage mich nicht, Breck. Jetzt haben wir sie. Wir haben diesen Notruf eben aufgefangen. Er kommt von der Landschaft im Nichts, und zwar …« Hayes nahm die Folie und las selbst den ausgedruckten Text. Seine Lippen wurden schmal. Er zerknüllte die Folie in einer Hand. Schnell verschaffte er sich einen Überblick über den augenblicklichen Stand der Dinge. Die verbliebene gegnerische Kugelzelle war schwer angeschlagen und würde sich vermutlich nur noch ein paar Minuten halten können. Nur der Mittelteil feuerte noch mit voller Kraft im Schutz seiner Schirme. »Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen«, sagte Hayes. »Ich denke, wir können es uns leisten, eine Zelle zur Landschaft im Nichts zu schicken. Wajsto Kölsch soll das übernehmen. Bitte ihn, unsere Freunde und die FRESH dort aus den Schwierigkeiten herauszupauken und an Bord zu nehmen.« »Die SZ-1 ist schon so gut wie unterwegs, Breck.«
* Nur die in aller Eile angelegten Schutzanzüge verhinderten, daß Atlan, Sanny, Brick und Nockemann im Innern des Shifts einen grausamen Hitzetod starben. Dutzende von Feuermenschen lagen flach auf der Kanzel oder klammerten sich an den Seiten fest. Als Atlan das Luk öffnete, blickte er geradewegs in das »Gesicht« eines Glühenden, der sofort versuchte, in den Shift einzudringen. Atlan schoß. Der Feuermensch stürzte lautlos in die Tiefe. »Einer nach dem anderen raus!« schrie der Arkonide seinen Begleitern zu. »Springt und aktiviert die Gravo-Aggregate! Wir müssen damit rechnen, daß sie uns auch nach der Landung nachsetzen! Bleibt also dicht bei mir! Wir werden Deckung brauchen! Sind eure Körperschutzschirme in Ordnung?« Sie bestätigten. Brick hatte Sanny im Arm.
Atlan nickte ihnen ein letztesmal zu, kauerte sich in die Öffnung und stieß sich ab. Zwei Feuermenschen stürzten an ihm vorbei von der Plattform herab. Sie versuchten, nach ihm zu greifen. Atlan blieb keine andere Wahl, als immer wieder von der Waffe Gebrauch zu machen. Seine Hand berührte die Kontakte der Schaltleiste seines Flugaggregats. Ein jäher Schub brachte ihn vorerst aus der Gefahrenzone heraus. Als er sich in der Luft drehte, sah er die Plattform mit den tobenden Gegnern, und darunter den Shift, aus dem die Gefährten nacheinander zu ihm herübergeschwebt kamen. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich der herabstürzenden Feuermenschen zu erwehren. Erst jetzt begriff Atlan, mit welch knapper Not sie am Ende entkommen waren. Der Shift glühte bereits hellrot und stürzte nun endgültig ab. Etwa zweihundert Meter über dem Boden gab der Antrieb den Geist auf. Der Shift fiel wie ein Stein, und bevor er aufschlug, wurde er von einer verheerenden Explosion zerrissen. »Fort!« rief Atlan. Die Plattform nahm Fahrt auf und folgte ihnen. Schon wieder standen Feuermenschen zum Sprung bereit an ihren Rändern. »Wir müssen hinunter! Dort vorne das Geröllfeld!« Jedes weitere Wort war überflüssig. Brick mit Sanny flog an ihm vorbei und ließ sich sinken. Atlan wartete noch, bis auch Nockemann ihn erreicht hatte, um zusammen mit ihm den beiden anderen zu folgen. Sie fielen den Felsen entgegen, die hier in der Ebene südlich des Alpenin völlig fehl am Platz schienen. Atlan machte sich keine Gedanken darüber, wie sie hierhergebracht worden waren. Das einzige, was für ihn zählte, war der Unterschlupf, den sie dadurch boten, daß viele von ihnen übereinandergetürmt waren. Vage erinnerten sie ihn an Hünengräber auf der Erde. Wenige Meter über ihnen fingen die Raumfahrer den Sturz ab. Brick gab durch heftiges Winken zu verstehen, daß er eine geeignete Deckung gefunden hatte, und schwebte mit Sanny hinein. Für Sekunden waren sie Atlans Blicken entzogen, bis er mit Nockemann
um einen mehr als zwei Meter hohen Stein herum war, zwischen dem und einem zweiten sich ein Hohlraum von gut fünf mal drei Metern befand. Nach hinten war er durch Geröll begrenzt, und über dem Ganzen lag eine mächtige Felsplatte. Die Freunde schalteten die Aggregate aus, ließen aber die IVSchirme aktiviert. »Wie lange werden wir uns hier halten können?« fragte Brick. »Die Steine sind für die Kerle nur vorübergehend ein Hindernis.« »Dann müssen wir eben weiterfliehen«, sagte Atlan etwas unwirsch. »Bei Arkon, verschont mich jetzt mit euren Fragen! Wir versuchen, uns die Feuermenschen so lange wie möglich vom Leibe zu halten – und sehen dann weiter.« Schon regneten die Glühenden wieder vom Himmel herab. Der harte Aufprall auf der steinigen, nur hier und da mit Moosen und dürrem Gras bewachsenen Ebene schien ihnen nichts auszumachen. Wo ein Mensch sich alle Knochen gebrochen hätte, sprangen sie sofort wieder auf und begannen, die Höhle zu berennen. Dies war jedenfalls Atlans erster Eindruck. Was er dann bei genauerem Hinsehen feststellte, nahm ihm auch die allerletzten Bedenken. Die Feuermenschen klatschten regelrecht zu Boden, zerflossen in einer lodernden Lache und erhoben sich daraus als neue Geschöpfe so schnell wieder, daß das Auge wahrhaftig Mühe hatte, diesen Ablauf zu verfolgen. »Sie werden sofort wieder neu geschaffen!« rief Atlan den anderen zu, während er schoß. Die Reihen der Angreifer lichteten sich nur für einen Moment. Sofort waren andere da, entweder vom Himmel gefallen oder wieder neu belebt. »Deshalb gibt es mehr von ihnen, als auf der Plattform überhaupt Platz haben dürften!« Brick und Nockemann lagen flach neben ihm auf dem Boden zwischen den Steinen. Sie schossen mit breiter Fächerung und wußten, daß sie nur einen wirklichen Erfolg erzielen konnten, wenn es ihnen gelang, die Substanz zu zerstören, aus der die Gegner
erwuchsen. Es war aussichtslos. Sie konnten nur einen Bruchteil der Anrennenden aufhalten und sie am Eindringen in die Höhle hindern. Dutzende von Feuermenschen aber kamen von den Seiten heran, kletterten auf die Felsen und brachten sie zum Glühen. Was sie berührten, nahm die mörderische Hitze in sich auf, die sie unablässig abgaben. Sie vermochten sie zu drosseln, wie bei der ersten Begegnung im Riesenwald geschehen, oder sich selbst aufzuheizen. Es war wie im Shift, nur fast noch aussichtsloser. »Wir müssen hinaus, oder wir verbrennen hier drinnen«, rief Atlan. »Nur im Freien haben wir eine Chance! Es gibt keine Deckung gegen sie. Wir brauchen Bewegungsfreiheit, um …« »Worauf warten wir?« kam es von Brick. Wieder klemmte er sich die Molaatin unter den linken Arm. Die Männer sprangen auf. Schon flimmerte die Luft vor Hitze. In der nun rasch einsetzenden Dunkelheit wirkte die Szenerie noch unheimlicher. Lebende Fackeln mit menschlicher Gestalt umtanzten die Felsen nun wie Indianer eine belagerte Wagenburg. Zugleich rannten die Männer aus der Höhle, nach allen Seiten feuernd. In Reihen brachen die Feuermenschen zusammen, lösten sich auf, um aus den fließenden Flammen erneut zu entstehen. Entsetzt mußte Atlan beobachten, wie dort, wo einer zu Boden sank, nach Sekunden zwei neue in die Höhe wuchsen. »Weiter! Wir schießen uns eine Gasse frei und wollen dann sehen, ob sie uns auch zu Fuß so schnell folgen können, wie sie wiedergeboren werden!« »Soll das ein Witz sein?« fragte Nockemann, schon außer Atem. »Sie haben noch ihre Plattform, und die ist jetzt genau über uns!« »Vielleicht können wir sie abschießen! Denkt nicht daran! Weiter!« Noch etwa ein Dutzend Feuermenschen waren vor ihnen. Alle anderen schienen tatsächlich Mühe zu haben, mit ihnen Schritt zu halten. Als der Weg endgültig frei war, brachten die Sekunden, die
die Glühenden als Feuerlachen außer Gefecht gesetzt waren, eine wertvolle Atempause. Atlan blieb stehen, sah, daß schon wieder leuchtende Gestalten vom Himmel fielen, und nahm den Strahler in beide Hände. Der gewonnene Vorsprung ließ ihm Zeit, sorgfältig auf eine grünlich schimmernde Scheibe zu zielen. Er feuerte. Der gleißende Strahl fraß sich in die Scheibe. Etwas implodierte mit dumpfem Knall. Atlan sah nicht mehr, was es war oder was dadurch ausgelöst wurde, denn schon waren die Jäger wieder heran. Atlan folgte den Gefährten mit langen Sätzen, die schon wieder auf der Flucht ins Nirgendwo waren, in die Nacht hinein, in der alle möglichen weiteren Gefahren lauern mochten. Paradies! dachte Atlan wütend. Paradiso nirwana! Dies ist eine Hölle! Er sah sich im Laufen um. Die Feuermenschen wurden schneller. Wie Irrlichter schwärmten sie aus, offenbar darum bemüht, ihren Opfern den Weg abzuschneiden. Die Plattform dagegen hatte offensichtliche Schwierigkeiten, sich in der Luft zu halten. Atlans Schüsse schienen dort oben doch mehr Schaden angerichtet zu haben, als auf den ersten Blick erkennbar. Sie blieb zurück, neigte sich schräg gegen den Boden und verging schließlich in einer gewaltigen Explosion, deren Druckwelle Fliehende und Jäger zu Boden warf. Metallstücke pfiffen durch die Luft oder gruben sich ins Land. Brick sprang auf, nahm Sanny auf die Schuler und lief weiter. Nockemann hingegen fand kaum noch die Kraft, sich aufzurichten. Atlan war bei ihm und half ihm auf. »Lauft ohne mich weiter«, flüsterte der Galakto-Genetiker. »Ich behindere euch doch nur. Ich … kann nicht mehr, Atlan. Bringt euch in Sicherheit. Vielleicht begnügen sie sich dann mit mir.« »Hör auf mit dem Unsinn!« sagte der Arkonide heftig. Er stützte Nockemann und sah die Verfolger, wie sie zu beiden Seiten des Fluchtwegs nun mit phantastischer Geschwindigkeit vorrückten. Brick blieb unsicher stehen.
Sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er hatte begriffen. Die Flammenden liefen nicht mehr mit ihren Füßen. Sie ließen sich in sich zusammenfallen, bildeten glutflüssige Lachen aus, die sich so schnell in die Nacht fraßen wie Rinnsale von brennendem Benzin. Andere wurden zu leuchtenden rotierenden Kugeln, zu Feuerrädern. Brick wartete auf die beiden anderen. Seine im Schein der menschlichen Feuer gespenstisch wirkende Miene sagte mehr als alle Worte. »Sie haben uns eingekreist«, flüsterte Sanny. »Wir können nicht mehr entkommen. Unsere Waffen nützen uns nichts.« Brick schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Aber wir haben die Flugaggregate! Sie haben keine Plattform mehr, und jetzt …« Er schrie heiser auf. Feuerräder liefen von allen Seiten auf sie zu. »Machen wir, daß wir in die Luft kommen!« Sie schafften es im allerletzten Moment. Unter ihnen schlugen die Feuer zusammen. Gewaltige Lohen stiegen viele Meter hoch und leckten nach den Füßen der Menschen und der Molaatin. »Sie erreichen uns nicht!« triumphierte Brick. »Himmel, für einen Augenblick dachte ich, daß sie sich auch in die Lüfte erheben könnten!« »Sie nicht«, sagte Sanny. »Hör auf zu unken, Kleine. Sag uns lieber, wohin wir uns wenden sollen.« »Ich unke nicht, was immer du damit meinst, Vorlan. Aber da kommt eine zweite Plattform.«
* Sie sahen die grellen Lichter des Objekts, das sich vom Alpenin her mit großer Geschwindigkeit näherte, noch hoch über ihnen und den wütend nach ihnen schlagenden Flammenspeeren, in die sich die
Feuermenschen inzwischen verwandelt hatten. Für einen Moment glaubte auch Atlan an eine zweite Plattform der Glühenden. »Ich gebe dir alles, was du willst, Sanny«, höre er Nockemann sagen, »wenn du dich nur dieses eine Mal irrst.« »Behalte deine Versprechungen besser für dich, Hage!« rief er, als ihm mit einem Schlag klar wurde, was da herankam. »Das ist keine Scheibe, Freunde! Götter Arkons, das muß die FRESH sein!« Sie hatten die Korvette fast schon vergessen, die beim Versuch, von der Landschaft im Nichts aus in den ersten Kampf der SOL gegen die Geister-SOL einzugreifen, vom plötzlich rot glühenden Energieschirm der Landmasse zurückgeschleudert und zur Notlandung gezwungen worden war. Atlan fiel es selbst schwer, an die plötzliche Hoffnung zu glauben, bis sein Armbandfunkgerät ansprach. Gleich darauf hörte er die Stimme von Curie van Herling: »Wir sehen und orten euch! Bleibt, wo ihr seid, und steigt nur noch etwas höher. Ich möchte keine Bekanntschaft mit diesem Spuk dort unten machen, wenn wir euch an Bord holen!« »Curie!« rief der Arkonide ins Funkgerät. »Dem Himmel sei Dank! Woher wußtet ihr …?« »Alle Erklärungen später! Die SZ-1 ist hierher unterwegs, um uns einzuschleusen. Wir haben also nicht viel Zeit!« Sanny weinte. Nockemann gab ähnliche Laute von sich. Die Nervenbelastung war zu groß, und Atlan ahnte, daß es ihm und Brick nicht viel anders ergehen würde, wenn sie erst einmal in Sicherheit waren. Die vier ließen sich von den Aggregaten weiter hinauf tragen, der Korvette entgegen, deren Lichter den Eindruck vermittelten, sie blähte sich bis vor ihnen ins Unendliche auf. Dann öffnete sich ein Schott. Männer und Frauen winkten, griffen nach den Erschöpften und halfen ihnen in den kleinen Hangar. Atlans letzte Wahrnehmung, bevor sich das Schot wieder schloß, war das Erlöschen der Feuer tief unter dem Schiff! Er ließ sich einfach zu Boden fallen, öffnete den Schutzanzug und schaltete den
IV-Schirm aus. Brick lachte hysterisch – ausgerechnet er, der sich so hartgesotten gegeben hatte. Er lag da, wälzte sich von einer Seite auf die andere, und lachte wie ein Irrer. Sanny und Nockemann hockten zusammen, wie um sich gegenseitig zu trösten. Atlan sah von einem der drei zum anderen und mußte sie für das, was sie durchgestanden hatten, bewundern. Er selbst hatte seine Erfahrungen im Überleben. Sie aber kannten bis vor kurzem nur das mehr oder weniger beschauliche Leben auf der SOL. Der Zellaktivator spendete seine belebenden Impulse. Atlan erhob sich und lächelte den anderen Raumfahrern zu, die nicht recht zu wissen schienen, wie sie sich verhalten sollten. Er wollte schon einen von ihnen bitten, eine Stärkung für Sanny, Brick und Nockemann zu holen, als Curie van Herling selbst im Hangar erschien. Und Atlan konnte in diesem Moment gar nicht anders. Er streckte der Ex-Magnidin die Hände entgegen und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn.
9. Die Nachwirkungen dieses plötzlichen Gefühlsausbruchs machten sich auch noch bemerkbar, als sich die vier Geretteten in der Zentrale der FRESH versammelt hatten, um sich von Curie über das inzwischen bei ihr Vorgefallene informieren zu lassen. Anwesend waren auch Ursa Mastort, Folia Antes, deren Mann Herster und Wallbert Verhye, die sich also mit dem zweiten Shift aus der Metallstadt zur Korvette hatten durchschlagen können. Auf dem Panoramabildschirm war die SZ-1 zu sehen, die im Raum wartete. Die Landschaft im Nichts schrumpfte schnell auf den anderen Monitoren. Auf dem Weg zur Zentrale hatte Atlan so knapp wie möglich über die eigenen Erlebnisse berichtet. Curie machte nicht den Eindruck,
als hätte sie viel davon begriffen. Sie warf dem Arkoniden nochmals einen dieser undefinierbaren Blicke zu, bevor sie begann: »Wir hatten die FRESH nach vier Tagen wieder flugtauglich. Alle kleineren Schäden waren nach zwei weiteren Tagen behoben, so daß wir eigentlich einen Start hätten versuchen können. Wir taten es nicht, weil wir weder zur SOL noch zu euch Funkkontakt bekamen. In Anbetracht der ungewissen Umstände beschlossen wir dann, auf ein Lebenszeichen von euch oder Hayes zu warten. Das wäre eigentlich schon alles. Unsere Funkstation war ständig besetzt. Alle zehn Minuten gingen Anrufe hinaus. Kurz vor Sonnenuntergang erhielten wir dann die ersehnte Antwort – das heißt: die SOL und ihr meldeten sich fast gleichzeitig.« Atlan runzelte die Stirn. Brick, dem der starke Kaffee schon wieder neue Kräfte zugeführt hatte, schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie das?« »Wir empfingen euren Notruf und waren schon startbereit, als von der SOL die Anweisung kam, euch aufzunehmen und uns dann zum Einschleusen in die SZ-1 bereit zu halten, die Breck aus dem Kampf gegen die andere SOL abgezogen hatte. Das stimmt zeitlich alles überein. In der SOL muß euer Notruf im gleichen Moment wie hier bei uns aufgefangen worden sein. Die SZ-1 war schon unterwegs, als Hayes oder auch Wajsto Kölsch direkt unseren routinemäßig abgestrahlten Anruf erhielt. Sie wußten nicht, ob sie schnell genug hier sein würden, und gaben uns also diese Anweisung.« »Ist die Reihenfolge so wichtig?« erkundigte sich Nockemann. Curie nickte. »In einer Hinsicht vielleicht schon. Die lange Funkstille und dann das plötzliche Wiedereinsetzen der Kommunikation kann doch nur eines bedeuten. Zumindest, was uns betrifft, lagen weder Störungen in den Geräten noch andere natürliche Hindernisse vor. Irgend jemand wollte nicht, daß wir uns untereinander verständigten.« »Nur von Tdibmufs empfingen wir eine Nachricht«, überlegte
Atlan laut. »Hat er sich auch bei euch gemeldet?« Die Stabsspezialistin verneinte. »Und dieser Kampf! Ich habe mich also nicht getäuscht. Wie sieht es denn jetzt bei der Sonne aus?« »Das laß dir von Kölsch sagen, Atlan. Man wartet auf uns.« Curie deutete auf den Panoramaschirm, drehte sich noch einmal zum Arkoniden um und schmunzelte. »Ich denke aber, daß uns die Geister-SOL vorerst keinen Ärger mehr machen wird.« »Wenn du damit meinst, daß sie vernichtet ist – weshalb dann nur vorerst?« wollte Brick wissen. Er pfiff durch die Zähne und beantwortete seine Frage selbst. »Wenn sie genau wie die Feuermenschen und die Bewohner von Brisbee nur eine Spiegelung ist, kann sie wohl jederzeit wieder neu entstehen?« »Möglich, Vorlan. Allerdings dürfte es auch unserem mächtigen Gegner schwerer fallen, einen Giganten wie die SOL nochmals neu auf die Beine zu stellen als diese vergleichsweise lächerlichen Figuren.« »Lächerlich«, brummte Nockemann. »Lächerlich waren sie nicht …« Niemand antwortete ihm mehr. Gebannt sahen die Raumfahrer zu, wie sich in der Hülle der SZ-1 ein Hangar auftat. Vorlan Brick ließ es sich nicht nehmen, die Korvette eigenhändig ins Mutterschiff zu bringen. Wajsto Kölsch erwartete sie in der Zentrale mit der Nachricht, daß die Geister-SOL restlos vernichtet sei.
* Die SOL war wieder zusammengefügt, als Atlan, Sanny, Brick und Nockemann vom Bordtransmitter in unmittelbarer Nähe von SOLCity materialisiert wurden. Brick begab sich auf schnellstem Weg unverzüglich in die Hauptzentrale, während die anderen drei erst
einmal ein kurzes Wiedersehen mit ihren Freunden aus dem AtlanTeam feierten. Argan U schien nur darauf gewartet zu haben, die Molaatin bemuttern zu dürfen, während Federspiel und Joscan Hellmut darauf drängten, alles über die Abenteuer auf der Landschaft im Nichts zu erfahren. Nur Bjo Breiskoll hielt sich zurück. Nockemann verschwand in einem kleinen Laborraum und kam mit einer Flasche selbstdestillierten Alkohols zurück. Er bot allen davon an, und nur Atlan wehrte dankend ab. »Du brauchst das jetzt vielleicht nicht«, meinte der Genetiker. »Ich schon. Und wenn du zu Hayes gehst und Vorlan vor ihm und seinem Bruder genug geprahlt hat, schicke ihn ruhig zu mir. Wir leben, Freunde, und das ist mir dieser Schluck wert.« Entsprechend gelockert war nach wenigen Minuten seine Zunge. Atlan glaubte, nicht richtig zu hören, als Nockemann davon erzählte, wie er allein es mit einer ganzen Schar schießwütiger Wildwestgestalten aufgenommen hatte. Hellmut und Federspiel lauschten ihm aufmerksam. Für den Arkoniden gab es nichts hinzuzufügen. Als er sich auf den Weg zur Zentrale machte, hörte er gerade noch, wie Sanny den Angeheiterten an sein ihr gegebenes Versprechen erinnerte. Curie van Herling und Wajsto Kölsch waren bereits anwesend. Hayes sprach über den Interkom mit Brooklyn. Die Stimmung war gut. Eine schwere Last schien allen hier Versammelten abgefallen zu sein. Nur Vorlan Brick fiel aus der Reihe. »Er glaubt mir kein Wort, aber das ist typisch für ihn«, schimpfte er, ohne seinen Zwillingsbruder noch eines Blickes zu würdigen. »Sag du ihm, wie es in Brisbee war, Atlan.« Der Arkonide zuckte nur die Schultern und gab Nockemanns Einladung weiter. Brick ließ es sich nicht zweimal sagen, als Hayes die Verbindung zur SZ-2 unterbrach und ihm versicherte, daß er in den nächsten Stunden nicht gebraucht würde.
Dann kam der High Sideryt auf Atlan zu und schüttelte ihm beide Hände. In seinem Gesicht arbeitete es. »Wir haben es geschafft, Atlan. Wir haben es tatsächlich geschafft. Viele von uns glaubten nicht wirklich daran, aber die Geister-SOL ist vernichtet. Es wäre ein bitterer Sieg gewesen, wenn uns Brooklyns Entdeckung nicht den endgültigen Beweis dafür geliefert hätte, daß wir gegen Phantome zu kämpfen hatten.« »Brooklyns Entdeckung?« Wajsto Kölsch lächelte. »Er weiß noch nichts davon, Breck. Diese Überraschung wollte ich dir überlassen.« »Ihr spannt mich auf die Folter«, stellte der Arkonide fest, als er sich umsah und selbst Herts ihn anblickte, als wollte er ihm ein Geburtstagsgeschenk machen. Hayes deutete auf einen Kartentisch. »Setzen wir uns. So, wie es aussieht, haben wir alle uns eine Ruhepause redlich verdient.« Atlan kam der Aufforderung nach. Hayes schlug die Beine übereinander und faltete die Hände vor dem Mund. »Ihr macht es wirklich sehr spannend«, sagte Atlan lächelnd. »Also, was war mit Brooklyn?« Hayes berichtete über den Erkundungsflug mit der STARBRIDE, aus dem viel mehr wurde, als irgend jemand hatte ahnen können. Niemand unterbrach ihn, und auch als er geendet hatte, herrschte für eine Weile Schweigen. »Dann«, stellte Atlan schließlich fest, »rundet sich das Bild ab. Hidden-X ist die Macht im Hintergrund, die uns in dieses MiniUniversum lockte. Hidden-X arbeitet mit kleinen und großen Nickelspiegeln, die eine unbekannte Strahlung aufnehmen und so umlenken, daß als Ergebnis scheinbar reale Welten und Wesen erzeugt werden.« »So muß es sich verhalten«, pflichtete ihm der High Sideryt bei, »obwohl wir uns davor hüten müssen, nun alles um uns herum als
solche Spiegelungen anzusehen. Wir haben die andere SOL besiegt. Wir haben wichtige Aufschlüsse gewonnen, aber unser eigentliches Problem ist dadurch nicht gelöst. Auch wenn wir wissen, woraus die Landschaft im Nichts ganz oder zum Teil besteht, liefert uns das noch keinen Hinweis darauf, wie wir aus diesem Mini-Universum wieder in den wirklichen Kosmos zurückkehren können. Diesen Hinweis werden wir höchstens dann finden, wenn es uns gelingt, den Zentralkegel zu erreichen und das Geheimnis des Schalters zu lüften.« »Ich kann euch da leider nichts Positives sagen«, bedauerte Atlan. »Wir hätten den Zentralkegel vermutlich erreicht, wenn die Feuermenschen nicht mit ihrer Plattform erschienen wären.« Hayes wollte davon nichts hören. »Es war höchste Zeit, daß ihr geholt wurdet. Nockemanns, Bricks und Sannys Zusammenbruch war nur noch eine Frage der Zeit, und selbst wenn ihr den Feuermenschen entkommen wäret, hätten sich euch andere in den Weg gestellt. Nein, Atlan, es muß einen anderen Weg geben. Und beim nächsten Mal werden wir die Kraft der gesamten SOL einsetzen.« »Der Zentralkegel war plötzlich verschwunden gewesen und dann ebenso plötzlich wieder da. Wir hatten über eine Woche keinen Funkkontakt, dann auf einmal funktioniert es wieder. Das meinst du, Breck? Daß sich unser oder unsere Gegenspieler nicht einig sind und daher widersprüchlich handeln? Daß sie sich eine Blöße geben?« »Wir sollten uns wirklich nicht in Spekulationen ergehen, Atlan. Verarbeiten wir erst einmal das, was wir wissen, und befragen wir vor allem SENECA.« Doch bevor es dazu kommen konnte, meldete sich Tdibmufs.
*
Der Bildfunkspruch war nur von kurzer Dauer, und es ließ sich nicht feststellen, ob er von Tdibmufs direkt ausgestrahlt wurde. Das inzwischen noch rätselhafter gewordene Wesen bedankte sich fast ehrerbietig bei den Solanern, weil diese den bösen Mächten nun endgültig den entscheidenden Schlag versetzt hätten. Die Landschaft im Nichts, so versicherte es, sei nun von allem Bösen befreit und lade die Raumfahrer zu einem beliebig langen Erholungsaufenthalt ein. Der Bildschirm erlosch unmittelbar nach Tdibmufs letzten Worten. »Unser freundlicher Herumreisender scheint sehr kurz angebunden gewesen zu sein. Wie oft hat er uns nun eigentlich schon erklärt, daß das, was er das Böse nennt, nun aber wirklich besiegt sei?« »Aber das ist doch eine Gelegenheit, um zum Zentralkegel zu gelangen!« rief Hayes aus. »Wir antworten ihm, daß wir einverstanden seien und alle sein Angebot annähmen. Wenn sich fast hunderttausend Solaner dort unten tummeln, solle es mit dem Teufel zugehen, wenn nicht einige von uns sich unauffällig dem Zentralkegel näheren könnten.« »Wir können ihm das antworten«, gab Atlan zögernd zu. »Aber über das andere müssen wir uns noch unterhalten.« Er nickte. »Ein ungerichteter Funkspruch sollte ihn erreichen.« Atlan selbst formulierte den Text, den Curie van Herling dann abstrahlte. Der Arkonide sah Sanny im Eingang der Zentrale stehen. Sie kam auf ihn zu. »Du hast alles mit anhören können, Kleine?« fragte er lächelnd. »Und vielleicht konntest du inzwischen wieder einige Berechnungen anstellen – über diese Nickelspiegel zum Beispiel. Das ist doch ein erster Hinweis darauf, was Hidden-X mit den Unmengen von erbeutetem Nickel macht, obwohl die bisher angetroffenen Massen für eine befriedigende Erklärung bei weitem noch nicht ausreichen.« »Ich kann dir dazu nichts sagen«, bedauerte sie. »Aber ich habe
Tdibmufs noch nicht lange genug auf dem Bildschirm gesehen, Atlan.« »Lange genug? Wozu?« »Um ihn zu berechnen. Es wird aber nicht mehr lange dauern, bis ich dazu in der Lage bin. Und dann werden wir wissen, wer oder was er ist.«
* Diesmal konnte sich der Schalter im Wohlwollen und Lob seines Meisters sonnen. Wieder hatte sich ihm das unbegreifliche Medium aufgetan, und er hörte die Stimme von Hidden-X: * »Du hast gute Arbeit geleistet. Nun sind die Weichen für die Zukunft endlich gestellt! Der PLAN wird aufgehen!« So gierig der Schalter dieses Lob in sich aufnahm, so vorsichtig stand er doch den überschwenglichen Vorhersagen seines Herrn gegenüber. Zögernd äußerte er seine Zweifel: »Vieles auf der Landschaft im Nichts hat die Solaner eher erschreckt als ermuntert. Vieles entwickelte sich anders als von mir gewollt.« »Sprich nicht mehr von den gemachten Fehlern. Sie haben ihr Kommen zugesagt – alle. Das Wichtigste ist nun, daß die SOL unversehrt bleibt. Mit diesem Schiff werde ich meine Zukunft aufbauen. Arbeite weiter zu meiner Zufriedenheit, und auch du wirst einen Platz auf der SOL haben.« Damit riß der Kontakt abermals ab. Der Schalter konnte sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß sein Meister überheblich und selbstgefällig geworden war. Der Schalter dachte bitter an seine letzte Niederlage und mußte sich dabei fragen, ob er nicht auch diesmal wieder etwas übersehen hatte – irgendeine Kleinigkeit. Dann schüttelte er die Bedenken ab. Die Kette der Mißerfolge war endgültig abgerissen. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte er die Solaner dort, wo der Meister sie sich
wünschte.
ENDE
Die mysteriöse Macht, die das Leben auf der Landschaft im Nichts lenkt, scheint ihrem Ziel nahe zu sein, die Solaner aus ihrem Schiff zu locken. Doch die Wahrheit sieht anders aus, und die angeblichen Solaner, die die LiN besuchen, dienen als Ablenkungsmanöver für Atlans Vorstoß AUF GEHEIMEN WEGEN … AUF GEHEIMEN WEGEN – unter diesem Titel hat auch Hans Kneif el den Atlan-Band der nächsten Woche geschrieben.