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Autor: Deutsch von: Lektorat: Korrektorat: Art Director, Satz und Layout: Umschlagillustration:
Troy Denning Igor Holland-Moritz Oliver Hoffmann Thomas Russow und Lars Schiele Oliver Graute Brom
ISBN 3-937255-25-7 Originaltitel: Crucible – The Trial of Cyric the Mad © der deutschen Ausgabe Feder&Schwert, Mannheim, 2005. 1. Auflage 2005. Gedruckt in Pilsen, Oldenbourg Die Feuerprobe ist ein Produkt von Feder&Schwert. © 2005 Wizards of the Coast, Inc. All rights reserved. This material is protected under the copyright laws of the United States of America. Any reproduction or unauthorized use of the material or artwork contained herein is prohibited without the express written permission of Wizards of the Coast, Inc. Forgotten Realms and the Wizards of the Coast logo are registered trademarks of Wizards of the Coast, Inc., a subsidiary of Hasbro, Inc. All Forgotten Realms characters and the distinctive likenesses thereof are trademarks of Wizards of the Coast, Inc. U.S., CANADA, ASIA, PACIFIC & LATIN AMERICA Wizards of the Coast, Inc. P.O. Box 707 Renton, WA 98057-0707 +1-206-624-0933
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Danksagung Diese Geschichte wurzelt in Ereignissen, die sich aus der Avatar-Trilogie und aus Der Prinz der Lügen ergeben, und ich möchte mich beim ursprünglichen Avatar-Team bedanken, zu dem (unter anderem) Ed Greenwood, Jeff Grubb, Karen Boomgarden und all die kreativen Köpfe in der Spielabteilung, die an dem Projekt mitgearbeitet haben, Mary Kirchoff, die die Romane überwachte, Scott Ciencin, der Autor von Schattental und Tantras (unter dem TSR-Pseudonym Richard Awlinson), ich selbst (als Autor von Tiefwasser) und James Lowder, der Lektor der gesamten Trilogie und Autor von Der Prinz der Lügen, gehörten. Auch würde ich gerne folgenden Personen für ihre wertvollen Beiträge zu Die Feuerprobe – Der Prozeß gegen Cyric den Wahnsinnigen danken: Peter Archer für seine Geduld und Lektorenweisheit, Brian Thomsen für seine unschätzbar wichtigen Ratschläge, Julia Martin dafür, daß sie das Manuskript gegengelesen hat, Steven Schend dafür, daß er mich vor der Zeit einen Blick in seine Arbeit an den Kulturen von Calimshan und Amn hat werfen lassen, und ganz besonders Andria Hayday für die harte Arbeit, die sie beim Feinschliff des Manuskripts und bei der Rettung von Maliks Stimme geleistet hat.
Natürlich hängt es wieder an mir. Wie immer. Wer lebt. Wer stirbt. Was ist. Was sein wird. Ich beobachte euch von oben. Ich schwebe am Himmel, genau, wie die Sterblichen sich das bei uns Göttern so vorstellen. Der riesige Ozean breitet sich unter mir aus, brandet auf ewig gegen das felsige Ufer der Schwertküste, wo die mit weltlicher Dummheit angefüllten Türme Kerzenburgs über einem schwarzen Basaltberg aufragen. Mit einem Hauch könnte ich dieses Bollwerk der Falschheit zerschmettern, seine Mauern zu Staub zermalmen, es im Meer versinken lassen und seine wirren Schriften über die brodelnden Teergruben und tiefen, stinkenden Ozeane in den entlegensten Winkeln der Welt verstreuen. Nun stell dir vor, ich stehe. Das Meer hängt aufrecht vor mir, wie ein funkelndes grünes Gespinst gespannt über die endlosen Weiten des Himmels, während seine schaumgekrönten Wogen immer wieder herausfordernd gegen das Ufer branden. Die Welt ist gekippt, und die Türme Kerzenburgs sprießen aus dem Basaltberg wie Warzen auf einer großporigen schwarzen Nase. Mit einem Gedanken könnte ich das ganze Meer auf diese Feste der Verderbtheit loslassen, auf daß es sie verschlin-
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ge, und so diesen Hort in Lettern gebannter Lügen vom Angesicht der Welt waschen, seine Bücher ins Vergessen spülen und Tora selbst die kleinste Erinnerung an jene lügengespickten Seiten entreißen. Du siehst, es hängt alles von mir ab. Nichts ist sicher, bis ich es betrachtet und an seinen Platz verwiesen habe, ehe ich nicht meinen eigenen Platz darüber, darunter, davor oder dahinter gewählt habe. Sollen sie sie doch haben, ihre Tempel Oghmas des Unwissenden und Deneirs des Plappermauls, Gonds, des stinkenden Schmieds oder gar Milils, des Herrn des Lärms! Sollen sie mich verachten, wenn sie sich trauen. Ich bin der Eine. Ich bin alles.
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So sprach Cyric in der Nacht der Verzweiflung, und in meiner Wut vermochte ich es nicht zu begreifen. Ich war wie ein Kind; ich hörte mit den Ohren eines Kindes, sah mit den Augen eines Kindes und suchte mit dem Verstand eines Kindes zu begreifen. Ich verzweifelte, fiel ab vom Glauben, und wie ihr noch sehen werdet, erlitt ich schreckliche Qualen deshalb. Aber wisset, daß der Eine mich, den Verlorenen, fand, mich auf den Weg des Glaubens zurückführte, meine Augen mit den Feuern von Wahrheit und Herrlichkeit blendete, bis ich all dessen gewahr wurde, was sich in der Welt und im Himmel zutrug, und daß er all dies tat, damit ich in dem folgenden Bericht alles, was Menschen und Götter getan haben, genauso darzulegen vermag, wie es sich auch abgespielt hat.
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Ich bin Malik el Sami yn Nasser, ein berühmter Händler aus Calimshan und gern gesehener Gast am Königshof von Najron, und dies ist meine Geschichte, in der ich die Ereignisse darstelle, die mich und tausend andere auf der Suche nach der heiligen Cyrinishad, dem erhabensten und göttlichsten aller Bücher, ereilten. Ich werde von meinem frommen Dienst an Cyric in den endlosen Landen Faerûns erzählen und die große Belohnung enthüllen, die mir für meinen aufopferungsvollen Dienst und meine vielzähligen grausamen Qualen zuteil wurde. Gepriesen sei Cyric, der Mächtigste, der Höchste, die Finstere Sonne, der Herr der drei Kronen und Prinz der Lügen. Aller Segen und alle Kraft mögen seiner Kirche und seinen Dienern zuteil werden. Mögen sie in der Zeit nach dem Jahr des Blutbads allein über die Königreiche der Sterblichen herrschen und auf immer im ewigen Palast gedeihen! Bedenke diesen Bericht wohlwollend, oh Gott der Götter, auch wenn kein einziger Vers imstande ist, das Ausmaß deiner Macht wiederzugeben, wie auch keine von Menschen gesprochene Sprache Worte besitzt, die die Pracht deiner Gegenwart zu beschreiben vermögen!
[ PROLOG ]
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In der Glänzenden Stadt lebte ein junger Prinz. Er war hübsch anzusehen und auch recht manierlich, wenn es ihm auch an Zurückhaltung und Gerechtigkeitssinn mangelte. Als ich eines Tages geschäftlich außer Haus war, sandte der Kalif diesen seinen Thronfolger zu mir, einen Brief in der Hand, der nur für meine Augen bestimmt war. Meine Diener baten den Prinzen, im Schatten des Vorzimmers zu warten, und meine Gattin erwies sich wieder einmal als freigiebige und herzliche Gastgeberin, indem sie ihn mit Erfrischungen versorgte und sich zu ihm setzte, um ihn zu unterhalten, und hier war es auch, wo ich beide bei meiner Rückkehr fand. Es stimmt wohl, daß keine züchtige Person sich in dem Aufzug auf die Straße gewagt hätte, in dem ich meine Gattin und den Prinzen fand, als ich heimkam. Da sie sich ja aber nicht auf der Straße aufhielten, stöhnte ich nur kurz über die Hitze und paßte meinen Kleidungsstil kurzerhand dem ihren an. Meine unkomplizierte Art kam dem Herrn Prinzen wohl sehr gelegen, wenngleich er doch eben noch ein wenig nervös und unangenehm berührt gewirkt hatte. Er gab mir sogleich den Brief, und ich bot ihm an, sich zu erfrischen, während ich las.
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Der Inhalt des Briefs war recht profan, eine Forderung hinsichtlich einer Steuer, die zu zahlen ich vergessen hatte. Während ich eine Antwort schrieb, entspann sich ein recht angenehmes Gespräch zwischen uns, was sich für mich, dessen war ich mir sicher, bei Hofe auszahlen würde, immerhin war der Prinz der älteste Sohn der ersten Frau des Kalifen. Seit diesem Tage erhielt ich eine Vielzahl weiterer Briefe vom Herrscherhaus, allesamt direkt aus der Hand des Thronerben. Wenn ich es bald auch für klüger hielt, an der Tür meines eigenen Vorzimmers anzuklopfen, ehe ich es betrat, so war dies wohl ein geringer Preis für das Ansehen, welches mir die häufigen Besuche des Prinzen einbrachten, wie auch für die großen Ehren, mit denen er sich später für meine Gastfreundlichkeit würde revanchieren können. Es kam der Tag, da der Kalif einen Brief erhielt, der von Ereignissen berichtete, die sich in der Zentilfeste, einem einstmals mächtigen Bollwerk unseres Herren Cyric in den fernen Barbarenreichen, zugetragen hatten. Dem Brief zufolge hatte die Dunkle Sonne selbst die Geschichte ihrer eigenen Gottwerdung niedergeschrieben: die Cyrinishad. So wunderschön und vollkommen seien die Worte der Cyrinishad gewesen, daß ein jeder, der sie las, auf der Stelle die Wahrheit und Pracht all dessen erkannte, was sie verkündeten. Dieses Werk barg in sich die Kraft, die Heiden Faerûns zum wahren Glauben zu bekehren – all die Möchtegerngötter hinwegzufegen und Cyric zum einzig wahren Gott zu machen! Der Kalif war über alle Maßen erregt, erfüllte es ihn doch mit Zorn, daß nicht jeder fähig war, so fromm zu
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glauben, wie er es tat, und er war stets bereit, andere auf den Pfad des Glaubens zu geleiten. Er rannte in der Tat wohl eine Stunde lang hin und her, wobei er den Brief schwenkte und Hymnen auf den ruhmreichen Sieg Cyrics skandierte, bevor sein Kämmerer ihn einfangen konnte, um schließlich mit dem Lesen fortzufahren. Ich sah dies mit meinen eigenen Augen, da ich am nämlichen Tage selbst Gast bei Hofe war. Die zweite Seite des Briefes erklärte, wie sehr Mystra (die Hurengöttin der Magie) und Oghma (der diebische Gott der Weisheit) die Macht der Cyrinishad fürchteten und wie sie sich gegen Cyric verschworen hatten. Bei der ersten öffentlichen Lesung aus der Cyrinishad hatte Oghma das Heilige Buch durch ein verleumderisches Machwerk ersetzt, das alle, die der verlogenen Lesung lauschten, sich von der Finsteren Sonne abwenden und vom wahren Glauben abfallen ließ. Da geschah es, daß Kelemvor Lyonsbane – ein ehrloser Verräter, den Cyric bereits Jahre zuvor erschlagen hatte – aus seinem Kerker in der Stadt der Toten entkam, um eine Rebellion anzuzetteln und unseren finsteren Herrn vom Thron des Todes zu verdrängen. Als er diese Worte vernehmen mußte, geriet der Kalif derart außer sich, daß er seinen Dolch zog, sich auf seinen Kämmerer stürzte und dem armen Kerl die Zunge herausschnitt. Hernach war alles so blutbesudelt, daß der neue Vorleser, der nun den Kämmerer ersetzte, nicht fortfahren konnte, bis die Hofpriester den Text wieder lesbar gemacht hatten. Die dritte Seite des Briefes erklärte, die Macht Cyrics sei so gewaltig, daß es Oghma und Mystra nicht einmal
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mit vereinten Kräften gelang, die Cyrinishad zu vernichten. Oghma übergab den Band einer Sterblichen und gebot ihr, in die Ferne zu ziehen und sich zu verstecken. Er segnete sie mit einem diamantenen Amulett, das sie vor den Augen aller Götter Faerûns verbergen würde. Oghma versagte gar sich selbst das Wissen über ihren Verbleib, denn seine Angst vor der Schläue des Einen war so groß, daß er wußte, Cyric würde ihn mit einer List dazu bringen, ihren Aufenthaltsort preiszugeben. Die letzte Seite des Briefes bat den Kalifen, seine ergebensten Spione auszusenden, um die Tempel Oghmas und seiner Dienergottheiten Gond, Deneir und Milil zu beobachten, ebenso auch die Tempel Kelemvors, Mystras und ihrer Diener Azuth, Savras und Velsharoon. Auch bat der Brief, der Kalif möge Spione an jene Orte entsenden, an denen die Harfner ihre versteckten Zufluchten hatten, wie auch an die, an denen die Toten für Kelemvor zurückgelassen werden, und auch an alle anderen Orte, an denen die Diener des diebischen Oghma sich verkriechen mochten. All dies und noch ein wenig mehr tat der Kalif, denn er wies jeden, selbst den entferntesten, seiner Vettern an, ihm in diesem großen Vorhaben zur Seite zu stehen. Er ließ lange Listen anfertigen, auf daß sie keine Zeit damit verschwendeten, alle dieselben Winkel zu durchforsten. Er sagte, seine Spione sollten ihn, falls sie das Buch fänden, benachrichtigen und nicht etwa versuchen, es selbst zu bergen. Er glaubte zwar nicht, daß sie sich daran halten würden, war ihm doch klar, daß ein jeder Sterblicher, der die Cyrinishad wieder entdeckte, von dem Einzigen und All-Einen großes Wohlwollen zu erwarten hätte, aber er wollte nicht
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dadurch vergeßlich erscheinen, daß er den Befehl unausgesprochen ließ. So rief der Kalif seine ergebensten Spione in seine Gemächer. Es war die Gastlichkeit meines Hauses, der ich die Ehre zu verdanken hatte, unter ihnen sein zu dürfen, denn der Prinz riet, mir solle doch die Ehre zuteil werden, einen weit entfernten Posten zu beziehen, an dem ich die volle Härte meiner Mission in der Verkleidung eines Bettlers zu spüren bekommen würde. Ich war zunächst zu höflich, um das Angebot anzunehmen, und wandte ein, daß sowohl die Geschäfte als auch meine Familie meine Anwesenheit in der Glänzenden Stadt erforderten. Der freundliche Prinz antwortete, er würde meine Angelegenheiten in meiner Abwesenheit schon regeln und dafür sorgen, daß weder meinem Geschäft noch meiner Gemahlin irgendeine Unbill widerfahre. Als er erkannte, welch hohe Stücke sein Sohn auf mich hielt, verkündete der Kalif, ich solle über den wichtigsten und gleichwohl gefährlichsten aller Posten zu wachen haben, die große Bibliothek der Kerzenburg. Ich wußte sofort, daß mir ein Segen zuteil wurde. War Kerzenburg nicht Faerûns mächtigste Bastion der Gelehrsamkeit und als solche von Oghma, dem alten Neider, und der eifersüchtigen Mystra hoch geschätzt? War nicht die Cyrinishad die größte historische Abhandlung aller Zeiten? War sie als solche nicht in der Lage, selbst Götter zu ergebenen Dienern des Einzigen und All-Einen zu machen? Die Nornen selbst hatten beschlossen, daß die Cyrinishad nach Kerzenburg kommen würde – und wenn es soweit war, würde ich bereits dort sein und warten.
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Derart meines Erfolges sicher und zuversichtlich, daß ich hernach in einer Position wäre, die es mir ermöglichen würde, dem Prinzen seine Höflichkeit zu vergelten, tauschte ich die seidenen Gewänder des Händlers gegen die Leinenlumpen eines Bettlers ein. Ich schnitt mir das bis dahin noch äußerst gepflegte Haar und den dunklen Bart zu Fransen, schmierte mir Schlamm ins Gesicht und reiste eilig nach Norden in die Steppe, die Kerzenburg umgibt. Dort lauerte ich jahrelang verdreckt und ungepflegt. Wie ein Verrückter lallend bettelte ich die Mönche, die am Tor Wache standen, um Essen und Neuigkeiten an. Nie habe ich unseren finsteren Herrn um Beistand angefleht. Die Mönche unterhielten in ihrer Zitadelle einen Tempel Oghmas, und so fürchtete ich, der Fürst des Wissens könne meine Gebete belauschen und mich fortjagen lassen. So verschloß ich die Augen vor meinem Herrn und Meister und lebte jahrein, jahraus einsam und verlassen. Ich betete nicht um Erlösung vom Hunger, den ich litt. Ich rief keine Flüche auf die herab, die mit Steinen nach mir warfen. Nicht einmal in Gedanken rief ich den geheiligten Namen Cyrics des All-Einen an. Ich verbrachte viele Jahreszeiten zusammengekauert im Torbogen des Niederen Tores und erbat Almosen von allen, die es durchschritten, und ich erniedrigte mich vor denen, die sich für etwas Besseres hielten als mich. Schließlich, eines Abends, da das Prasseln eines Nieselregens meine Ohren mit einem dermaßen steten Rauschen erfüllte, daß ich fürchtete, ich würde schließlich vollends den Verstand verlieren, wurde ich zweier Fremder gewahr, die tropfenstiebend herangaloppierten, eines
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Kriegers und einer Frau. Sie sprachen die Zunge eines Barbarenlandes, und ihr Packpferd schnaubte unter einer großen eisernen, in Ketten gewickelten Truhe. Ich näherte mich, um mir eine Münze für ein Abendmahl zu erbitten, und der gepanzerte Krieger gab mir eine Kupfermünze, damit ich ihrer beider Pferde hielte. Er berichtete den Mönchen am Tor von harten Kämpfen, ebenso harten Ritten und Feinden, die sie tot auf der Straße zurückgelassen hatten. Die Frau erzählte von finsteren Nächten, einsamen Reisen und der Hilfe all derer, die Oghma verehrten, und dann öffnete sie ihren Umhang und offenbarte ein diamantenes Amulett in Form einer Schriftrolle des Oghma. Obgleich ich gar nicht nach jenem unheiligen Amulett Ausschau gehalten hatte, war ich mir plötzlich sicher! Ich spürte förmlich, wie die Finsternis im Innern dieser Eisentruhe aufwallte, ich hatte ihn geradezu in der Nase, den modrigen Geruch des Pergaments aus Menschenhaut und konnte fast das Flüstern der dunklen Wahrheiten über die heiligen Seiten rascheln hören. Die Cyrinishad griff nach mir, um meinen Geist und meinen Leib zu erfassen, meine Ohren waren von einem Rauschen erfüllt, ich wähnte mich im Fieber! Da konnte ich an nichts anderes mehr denken als an das Buch, daran, wie Oghmas Diebe mir den Rücken zuwandten und wie ich die Zügel ihrer Pferde in meinen Händen hielt, wie zum Greifen nah die Cyrinishad nach schier endlosen Monaten des Wartens nun war. Ohne auch nur einen Gedanken an meine Sicherheit zu verschwenden, rammte ich meinen Fuß in den Steigbügel des Streitrosses des Kriegers, hievte mich in den Sattel
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und riß an den Zügeln. Hätte mein Vater mir mehr über den Umgang mit Pferden als über den Umgang mit Gold beigebracht, so hätte mein Bericht hier und jetzt damit enden können, daß ich Cyrics ewiges Wohlwollen erntete und nach Hause zurückkehrte, um dem Prinzen die enorme Freundlichkeit, mit der er sich um meine Frau und mein Vermögen gekümmert hatte, zehnfach zurückzuzahlen. Aber es sollte nicht sein. Das Streitroß wollte sich nicht bewegen. Je stärker ich am Zügel riß, desto heftiger wehrte es sich. Als ich gerade darüber nachdachte, das dämliche Vieh mit einem beherzten Schlag zwischen die Ohren gefügig zu machen, wieherte es so schrill, daß es mir fast das Trommelfell zerriß. In diesem Augenblick spürte ich die Schwertspitze des Kriegers unter dem Kinn. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzusteigen, mich in den Schlamm zu werfen und ihn um Gnade anzuflehen, und trotzdem verschonte er mein Leben nur, weil die Mönche am Tor dazwischengingen und mit scharfen Worten gegen den Mord an einem halbverblödeten Bettler protestierten. Es dauerte an die fünf Minuten, bis der Mann sein Schwert wegsteckte und mich mit dem Fuß von sich fortstieß, und dann dauerte es noch mal fünf Minuten, bis seine elende Begleiterin aufhörte, mich mit einer Vielzahl recht deutlicher Worte über die Achtung vor dem Eigentum anderer zu belästigen (und das von einer Dienerin des diebischen Oghma!) Als die Frau schließlich ihrer eigenen Stimme überdrüssig geworden war, öffneten die Mönche das Tor und geleiteten sie und den Krieger hinein. Ich verschwendete
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keine Zeit und machte mich noch in derselben Minute auf den Weg nach Beregost, um dem Kalifen eine Nachricht zukommen zu lassen. Sobald er die Kunde von meiner bedeutenden Entdeckung verbreitet hätte, dessen war ich mir sicher, würden Cyrics Getreue nach Norden eilen, um die Cyrinishad zu bergen und die Ungläubigen für ihren Diebstahl bestrafen. Sicher hatten meine Tage als Spion jetzt ein Ende! Der Kalif würde mich heimbeordern, um mich für die Qualen, die ich hatte erdulden müssen, angemessen zu belohnen, und man würde mich in ganz Calimshan und auf der ganzen Welt als den Finder des Buches preisen. Mein Name würde in den Tempeln von Atkatla bis Escalant in Ehren gehalten werden, und ich wäre endlich in der Position, um mich beim Prinzen für die mannigfache Zuwendung zu revanchieren, die er meinem Haus wie auch meiner Ehefrau hatte angedeihen lassen! Doch mir sollte ein anderes Schicksal zuteil werden.
Am Morgen der Erstürmung Kerzenburgs wurde mir die Ehre zuteil, auf einem Erdhügel in einiger Entfernung zur Zitadelle bei den Feldherren stehen zu dürfen. Der Kalif hatte mich, den Finder des Buches, mit der Aufgabe betraut, in der Schlacht seinen Platz einzunehmen, während seine besten Schwertkämpfer sich auf dem Feld vor uns zu den Gläubigen gesellten. Diese Kämpfer bildeten nur einen Bruchteil der Streitkräfte, die im Namen Cyrics, des Einzigen und All-Einen, mobilisiert worden waren. Zu meiner Linken stand seine Hoheit Harun mit seiner Horde schwarzgepanzerter Leibgardisten. Er war ein Muskelberg von einem Mann, gekleidet in ein klirrendes Kettenhemd, der ein großes Gefolge gläubiger Kämpfer, die so genannten Schwarzhelme, befehligte. Zu meiner Rechten stand, von seiner Leibgarde umgeben, seine Tödlichkeit Jabbar. Seine Tödlichkeit war ein bläßlicher Mann, der zugunsten einer leichten Priesterrobe auf klappernde Rüstungsteile verzichtete. Er befehligte die Purpurlanzen, einen Zug gläubiger Kämpfer, der dem Gefolge seiner Hoheit Harun im Hinblick auf seine Größe in nichts nachstand. Gemeinsam waren beide Einheiten bekannt als Kompanie des Schwarzen Sporns. Die
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Krieger vom Schwarzen Sporn waren eine Elitereitereinheit aus Amn, und als Cyrics Sturmtruppen stürzten sie sich auf dem Rücken riesiger Kriegsbullen in die Schlacht. Ihre beiden Anführer, Jabbar und Harun, waren als die finsteren Gebieter bekannt. Am anderen Ende der sich über dreihundert Meter weit erstreckenden Steppe ragten hoch oben auf der scharfkantigen, basaltenen Felsnadel, die sich gut dreißig Meter über der donnernden Brandung erhob, die uneinnehmbaren Türme von Kerzenburg auf. Im weichen Licht vor der Morgendämmerung konnte ich winzige Gestalten zwischen den Zinnen in der äußeren Mauer stehen sehen, sah, wie sie auf die Straße blickten, die sich tief unter ihnen dem Tor der Zitadelle entgegenschlängelte. In meinem Kopf vermeinte ich zu hören, wie unsere Feinde lachten, damit prahlten, daß sie mit uns kurzen Prozeß machen würden, wenn wir den engen Pfad zum Hohen Tor hinaufsteigen würden. »... Steine werden ihre Schädel zermalmen wie Eier.« »Wie verfaulte Eier, die nicht einmal ein Hund anrühren würde!« »Jawohl, Carl, wie alte stinkende Eier mit grauen, vergammelten Dottern, so klebrig und faul, daß wir hier oben vielleicht aushalten müssen, bis irgendwann mal der Regen kommt, der ihre Hirne von der Rampe spült!« »Ha! Bis der Regen kommt! Ha-Hahaarrr!« Ich ließ sie lachen. Die allmächtige Hand Cyrics des Unbesiegbaren würde unsere Armee während ihres langen Aufstiegs beschirmen; ich hatte es in einem Traum vorhergesehen. Sehr bald schon würde der Schwarze Sporn das Grinsen aus ihren toten Gesichtern schneiden.
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Ich nickte den Signalmeistern zu. Meine Befehlsgewalt bestand nur auf dem Papier, und damit erschöpfte sie sich auch schon. Auch wenn das Bündnis der finsteren Gebieter recht fragil war, so waren sie sich doch in einem Punkt völlig einig: An diesem ruhmreichen Tag würde kein dahergelaufener Gesandter des Kalifen aus dem fernen Calimshan die Oberhand über sie erlangen. Die Signalmeister entrollten ihre schwarzen Flaggen, und ein ohrenbetäubender Lärm breitete sich auf dem Feld vor uns aus, als unsere Streitkräfte Waffen und Schilde ergriffen. Die Feuerriesen von der scharlachroten Gemeinschaft, die für einen immensen Sold auf unserer Seite kämpften, hoben ihren eisernen Rammbock auf und nahmen eine Keilformation ein. Hinter ihnen bestiegen die beiden Einheiten des Schwarzen Sporns ihre Kriegsbullen und formierten sich gleichermaßen, die Schwarzhelme seiner Hoheit Harun in einer langen Reihe am linken Wegesrand und die Purpurlanzen seiner Tödlichkeit Jabbar ihnen gegenüber entlang der rechten Seite des Weges. Zusammen zählten die Reiter des Schwarzen Sporns wohl einige hundert Mann. Es folgten, angeführt vom zweitältesten Sohn des Herrschers, die Säbel des Kalifen (während der Thronfolger in der Glänzenden Stadt geblieben war, um sich um meine liebe Gattin und mein Vermögen zu kümmern). Dahinter die Hiebdolche von Soubar, die Verheerer von Tunland, die unsichtbaren Äxte aus Iriaebor und ein Dutzend weitere Kompanien, die die Nachtgöttin Shar und Talos der Zerstörer entsandt hatten, um die Gunst unseres Herrn Cyric zu erlangen. Sogar ein Stamm von Orks aus dem Mantelwald hatte sich uns ange-
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schlossen. Dies war fürwahr die mächtigste Streitmacht des Glaubens, die jemals aufgestellt worden war, und mein Herz ging auf bei dem Gedanken, daß ich es war, der sie hier hergebracht hatte. Als die Kompanien schließlich allesamt Stellung bezogen hatten, wandten sich alle Augen den finsteren Gebietern zu. Seine Hoheit erhob ihren Marschallstab, ein goldenes Zepter, das von einem eisernen Strahlenkranz gekrönt war – eine Hälfte von Cyrics heiligem Schädel im Strahlenkranz. Jabbar aber erhob seine Hälfte nicht, denn die beiden Kommandanten des Schwarzen Sporns weigerten sich beharrlich, einander direkt anzusehen, und so hatte er Haruns Signal nicht sehen können. Ein junger Berater löste sich aus der Heerschar seiner Leibgardisten und trat an die Seite seiner Tödlichkeit. Ich konnte nicht hören, was gesagt wurde, als sich der Adjutant jedoch wieder zurückzog, drehte Jabbar sich auf dem Absatz um und ließ seinen Blick den Hügel hinauf schweifen, während er seiner Garde bellend befahl, ihm freie Sicht zu geben. Der Mob teilte sich. Seine Tödlichkeit blickte einen Moment lang über die Ebene, dann wirbelte er herum und wies mit seinem Zepter auf die Signalmeister. »Halt!« »Halt?« Haruns Kopf schnellte herum, und er funkelte seine Tödlichkeit an. »Wir hatten uns auf Sonnenaufgang geeinigt, du doppelzüngiger Feigling!« Jabbar quittierte die Beleidigung nur mit einem leicht zischelnden Ausatmen, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, daß er später noch seine Rache zu nehmen gedachte. »Das hier ist kein Verrat. Ein Heereszug naht auf
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dem Weg des Löwen.« »Entsatz?« knurrte Harun. »Unserer oder der ihre?« Seine Tödlichkeit zuckte die Achseln. »Ich kann die Banner nicht erkennen. Sieht nach einer großen Kompanie aus. Wir können uns nicht erlauben, sie zu ignorieren.« »Das denkst auch nur du.« Harun stapfte über den Hügel, um selbst einen Blick zu riskieren. Seine Leibgarde folgte ihm stehenden Fußes und ließ hierbei eine wahre Kakophonie klirrender Rüstungen und rasselnder Waffen erklingen. Aus den Reihen unserer Truppen am Fuß des Hügels erhob sich ein Mordslärm von schnaubenden Tieren und ächzenden Männern. Die Anführer der Infanterieeinheiten warfen finstere Blicke den Hügel hinauf, während ihre Lippen die Namen von Harun und Jabbar verfluchten. Die Offiziere des Schwarzen Sporns waren bereits an die Mißstimmung zwischen den finsteren Gebietern gewöhnt und befahlen ihren Truppen ganz einfach abzusitzen – Kriegsbullen waren keine geduldigen Tiere; sobald einmal ein Reiter aufgestiegen war, waren sie kaum mehr zu zügeln. Ich zog los, um auf der anderen Seite der Hügelkuppe zu den anderen zu stoßen. Die Menge teilte sich vor mir, auch wenn ich weder groß noch imposant war – genaugenommen war ich sogar eher klein und pummelig, und das rundliche Gesicht, aus dem ein Paar Fischaugen hervorquoll, ließ mich wie das genaue Gegenteil einer Bedrohung wirken. Immerhin war ich der Finder des Buches, der Listenreiche, der Oghma den Weisen gefoppt hatte, und nie-
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mand sonst außer den finsteren Gebietern selbst wollte das Risiko eingehen, meinen Zorn heraufzubeschwören. Ich schlüpfte durch die Menge und fand mich im Niemandsland, das sich stets zwischen Harun und Jabbar erstreckte, wieder. Beide finsteren Gebieter blickten den Weg des Löwen entlang einem langen Zug von Fußtruppen entgegen. Die weißgewandeten Krieger waren kaum mehr als winzige Kreidepunkte auf dem Grau der Straße, ihre Feldzeichen hingegen waren so groß, daß ich sie gut identifizieren konnte. Eine sich um einen weißen Stab windende neunschwänzige Katze auf blutrotem Feld. »Loviatar?« keuchte ich. »Die Mönche vom weißen Stab«, vermeldete Harun. »Ein guter Orden – Jünger des Schmerzes. Je schlimmer sie verletzt sind, desto härter kämpfen sie.« »Ob das gut oder schlecht ist, hängt davon ab, auf wessen Seite sie kämpfen«, entgegnete seine Tödlichkeit Jabbar. »Loviatar muß sich erst noch positionieren.« »Sie müssen auf unserer Seite sein«, sagte ich. Nur wenige Menschen wären mutig genug gewesen, einem finsteren Gebieter gegenüber ihre Meinung kundzutun, ich aber hatte »besondere Übereinkünfte« sowohl mit Jabbar als auch mit Harun, die mir derlei Freiheiten einräumten. »Ist Loviatar nicht eine der finsteren Göttinnen?« »Sie diente Bhaal, den Cyric während der Zeit der Sorgen erschlug«, gab Jabbar zurück. »Wer kann schon sagen, ob sie ihm dafür dankt oder ihn deshalb verflucht?« »Aber Eure Tödlichkeit, Loviatar würde niemals die
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Ziele Oghmas fördern!« Jabbars Gesicht wurde puterrot, und ich bemerkte meinen Fehler, noch bevor die Umstehenden begriffen. Nur ein Narr oder ein Kalif könnte andeuten, daß ein finsterer Gebieter sich geirrt hatte, und da ich kein Kalif war ... nun, nicht einmal meine »besonderen Übereinkünfte« würden mich vor dem Zorn seiner Tödlichkeit bewahren. Ich ließ meine Beine einknicken, um mich vor ihm zu erniedrigen und ihn um Gnade anzuflehen. Doch bevor meine Knie auch nur die Chance hatten, den Boden zu berühren, ergriff der Allerhöchste Harun meinen Arm, und so hing ich für einen Moment leblos in der Luft, wie eine Marionette. Harun verkündete: »Wenn der Finder die Feinheiten der Politik des Himmels nicht ermessen kann, so müssen wir ihm dies nachsehen. Vergiß nicht, daß el Sami in den letzten paar Jahren blind gegenüber der Entwicklung der Kirche sein mußte.« Seine Hoheit stellte mich mit einem Ruck auf die Füße und wandte sich dann in Richtung des Heerhaufens, der die Straße hinunter zog. »Dennoch sollten wir davon ausgehen, daß er richtig liegt.« »Was?« Jabbar funkelte mich an, als hätte ich Harun diese Worte in den Mund gelegt. »Du bist genauso verrückt wie der Spion!« Seine Hoheit reckte das Kinn. »Du sagst das, als sei es etwas Schlechtes, Jabbar.« Seine Tödlichkeit funkelte Harun an und knirschte mit den Zähnen, während er darüber nachsann, wie er seinen Fehler tarnen konnte. Cyric hatte den Platz des Gottes des Wahnsinns eingenommen, und mittlerweile würde kein frommer Gläubiger den Wahnsinn mehr als
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etwas anderes ansehen als eine göttliche Gabe. Dies war nur eine der vielen Neuerungen, die während meines langen Aufenthalts im Kerzenburger Umland eingetreten waren, und auch wenn ich weise genug war, dies nicht zu äußern – oder auch nur allzuoft daran zu denken –, läßt mich mein Dienst als treuer Chronist einräumen, daß ich diese Veränderung ebenso skeptisch beäugte, wie Jabbar es offenkundig tat. Nach einer langen Pause schenkte mir seine Tödlichkeit ein Kobralächeln. »Wir alle verehren den Wahnsinn. Das wird schon aus unserer Hochachtung vor Malik deutlich. Aber das Schlachtfeld ist kein Ort für Marotten. Wenn Loviatar ihre Mönche gegen uns ins Feld schickt, werden wir zwischen ihnen und dem Tor eingekeilt ...« »Was unsere Männer wohl nur noch schneller die Rampe hinauftreiben dürfte.« Seine Hoheit schwenkte den eisernen Strahlenkranz seines Zepters Richtung Osten, wo die Sonne nun schon eine ganze Spanne breit über dem Horizont am Himmel stand. »Inzwischen verstreicht der Morgen. Wir waren uns einig, bei Tagesanbruch anzugreifen, damit der Feind von der Sonne geblendet wird. Wenn wir das Eintreffen der Jünger Loviatars abwarten, wird es zu spät sein.« »Dann greifen wir eben morgen an«, verkündete Jabbar. »Natürlich, und wenn dann wieder ein Heereszug naht, blasen wir den Angriff noch mal ab?« Als ich bemerkte, daß die finsteren Gebieter sich wieder in einem ihrer Streites ergehen würden, zog ich mich in die Menge zurück und verschwand, wie es so meine
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Art ist. Ich war noch nicht so lange fern des Hofes, daß ich meine Position in dieser Angelegenheit hätte mißverstehen oder nicht begreifen können, warum der Kalif mich anstelle eines seiner vielen Söhne seinen Platz hatte einnehmen lassen. In dem Augenblick, in dem ich mich auf die Seite Haruns schlug, würde jabbar mich ohne mit der Wimper zu zucken töten. Harun würde umgekehrt genauso handeln. Ich hatte nur so lange überlebt, weil bisher niemand die Träger der Cyrinishad gesehen hatte – deshalb, und natürlich dank der »besonderen Übereinkünfte«, die ich getroffen hatte, indem ich jedem der finsteren Gebieter versprochen hatte, ihm bei der Bergung des Buches gegenüber dem jeweils anderen einen Vorteil zu verschaffen. Daß ich all dies in Cyrics Namen geschworen hatte, bereitete mir kein besonderes Kopfzerbrechen. Als Gott der Zwietracht würde mir der Einzige und All-Eine für meinen Einfallsreichtum Beifall spenden, und in Wirklichkeit hielt ich keinen von beiden der Cyrinishad für würdig. Ich war von meiner Jahre währenden Spionagemission zurückgekehrt, um festzustellen, daß die Kirche des Einen sich in eine Vielzahl von Fraktionen aufgespalten hatte – wie auch der Schwarze Sporn in Haruns Schwarzhelme und die Purpurlanzen Jabbars zerfiel –, und dies erfüllte mich mit unsäglicher Abscheu. Ich erkannte, wie diese Zwietracht die Kirche und ihre wichtigen Persönlichkeiten schwächte, und ich fürchtete alsbald, daß all meine Qualen umsonst gewesen sein könnten, daß ich niemals genug Macht erlangen würde, um dem Prinzen seine Freundlichkeit zu vergelten.
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Dann überkam mich eine Vision. Ich sah mich unter dahinrasenden Wolken stehen. Vor mir breitete sich eine riesige Heerschar wahrer Gläubiger aus, deren Zahl die der Sandkörner in der Calimwüste bei weitem überstieg. Die heilige Cyrinishad schwebte, auf der ersten Seite aufgeschlagen, vor mir in der Luft, und ich las mit donnernder Stimme daraus vor. Alle, die mich hörten, wußten sofort, daß ich im Namen Cyrics sprach, daß ich der einzig wahre Prophet war und daß die Nomen mich, Malik el Sami yn Nasser, höchstselbst auserwählt hatten, um alle wahren Gläubigen unter einem einzigen dunklen Banner zu einen! Dann schwand die Vision, und ich erkannte, daß mein Schicksal in meinen eigenen Händen lag. Alles, was ich wollte, konnte ich erreichen: Sei es die Herrschaft über Hunderte von Königreichen, über Karawanen ohne Zahl oder über alle Hochseeflotten der Welt oder auch die Macht, des Prinzen Freundlichkeiten tausendfach zurückzugeben, und alles, was ich tun mußte, war, die Cyrinishad an mich zu nehmen und ihre Wahrheiten in aller Welt zu verbreiten. Meine Gedanken rangen noch mit dieser Vision, als ich aus der Menge von Haruns Wachen auftauchte und mich auf die vordere Seite des Hügels zubewegte. Auf der Steppe unten hatte die scharlachrote Gemeinschaft gerade ihren Rammbock fallen lassen. Die Sturmtruppen vom Schwarzen Sporn standen neben ihren unruhigen Reittieren und versuchten, sie zu besänftigen. Die Orks aus dem Mantelwald hingen herum, knirschten mit den Hauern und lausten sich. Die Zauberer der Verheerer von Tunland standen hinter den Krummdolchen und
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bespaßten einander mit Irrlichtern und tanzenden Rauchwolken. Die Stunde des Angriffs war gekommen und wieder vergangen. Ein Fächer aus goldenem Licht schwebte knapp über den kupfergedeckten Dächern von Kerzenburgs Türmen, strahlte weit auf die Schwertersee hinaus und erleuchtete dabei einen Vogelschwarm, der sich von der Bucht her näherte. Als ich ihn beobachtete, drehte der Schwarm bei und senkte sich, sich einer Spirale gleich windend, auf Kerzenburg herab, wobei die Schwingen der Vögel im Licht der Morgensonne silbern glänzten. Ihr Sinkflug wirkte seltsam träge; dann bemerkte ich plötzlich, daß sie höher flogen, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, und daß sie allesamt größer waren als zunächst gedacht – sie hatten wohl in etwa die Ausmaße von Pferden. Sie hatten vierschrötige Körper, und wenn sie einmal vor dem dunkleren Westhimmel ihr Profil offenbarten, dann schienen einige von ihnen zwei Köpfe zu haben. Mir schnürte sich der Magen zusammen, denn ich kannte nur eine Art Vogel, die über zwei Köpfe verfügte – und zwar die, die einen Reiter trug. Ich wirbelte herum und eilte auf die Rückseite des Hügels, wobei ich mich ohne Rücksicht auf ihre Verwünschungen durch Haruns Leibgarde hindurchkämpfte. Woher sie auch gekommen sein mochten – sei es Tiefwasser oder gar ein noch weiter entfernter Ort –, wir mußten genau jetzt angreifen, solange die fliegenden Bestien noch von der langen Reise erschöpft waren. Die Götter unserer Feinde zogen von überall in Faerûn Truppen zusammen, schließlich waren sie keine Idioten;
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Oghmas Magie mochte den Aufenthaltsort der Cyrinishad vor ihnen verbergen, doch als sich der Schwarze Sporn in Richtung Norden in Bewegung gesetzt hatte, konnten sie mit Leichtigkeit erraten, worum es bei der Belagerung von Kerzenburg ging. Bei meiner Rückkehr stritten die finsteren Gebieter immer noch. »Sie wollen angreifen!« platze es aus Jabbar heraus. Er wies auf Loviatars Heer, das gut zehn Pfeilschüsse entfernt auf der Straße Halt gemacht hatte. »Warum sonst sollten sie keinen Boten zu uns entsenden?« »Weil sie stolze Krieger sind und als solche eine Einladung erwarten!« knurrte Harun. Ich hob gerade an, den Streit zu unterbrechen, als seine Hoheit seinem Arger Luft machte: »Was ich nicht verstehe, ist deine standhafte Weigerung, das zu tun, was uns aufgetragen wurde! Hat die Dunkle Sonne uns nicht befohlen, die Lügenfeste zu vernichten und ihr heiliges Buch zu bergen?« »Er hat uns befohlen, Kerzenburg zu schleifen, nicht, uns an seinen Mauern zerquetschen zu lassen.« »Hab ich’s mir doch gedacht!« höhnte Harun. »Du würdest warten, bis Kerzenburg an Altersschwäche stirbt, und das dann auch noch Gehorsam nennen! Du spielst die Buchstaben eines Befehls wieder einmal gegen seine Bedeutung aus!« »Der Sinn dieses Befehls besteht nicht darin, uns vernichten zu lassen!« Jabbar ließ seine Worte zischen, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Ohne auch nur einen Gedanken an den Zorn zu verschwenden, den ich mir von Seiten seiner Tödlichkeit
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zuziehen würde, trat ich tapfer an die finsteren Gebieter heran. »Wenn ich kurz ...« »Ich werde den Angriff ohne dich befehlen!« fiel mir Harun ins Wort. »Ohne mich?« schnaubte Jabbar verächtlich. »Ohne mich kannst du froh sein, wenn deine Schwarzhelme deinen Befehlen nachkommen!« Wieder trat ich vor und stand jetzt zwischen den beiden. Ich reichte ihnen höchstens bis zur Schulter, doch mein Auftreten war so kühn, daß sie mich beide auf einmal anblickten. Ich wandte mich Jabbar zu und sprach ihn auf eine gleichermaßen entschlossene und unaufdringliche Art und Weise an. »Eure todbringendste Tödlichkeit, ich flehe Euch an, die Unterbrechung zu entschuldigen, aber als Finder des Buches wie auch als derjenige, der für den Kalifen spricht, muß ich seiner Hoheit zustimmen. Die Mönche vom weißen Stab stellen keine Gefahr für uns dar.« Die Streiter der Lüfte erwähnte ich mit keiner Silbe, nichts hätte mir ferner gelegen als anzudeuten, ich wüßte etwas, was den finsteren Gebietern entgangen war. »Wir müssen sofort angreifen.« Jabbars Augen wurden so leer wie die eines Fisches, und seine Stirn legte sich in Falten, als verstünde er nicht, warum ich glaubte, meine Meinung wäre von Bedeutung. Meine Knie begannen zu zittern, aber ich erwog mit keinem Gedanken, meine Worte zurückzunehmen. Ihn den Angriff verschieben zu lassen wäre schlimmer gewesen als der Tod – es hätte den Verlust der Cyrinishad bedeutet. Jabbars Stimme wurde kalt wie eine Gruft. »Hattest
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du etwas zu bemerken, Listenreicher?« »Das hatte ich.« Meine Zunge, von jeher weniger tapfer als mein Herz, stolperte über die Worte. »Eure g-ggewaltige Tödlichkeit, wir müssen angreifen.« Jabbars Mund stand einen Augenblick lang offen, dann bedachte er mich mit einer Schimpftirade, deren schlimmste Beleidigungen zu schrecklich waren, um sie hier darzulegen. »Du kleiner, fetter Irrer! Du käferäugiges Insekt! Du dreckiger, ungewaschener Schweinestallkriecher! Du willst mir also in den Rücken fallen, ja?« Ich hörte das Rascheln von Jabbars Seidenroben und nahm aus den Augenwinkeln wahr, daß er sein Zepter erhob. In dem Wissen, daß ich nicht mehr erleben würde, daß meine Vision wahr wurde, fiel ich auf die Knie und begann zu beten. Die Zeit lief weiter und schien sich doch zu verlangsamen, und alles, was jetzt geschah, vollzog sich in nur einem einzigen Augenblick: Ein Streifen gefiederter Schwärze schoß aus dem Mund des Eisenschädels auf Jabbars Zepter, als seine Hoheit Harun sich eben vorbeugte, um meinen Arm zu ergreifen. »Steh auf, du ...« Der Befehl seiner Hoheit endete in einem Keuchen, dann hob er die Hand und tastete nach einem kleinen Einstich an seinem Hals. Eine dünne Rauchfahne stieg aus dem Löchlein auf, und die Haut um die Wunde herum war durch das Gift bereits angeschwollen und dunkler geworden. Bei dem Anblick wurde mir übel, und Schwäche ergriff mich, denn ich wußte, daß Jabbar diese Nadel eigentlich mir zugedacht hatte. Haruns Wut entlud sich in einem unkontrollierten Krächzen, dann stürzte er an mir vorbei, sein eigenes
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Zepter zum Schlag erhoben. Ein Dutzend von Jabbars Leibgardisten sprang vor, um ihn abzufangen, aber sie waren zu langsam. Der heilige Strahlenkranz seiner Hoheit fand sein Ziel und trieb einen seiner eisernen Stachel tief in den Schädel seiner Tödlichkeit Jabbar. Der Strahlenkranz färbte sich sofort blutrot. Aus Jabbars geöffnetem Mund ergoß sich ein Schwall übelriechenden grauen Rauchs, das war alles, was von dem übriggeblieben war, was sich zuvor noch in seinem Schädel befand. Dann stürzten die finsteren Gebieter, einer so leblos wie der andere, gegeneinander, und noch bevor ihre toten Leiber auf dem Boden auftrafen, schwemmte eine Woge aus Haruns Leibwächtern an mir vorbei und brandete gegen Jabbars Mannen. Die Hügelkuppe explodierte in einem Chaos aus klirrendem Stahl und schreienden Kriegern. Von überall her hallte das Reißen zerfetzten Fleisches, das Krachen brechender Knochen und das dumpfe Aufschlaggeräusch zu Boden stürzender Leichname. Ich hielt mir die Ohren zu und preßte den Kopf fest auf den Boden, um den grauenhaften Klängen zu entrinnen – nicht etwa, weil sie mich anwiderten oder mich um mein Leben bangen ließen, sondern aufgrund dessen, was sie bedeuteten. Mit jedem Todesröcheln, jedem Gebet, das auf den Lippen eines Kämpfers erstarb, mit jedem Blutstropfen, der in den Boden sickerte, entglitt mir die Cyrinishad mehr und mehr. Dieses Wissen erfüllte mich mit solcher Wut, daß ich fürchtete, ich spränge gleich auf und ließe mich umbringen! Glücklicherweise begrub mich ein Paar gepanzerter Leiber unter sich und klemmte mich ein. Eine Weile lag
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ich halbzerquetscht unter ihnen, rang nach Luft und focht einen Kampf mit meinem zornentbrannten Herzen aus. Harun und Jabbar lagen weniger als zwei Meter von mir entfernt, seine Hoheit immer noch über seiner Tödlichkeit ausgebreitet, und beide fast zur Gänze bedeckt von einem Grabhügel aus toten und sterbenden Leibgardisten. Ich bedachte ihre Namen mit tausend Flüchen und betete, ihre Seelen mögen tausend Jahre lang in der siedenden See schmoren. Ihre Rivalität war es, die mich die Cyrinishad gekostet hatte, und in meiner Wut konnte ich nicht verstehen, wie Cyric es ertragen konnte, auch nur einen von ihnen seine Gläubigen in die Schlacht führen zu lassen, geschweige denn beide zusammen! Plötzlich erspähte ich zwei gelbschimmernde Flecken im Schatten neben Harun und Jabbar. Das Schimmern stammte von den Marschallstäben, die ihre kalten Hände noch umklammert hielten, und ich entsann mich meiner machtvollen Vision und sah die gewaltigen Heerscharen wahrer Gläubiger vor mir stehen, und ich erkannte, was für ein Narr ich gewesen war, als ich das Walten Cyrics des All-Einen in Frage gestellt hatte. Ich bemühte mich aufzustehen, hatte aber dem Gewicht der Leiber auf meinem Rücken nichts entgegenzusetzen. Plötzlich bebte der Boden, ganz so als wolle er sich öffnen. Ich glaubte, hierin ein Zeichen der Wut des Einen über meine Schwäche zu erkennen und krallte mich verzweifelt in die Erde – und so zog ich mich einige Zentimeter vorwärts. Ein dumpfes Brummen mischte sich in das Grollen, bald auch ein wütendes Schnauben und das Singen aufeinanderprallender Klingen. Das Herz wurde mir schwer, denn dies war gar kein göttliches
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Zeichen: Es war lediglich der Klang des in die Schlacht reitenden Schwarzen Sporns. Mit aus der Panik geborener Wut verdoppelte ich meine Anstrengungen, begann zu strampeln und schaffte es zu guter Letzt, mich unter den Leichnamen hervorzuwühlen. Dann, als ich sah, daß all die Kämpfer viel zu sehr damit beschäftigt waren, einander umzubringen, um mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken, kroch ich zu den finsteren Gebietern. Der Gestank des Todes war furchtbar, denn Leiber sind nicht dafür geschaffen, all ihren Inhalt zu vergießen, aber ich biß die Zähne zusammen und grub mich tief in den dampfenden Haufen wie ein Hund in einen Dachsbau. Einer der Leibwächter wand sich vor Schmerz, als ich sein zerschmettertes Bein beiseite drückte. Ich glitt zwischen zwei blutgetränkte Brustplatten, vorbei an gesichtslosen Lippen, die um Hilfe flehten, und schließlich waren die beiden Stäbe in greifbarer Nähe. Ich streckte die Hand aus und ergriff Haruns Zepter. Es versengte nicht als Warnung meine Hand, und es gab auch keine Entladung, die mein Herz stocken ließ. Das Zepter glitt seiner Hoheit aus der toten Hand und gab ein leises Schmatzen von sich, als ich den eisernen Strahlenkranz aus Jabbars Kopf zog. Ich drückte den Stab an meine Brust und schob ihn unter das Seil, das mir als Gürtel diente. Dann drückte ich Haruns Arm beiseite, um Jabbars Zepter ergreifen zu können. Eine warme, blutbesudelte Hand umklammerte meinen Unterarm. Ich war so überrascht, daß ich aufschrie und den Arm zurückzog, doch die Hand hielt mich fest. Ich hörte einen Herzschlag, tief, schnell und gemein, und
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ich glaubte nicht, daß es der meine war. Das Blut gefror mir in den Adern, erzählte man sich doch, die finsteren Gebieter könnten von den Toten zurückkehren, um sich an ihren Mördern zu rächen. »Ich flehe ... dich an.« Die Worte waren schwach und leise, und sie kamen nicht von mir. Ich fühlte große Erleichterung, denn Jabbar hätte nie gefleht. »Hilf ... mir.« »Wie du willst«, antwortete ich. »Aber erst mußt du mich loslassen.« Aber die blutigen Finger hielten mich weiter umklammert. Zu schwach, diesen aus Todesangst erwachsenen Griff zu sprengen, ließ ich meine freie Hand in mein Bettlergewand gleiten, um einen kleinen gezackten Dolch zutage zu fördern, den ich stets versteckt am Leib trug. »Hier ist deine Hilfe!« Ich hieb die Klinge in die Hand, die mich gepackt hielt. Der Krieger schrie und öffnete die Hand ein Stück. Ich befreite meinen Arm, dann schnappte ich mir das Zepter aus Jabbars toter Hand und machte mich daran, rückwärts wieder aus dem Leichenberg herauszukriechen. Als ich mich endlich wieder aus dem stinkenden Haufen befreit hatte, waren meine Ohren von Donner erfüllt – dem Hufschlag galoppierender Kriegsbullen. Ich stand wankend auf und drehte mich um. Weniger als fünfzig Schritt entfernt stapften zwei der Bestien über die Hügelkuppe auf mich zu, wobei ihre Hörner auf und ab ruckten, während ihre Hufe auf Tote und Verwundete gleichermaßen einhämmerten. Auf den Rücken der beiden Tiere saßen Offiziere, die mit Axt und Morgenstern aufeinander eindroschen, der eine ein Schwarzhelm,
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der andere eine Purpurlanze. Ich kletterte auf einen Leichenberg und hob die beiden goldenen Zepter hoch über mein Haupt. »Im Namen Cyrics des All-Einen, haltet ein!« Die Bestien trabten weiter, und ich konnte erkennen, daß nur noch wenige der Leibwächter der finsteren Gebieter auf den Beinen waren und einander an weit über den blutüberschwemmten Hügelkamm verstreuten Punkten bekämpften. Die beiden Einheiten des Schwarzen Sporns sprengten dem Hügel entgegen, während ihre Klingen und Hämmer die Luft mit Lärm erfüllten. Ich konnte nicht über sie hinwegsehen, um zu erkennen, was unsere restlichen Truppen taten, es versetzte mich jedoch in Aufruhr zu bemerken, daß eine lange Reihe der fliegenden Reittiere unseres Feindes von Kerzenburg herabströmte. Indem ich die Zepter über meinem Kopf zusammenhielt, erschuf ich das heilige Zeichen unseres Herrn Cyric, den strahlenumkränzten Schädel. Die Kriegsbullen stampften weiter über die Hügelkuppe. Die beiden Leittiere donnerten voran, mir entgegen. Die Reiter fluchten und grunzten, ganz im Klang ihrer Waffen versunken, die Augen der Bullen aber waren starr auf die heiligen Zepter gerichtet, und sie hielten auf mich zu, als wedle ich mit einem roten Tuch vor ihnen herum. Ich blieb an Ort und Stelle stehen, vertraute fest auf den Schutz des Allmächtigen, auch wenn mir die Knie weich wurden. »Bei diesem heiligen Symbol, halt!« Die Tiere waren mittlerweile so nah, daß ich den Dampf aus ihren Nüstern schießen sah. Meine Beine hätten sicher unter mir nachgegeben, hätte nicht in diesem Moment ein Donnerschlag den Himmel erschüttert
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und meine Glieder wieder mit Kraft erfüllt. Ich wurde gewahr, wie die Flugtiere des Feindes vom Himmel herabstießen – phantastische Wesen mit den Köpfen von Adlern und den Leibern geflügelter Pferde –, dann sah ich einen silbernen Blitz, der von dem Leittier aus in die Ebene herunterschoß. Die Bullenherde erreichte den grausigen Berg und stob weiter, wurde auch nur wenig langsamer, als sie durch das Gewühl von Rümpfen und Gliedern pflügte. Die Reiter beugten sich weit aufeinander zu, um einander weiter bekämpfen zu können, was ein Gewölbe aus blitzenden Klingen vor meinen Augen entstehen ließ. »Mächtiger Cyric, gib mir Mut, auf daß ich die Cyrinishad erlangen möge!« Ich trennte die beiden Hälften des strahlenumkränzten Schädels und deutete, auch wenn ich keine Idee hatte, was für eine Art von Magie aus den Stäben hervorbrechen mochte, mit jedem Zepter auf einen der heranpreschenden Bullen. »Halt! Ich befehle es!« Nichts brach hervor, denn Cyric hatte sich von mir abgewandt, zumindest glaubte ich das. Ehe ich noch wegspringen konnte, waren die Tiere bereits vor mir und erfüllten meine Ohren mit einem donnernden Tosen aus Hufen, rasendem Herzschlag und Schnauben. Die Bullen, die jede Form von Schwäche immer schnell ausnutzten, senkten die Häupter. Ein brennender Schmerz fuhr mir in den Magen. Ich wurde emporgerissen und erkannte unter mir den purpurn gewandeten Reiter einer dieser Bestien. Ich schloß die Augen und merkte, wie ich immer höher stieg. Einen Moment lang konnte ich jedes Geräusch der Schlacht
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mit absoluter Klarheit wahrnehmen: jede klirrende Klinge, jeden zerberstenden Knochen, jede einzelne gehauchte Verwünschung. Ich hörte die Schwingen der Adlerpferde unserer Feinde in der Luft schlagen, das Trampeln der im Salzgras versprengten Fußtruppen, das Brüllen der Feuerriesen, die zerfetzt und verbrannt in der Steppe lagen. Ich glaubte, immer weiter aufzusteigen, bis ich den Himmel erreicht hätte, und dann würde ich nie mehr zurückkehren. Dann hörte ich, wie meine Schultern krachend auf dem Boden aufschlugen, wie mein zermalmter Leib knirschte und ächzte, als er den Abhang hinunterrollte, und ich hörte meine eigene Stimme bebend fragen: »Warum hast du mir das angetan, Herr?« Ich schlug gegen einen Felsen und blieb mit gebrochenem Rückgrat darauf liegen, während sich aus meiner Bauchwunde schwappend das Blut ergoß. Wie durch ein Wunder hielten meine zitternden Hände immer noch die beiden einen strahlenumkränzten Schädel bildenden Zepter. Die Sonne stand unterdes schon hoch am Osthimmel, und ich spürte, wie mir die glühende Scheibe aus lästerlich goldenem Licht das Antlitz versengte. Der Schlachtenlärm erstarb, bis die Stille so unwiderruflich war, daß ich nichts mehr hören konnte als meinen eigenen ersterbenden Herzschlag. »Mein dunkler Herr, warum hast du uns verlassen?« Die Lichtscheibe verschwand. Ich war Narr genug zu glauben, Cyric hätte mir geantwortet und mein Gesicht mit Finsternis bedacht. Doch es war nur eines der Adlerpferde, dessen ausgebreitete Schwingen, als es über den Himmel glitt, die
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Sonne verdunkelten, wie ein riesiges, dem Abgrund entsprungenes Scheusal, das mich in Cyrics Palast tragen würde. Die Kreatur zog ihre Bahnen tief über meinem Haupt. Ich sah, daß ein Mann im Lederharnisch die Zügel hielt. Hinter ihm saß eine kleinere Gestalt, den Kopf mit einem purpurnen Tuch umwickelt und den Leib von dunklen Roben verhüllt. Ich konnte ihre schwarzumrandeten Augen sehen, die ebenso schwarz waren wie der Schleier, der ihr Gesicht verbarg, und diese Augen schweiften über das Schlachtfeld. Ihre Hände begannen sich zu bewegen. Sie ruft mich mit einem Zauber, dachte ich. Ich stellte mir vor, wie ihre Stimme in meinem Kopf rauschte, mich herausforderte, dem Finder des Buches befahl, aufzustehen und sich zu erkennen zu geben. Es wäre klüger, entschied ich, die Augen zu schließen.
Ich bin nur ein Mensch, und es ist uns Menschen nicht vergönnt, all das Treiben in der Welt und in den endlosen Weiten des Himmels über uns zu erfassen. Die Götter allein sehen alles, und wenn es ihnen nützlich erscheint, so erhellen sie vielleicht einmal den Geist eines Sterblichen mit ihrem Wissen. Ich möchte darauf hinweisen, daß die folgenden Berichte Geschenke des Einen sind, da sie, wie so viele andere, Ereignisse schildern, die ich nie hätte persönlich erleben können. Lange nachdem meine Tage als Spion zu Ende waren, hatte unser dunkler Herr meine Gedanken mit dem exakten Wissen um die Ereignisse, die sich mit der Suche nach der Cyrinishad verbanden, gesegnet, ob ich sie nun mit meinen eigenen Augen gesehen hatte oder auch nicht, und selbst wenn sie sich hoch droben im Himmel zugetragen hatten, den keines Menschen Auge je gespäht. Mich trifft keine Schuld an den vielen lästerlichen Reden und Gedanken in diesem Bericht. Diese Lügen sind nur denen anzulasten, die sie verbreiteten, und ich schwöre, sie beleidigen meine Ohren in höchstem Maße! Ich führe sie hier nur deshalb auf, weil ich es als meine Pflicht erachte, eine vollständige und faktentreue Chronik der Suche nach der heiligen Cyrinishad zu verfassen.
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Allmächtiger Cyric, du Einziger, du All-Einer, ich flehe dich an, peinige nicht deinen armen Diener dafür, daß er tut, wie ihm geheißen!
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Nachdem die Einheiten seiner Hoheit Harun und seiner Tödlichkeit Jabbar einander vernichtet hatten, stoben die restlichen Truppen Cyrics in zehn verschiedene Richtungen gleichzeitig auseinander: nach Süden in Richtung der Wolkengipfel und nach Osten gen Beregost, in nördliche Richtung zum Mantelwald und in jede Richtung außer nach Westen, wo die Türme von Kerzenburg über dem tosenden Schwertermeer aufragten. Die Adlerpferde kreisten über dem Feld, während ihre Reiter Feuerbälle und magische Blitze schleuderten, so daß die wahren Gläubigen vor ihnen auseinanderstoben wie Schafe vor einem Rudel Wölfe. Nur die Kompanie vom Schwarzen Sporn war nicht geflohen, denn sie hatte sich in einen blutroten Wust verwandelt, der den Hügel bedeckte, auf dem Harun und Jabbar gefallen waren. Die Leichen von Männern wie Tieren waren schulterhoch aufgetürmt, und ihr dampfendes Blut strömte in einer Vielzahl leuchtender Sturzbäche den Hügel hinab. Ein Dutzend Bullen taumelte, nach ihren toten Herren brüllend, über den Haufen, während die Kämpfer, die es noch nicht dahingerafft hatte, mit heiserer Stimme zu Cyric beteten. All dies beobachtete der wankelmütige Tempus, der Fürst der Schlachten, von seinem Palast im tiefsten Limbus aus. Der Anblick erfüllte sein Herz mit solchem Zorn, daß er seine stahlbehandschuhte Faust gegen den
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eisernen Thron schmetterte, auf dem er saß, so daß die Schlachtfelder in ganz Faerûn erbebten. Pikeniere verloren ihren festen Stand und boten ihren angreifenden Gegnern ihre ungeschützten Flanken. Treue Streitrösser stolperten, stürzten und warfen ihre Reiter ab, lieferten sie der Gnade ihrer Feinde aus. Festungsmauern barsten und bröckelten, und Belagerungsheere strömten durch die Breschen, um zu plündern und zu brandschatzen. Der Fürst der Schlachten gab keinen Deut auf all das Elend, werden Kriege doch ebensooft durch Glück wie durch Heldentaten gewonnen. Wenn er jedoch an die tapferen Streiter dachte, die vor Kerzenburg den Tod durch die Klingen ihrer Gefährten fanden, wenn er an das Kräftemessen von epischen Ausmaßen dachte, das sich hätte ereignen können, dann fühlte Tempus seine Wut aufs neue aufschäumen. Sie brach sich schließlich mit der Wucht von hundert Donnerschlägen Bahn, und die zahllosen Heerscharen, die in seinen riesigen Hallen gegeneinander kämpften, schraken vor dem Zorn ihres Gottes zurück. Sie senkten die Klingen und erzitterten vor seinem Thron. Zum ersten Mal seit der Zeit der Sorgen verstummte der ewige Krieg. Ein schlanker Elf trat in einer entlegenen Ecke aus den Schatten und machte sich auf den Weg durch den Schutt. Er trug einen Umhang aus Finsternis, und obschon er Haufen von zerschundenen Rüstungen überquerte und auf die Splitter zahlloser geborstener Klingen trat, bewegte er sich in absoluter Stille und verursachte nicht den kleinsten Laut. Auch hinterließ er keine Fußspuren, wenn er auch mehr als einmal durch Pfützen frischen Blutes watete und in Haufen aus dampfenden Innereien
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trat. Der Elf hielt vor Tempus’ Thron inne und verbeugte sich tief. »Wenn der mächtige Tempus beraubt wird, hätte ich erwartet, daß er den Dieb zerschmettert – nicht, daß er seine Wut an den Sterblichen ausläßt, die ihm dienen.« Die Worte waren so glatt wie eine Bahn Seidentuch und so weich, daß sie nicht viel mehr als nur ein Gedanke zu sein schienen. »Aber ich erwarte oft mehr, als ich sollte.« Tempus, wie immer in nicht viel mehr als seinen Harnisch gekleidet und den Helm auf dem Haupt, betrachtete den Eindringling mit unheilvollem Schweigen. Der Schrecken des Krieges war zu überwältigend, sein Angesicht zu schrecklich und sein Blick zu kraftraubend, um es zu ertragen. Tempus lehnte sich in seinem gigantischen Thron vor und ragte nun über dem Elfen auf, der dem Fürsten der Schlachten nicht viel weiter als bis zum Knie reichte. »Was du erwartest, ist für mich nicht von Interesse, Schattenkrabbe.« Er fragte nicht nach, wie der Besucher die Verteidigungsanlagen seiner Festung überwunden hatte; obgleich Maske nach göttlichen Maßstäben winzig war, gab es kein Schloß und keinen Fensterhaken, die den Gott der Diebe hätten aufhalten können. »Sollte ich beraubt werden, werde ich vor irgendwelchen Sterblichen zuerst dich zerschmettern. Maske erhob sich aus seiner Verneigung, und seine dunkel verhangenen Züge verwandelten sich in die einer Elfe. »Dann wird dir wohl gar zweierlei geraubt werden, erstens das, was schon verloren ist, und zweitens auch noch ein treuer Verbündeter.«
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»Weder könntest du jemals treu sein, noch werde ich je eine Allianz mit dir eingehen.« Tempus bedachte die Verwandlung seines Gastes mit keiner Silbe, wußte er doch, daß der Fürst der Schatten ständig sein Aussehen veränderte, um seinen zahlreichen Verfolgern zu entgehen. Einen dieser Verfolger fürchtete Maske mehr als alle anderen, und der Fürst der Schlachten konnte sich ein wenig Spott nicht versagen. »Vielleicht solltest du sagen, was zu sagen du hierher kamst. Denn hörte ich da eben nicht Kezef bellen?« Maske schrak zusammen und spähte über beide Schultern. Tempus lachte. Vor vielen Jahren, in der aufregenden Zeit während der Entstehung der Cyrinishad, hatte Maske versucht, den Chaoshund Kezef auf Cyric zu hetzen. Natürlich hatte der Eine seinen Plan im Handumdrehen vereitelt, indem er den Fürsten der Schatten mit einer mächtigen Detonation fast vernichtete, und im Nachhall der Explosion war Kezef erschienen, wütend über Maskes Manipulationsversuch und nach Rache dürstend. Der Herr der Schatten war so schnell geflohen, daß selbst seine Gefährten unter den Göttern eine Zeitlang glaubten, er sei bei der Explosion der Vernichtung anheimgefallen. Als Maske bemerkte, daß Tempus ihn hereingelegt hatte, hellten sich seine Gesichtszüge auf, um die Gestalt einer hellhäutigen Maid anzunehmen. »Der Fürst der Schlachten beliebt zu scherzen«, sagte Maske. »Wie unerwartet.« Tempus lehnte sich zurück, den stechenden Blick weiter fest auf Maskes sich ständig verwandelndes Antlitz gerichtet. »Ich habe heute mehr Humor als Geduld,
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Schattenkrabbe.« »Mit Recht, wenn man bedenkt, was Cyric dir geraubt hat.« »Geraubt?« Tempus bemerkte die Stille, die sich über seine Schlachtenhalle gesenkt hatte. Mit einem einzigen Gedanken gab er den Befehl, der ewige Krieg möge fortgesetzt werden, und schnaubte verächtlich: »Cyric könnte nicht einmal den Dreck aus meiner Klärgrube stehlen. Dieser Verrückte hat jahrelang nichts anderes getan, als über seine eigenen Lügen nachzudenken.« »Sicher, aber Cyric hat dich beraubt.« Maskes Gesicht verwandelte sich in das eines langnasigen Trolls. »Er hat es sogar so gut gemacht, daß du ihn noch nicht einmal für schuldig hältst, obwohl seine Schuld so offensichtlich ist wie die Nase in meinem Gesicht. An viel zu vielen Orten verhandeln Diplomaten fair, sind Zweitgeborene zufrieden mit ihrer Stellung, halten Feinde in gutem Glauben geschlossene Verträge ein. All das ist Cyrics Schuld. Ist er nicht der Gott des Mords, des Leids und der Intrigen? Ist es nicht seine Aufgabe, solcherlei Dinge über Faerûn zu verbreiten? Aber was ist? Sie verschwinden überall – nur nicht in seiner eigenen Kirche.« Tempus nickte. »Der Frieden hat sich wie eine Seuche über den Kontinent ausgebreitet – und noch dazu ohne das übliche Zutun Sunes oder Lliiras.« Ein Halbmond aus gelben Zähnen erstrahlte in der Finsternis unter der langen Trollnase. »Dann sind wir einer Meinung.« »Wir haben denselben Zustand bemerkt«, sagte Tempus. »Aber zu sagen, wir seien einer Meinung, hieße, daß wir Verbündete sind, und ich erinnere mich gut daran,
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wie du im Debakel um die Cyrinishad beide Seiten hintergangen hast.« »Du wagst es, mich für meine Wankelmütigkeit zu schelten? Du, der Fürst der Schlachten, der bei Morgengrauen die eine und im Glanz des Abendrots die andere Seite bevorzugt?« Tempus verschränkte die Arme. »So ist der Krieg. Nichts anderes behaupte ich, und deshalb gehe ich auch keine Bündnisse ein.« »Aber du bist unzufrieden mit den Ereignissen in Kerzenburg. Durch Cyrics Unfähigkeit wurdest du einer Schlacht von epischen Ausmaßen beraubt. Seine Priester sind besser darin, einander umzubringen, als Zwietracht in der Welt zu säen.« Maske hatte die gedrungene Gestalt eines Orks angenommen, und in seinem schattenhaften Gesicht war nichts zu erkennen als zwei glänzende Schweinsäuglein. »Sollten sich die Dinge nicht ändern, dann gehört Krieg in Faerûn bald der Vergangenheit an – und du auch.« Tempus spürte, wie in ihm wieder Wut aufzulodern begann, doch er widerstand dem inneren Drang, erneut seine Faust auf den Thron niederfahren zu lassen. Wenn er das Schlachtenglück schon wieder aus dem Gleichgewicht brachte, würde er riskieren, das Kämpfen noch weiter einzudämmen, tobten doch schon viel zu wenige gute Schlachten über Faerûn. »Ich weiß gut genug, was mich Cyrics Unfähigkeit gekostet hat«, sagte Tempus. »Ich weiß auch, weshalb du hier bist. Aber wenn ich aus Rache die Beherrschung verliere ...« »Nicht die Beherrschung verlieren«, sagte Maske.
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»Das würde überhaupt nichts nützen, ein Kampf hat keinen anderen Sinn, als deine Feinde in eine Schlacht zu verwickeln.« Tempus richtete seinen Blick durch das Visier auf den Gott der Diebe. Maskes Gestalt verwandelte sich von der eines Orks in die eines Zwergs, aber der Fürst der Schlachten vermochte immer noch nicht, den Sinn der Worte des Fürsten der Schatten zu enträtseln. »Was schlägst du vor?« Da hallte ein Geheul durch das Gewölbe, und obschon sein Ursprungsort außerhalb des Palasts des Fürsten der Schlachten lag, war es laut und schrill und durchdrang den Lärm des ewigen Kriegs so klar wie ein unheiliger Fanfarenstoß. Das Fleisch des Fürsten der Schatten legte sich in Falten und wurde aschfahl. Tempus blickte auf einen kümmerlichen Halbling mit rosafarbenen Augen und alabasterfarbener Haut herab, sofort erinnerte sich Maske jedoch und nahm die Gestalt eines zweieinhalb Meter großen Gnolls an. »Du mußt den Kreis der Zwölf zusammenrufen.« Maske stieß die Worte schnell hervor und entfernte sich von der Richtung, aus der das Heulen nahte. »Klage Cyric an, seine göttlichen Pflichten zu vernachlässigen.« »Ein Prozeß?« Tempus gönnte Kezefs bevorstehender Ankunft keine Aufmerksamkeit; der Chaoshund war allein Maskes Problem. »Wir können uns nicht in Cyrics Angelegenheiten mischen. Ao würde uns nie anhören!« »Doch – es müssen nur genug von euch anfragen.« Maske warf einen Blick über die Schulter. »Du bist nicht der einzige höhere Gott, der unter Cyrics Versäumnis zu leiden hat. Nach dem Debakel von Kerzenburg haben
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auch Talos der Zerstörer und Shar, die Herrin der Nacht, gute Gründe, sich gegen ihn zu stellen, und du kannst sicher sein, daß Mystra und Kelemvor dich unterstützen werden; ihr Haß auf Cyric wird sie übersehen lassen, daß seine Inkompetenz ihnen eigentlich nützt.« Erneut erklang ein Heulen, diesmal schrill wie Fingerknochen, die über eiserne Wände kratzen. Maske erschauderte und wurde zum amorphen Klumpen. »Von den zwölf Göttern im Rat kannst du auf die Unterstützung von fünfen zählen. Nur ein weiterer reicht schon, um den Sieg zu garantieren, denn Cyric geruht sicher nicht, anwesend zu sein, und Tyr wird sich wohl als Richter aus der Stimmabgabe heraushalten.« Maske erhob seine schattenhafte Hand, und in seinen Fingern erschien eine Pergamentrolle. »Ich habe hier alles für dich niedergeschrieben. Selbst wenn Ao deinen Antrag ablehnt, wird er selbst entsprechende Schritte einleiten. Er muß, denn das Gleichgewicht steht auf dem Spiel!« »Alles, was du sagst, ist wohl wahr.« Tempus formte die Worte langsam, denn er genoß es, Maske zucken und sich winden zu sehen, und wollte wissen, ob die Angst des Fürsten der Schatten vor Kezef größer war als sein Haß auf Cyric. »Dennoch fallen deine Machenschaften gern auf die zurück, die an ihnen mitwirken.« Maske senkte den Blick. »Ich gestehe, daß ich in der Vergangenheit eine Schwäche für Ränke hatte.« Sein schattenhafter Kopf wurde zu dem eines Menschen mit zwei Gesichtern, von denen eines in Tempus’ Richtung blickte, während das andere nach Kezef Ausschau hielt. »Aber ich habe mich gebessert. Deshalb bin ich ja auch
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direkt zu dir gekommen, anstatt die Anklage auf andere Weise ... zu arrangieren.« Ein lautes Stöhnen klang durch die Halle, und anstatt sie zu durchdringen, wurde es von den eisernen Wänden vielfach als Echo zurückgeworfen. Tempus wußte, der Chaoshund hatte seinen Palast betreten. Maske streckte Tempus die Schriftrolle entgegen. Der hob seine gepanzerte Hand und gebot dem Meister aller Diebe Einhalt. »Wenn Cyric seiner Kräfte beraubt wurde, wirst du da sein, um einzufordern, was er verloren hat?« Maske warf einen Blick in die dunkle Ecke, aus der er aufgetaucht war. »Ich will nur das, was ich einst an ihn verlor – meine Herrschaft über die Intrigen – und vielleicht noch den geringen Segen der Lüge, sollten sich meine Dienste als nützlich erwiesen haben.« »Es liegt nicht in meiner Macht, das zu gewähren«, gab Tempus zu bedenken. »Selbst wenn der Prozeß zu seinen Ungunsten ausgehen sollte ...« »Ich bitte nur darum, daß du es vorschlägst.« Maskes Worte waren ebenso weich wie flink, und mit jedem verwandelte er seinen Schattenleib, ganz so, als könne ihn das rapide Wechseln seiner Gestalt vor Kezefs empfindlicher Nase verbergen. »Ich bitte dich, bei deiner Anklage zu bleiben. Wenn du deine Beschwerde vorgebracht hast, wird es zu spät sein, unseren Kurs zu ändern.« Ein tiefes, unheiliges Knurren donnerte durch die Schlachtenhalle und übertönte den Lärm klirrenden Stahls. Eine Bestie von der Größe eines Schlachtrosses tauchte aus der entlegenen Ecke auf. Sie erinnerte an einen riesigen Mastiff mit schwarz verkrusteten Fängen,
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dessen Pelz von schimmernden Maden wimmelte. Maske zitterte so heftig, daß seine Umrisse zu verschwimmen begannen, aber er floh nicht. »Habe ich dein Wort?« Kezef zog den Kopf ein, schwang dann seine massive Schnauze in Richtung des Fürsten der Schatten und begann zu schnüffeln. Lange Fäden giftigen Speichels liefen ihm aus dem Maul, das mit Leichtigkeit Knochen zermalmen konnte. Der Fürst der Schlachten nickte. »Du hast mein Wort.« Kezef sprang. Maske warf Tempus die Schriftrolle zu, hechtete über einen Haufen Krieger und verschwand im Schatten. Kezef streifte zwischen zwei angreifenden Kavallerieeinheiten umher, dann machte er einen Satz über ein Knäuel miteinander ringender Fußtruppen. Er schob sich durch ein Gewirr blutbespritzter Ritter, schoß hinter Tempus’ Thron und verschwand hinter Maske her in den Schatten. Der Fürst der Schlachten saß da und beobachtete einen Moment lang den ewigen Krieg, dann öffnete er die Schriftrolle, die ihm Maske zugeworfen hatte. Die Pläne des Fürsten der Schatten bereiteten ihm stets ein ungutes Gefühl, und doch würde Tempus den Kreis der Zwölf einberufen. Der Fürst der Schlachten gab sein Wort nur selten, aber wenn er es denn tat, dann hielt er es auch stets.
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Die höheren Götter des Kreises der Zwölf traten im Pavillon von Cynosure zusammen – insgesamt elf von ihnen, denn Cyric der Eine war nicht unter ihnen. Tempus, der Fürst der Schlachten, traf als erstes ein, gefolgt von Mystra, der Mutter aller Magie, und ihrem Geliebten Kelemvor, dem Fürsten des Todes. Dann kamen Talos der Zerstörer und Shar, die Herrin der Nacht, Fürstin des Verlusts und all jener Verruchtheiten, die Menschen einander unter dem Deckmantel der Dunkelheit antaten – ein Paar, auf dessen Unterstützung der Fürst der Schlachten baute. Dann war da noch Chauntea, die Ährengöttin, mit ihrem geliebten Lathander, dem Fürsten des Morgens, der in einem goldenen Lichtstrahl erschien. Die niemals überstrahlte Sune, Göttin der Liebe und Schönheit, erschien in einer Feuerlohe, so rot wie ihr Haar. Silvanus Baumvater, der Vater des Waldes, hielt seine Anwesenheit wohl ebenfalls für erforderlich, so wie auch Oghma, der diebische Gott der Weisheit. Tyr, der augenlose Gott der Gerechtigkeit, war als Richter gekommen. Daß viele ihn den verstümmelten Gott nannten, war sehr zutreffend, denn Tyrs rechter Arm endete in einem wahrhaft unschönen Stumpf. Die Götter trafen genaugenommen gar nicht wirklich
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im Pavillon ein, sondern verlegten vielmehr ihre Aufmerksamkeit dorthin, sind doch Gottheiten mehr Energie als Materie und darum in der Lage, sich vermittels wenig mehr als eines einzigen Gedankens überall zu manifestieren. Indem sie ihre Konzentration aufteilen, können sie viele Aufgaben zur gleichen Zeit verrichten oder aber innerhalb eines Augenblicks von einem Ort zum anderen »reisen«, und doch sind selbst ihre Fähigkeiten nicht unbegrenzt, können sie doch ihre Aufmerksamkeit nur soundso oft aufspalten, und je mehr von ihrer Aufmerksamkeit sie an einem Ort bündeln wollen, um so mehr Konzentration ist vonnöten. Der Pavillon von Cynosure stellte sich für jeden Gott anders dar. Chauntea, die Große Mutter, nahm ihn als einen herrlichen, duftenden Garten wahr, der in voller Blüte stand und mit schier unglaublichen Farben aufwartete. Shar, die Nachtbringerin, fand sich in einer dunklen Kaverne wieder, bar allen Lichtes und angefüllt mit gezackten Stalaktiten und versteckten Abgründen, in denen lang begrabene und doch nie vergessene Schrecken dräuten. Mystra, der Mutter aller Magie, erschien der Pavillon als Alchemielaboratorium, überbordend mit blubbernden Kolben und Gläsern, randvoll gefüllt mit arkanen Zauberkomponenten. Wie der Pavillon selbst erschienen auch die Götter einem jeden von ihnen auf ganz besondere Weise, abhängig von ihrem ganz besonderen ureigensten Wesen. So sah etwa Mystra ihre Gefährten als Zauberer von unglaublicher Macht, gekleidet in Roben aus den glimmernden Energien des Magiegewebes selbst. Währenddessen sah Tempus in ihr eine Walküre in glänzender
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Rüstung aus Silber. Oghma, dem Fürsten des Wissens, erschien sie als eine junge Gelehrte, während Talos der Zerstörer in ihr einen Vernichtung bringenden magischen Wirbelsturm erkannte, dem die Auslöschung auf dem Fuße folgte. Doch Mystra wußte beispielsweise nicht, wie Kelemvor, der Fürst der Toten, sie sah – als Skelett aus poliertem Elfenbein vielleicht oder als in güldene Seidentücher gehüllte Mumie. Einst, in einer ruhigen Stunde der Zweisamkeit, hatte sie ihn gefragt, aber er hatte sich geweigert zu antworten und nur zu verstehen gegeben, daß es einige Dinge gebe, die ihn bedauern ließen, ein Gott geworden zu sein. Als diese elf den Pavillon auf ihre besondere Art und Weise betreten hatten, warteten sie erst einmal. Zwei Plätze im Kreis blieben frei. Da war zunächst einmal eine größere Lücke zwischen Oghma und Chauntea; sie wurde stets gelassen, um der Allgegenwärtigkeit Aos Rechnung zu tragen. Ein kleinerer freier Bereich blieb zwischen Talos und Shar, der Platz, der für Cyric, den AllEinen und Mächtigen, reserviert war. Auch wenn die Schwarze Sonne in unzähligen Jahren nicht geruht hatte, sich in diesem Kreis einzufinden, hatten die Götter solche Ehrfurcht vor seiner Macht, daß sie es nicht wagten, zu beginnen, ohne ihm einige Zeit zu geben, doch noch zu erscheinen. Als klar wurde, daß Cyric beschlossen hatte, sie nicht mit seiner Anwesenheit zu beglücken, ließ Tyr seinen Blick durch das Rund des Pavillons schweifen, wobei er bei jedem Gott verharrte, bis er seine Aufmerksamkeit hatte. Langsam senkte sich Stille über die Kammer.
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Tyr der Gerechte wandte seine leeren Augenhöhlen Tempus zu. »Ich glaube, du hast uns hergerufen, Feindhammer?« Der Fürst der Schlachten trat ins Zentrum des Pavillons, der für ihn ein mit Karten und Fähnchen übersätes Generalstabszimmer war. Die meisten anderen Götter blieben an Ort und Stelle stehen und bildeten einen Kreis, obschon einige von ihnen Stühle oder Couches erschufen, auf denen sie sogleich Platz nahmen. Ruhelos wie immer begannen Talos der Zerstörer und Sune Feuerhaar im Raum auf und ab zu wandern, wobei Talos die Ecken von Karten abriß und Sune an jeder polierten Oberfläche innehielt, um ihr eigenes Spiegelbild zu bewundern. Keiner der Götter nahm an ihrer beider Verhalten Anstoß, lag es doch ebensowenig in ihrer Natur stillzustehen, als es Shars Wesen entsprach, ins Licht zu treten. Tempus hob eine seiner behandschuhten Fäuste und rammte sie in die Handfläche seiner anderen Hand. »Von Cyric, dem All-Einen, habe ich ein für alle Mal genug!« erklärte er. »Die Zeit ist reif, ihn seiner Kräfte zu berauben. Ein Wort von euch genügt, und ich werde meine Tausendschaften aufbieten, um sie den Obersten Thron erstürmen zu lassen und den wahnsinnigen Gott zu stürzen!« Weder gab Tempus eine Erklärung für seine Anklage bekannt, noch legte er irgendwelche Beweise vor, um seinen Antrag zu untermauern. All das hatte er bereits hinter sich gebracht, als er die anderen Götter in den Pavillon geladen hatte, und der Fürst der Schlachten hatte nicht vor, sich zu wiederholen. Er drehte sich lang-
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sam um seine eigene Achse und sah einen Gott nach dem anderen an. »Wer von euch ist mit mir?« Tempus wandte sich Shar und Talos zu und hob die Hand, um mit ihr durch die Luft vor ihren Augen zu wischen. Mit jeder Bewegung seiner Hand entstand in der Luft vor ihm mehr und mehr das Bild der Steppen rund um Kerzenburg. Obgleich der Kampf zwischen Harun und Jabbar nicht einmal eine Stunde zurücklag, hatten Kelemvors aasfressende Boten den Hügel bereits in ein Meer aus schwarzglänzenden Federn verwandelt. In der Steppe vor Kerzenburg lagen Hunderte von Leichen im Salzgras verteilt, hinterrücks erschlagen, als sie versucht hatten, dem Wahnsinn zu entrinnen, der den Schwarzen Sporn befallen hatte. »Selbst jetzt noch liegen eure Anbeter sterbend auf dem Feld, weil Cyrics Wahnsinn sie verriet.« »Du gehst es zu hastig an, Feindhammer«, unterbrach ihn Tyr, der Augenlose. »Wir können keine Strafe verhängen, ehe wir ein Urteil gefällt haben, und wir können kein Urteil fällen, bevor wir den Fall nicht verhandelt haben.« »Du sprichst nur für dich, Unvoreingenommener!« brachte Talos hervor. Dabei warf er einen Tisch um, und eines der Pergamente, das für den Unvoreingenommen eine Gesetzesrolle und für Tempus eine Karte war, fiel zu Boden. »Wir hatten schon mehr als genug unter Cyric zu leiden! Wir kennen die Anklage, und wir kennen das Urteil. Ich schließe mich dir an! Meine Blitze und Beben werden die scheußliche Festung dieses Wahnsinnigen schleifen, und meine Stürme werden seine Getreuen in die entlegensten Winkel der tausend Ebenen wehen!«
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Der Unvoreingenommene reckte dem Zerstörer seinen Armstumpf entgegen. »Dies ist nicht der rechte Ort für deine Verbitterung, Sturmfürst. Unsere Aufgabe ist der Erhalt des Gleichgewichts, nicht seine Auslöschung.« Shar beugte sich in ihrem Stuhl nach vorn, und ein Fleck aus Finsternis breitete sich vor ihr aus. »In diesem Fall, verstümmelter Gott, scheint es, als sei das, was Tempus vorschlägt, im Sinne des Gleichgewichts.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern, wie ein grausamer Gedanke, der lange Zeit tief im Innersten dräut, bis er in einem Moment der Schwäche an die Oberfläche dringt. »Es ist nicht Talos’ Wüten, das das Gleichgewicht gefährdet, sondern Cyrics Versäumnis. Cyric ist den Lügen seines eigenen Buches aufgesessen, und seither kann er an nichts anderes mehr denken als an sich selbst.« Tyr lehnte sich zurück und schwieg. Die Diskussion war an dem Punkt angelangt, an dem die Anklage erwogen wurde, und er war es zufrieden, sie ihren natürlichen Lauf nehmen zu lassen. Tempus warf ein: »Cyric verbreitet seinen Glauben ausschließlich unter seinen Anhängern und vergißt seine Pflicht, seine Grundsätze auch im Rest von Faerûn zu verbreiten.« In Mystras Richtung gewandt fuhr er fort: »Mord und Zwietracht, Lügen und Ränkespiele, Täuschung und Verrat – all dies wird bald der Vergangenheit angehören. Selbst seine eigenen Priester verwenden all ihre Kräfte darauf, einander abzuschlachten oder hinters Licht zu führen.« »Während aber Cyrics Kirche sich selbst verschlingt, müssen unsere Getreuen leiden«, fügte Shar hinzu. »Wenn kein Weib mehr seinen Ehemann anlügt und kein
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Gatte mehr seine Frau betrügt, wenn kein Mensch mehr die Schätze seines Nächsten begehrt, niemand mehr seinen Verwandten im Schlafe ermordet, wie soll ich da die Eifersucht oder den versteckten Haß, der die Menschen sich zu wahrer Größe aufschwingen läßt, im Verborgnen nähren? Wie kann ich da die finstere Verbitterung ihrer Seelen anstacheln, die sie immer wieder nach noch mehr Ruhm, noch mehr Gold, noch mehr Macht streben läßt?« »Alles, was ihr da sagt, ist wahr«, sagte Chauntea. Die Große Mutter sprach mit gleichermaßen warmer wie fester Stimme. »Dennoch kann ich eure Entscheidung nicht unterstützen. Wäre es nicht besser, Cyric zu helfen? Wäre es nicht besser, ihn aus diesem Spiegelkabinett zu befreien, in dem er umherirrt?« »Sicher nicht!« Es überraschte Mystra selbst, ihre Stimme von den Säulen des Pavillons widerhallen zu hören, denn sie hatte nicht beabsichtigt, laut zu werden – eigentlich hatte sie nicht einmal beabsichtigt, auch nur zu sprechen. So sehr sie Cyric auch verachtete, die bloße Tatsache, daß Tempus, Shar und Talos seine Niederwerfung forderten, ließ sie davon Abstand nehmen, sich ihnen anzuschließen. Sie bildeten eine Dreieinigkeit von Krieg, Finsternis und Vernichtung, und was immer sie auch vorhatten, sie hielt es nicht für wahrscheinlich, daß es den Völkern Faerûns bekommen würde. »Hättest du etwas dagegen, das näher auszuführen?« bat Oghma. Er stand neben Mystra, auf der anderen Seite Kelemvors, und sprach mit einer Stimme so voller Weichheit und Wohlklang wie die Saiten der Barden, die
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seinen Namen priesen. »Willst du Cyric vielleicht so lassen, wie er ist?« »Vielleicht will ich das. Bei klarem Verstand ist er noch gefährlicher als so wahnsinnig, wie er jetzt ist.« »Gefährlich für das Gleichgewicht oder für die Völker Faerûns?« wollte Lathander wissen. Wie eh und je stand der Fürst des Morgens an der Seite der Großen Mutter Chauntea, begierig, jedes einzelne ihrer Worte zu untermauern. »Wir alle wissen, wie viel besser das Leben eines jeden Sterblichen geworden ist, seit Cyric seine Aufgaben vernachlässigte. Ob er nun ersetzt oder geheilt wird, ihr Los wird sich dadurch kaum verbessern.« »Auch ein Leben voller Entbehrungen kann eines sein, das sich lohnt«, bemerkte Chauntea. »Dennoch ist die Herrin der Mysterien wie eine Mutter, die ihre Kinder zu sehr liebt. Sie kann es nicht ertragen, sie leiden zu sehen, und hätte daher ganz gern, daß alles so bleibt, wie es ist.« Das war in der Tat genau das, was Mystra vorschwebte, aber sie war klug genug, dies nicht kundzutun. »Nun?« forderte Oghma sie heraus. »Wir alle wissen, was geschehen wäre, hätten wir Cyric die Cyrinishad überlassen«, antwortete Mystra. Sie bedachte Talos, der mit seinen Fingernägeln gedankenverloren einen Stuhl zu Splittern verarbeitete, mit einem strafenden Blick. »Weshalb ich mich auch frage, warum Talos und Shar ihn bei seinen Bemühungen, es wiederzuerlangen, unterstützten.« »Ja«, sagte Oghma. »Dafür hätte ich auch ganz gern eine Erklärung gehört.« Der Zerstörer zuckte die Achseln. »Es war halt was zu tun.«
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»Was mich angeht«, zischte Shar, »ich habe lediglich versucht zu helfen. Ihr seht sicher alle ein, daß unsere beste Chance, Cyric zu retten, darin besteht, ihn mit Hilfe seines geschätzten Buches zu ködern.« »Ich nehme an, du warst weniger darauf erpicht, Cyric zu retten, als ihn zu bestechen, um dich seiner Hilfe im Krieg gegen die Mondmaid zu versichern«, fiel ihr Oghma ins Wort. »Das ist ein gefährliches Spiel, das du da spielst, Nachtbringerin – ein sehr gefährliches.« »Was uns einen weiteren Grund liefert, ihn zu vernichten«, meinte Tempus. Er stapfte quer durch den Pavillon, um vor Kelemvor stehenzubleiben, dem letzten, der noch nichts gesagt hatte. »Was meinst du, Fürst der Toten?« Noch ehe Kelemvor antworten konnte, drängte sich Oghma vor Mystra. »Überlege gut, Kel. Denk daran, wer du bist, nicht, wer du warst. Dies ist nicht der Ort für alte Rivalitäten.« Von allen Gottheiten, die hier im Pavillon versammelt waren, haßte Kelemvor den Einen am inbrünstigsten. Vor langer Zeit hatten Kelemvor, Cyric und Mystra, die damals noch unter dem Namen Mitternacht bekannt war, als Sterbliche auf Faerûn gelebt. Bei ihnen war auch ein Priester namens Adon gewesen, der inzwischen Hohepriester der Mystra-Kirche war. Es war die Zeit der Sorgen, als zwei Götter die Schicksalstafeln gestohlen hatten und Fürst Ao darüber vor Wut so außer sich geriet, daß er die Götter aus dem Himmel verbannte. Durch eine Fügung des Schicksals entdeckten die vier Sterblichen damals die Schicksalstafeln. Cyric wurde sofort gewahr, daß er und seine Ge-
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fährten im Austausch für jene Artefakte alles verlangen konnten, was sie wollten, aber die feigen Hunde, die er seine Freunde nannte, teilten seine Vision nicht. Sie versuchten, ihn aufzuhalten, und der Eine war gezwungen, Kel zu töten. Ao belohnte Cyric dadurch, daß er ihn zum Gott des Todes machte, und der Eine brachte ihn dazu, die Frau namens Mitternacht zur Göttin aller Magie zu machen. Kochend vor Eifersucht lauerte der tote Geist Kelemvors viele Jahre lang im Verborgenen, bis sich eines Tages die Gelegenheit bot, sich zu erheben und die Geister der Toten in eine Rebellion gegen den Einen zu führen. So gelang es Kelemvor, den Einen zu Fall zu bringen, unrechtmäßig den Thron des Todes zu besteigen und das wankelmütige Herz der Hure Mystra zu erobern. An all das erinnerte sich Kelemvor, als Oghma zu ihm sprach, und sein Haß loderte heißer auf als je zuvor. »Ich bin derselben Meinung wie Tempus«, erklärte er. »Cyric muß sterben.« Der Fürst der Schlachten wandte sich Mystra zu. »Was ist mit dir, Mutter aller Magie? Was meinst du?« In Mystras Ohren klang der Fürst der Schlachten etwas zu selbstsicher. Er hatte das alles gründlich durchdacht, und der Wutausbruch, der aus ihm sprühte, hatte ihn nicht so spontan befallen, wie er sie gern glauben machen wollte. »Ich meine, diese Angelegenheit kann nicht von uns entschieden werden«, sagte sie. Mystra warf Kelemvor einen Blick zu und bemerkte die Überraschung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, aber sie wußte, er würde nicht versuchen, sie umzustimmen. Sie waren nicht wie
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Chauntea und Lathander; sie hielten ihre Leidenschaft und ihre göttlichen Aufgaben streng getrennt. Wann immer es das Gleichgewicht betrifft, dann hat der große Ao selbst ...« »Unmißverständlich dargelegt, daß wir unseren Eingebungen folgen sollen«, fuhr die Herrin der Nacht dazwischen. »Das erhält das Gleichgewicht. Egal, ob du dich auf die Seite Tempus’ schlägst oder auf die Chaunteas, du kannst nicht einfach alles so lassen, wie es ist.« Mystra suchte mit Blicken in Oghmas dunklen Zügen nach Hilfe. Die Meinung des Gottes der Weisheit hatte bei der Entscheidungsfindung im Kreis schon oft das Blatt gewendet, und sie schmeichelte ihm oft genug, daß er sie meist unterstützte. Aber diesmal nicht. Oghma sah sie lange genug an, um den Kopf zu schütteln, dann wandte er den Blick ab und schwieg. Mystra wandte sich wieder Tempus zu, sie spürte, daß er ihr die Worte in den Mund gelegt hatte, die sie gleich aussprechen würde. »Ich mußte zu oft Zeugin von Cyrics Betrügereien werden, um den Fehler zu begehen, ihm zu helfen. In Anbetracht der Alternativen bin ich dabei. Vernichten wir Cyric.« »Dachte ich’s mir doch.« Tempus wandte sich ab, ohne Oghmas Meinung zu erbitten, denn er kannte sie schon. In seiner Arroganz war Oghma nicht bereit, das zu vernichten, was er kontrollieren zu können glaubte. »Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten«, gab Tyr zu bedenken. »Wir haben kaum die vorgebrachte Anklage diskutiert, und der Fürst der Schlachten geht schon zur Vollstreckung des Urteils über.«
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«Die Urteilsvollstreckung ist alles, was es zu diskutieren gilt!« bellte Kelemvor. »Es besteht kein Zweifel an Cyrics Zustand. Die einzige Frage ist, was wir dagegen tun.« Da sich niemand gegenteilig äußerte, blickte der Fürst der Schlachten auf der Suche nach der letzten benötigten Stimme an Chauntea und Lathander vorbei. Sein Blick blieb auf Sune Feuerhaar haften, die in diesem Moment gerade damit beschäftigt war, ihr Spiegelbild in einem blankpolierten goldenen Schild zu bestaunen. Die Wahl des Fürsten der Schlachten überraschte. Die Leidenschaften der Fürstin Feuerhaar konnten sich schneller ändern, als der Wind sich drehte, doch in ihrer Abneigung gegenüber den häßlichen Verheerungen des Krieges blieb sie sich stets treu. Dennoch schien Tempus’ Selbstsicherheit ungetrübt. »Was sagst du, Schönste?« Sune quittierte das Kompliment mit einem strahlenden Lächeln, wandte sich dann wieder ihrem güldenen Schild zu und sprach zu ihrem eigenen Abbild. »Irgend etwas müssen wir unternehmen, auch ich habe bemerkt, daß Cyric für niemanden Augen hat als nur für sich selbst.« »Ja, aber was sollten wir tun?« fragte Lathander. Der Fürst des Morgens stand von seiner Couch auf, gesellte sich zu Sune und badete sie im goldenen Glanz seines eigenen Lächelns. Tempus verblüffte die anderen Götter, indem er ruhig blieb und Lathander gewähren ließ. »Es wäre doch viel fürsorglicher, wenn wir ihm helfen würden, seinen eigenen Weg zu finden, findest du nicht auch – strahlendster aller Sterne?«
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Die Lobhudelei seitens des Fürsten des Morgens rief bei Chauntea ein verächtliches Schnauben hervor, was ihr wiederum einen eisigen Blick von Sune einbrachte. Die Fürstin Feuerhaar reckte das Kinn in die Höhe und schenkte Tempus ihr aufreizendstes Lächeln. »Ich fürchte, der Wahnsinnige muß vernichtet werden«, schnurrte sie. »Selbst wenn er nicht völlig verrückt wäre, muß man sagen, Cyric hat die wahre Macht der Schönheit nie verstanden.« »Danke – Schönste.« Tempus wandte sich dem blinden Tyr zu. »Das sind sechs Stimmen für seine Vernichtung – in Anbetracht von Cyrics Abwesenheit eine Mehrheit.« Tempus hatte es kaum ausgesprochen, da erfaßte ein schweres Beben den Pavillon von Cynosure. Die Götter sahen, wie die Kammer um sie herum flach wurde, sich dehnte und schließlich wie ein Teppich entfaltete. Die Decke brach auf und zerbarst, die Säulen und Wände schmolzen. Es wurde überrascht nach Luft geschnappt, aber kein einziger Gott schrie angsterfüllt oder in Panik auf. Es geschah nicht oft, daß sich der Pavillon auflöste, aber jeder hier wußte, was als nächstes geschehen würde: Ao würde sich die Ehre geben. Die Götter fanden sich in einem gigantischen Meer aus Leere treibend wieder, von allen Seiten von Myriaden funkelnder Sterne umgeben. Sie begannen, von den Tausenden Aspekten ihres Geistes wegzutreiben, von jenem Teil ihrer Selbst, der die unaufhörlichen Gebete ihrer Anhänger beantwortete, ihren göttlichen Aufgaben nachkam oder über Faerûn wachte. Schließlich blieb nur der Kern ihres Intellekts übrig und trieb ziellos in der
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Leere, die so immens riesig war, daß nicht einmal ein Gott ihre Ausdehnung zu erfassen imstande gewesen wäre. Mächte des Cynosure, ihr habt euch angemaßt, einen aus eurer Mitte zu verdammen. Die Worte kamen gleichermaßen aus dem Inneren eines jeden der Götter wie von außerhalb, aus der Tiefe ihrer Herzen wie auch von den zahllosen Sternen zu ihnen herab. Wenngleich sich der große Ao nicht selbst zeigte – wenigstens nicht im herkömmlichen Sinne –, konnten sie ihn doch um sich herum spüren, ganz so, als sei er das Medium, das sie umgab, als sei er die Luft, die sie atmeten. Trotz des Anklangs von Mißfallen, der in Aos Stimme mitschwang, war sein Erscheinen für Mystra geradezu eine Erleichterung. Sicher würde er die Götter davon abhalten, sich in Cyrics Angelegenheiten einzumischen, ihn zu heilen oder durch jemand anderen, effizienteren zu ersetzen. Ihr maßt euch an, beurteilen zu können, was für das Gleichgewicht das beste ist. »Wir hielten es für nötig, Fürst Ao.« Es war Tempus, der das Wort ergriff, und er klang immer noch sehr selbstsicher. »In seinem Wahnsinn hat sich Cyric nach innen gewandt. Er wurde mit der Zeit so von sich selbst besessen, daß er aufhörte, die Grundsätze seine eigenen Göttlichkeit außerhalb seiner eigenen Kirche zu befördern.« »Wahn?« kam die Antwort. Wie Aos Stimme hatte auch diese keinen klar erkennbaren Ursprung. Sie war so schrill und durchdringend
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wie ein Pfeil in der Kehle, und sie erklang aus allen Richtungen zugleich. »Du nennst mich wahnsinnig! Du? Der du dein Gesicht hinter einem stählernen Schleier verbirgst? Du bist wahnsinnig, nicht ich!« »Cyric«, flüsterte Mystra. Sie erschauderte, konnte sie sich doch nicht vorstellen, wie der Prinz des Wahnsinns in Aos Reich gelangt war, ohne den Umweg über den Pavillon von Cynosure zu nehmen. »Jawohl, Mitternacht«, gab der Eine spöttisch zurück. »Ich übertreffe dich in meiner Macht mittlerweile. Ich übertreffe euch alle – euch alle, die ihr euch stark genug glaubt, mich vernichten zu können – oder zu ›retten‹.« Die Herrin der Mysterien warf Tempus einen Blick zu und mußte feststellen, wie der Fürst der Schlachten die Schultern hängen ließ. Was immer es war, das Cyric gerade tat, es hatte den Feindhammer ebenso überrascht wie sie. Sie sah zu Oghma. Das Gesicht des Weisen war bleich, und sein Mund stand offen wie bei einem Idioten. Mystra wandte sich ab. Oghma in solch einem Zustand der Verwirrung zu erleben war, als hätte sie Sune in einem Moment der Häßlichkeit ertappt. Ohne zu bemerken, daß sie sie ergriffen hatte, hielt die Göttin der Magie urplötzlich Kelemvors Hand umklammert. »Fürst Ao?« fragte Mystra. »Hast du Cyric herbefohlen?« »Herbefohlen?« stieß Cyric hervor. »Freunde haben einander nichts zu befehlen!« Freunde? donnerte Ao. Freunde! Du wagst es, dich mit mir auf eine Stufe zu stellen? »Mit wem sonst?« gab Cyric zurück. »Ich habe mich ebenso weit über sie erhoben, wie du einst über mir
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standest!« Die Sterne verdunkelten sich, als erfülle eine dunkle Wolke die unendliche Leere. Mystra entrang ihre Hand Kelemvors Griff, und jetzt endlich erfaßte sie gehörige Angst vor der Macht des Einen und Allgegenwärtigen. Wenn er in der Lage war, Aos funkelnde Lichter zu verdunkeln, was gab es dann noch, das er nicht vollbringen konnte? Die Wolke verzog sich, und die Sterne strahlten wieder wie eh und je. Ich verstehe. Da verstand Mystra, daß selbst die Macht des allmächtigen Ao ihre Grenzen hatte. Bis dahin hatte Ao nicht verstanden, wie gefährlich Cyric sein konnte – und sie ebensowenig. Tempus hatte vollkommen recht; es gab nur eins zu tun, und das war, Cyric völlig auszulöschen – sonst würde er sie alle vernichten. Ist das auch der Grund, warum sie dich vernichten wollen, Cyric? Daß du mächtiger bist als sie? Mystra wagte es, Ao zu unterbrechen. »Ja, großer Ao.« Sie fühlte, wie Kelemvor ihren Arm packte und drückte, als wollte er sie beschwören, vorsichtig zu sein. Die Mutter aller Magie jedoch konnte nicht an sich halten. Sie mußte Fürst Ao begreiflich machen, daß sie die Angelegenheit untereinander regeln konnten, ansonsten würde er Cyric durch jemand fähigeren ersetzen – oder aber, was noch schlimmer gewesen wäre, er würde den Einen einfach heilen. »Wir müssen Cyric töten«, erklärte Mystra. »Wir müssen ihn vernichten, weil er sich zu etwas Besserem gemacht hat als wir!«
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Eine Sphäre wabernden Lichts erschien vor Mystras Augen, und sie bildete sich ein, in ihr Cyrics hageres Gesicht ausmachen zu können. »Siehst du, wie sie mich beneiden?« fragte die Sphäre. »Ist es denn ein Wunder, daß ich sie nicht mit meiner Anwesenheit beglücken will?« Überhaupt kein Wunder, erwiderte Ao. Du hast dich selbst so viel mächtiger gemacht als sie. »Du spürst es auch?« Cyrics Kopf nahm feste Form an. Sein Gesicht war mit weißem Fleisch überzogen, und die Knochen traten hervor, die Augen, in ihren Höhlen versunken, leuchteten wie zwei schwarze Sonnen. »Du spürst, wie sehr ich gewachsen bin?« In der Tat. Ich sehe auch, daß du mit diesen Unwürdigen sehr gut allein klar kommst. »Sicher, aber ...« Doch gibt es da noch etwas, das mich stört. Ich hoffe, du verzeihst, wenn ich dich unterbreche. Ao hielt bedeutungsschwanger lang inne. Tyr! »Gebieter?« Die Stimme des Gerechten Gottes bebte unmerklich. Wenn du eine Verhandlung leitest, dann hast du die Form einzuhalten. Von allen Göttern solltest Du das doch eigentlich am besten verstehen. Obwohl Tyr gleich zweimal versucht hatte, den Prozeß in die richtigen Bahnen zu lenken, senkte er einfach nur sein Haupt. »Jawohl, Gebieter.« Nun gut. Wenn ihr morgen in Faerûn den Prozeß eröffnet, werdet ihr euch an die Regeln halten. Was soll Cyric also zur Last gelegt werden? Tyr hob das Haupt und sah eindringlich in Cyrics
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dunkle Augen. »Ich würde sagen, wir klagen ihn der Unschuld an.« »Der Unschuld?« Cyrics Schrei war so laut und schrill, daß einige der Götter zusammenzuckten. »Ich bin der Herr des Mordes! Der Prinz der Lügen! Der Säer der Zwietracht! Der Meister der Täuschung!« »Die Anklage lautet auf Unschuld«, erklärte Tyr. »Der Unschuld, geboren aus Wahnsinn.«
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Beim Einen, keine Pein ist größer als die eines Menschen, der ohne Glauben stirbt! Wie lange ich auf diesem bluttriefenden Hügel in der grausamen Sonne darben mußte, vermag ich nicht zu sagen. Wo das Horn des Stiers mich durchbohrt hatte, brannte ein Schmerz so heiß wie weißglühendes Eisen. Ein Fieber hatte mich erfaßt und meinen Mund ausgetrocknet, bis mir meine eigene geschwollene Zunge die Luft zum Atmen nahm, und obgleich ich kaum Luft bekam, formten meine Lippen jene Worte: »Cyric, du bist ein Bandwurm im Gedärm des Himmels!« Ich meinte, was ich sagte, aus der tiefsten Tiefe meiner gequälten Seele. Jahrelang war ich wachsam gewesen, hatte die heilige Cyrinishad gesucht, hatte alles Menschenmögliche getan, um es meinem ehrwürdigen Gott aufs Neue zuzuführen. Nun war die Cyrinishad verloren, durch den Fehler von niemand geringerem als Cyric höchstselbst, da er seine Kirche bis zum Bersten mit Chaos und Zwietracht erfüllt hatte, und ich verfluchte den Einen noch einmal! Nie mehr würde meine Vision Wirklichkeit werden. Nie würde ich vor jener gewaltigen Heerschar aus wahren Gläubigen stehen und aus dem heiligen Buch zitieren, und niemals würde ich
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heimkehren und es dem Prinzen heimzahlen und mein Vermögen und mein Weib zurückerlangen. Mein dunkler Herr hatte mich im Stich gelassen, und ich fühlte mich so dumm wie das Schaf, das seinem Hirten zur Schlachtbank folgt. Ich schwor, daß meine Lippen Ihn nie mehr preisen würden. Schreckliche Angst ergriff mich, und meine Augen verwandelten sich in Springbrunnen und vergossen Sturzbäche von Tränen. Ein Ungläubiger am Rande des Todes war ich. Bald schon würde mein Geist meinen Körper verlassen und durch das Gestein hinabsinken an jene Orte, an denen die Götter die Seelen ihrer Getreuen einsammelten. Aber ich hatte mein Herz vor Cyric verschlossen. Meine Klagen würden ungehört verhallen, und ich würde warten müssen, bis Kelemvor mich in die Stadt der Toten mitnahm. Ich würde in den kristallenen Turm gezerrt werden und danach beurteilt werden, was ich zu meinen Lebzeiten getan hatte, und das Urteil würde sehr, sehr hart ausfallen. Ich begann zu zittern und flehte Cyric an, mich wieder zu sich zu lassen, doch er hat keine Verwendung für Schwächlinge, und darum erhörte er mich nicht. Die grausame Sonne brannte noch heißer auf mich hernieder, und ich mußte die Augen vor ihren vernichtenden Strahlen schließen. Bald träumte ich von den vielfältigen Qualen der Totenstadt. Kelemvor würde in mir das rechte Baumaterial für seine Mauer der Ungläubigen finden, und als Teil der Mauer würde mir bald ein stetiger Eishagel den Kopf zermartern, während meine Füße in der Weltenschmiede
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brennen würden. Er würde mich in den Narrenpfuhl werfen, wo meine Augen in der kochenden Säure der Seligkeit schmelzen und mein Fleisch sich auflösen würde. Er würde mich auf die Straße der Betrüger legen, wo mir unter den eisernen Rädern der Pflicht der Schädel zertrümmert und die Knochen zermalmt würden. Das alles und noch viel mehr träumte mir, bis ich all die tausenderlei Qualen kannte, die meiner in Kelemvors Stadt harrten. Doch dann offenbarte sich mir eine weitere. Dem Inneren meines Bauchs entwuchs ein grauenhafter, reißender Schmerz, als hätte ein frischgeschmiedeter Dolch sich tief in meine Wunde gebohrt. Mir dämmerte, daß ich mich auf dem Rücken gerollt hatte. Die Nacht war hereingebrochen, du die Luft hatte sich abgekühlt, doch sie verschaffte mir keine Erleichterung, denn auf meinem Brustkorb hockte einer von Kelemvors schwarzgefiederten Boten. Der Geier zeichnete sich gegen den Mond ab, die weißen Augen blutrot unterlaufen, der kahle Schädel aasverschmiert. Das Drecksvieh hatte seinen Schnabel in meine Wunde gesteckt und versuchte gerade, mein Gedärm aus dem Loch zu zerren! Als ich der großen Eile gewahr wurde, mit der Kelemvor offenbar meine Seele für sich beanspruchte, schrie ich panikerfüllt auf und begann, mit den Fäusten auf den Vogel einzuschlagen. Das verkommene Vieh breitete die Flügel aus und begann, mit ihnen zu schlagen – wobei es seinen Scheißschnabel aber nicht aus meinem Bauch nahm. Ich hätte nicht solche Schmerzen erlebt, wäre ein Vulkan in meinem Bauch ausgebrochen! Ich stellte mir vor, wie der Vogel sich wie ein Papierdrache erhob, nur
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daß seine Schnur aus meinen Eingeweiden bestand. Ruckartig setzte ich mich auf, packte die elende Kreatur, drehte ihr den Hals um und schleuderte den dreckigen Leichnam den Hügel hinab. Die Nacht war wie gemalt, nichts rührte sich, bis auf die fernen flackernden Lichter in den hohen Fenstern Kerzenburgs. Die Luft war vom Schlachtengestank erfüllt, vom Blutgeruch, vom Gestank nach Innereien und nach all den anderen Dingen, die Menschen absondern, die einen Tag lang Zeit hatten, in der Sonne zu garen. Während ich mich glücklich schätzte, noch nicht Teil jener verrottenden Masse zu sein, lenkte ich meine Gedanken bereits darauf, wie ich wohl überleben konnte. Zunächst einmal brauchte ich Wasser. Mein Körper stand in Flammen, die Kehle war rauh und zugeschwollen. Aufgrund meines langen Aufenthalts im Umland von Kerzenburg wußte ich, wo Quellen zu finden waren, aber selbst die nächsten von ihnen waren zu weit weg, als daß ein Sterbender sie hätte erreichen können. Aber auf dem Hügel lagen die gefallenen Reiter vom Schwarzen Sporn, und ich hatte jede Menge Wasserschläuche an den Sätteln ihrer Bullen gesehen. Wie ein Kind weinend machte ich mich daran, den Hügel auf Händen und Knien kriechend zu erklimmen. Auf halbem Weg mußte ich eine Pause einlegen. Es schien mir unmöglich weiterzukriechen, aber leider hatte keiner der Reiter die Höflichkeit besessen, in greifbarer Nähe zu sterben. Ich stemmte mich hoch und setzte meinen Weg zur Spitze fort, hatte ich doch gesehen, was mich in Kelemvors Reich erwartete, wenn ich hier auf dem Hügel verendete.
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Ich kroch, brach zusammen, kroch weiter und brach wieder zusammen, bis ich kurz unter dem Hügelkamm zu liegen kam. Ich konnte nur noch den Kopf heben. Ihn sinken zu lassen traute ich mich nicht, ahnte ich doch, daß meine Augen sich schließen und nie wieder öffnen würden, wenn er erst einmal den Boden berührt hätte. Schließlich fand ich doch noch die Kraft, mich auf die Seite zu drehen, und begann, mich zentimeterweise wie ein Wurm nach oben zu schieben. Als ich oben angelangte, sah ich einen Wald aus schwarzen Federn, die im Mondlicht glänzten, als die Boten Kelemvors sich an den Leibern der Gläubigen gütlich taten. Nur zwei Schritte von mir entfernt tanzten drei dieser widerlichen Vögel auf dem Kadaver eines mächtigen Kriegsbullen herum. Hinter der Schulter des toten Tieres ragte das Bein seines ehemaligen Reiters auf, der Fuß hing immer noch im Steigbügel. Vom Sattel hing ein Wasserschlauch, bis zum Bersten gefüllt mit dem süßen Nektar der Flüsse. Ich schleppte mich vorwärts. Die drei Geier zischten und hoben die Flügel, gaben ein gewaltiges, empörtes Krächzen von sich und erhoben sich in die Lüfte. Sie waren eben verschwunden, als ich hinter dem toten Bullen einer Silhouette gewahr wurde, die vorher noch nicht da gewesen war. Die Gestalt hatte die Form und die weißleuchtenden Augen eines Menschen, doch die Schatten der hoch aufgetürmten Leichen schmiegten sich an seine Schultern, und ich konnte beim besten Willen nicht entscheiden, ob es sich um einen Reiter des Schwarzen Sporn handelte oder um einen Leibgardisten von einem der finsteren Gebieter. »Dem Schicksal sei Dank!« Es war nicht mehr als ein
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schwaches Krächzen, was sich da meiner Kehle entrang. »Bring mir Wasser.« »Wie du willst.« Der Schatten sprach nicht in einer einzelnen, sondern in tausend verschiedenen Stimmen, allesamt tief und kratzig wie ein Mühlstein. Der Rest von Kelemvors Schar erhob sich, brachte die Luft mit Flügelschlägen zum Dröhnen und verfinsterte das Mondlicht. Ich vergaß meinen Durst und ließ mich den Abhang hinuntergleiten, während ich meinen Stolz verfluchte, der mich dazu gebracht hatte, mich von Cyric abzuwenden. Nun gab es niemanden mehr, der mir gegen diesen Unhold beistehen konnte. Von knapp über meinem Kopf ergoß sich ein Schwall von Wasser, und die Luft kühlte sich merklich ab. Meine Glieder schlotterten unkontrolliert, und selbst der siedende Schmerz in meiner Wunde wurde zum Brennen erfrorenen Fleisches. Das Phantom stand über mir, und ich konnte mich nur noch ergeben. »Malik, warum zitterst du?« Seine Stimme war so schrecklich wie zuvor, und ich wagte nicht, zu ihm aufzublicken. Ich wollte fragen, woher die Erscheinung meinen Namen wußte, doch meine gefrorenen Lippen versagten mir den Dienst. »Hattest du nicht um Wasser gebeten? Also komm, öffne den Mund.« Ein eisiger Zeh stieß mir gegen die Rippen, und schon lag ich auf dem Rücken, den Mund wie ein Höhleneingang so weit aufgerissen – wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Ein Strom Flüssigkeit gluckerte aus dem Wasserschlauch, ergoß sich in mein Gesicht und lief mir
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zwischen die Lippen. Die Flüssigkeit war breiig und verfault wie Abwasser! Sie war kalt, salzig und erfüllte meine Nase mit dem Gestank vergammelten Fleisches. Der Brechreiz setzte ein und beförderte den abartigen Schleim wieder nach draußen, aber der ranzige Strom floß und schoß immer weiter meine Kehle hinab, bis mein Magen so übervoll dieses Gesöffs war, daß es aus meiner Wunde wieder hervorsprudelte wie Wasser aus der Quelle. Vergebens versuchte ich, meinen Mund zu schließen und mich wegzudrehen, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Meine Eingeweide erkalteten und wanden sich um sich selbst. Der Schrei, der folgte, konnte nicht der meine gewesen sein, denn nie hatte je eines Menschen Kehle einen solchen Laut erzeugt. »Ach so – deshalb soll man jemandem mit einer Bauchverletzung nichts zu trinken geben.« Schon wieder sprach das Phantom mit Tausenden von Stimmen und hörte nicht auf, jenen stinkenden Schlamm in meinen Schlund zu schütten. »Aber mich trifft keine Schuld, oder? Du hattest mich gebeten, dir Wasser zu bringen.« Der letzte Geier glitt vor dem Mond dahin, und die Seite des Hügels erstrahlte in silbernem Licht. Über mir sah ich einen grinsenden Totenkopf mit schwarzglänzenden Augen. Eine blutrote Schicht zierte seine elfenbeinfarbene Wange. Sein Leib bestand aus einem Gewimmel von Adern und Sehnen, das von einer Haut oder etwas vergleichbarem überzogen war und wie eine Welle auf dem Meer hin- und herwogte, als gäbe es unter all dem Knorpel keinen einzigen Knochen. Doch das war keineswegs das Schlimmste, das mir
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auffiel, denn ich konnte jetzt sehen, was sich aus dem Wasserschlauch ergoß, und das war kein Wasser. Es war voller Klumpen und Bläschen und so tiefrot, daß es fast schon schwarz war. Einst, als ich noch ein Händler in der Glänzenden Stadt gewesen war, hätte dies meinen Magen sicher dazu veranlaßt, sich zu entleeren, was mich ganz bestimmt auf der Stelle umgebracht hätte. Aber die Jahre im Umland Kerzenburgs hatten mich abgehärtet, hatte ich mich doch viele Male nur dadurch am Leben halten können, daß ich die garstigsten Scheußlichkeiten verzehrte, und somit gab mir meine Entdeckung lediglich auf einen Schlag meine Kräfte zurück. Ich drehte mich von dem Phantom weg, sprang auf und raste den Hang hinab. Als ich den Fuß des Hügels erreichte, lief ich auf den Weg des Löwen, und ungeachtet der langen Einsamkeit, die vor mir liegen würde, wandte ich mich gen Beregost. In der Tat brauchte ich mir keinerlei Gedanken wegen der Einsamkeit zu machen, denn noch bevor ich auch nur zwei Schritte gemacht hatte, ragte der blutige Geist vor mir auf. Er versetzte mir einen so starken Fausthieb aufs rechte Auge, daß das Lid auf der Stelle zuschwoll. Meine Hand hob sich zum Gesicht, und ich wand mich um und rannte, was das Zeug hielt, und meine Kräfte schienen sich durch die Höllenqualen in meinen Verletzungen noch zu steigern. Jeder Atemzug war wie ein Blasebalg, der das weißglühende Feuer in meinen Eingeweiden weiter anfachte. Nach zwanzig Metern oder so hatte die Erscheinung mich immer noch nicht überholt. Ich hielt inne und warf einen Blick meines
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noch intakten Auges über die Schulter, konnte aber nichts erkennen. Es schien, als sei es dem Unhold zu langweilig geworden. Vor mir ragte Kerzenburg auf, und da ich es für klüger hielt, mich aus der Reichweite der am Niederen Tor postierten Bogenschützen herauszuhalten, machte ich mich daran, die Straße zu verlassen. Plötzlich versperrte mir das Phantom den Weg. Seine weißen Finger zischten durch die Luft und seine gekrümmten schwarzen Klauen bohrten sich in meinen Hals. Eine Blutfontäne schoß hervor und tränkte mich von der Robe bis hin zu den zerlumpten Schuhen. Ich drehte mich wieder zur Straße um und rannte, bis die Furcht vor den Pfeilen aus Kerzenburg stärker wurde als die Angst vor dem Phantom. Dann verlangsamte ich meinen Schritt und riskierte einen Blick über die Schulter. Nichts. Noch einmal entschloß ich mich, die Straße zu verlassen, und schon wieder war der Geist da! Er gab mir eine schallende Ohrfeige auf die rechte Wange, und es grenzte an ein Wunder, daß mein Schädel nicht platzte. Ein gewaltiger Luftstrom rauschte in mein Ohr und wirbelte dann in meinem Kopf umher. Mir wurde schwindlig, und ich hatte in dem blutigen Ohr das Gehör verloren. Ein grauenhaft hämmernder Schmerz breitete sich aus, doch diese neue Qual erfüllte mich nur mit noch mehr Kraft. Ich drehte mich um und raste los. Endlich dämmerte mir, daß das Phantom versuchte, mich gen Kerzenburg zu treiben. Womöglich hatte der diebische Oghma es gesandt, um mich gefangenzunehmen, war ich doch jener Spion, der die Ankunft der
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Cyrinishad entdeckt hatte. Mir wurde das Herz noch viel schwerer, hatte ich doch Cyric abgeschworen, und wen sonst hätte ich anflehen können, mich vor Oghmas Schergen zu retten? Ich setzte meinen Weg zum Niederen Tor fort, während ich noch darüber grübelte, wie ich mich wohl retten könnte. Mit jedem Schritt wuchs meine Angst, aber wenigstens verließen mich meine Kräfte nicht. Zum Glück. Denn der Geist griff mich jedes Mal aufs brutalste an, wenn ich auch nur etwas zurückfiel, und hätte mich sicher erschlagen, wenn ich gestürzt wäre. Schließlich erreichte ich das Niedere Tor, nun konnte ich nicht weiter. Das Fallgitter war wegen unseres Angriffs herabgelassen worden, und man hatte es noch nicht wieder hochgezogen. Ich ergriff die Querverstrebungen und begann, an dem Gitter hochzuklettern, wobei ich mir der Tatsache durchaus bewußt war, daß mich die Wächter, die das ganze durch ihre Schießscharten hindurch beobachteten, entweder gefangennehmen oder gar töten würden, wenn auch vielleicht auf weniger grausame Art als das Phantom. Ein eisiges Band schloß sich um mein Fußgelenk und zerrte mich vom Fallgitter weg. Als ich auf dem Boden aufschlug, war ich dem Unhold wieder einmal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Noch nicht«, sagte das Phantom mit seinen tausend Stimmen. »Du hast meinen Befehl noch nicht gehört.« »Was immer du verlangst.« Ich wandte ihm mein intaktes Ohr zu, denn ich würde es zweifellos schmerzlich bedauern, seinen Befehl nicht verstanden zu haben. »Aber ich bitte dich, laß mich leben. Tot werde ich dir
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nichts nützen.« »Mehr als du denkst«, sagte der Todesalb. »Aber derzeit paßt es mir gut, daß du lebst. Hör auf zu zittern.« Diese Erkenntnis stellte für mich eine gewaltige Erlösung dar. Trotzdem konnte sich seinem Befehl nicht Folge leisten, hatte ich doch ein Auge und ein Ohr eingebüßt, während mein ganzer Körper von zahllosen weiteren Angriffen schmerzte, und ich aus Angst vor weiteren Übergriffen am ganzen Leib zitterte. Mein Ungehorsam schien ihn nicht zu kümmern. »Hast du die Cyrinishad gesehen?« Ich nickte. Sie war in einer eisernen Kiste, die mit vielen Ketten umwickelt war.« Unvermittelt ergriff mich das Phantom an meiner blutverschmierten Kehle und riß mich hoch, bis ich direkt vor seinem Gesicht hing. »Eine eiserne Truhe?« Sein Atem war wie der eines Hundes, der verrottete Sachen frißt, stinkend und ranzig. »Wie konntest du ins Innere der Truhe schauen?« »Das konnte ich nicht. Aber ich sah ihre Träger. Die Frau trug ein diamantenes Amulett, geformt wie Oghmas Schriftrolle.« Der Griff des Geistes um meine Kehle wurde fester, und die Sicht in meinem verbliebenen, sehenden Auge verdunkelte sich. »Oghma könnte tausend Stück von diesem Tand erschaffen!« Mir kam eine unangenehme Vermutung bezüglich der Identität des Todesalbs, und ich strebte immer mehr danach, soweit wie möglich in seiner Gunst zu bleiben. »Ich bin sicher, daß es die heilige Cyrinishad war! Trotz
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all des Eisens spürte ich die Finsternis im Innern, und ich roch einen fauligen Geruch, der nur Pergament aus Menschenhaut sein konnte.« Zwar ließ mich Erscheinung nicht los, aber ebensowenig zerquetschte sie meine Kehle. »Ich habe sie flüstern gehört!« Der Griff des Unholds lockerte sich, und so konnte ich hinzufügen: »Ihre Stimme war weich, nicht viel mehr als ein Rascheln, aber ich erkenne die heilige Wahrheit, wenn ich sie höre!« Diese letzte Offenbarung schien das Phantom zu überzeugen, denn seine Hand öffnete sich, und er ließ mich gegen das Fallgitter plumpsen. »Nun gut. Dann wirst du losziehen und sie mir holen.« »Sie holen, dunkler Prinz?« »Sofort«, antwortete das Phantom, und es gab nicht mal mehr den geringsten Zweifel für mich, daß ich mit Cyric sprach; denn kein gewöhnlicher Geist würde es wagen, einen der tausend Namen der Dunklen Sonne für sich zu beanspruchen. »Ich brauche sie.« Gelöst lächelte ich. Cyric hatte mich schrecklich dafür gestraft, daß ich den Glauben verloren hatte, aber nun hatte er mich wieder aufgenommen. Das Schlimmste war vorbei. »Wie du willst, Mächtigster. Ich werde sie dir auf der Stelle holen.« Ich wandte mich um und spähte in Richtung Kerzenburg, sah aber nur den nicht enden wollenden grauen Anstieg des zerklüfteten Felsens, auf dem die Zitadelle errichtet war. Das Niedere Tor war Kerzenburgs einziger Zugang. Man konnte es nicht umgehen, denn es war in den Fels selbst getrieben. Die Klippen, die es umgaben,
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waren nicht zu erklimmen. Eingedenk der Wichtigkeit des Tores hatten die Erbauer es unerstürmbar gemacht. Das Fallgitter bestand aus Eisenstreben, die kein Mann verbiegen und nicht einmal ein Elefant anheben konnte. Was folgte, waren die Torflügel selbst, zinnbeschlagen und mit einem Riegel versperrt, der so dick war wie ein Feuerriese in der Hüfte. Die Gucklöcher für die Wachmannschaft waren zu klein, als daß auch nur ein Pixie sich hätte hindurchzwängen können. Ich sah nicht die geringste Möglichkeit hineinzugelangen, doch musterte ich das Tor ernsthaft, wollte ich doch begierig erscheinen, den Befehl meines Herrn auszuführen. Ich war mir sicher, daß der allmächtige Cyric mir eine Möglichkeit aufzeigen würde, wie ich die undurchlässigen Verteidigungsanlagen der Zitadelle würde überwinden können. Zu meinem Glück sahen die Torwächter derzeit gerade weg, ganz so, als hätte irgend etwas im Inneren ihre Aufmerksamkeit erregt. Bald bemerkte ich aber, daß sie nicht ein einziges Mal herschauten oder sich auch nur erkennbar bewegten. Es schien, als wären sie durch Cyrics eisige Aura steifgefroren. Wenn dem so war, so fragte ich mich, warum er nicht einfach nach Kerzenburg hineinspazierte und sich sein Buch selbst holte! Als der Eine schließlich das Wort erhob, geschah es nicht, um sich zu erklären. »Sobald du die Cyrinishad in Händen hältst, wirst du sie an den nächstliegenden hohen Ort bringen, dreimal meinen Namen rufen und dich in die Tiefe stürzen.« »In die Tiefe, Gebieter?« Ich sah meinen Körper schon hinabstürzen, hinab in das Meer, und mich wie eine Melone auf dem felsigen Ufer zerschellen.
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»Vergiß ja nicht das Buch!« Der Eine sprach immer noch in tausend donnernden Stimmen, aber der Lärm störte die Wachen nicht. »Die Cyrinishad ist alles!« »Natürlich, Mächtiger. Sie ist heilig, und ich muß verstehen, daß sie mich davor bewahren wird ...« »Hör mir zu, du Narr!« Cyric griff mich bei den Schultern, und seine Finger senkten sich bis zum ersten Fingerglied in mein Fleisch. »Du mußt verstehen, wie viel von dir abhängt.« »Ich höre ja zu.« Was hätte ich auch sonst tun können? Die Krallen des Einen gruben sich noch tiefer. »Die Cyrinishad ist meine einzige Verteidigung! Sie wird ihnen die Augen öffnen. Sobald sie sie gelesen haben, werden sie sich vor mir verneigen und um die Ehre bitten, meine Füße küssen zu dürfen. Sie werden um Gnade flehen, und auch Ao wird keine Wahl mehr haben.« »Ao?« »Ja. Er wird erkennen, was aus mir geworden ist. Er wird verstehen, daß ich allein über Faerûn herrschen kann, daß ich sie alle nicht brauche ...« Hier zog Cyric plötzlich seine Nägel aus meiner Schulter, trat zurück und warf verstohlene Blicke in alle Richtungen. Dann richtete er sich auf und zischte in tausend flüsternden Stimmen: »Natürlich hängt es von mir ab. Alles hängt von mir ab.« »Allmächtiger?« »Wer lebt. Wer stirbt. Was ist und was sein wird.« Seine finsteren Augen blitzten auf. »Stell dir vor, ich beobachte euch von hoch oben. Ich schwebe im Himmel, eben genau, wie die Sterblichen sich das bei uns Göttern
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so vorstellen ...« Was Cyric noch sagte, habe ich schon eingangs berichtet, und es hat keinen Sinn, es zu wiederholen, außer um zu beschreiben, wie seine Worte die Zweifel nur noch mehrten, die sich in meinem Innersten erhoben hatten. Ich hörte ihm in verblüffter Ehrfurcht zu, als er sich darin erging, daß nichts sicher sei, bis er selbst es nicht beobachtet und an seinen Platz gestellt hätte, und meine Ohren hörten, weshalb alle Welt ihn den Prinzen des Wahnsinns nannte. Meine Verzweiflung wuchs, bis sie so bodenlos schwarz war wie der Abyss selbst, und ich verfluchte nun schon mich selbst dafür, jemals seinen Namen gepriesen zu haben. Als er seine Tirade beendet hatte, stand ich mit weit offenem Mund vor ihm, ich war so sprachlos, ich hatte selbst das Zittern vergessen. Cyric lächelte wie ein Vater, der seinen Sohn an seiner Statt in die Schlacht ziehen läßt. »Du mußt flink sein. Sehr flink. Der Prozeß beginnt bei Tagesanbruch.« »Der Prozeß?« fragte ich heiser. Von den Ereignissen im Pavillon von Cynosure hatte ich noch nicht die geringste Ahnung und war daher höchst verwirrt. »Wollt ihr über mich zu Gericht sitzen für ...« Angsterfüllt, wie ich war, vermochte ich meine Blasphemien vom Morgen nicht zu wiederholen. »Über dich?« Die Worte brachen mit solcher Wut aus ihm hervor, daß ich gegen das Fallgitter geschleudert wurde. »Du wagst es, dir Sorgen um dich zu machen? Du bedeutest ihnen nicht das Geringste!« Aus dem, was er zuvor gesagt hatte, folgerte ich, daß er mit »ihnen« die anderen Götter meinte. Derzeit sah es
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nicht so aus, als würden sie »um Gnade flehen«, und da erkannte ich, daß es in dem Prozeß bei Morgengrauen um Cyric ging. Aber ich sah nicht, wie sich die Dunkle Sonne retten wollte, indem sie die Cyrinishad zurückeroberte. Die anderen Götter würden sie niemals lesen. Immerhin wußten sie um die ehrfurchtgebietende Kraft ihrer Wahrheiten und würden alles tun, um zu vermeiden, auch nur einen einzigen Blick auf ihre Seiten zu werfen. Denn sie waren allesamt eitel und arrogant, und es widerstrebte ihnen, einem Herren zu dienen, der größer war als sie selbst. Auch konnte sie nicht einmal die Schläue des Einen dazu bringen, das Buch versehentlich zu lesen, denn letztlich waren sie immer noch höhere Götter und als solche durchaus klug genug, solchen allzu offensichtlichen Gefahren aus dem Wege zu gehen. Ich war weise genug, diese Zweifel nicht laut auszusprechen, würde Cyric den Skeptizismus eines Sterblichen doch sicher nicht allzu erquicklich finden. Ich neigte nur das Haupt und erwartete die nächste Anweisung der Dunklen Sonne. »Mach schon«, sagte er. »Der Morgen naht.« Da ich dachte, er hätte für mich eine Öffnung geschaffen, wandte ich mich um, in der Erwartung, hindurchschreiten zu können. Aber das Niedere Tor stand da wie zuvor. Doch jetzt sah ich, wie die Wächter sich, wenn auch langsam, zu mir umdrehten. Zu sagen, ihre Köpfe hätten sich zentimeterweise bewegt, wäre eine maßlose Übertreibung. Wenn einer der Männer zwinkerte, dann dauerte das so lange wie all das, was sich gerade zwischen dem Einen und mir abgespielt hatte. »Worauf wartest du?« fragte Cyric. »Der Morgen
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graut.« Meine Antwort mußte ihm mißfallen, und doch hatte ich keine andere Wahl, als sie ihm zu geben, konnte ich doch die Tore so nicht passieren. »Vergib mir, Allmächtiger, denn ich habe die Geistesschärfe eines Esels und nur noch ein sehendes Auge.« Natürlich erwähnte ich nicht, wer dafür verantwortlich war. »Aber ich hatte gehofft, du würdest mir eine Möglichkeit geben, hineinzukommen.« Cyrics brennend schwane Augen flammten in den leeren Höhlen seines Schädels auf. »Idiot! Wenn ich das könnte, würde ich das Buch selbst holen. Wenn ich dir meine Kräfte zuteil werden ließe, ließe Oghma dich für das Buch ebenso blind werden wie mich. Nur ein Sterblicher – ein auf sich gestellter Sterblicher – vermag die Cyrinishad zu finden.« »Auf sich gestellt?« hauchte ich. »Aber ich bin kein Dieb, kein Krieger! Selbst wenn ich in die Zitadelle hineingelangen sollte, wie sollte ich die Wächter des Buches besiegen?« »Das spielt keine Rolle.« Es war schrecklich, das hören zu müssen, nicht nur im Hinblick auf mich selbst. Ich war gewitzt darin, Gewichte zu fälschen und zu behaupten, eine Ladung sei eine andere, aber ich hatte noch niemals zuvor etwas aus der Heimstatt eines anderen entwendet oder jemanden getötet, außer mit Hilfe der Zahlung einigen Goldes. Ich war noch nicht einmal sicher, wie man derlei anstellte. In einer solch gewichtigen und gefährlichen Angelegenheit auf jemanden wie mich zu bauen, war mehr als leichtsinnig – es war verrückt! Cyric war ganz offensichtlich
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genauso wahnsinnig, wie seine Feinde es behaupteten, und wenn ich ihm folgte, so würde ich sicherlich getötet werden. Ich warf mich ihm zu Füßen und schlang meine Arme um seine Waden. »Heiligster, ich bitte dich! Finde einen Wertvolleren als mich! Wenn du dich auf mich verläßt, wirst du die Cyrinishad nie mehr zu Gesicht bekommen!« »Doch, das werde ich. Sieh, was du schon alles zustande gebracht hast. Wer sonst hätte sein Anwesen verlassen, um im Schlamm zu leben? Wer hätte sein Vermögen zurückgelassen, um sich Essen erbetteln zu müssen, und wer hätte den Neid seiner Gefährten aufgegeben, nur um sich vor Fremden in den Staub werfen zu müssen?« Die tausend Stimmen des Einen klangen ungewöhnlich freundlich. »Du wirst all das nicht deshalb tun, weil ich es dir befehle – auch wenn ich das in der Tat tue – sondern aus demselben Grund, aus dem du all das andere auch gemacht hast: weil du keine Wahl hast.« Der Eine beugte sich zu mir herab und ergriff meine Arme ganz zart, und als er mich auf die Füße stellte, wagte ich nicht zu sprechen. »Malik, du wirst Erfolg habe. Weißt du auch, warum?« Ich konnte nur den Kopf schütteln. »Du wirst Erfolg haben, weil ich, falls du keinen Erfolg hast – du mich also hintergehst oder bei dem Versuch, das Buch zu beschaffen, einfach stirbst, weil ich dann Kelemvor gestatten werde, deine ungläubige kleine Seele mit sich zu nehmen.«
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Mystra und Kelemvor materialisierten sich außerhalb von Oghmas Palast, in dem es jedes Mal, wenn man ihn besuchte, anders aussah. Heute sahen sie sich einem vielfach gewölbten Alcazar aus schneeweißem Stein gegenüber, dessen Pracht sich in langgezogenen Kunstteichen spiegelte. Weder beschränkten Mauern die Weite des Anwesens, noch gab es Tore, die Eindringlinge fernhielten; das Haus des Wissens war für jeden geöffnet, der sich die Mühe machte, es zu besuchen. Mystra und Kelemvor verschwendeten keine Zeit darauf, die Schönheit des Alcazar zu bestaunen, denn bis zu Cyrics Prozeß gab es noch viel zu tun. Sie schwebten den Alameda hinab, vorbei an Heerscharen von in Debatten vertieften Gelehrten. Myriaden von Barden drängten nach vorn, um Magie und Tod mit ihren Balladen zu preisen, und zahllose Unholde und Seraphim, voll bepackt mit Tabellen und Manuskripten, hielten inne, um sich zu verneigen. Doch die beiden Götter ignorierten sie. Sie erreichten den Palast und schritten durch sein hohes, bogenförmiges Portal in eine riesige Empfangshalle, in dessen gewölbter Decke die Namen von unzähligen Gelehrten verewigt waren, die nach ihrem Tod von ihrer Gottheit in das Haus des Wissens geführt worden waren.
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»Die Sterne haben mein Haus mit Glück beschenkt!« Oghmas Stimme war wie Gesang. Angetan mit einer enganliegenden Hose, einer weiten Tunika und einem lockeren Turban stand er im Durchgang zum nächsten Raum. »Gleich zwei solch erlesene Besucher!« »Wie du weißt, waren es nicht die Mächte des Glücks, die uns hierher führten«, sagte Mystra. Sie drängte sich an Oghma vorbei, hinein in die gigantische Bibliothek. »Wir sind hier, um den Prozeß zu besprechen.« Der Fürst des Wissens drehte sich um und folgte Mystra durch die Tür, Kelemvor folgte den beiden. Die Bibliothek war ein Labyrinth aus Säulen und Regalen, von grenzenlosen Ausmaßen und angefüllt mit Bänden, in denen jedes noch so winzige Detail niedergeschrieben war, von dem Oghmas Anhänger in ihrer Lebenszeit Kenntnis erlangt hatten. Mystra wand sich ohne jede Schwierigkeit durch den Irrgarten, war sie doch oft genug Gast im Haus des Wissens, um sich darin zurechtzufinden, ungeachtet der jeweiligen Gestalt, die der Palast gerade angenommen hatte. »Es steht uns nicht zu, allein über Cyrics Schicksal zu entscheiden«, vermeldete Oghma, der der Mutter aller Magie immer noch auf dem Fuße folgte. »Das muß der gesamte Kreis entscheiden.« Mystra gelangte zu Oghmas Thron, einem Alabastersessel, umgeben von Tischen und Bänken aus weißem Marmor, und hier wandte sie sich an ihren Gastgeber. »Ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen, was ich vor dem gesamten Kreis nicht sagen kann.« »Dann, Teuerste, solltest du es vielleicht lieber nicht sagen.« Oghma schritt an Mystra vorbei und nahm auf
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seinem Thron Platz. »Vielleicht solltest du sie anhören«, gab Kelemvor zu bedenken. »Es sei denn, du bist nicht der Freigeist, für den du dich ausgibst.« Oghma zog eine Braue hoch. »Touche, Kelemvor.« Er winkte seine Gäste zu den Bänken neben seinem Thron und wandte sich wieder der Herrin der Mysterien zu. »Nun gut. Wenn ich dich anhöre, wird das den Ausgang des Prozesses nicht stören. Ich bin sicher, der Rest des Kreises hat das Ergebnis bereits ausgehandelt.« »Kelemvor und ich haben ein paar Erkundigungen eingezogen«, gab Mystra zu. »Aber Cyric hat selbst keine ... Arrangements getroffen.« Vielleicht hat er Vertrauen in den Prozeßverlauf.« »Du weißt es doch eigentlich besser«, sagte Kel. »Cyric plant etwas.« »Er hat die Cyrinishad«, fügte Mystra hinzu. »Wenn du dir dessen sicher bist, dann bist du weiser als ich«, antwortete Oghma. »Ich habe meinen Bannspruch noch nicht aufgehoben. Wie willst du wissen, daß Cyric das Buch hat, wenn ich allen Gottheiten das Wissen um den Aufenthaltsort des Cyrinishad verwehre? Wie sollte Cyric es haben, wenn er doch nicht sehen kann, wo es sich befindet? Er könnte in einen Raum hineinspazieren, es aufheben und wüßte nicht einmal, was er da in der Hand hat. Was du da andeutest, ist unmöglich.« Kels Blick verfinsterte sich. »Was immer du auch sagst, Cyric hat das Buch. Das wäre der einzige Grund für ihn, so ruhig zu bleiben.« »Ich verstehe«, vermeldete Oghma. »Ihr wißt nicht
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nur, wo die Cyrinishad sich befindet, sondern könnt euch auch noch in die Gedankenwelt eines wahnsinnigen Gottes hineindenken!« »Ich kenne Cyric«, knurrte Kel. »Ich verstehe ihn besser, als du es jemals können wirst.« »Du kennst Cyric, den Sterblichen«, gab Oghma zurück. »Aber wir sprechen hier von Cyric, dem Gott.« »Oghma, ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten«, sagte Mystra. »Ich weiß, das wäre dumm. Also laß uns für den Moment annehmen, Cyric habe die Cyrinishad gefunden und habe vor, sie bei der Verhandlung – als Beweisstück – vorzulegen.« Oghma legte die Stirn in Falten, dann weiteten sich seine Augen. »Wir wären verpflichtet, sie uns anzuhören!« Sie verstummten, denn alle drei wußten um die Macht der Cyrinishad. Sie wußten, daß sie, sobald sie sie hörten, vor dem Einen auf die Knie fallen würden, um ihn zu lobpreisen, und kannten auch die furchtbare Rache, die Cyric an ihnen nehmen würde, für jede einzelne der vielen Schmähungen, die sie ihm in der Vergangenheit hatten angedeihen lassen. Kelemvor durchbrach das Schweigen. »Gut – wir sind alle einer Meinung. Wenn Cyric das Buch mitbringt, ist der Prozeß vorbei. Wir vernichten ihn auf der Stelle.« Oghma gab als Antwort ein Keuchen von sich und schüttelte den Kopf mit solcher Inbrunst, daß jeder Weise in Faerûn den Gedanken verlor, der ihm grade im Kopf umhergeschwirrt war. »Nein!« »Nein?« Mystra rang nach Luft. »Aber das Gleichgewicht ...«
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»Würde vollkommen zerstört werden«, unterbrach Oghma sie. »Es ist besser, im Pandämonium zu dienen, als über die Wüstenei zu herrschen, die übrig bliebe, wenn wir einen Götterkrieg anzettelten! Was ihr da vorschlagt, ließe die Zeit der Sorgen wie einen kleinen Streit anmuten.« »Niemals!« Kelemvor stand so schnell auf, daß man eigentlich nicht sagen konnte, er habe sich erhoben; er saß noch im einen Moment und stand schon, ehe der nächste begonnen hatte. »Ich würde mich lieber selbst vernichten, als Cyric zu dienen!« Oghmas Blick wurde diamanthart. »Die Frage ist nicht, ob du dich selbst vernichten würdest, Kel, sondern ob du ganz Faerûn ins Verderben stürzt. Als Gott hast du die Feindschaften aus deiner Zeit als Sterblicher deiner Pflicht unterzuordnen. Das Schicksal einer Welt ist an jede deiner Handlungen gebunden, und du tätest gut daran, dich dessen zu entsinnen.« In Mystras Richtung gewandt fügte er hinzu: »Ihr tätet beide gut daran.«
Die Nacht der Verzweiflung war über mich hereingebrochen, denn ich war auf meinen Gott getroffen, und er hatte sich wahrhaft als der leibhaftige Prinz des Wahnsinns entpuppt! Ich hätte seinen Forderungen nicht einmal nachkommen können, wenn ich bei Kräften gewesen wäre, aber ich war ja nicht mal bei Kräften, dafür war ich von seiner Hand zu sehr geschunden worden. Halb blind, halb taub und von Kopf bis Fuß blutüberströmt sah ich meine bevorstehende Niederlage schon vor mir und mein Schicksal als besiegelt an. Ich warf mich gegen das Fallgitter, klammerte mich an die Gitterstäbe und weinte wie nie zuvor. Wie konnte ich mich retten? Um mich durch die Schießscharten zu quetschen, war ich zu fett, um den Berg zu erklimmen, war ich zu mitgenommen, und selbst wenn all dies möglich gewesen wäre, wäre ich immer noch zu ungeschickt gewesen, um nicht bei einer dieser beiden Vorgehensweisen ertappt zu werden. Die Buße, die mein Gott mir da abverlangte, konnte ich unmöglich tun, und ich würde seinem ewigen Feind übergeben werden, auf daß ich ein unerträgliches Schicksal erleiden mochte. Ich verfluchte den Namen Kelemvors, war er doch ein eifersüchtiger Feigling, der in seiner Knochen-
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stadt hockte, um sich vor Cyrics Zorn in Sicherheit zu bringen, und seinen Haß an armen, hilflosen Seelen wie mir ausließ, und ich verfluchte den Einen, denn in meiner Not glaubte ich, er hätte die Cyrinishad aufgrund seiner eigenen Dummheit verloren, und es sei mehr sein eigener Fehler gewesen als der meine, wenn ich nach all den Fährnissen, die ich zu erdulden hatte, vom rechten Glauben abgefallen war. Heute schäme ich mich zutiefst dafür, und ich gebe es auch nur deshalb zu, um der absoluten Wahrheit meines Berichts Rechnung zu tragen. Schließlich ertönte auf der anderen Seite des Tores ein Geklapper, und das Mannloch im Tor hinter dem Fallgitter öffnete sich. Zwei Mönche erschienen und beugten sich vor, um durch die Gitterstäbe zu spähen. Beide waren für die Schlacht gerüstet, auf dem Kopf trugen sie Kettenhauben, und ihre violetten Roben spannten sich über ihren schweren Kettenhemden. »Mukhtar!« rief der eine. Die Wächter vom Niederen Tor nannten mich Mukhtar den Verrückten, denn in all den Jahren, die ich um Kerzenburg herum zugebracht hatte, hatte ich ihnen nie meinen wahren Namen verraten, wußte ich doch, daß gute Spione das so machen. »Beim Barden! Was ist dir denn geschehen?« Ich glaubte nicht, daß es einen Sinn gehabt hätte zu lügen. »Ein Stier hat mich auf die Hörner genommen.« »Ja, und nach deinem Aussehen zu urteilen, hat er dich auch noch niedergetrampelt«, sagte der eine Mönch, dessen Name Agenor war. »Aber der Bewahrer glaubt, der Feind wolle uns austricksen. Wir können dir
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leider nicht das Tor öffnen.« Ich nickte, hatte ich doch nichts anderes erwartet. Ehrlich gesagt war ich erstaunt, daß sie mich nicht sofort totgeschlagen hatten, aber vielleicht war ihnen ja gar nicht bewußt, daß ich dem Kalifen von der Anwesenheit der Cyrinishad berichtet hatte. »Schau ihn dir an«, wandte Pelias, der andere Mönch, ein. »Er wird sterben!« »Wir haben unsere Befehle.« »Wir können das Gitter wenigstens soweit hochziehen, daß er darunter durchkriechen kann. Was soll schon passieren? Innerhalb einer Wegstunde Umkreis gibt es nicht einen einzigen Cyricisten!« »Denk daran, was der Bewahrer über hölzerne Pferde sagte.« »Ulraunt hat zu viele Heldenepen gelesen«, erwiderte Pelias. »Soweit ich mich erinnere, ist Mukhtar mein Freund.« »Dein Freund?« Ob dieser Bezeichnung war ich ebenso verwundert wie Agenor. Pelias hatte mir viel Freundlichkeit entgegengebracht, aber wir hatten niemals so miteinander geredet, wie ich es mit meinen Freunden in Calimshan getan hatte. Unter meinen Freunden war es Brauch, über eigene Geschäftserfolge und die Wichtigkeit seiner übrigen Freunde zu reden. Aber ich widersprach ihm nicht, spürte ich doch, daß er seine Worte ernst meinte, und hierin war vielleicht ein Vorteil für mich zu finden. Pelias war eine Zeitlang still. Dann sagte er, »Ja. Wir haben oft gemeinsam das Brot gebrochen, und was, wenn nicht das, läßt einen zum Freund werden?«
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Damit verschwand er aus meinem Blickfeld. Agenor folgte ihm. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust?« »Ich öffne das Fallgitter.« Pelias’ Antwort ließ mein Herz wahrlich ebenso wild schlagen wie die Hufe des Stiers, der mich aufgespießt hatte. Es war mir nie in den Sinn gekommen, daß es für mich so einfach sein könnte, nach Kerzenburg eingelassen zu werden, daß ich bloß anzuklopfen brauchte! Sicher, die Bergung der Cyrinishad war trotzdem immer noch ein Ding der Unmöglichkeit, wurde sie doch garantiert äußerst gut bewacht. Aber vielleicht würde meine Verabredung mit Kelemvor doch noch etwas verschoben, gesetzt den Fall, einer der Heiler in der Zitadelle würde sich meiner Wunden annehmen. »Sorge dich nicht, Agenor«, sagte Pelias. Ich konnte ihn kaum verstehen, sie waren beide in der Finsternis verschwunden. »Ich werde die Schuld auf mich nehmen, falls Risto Ärger macht.« »Das wird er«, entgegnete Agenor. »Vergiß nicht, daß Mukhtar der Verrückte genannt wird und daß Cyric der Prinz des Wahnsinns ist.« Von drinnen drang kein Geräusch mehr heraus; Agenors Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. »Na, was denkst du?« fragte Agenor. »Vielleicht hat Ulraunt doch nicht zu viele Heldengeschichten gelesen?« Ich mußte etwas unternehmen, sonst war mein Schicksal besiegelt. »Agenor hat recht!« rief ich. »Ihr dürft das Tor nicht öffnen. Ich habe Cyric in der Steppe da draußen gesehen. Er war es auch, der mir das angetan hat!«
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»Was?« Es dauerte nur einen Augenblick, und die beiden tauchten wieder in dem Mannloch auf und betrachteten meinen blutverschmierten Leib. »Cyric war das?« »Nicht das mit dem Aufspießen, aber alles andere schon.« Von den vielen Dingen, von denen mein Vater behauptet hatte, sie würden einen guten Händler ausmachen, war eines, daß es stets das Beste war, die Wahrheit zu sagen, wenn sie einem dienlich war. »Als er mich das erste Mal schlug, war mein Auge hin. Als er mich zum zweiten Mal angriff, machte er das hier.« Ich reckte das Kinn in die Höhe und zeigte ihnen die klaffenden Halswunden, die er mir mit seinen Klauen zugefügt hatte. »Als er mich das dritte Mal schlug, platze mir das Ohr.« »Beim Barden! Wie oft hat er dich denn geschlagen?« entfuhr es Pelias. »Diese drei Angriffe waren die schlimmsten, aber er packte mich auch bei den Schultern und bohrte seine Krallen tief in mein Fleisch, und ich bin sicher, diese Verletzungen allein werden ausreichen, um mich zu töten.« Um geschwächt zu wirken, flüsterte ich und stöhnte dabei ein wenig. In Wahrheit waren meine Kräfte aber nicht wieder geschwunden, seit der Eine mir den garstigen Trank eingeflößt hatte. »Ich bin ja ohnehin nur ein Bettler und habe außer dieser einen Sache überhaupt in meinem Leben nie etwas besessen.« Ich griff in meinen Mantel und zog den kleinen Dolch, den ich stets bei mir trug. »Wegen dieses Dolches hat Cyric mich auch getötet. Wenn man ihn in der Hand hält, sprechen die Götter zu einem.« Ich spitzte die Ohren, ganz so, als würde ich auch jetzt
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noch jemandem lauschen – vergeßt nicht, sie nannten mich Mukhtar den Verrückten –, dann hielt ich Pelias die Waffe durch die Gitterstäbe hindurch entgegen. »Ich will, daß du ihn bekommst, Freund.« Urplötzlich verschwand Pelias in dem kleinen Durchgang. Es gab ein mächtiges Geklirr auf der anderen Seite, und das Gatter hob sich vielleicht drei Hand breit. Ich verlor den Halt an den Gitterstäben und stürzte der Länge nach in den Schlamm. Das war noch nicht einmal gespielt, denn mein Glück hatte mich in solch einen Freudentaumel versetzt, daß es mich nicht mehr auf den Beinen hielt. Pelias selbst kroch unter den eisernen Spitzen hindurch und zerrte mich in das düstere Gewölbe dahinter. Zum ersten Mal in meinem Leben passierte ich das Tor von Kerzenburg. Pelias und ein anderer Mann legten mich auf eine Trage und begannen den Aufstieg hinauf in die Finsternis, während sie Agenor und den Rest der Ihren am Tor zurückließen, um das Gitter wieder herabzulassen und es auch fürderhin gegen Cyric zu verteidigen. Bald traten wir aus dem Gewölbe ins Mondlicht, und ich merkte, daß wir schon einiges an Höhe gewonnen hatten, konnte ich doch meinen Kopf drehen und meinen Blick über die weite Ebene schweifen lassen. Der Hügel, auf dem seine Hoheit Harun sowie seine Tödlichkeit Jabbar gestorben waren, lag tausend Schritt weit entfernt von hier und war jetzt wieder mit den Gefiedern von Kelemvors Boten übersät. Dahinter erstreckte sich ein wogendes Gräsermeer, so weit, daß mir schwindlig wurde. Der Pfad war eng, steil und verlief in vielen scharfen
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Kurven, und obwohl sie keinerlei Laternen oder sonstige Lichtquellen hatten als nur das Licht des Mondes, legten meine Träger bei unserem Aufstieg doch ein ziemlich flottes Tempo vor. Sie hatten diesen Weg schon hundertmal zurückgelegt und hätten ihn wohl auch in einer Finsternis gefunden, die jener Finsternis gleichkam, die in der Seele des Einen herrschte. Ich jedoch hatte diesen Pfad nie zuvor beschritten, und mein linkes Auge weitete sich vor Schreck, als es den steilen Abhang erblickte, der jenseits des Randes meiner Trage gähnte. Je höher wir gelangten, desto weniger konnte ich den Anblick des sich mehr und mehr entfernenden Bodens ertragen. Ich schloß mein Auge, aber das unaufhörliche Wackeln der Trage bestärkte mich nur noch in meiner Befürchtung, daß ich mich in großer Gefahr befand, abzustürzen. Auch tat die Reise meinen Wunden nicht gut. Das ständige Umherschleudern und Schaukeln erschütterte meinen dröhnenden Schädel, was wiederum meinem Magen nicht recht behagen wollte, und meine Bauchwunde brannte in einem kalten Feuer. Doch der Schmerz gab mir eine Kraft, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte; je mehr ich litt, desto mehr Energie schöpfte ich. Ich hätte von der Trage aufstehen und den Pfad auf eigene Faust erklimmen können, aber ich wollte weiterhin so tun, als sei ich ein todgeweihter Verrückter. Wir hatten den Berg einmal umrundet und bewegten uns eine Zeitlang hoch über der tosenden Brandung des Schwertermeeres. Als wir schließlich wieder auf die der Steppe zugewandte Seite gelangten, schmerzten meine Knöchel vom Festhalten an der Trage. Dann erblickte ich die flackernden Lichter Beregosts in der Ferne, und
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mir wurde klar, daß ich die Nacht überleben würde. Aber Trost konnte mir diese Erkenntnis nicht spenden, denn der Richterspruch über Cyric und auch über mich würde im Morgengrauen ergehen. Ich war versucht, mich einem der Götter zuzuwenden, die in Kerzenburg einen Schrein unterhielten, um hierdurch einer Bestrafung durch Cyric zu entgehen, aber das war keine Option. Weder war ich ein Weiser noch ein Gelehrter und hatte Oghma daher auch nichts anzubieten, was ihn meine Vergangenheit würde vergessen lassen. Das galt auch für die anderen Gottheiten, die hier angebetet wurden. Ich kann zwar schreiben, aber meine Handschrift ist so grauenhaft, daß nur die, die sie sehr gut kennen, überhaupt imstande sind, sie zu entziffern. Deneir würde mich also auch kaum aufnehmen, wiewohl mich Milil wahrscheinlich ebenso wenig haben wollte, sang doch ein Kamelbulle in der Brunst schöner als ich mit klarer Stimme. Gond hätte sich seinerseits sicher über meine Hände kaputtgelacht, waren sie doch weich und völlig ungeschickt im Bauen von irgend etwas anderem als Türmen aus goldglänzenden Münzen. Als mir endlich klar wurde, daß ich Cyric nicht abspenstig machen konnte, was ihm zustand, ergab ich mich in mein Schicksal und schwor lediglich, daß ich es solange wie möglich hinauszögern würde. Endlich machte die Klippe über uns den in Mörtel gefügten Steinen einer von Menschenhand geschaffenen Mauer Platz. Nach einer Wegbiegung betraten wir einen kleinen Hof, der einem Adlerhorst gleich an der Felswand hing. An drei Seiten umgab ihn nichts als Wind und Finsternis; auf der vierten jedoch gähnte der aufge-
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rissene Schlund des Hohen Tors, die gezackten Spitzen eines eisernen Fallgitters hingen von der Decke des Torbogens herab. Die zahllosen Schießscharten und Gucklöcher des Torhauses wimmelten von Pfeilspitzen und Armbrustbolzen, und der scharfe Geruch brennenden Lampenöls wehte von den Pechnasen zu uns herab. Pelias und sein Helfer trugen mich bis zum Rand des Durchgangs und hielten dann an. Ich für meinen Teil durfte zu den scharfen Zähnen des riesigen Fallgitters hinauf starren. Eine schmiedeeiserne Klappe hinter einem der Gucklöcher in der Mauer öffnete sich scheppernd, und eine Männerstimme fragte: »Was hast du da, Pelias?« »Mukhtar«, kam es von meinen Freund. »Er ist schwerverletzt und braucht einen Heiler.« »Nicht während meiner Wache!« schallte es zurück. »Was ist los mit dir? Du kennst den Befehl des Bewahrers!« »Ja, aber du hast nicht gehört, was Mukhtar zugestoßen ist. Er wurde vom Verfaulten angegriffen.« »Von Cyric?« »Von wem sonst?« Pelias trat ein paar Schritte vor und führte uns in eine dunkle Ecke. »Warum holst du nicht Risto? Ich bin sicher, er und der Bewahrer würden gern selbst mit Mukhtar sprechen.« Die Klappe wurde zugeschlagen, und wir warteten einige Zeit im Schatten des Durchgangs. Ich fühlte zahlreiche Augen in der Dunkelheit auf mir lasten, und leise Stimmfetzen drangen von den Schießscharten her zu mir herab. Ich achtete darauf, oft zu stöhnen und zu schreien, damit sie wußten, wie schwer verletzt ich war und
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nicht glaubten, ich könne irgendeine Gefahr für sie darstellen. Jetzt, da ich mich sprichwörtlich auf der Schwelle von Kerzenburg befand, erwuchs in meinem Herzen eine schmale Hoffnung, ich könnte doch noch die Cyrinishad finden, und wenn ich sie denn erst einmal gefunden hätte, dann war da eine noch viel kleinere Hoffnung, daß ich sie auch würde bergen und den zahllosen Qualen der Totenstadt entgehen können. Sicher, es war dumm, aber in seiner Verzweiflung greift ein dem Untergang Geweihter nun einmal nach jedem Strohhalm. Nach einiger Zeit drang von der andern Seite des Tores ein Murmeln herüber, das sich bald zu einem übereifrigen Dröhnen auswuchs. Da ich am Hofe des Kalifen oft ganz ähnliche Geräusche vernommen hatte, wußte ich, daß Ulraunt, der Bewahrer der Folianten höchstselbst, mit seinem Gefolge nahte. Ich kramte in meinem Geist nach einer Auswahl schmeichlerischer Formulierungen, hatte ich doch die Mönche von ihm als jemandem reden hören, der sehr von sich selbst eingenommen war und diejenigen besonders schätzte, die es ihm gleichtaten. Zwei dumpfe Schläge ertönten auf der anderen Seite des Tores. Als das Mannloch dann aufschwang, stieg mir plötzlich ein unangenehmer Geruch in die Nase. Er war ganz schwach, aber er war auch so faulig und verderbt, daß es der Gestank des Todes hätte sein können, der aus einem Grab heraufsickerte. Ich war ziemlich erstaunt darüber, denn die Mönche sahen in ihren Ordenstrachten reinlich und gesund aus. Pelias wechselte seinen Griff an der Trage und durchquerte das Pförtchen rückwärts. Er mußte den Kopf
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einziehen, um sich nicht zu stoßen, denn der Durchgang war so angelegt, daß ein ausgewachsener Mann ihn nur in der Hocke durchqueren konnte. Sobald ich hindurch war, drang eine ansehnliche Menschenmenge auf uns ein und drängte Pelias’ Helfer gegen das Tor. Die Menge bestand nicht nur aus Mönchen, sondern auch aus den Kriegern der zahlreichen Kompanien, die Kerzenburg zu Hilfe geeilt waren. Ich konnte nur einige der Feldzeichen identifizieren, darunter die Flammenden Fäuste, die Höllenreiter von Elturel, der Stille Regen und einige von geringerer Bedeutung. Auch sah ich die schwarzverschleierte Frau, die ich erst am Morgen erblickt hatte, wie sie auf einem Pferdegreif ritt und ihre schwarzumrandeten Augen über die Steppe schweifen ließ. Sie erfüllte mich mit größter Furcht, denn ihr Blick blieb auf meinem Gesicht haften, und zunächst glaubte ich, sie sei eine der wahren Gläubigen, gesandt, um mich zu überwachen. Dann fiel mir eine Anstecknadel auf, die sie trug: eine silberne Harfe, umrahmt von einer Mondsichel, und da wußte ich, daß sie den Harfnern angehörte, einer Bande aufdringlicher Trottel, die ihre Mittelsmänner hierhin und dorthin entsandten, um sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Auch war da der Wächter der Cyrinishad, jener Krieger, der mich in der Nacht, in der das Buch hierherkam, fast umgebracht hätte. Von all den Kämpfern hier war er der einzige, der voll gerüstet war, bis hin zu den Panzerhandschuhen und den Beinschienen. Ich konnte sehen, daß er mich wiedererkannte, denn sein Visier war offen, und er runzelte heftig die Stirn.
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Ein bärtiger Mönch in einer braunen Robe tauchte aus der Menge auf. Er richtete einen schwarzglänzenden Stab auf meinen Kopf. Ich wandte meine Augen ab, denn ich wußte, daß dies Risto, der Hüter der Pforte, war, und ich hatte gelernt, mich fernzuhalten, wann immer er nahte, um die Lage am Niederen Tor zu überprüfen. »Pelias!« sagte Risto. »Was soll das?« »Ich glaube, wir wissen alle, was das soll«, warf ein anderer Mann ein; er war in eine Robe in sehr hellem Blau gekleidet. Der Mann trat an Ristos Seite, beugte sich über mich und fiel auf meine zahlreichen Wunden herein. »Dieser Mann kam hilfesuchend zum Niederen Tor, und Pelias ignorierte meine Befehle und ließ ihn ein.« Obgleich ich den Hüter der Schriften nie zuvor in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte, konnte ich an seinem wachen Blick und seinen königlichen Manieren, aber ebenso gut an der Scheu, mit der die Menge sich vor ihm geteilt hatte, erkennen, daß dieser Mann Ulraunt war. »Gnädigster Quell des Wissens, bitte vergib mir mein Eindringen, ich war nicht Herr meiner selbst«, flehte ich. »Ich bin nicht zum Niederen Tor gekommen, um Hilfe zu erhalten, sondern um sie zu gewähren. Ich hatte Pelias eindringlich gebeten, mich nicht einzulassen, hatte nur gefleht, er möge mich anhören, damit ich ihn warnen konnte, das Gatter eben nicht hochzuziehen oder das Tor zu öffnen, weil nämlich Cyric selbst im Umland da draußen lauert!« Die Menge hielt den Atem an und wich zurück, aber die Harfnerin und der Träger der Cyrinishad näherten
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sich und musterten mich nun noch eindringlicher. Ulraunt legte mir seine Hand auf den Arm. »Sorge dich nicht, Mukhtar. Wir werden dich schon nicht auspeitschen lassen, nur weil du Hilfe brauchtest.« Seine Worte waren für mich ein Grund zu großer Erleichterung, war doch aus seinen freundlichen Worten zu hören, daß er mich nicht in ein Verlies werfen lassen und mich auch nicht an irgendeinem ähnlichen Ort einkerkern würde, von dem es kein Entrinnen geben konnte, was es mir unmöglich gemacht hätte, die Cyrinishad noch zu finden. Ulraunt blickte zu Pelias, dann zu Risto und sprach schließlich: »Auch Pelias werden wir nicht für seine Hilfsbereitschaft bestrafen.« »Gesegnet sei dein Name!« Ich war darauf bedacht, meine Stimme nicht zu kräftig klingen zu lassen, um mit meiner so schnell wiedergewonnenen Stärke nicht den Argwohn meines Gastgebers zu erwecken. »Du bist in der Tat so voll der Weisheit und des Mitgefühls, wie deine Diener es behaupten. Wenn ich in die nächste Welt eingehe, wisse, daß ich nur Gutes über Ulraunt zu sagen habe.« »So wie es sein sollte.« Der Mann lachte vergnügt in sich hinein, Risto aber grinste höhnisch. Die Menge hielt den Atem an, und ich merkte, daß ich in ein Fettnäpfchen getreten war. »Ich bin nicht Ulraunt«, erklärte er. »Ich bin nur der erste Leser, Tethtoril.« »Ich bin Ulraunt.« Die vor Ärger scharfe Stimme kam von irgendwo hinter Tethtoril und Risto. Die Menge teilte sich und ließ einen kleinen Mann mit
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verbitterten Zügen durch, die Augen immer noch voll von Schlaf. Er drängte Tethtoril beiseite, und der Zorn in seinem Gesicht ließ mich ahnen, daß er mir meinen Fehler nachtragen würde. Vor meinem geistigen Auge tauchten Bilder auf, wie ich von der Plattform vor dem Hohen Tor geworfen wurde oder in irgendeinem Kerkerloch verrottete, bis ich endlich starb und vor Kelemvor treten mußte. »Also, was soll das Gefasel über Cyric?« »Er treibt sich in der Steppe draußen herum«, antwortete ich. »Ich weiß es, weil er mir all diese Wunden beigebracht hat. Mit Ausnahme der Bauchwunde, denn die stammt von einem wildgewordenen Kriegsbullen.« Während ich sprach, trat ein weiterer Mann von der anderen Seite an meine Trage heran. Er trug das weiße Hemd der Erwählten Oghmas, und die auf seine Weste gestickten Glyphen verrieten, daß es sich um einen Priester von großer Macht handelte. Sein Handlanger führte eine Lampe mit sich, und ich wandte meine Augen ab, damit der Heiler nicht sofort merkte, welchen Haß ich seinem diebischen Gott entgegenbrachte. Als der Priester dann in meinen Verletzungen herumstocherte, bemerkte Ulraunt: »Ich kann kaum glauben, daß jemand wie du ...« bei dem letzten Wort rümpfte er wirklich und wahrhaftig die Nase –, »einen Angriff von Cyric überleben konnte.« »Dann kannst du froh sein, daß du nicht dort warst, müßtest du doch deinen eigenen Augen mißtrauen.« Dies entlockte Tethtoril und einigen anderen ein Kichern, was mir gar nicht so recht war, wollte ich doch Ulraunt nicht noch mehr verärgern, als ich es ohnehin schon getan
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hatte. »Ich kann es selbst kaum glauben.« Der Priester trieb einen seiner Finger in meine Bauchverletzung und rührte grob darin herum, um sich bei Ulraunt einzuschmeicheln. Ich wurde von brennenden Krämpfen erfaßt und wäre fast von der Trage gefallen, hätten Tethtoril und Risto mich nicht auf das Lager gedrückt. Der Priester sprach ein Wort, und in dem Moment platzte etwas auf, das er zuvor in meinen Bauch gedrückt hatte. Es durchströmte meinen Körper wie ein flammender Dämon, suchte sich jede einzelne der von Cyric geschlagenen Wunden und ließ sie in Flammen aufgehen. Die Welt färbte sich rot, wurde still, und ich fühlte mich, als fiele ich. Wie lange ich fiel, kann ich nicht sagen. Ich öffnete mein linkes Auge, nur um festzustellen, daß mir der Priester eine Ohrfeige versetzte und in mein noch hörendes Ohr brüllte, und daß ich immer noch auf der Trage lag. Dieselbe Menschenmenge drängte sich um mich. Mein Kopf drohte immer noch zu bersten, mein Gesicht tat immer noch weh, und mein Hals und meine Schultern wurden immer noch von jenem kalten Fieber geschüttelt – aber immerhin war der Schmerz im Unterleib verschwunden. Das Loch selbst fühlte sich taub und voll an, als hätte der Priester es mit einem Korken verschlossen. Die umgebenden Hautpartien fühlten sich zart und heiß an; sonst tat mein Bauch nicht mehr weh, als wenn mich ein wütendes Kamel getreten hätte. »Er ist wieder da.« Es klang, als sei der Priester erleichterter als ich. Jetzt bemerkte ich, daß der unterschwellige Gestank, den ich vor dem Tor schon einmal gerochen hatte, stär-
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ker geworden war, auch wenn seine Quelle sich nicht hier befand. Ulraunts Gesicht tauchte über mir auf. »Tu das nie wieder.« Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob der Bewahrer mich meinte oder den Priester. »Ich muß mehr über dieses Zusammentreffen mit Cyric wissen.« »Wie du wünschst«, vermeldete der Priester. »Wie kommt es, daß du überlebt hast?« verlangte Ulraunt zu erfahren. »Ganz ohne mein Zutun.« So wie unten am Niederen Tor war ich auch jetzt vollkommen aufrichtig in dieser Angelegenheit. »Als Cyric nicht fand, wonach er gesucht hatte, wurde ihm dieses Spiel zu langweilig, und er ließ mich mit meinen Schmerzen allein.« Ulraunts Augen verengten sich. »Wonach suchte er?« Ich warf Pelias einen Blick zu. Da ich mich in den vielfältigen Erscheinungsformen des Wahnsinns einigermaßen auskannte, war mir klar, daß es besser war, sich erst noch etwas zu sträuben. »Fahr fort«, drängte Pelias. »Ulraunt kannst du trauen.« Ich nickte, auch wenn ich es besser wußte. Ich sah mich stirnrunzelnd in der Menge um, als wollte ich nur ungern vor so vielen Ohren sprechen, und bedeutete dem Bewahrer, sich über mich zu beugen. Als er es tat, flüsterte ich ihm zu: »Er wollte meinen Dolch.« »Deinen Dolch?« Ulraunt trat einen Schritt zurück. »Es gibt nichts zu befürchten«, vermeldete Pelias. »Er hat mir die Klinge zur Aufbewahrung übergeben.« Ulraunt runzelte die Stirn, und mir war klar, daß Pelias einen Fehler gemacht hatte, indem er auf die Angst
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seines Vorgesetzten hingewiesen hatte. Von jetzt an würde es mein Freund hier in Kerzenburg garantiert schwerer haben. Der Bewahrer trat wieder an die Trage, und als er sprach, offenbarte sich in seinem Tonfall nur allzugut, daß er jegliches Interesse an meiner Geschichte verloren hatte. »Was sollte einen Gott am Dolch eines Bettlers interessieren?« Da wußte ich, daß ich die Nacht über würde hierbleiben dürfen, denn Ulraunt sah in mir lediglich einen wertlosen Bettler, und er würde seine Männer nicht damit behelligen, die Tore zu öffnen und mich hinauszuwerfen. Begierig, diesen Eindruck noch zu verstärken, schaute ich die Leute, die um meine Bettstatt herumstanden, an und bedeutete dem Bewahrer noch einmal, mit dem Ohr näher heranzukommen. Er hatte aber offenbar genug davon niederzuknien und blieb stehen. »Du kannst frei reden. Wir sind unter Freunden.« Noch einmal legte ich die Stirn in Falten, aber Pelias nickte. Also erklärte ich im Flüsterton: »Der Dolch ist magisch. Wenn man ihn in der Hand hält, sprechen die Götter zu einem.« Die Menge kicherte über diese Behauptung, aber es war ein ängstliches Kichern. Jeder hier wußte, daß die Götter ihre Augen auf diesen Ort gerichtet hielten und daß die Wege der Götter bisweilen unergründlich sind. Es war nicht völlig undenkbar, daß eine Gottheit durch den Dolch eines Bettlers spricht. Ulraunt warf Pelias einen Blick zu und zog eine Augenbraue nach oben. »Es – also, bei mir hat es nicht geklappt, Bewahrer.«
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»Gut.« Ulraunt wandte sich wieder mir zu. »Wenn Cyric den Dolch wollte, wie konnte dann ein einfacher Bettler ihn davon abhalten?« »Ich habe ihn versteckt.« Es lief besser, als ich erhofft hatte. »In meiner Robe.« »Damit konntest du Cyric täuschen?« »Ja«, gab ich zurück, »und dann ließ er von mir ab.« »Ich verstehe.« Ulraunt verdrehte die Augen und schenkte Pelias einen finsteren Blick. »Sei beim nächsten Mal weniger naiv.« »Das ist er nicht«, gab der Priester bekannt. »Naiv, meine ich. Was auch immer diesem Bettler zugestoßen ist, was seine Wunden angeht, sagt er die Wahrheit.« »Wie bitte?« Es war der Wächter der Cyrinishad, der dies fragte; er hatte eine bemerkenswerte Schnelligkeit an den Tag gelegt und stand plötzlich dem Priester gegenüber auf der anderen Seite der Trage. »Wie meinst du das?« »Sieh.« Der Priester wies auf meinen Bauch. Wenngleich meine Robe zerfetzt und blutverschmiert war, so war das furchtbare Loch in meinem Leib doch von seiner Magie verschlossen worden. »Diese Wunde war bei weitem die schlimmste, doch ist sie fast zur Gänze verheilt. Bei diesen anderen konnte Oghmas Magie nichts ausrichten.« »Der Fürst des Wissens schütze uns!« zischte Ulraunt. Der Bewahrer trat mehrere Schritte zurück, und der Rest der Anwesenden tat es ihm gleich – bis auf Tethtoril und den Priester, den Krieger und die Harfnerin und meine Träger, die ihrerseits recht besorgt dreinblickten. »Er wurde berührt?«
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»Berührt?« fragte die Harfnerin. »Was heißt das?« »Ich bin Oghma nahe genug, daß meinen Händen eine gewisse ... Kraft innewohnt«, erklärte der Priester. »Ich könnte diesen Mann von den Toten erwecken, und doch kann ich diese Wunden nicht schließen. Er wurde von etwas Mächtigem berührt – von etwas äußerst Verderbtem. Deshalb hat ihn Oghmas Magie auch so hart getroffen, wie wir es soeben erlebt habe.« »Deshalb, und weil er einer von Cyrics Anhängern ist!« Der Wächter der Cyrinishad ergriff meine Hüfte und hob mich von der Liege hoch. »Wir müssen uns seiner entledigen!« Er drückte sich geduckt durch die niedrige Tür, und als mir klar wurde, was er vorhatte, krallte ich mich in den Türrahmen und ließ nicht mehr los, auch wenn meine Fingernägel brachen. Bewahrer, ich flehe dich an, laß ihn mich nicht von der Klippe werfen!« Der Priester und sein Helfer kamen mir zu Hilfe. Sie ergriffen meine Schultern und zogen mich gemeinsam wieder zurück in den Verschlag, aber mein Angreifer wollte seinen Griff um meine Beine nicht lösen, scheinbar weiterhin entschlossen, mich durch die Türöffnung hindurch nach draußen zu zerren. »Gwydion!« schrie Tethtoril. »Hör auf – sofort!« »Dieser Bettler hat schon einmal versucht, das Buch zu stehlen!« »Buch?« gellte ich. »Ich kann noch nicht einmal lesen!« Pelias ergriff Gwydions Daumen und verdrehte sie, und siehe da, die Hände des Kriegers ließen mich los.
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Der Priester und sein Helfershelfer fielen zu Boden, und ich landete auf ihnen, und so lagen wir alle drei da, während sich Tethtoril und Pelias schützend zwischen mir und dem Wächter aufbauten. »Gwydion, du bist hier nur Gast«, sagte der erste Leser. »Wenn du dich nicht entsprechend verhalten kannst, wird man dich bitten zu gehen!« Ulraunt, wie immer darauf bedacht, die Würde seines Amtes zu wahren, trat vor. »Das ist immer noch meine Entscheidung.« »Entschuldigung.« Tethtoril machte Ulraunt Platz, hielt den Blick jedoch starr auf Gwydion gerichtet. »Ich wollte dies Gwydion gegenüber nur betonen, bevor er es auf sich nimmt, Mukhtar in die Tiefe hinabzustoßen und dich dadurch der Möglichkeit einer weiteren Befragung zu berauben.« Ulraunt verzog das Gesicht. »Befragung?« »Wie die Wunden des Bettlers beweisen, hattest du die ganze Zeit über recht«, antwortete Tethtoril. »Cyric ist in der Tat da draußen, und Mukhtar allein kann uns sagen, was er dort tut.« Das Herz wurde mir schwer, hatte ich ihnen doch schon soviel über Cyric gesagt, wie ich konnte, und es hieß, daß Ulraunts eifersüchtiger Geist ihn zu einem wachsamen Inquisitor machte. Er nickte ernst und schaute mich an. Da war mir plötzlich klar, daß ich den Rest der Nacht in der Obhut des Bewahrers zubringen würde, ohne auch nur die geringste Möglichkeit, nach der Cyrinishad zu suchen. Es ist eine glückliche Fügung des Schicksals, daß der Kalif die Verrückten auf den Straßen seiner Stadt hausen
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läßt. Ich hatte viele Gelegenheiten gehabt, sie zu beobachten und ihre seltsamen Angewohnheiten zu studieren – insbesondere, was Anfälle angeht. Diese nämlich konnten sie schon beim geringsten Anlaß bekommen. Dabei verdrehen sie die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen ist, ihre Glieder werden starr wie Holzknüppel und wirbeln und schlagen wild umher. Sie beißen sich auf die Zunge und haben Schaum vorm Mund, und nichts auf dieser Welt könnte in diesem Zustand zu ihnen vordringen, ganz gleich, ob sie nun von schönen Frauen verführt oder mit rotglühenden Eisen gepiesackt würden. All dies tat ich, bis hin zum Auf-die-Zunge-Beißen, so daß mir die gleiche Menge Blut wie Speichel aus dem Mund sprudelte. Ich warf mich hin und her, ohne Rücksicht darauf, wen oder was ich traf, und krachte sogar einmal mitten in Gwydions Beine, damit auch ja niemand dachte, ich hätte noch Gewalt über meine Bewegungen. Währenddessen brabbelte ich in einer Sprache vor mich hin, die kein Mensch je zuvor gesprochen hatte. Ich schlug meinen Kopf auf den Boden, bis er voller Beulen war, und ich wischte mit meinem Gesicht über die Steine, bis es voller blutiger Striemen war. Die damit einhergehenden Schmerzen heizten meine eigenartige Kraft noch mehr an, und meine Raserei wollte nicht nachlassen. Niemand konnte Zeuge dieses Schauspiels werden und mich für irgend etwas anderes als einen vollkommen Verrückten halten. Nach einer Weile erlaubte ich Pelias und drei anderen, meine Gliedmaßen zu packen und mich zwischen sich in der Luft zu halten. Ich zuckte, schäumte und brabbelte
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weiter, damit sie nicht dachten, der Anfall sei vorüber. Der Priester zwängte mir ein Stück Holz zwischen die Zähne und befestigte es mit einem Lederriemen, während Tethtoril das Lid meines unverletzten Auges zurückzog. »Was ist mit ihm?« fragte die verschleierte Harfnerin. Sie kam näher und schaute mir ins Gesicht, und in ihren düsteren Augen sah ich erneut den Pferdegreif mit ausgebreiteten Schwingen vor der Sonne kreisen. »Er sieht aus wie ein verdurstendes Kamel.« »Dann sollten wir ihn von seinem Leid erlösen«, sagte Gwydion. »Nein!« befahl Ulraunt. »Nicht, bevor ich ihn verhört habe.« »Wie willst du das schaffen?« wollte Gwydion wissen. »Er gehört Cyric.« »Er ist nicht besessen«, sagte der Priester. »Es ist nur ein Anfall, eine Reaktion darauf, daß du den armen Kerl töten wolltest. Er wird sich bald erholt haben.« »Wie bald?« fragte Ulraunt. »Das weiß nur Oghma«, gab der Priester zurück. »Der Anfall klingt bereits ab. Dann wird er schlafen. Wenn er wieder wach ist, kannst du mit ihm reden. Ihm wird der Kopf dröhnen, aber er sollte in der Lage sein, Fragen zu beantworten.« »Kannst du nichts unternehmen?« »Du hast gesehen, was mein letzter Zauber anrichtete«, antwortete der Priester. »Ein weiterer könnte sein Ende sein, besonders, wenn dieser Anfall irgend etwas mit Cyric zu tun hat.« Der Bewahrer schwieg einen Moment lang und fragte
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dann: »Wie stehen seine Chancen?« Ich biß so fest auf das Holz, daß mir das Blut in meinem Mund durch die Nase schoß und sich über meine Wangen ergoß. Im selben Moment befreite ich drei meiner Gliedmaßen mit einem Ruck, fiel zu Boden und lag um mich schlagend meinem Wahn überlassen da. »Nicht gut!« Der Priester versuchte, meinen Fuß zu fassen zu bekommen, was ich mit einem Tritt beantwortete, der seine Lippe blutig hinterließ. »Hilf mir doch jemand! Er verletzt sich noch selbst!« »Wenn er Schlaf braucht, dann kann ich vielleicht helfen.« Die Harfnerin kam herbei, blieb neben meinem Kopf stehen und griff in die Ärmel ihrer Robe. Ich versuchte, mich wegzudrehen, aber Pelias fing meinen Arm wieder ein und drückte ihn nieder, wodurch er mich ausstreckte wie einen Ehebrecher über einem Ameisenhügel. Als die Hexe ihre Hand wieder aus dem Ärmel herauszog, hielt sie zwischen ihren Fingern eine Prise gelben Sandes, und den streute sie mir in mein gesundes Auge. Ich kniff die Lider zusammen und drehte den Kopf weg, aber es war bereits zu spät, die Körner waren gefallen, und sie hatte ihren Zauberspruch aufgesagt, mit einer Stimme so weich und schwül wie eine Nacht in meinem eigenen Bett. Ich fiel in einen Schlaf, tiefer als die tosende See, den kein Gedanke an mein zu erwartendes Schicksal in Kelemvors Reich zu stören vermochte, ebensowenig wie es irgendeine Erinnerung an den Prinzen oder mein Vermögen oder meine Gattin noch irgendein Traum von der heiligen Cyrinishad, wie sie in ihrer eisernen Truhe raschelnd dalag, konnte.
Verfluchte Harfner! Warum konnten sie sich nicht einfach um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?
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Man sagt, jeden Händler erwarte irgendwann einmal sein persönlicher Ruin, und mein Ruin war diese Harfnerin. Sie hieß Ruha. Sie hatte mein Gesicht in einer Vision gesehen, und allein daraufhin hatte sie geschworen, mir den Rest meines Lebens zur Hölle zu machen. Vor dreißig Jahren als Nomadin in der Anauroch geboren, war ihr Leben bisher weder einfach noch sicher gewesen, denn ihr Volk fürchtete sich vor der Magie wie vor all den anderen Dingen, die es nicht verstehen konnte, und von denen gab es eine Menge. Aufgrund ihrer Visionen jagte man sie aus ihrem Stamm fort und überließ sie dem brennenden Sand. Bald konnte sie auch dann noch ohne Wasser auskommen, wenn selbst ein Kamel trinken mußte, und lernte, sich von nahezu allem zu ernähren, seien es nun Schlangen, Dornen oder gar Knochen. Als sie gewahr wurde, in was für eine Kreatur sich das Mädchen verwandelt hatte, geleitete die Göttin der Magie es zu einer entlegenen Oase, in der eine alte Harpyie lebte, die in der seltsamen Kunst der Wüstenmagie bewandert war. Diese Vettel lehrte das Mädchen, Zauber aus Sand, Feuer, Wind und Wasser heraus zu wirken. Bald konnte Ruha mit nichts als dem Staub unter ihren Füßen oder einem Mundvoll Wasser jede Art
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von Magie wirken, und so war sie im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Hexe geworden. Nun trug es sich zu, daß die Zentarim einen Stoßtrupp entsandten, um eine Handelsroute durch die Anauroch zu erschließen. Die Harfner entsandten ihrerseits einen Mittelsmann, der die Wüstenvölker gegen dieses Vorhaben aufbringen sollte. Ruha erspähte diesen Mann, und von diesem Moment an wollte sie ihn besitzen. Sie belegte ihn mit einer Verzauberung, die bewirkte, daß er sie liebte, aber er wollte seine Mission nicht aufgeben und starb in der Schlacht. Ruha stimmte kein Klagelied an, denn es ist nicht die Art der Schakale, über den Tod eines Menschen zu trauern. Doch verspürte sie keine Lust, in ihre Oase zurückzukehren und dort ein Leben in Einsamkeit zu führen, hatte sie doch die Frucht der Liebe gekostet. Also stahl sie die silberne Anstecknadel des Mannes und verließ die Anauroch, um andere seiner Art zu finden. So kam Ruha zu den Harfnern. Was sie während der nächsten paar Jahre durchlebte, spielt keine große Rolle, außer daß sie auf Geheiß ihrer Herren bald hierhin, bald dorthin reiste, was ihr Faerûn näherbrachte und ihr erlaubte, wo sie ging und stand Zwietracht und Zerstörung zu säen. Sie war es, die Prinz Tang dazu brachte, von seinem Handel mit dem Drachenkult zurückzutreten, worauf damals halb Elversult niederbrannte, und sie war es auch, die Herzog Wycliffs Tochter aus der Obhut der Hügelriesen entführte, wodurch sie eine Ehe verhinderte, die zwei Geschlechter und zwei Völker im Blute und in Freundschaft hätte einen können. Als Kunde von der mißlichen Lage, in der sich Ker-
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zenburg befand, nach Tiefwasser gelangte, war Ruha gerade dort, um eine unwichtige Angelegenheit um einige im Trollklauenwald vermißte Kinder zu klären. Als sie von dem Konflikt hörte, begann ihre Sicht zu verschwimmen, und es erschien ihr das Bild eines ausgemergelten Bettlers – ich –, der vor einer riesigen Heerschar aus einem Buch zitierte. Nun war es so, daß Ruha niemals die Bedeutung ihrer Visionen erkennen oder gar erraten konnte, was sie diesbezüglich unternehmen sollte, aber sie gestattete es ihrer Unwissenheit auch nie, sie von blindem Aktionismus abzuhalten. In dieser Hinsicht war sie eine perfekte Harfnerin. Sie überließ die Kinder ihrem Schicksal und bat ihre Herren darum, mit dem Entsatz aus der Stadt gen Süden reisen zu dürfen. So trug es sich zu, daß sie just in dem Moment, da Harun und Jabbar sich anschickten, einander umzubringen, mit den übrigen Pferdegreifenreitern in Kerzenburg eintraf. Ich erzähle das nicht als Ausrede für das, was mich am Hohen Tor überkam; Entschuldigungen ändern niemals etwas. Ich will nur verdeutlichen, was für ein Unhold da über mein Lager wachte, während ich schlief. Ich wachte aus meinem Schlummer auf, und schon stieg mir der Gestank der Verderbtheit in die Nase. Im ersten Moment dachte ich, die Hexe selbst oder aber ihre garstige Magie seien die Quelle, aber bald wurde mir bewußt, daß der Geruch weitaus durchdringender war. Vielleicht stammte er von irgendeiner Heimsuchung, wurde der Mief doch von fremdartigen Lauten begleitet, einem unbeständigen Knarren wie von sich paarenden Insekten. Das Rascheln verursachte eine solche Verwirrung in meinem Schädel, daß ich glaubte, er müsse plat-
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zen, und auch wenn mir dieses Gefühl wohlbekannt war, konnte ich mich nicht entsinnen, jezuvor solch ein furchtbares Geräusch gehört zu haben. Ich wandte den Kopf, und über mir zeichneten sich die schwarzumrandeten Augen der Harfnerhexe ab. Wie immer trug sie ihren Schleier, daher waren die beiden tückischen Tümpel von tiefem Braun alles, was ich von ihrem Gesicht sehen konnte. Mir ging schlagartig auf, daß sie mich die ganze Zeit über beobachtet hatte, während ich schlief. Mein nächster Gedanke drehte sich darum, daß sie ihre Magie angerufen hatte, um in meine Träume einzudringen, und um mein Geheimnis und meinen Auftrag wußte, und obwohl ich noch nie in meinem Leben einer Frau etwas angetan hatte, wußte ich sofort, daß ich sie würde erdrosseln müssen. Aber die Hexe hatte dies vorausgesehen! Meine Hände ließen sich gerade mal zwei Zentimeter weit anheben, ehe eine Lederfessel meine Handgelenke zurückhielt. Ich hob den Kopf und mußte erkennen, daß die Frau drei Lederbänder um meinen Körper gewunden hatte, die mich an Brust, Hüft und Beinen an der Liege festhielten. »Es ist nur zu deinem Besten«, sagte die Hexe. »Wir wollten verhindern, daß du dich selbst verletzt.« »Mich?« Meine Worte kamen gepreßt hervor und waren zweifellos schwer verständlich, war meine Zunge durch den herzhaften Biß, den ich ihr hatte angedeihen lassen, doch ziemlich geschwollen. »Warum sollte ich mich selbst verletzen?« »Sie meint versehentlich, Mukhtar.« Pelias trat aus dem Schatten, das Kettenhemd unter seiner Robe rasselte. »Du hattest einen schlimmen Anfall. Die Fesseln
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waren nur dazu da, daß du nicht um dich schlagen oder von deiner Liege stürzen konntest.« Ich drehte mich weg, als erfülle die Erwähnung des Anfalls mich mit großer Scham, in Wahrheit aber verbarg ich so nur meine Erleichterung. Seine warmen Worte sagten mir, daß die Hexe meine Träume nicht gelesen hatte – oder es ihm nicht verraten hatte, wenn dem doch so war. Ich erkannte, daß ich in der Kammer eines Schreibers lag, sie war vom flackernden Licht einer Öllampe erfüllt und spärlich eingerichtet. Zwei Stühle waren so an den beiden Enden meiner Trage aufgestellt worden, daß sie von ihnen in der Luft gehalten wurde, und auf dem Pult in der Ecke lagen Pelias’ Helm und daneben ein kupferner Wasserkrug. Auch hatte der Raum eine tiefe Fensterbank, doch versperrte mir der schwere Vorhang vor den Fensterflügeln die Sicht nach draußen. Mein Herz raste, denn ich begann zu fürchten, daß der Morgen bereits gekommen und ich zu spät erwacht war, um die Cyrinishad noch zu finden. Pelias hockte sich neben mein Lager und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du mußt dich nicht schämen. Wie geht es dir?« »Gut genug, um die hier nicht mehr zu brauchen.« Ich hob die Arme und zerrte an den Lederbändern um meine Hüfte. Ich stellte fest, daß ich mit etwas Aufwand meine Handgelenke herauswinden und meine Hände befreien könnte. »Ich habe solchen Durst.« Pelias streckte den Arm aus, um meine Fesseln zu lösen. Schneller als eine Eidechse einen Satz macht, ergriff die Hexe seine Hand. »Warte noch etwas, bis wir sicher
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sein können, daß der Anfall vorüber ist. Vielleicht solltest du den Bewahrer suchen gehen. Hat er nicht angeordnet, ihn zu holen, sobald Mukhtar aufwacht?« »Nein, Pelias!« rief ich. Wenn ich auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, die Cyrinishad zu finden, dann mußte ich schnell entkommen – und das war etwas, das sich durch Ruha sicher mehr als schwierig gestalten würde. »Ich beschwöre dich bei deiner Liebe zu Oghma, laß mich nicht allein mit dieser Hexe!« Ruhas Brauen zogen sich zusammen. »Hast du Angst vor mir?« Ich ignorierte sie und schenkte Pelias all meine Aufmerksamkeit. »Sie wird mich töten, so hilflos und gefesselt, wie ich daliege!« Pelias schüttelte den Kopf und ergriff den Arm der Frau. »Das ist Ruha.« Er hielt mir ihre Hand hin. »Sie wird dir nicht wehtun.« Ich wandte mich von den beiden ab. »Mukhtar«, sagte sie, »warum fürchtest du dich? Ich habe dir nichts getan.« Ich drehte den Kopf zurück, so schnell, daß ich mir die Schläfe am Bettgestell stieß. »Warum hast du dann Sand in meine Augen gestreut, und weshalb liege ich hier gegen meinen Willen gefesselt da, mit einem Kopf, der sich so anfühlt, als versuchte ein Adler, daraus zu schlüpfen?« Bei jedem Wort sprudelte Speichel aus meinem Mund, und ich hoffte, sie würden glauben, daß ich mich einem erneuten Anfall näherte. »Sie hat schon einmal versucht, mich umzubringen, Pelias, und wenn du mich hier mit ihr allein zurückläßt, dann wird sie es vollenden!«
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Pelias wischte sich die Spucke aus dem Gesicht und schaute die Hexe an. »Es ist wohl besser, wenn du Ulraunt holst.« Ruhas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sie musterte mich eine Zeitlang, und als sie dann zu sprechen anhob, klang ihre Stimme vor Zorn messerscharf. »Mein Zauber hat ihm keinen Schaden zugefügt. Dieser Hund hat keinen Grund, mich zu fürchten!« Pelias führte sie am Arm einige Schritte fort von mir, aber selbst mit einem verletzten Ohr und diesem Rauschen in meinem Kopf wußte ich, was er ihr zuflüsterte: »Er braucht keinen Grund. Er ist verrückt.« Ich fühlte ihre finsteren Augen auf mir lasten, und mir war klar, daß ich sie mit meiner Scharade nicht so recht zu überzeugen wußte, und doch wußte sie nicht, was ich zu tun beabsichtigte, und das machte sie ebenso nervös, wie meine Worte sie zornig machten. »Wie du willst, Pelias. Dann gehe ich eben Ulraunt holen.« Sie verschwendete keine Energie darauf zu flüstern, sondern sprach so laut, daß ich alles hören konnte. »Aber du darfst seine Fesseln nicht lösen. Dieser Bettler spielt eine weitaus größere Rolle, als wir uns träumen lassen. Es ist besser, ihn für ebenso gefährlich zu erachten wie Cyric.« »Wie du wünschst, Hexenmeisterin.« Pelias durchforstete eine der Taschen seiner Robe. »Du wirst dieses Erkennungszeichen brauchen, um in den Turm des Bewahrers zu gelangen.« »Ich verfüge schon über eins. Mein Quartier befindet sich dort.« Damit verließ die Hexe ohne auch nur die Spur einer
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Andeutung von jener Vision, in der sie mich mit einem Buch gesehen hatte, die Kammer. Es war ihre Art, solche Dinge geheimzuhalten, wußte sie doch aus leidvoller Erfahrung, daß die meisten lieber ihre Visionen für ihre eigenen Probleme verantwortlich machten, als ihr für ihre Warnungen zu danken. Vielleicht war es diese Dummheit, aufgrund derer sie meine geheuchelte Furcht vor ihr so in Rage versetzt hatte. Wer weiß das schon? Ich weiß nur, daß sie die erste Frau war, die sich auf den ersten Blick meinen Unmut zugezogen hat. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, zwang ich mich, die nächsten hundert Herzschläge zu zählen. Ich war begierig darauf, sofort meine Suche zu beginnen, aber noch mußte ich Geduld an den Tag legen, wenn mein Freund nicht Ruhas Warnung beherzigen sollte, und es beruhigte mich auch nicht sonderlich, daß es Pelias war, der mich bewachte, denn meine Flucht würde eine Lawine von Ärger über ihm niedergehen lassen. Ich wäre ihm ein besserer Freund gewesen, wenn ich ihn hätte zum Bewahrer gehen und alle Schuld die Hexe hätte treffen lassen, aber Ruha war mir mehr als ebenbürtig. Wenn ich eine Chance haben wollte, der Marter durch Kelemvor zu entgehen, dann mußte Pelias mir diesen letzten Freundschaftsdienst erweisen. Als ich mit Zählen fertig war, drehte ich den Kopf in Pelias’ Richtung. Er hatte sich auf der Ecke des Pults niedergelassen und beobachtete mich. Der Dolch, den ich ihm gegeben hatte, steckte noch vorn in seinem Schwertgurt. Ich kniff mein Gesicht zusammen, um eine möglichst erbärmliche Erscheinung abzugeben. »Das ist wirklich
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sehr unbequem. Könntest du nicht bitte diese Bänder lösen?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn Ulraunt dich hier entfesselt vorfindet ...« »Was kümmert dich Ulraunt, mein Freund? Er hat doch schon entschieden, daß dein Leben hier äußerst unerquicklich werden soll. Wenn du bei Sinnen wärst, würdest du hier verschwinden und mit mir nach Calimshan gehen.« »Nach Calimshan?« Es lag keine Gefahr in dem, was ich sagte. Auch wenn eine Handvoll Einheiten aus Calimshan während der Belagerung in Erscheinung getreten waren, war ich sicher, daß Pelias meine Worte als Gestammel eines Verrückten abtun würde. Das gestattete es mir, mein Gewissen zu beruhigen, indem ich ihm ein allgemeines Hilfsangebot unterbreitete. »Ich bin ein Freund des Kalifen von Najron«, prahlte ich. »Ich könnte dir ein Haus verschaffen und es mit Frauen ganz nach deinen Wünschen bestücken.« Da mußte Pelias lachen. »Ich bin Mönch. Alles, was ich begehre, ist hier in Kerzenburg.« »Aber nicht mehr lange.« »Ulraunt ist nicht so niederträchtig, wie du glaubst. Er ist weise.« »Vielleicht, aber Weisheit ist nicht gleichbedeutend mit Freundlichkeit.« Pelias’ Antwort kam langsamer als zuvor. »Sei’s drum, was ich nicht hier in Kerzenburg bekomme, will ich auch nirgends anders.« »Es gäbe nichts, was deine Meinung ändern könnte,
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Pelias?« Er lachte, als hätten wir nur gescherzt. »Nichts.« »Nun gut.« Ich seufzte matt. »Würdest du mir dann vielleicht etwas zu trinken geben?« Auf der Pelias abgewandten Seite meiner Lagerstatt drehte ich mein Handgelenk hin und her. »Dieser Gestank macht mich ganz krank.« »Gestank?« Pelias runzelte die Stirn. Er nahm den kupfernen Wasserkrug zur Hand. »Was meinst du?« »Deine Nase rümpft sich nicht?« Jetzt war ich überrascht. »Dann mußt du Kerzenburg sofort verlassen – du bist schon zu lange hier.« Pelias lachte und brachte mir Wasser. »Das einzige, was hier stinkt, ist – na ja, ist ja auch egal, mein Freund.« »Wirklich? Du riechst nichts? Es ist der Gestank des Grabes, von verrottenden Leichen und Schimmel.« Pelias zog eine Grimasse. »Das hätte ich bemerkt.« Ich legte die Stirn in Falten. »Was ist mit den Insekten? Treibt dich ihr Surren nicht auch in den Wahnsinn?« Pelias zog eine Braue hoch. »Insekten? Insekten sind in Kerzenburg nicht erlaubt. Sie sind schlecht für die Bücher. Hier sind überall magische Schutzzeichen, um sie fernzuhalten.« »In der Tat!« Mir stockte der Atem. Dann kam mir in den Sinn, wo ich schon einmal ein ähnliches Summen gehört und ein ähnlicher Gestank meine Nase beleidigt hatte: in der Nacht, in der Gwydion und die Frau mit der Cyrinishad hier angekommen waren. »Keine Insekten?«
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»Sicher nicht genug, um zu summen.« Pelias beugte sich herab, um mir den Krug an die Lippen zu halten. Wäre mein Arm frei gewesen, hätte ich den Dolch aus seinem Gürtel ziehen können. »Bist du nun durstig oder nicht?« Ich hob den Kopf und sah, daß sich die Fesseln genug gedehnt hatten, um meinen Plan in die Tat umzusetzen, mehr als genug. Pelias kippte den Krug, um mir das Wasser einzuflößen, ich aber verschloß meine Kehle und spie es ihm unter Vortäuschung eines furchtbaren Hustenanfalls wieder ins Gesicht. In diesem Moment zerrte ich meine Linke aus der mittleren Schlinge, und konnte so meinen Arm bis zum Ellenbogen hinauf befreien. Pelias hielt meinen Kopf mit einer Hand, um ihn zu stützen, und begann noch einmal zu gießen. »Schlucken!« Das tat ich, und außerdem langte ich über meine Brust hinweg und ergriff Pelias bei der Schulter. Durch seine Robe hindurch bekam ich ein Knäuel von Kettengeflecht zu fassen und riß ihn auf mich herab, und als sein Kopf endlich nahe bei meinem Gesicht lag, packte ich sein Ohr mit den Zähnen und biß wie ein Kamel mit aller Kraft zu. »Mukhtar!« Er versuchte, sich loszureißen. Ich hielt fest. Pelias konnte sich nicht befreien, ohne sich sein eigenes Ohr vom Schädel abzureißen. Ich riß meine rechte Hand los und tastete mich nach oben und an seinem Schwertgurt entlang, bis ich endlich das Heft meines Dolches fand. »Was tust du da, Mukhtar?« Aber Pelias wußte, was ich tat; das war an der Angst
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in seiner Stimme und der Verbissenheit, mit der er sich loszureißen versuchte, klar zu erkennen. Er fetzte sich die halbe Ohrmuschel ab, während er sich von meinen Zähnen zu befreien suchte, und er verbeulte den Kupferkrug auf meinem Schädel. Hätte er doch nur ahnen können, wie sehr dieser Schmerz meine Kräfte verstärkte! Er kämpfte ohne Unterlaß darum, sich zu befreien und mir den Dolch zu entwinden, und mit nur einer Hand und meinem Kiefer war es kein Leichtes, ihn festzuhalten. Meine Klinge schabte über seinem Bauch hin und her, fand in dem Kettenhemd jedoch keine Schwachstelle. Der Vorteil war jedoch auf meiner Seite, kämpfte er doch nur um sein Leben, während ich hingegen kämpfte, um der ewigen Verdammnis zu entgehen. In dem Augenblick, da sein zerfetztes Ohr mein Gesicht mit Blut besudelte, drehte ich den Dolch und trieb die Spitze kreischend durch seine Rüstung. Sie drang tief in seinen Bauch. Ich drückte die Klinge bald in die eine, bald in die andere Richtung, schraubte und drehte sie, wie die Assassinen des Kalifen es taten, um sicherzugehen, daß ihre Opfer zu schwach würden, um Widerstand zu leisten. Pelias heulte auf; ich schob ihn von mir weg, er brach zusammen, und ich blieb in hell leuchtendem Blute gebadet liegen. So vergalt ich dem besten Freund, den ich je gehabt hatte, seine Freundlichkeiten; mit Verrat, Verletzung, Todesqualen. Mein Herz hätte voller Freude sein sollen, denn nichts entzückt den Einen so sehr wie der Verrat an einem Freund, liegt in solch einem Akt doch stets das Gedenken an jenen Tag, da er Kelemvor erschlug. Doch ich fühlte mich leer und schmutzig, ein Aussätziger äu-
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ßerlich wie im Innern. In diesem Augenblick glaubte ich mich selbst vom Glauben abgefallen, und in meiner Verzweiflung vermochte ich es nicht, Cyric seinen Teil zukommen zu lassen. Ich schnitt mich los und trat neben Pelias. Ich zog ihm Robe und Rüstung aus, säuberte seine Wunde mit Wasser und verband sie sodann mit einem Stoffstreifen, den ich vom Saum seiner Robe abgeschnitten hatte. Er litt furchtbare Schmerzen, aber er lebte, und das war wenigstens irgendeine Art von Wiedergutmachung. Ich schob ihm einen Knebel zwischen die Zähne und fesselte ihn sorgfältig, auch wenn ich wußte, daß er ohnehin zu starke Schmerzen litt, um sich zu bewegen. Ich redete beruhigend auf ihn ein und versprach ihm, er würde überleben, bis die Hexe zurückkehrte und ihn rettete. Ob er mich verstand oder nicht, vermag ich nicht zu sagen, denn seine Augen waren geschlossen, und sein beunruhigend flacher Atem ging schnell. In seiner herrlichen Weisheit hatte Cyric sich entschlossen, diese Beleidigung zu übersehen und sah davon ab, mich noch an Ort und Stelle zu erschlagen. Verdient hätte ich es gehabt. Während ich den Einen verspottete, verschwendete ich ganz nebenbei auch noch Zeit. Ich ging zum Fenster und lugte durch die schweren Vorhänge. Zu meiner Erleichterung badete der Mond die Zitadelle immer noch in seinem blassen Glanz und die Sterne strahlten noch hoch am purpurnen Firmament. Ich las die Zeit aus der Konstellation der Himmelskörper ab und rechnete dann erschrocken noch einmal nach. Nur noch etwas mehr als eine Stunde bis zum Tagesanbruch! Gehetzt ließ ich meinen Blick über Kerzenburg gleiten
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und versuchte zu erraten, wo das Buch versteckt war. Direkt unter meinem Fenster lag der Große Wall, der die gesamte Zitadelle umgab. An seine Außenseite schmiegten sich mehr Gebäude, als ich zählen konnte – Stallungen, Tempel, Schlafquartiere, alle bis zum Bersten gefüllt mit Flammenden Fäusten, Höllenreitern und den übrigen Verteidigern der Mönche des diebischen Oghma. In der Mitte der Zitadelle erhob sich ein Gebilde aus dunklem Basalt, über seine vielen mit zahllosen Bäumen übersäten Terrassen wanden sich zahlreiche Pfade hinauf, und Kaskaden von strömendem Wasser ergossen sich von seinen Höhen. Hier erhoben sich großzügig über den Hügel verteilt die sagenumwobenen Türme von Kerzenburg; zu jedem davon führte ein eigener Pfad, und ein jeder war so hoch wie ein Titan. Auf der Spitze des Berges thronte, umgeben von einem Schleier aus Dampf und sämtliche anderen Türme bei weitem überragend, der mächtige Turm des Bewahrers. Sofort wußte ich, wohin ich würde gehen müssen – nicht etwa, weil der Turm des Bewahrers der sicherste Aufbewahrungsort für die Cyrinishad war und ganz sicher auch nicht deshalb, weil Ruha sich nur Momente zuvor dorthin aufgemacht hatte. Ich verspürte, um ehrlich zu sein, nicht den geringsten Drang, dieser Frau irgendwohin zu folgen. Nein, ich mußte dorthin gehen, weil ein leises, bösartiges Summen vom größten Turm her an mein Ohr drang und es mit einem gleichermaßen unnachgiebigen wie sanften Gemurmel erfüllte. Die Cyrinishad rief mich; das Buch war ein lebendes, denkendes Wesen, und es konnte spüren, wie nah ich ihm war. Als ich so schaute, entdeckte ich einen gelben Lichtke-
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gel am Fuße des Turmes des Bewahrers, der über die Zugbrücke hinwegfegte und die verschleierte Gestalt der Hexe enthüllte, die sich gegen das Licht abzeichnete. Sie hielt inne, um sich mit den Wächtern zu unterhalten, und ich erinnerte mich an das Erkennungszeichen, das Pelias ihr angeboten hatte. Auch wenn die Entfernung zu groß war, um ausmachen zu können, ob sie das Emblem vorzeigte, war ich mir sicher, daß ausschließlich die, die solch ein Zeichen mit sich führten, in den Turm des Bewahrers eingelassen wurden. Ich eilte wieder zurück an Pelias’ Seite, begann, seine Robe zu durchstöbern, und förderte eine kleine, bronzene Scheibe zutage. Wieder hatte mein lieber Freund mir einen Dienst erwiesen! Ich streifte mir den Umhang über den Kopf und schnitt das untere Ende ab, um zu vermeiden, daß ich auf den Saum trat. Nun fühlte ich, wie die mit Blut vollgesogene Wolle an meinem Bauch klebte. In einem einzigen Atemzug schwand all meine Hoffnung. Welcher Posten würde mich mit so einem Fleck auf dem Gewand passieren lassen? Selbst wenn Tymora mir wohlgesonnen war und ich irgendwie die Torwache umgehen konnte, würden Ruha und Ulraunt mein Verschwinden bemerken und Alarm schlagen, und selbst wenn ich die Cyrinishad fand, bevor sie mich fassen würden, müßte ich immer noch mit Gwydion fertig werden. Sicher schlief er neben dem Buch, so wie ein Wachhund zu Füßen seines Herren. Sobald ich den Schatz Cyrics auch nur berührte, würde er aufspringen und mich in zwei Teile hacken, und meine arme Seele würde sich auf den Weg in Kelemvors Reich machen!
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Aber ich hatte keine Wahl und würde es wagen müssen. Ich machte mir meine Verzweiflung zum Freund, denn ein Mann ohne Hoffnung kann alles wagen, ohne fürchten zu müssen, er könne etwas verlieren. So zog ich los, mit folgendem unausgegorenen Plan: in aller Eile zum Turm des Bewahrers zu gehen, völlig lautlos durch seine Hallen zu schleichen und mit jedem, der sich mir in den Weg stellte, zu verfahren wie mit Pelias. Wenn es überhaupt möglich war, dann würde ich die Cyrinishad aufstöbern und tun, wie der Fürst des Wahnsinns mir befohlen hatte. Ich verließ das Gebäude durch ein Seitenfenster und umrundete den Burghof zu einem guten Drittel, kriechend und stets darauf bedacht, mich im Schatten der äußeren Mauer zu verbergen. Bald schob ich den Dolch in seine Scheide und machte mich daran, einen der vielen gewundenen Pfade zu beschreiten, die hoch zum Turm des Bewahrers führten. Nun bewegte ich mich mit wilder Entschlossenheit; wenn mich jemand beobachtet hätte, so hätte er nur einen Mönch gesehen, der einen Bergpfad hinauflief. Auf halbem Weg zur Hügelkuppe bog der Weg, den ich gewählt hatte, in Richtung eines der anderen Türme ab und endete dort. Ich verließ den Weg und schlug mich in die Büsche, hier aber wurde der Aufstieg dank des unwegsamen Geländes und der Finsternis unter den niedrighängenden Asten weitaus beschwerlicher. Ein Bächlein plätscherte über den Fels, und in der wechselhaften Finsternis konnte ich weder ausmachen, ob es links oder rechts von mir dahinfloß, noch, warum es schien, als rausche es bergauf statt talwärts dahin. Plötzlich verlor ich das Gleichgewicht, und die Welt begann
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sich in der Dunkelheit zu drehen. Sie kippte zur Seite, so daß nun vorwärts wies, was sich vorher noch nach oben erstreckte, und das, was vorher noch steil war, nun eben schien. Alle Bäume standen völlig schief, ganz so, als hätte ein scharfer Wind ihnen das Leben aus dem Stamm geprügelt, und ich entsann mich der wahnsinnigen Worte, die Cyric am Niederen Tor gesprochen hatte: »Es hängt in der Tat alles von mir ab ... nichts ist sicher, bis ich es betrachtet und an seinen Platz verwiesen habe, ehe ich nicht meinen eigenen Platz darüber, darunter, davor oder dahinter gewählt habe«, und ich begann zu verstehen. Meine Füße wurden mir auf der Stelle leicht, und ich huschte durch die Finsternis, ohne auch nur einmal ins Straucheln zu kommen oder außer Atem zu geraten. Ich erklomm keinen Hügel mehr. Fortan rannte ich über einen Boden, so ebenmäßig wie ein Strand, und mir wurde bewußt, daß die Worte Cyrics dies bewirkt hatten und daß sie mir eine noch weitaus wertvollere Gabe hatten angedeihen lassen: eine Möglichkeit, die Cyrinishad auf eine vollkommen unvorhersagbare Art und Weise in die Finger zu bekommen. Ich wußte nicht, ob er all das geplant hatte, aber es gab mir Kraft. Ich fühlte mich flink wie eine Gazelle und gleichzeitig stark wie der Stier, der mich auf die Hörner genommen hatte. Ich brach zwischen den Bäumen hervor und sah den hoch über mir aufragenden Turm des Bewahrers. Direkt vor meinen Füßen gähnte ein dampfender Burggraben, so heiß, daß Sturzbäche von Schweiß meine Stirn hinabliefen und mir in den Augen brannten. Der Graben stank nach Schwefel und Eisen, und tief drunten hörte ich
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verborgen hinter dem weißen Schleier das Wasser wie tausend Schlangen zischen. Angst erfaßte mich, und der Graben wurde so breit wie ein Fluß. Der Turm ragte vor mir auf wie ein Berg; seine düsteren Fenster lagen tausend Handbreit höher, als ich greifen konnte. Ich bewaffnete mich wieder mit meinem Dolch und fühlte Pelias’ Erkennungszeichen in meiner Tasche – vielleicht wäre es doch am besten, die Zugbrücke zu überqueren und bei der Torwache Einlaß zu erbitten. Im Burghof drunten erklang die ferne Stimme der Hexe. »Alarm! Alarm!« Mein Dilemma löste sich in Rauch auf, denn selbst mit dem Erkennungszeichen würde mich jetzt kein Wächter mehr passieren lassen. Ich schob meinen Dolch zurück an seinen Platz, schloß die Augen und rezitierte noch einmal Cyrics Worte. »Es hängt in der Tat alles von mir ab ...« Ich stellte mir die Welt so vor, wie er sie beschrieben hatte; auf der Seite liegend. Ich dachte mir die Steppe und das Meer als eine einzige Steilwand. Die Felsnadel, auf der ich stand, wurde zu einem langen, gezackten Fortsatz auf der Oberfläche der Klippe – die eher wie eine Nase wirkte. Dann stellte ich mir den Burggraben als Ring aus weißen Wolken vor, die die Spitze dieser Nase umkreisten, und den Turm des Bewahrers sah ich als eine Art Warze auf jener Nasenspitze. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die Welt genauso, wie ich sie mir soeben vorgestellt hatte. Mir wurde schwindelig, und ich ging in die Knie und hielt mich am Boden fest. In meinem Kopf drehte sich alles, denn
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der »Boden« war nun der Steilhang einer Klippe. Um zum Turm zu gelangen, würde ich weit hinaus und auf seine gebogenen Wände hinab springen müssen wie auf eine Brücke, die sich aus einem nebelverhangenen Tal erhob. Dann brauchte ich einfach nur über diese Brücke hinwegzumarschieren! Ich stieß mich von der Klippe ab und ließ mich fallen. Aber ich war nun einmal nicht der Eine. Es hing leider auch nicht alles von mir ab. Tatsächlich schien unabhängig davon, wie es mir erschien, eigentlich alles seiner selbst ziemlich sicher zu sein. Von einer Sekunde auf die andere wurde der Dampf so dicht, daß ich meine eigenen rudernden Arme nicht mehr sehen konnte. Meine Haut juckte und brannte von dem ätzenden Dunst, und das Zischen des Wassers erstickte das Wispern der finsteren Wahrheiten aus der Cyrinishad. Ich war überrascht, mich selbst aufheulen zu hören, insbesondere, weil es nicht der Name Cyrics war, den ich da schrie, sondern der meiner Frau. Dann landete ich platschend am Grund des Grabens. Nun konnte ich nicht mehr schreien. Das Wasser verbrühte mich von Kopf bis Fuß, und es gibt keine Worte, den Schmerz zu beschreiben. Meine Haut färbte sich blutrot und fiel mir in langen Streifen vom Leib. Nässende Blasen entstanden überall auf meinem Körper, der aufquoll und bald schwammig war wie ein fauler Zahn. Meine Lippen sprangen auf und begannen zu bluten, meine Lider schwollen an und zerplatzten, und sicher wäre es mein Ende gewesen, hätte mich nicht immer noch jene Kraft durchflössen, die mir Cyric mit seinem ekligen Gesöff in die Kehle geschüttet hatte.
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Im nächsten Moment fand ich mich in die finstere Mauer gekrallt wieder, ohne jede Erinnerung, wie ich dorthin gekommen war. Ich versuchte zu zwinkern und merkte, daß meine Lider derartig festgeschweißt waren, daß ich sie nicht zu schließen vermochte, auch wenn meine rechte Gesichtshälfte von Cyrics Schlag nach wie vor so geschwollen war, daß ich durch jenes Auge immer noch nichts sehen konnte. Meine Arme waren puterrot und mit Blasen und blutigen Flecken übersät. Meine Hände waren aufgedunsen und bestanden aus rohem Fleisch, von dem noch einige Hautfetzen hingen. Meine Finger waren zwischen zwei Basaltblöcke gekeilt, und meine Füße kratzten panisch an der schwarzen Wand unter mir. Ich beugte die Knie, und meine Zehen fanden eine Fuge. Erst jetzt sah ich nach oben und erkannte die hohe Mauer, die sich über mir bis in den Himmel erstreckte. Der Turm des Bewahrers. Wäre ich imstande gewesen zu sprechen, meine Worte könnten hier nicht niedergeschrieben werden. Mein Pech hatte sich nun endlich vollends über mir ergossen und mich geteert. Tief unter mir verschwand die Mauer in dem fauchenden Graben. Von oben herab kam das unablässige Flüstern der Cyrinishad in meinen Kopf gekrochen, den es ganz und gar erfüllte und aus dem es sämtliche anderen Geräusche auslöschte. Es gab nur einen Weg. Ich klemmte meinen Dolch zwischen die Zähne und krallte die Finger in die nächsthöhere Fuge. Indem ich ein zitterndes Glied nach dem anderen bewegte, begann ich zu klettern, wobei ich mein Gewicht keinem Griff
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anvertraute, bevor ich mir seiner nicht absolut sicher war. Wann immer ich eine Fuge erreichte, die für meine Finger zu eng war, benutzte ich mein Messer, um den Mörtel abzukratzen, und setzte meinen Aufstieg fort. So ging es weiter, getrieben von Schmerz, Entsetzen und einem Wahnsinn, der dem meines Gottes sicherlich nahekam. Ein Getöse erklang im fernen Burghof, als die Mönche und Krieger Ruhas Alarmruf beantworteten. Aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, wagte ich nicht hinunterzusehen, und da die Schatten auf meiner Seite des Turmes in der Tat pechschwarz waren, fürchtete ich auch nicht, daß irgendein Bogenschütze mich einfach so von hier oben herunterschießen könnte. Als ich eine Höhe erklommen hatte, die der doppelten Größe eines Feuerriesen entsprach, stieß ich mit den Fingern gegen die Unterseite eines Fenstersimses, jubelnd ergriff ich das Fenster und zog meine Brust über den unteren Rand. Mein Kopf verwickelte sich in einem schweren wollenen Vorhang, aber das bemerkte ich kaum. Sekunden verstrichen, in denen ich nichts tun konnte, als einfach in der Dunkelheit dazuliegen und mein Herz gegen das Gesims schlagen zu fühlen. Von der anderen Seite des Turmes drangen gedämpfte Stimmen an mein Ohr. Ein tapferes Grüppchen eilte sich, nach oben zu gelangen, um die Trägerin der Cyrinishad vor meiner mordlüsternen Klinge zu retten. Aber was machte das für einen Unterschied? Gwydion würde mich in dem Augenblick erschlagen, da ich mich dem heiligen Buch auch nur näherte, und ich war mir meiner eigenen Fähigkeiten gut genug bewußt, um zu wissen, daß er
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dabei keiner Hilfe bedurfte. Hätte es irgendwo ein sicheres Versteck gegeben, hätte ich mich dort verkrochen und den Befehl meines wahnsinnigen Herrn einfach vergessen. Aber Verstecken war zwecklos. Meine Feinde donnerten bereits über die Zugbrücke und würden jeden Stein in der gesamten Zitadelle umdrehen, bis sie mich gefunden hätten. Außerdem hatte ich es hierher ins Herz von Kerzenburg geschafft, nur mit meiner Schläue und Cyrics Elixier. Nur ein Idiot hätte jetzt aufgegeben! Ich riß mir das Tuch vom Kopf und warf einen Blick in das Zimmer dahinter. Im Innern war es schwarz wie die Nacht. Ich lauschte mit meinem gesunden Ohr in die Düsternis und versuchte zu hören, ob jemand darin schlief. Statt dessen hörte ich von hoch oben das Buch rufen. Das Summen seiner finsteren Wahrheiten wurde immer lauter und erfüllte meinen Kopf mit dem Dröhnen tausend hungriger Heuschrecken. Der Gestank seines grauenvollen Pergaments durchdrang meine Lunge; dann erfaßte mich ein seltsames Fieber. Nichts zählte mehr, nur das Buch. Sofort zog ich mich vom Fenster zurück und setzte meine Klettertour fort. Ein weniger der Wahrheit verpflichteter Chronist würde behaupten, er habe diesen verzweifelten Weg eingeschlagen, weil er wußte, daß ihm an der Mauer niemand entgegenkommen konnte, während die Treppen voller Wächter waren. Ich hatte mir nichts dergleichen gedacht. Ich kletterte einfach, wobei mich meine Besessenheit nach oben lockte, und mit jedem Mal, da ich
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mich ein Stückchen höherzog, wurde die Berührung der Cyrinishad spürbarer. Mein Aufstieg wurde bald hastiger und gewagter. Zweimal rutschte ich ab und konnte mich nur noch mit einer Hand halten, dann hing ich nur noch an meinen Fingern, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Aber beide Male zog ich mich wieder hoch und setzte meinen Aufstieg noch um einiges schneller fort, fest entschlossen, Gwydions Kammer zu erreichen, bevor die Wächter dort anlangten und ihn wecken konnten. Ich erreichte zwei weitere Fenster. Da ich spürte, daß die Cyrinishad noch weiter oben lag, kletterte ich noch weiter bis zu einem dritten. Hier war der Gestank des Buches ohnegleichen. Ich griff nach dem Vorhang, und urplötzlich wuchs sich das Rauschen in meinen Ohren zu einer Lautstärke aus, die wohl herrschen mußte, wenn alle vertrockneten Kehlen in der Stadt der Toten gleichzeitig um Wasser bettelten. So vorsichtig zog ich den Stoff beiseite, daß mein Herz ein Dutzend Mal geschlagen hatte, bis ich schließlich freie Sicht hatte. Ich der Kammer stand flackernd eine Kerze auf einem Tisch. Im Kerzenlicht erkannte ich, daß ich eine kleine Wohnstube erreicht hatte. Ein Stuhl stand an einem Tisch, und es gab ein Regal, das randvoll mit Büchern und leerem Pergament war. Rechts führte ein schmaler Durchgang in eine weitere Kammer, vermutlich ein Schlafgemach. Jenseits dieses Durchgangs befand sich, immer noch in ihrer eisernen Truhe eingesperrt, die Cyrinishad. Das Tönen der Cyrinishad wurde zu einem bloßen Flüstern, und auf der anderen Seite des Zimmers ver-
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nahm ich ein leises Klirren. Gwydion stand vor der Kammertür, den Blick fest auf den Riegel geheftet! Mag sein, daß das Alarmsignal an sein Ohr gedrungen war und er sich nicht ganz sicher war, was er gehört hatte. Aber er trug bereits seine vollständige Rüstung inklusive Helm und Beinschienen, und in seiner Haltung konnte ich nicht das geringste Zeichen von Müdigkeit erkennen. Das gab mir wirklich zu denken – schlief dieser Mann denn nie? Die Antwort war selbstverständlich, daß er das wirklich nie tat. Damals wußte ich das noch nicht – sonst hätte ich das Zimmer auch nie und nimmer betreten –, doch Gwydion der Schnelle war ins Leben zurückgerufen worden, um auf Rinda und die Cyrinishad aufzupassen. Um den Erfolg seiner Mission zu gewährleisten, hatte Kelemvor ihn damit gesegnet, weder Schlaf noch einige andere Dinge, ohne die gewöhnliche Menschen nicht leben können, zu benötigen. Ich ließ meinen Fuß auf den Boden gleiten und durchquerte den Raum lautlos wie ein Dieb – zumindest hoffte ich das. Gwydion hörte nichts und griff nach unten, um den Riegel an der Tür zu öffnen. Ich hob meinen Dolch zu einem gezielten Stich, und bis zum letzten Moment bemerkte er mich nicht, dann erspähte er den ungewöhnlichen Schatten, den das flackernde Kerzenlicht warf. In einem Versuch, sich zu verteidigen, riß er einen Arm hoch, seine andere Hand schnellte zum Heft seines Schwertes. Ich sprang auf seinen Rücken und griff, die Beine um seine Hüfte geschlungen, nach seinem Kinn, um es von hinten hochzuziehen, wollte ich doch Zugang zu seinem Hals bekommen. Meine Klinge glitt unter seinem erhobenen Arm durch, fand seine Kehle und
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schlitzte diese quer unterhalb des Kinns auf. Ich trieb sie tief ins Fleisch und zerschnitt dabei die zahlreichen Arterien und Venen in seinem Hals, öffnete jene Röhre, durch die die Luft zur Lunge strömt und zertrennte all die starken Muskeln, die den Kopf an Ort und Stelle halten. Ein lautes Röcheln entfuhr Gwydions Kehle, dann verließen ihn seine Kräfte, und er stürzte rückwärts taumelnd zu Boden. Obwohl seine Rüstung schepperte, dämpfte mein Körper seinen Fall größtenteils, und dadurch war der Lärm weitaus weniger schlimm, als er hätte sein können. Aus der anderen Kammer drang eine schläfrige Frauenstimme, die noch halb im Schlummer lag. »Gwydion?« Die Frau! Ich hätte mehr Anstand erwartet, aber die Schlampe teilte allen Ernstes die Kammer mit dem Krieger. »Bitte tausendmal um Entschuldigung.« Ich ließ meine Stimme so tief wie ein Brunnen tönen. »Ich bin ein Ochse.« »Mmmmf.« Ich blieb eine Zeitlang ruhig liegen und lauschte. Durch die Tür drangen fernes Stimmengewirr und das Stampfen von Stiefeln, die die Stufen erklommen, aber im Zimmer der Frau blieb es still. Ich kroch unter dem Wächter hervor, ließ den Dolch in meiner Tasche verschwinden und legte den Riegel der Kammertür vor. Wenn es mir entgangen war, daß aus Gwydions Wunde kein Blut gespritzt war, dann war das wohl nur meinem Stolz anzulasten. Ich hatte die Cyrinishad gefunden und
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würde mich vor den Augen meines Gottes reinwaschen können! Ich ging hinüber zu der eisernen Truhe und legte die Hand auf den Deckel. Sofort überkam mich eine Vision. In der Kiste sah ich einen in rabenschwarzes Leder gebundenen Wälzer, in den grinsende Schädel und finstere Strahlenkränze geprägt waren. In der Mitte des Buchdeckels prangte ein Kopf von der Größe einer Kinderfaust, um dessen lippenlosen Mund eine kräftige Silberkette lag. Der Kiefer begann zu nagen. Eine lange schwarze Zunge schnellte zwischen den spitzen Zähnen hervor, aber es erklang kein Laut. Das Buch sprach in einer Weise, die nur ich verstehen konnte: durch das Rascheln seiner Seiten, die es hin- und herblätterte, um mich herbeizuwinken und dabei jenen grauenvollen Verwesungsgestank zu verströmen. Die Erscheinung war fast schon mehr, als ich ertragen konnte. Meine Knie begannen zu zittern, mein Hals schnürte sich zusammen, bis ich kaum noch atmen konnte, und eine furchtbare Hysterie stieg in mir hoch. Meine Hände wurden taub wie Stein; Tränen flossen mir wie Regentropfen aus den Augen, und wie ein Lamm vor dem Löwen fühlte ich einen unbändigen Trieb, mich zu verkriechen. Dann zischte eine geheiligte Finsternis aus der Truhe und stieg hoch, um mich vollends einzuhüllen. Die Flamme der Erkenntnis blendete mich, der Grabgesang der Verzweiflung erklang in meinen Ohren, und meine Zunge zuckte in der vollkommenen Qual der Erleuchtung. Eisiges Fieber raste durch meinen Körper, mich traf die volle Gewalt der finsteren Wahrheit, und das ist
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mehr, als ein einfacher Sterblicher zu ertragen imstande ist. Kälte fuhr mir bis ins Mark, und mein Magen füllte sich mit eisiger Übelkeit. Gräßliche Abscheu ergriff mich, als hätte ich in die noch zuckenden Eingeweide eines Menschen gefaßt, und da fühlte ich mich plötzlich so krank und leer, daß ich fast das Bewußtsein verloren hätte. Dies war wohl kaum die Verzückung, die ich mir erhofft hatte, aber was machte das schon? Mein Gott hatte mir befohlen, die Cyrinishad zu finden, und genau das hatte ich getan. Jetzt mußte ich sie nur noch abliefern. Ich sah aus dem Fenster und mußte erkennen, daß der Himmel bereits in jenes Grau der Dämmerung gehüllt war, das einem jeden Morgen vorausgeht. Cyrics Prozeß war nur noch wenige Minuten entfernt, mich aber würde es nur einen Augenblick kosten, die Eisenkiste aufzuheben und mich durch das Fenster zu werfen, und noch weniger Zeit würde ich brauchen, um den Namen des Einen zu rufen. Ich schlang die Arme um die Kiste, deren Umfang wohl an den eines Pferdeleibs heranreichte, und zerrte mit aller Macht daran. Ein Krachen ertönte zwischen meinen Schulterblättern. Ich dachte, jemand hätte mir einen Schwertknauf in den Rücken geschmettert, und drehte mich augenblicklich um, was die Schmerzen noch mehrte. Ich fiel rücklings auf die Truhe und biß mir auf die Zunge, um nicht aufzuschreien. Dann merkte ich, daß niemand hinter mir stand, und mir wurde klar, daß ich mir diese Verletzung selbst beigebracht hatte. Ein gewaltiger Knoten aus Schmerz zog sich in der Mitte meines Rückens zusam-
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men, breitete sich alsbald um meinen Brustkorb herum auf der Breite eines Waffengurtes aus und ließ jeden Atemzug in Höllenqualen enden. Die Wachen auf der Treppe klangen mit jedem Augenblick näher, und irgendwo zwischen ihnen begann die Hexe, Befehle zu brüllen. Da ich erkannte, daß ich die Truhe nie würde anheben können, dämmerte mir, daß ich sie statt dessen würde öffnen müssen. Ich biß mir vor Schmerz auf die Zunge und ging hinüber zu Gwydion, um seine Taschen nach einem Schlüssel zu durchsuchen. Aber alles, was ich fand, waren ein paar Münzen. Obschon ich sie einst ebensosehr geliebt hatte wie mein Weib, bedeuteten sie mir jetzt so wenig, daß ich das Kupfer und Silber wegwarf und nur das Gold behielt. Dann nahm ich die Kerze, zog den Dolch aus meinem Gewande und schlich mich ins Nachbarzimmer. Die Kammer der Frau glich der ersten wie ein Ei dem anderen, nur daß es hier keine Tür auf den Gang nach draußen gab. Der Tisch war unters Fenster gerückt worden. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch mit festem Ledereinband, außerdem noch eine saubere Feder und ein Tintenfaß. Einen Schlüssel sah ich nicht. Die Frau schlief auf einer Pritsche in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers und bewegte sich unruhig unter ihren Laken. Ihre Kleider hingen an einem Haken in der Wand. Ich stellte die Kerze auf den Tisch und ging leise dorthin, um ihre Gewänder zu durchforsten. Bei meiner Ehre vor dem Einen und Einzigen schwöre ich, daß ich dies nur tat, um Zeit zu sparen, und nicht etwa, weil ich nicht willens gewesen wäre, sie zu meucheln.
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Wenn meine Hände beim Durchstöbern bebten, dann auch nur, weil Ruhas gedämpfte Stimme von unten aus dem Turm heraufhallte und nach Gwydion rief. Als ich keinen Schlüssel fand, wandte ich mich der Frau zu. Ein langes, nacktes Bein war unter der Decke hervorgeglitten. Eine silberne Kette lag um ihren Hals und verschwand dann in jener schattigen Kluft unter dem Saum ihrer Decke. Ich kroch an den Rand des Bettes und kniete mich neben ihr hin. Ihr dunkles, seidiges Haar lag mit verführerischer Lässigkeit um ihr Haupt ausgebreitet. Jetzt lächelte sie – vielleicht hatte sie in ihrem Traum meine Gegenwart gespürt und mich für Gwydion gehalten. Es schien mir klüger, sie leben zu lassen, immerhin war es möglich, daß es an der Kiste irgendwelche Fallen gab, vor denen sie mich warnen konnte. Plötzlich dröhnte eine Männerstimme durch die Stubentür und befahl Gwydion, den Riegel aufzuziehen. Die Frau legte die Stirn in Falten, und ich entdeckte das ganze Ausmaß meiner Dummheit. Eine Dienerin des diebischen Oghma würde mir niemals helfen, die Cyrinishad zu bergen. Ich drückte die Dolchspitze ans Brustbein der Schriftgelehrten, als die Stimme der Hexe durchs Zimmer hallte. »Öffne, Rinda!« Rindas grüne Augen sprangen direkt vor mir auf. Selbst bei Kerzenlicht mußte ich mit meinem verbrühten Gesicht, dem geschwollenen Auge und den rissigen Lippen wie ein Unhold aus dem Abgrund wirken. Ich preßte meine zerkratzte Handfläche auf ihren Mund, aber sie hatte schon von irgendwoher ein Messer gezogen und
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hieb damit nach meiner Kehle. »Gwydion!« schrie sie. Alles, was von jetzt ab passierte, spielte sich in solcher Windeseile ab, daß ich mich weder in aller Klarheit an alles erinnern, noch es mit Bestimmtheit wiedergeben kann. Ich warf mich nach hinten. Rindas Klinge schlitzte mir die Wange auf, heißes Blut spritzte über meine ganze Brust, und mein Gesicht wurde vollkommen gefühllos. Dann sprang das zänkische Weib nackt wie ein Tier von seinem Lager auf und warf sich auf mich. Da mein Dolch zwischen uns aufragte, rammte sie ihn sich bis zum Heft in die Brust. Sie stieß einen lauten Schrei aus und hieb noch einmal nach mir, wobei sie ihr Ziel nur knapp verfehlte. Ich sah, daß sie an der Kette um ihren Hals keinen Schlüssel trug, sondern nur das Amulett des Oghma, und so nahm ich an, daß die Eisentruhe wohl vermutlich überhaupt keinen Schlüssel besaß, da ihre Wächter gar nicht wünschten, daß sie je wieder geöffnet würde. Ein vernehmliches Klirren kam aus dem Nachbarzimmer. Das erzeugte bei mir dann doch einige Verwunderung, war ich mir doch sicher, daß ich nicht gehört hatte, wie die Tür aufgebrochen worden war. Ich schleuderte die Tote von mir und krabbelte in Richtung Durchgang, um mir anzusehen, was für eine Art von Magie Ruha da gewirkt hatte. Im Durchgang traf ich auf Gwydion. Nirgends an ihm war Blut zu sehen, was ihn nur noch furchteinflößender aussehen ließ. Sein Kopf hing lose hinter seinen Schultern herab und schnappte bei jedem seiner Versuche, ihn
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nach vorn zu schwingen, um mich sehen und angreifen zu können, auf und nieder. Er hatte Waffen gewählt, die für beengte Räumlichkeiten geeignet waren. In einer Hand hielt er einen Dolch, in der anderen eine Axt. Scheinbar hatte er vor, mir höchstpersönlich die Glieder abzuhacken, denn die Wachen hämmerten jetzt gegen die Tür, und er machte keinerlei Anstalten, sie zu entriegeln. Ich werde hier nicht darlegen, was mein Körper in diesem Moment tat, weder würde sich das ziemen, noch wäre es wichtig. Ich stolperte zurück in Rindas Kammer, bis ich gegen die Tischkante stieß. Gwydion folgte mir seitwärts, so daß sein Kopf herumschwang und in meine Richtung schielte. Im nächsten Moment hieb seine Axt in weitem Bogen nach meinem Kopf. Ich ließ mich auf das Buch fallen, das hier auf dem Tisch lag, Feder und Tintenfaß fielen dabei zu Boden. Die Axt meines Gegners traf die Wand hinter meinem Kopf und schien meinen Untergang einläuten zu wollen. Ich rollte mich in die einzige verbliebene Richtung, in die Fensternische, griff nach Rindas Buch und hielt es mir vor das Gesicht wie einen Schild. Gwydions Dolch traf den Folianten mit solcher Kraft, daß es mich durchs Fenster katapultierte, und ich befand mich auf dem Weg nach unten in Richtung des dampfenden Burggrabens. Immer noch hielt ich Rindas ledergebundenes Buch in den geballten Fäusten. Was hätte ich wohl anderes sagen können als: »O Cyric, du Einer und Einziger!«
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Insoweit gleichen die Götter den Sterblichen: Stets treffen die als erstes ein, denen die Sache, um die es geht, besonders am Herzen liegt. Schon lange vor dem Beginn der Verhandlung manifestierte sich Mystra im Pavillon von Cynosure und verbarg sich in einer dunklen Ecke. Hier lauerte sie eine Zeitlang lautlos wie ein Dieb unter Kamelen. Die Kammer sah für sie aus wie immer, wie das mit Kupfertiegeln und Glasgefäßen vollgepfropfte Laboratorium eines Alchemisten, aber heute lag es düster und verlassen da. Sie musterte jeden Winkel, jeden Schatten, und erst als sie sicher war, daß keiner der anderen Götter hier lauerte, trat sie aus ihrem Versteck hervor, um ihren heimtückischen Plan in die Tat umzusetzen. Die Metze handelte schnell, sie klingelte zunächst mit einem winzigen Glöckchen, um zu bewirken, daß sich Cyrics Stimme falsch anhörte, wenn er aus der Cyrinishad vorlas. Dann wischte sie alle Tische in der Kammer mit einem lebendigen Schwamm, auf daß den Worten die Kraft entzogen würde, wenn sie alsbald die Luft erfüllten. Als nächstes rief sie eine Schlange durch den Boden herbei und riß ihr die gespaltene Zunge heraus; dies tat sie zum Schutz vor fein gedrechselten Worten
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voller Überredungskunst, Halbwahrheiten und Heilsversprechungen, kurzum: Lügen jeder Art. Als Mystra mit der Schlange fertig war, suchte sie ihren Verrat zu verbergen, indem sie einen weißen Schleier auf den Boden fallen ließ. Der Stoff hatte kaum die Steine berührt, als schon die anderen Götter nach und nach erschienen, Tempus in seiner Rüstung, Shar zusammengekauert hinter ihren Schatten, Talos umrahmt von einem Heiligenschein blendender Blitze. »Kel ist noch nicht da?« fragte Talos. In der Stimme des Zerstörers knisterte die Aufregung, war seinem Wesen doch nichts zuträglicher als die Auslöschung eines Gottes. »Er wird doch nicht seine Meinung geändert haben?« »Natürlich nicht!« sagte Sune, die in einem Wirbel roten Haars und blitzender Zähne erschien. »Kelemvor hat ein treues Herz.« Sie warf einen Blick in Mystras Richtung und fügte hinzu: »Ein bißchen sehr treu. Manchmal.« Um Sunes Eifersucht abzuwenden, reagierte Tempus geschwind, indem er vor ihr auf die Knie ging. »Wenn heute irgendwo auf Faerûn eine Schlacht geschlagen wird, so soll es nur aus Liebe sein!« erklärte er. Die Göttin der Liebe war so nervös wie ein Halbling in der Wüste, und man konnte nur sicherstellen, daß sie ihre Versprechen hielt, indem man ihr ständig seine Zuneigung offenbarte. »Ich werde von deinem Glanz erschlagen.« »Ich verzehre mich vor wildem Begehren!« fügte Talos hinzu. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, steckte er ein Diadem aus knisternden Blitzen in Sunes Haar und
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begann, lüstern um sie herumzutanzen. Die Göttin errötete und kicherte von Zeit zu Zeit, wandte sich aber nicht von ihm ab. Chauntea und Lathander trafen gemeinsam in einem Strahl goldenen Morgenlichts ein, und der alte Silvanus schritt hinter ihnen auf dem Strahl herab. Tyr kam als nächstes, wie immer ohne seine rechte Hand und seine Augen. Er nahm seinen Platz im Rund ein und runzelte die Stirn ob der vielen freien Plätze. »Der Prozeß sollte zum Sonnenaufgang über Kerzenburg beginnen.« Da erschien Kelemvor an Mystras Seite. Er war blaß vor Angst, und er hatte sein Schwert gegürtet. »Ich bitte, meine Verspätung zu entschuldigen. Aber meine Aufmerksamkeit war in der Stadt der Toten unabdingbar. Gwydion ist zurück.« Keuchen und Gemurmel erfüllten den Pavillon. Jeder der Götter wußte, wer Gwydion war und was er zu bewachen hatte, und nun waren sie alle gespannt wie die Sehne eines Bogens, wie Cyric das Buch gegen sie einsetzen konnte. »Was ist mit der Cyrinishad?« wollte Tempus wissen. Kels Blick wurde leer, dann schüttelte er den Kopf und zuckte die Achseln. »Ich kann mich nicht erinnern.« Das überraschte keinen der Götter, wußte doch ein jeder von ihnen um die Macht von Oghmas Zauber. Alle Augen ruhten auf dem Gerechten Gott, und neun Stimmen verlangten unisono, er möge die Cyrinishad vom Prozeß ausschließen. Die lauteste dieser Stimmen gehörte Mystra, war sie doch geübt in der Kunst der Irreführung und wußte daher, daß Tyr ihre Heimtücke erkennen
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würde, wenn es so schien, als machte sie sich keine Gedanken. Der Unvoreingenommene erhob den Stumpf, der eigentlich eine Hand sein sollte, um Ruhe zu gebieten. »Wir wagten es, über einen unserer Mitgötter zu Gericht zu sitzen. Falls der Richtspruch gegen ihn ergeht, dann liegt es in unserer Macht, ihn auszulöschen – eine Strafe, die zu verhängen viele nur allzu bereit wären.« Hier hielt er inne, um seine leeren Augenhöhlen auf Kel zu richten. »Es ist nur gerecht, Cyric sich verteidigen zu lassen, wie er es für angeraten hält. Wenn seine Worte uns versklaven, dann ist das nichts im Vergleich zu dem Schicksal, das ihr ihm zugedacht habt.« Jetzt erbebte der Pavillon in einem Wutausbruch. Oghma manifestierte sich neben Mystra, und seine Augen waren angsterfüllt. »Verzeiht. All meine Aufmerksamkeit war auf die Fugenebene gerichtet. Ich höre Rinda rufen, doch das Amulett, das sie trägt, hindert mich daran, ihren Geist zu finden.« »Wen kümmert Rindas Geist?« donnerte Talos, der Zerstörer. Seine Angst zischte in knisternden, weißen Blitzen durch den Pavillon. »Cyric hat sein Buch!« Der Pavillon verstummte. Kelemvor griff nach seinem Schwert. Mystra fiel im in den Arm. »Was tust du da?« »Ich werde mir dieses Lügenbuch nicht anhören!« sagte Kelemvor so laut, daß alle es hören konnten. »Ehe ich Cyric diene, verfaule ich im Abyss!« Tyr zog einen weißglühenden Hammer aus der Luft, und richtete seinen augenlosen Blick fest auf Kelemvor. Bevor der Gerechte den Gott des Todes vor einem
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Angriff auf Cyric warnen konnte, fragte Mystra, ohne Kelemvors Arm loszulassen: »Was läßt dich glauben, daß wir nur noch die Wahl zwischen der Sklaverei und dem Verfaulen haben?« »Tyr hat entschieden ...« »Du wirst Tyrs Meinung nicht mit dem Schwert in der Hand ändern können, und er ist der Richter. Du kannst dich ihm nicht widersetzen.« Mystra löste Kelemvors Hand vom Heft seines Schwerts. »Ao würde das nie erlauben. Vertrau mir.« Kels Blick verfinsterte sich. Mystra hielt seinem Blick stand und wandte ihre Augen nicht ab. Schließlich erstrahlten seine Augen in heimlichem Verstehen. »Wie du willst. Vielleicht bin ich zu voreilig.« »Gut.« Mystra schaute Tyr an und fügte hinzu: »Ganz gleich, wie sehr wir alle Cyric hassen, wir müssen zu den Entscheidungen des Gerechten stehen.« Tyr nickte, denn er war ein Blödmann, und Blödmänner lassen sich leicht von den Schmeicheleien einer Frau täuschen. Er öffnete die Hand und ließ den glühenden Hammer wieder verschwinden. Oghma ließ sich nicht so leicht täuschen. Er runzelte die Stirn und sprach: »Ich gehe fest davon aus, daß du auch meinst, was du sagst, Mutter aller Magie. Vergiß nie, daß Ao allwissend ist.« »Ao ist nicht allwissend. Sonst hätte er schon viel früher etwas gegen Cyric unternommen.« Mystra wandte sich wieder Tyr zu und sagte: »Da wir deinem Ratschluß folgen müssen, Gerechter, bitte ich darum, daß du Cyric mit demselben Maß mißt. Irre ich mich, oder sollte die Verhandlung eröffnet werden, sobald über Kerzenburg
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der Tag graut?« »So ist es«, gab der Unvoreingenommene zurück. »Die Anklage lautet auf Unschuld, die auf Wahnsinn zurückzuführen ist. Ihm wird zur Last gelegt, seine göttliche Pflicht, Leid und Zwietracht auch außerhalb seiner Kirche zu säen, vernachlässigt zu haben. Möchte jemand, da der Wahnsinnige nicht anwesend ist, an seiner Statt etwas gegen die Anklage vorbringen?« Keinen der Anwesenden überraschte es sonderlich, daß die Stille, die nun eintrat, so allumfassend war wie der Abyss selbst. Tyrs augenloser Blick glitt von einem Gott zum anderen und verharrte bei jedem gerade lange genug, um der Form genüge zu tun. Das war genau der Moment, da Gwydion mich im Turm des Bewahrers angriff. Sein Stoß warf mich aus dem Fenster, während ich noch den Wälzer umklammert hielt, mit dem ich seinen Dolch abgewehrt hatte. »O Cyric, du Einer und Einziger!« rief ich. Dann schlug ich auf etwas auf, das sich wie ein Holzstapel anfühlte. Die Luft wurde mir aus der Lunge gepreßt, als das Buch auf meine Brust klatschte und ein skelettierter Schädel den langsam heller werdenden Himmel über mir verdunkelte. »Du kommst spät«, verkündete der Eine krächzend. Gegen mich war er ein Riese, und ich lag in seiner Knochenhand, deren Finger die Länge von Kamelhälsen hatten und neben mir umhertanzten. Er hatte Augen von der Größe eines Wagenrades, und eine zerklüftete Höhle bildete seine Nase. Seine Zähne wirkten wie zwei Reihen von Turmschilden aus Elfenbein. Einer seiner Finger krümmte sich und tippte auf den Folianten auf meiner
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Brust. »Verbirg es unter deiner Robe.« Zunächst verstand ich nicht. Es erschien mir idiotisch anzunehmen, der Eine und Einzige könnte dieses profane Buch in meinen Armen für die heilige Cyrinishad halten, aber Cyric schloß die knochigen Finger um meinen Leib und begann zu drücken. »Gehorche!« »Aber Mächtiger, das ist ...« »Tu es!« Finsternis quoll aus seinen Augen und ergoß sich über mir wie ein Fluß, und ich wurde von einem Meer eisiger Schatten hinfortgespült. »Die Verhandlung hat begonnen.« Wie lange ich so dahintrieb, kann ich nicht sagen. Es erschien mir als Augenblick und als Ewigkeit zugleich. Ich hatte gerade eben Zeit, das Buch unter meine Robe zu stopfen, während mir gleichzeitig tausenderlei Gedanken durch den Kopf gingen. Ich erinnerte mich, daß während Rinda die diamantene Schriftrolle Oghmas um den Hals getragen hatte, weder Cyric noch irgendeiner der anderen Götter den genauen Aufenthaltsort der Cyrinishad bestimmen konnte. Ich erkannte, daß, selbst wenn das Buch, das ich bei mir trug, der heilige Foliant gewesen wäre, der Eine das nicht wissen konnte, und er war sich darüber ganz sicher auch im klaren. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, welchem Irrtum unser Dunkler Gebieter erlegen war: Er glaubte, Oghmas Verzauberung habe die Cyrinishad als dieses Buch getarnt, daß sich in meinen Händen befand. Nach unbestimmter Zeit verschwand das Meer der eisigen Schatten, und wir betraten den Pavillon von Cynosure. Ich sah ein Dutzend verschiedener Orte gleichzeitig,
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einen Wald, eine Höhle, einen goldenen Himmel, ein Schlachtfeld und noch acht weitere, und sie alle überlagerten einander. Jede Szenerie erschien mir ebenso fest und wirklich wie Faerûn selbst und war erfüllt von zwölf formlosen, strahlend hellen Erscheinungen. Aus Angst, mein Augenlicht ganz einzubüßen, bedeckte ich sofort mein gesundes Auge – immerhin war das andere immer noch zugeschwollen –, aber das Licht drang selbst durch die dicksten Stellen meines eigenen Schädels. In meinem Kopf war ein Ring aus flammenden Sonnen, die in einem Dutzend verschiedener Farben loderten, und ich konnte nichts tun, um sie zu löschen. »Du kommst spät.« Tyrs Worte brachten mich fast zum Bersten. »Wir haben die Anklage schon verlesen.« »Wie immer irrst du dich«, gab Cyric zurück. »Ich bin pünktlich. Ihr habt zu früh begonnen.« Obgleich die Empörung, die durch den Pavillon brandete, für die Götter nur ein Tuscheln war, erschien sie mir wie ein dröhnendes Erdbeben. Cyric nahm keine Notiz davon und setzte mich auf etwas ab, was ihm als Streckbank erschien, aber gleichzeitig für Sune ein Federbett und für Kelemvor eine Krypta war. »Aber eure Hast macht kaum etwas aus«, sagte der Eine. »Ich kenne die Anklage, und ich bin bereit, sie zu widerlegen.« »Wie denn? Indem du diesen armen Menschen dort zu Tode folterst?« fragte Mystra. Ein funkelnder Strom von Magie löste sich von der strahlenden Erscheinung, die sie für mich war, und schoß durch den Raum, um sich über mir zu ergießen. Auf der Stelle waren all meine Wunden geheilt. »Wir
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wissen alle, daß du grausam bist. Die Frage ist, ob du kompetent bist.« Plötzlich ging mir auf, daß die Hure versuchte, den Einen zu erzürnen und dazu zu bringen, daß er mich tötete, und so schrie ich: »Was tust du? Ich brauche die Freundlichkeit einer Metze nicht!« Neben den donnernden Stimmen der Götter nahmen sich meine Worte wie das Gezwitscher eines Spatzen aus, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich spuckte in Richtung der strahlenden Mystra-Erscheinung und schrie: »Möge die Pest über deine Mysterien und deinen Orden kommen! Verglichen mit dem wahren Glauben sind sie nichts!« Das Dröhnen von Cyrics Lachen warf mich zu Boden, und so sicher, wie mir das ein paar geprellte Rippen einbrachte, rettete es mir auch das Leben. Denn in diesem Moment trafen sechs Blitze sechs verschiedener Götter die Bank, auf der ich eben noch gehockt hatte. Wenn keine der Attacken von Mystra ausging und sie auch nicht die Magie aufhob, mit deren Hilfe sie mich geheilt hatte, dann sicher nur, weil sie den Zorn unseres finsteren Gebieters fürchtete, da bin ich mir sicher. Immer noch in sich hineinlachend las mich Cyric vom Boden auf und zeigte mich den anderen. »Dies ist Malik el Sami yn Nasser, und ich werde nicht zulassen, daß ihr ihn tötet. Malik ist mein Zeuge.« »Zeuge?« knurrte Kelemvor. »Mir ist doch sicher ein Zeuge gestattet.« Cyric wandte sich an Tyr. »Er ist meine einzige Verteidigung.« »Gewiß«, sagte Tyr. »Ihr dürft jeden, der euch beliebt, als Zeugen aufrufen.« »Wird es diesmal auch keine Unterbrechung geben?«
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fragte Cyric. »Auch nicht durch Blitzschläge?« »Jeder Zeuge steht unter meinem Schutz«, versprach Tyr. »Ihm wird kein Haar gekrümmt werden. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Ein Prasseln widerwilligen Einverständnisses sprudelte aus der Richtung der Strahlenaura Talos’. Dann begann diese, im Pavillon umherzuschweben, und säte in allen zwölf Daseinsformen der Kammer Zerstörung. Kelemvors Strahlenaura trieb näher an die Mystras heran. Sune schlüpfte hinter die Tempus’, und Shars leuchtender Schatten begann, in sich selbst zu versinken. Sie alle wußten um das Buch, das ich unter meiner Robe verbarg, und genau wie Cyric glaubten auch sie, es sei die Cyrinishad. »Eigentlich braucht der Sterbliche gar nicht zu sprechen!« Sunes Leuchten bewegte sich so nah an Tempus, daß sie eins wurden. »Vielleicht will Tempus seine Anklage ja noch einmal überdenken?« »Nein.« »Nicht einmal für mich?« Bei ihrer Verzweiflung war es ein Wunder, daß Sune sich ihm nicht auf der Stelle hingab, um zu verhindern, daß die Cyrinishad verlesen wurde. »Ich würde mich ... erkenntlich zeigen.« »Tempus, du tätest gut daran, ihr Angebot anzunehmen«, drängte Shar. »Auf deinen Vorwürfen zu beharren wird die Sache für uns nur noch schlimmer machen.« Die Stimme der Nachtbringerin hatte sich der Sunes kaum hinzugesellt, da ließen Silvanus und Talos ebenfalls ihre Stimmen erklingen, und bald stimmten auch Chauntea und Lathander in den immer größer werdenden Chor ein, und da erkannte ich, daß es so gut wie
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egal war, was ich unter meiner Robe verbarg. Das Buch hätte ebensogut das Liebeshandbuch des Kalifen sein können, und sie hätten die Anklagepunkte genauso fallenlassen. Ganz im Gegensatz zu Mystra, Kelemvor und Tempus. Gemeinsam riefen sie laut: »Nein!«, und ein veritabler Windstoß fegte durch den Pavillon. Als er sich wieder gelegt hatte, fügte der Fürst der Schlachten hinzu: »Ich werde meine Anschuldigung keinesfalls zurückziehen, das kann ich nicht.« Das entsprach der Wahrheit, denn Tempus konnte sein Wort, das er Maske gegeben hatte, nicht brechen. »Ich bitte auch gar nicht darum«, vermeldete der Eine. Ich spürte sein Grinsen in jeder der stechenden Beulen, die auf meiner Haut sprossen. »Tatsächlich fordere ich mein Recht ein, mich zu den Anschuldigungen zu äußern. Malik, du wirst vorlesen.« »Vorlesen, Herr?« Ich war fast erleichtert, daß ich nicht wirklich die Cyrinishad bei mir trug; nach der furchtbaren Übelkeit, die mich ergriffen hatte, als ich auch nur die Kiste berührt hatte, bezweifelte ich, daß ich es überlebt hätte, aus dem heiligen Folianten vorzulesen. »Ich?« »Du, Malik – sofort!« Als ich den Band unter meiner Robe hervorzog, hob ein ohrenbetäubendes Geflüster im Pavillon an. Die Flammenbälle Tempus’, Talos’ und Kelemvors näherten sich mir, und der Unvoreingenommene trat ihnen in den Weg. Ich hatte einen solchen Kloß im Hals, daß ich keinen Ton herausbekam, schwante mir doch, daß ich in der
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bevorstehenden Schlacht pulverisiert werden würde. Mystra trat hervor und hielt Kelemvor fest. »Warte! Laß ihn lesen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich an mich. »Nur zu. Von Anfang an. Niemand wird dir etwas tun.« Die Selbstsicherheit der Hure verblüffte ihre Mitgötter ebensosehr wie mich. Kelemvor hielt sofort inne, Tempus und Tabs ebenso, und selbst Tyrs Leuchten drehte sich zu ihr um. »Was?« schrie Cyric. »Sie sagte, er solle lesen dürfen«, vermeldete Tyr nachdenklich«. Einem Moment lang schwieg er, dann drehte sich seine Strahlenaura wieder zu Cyric um. »Du hast doch sicher nichts dagegen?« »Natürlich nicht, aber wenn sie das Buch verändert hat, als sie diesen Heilungszauber auf meinen Zeugen gewirkt hat ...« »Sie hat deine Beweismittel nicht manipuliert«, sagte der Unvoreingenommen. »Das habe ich geprüft. Wirst du ihn jetzt lesen lassen?« »Ja.« Die Tücke in Cyrics Stimme hatte sich in Argwohn verwandelt, und als er mich ansprach, konnte ich das Mißtrauen in seiner Stimme geradezu fühlen. »Nun mach schon.« Ich schlug das Buch auf, und es bestätigte sich, daß es Rindas Tagebuch war, angefüllt mit einem Dutzend lästerlicher Verse allein im ersten Absatz. Da ich wußte, welch schwerwiegender Fehler es war, ein solches Sakrileg in der Gegenwart des Einen zu verlesen, entschloß ich mich dazu, sie durch die Geschichte der Gottwerdung unseres finsteren Herrn zu ersetzen, die ein jedes Kind in
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Cyrics Kirche auswendig lernt. Als ich aber den Mund öffnete, um zu sprechen, erfüllte ein lautes Zischen meine Ohren, und anstelle von Eine Kindheit in den Schatten kam eine fürchterliche Gotteslästerung über meine Lippen. Ich konnte nur aussprechen, was da vor mir geschrieben stand: »›Zum ersten Mal traf ich Cyric in einem Pergamentladen, in dem die schlechte Luft vom Geruch blutiger Häute und abfallgefüllter Gerberbottiche erfüllt war. Der Gestank an diesem Ort war betäubend, und gleichzeitig paßte er hervorragend; nichts könnte meine Gefühle gegenüber dem Prinzen der Lüge besser beschreiben.‹« Ich wollte aufhören. Sobald ich jedoch von der Seite aufschaute, erfüllte wieder das fürchterliche Zischen meinen Kopf, und ich merkte, wie ich die nächste Zeile anstarrte. Damals war es mir nicht klar, aber ich war bereits im Bann von Mystras Wahrheitszauber. Ich mußte den Text des Buches verlesen – und nun, da ich einmal angefangen hatte, war es mir nicht möglich, damit aufzuhören! Stellt euch nur einmal vor, von was für einer Angst ich erfaßt wurde, als die Lästerlichkeiten nicht aufhörten, mir von den Lippen zu sprudeln: »›Dies ist die Geschichte von Rinda, Schreiberin in der Zentilfeste, die vom Herrn der Verderbtheit gezwungen wurde, die Cyrinishad niederzuschreiben, eine Schrift niederträchtiger Lügen, die kein einziges wahres Wort enthält‹...« »Malik!« Cyrics Stimme blies mich von der Bank und schickte mich zu Boden, und trotzdem konnte ich nicht aufhören
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zu lesen: »... ›und wie der weise Oghma ihr half, einen wahren Bericht über des Lügners Leben anzufertigen‹...« Ich wurde gewahr, wie ein roter Ball sich aus Cyrics Leuchten löste und auf mich zuraste, und ich stürzte wieder. Meine Welt ging in Flammen auf. Das hätte das Ende dieser Erzählung sein können, aber die Feuer verschlangen mich nicht. Keine Brandblase riefen sie auf meiner Haut hervor, versengten kein einziges meiner Barthaare und schwärzten nicht eine Seite des Buches in meinen Händen, aus dem ich weiter vorlas: »... ›was damit endete, daß Cyric aus der Stadt der Toten verstoßen wurde und den Niedergang seiner weltlichen Macht mit sich brachte‹...« »Ruhe!« Obschon Cyrics Brüllen mein erbärmliches Zwitschern übertönte, las ich weiter und weiter. Wie konnte ich aufhören? »Hör auf deinen Herrn! Hör auf mich, oder du wirst gerade noch lang genug leben, um zu spüren, wie es sich anfühlt, wenn ich dir mit kochender Säure das Fleisch von den Knochen fressen lasse!« »Das wirst du nicht!« donnerte Tyr. »Das wäre Beeinflussung eines Zeugen. Bis zum Ende dieses Prozesses steht Malik unter meinem und durch mich unter Aos Schutz. Weder du noch irgendwer sonst darf ihm ein Leid zufügen.« Cyric verstummte, und ich füllte die Stille mit einer weiteren Blasphemie. »›Als er eines Tages sein eigenes Buch las, ließen ihn seine Lügen dem Wahnsinn anheimfallen.‹«
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»Genug!« gellte Cyric. Für einen Augenblick war sein Leuchten so blaß, daß ich sehen konnte, wie er seine fleischlosen Hände gegen die Schläfen gepreßt hielt. »Ich entlasse ihn!« Bei dieser Äußerung erloschen die verschwommenen Leuchtsphären der zwölf Götter in meinem Kopf, die zwölf Daseinsformen des Pavillons von Cynosure verschwanden um mich herum, und ich überließ den Einen seinen Anklägern und stürzte ein zweites Mal in den Ozean aus eisigen Schatten. In meiner Abwesenheit hüllte sich die Kammer in Schweigen. Die Gedanken der Götter kehrten sich nach innen, zunächst in Erleichterung darüber, daß das Buch unter meiner Robe nicht die Cyrinishad gewesen war, dann in Neugier über jenen seltsamen Zwang, der mich selbst im Angesicht der Wut meines Gottes immer weiterlesen ließ. Mystra bemerkte die Fragen in den Blicken ihrer Gefährten und wußte, daß bald nicht einmal ihre Magie sie davon abhalten würde, die Wahrheit zu erkennen. »Hat dein Dieb etwa das falsche Buch gestohlen?« fragte sie. »Oder findest du die Impressionen in Rindas Tagebuch schmeichelhaft?« Einige der Götter lachten in sich hinein, nicht so Tyr und Oghma. Der Fürst des Wissens legte die Stirn in Falten und heftete seinen Blick auf Mystra. »Was glaubst du, Mutter aller Magie, warum konnte Malik nicht aufhören zu lesen?« Mystra gab keine Antwort, denn hätte sie gesprochen, dann hätte ihr eigener Zauber sie gezwungen, alle Schutzvorkehrungen zu offenbaren, die sie gegen die
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Macht der Cyrinishad ins Feld geführt hatte. Oghma drang auf eine Antwort. »Malik wußte offenkundig, daß sein Gott mißgestimmt sein würde.« »Sehr mißgestimmt.« Cyric fixierte die Mutter aller Magie mit seinen schwarzlodernden Augen und musterte sie eingehend. »Also?« Als Mystra immer noch nicht antwortete, hörte Sune einen Moment auf, sich zu putzen und sagte: »Der kleine Mann war von Ehrfurcht ergriffen. Zwölf Götter! Welcher Sterbliche hätte anders reagiert?« Oghma biß sich auf die Lippen, um eine ungeduldige Entgegnung zu unterdrücken, und sagte dann: »Ich sehe nicht ganz, wie Ehrfurcht jemanden dazu bringen sollte, sich seinem Gott zu widersetzen. Ich schätze, die normale Wirkung wäre das Gegenteil.« Fürstin Feuerhaar erhob keck die Nase und bedachte Oghma mit einem Blick. »Es ist unvorhersagbar, was Sterbliche tun, wenn sie in Verzückung geraten – sie sind ja so flatterhaft. Du solltest das wissen. Du bist doch der Gott des Wissens!« »In der Tat«, gab der Fürst des Wissens zurück. »Maliks Reaktion spielt wohl keine Rolle«, warf Kelemvor ein. »Er hat nichts verlesen, was wir nicht schon wußten.« »Doch«, erklärte Tyr. »Denn im Pavillon von Cynosure muß es jedem gestattet sein, seine Meinung freien Herzens kundzutun – selbst einem Sterblichen, wenn er denn wichtig genug ist, um überhaupt hier zu sein.« »Du sagst, es spiele eine Rolle«, bemerkte der Fürst des Wissens. »Heißt das, er wurde nicht gezwungen?« »Nicht mittels Magie oder Gedanken, jedenfalls nicht,
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daß ich so etwas mit Aos Hilfe bemerkt hätte«, erwiderte der Unvoreingenommene. Der Grund hierfür war natürlich der Schleier, den die Mutter aller Magie vor der Verhandlung hatte fallen lassen. Der Unvoreingenommene mochte vielleicht Zugang zu Aos Kräften haben, aber die Herrin der Mysterien gebot über das Gewebe, und so war sie zu magischen Künsten befähigt, von denen der Gerechte lediglich träumen konnte. Solcherart von jedem Verdacht freigesprochen, fühlte sich Mystra sicher genug, das Schweigen zu brechen. »Nun, da Cyric gesagt hat, was er sagen wollte, und alles soweit in Ordnung zu sein scheint, naht die Zeit, ein Urteil zu verkünden.« »Verkündet nur. Was kümmert’s mich?« Mit diesen Worten wurde Cyric wie ein Gespenst immer durchsichtiger und begann, aus dem Pavillon zu verschwinden. »Ich bin über euer Urteil erhaben.« »Nicht ganz«, bemerkte der Unvoreingenommene. Er zog eine aufgewickelte Kette aus dem Nichts und schleuderte sie in Cyrics Richtung; die Kette verschwand, ehe sie auf dem Boden auftraf, aber die Gestalt Cyrics wurde augenblicklich wieder fest wie Stein. »Solange dieses Gericht tagt, hat mir Ao Mächte an die Hand gegeben, dich zu binden, damit du dich dem Urteil stellst. »Was?« Cyric schüttelte die Hände, und der Klang klirrender Ketten erfüllte den Raum. »Ao gab dir Macht über mich?« »Sicher. Du bist ja so viel mächtiger als wir«, spottete der Zerstörer. »Da wußte er, daß wir seine Hilfe brauchen würden.«
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»Jetzt ist die Zeit gekommen, um dich unsere Kraft spüren zu lassen«, dröhnte der Fürst der Schlachten. »Laßt uns das Urteil fallen und uns unserer wahren Aufgabe zuwenden: der Verkündung von Cyrics Strafmaß.« Nur Tyr nahm davon Abstand, seine Stimme in den Chor der Zustimmung einzureihen. »Noch hat der Prinz der Lügen seine Verteidigung nicht niedergelegt«, verkündete er. »Noch hat er die Möglichkeit, seinen Fall darzulegen.« »Euch gegenüber?« Auch wenn Cyrics Stimme vor Verachtung überquoll, ließ er seinen Blick kreisen und musterte nacheinander jeden Gott in der Runde. Auf den Gesichtern Mystras und Kelemvors blieb sein Blick am längsten haften. »Wie kann ich erwarten, daß ihr mich versteht? Ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich bin; ich gleiche euch so sehr wie ein Drache einem Haufen Eidechsen.« Vielleicht solltest du es trotzdem versuchen«, sagte Oghma leise. »Diese ganz speziellen Eidechsen haben nämlich zufällig die Macht, über dein Leben oder deinen Tod zu entscheiden.« Cyrics Augen flackerten auf, so daß sie doppelt so groß waren wie gewöhnlich, und brannten wie schwarze Feuerbälle. Als er jedoch sprach, befleißigte er sich einer gesitteten Ausdrucksweise. »Man legt mir auf meinen Wahnsinn gründende Unschuld zur Last?« »So lautet die Anklage«, bestätigte der Unvoreingenommene. »Ja ... dann gestattet ihr mir vielleicht, ein wenig auszuholen, um zu beweisen, daß die Anschuldigungen
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wenigstens nur zur Hälfte wahr sind.« Cyric warf Mystra einen Blick zu, lächelte und durchquerte den Pavillon, um vor Kelemvor stehen zu bleiben. »Ich rufe Kelemvor in den Zeugenstand.« »Bitte?« Kels Hand zuckte zu seiner Waffe. »Wenn du glaubst, daß ich ...« »Ganz im Ernst, Kelemvor.« Cyric schenkte Kelemvors Schwertarm einen verstohlenen Blick und fügte dann hinzu: »Selbst wenn du es schnell genug ziehen könntest, bin ich mir sicher, daß Tyrs Zeugenschutz sich auch auf mich erstreckt.« Kelemvor nahm die Hand vom Heft der Waffe. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich dir helfen könnte.« »Natürlich nicht. Ich bin verrückt«, entgegnete der Prinz der Lügen. »Ich will von dir nur wissen, ob du mir jemals als mein ... na, nennen wir es Untertan dienen würdest?« »Niemals!« »Dachte ich mir. Schließlich habe ich dich stets schlecht behandelt.« Cyric nickte und schickte sich an, von ihm wegzugehen, blieb dann aber stehen und wandte sich noch einmal zu Kelemvor um. »Dann sag mir doch, warum du Malik hast lesen lassen, wenn du glaubtest, er habe die Cyrinishad?« Mystra versuchte, Kelemvors Arm zu packen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber Kelemvor hatte in der Hoffnung, der Frage mit einer vagen Antwort ausweichen zu können, bereits den Mund geöffnet. »Weil der Unvoreingenommene sagte ...« Hier hielt er inne, und ein gedehntes Würgen entstieg seiner Kehle. Er schüttelte den Kopf, um ein plötzliches Zischen zu verbannen, und sprach dann weiter: »Weil ich, als
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bannen, und sprach dann weiter: »Weil ich, als Mystra ihn ermutigte zu reden, wußte, daß sie irgendwelche Vorkehrungen zu unserem Schutz getroffen hatte.« Außer dem Unvoreingenommenen überraschte das niemanden. »Aber ich hatte alles auf Magie überprüft!« Der Prinz der Lügen ignorierte ihn und wandte sich Mystra zu. »Liegt Kel richtig? Hast du etwas unternommen, um die Cyrinishad unschädlich zu machen?« Hier wartete er einen Moment lang bedeutungsvoll und schaute den Unvoreingenommenen an. »Ich bin sicher, daß jeder vollstes Verständnis dafür hätte, wenn du dich dazu lieber nicht äußern willst.« »Aber das werde ich.« Mystra sah Tyr über Cyrics Schulter hinweg an. Der hatte seinen glühenden Hammer bereits erhoben und schien bereit, ihn einzusetzen. »Ich habe das Gewebe verknüpft, um uns vor der Verderbtheit der Cyrinishad abzuschirmen und alle Prozeßbeteiligten vom Lügen abzuhalten.« Da sie dies offenbarte, erschien ihr magischer Schleier auf dem Boden. Tyr steckte seinen Kriegshammer weg und fischte das Stück Stoff vom Boden. »Das war untersagt!« »So ist es«, vermeldete der Prinz der Lügen. »Da aber ich derjenige bin, der in Mitleidenschaft gezogen wurde, möchte ich bitten, mit der Verhängung der Strafe gegen sie zu warten, bis ich fertig bin.« »So sei es.« Tyr knüllte den Stoff zusammen. »Noch eine Frage, edle Dame.« Dabei bleckte er die Zähne, wußte er doch so gut wie jeder andere Gott, daß Mystra keine Adelige war. »Möchtest du mich vernichtet wissen, weil du mich fürchtest oder weil du bevorzugst,
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was du ›das Gute‹ nennst?« Die Antwort der Herrin der Mysterien kam unvermittelt. »Weil ich dich hasse.« Sie schloß den Mund, und das sollte auch so bleiben, aber es gab noch mehr Wahrheiten zu sagen, und so öffneten sich ihre Lippen erneut. »Außerdem, weil ich für die Sterblichen Faerûns nur das Gute will.« Diese Worte waren Anlaß für Getuschel unter den Göttern. Es war Mystras Pflicht, das unparteiische Gleichgewicht des Gewebes aufrechtzuerhalten, und ihr Geständnis offenbarte eine Verletzung dieser heiligen Pflicht. Tempus trat vor und deutete auf Cyric. »Ein kluger Schachzug, aber Mystras können wir uns auch später noch annehmen. Hier stehst du vor Gericht.« Cyric drehte sich auf dem Absatz um und tänzelte fast über den Boden, um dem Fürsten der Schlachten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. »Ich weiß! Ich wollte gar nicht ablenken!« Jetzt gluckste Cyric beinahe, und der Fürst der Schlachten schrak vor ihm zurück wie ein Wesir vor einem Bettler. »Aber wo du schon mal fragst, kannst du mich allein für den Rückgang von Kriegen in Faerûn verantwortlich machen?« »Warum sollte ich das nicht?« »Du hast mir nicht zugehört! Wie viele Unbeteiligte wurden in letzter Zeit von irregeleiteten Feuerbällen verschlungen? Wie viele Städte wurden aufgrund magischer Beben dem Erdboden gleichgemacht?« Cyric fuhr herum du wies mit einem nackten Fingerknochen auf Mystra. »Wie viele Flüsse sind urplötzlich ausgetrocknet, wenn eine Gruppe von Flüchtlingen ihren Verfolgern
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entkommen mußten? Auf wie vielen Hügelketten sind Dornenhecken gesprossen, um Marodeursrotten von hilflosen Dörfern fernzuhalten?« Mystra konnte darauf nichts sagen, waren die Anschuldigungen Cyrics doch ebenso wahr wie die Worte der Cyrinishad selbst. Nach kurzem Nachdenken nickte Tempus. »Was du sagst, ist wahr. Faerûns Kampfmagie ist in letzter Zeit schwach auf der Brust, und wenn sie mal irgendwo richtig hinlangt, dann stets zugunsten der Tugendhaften. Mystra trifft daran ein Teil der Schuld ...« »Moment!« unterbrach ihn Cyric. »Da ist noch etwas – oder ist dir entgangen, daß die edelsten Krieger jegliche Angst vor dem Tod verloren haben, während Meuchelmörder und Feiglinge noch vorsichtiger geworden sind als jemals zuvor?« Wieder nickte Tempus, diesmal jedoch schwieg er und wartete darauf, daß Cyric seinen Vortrag fortsetzte. »Wir wissen, wessen Werk das ist.« Diesmal wies Cyric auf Kelemvor. »Der Usurpator belohnt die Edlen so reichhaltig, daß sie es gar nicht erwarten können zu sterben. Sie opfern sich für die lächerlichsten Ideale – während die etwas gewitzteren von seinen Strafen dermaßen in Angst und Schrecken versetzt werden, daß sie kaum zu kämpfen wagen. Schon bald wird es auf Faerûn keine Kriege mehr geben! Alle tapferen Kämpfer werden tot in ihren jeweiligen Paradiesen weilen, und die Feiglinge verlassen ihre eigene Haustür nicht mehr, aus Angst, von einem herunterfallenden Blumentopf erschlagen zu werden.« Ebensowenig wie Mystra wußte Kelemvor eine Ent-
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gegnung, denn Cyric sprach die Wahrheit. Nachdem Cyrics Vortrag geendet hatte, taxierte Tempus ihn von oben bis unten. »Was du sagst, mag richtig sein, wenn du aber glaubst, dein Leben gegen ...« »Keineswegs!« vermeldete Cyric. »Alles, worum ich bitte, ist, an meinen Taten gemessen zu werden.« »Diese Forderung ist vernünftig.« Die Bemerkung des Fürsten des Wissens überraschte Cyric mehr als Mystra oder Kelemvor. »Man könnte einmal untersuchen, ob die Herrin der Mysterien und der Herr der Toten nicht viel mehr darin versagt haben, ihrer göttlichen Pflicht nachzukommen, als Cyric.« Tempus’ visiergeschürztes Gesicht fuhr herum. »Kann ich meine Anklage auf die beiden erweitern?« Der Unvoreingenommene warf einen Blick auf den zerknüllten Schleier in seiner Hand. »Es ist hiermit geschehen.« Die Herrin der Mysterien fuhr zu dem verstümmelten Gott herum. »Wie kannst du es wagen!« wütete sie. »Gut, ich habe mich dir widersetzt, aber ich bin wohl kaum mit Cyric zu vergleichen, und Kelemvor ebensowenig!« »Das werden wir in zehn Tagen entscheiden«, erwiderte der Unvoreingenommene. »Nutzt die Zeit, euch auf die Verhandlung vorzubereiten.«
Selbst die Finsternis des Schattenmeers konnte mich nicht von Mystras machtvoller Magie erlösen. Obwohl Rindas Tagebuch unter einer eisigen Decke aus Dunkelheit verborgen lag und meine Augen keinen einzigen Buchstaben zu entziffern vermochten, kam eine Silbe nach der anderen über meine Lippen, und sie verbanden sich zu Wörtern. Die Wörter verknoteten sich zu Sätzen, die sich ihrerseits zu Absätzen zusammenzogen, und so sprach ich die widerlichsten Verwünschungen aus, die mir je zu Ohren gekommen waren, und doch waren diese Worte nichts im Vergleich zu den Blasphemien, die ich im Pavillon von Cynosure losgelassen hatte. Schon bald würde Cyric mich auf tausenderlei Arten foltern, und ich konnte jede davon en detail vor meinem geistigen Auge sehen. Alle endeten mit einem furchtbaren Tod, und danach lag ich einsam auf der Fugenebene, und kein Gott wäre da, um sich meiner anzunehmen – außer dem Herrn der Toten, der mich zu einer Ewigkeit der Folter verurteilte, die ebenso grausam sein würde wie die, die mir der Eine bereits hatte angedeihen lassen. Unbestimmte Zeit später stieg mir der Magen in die Brust, und jener Ozean der eisigen Schatten schmolz dahin in Strähnen schwarzen Dunstes. Die Mauer eines
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hohen Turmes erschien direkt vor mir und zeichnete sich gegen die goldene Scheibe von Lathanders Morgensonne ab. Cyric hatte mich genau da in Kerzenburg wieder abgesetzt, wo er mich hergeholt hatte, und ich befand mich wieder mitten in meinem Sturz vom Turm des Bewahrers. Da ich einen schnellen Tod auf dem felsigen Rand des Burggrabens einem langsamen im siedenden Wasser vorzog, wirbelte ich meine Beine herum, um kopfüber zu fallen. Das lederne Tagebuch in meinen Händen klappte auf, und selbst jetzt noch zwang mich Mystras Magie, laut vorzulesen, was meine Augen erspähten: »›Die Haut meines Vaters, Bevis’ des Illustrators‹ ...« Der Rand der steinigen Klippe formte sich in den schwefeligen Dämpfen unter mir. Ich dachte, mein Tod würde mich schnell ereilen oder wenigstens mein lästerliches Mundwerk zum Schweigen bringen, aber Cyrics Verhandlung war noch nicht vorüber. Ich schlug mit einem dumpfen Laut auf den Felsen auf, federte zurück in die Luft und rollte dann den Abhang hinab. Tyrs Schutz war so umfassend, daß ich unversehrt blieb, nur in meinem Kopf drehte sich alles. Der rauhe Stamm einer Kiefer bremste meine Talfahrt abrupt, und ich beendete den Satz, der mir auf der Zunge gelegen hatte, als ich eben auf dem Boden aufgeschlagen war: »... ›wurde für das Pergament des dreihundertachtundneunzigsten Entwurfs verwendet, und ich wußte, daß meine eigene für Entwurf Nummer dreihundertneunundneunzig würde herhalten müssen, sollten Cyric meine Worte mißfallen.‹« Das vermaledeite Tagebuch lag immer noch in meinen
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Händen! Der Morgen hatte Kerzenburg erreicht; die Sonne stand eine Handbreit über den Wällen, badete die Zitadelle in ihrem goldenen Licht und warf lange Schattenstreifen hinter Bäume und Türme. Vom Burghof unten drang die lärmende Geschäftigkeit sich zum Appell formierender Kompanien zu mir herauf – wer konnte sagen, was für Befehle sie empfangen mochten? Die direkte Umgebung des Bewahrerturmes hingegen schien überraschend verlassen; nicht ein einziger Mönch oder Soldat war zu sehen. Der Gestank der Cyrinishad hing schwer und widerwärtig in der Luft, und ich spürte einen Abglanz jenes Brechreizes, der mich überkommen hatte, als ich die Eisenkiste berührt hatte. Das lockende Rascheln ihrer Pergamentseiten schwoll zu einem dröhnenden Getöse an, aber der Lärm kam nicht mehr aus Rindas Fenster. Jetzt klang es durch die dicken Mauern des Turmes, wurde immer tiefer und sonorer und drang aus immer niedrigergelegenen Stockwerken zu mir. Sie transportierten die Cyrinishad! Wenngleich mein größter Ehrgeiz immer noch war, den heiligen Folianten zu bergen, war ich vollkommen ratlos, wie ich ihn aus den Händen jener Diebe erretten konnte, die ihn im Augenblick bei sich trugen. Selbst wenn ich ein mächtiger Krieger und in der Lage gewesen wäre, Dutzende von Männern zu erschlagen, hätte mich Mystras Magie gezwungen, nichts anderes zu tun, als aus dem dämlichen Tagebuch, das ich bei mir trug, vorzulesen. »›Cyric hatte mich zu diesem abscheulichen Perga-
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mentladen geführt, in dem seine Geschichte beginnt, weil er dort geboren wurde. Schade, daß seine Mutter ihn nicht in den Bottich mit Gerbstoff geworfen und dann vergessen hat, was da aus ihr herausgekrochen war; Faerûn wäre sonst heute sicherlich ein besserer Ort!‹« Als mir dieses Sakrileg von den Lippen kam, brach ein donnernder Lärm auf der anderen Seite des Bewahrerturmes aus. Ein Heer von Wächtern marschierte über die Zugbrücke, und das Rauschen der Cyrinishad wuchs sich zu einem ohrenbetäubenden Brüllen aus. Dann schrie die sich stets und ständig einmischende Harfnerin Befehle, die ich aufgrund des Lärms, der meine Ohren erfüllte, nicht verstehen konnte, und ein kleiner Verband von Kriegern spaltete sich von den übrigen ab und machte sich eilends hinunter zum Burghof auf. Sofort war mir klar, daß sie das heilige Buch bei sich trugen, denn der Lärm in meinen Ohren entfernte sich einerseits und wurde andererseits immer schriller. Ich hievte mich hoch und stolperte über den Hügel, ich dachte wohl, ich könnte ihn umrunden und ihnen in sicherem Abstand folgen. Meine Augen schnellten von Rindas Aufzeichnungen hoch zum unebenen Terrain und rasten bald wieder hernieder, in einem fortwährenden Kampf zwischen dem Boden und den Seiten verhaftet. Ich war nur wenige Schritte vorangekommen, als die besserwisserische Hexe mit einem guten Dutzend Männer um den Turm bog. Sie können keinesfalls mehr als dreißig Schritte entfernt gewesen sein, und doch sah man nur ihre Umrisse, als sie sich durch den aus dem Graben aufsteigenden Dampf schoben und sich hinkauerten, wenn sie versuchten, durch die Schwefeldämpfe hin-
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durch an der stahlgrauen Wasseroberfläche meinen verbrühten Leib auszumachen. Aus Angst, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, hielt ich inne, sank auf die Knie und hielt mir mit der freien Hand den Mund zu. Aber selbst das hielt mich nicht vom Weiterlesen ab. »›Cyric sprach bis zum Morgengrauen, aber obgleich ich meinem Leser all die Lügen und Falschheiten ersparen möchte, die er in jener ersten Nacht versprühte, will ich dann doch wenigstens anmerken, daß ich an diesem Abend müde und von Ekel ergriffen nach Hause ging. Dort wurde ich vom zweiten Gott in Empfang genommen, den ich an diesem Tage traf, einer geheimnisumwitterten Gestalt, die in Begleitung des Edlen Chembryl von den Zentarim bei mir erschien, um mich zu bitten, ich möge doch einen Ergänzungsband zu Cyrics Lügenwerk verfassen, und so begab es sich, daß ich noch am selben Tag begann, Das Wahre Leben niederzuschreiben.‹« Auch wenn meine Hand diese Lästerlichkeiten etwas gedämpft hatte, klangen sie mir doch glockenhell in den Ohren, und ich war mir absolut sicher, daß meine Häscher sie ebenfalls vernommen hatten. Ich legte mich auf den Hügel und das Buch vor mich hin, dann kroch ich auf Händen und Knien vorwärts und las währenddessen, so leise es eben ging. Zwischen den einzelnen Worten gab ich acht, keine Steinchen loszutreten und polternd in die Tiefe zu schicken. Die Hexe und ihre Begleiter liefen den Graben ab und hielten unter Rindas Fenster inne, wo die Wachen mit den Griffen ihrer Hellebarden im Wasser herumfischten. Unnötig zu sagen, daß sie meine Leiche nicht fanden. »Hol Haken und Seile, Lodar, damit wir den Graben
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durchseihen können«, befahl Ruha. Das Dröhnen der Cyrinishad hatte sich weit genug entfernt, um ihre Worte zu hören. »Balas, geh zu Zale und sag ihm, er soll die übrigen Pferdegreifen aufsteigen lassen. Wenn dieser kleine Mörder nicht ersoffen ist, dann ist er davongeflogen.« Die beiden Soldaten taten, wie ihnen geheißen. Lodar kehrte zur Zugbrücke zurück, und Balas machte sich auf meiner Seite des Hügels auf den Weg nach unten. Ich rollte mich in eine Felsspalte, in der eine in der Nähe aufragende Kiefer ihre Wurzeln verankert hatte. Die Spalte war nur wenig tiefer als mein Körper dick und gerade breit genug für meinen Bauch – ein ideales Versteck, wenigstens bis ich Rindas verdammtes Tagebuch hinter mich gebracht hätte und der Cyrinishad wieder meine volle Aufmerksamkeit widmen könnte. Nachdem Balas an mir vorbei war, drehte ich mich auf den Bauch, so daß ich meine Feinde droben beobachten konnte, und ergab mich meinem Zwang. Das Buch enthielt nur Gotteslästerungen und Lügen, und doch machten sie ebensoviel Sinn wie die Wahrheit. Somit war ich nicht bloß gezwungen, Rindas garstige Geschichte zu lesen, sondern auch dazu, über sie nachzudenken und jene Unstimmigkeiten ausfindig zu machen, die sie glasklar als Lüge entlarvten. Leider waren diese nur winzig und dünn gesät, war sie doch die bei weitem beste Lügnerin gewesen, die je ein Wort zu Papier gebracht hat. Nach jenem ersten Tag, da Rinda auf Cyric und diesen Feigling von einem Gott, der sein Gesicht nicht zeigen wollte, getroffen war, hatte sie Tag und Nacht geschrieben, Cyric zu ungewöhnlichen Stunden in jenem
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Pergamentladen getroffen und war dann nach Hause zurückgekehrt, um dem lästerlichen Werk, Das Wahre Leben, ebensoviel Zeit zu widmen, und während sie all dies tat, kämpften Mystra, Oghma und zahlreiche andere eifersüchtige Gottheiten gegen den Einen und sein heiliges Vorhaben, die Zentilfeste, Rindas Heimatstadt, in einen Hort tödlicher Ränkespiele und schattenhafter Kämpfe zu verwandeln. Es kam die Zeit, da ihr letzter Freund im Krieg fiel. Sie zerbrach daran, als einzige überlebt zu haben, und aus Furcht vor dem Zorn des Einen im Nachleben entschloß sie sich klugerweise, das unvollendete Wahre Leben zu vernichten. Ehe sie dies ausführen konnte, offenbarte sich der Feigling als Oghma der Weise und versprach, sich um sie zu kümmern und sie vor dem Einen und Einzigen zu beschützen. Rinda hatte einen so einfachen und ehrlichen Schreibstil, daß ich all diese Lügen geglaubt hätte, wäre da nicht jener eine große Widerspruch in ihrer Geschichte gewesen: Nur ein Trottel hätte glauben können, daß Oghma mächtig genug gewesen wäre, Cyric dem Allmächtigen die Stirn zu bieten, und Rinda war beileibe kein Trottel gewesen. Während ich dies las, war das Dröhnen der Cyrinishad in noch weitere Ferne gerückt und hatte noch schriller in meinen Ohren geklungen, doch ich vermochte ihre Rufe nicht zu beantworten. Da Ruha und die Soldaten immer noch den Graben oben nach mir absuchten, wäre ich auf der Stelle entdeckt worden, sobald ich auch nur ein Steinchen den Hang hätte hinunterrollen lassen. Ein nicht enden wollender Strom von Pferdegreifen erhob sich aus den Stallungen und flog in alle Richtungen da-
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von, um nach mir zu suchen. Lodar und drei weitere Männer kamen mit Haken und einem Bündel Seile zurück, und schon begannen die Soldaten, im Graben herumzufischen. Sie begannen unter Rindas Fenster und arbeiteten sich um den ganzen Turm herum vor, wobei sie alte durchnäßte Matratzen, Schweinekadaver und zahllose andere Scheußlichkeiten zutage förderten, von denen keine mein Leichnam war. Es war eine große Erleichterung für mich zu sehen, wie die Hexe sich beeilte, jedes neue Fundstück zu inspizieren. Solange diese Aufgabe sie beschäftigt hielt, sah ich kaum eine Gefahr, daß sie mich beim Lesen stören könnte. Schließlich war der Tag gekommen, da Rinda ihr Werk vollendete. Cyric kam in ihr Haus, las die Cyrinishad von der ersten bis zur letzten Seite und bemerkte, sie sei vollkommen. Er empfand großes Vergnügen dabei, Fzoul Chembryl, einem notorischen Ungläubigen, die Anweisung zu geben, er möge das Buch begutachten. Fzoul erkannte sofort die Allmacht der Dunklen Sonne an. Dann befahl ihm Cyric, Rinda zu bestrafen, hatte er doch Das Wahre Leben in dessen Versteck unter den Holzdielen im Fußboden entdeckt und wußte er doch, daß sie ihn an Oghma verraten hatte. Chembryl gehorchte und stieß ihr eine Klinge in den Bauch, auf daß sie langsam und qualvoll verende. Das gefiel Cyric so sehr, daß er Fzoul die Ehre erwies, den Bewohnern der Zentilfeste die Cyrinishad vorlesen zu dürfen. Auch wies er Fzoul an, er möge Das Wahre Leben vernichten, da Cyric das Buch zu abscheulich fand, um es selbst auch nur zu berühren. Wie ich das so las, fegte ein Pferdegreif über meinen
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Kopf hinweg, und mein Herz setzte kurz aus – das Lesen hingegen ging unaufhaltsam weiter –, die Kreatur schnellte jedoch nicht etwa herum, um mich aus meinem Versteck zu zerren. Statt dessen hob sie die Flügel und ließ sich nahe der Hügelkuppe nieder. Die Hexe hastete hinüber und sprach mit dem Reiter. Sie standen nahe beieinander, wie Verliebte, und sprachen zu leise, als daß ich etwas hätte verstehen können. Der Mann schüttelte den Kopf und wies mit der Hand gen Himmel. Die naseweise Hexe warf einen Blick zurück zum Graben, den ihre Soldaten nun schon zweimal durchforstet hatten, und begann dann, die Hügel um mein Versteck herum zu sondieren. Etwas in mir wollte aufspringen und davonlaufen, aber mein Kopf wußte, daß ich unmöglich entkommen konnte, während ich in einem Buch las. Wieder wurde mein Blick auf die Seiten zurückgezogen, auf denen ich mehr über die niederträchtige Heimtücke der Feinde des Einen lesen konnte. Nachdem Cyric Rindas Haus verlassen hatte, tauchte der Gott Maske aus dem Körper Fzoul Chembryls auf, in dem er sich verborgen hatte, um Fzoul vor der Macht der Cyrinishad abzuschirmen. Maske heilte Rinda. Auch Oghma erschien und gab Fzoul ein anderes Buch, um es statt der Cyrinishad vor den Bürgern der Zentilfeste zu verlesen: Das Wahre Leben. Dann übergab er Rinda seine diamantene Schriftrolle sowie die Obhut über Cyrics heilige Chronik. Ich blickte kurz von Rindas Tagebuch auf und sah die Hexe, wie sie ihre Soldaten vom Graben fortwinkte. »Hier ist er nicht, sonst hättet ihr ihn schon gefunden. Laßt uns den Hügel herunter weitersuchen.«
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Die Soldaten ließen ihre Haken fallen und schwärmten über den Abhang aus. Ich wandte mich wieder Rindas Aufzeichnungen zu – ich konnte nicht anders. Fzoul las im ersten Licht des folgenden Morgens aus Das Wahre Leben vor, und die Lügen dieses Machwerks erzürnten die Massen so sehr, daß sie auf der Stelle einen Aufstand vom Zaun brachen. Als dann der Eine seine ganze Aufmerksamkeit dem Unglück in der Zentilfeste gewidmet hatte, entfachte die Hure Mystra in der Stadt der Toten eine Rebellion, und Cyric hatte keine Chance mehr, sich zu retten. Ich war kurz davor, die Lügen auch zu glauben, da sie wirklich einige Fragen um seine Verdrängung vom Thron des Todes zu erklären schienen. Zum Glück erkannte ich im sprichwörtlichen letzten Moment den Makel in Rindas Ausführungen: Es ist absolut undenkbar, daß der Eine gegen irgendwen keine Chance haben sollte. Oben, nahe des Turmes, schickten sich die Harfnerin und ihre Soldaten an, den Hang hinabzuschleichen, sie spähten in jede Baumkrone und stießen ihre Hellebarden in jeden Felsspalt, der auf ihrem Weg lag. Also begann ich, rückwärts Zentimeter für Zentimeter den Hang hinabzukriechen, unfähig, meinen Blick von den Buchseiten zu lösen. Wenngleich Rinda auch nicht behauptete, Cyrics Niederlage selbst vorhergesehen zu haben – einer ihrer seltenen aufrichtigen Momente – so hörte sie doch später davon, daß Maske von der Macht der Cyrinishad überwältigt wurde und daß er seinen Verrat an Cyric während der Rebellion in der Stadt der Toten gestand. Rinda
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zufolge wurde der Eine daraufhin so wütend, daß er die Beherrschung verlor und mit seinem Versuch, Maske zu vernichten, aus Versehen Kelemvors Geist befreite. Zu dieser Lüge ist nun beileibe nichts mehr zu sagen; wir wissen alle, daß der Eine kein Versehen kennt. Ich spie auf die Seite und verschmierte meinen Sabber, um damit die Tinte wegzuwischen. Dann stürmte wieder das ungeheuerliche Zischen der Cyrinishad auf mein Gehör ein. Die eiskalte Übelkeit, die mich in Gwydions Kammer erfaßt hatte, kehrte zurück, und meine Nase füllte sich mit dem Gestank von Schwefel und Unrat. Schlagartig war mir klar, daß meine Gegner drauf und dran waren, die Cyrinishad in eine jener brodelnden Senkgruben unter ihren Latrinen zu werfen, in denen es kein Sterblicher finden könnte und kein Unsterblicher es versuchen würde. Ich wurde von einem unbändigen Verlangen gepackt, dem heiligen Buch zu Hilfe zu eilen – und gleichzeitig von der schrecklichen Angst geschüttelt, noch einmal seine finsteren Wahrheiten schauen zu müssen. Ich wollte mich gerade erheben, da sah ich die Harfnerin am anderen Ende meiner Erdspalte stehen, wie sie in die Kronen der Kiefern über ihrem Kopf spähte. Aus Angst, die leiseste Bewegung könnte ihre Aufmerksamkeit erregen, erstarrte ich und kämpfte dagegen an, meinen Blick wieder auf Rindas Buch fallenzulassen. Doch trotz meiner furchtbaren Notlage verlor ich den Kampf. Meine Finger blätterten leise um, meine Augen lasen die erste Zeile, und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Es gab nichts, was ich hätte tun können, damit meine Lippen sie nicht flüsterten:
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»›Was Cyric betrifft, er sitzt jetzt einsam in seiner zerschmetterten Feste, verloren an den Größenwahn und die Träume von Herrlichkeit, während er seine täglich schwächer werdende Kirche in ganz Faerûn immer weiter auseinanderbrechen läßt. Einige sagen, der Schock, die Stadt der Toten zu verlieren, habe ihn verrückt werden lassen, aber ich weiß es besser. Cyric war der erste, der die Cyrinishdd las; seine eigenen Lügen haben ihm den Verstand geraubt.‹« Diese Blasphemie war zuviel, gerade weil ich die Allmacht der finsteren Wahrheiten der Cyrinishad am eigenen Leib erfahren und mit eigenen Augen das wahnsinnige Verhalten des Einen gesehen hatte – und auch, weil ich erkannte, wie gut Rindas Lügen alles erklärten, was ich erlebt hatte. Ein roter Ozean breitete sich in meinem Kopf aus, und die Gefahr, in der ich schwebte, war vollkommen vergessen, als ich mich auf die Knie erhob und das Buch von mir schleuderte, wie man es nun mal mit solchem Dreck tut. »Schund!« Als meine Welt in einem weißen Blitz aufging, erhellte sich mir meine Notlage schlagartig. Ein ohrenbetäubendes Krachen zerriß die Luft, dann schleuderte mich ein furchtbarer Stoß aus meinem Versteck und den Hügel hinab, wo ich schließlich an einem Baumstamm landete und einen prasselnden Regen aus Kiefernzapfen auf mich herabrief. Nichts von alledem verursachte mir die geringsten Verletzungen. Ich stand wankend auf und stellte fest, daß ich in die Richtung blickte, in die ich auch gehen wollte, das heißt, weg von der neunmalklugen Hexe und ihren Schergen.
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Als ich losrennen wollte, begannen meine Glieder, unter grauenhaften Schmerzen zu zittern. Ich besann mich wieder Rindas abgeschmackter Aufzeichnungen und insbesondere ihrer Behauptungen über den Grund von Cyrics Wahnsinn. Aber das war ganz sicher nur wieder eine ihrer dreckigen Lügen! Die Rufe des Feindes erklangen von überall hinter mir, und trotzdem stellte ich fest, daß ich mich auf dem Absatz umdrehte, um zu dem Tagebuch zu hasten – und ich wußte selbst nicht, ob der Grund hierfür Mystras Zauberspruch war oder mein Verlangen, endlich die Lüge in Rindas Behauptung zu enttarnen. Mein Blick fiel auf eine geschlossene Reihe Bewaffneter, die, jeder irgendeine Waffe in der Hand, allesamt auf mich zu rannten. Der Anblick brachte meine Knie zum Schlottern, doch ich hob einen Felsbrocken vom Boden auf und rannte ihnen entgegen. Mag sein, daß es eine gute Geschichte ergäbe, wenn ich sagte, sie wären durch meinen beherzten Angriff so gelähmt gewesen, daß ich mit nichts als einem Stein in der Hand ihre Reihen durchbrechen und das Buch an mich bringen konnte. Leider spielte es sich ganz anders ab. Einige von ihnen schauten verdutzt; und schon fielen wir übereinander her. Der Stein fiel mir gleich beim ersten Mal, als er jemandes Kopf traf, aus der Hand, und die Waffen der Soldaten hieben von allen Seiten auf mich ein, was die Luft um mich mit solchem Pfeifen und Klirren erfüllte, daß ich vor Angst fast gestorben wäre – das wäre auch die einzige Art und Weise gewesen, auf die ich hätte umkommen können, stand ich doch immer noch unter Tyrs Schutz, und nicht einmal von einem Drachen
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verschlungen zu werden wäre mein Ende gewesen. Meine Gegner dachten trotz allem, ich verkaufe meine Haut teuer. In ihrer Wut hieben sie mit irrsinniger Geschwindigkeit zu, legten ihr gesamtes Körpergewicht in ihre Stöße und hackten mit solcher Wucht auf mich ein, daß sie mich hätten entzwei teilen können. Aber ihre Klingen wurden jedesmal abgelenkt und trafen einen der ihren. Über kurz oder lang lag die Hälfte von ihnen blutend am Boden. Eine freie Gasse hin zu Rindas Büchlein öffnete sich vor mir, und ich löste mich aus dem Nahkampf und schoß vor Freude jauchzend und mich selbst für unbesiegbar haltend wie ein geölter Blitz los. Unerwartet intonierte plötzlich die Stimme der Hexe Beschwörungsformeln. Ich warf ihr einen Blick zu und sah, wie sie Schlamm umherwarf. Was sollte mich das kümmern? »Spar dir deine Magie, Hexe!« Mit einem Sprung setzte ich über die Felsspalte, in der ich mich versteckt hatte, und sah Rindas Aufzeichnungen vor mir liegen. »Niemand kann den mächtigen Malik aufhalten!« Im selben Moment, da ich meine Stichelei beendet hatte, war ihr Zauberspruch bereit. Ich wußte nicht, wie ich meinen Verfolgern davonlaufen konnte, während ich Rindas verfluchtes Buch las, aber einen unbesiegbaren Kämpfer wie mich konnte das nicht schrecken. Ich bückte mich, um den Band aufzuheben – und meine Füße begannen, im Schlamm zu versinken. Ich fiel flach aufs Gesicht, und mein Drang weiterzulesen war so stark, daß ich mich reckte und streckte, nur um feststellen zu müssen, daß das Buch gerade außerhalb der Reichweite meines ausgestreckten Armes lag.
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Ich versuchte, meine Füße aus dem Schlamm und mich ein Stück vorwärts zu ziehen, aber es ging nicht, und als ich mich umsah, um dem Grund dafür auf die Spur zu kommen, erkannte ich, daß meine Füße in einem soliden Basaltblock steckten! »Niemand ist unaufhaltsam, Mukhtar.« Die Hexe kam zu mir herab und hob Rindas Tagebuch auf, dann funkelte sie mich über ihren Schleier hinweg an. »Oder soll ich dich lieber den mächtigen Malik nennen?«
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Kelemvor saß brütend in seinem kristallenen Turm und blickte über einen Kristallboden hinweg durch eine Kristallwand in das Vorzimmer, in dem eine ängstliche Schar von Geistern darauf wartete, in die Richthalle eingelassen zu werden. Die Menge füllte den Raum bereits zum Bersten, und die Eskorte hatten bis kurz zuvor noch weitere Seelen in die Kammer verfrachtet; die Flut von Ungläubigen und Scheinfrommen wollte nicht versiegen, und es war Kelemvors Pflicht, einem jeden von ihnen sein rechtes Schicksal zukommen zu lassen. Wenn er hinter den Zeitplan zurückfiel, würde er ihn nie wieder einholen. Wie aber sollte er über all diese armen Seelen richten, wenn zur selben Zeit über ihn und seine mutmaßliche Pflichtvergessenheit zu Gericht gesessen wurde? »Jergal!« Kelemvor hatte den Namen kaum gerufen, als auch schon ein schattengefüllter Umhang neben dem Kristallthron erschien, der sich in einem Wind hob und senkte, den es gar nicht gab. Die Kapuze des Umhangs enthielt eine graue Leere, in der nur zwei hervorquellende Augen zu erkennen waren. Ein Paar weißer Handschuhe hing an seiner Seite, ohne von Armen oder sonstigen Glied-
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maßen an seinem Ort gehalten zu werden. »Wie immer zu Diensten.« Es war der übliche Gruß des Haushofmeisters. »Wie kann ich behilflich sein?« »Du weißt, daß ich beschuldigt werde, meine Pflicht nicht recht zu erfüllen«, sagte Kelemvor. »Bin ich zu nett zu den Tapferen und zu hart zu den Listenreichen? Ist die Anklage berechtigt?« »Das kann ich nicht entscheiden«, antwortete Jergal. »Ich bin niemandes Richter, am wenigsten deiner.« »Ich habe nicht um ein Urteil gebeten«, gab Kelemvor zurück. »Ich will deine Meinung hören.« Der scharfe Ton, den Kelemvor angeschlagen hatte, ließ Jergals Umhang flattern. »Ich habe keine«, vermeldete der Haushofmeister. »Ich kann nur beobachten, daß du zu jenen, die ein gutes Herz haben, stets nett bist und hart zu Feiglingen. Deine Vorgänger hielten sich nicht mit solchen Fragen auf. Es kümmerte sie nur, ob eine Seele gläubig oder unaufrichtig war.« »Meine Vorgänger ...« Der Herr des Todes lehnte sich nach vorn, stützte das Kinn in die Hand und begann, seinen Gedanken nachzuhängen, gab es doch eine lange Reihe von Todesgöttern vor ihm. Kelemvor hatte Cyric den Thron abgetrotzt, der ihn bestiegen hatte, nachdem Myrkul während der Zeit der Sorgen umgekommen war. Myrkul selbst hatte seinen Posten auch bloß beim Würfeln gewonnen, und all das machte Kelemvor nur allzu deutlich bewußt, daß er leicht zu ersetzen sein würde, sollte er in der Ausübung seiner Pflichten versagt haben. Am Eingang erschien ein zweiter schattengefüllter
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Mantel. Auch dies war Jergal, denn auch er war einst ein Todesgott gewesen, und als solcher hatte er immer noch die Macht, sich an mehreren Orten gleichzeitig zu manifestieren. »Cyric ersucht um eine Audienz.« Dies riß Kelemvor aus seinen Träumereien, denn allein die Nennung des Namens des Einen ließ ihn eine Habachtstellung einnehmen. »Cyric? Ich habe ihm nichts zu sagen.« »Aber ich dir.« Als Cyric diese Worte aussprach, erschien ein mächtiger Thron aus blankpolierten Knochen mitten in der leeren Richthalle Kelemvors, und darin saß der Prinz der Lügen. Die schwarzen Sonnen unter seinen Brauen wanderten in Jergals Richtung. »Ich hatte nicht um eine Audienz ersucht. Ich hatte sie gefordert.« Das schwarze Schwert erschien aus dem Nichts in Kels Hand, aber er war zu perplex, um es zu verwenden. Niemand außer Maske wagte es, das Heim eines höheren Gottes zu betreten, ohne zuvor die Erlaubnis einzuholen – und das aus gutem Grund, war doch ein jeder Gott in seinem eigenen Reich am mächtigsten. Dennoch hatte der Prinz der Lügen es gewagt, und er war nicht nur ungeladen erschienen, nein, er saß sogar auf seinem eigenen Thron. Nur zu glauben, was er da sah, bereitete Kelemvor schon Kopfschmerzen. Ein dritter Aspekt Jergals erschien am Eingang der Richthalle. »Mystra.« Im selben Moment manifestierte sich die Mutter aller Magie direkt vor Kelemvors Thron, denn für sie war der Kristallturm stets offen. »Komm schnell.« Kelemvor manifestierte einen Aspekt seiner selbst im
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Zauberherz, Mystras Palast der magischen Schleier, und er wurde gewahr, daß Cyric auch hier, im Audienzsaal der Herrin der Mysterien, in seinem Thron saß. »Er ist unerlaubt erschienen«, gab ihm die Mutter aller Magie zu verstehen. »Genau wie hier«, sagte Kel im Kristallturm. Er wies über Mystras Schulter hinweg auf Cyric, der in der Richthalle thronte. »Er hat eine Audienz gefordert.« Mystra schnellte herum und sah Cyric im Kristallturm vor sich sitzen, wie auch im Zauberherz, so daß sich alle drei Götter an beiden Orten zugleich befanden. »Wie in alten Zeiten.« Cyric verzog den Mund zu einer Art Grinsen. »Wenn ihr Adon herruft, wäre unser Grüppchen vollständig.« »Adon hat Besseres zu tun«, gab die Mutter aller Magie zurück. »Weshalb bist du in unsere Paläste eingebrochen?« Cyric ließ sich in seinem Thron zurücksinken und legte seine Fingerknochen vor dem Kinn übereinander. »Bin ich etwa zu euch gekommen?« fragte er. »Lustig, ich könnte schwören, ihr seid zu mir gekommen.« »Wenn ich zu dir gekommen wäre, dann wärest du jetzt tot«, erklärte Kelemvor trotzig. »Du hast die Audienz gefordert. Was willst du?« Der Eine beugte sich in seinem Sitz nach vorn. Im Zauberherz starrte er Mystra direkt in die Augen und im Kristallturm Kelemvor. »Ich habe mich entschlossen, euch zwei unter meine Fittiche zu nehmen.« An beiden Orten tauschten Kelemvor und Mystra fra-
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gende Blicke aus. »Kommt schon«, drängte Cyric. »Ist das so schwer zu kapieren? Wir müssen zusammenhalten. Die anderen haben sich gegen uns verschworen.« »Wovon redest du?« fragte Kelemvor. »Die anderen sind neidisch«, erklärte Cyric, »und fürchten sich. Wir haben schon so viel aus uns gemacht.« »Sie fürchten dich«, unterbrach ihn Mystra. »Über Kelemvor und mich sind sie nur ungehalten – oder hast du etwa vergessen, wie du Tyrs Verstimmung gegen uns verwendet hast?« Der Blick des Prinzen der Lügen verfinsterte sich. »Ich? Der Fürst der Schlachten hat die Anklage erhoben!« »Auf deine Einflüsterungen hin«, bemerkte Kel. »Wir wären wirklich in Schwierigkeiten, wenn Tyr nicht ...« »Tyr fürchtet sich genau wie die anderen!« Cyric sprang von seinem Thron auf, und im Kristallturm reckte er einen seiner knochigen Finger Kelemvor entgegen, während er im Zauberherz auf die Mutter aller Magie deutete. »Ihr werdet doch wohl nicht diesen Dreck glauben, von wegen die Gerechtigkeit sei blind. Er versucht, sie gegen uns aufzubringen.« Mystra verdrehte die Augen, und Kelemvor schüttelte den Kopf. »Früher oder später werdet ihr euch mir anschließen. Tut es jetzt, und ich verspreche jedem von euch ein Viertel der Beute.« Der Eine wedelte mit dem Finger in Richtung der beiden anderen Götter. »Stellt euch nur vor, wie wir drei über Faerûn herrschen!«
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Der Mutter aller Magie stand der Mund offen. »Kannst du allen Ernstes so verrückt sein? Dir muß doch klar sein, daß wir lieber stürben!« »Wir haben dich jetzt schon länger angehört, als du es verdienst.« Kel erhob sich und richtete sein schwarzes Schwert auf den Einen. »Geh jetzt, ehe ich Tyr den Aufwand erspare, auch nur irgendeinen von uns richten zu müssen.« Der Prinz der Lügen starrte die beiden Götter schweigend an, dann klappten seine Kiefer aufeinander, und er sackte in seinem Thron zusammen. »Narren! Ich wollte euch vergeben.« Sein Thron löste sich auf, so daß es schien, als säße er in der Luft. »Jetzt werdet ihr mit den anderen sterben.«
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Rindas Tagebuch lag auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Kerkerwand, und ich konnte es nicht in die Finger bekommen. Meine Hände waren auf den Rücken gebunden, und meine Füße waren fest umschlossen von einem Basaltbrocken, so schwer wie die Mutter des Kalifen. Ulraunt enthielt mir nun schon viele Stunden lang Essen und Wasser vor. Er hatte einem Paar stämmiger Wachen befohlen, meine Arme festzuhalten und mir dann gedroht, mich mit Keulen voller Nägel verdreschen und mit glühenden Eisen brandmarken zu lassen, und er hatte auch schon eines über einem Kohlenbecken erhitzen lassen. Die einzige Folter, die mich jedoch wirklich schreckte, war, von dem Buch getrennt zu werden. Mit jedem Atemzug wurde mein Verlangen, es zu lesen, immer verzweifelter, bis ich schließlich all meine Besitztümer für weniger als ein Viertel ihres Wertes dafür hergegeben hätte, auch nur einen einzigen Blick in es hinein werfen zu können. Ich haßte mich selbst für diesen Drang, so wie ein jeder sich für eine geheime Schwäche verachtete, und ich schwor, kein einziges Wort zu lesen, selbst wenn Ulraunt mir das Buch direkt vors Gesicht hielte. Das war selbstverständlich ein Eid, den ich unmöglich
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erfüllen konnte. Doch ich sollte mein Los erst noch richtig verstehen, und wußte damals noch nicht, daß Mystras Magie der Grund dafür war. Ich wußte nur, daß Rindas Aufzeichnungen ebensoviel Sinn ergaben wie die finsteren Wahrheiten und daß ihre Lästerlichkeiten durchaus erklärten, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte: daß die Kirche des Einen sich selbst zerstörte und daß Cyric ein Irrer sein mußte, um einen unwürdigen Kaufmann wie mich hinter der Cyrinishad herzuschicken. Durch diese Gedanken brachte ich große Schmach über mich, und sie waren vielmehr ein Abbild meiner eigenen Feigheit als Tatsachen, und doch waren sie ebenso unnachgiebig wie hungrige Bettler, und diese Gedanken waren es denn auch, auf die ich meine Besessenheit zurückführte. Ulraunt kehrte mit einem glühenden Eisen in der Hand vom Kohlenbecken zurück und hielt es mir vor die Augen. Ich gönnte ihm keinen Blick, waren meine Augen doch an den Folianten auf der anderen Seite des Raumes geheftet, wo Tethtoril und Ruha standen und mißmutige Gesichter machten. Meine Teilnahmslosigkeit ärgerte den Bewahrer. »Sieh es dir an!« Er schwenkte das Eisen vor meinen Augen hin und her. »Ist dir klar, was ich damit tun kann?« »Jedenfalls kannst du mir kein Leid zufügen.« Mittlerweile wußte ich, daß es stimmte, hatte ich doch von all den Prügeln, die ich bezogen hatte, bevor Ruha mich gefangengenommen hatte, keine einzige Hautabschürfung, ja nicht einmal den kleinsten blauen Fleck davongetragen. »Ich stehe unter dem Schutz des Unvoreingenommenen.«
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»Der Unvoreingenommene schützt keinen Mörder! Haltet seinen Kopf fest!« Obwohl das Seil, das meine Hände band, so fest saß wie ein Kamelzügel, waren Ulraunts Handlanger nicht so recht willens, meine Arme loszulassen, was zweifellos dem bösartigen Ruf zu verdanken war, den ich mir bei meiner Festnahme verdient hatte. Einer der beiden schlüpfte hinter mich und verschränkte die Hände hinter meinen Ellbogen, und erst jetzt löste der andere Wächter seinen Griff und nahm mich in den Schwitzkasten. Er war sehr groß und stark; Widerstand wäre zwecklos gewesen, und so ließ ich ihn bleiben. Ulraunt wartete, bis er sicher war, daß seine Helfer mich fixiert hatten, trat dann einen Schritt nach vorn und hielt mir das Eisen ganz nah vors Gesicht, so daß ich nichts als seine glühende Spitze sehen konnte. Er bewegte das Brandeisen noch weiter vorwärts, bis mein Augapfel ob der Hitze zu jucken begann. »Ich werde dich jetzt noch zweimal fragen, und jedesmal, wenn du lügst, brenne ich dir ein Auge aus. Ich habe gehört, das tut sehr weh.« »Das ist nicht nötig«, sagte Ruha. Zum ersten Mal war ich froh, daß sich Harfner so gern einmischten. »Er hat schon geantwortet, und dein eigener Priester hat bestätigt, daß er nicht gelogen hat.« »Der Wurm ist immun gegen Wahrheitsmagie!« bellte Ulraunt. Die Wut Ulraunts war so groß, daß seine eigenen Priester den Raum verlassen hatten, um nicht Zeugen zu werden, wie er einen Wehrlosen folterte. »Niemand kann in diesem Burggraben schwimmen. Man kann Lammfleisch darin kochen!«
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Wieder hielt Ulraunt das Eisen nah an mein Auge, und mir wurde klar, daß er beabsichtigte, sein Versprechen einzulösen und mich zu blenden. Ich fragte mich, wie Tyr mich denn nun hiervor bewahren wollte, dann begann der Schaft des Eisenstabs plötzlich ebenso weiß zu glühen wie seine Spitze. Es gab ein leises, zischendes Geräusch, dann roch es nach verbranntem Fleisch. Ulraunt schrie, ließ das Eisen fallen und hielt sich die Hand »Wie hast du das gemacht?« Ich konnte nicht antworten, denn sein riesiger Knecht quetschte meinen Hals so fest, daß ich meinen Kiefer keinen Millimeter bewegen konnte. Ruha ergriff Ulraunts Schulter und zog ihn beiseite. »Du hattest deine Chance. Jetzt laß mich mal.« Ulraunts Blick verfinsterte sich, fiel dann auf seine mit Brandblasen übersäte Hand, und schließlich zuckte er die Achseln. »Wie du willst. Aber meine Geduld ist am Ende. Wenn er nicht endlich mit der Wahrheit rausrückt, wird er für das hingerichtet, was er Rinda und Gwydion angetan hat.« Die Hexe scheuchte die Handlanger weg und beobachtete dann, wie mein Blick sich wieder auf das Tagebuch richtete. Mit jedem Augenblick, der verstrich, verstärkte sich mein Drang ums Zweifache, es zu lesen – und das nicht nur aufgrund von Mystras Zauber. Rindas Behauptungen im Hinblick auf Cyrics Wahnsinn lasteten schwer auf meiner Seele, denn ich konnte die eisige Übelkeit nicht vergessen, die mich überkommen hatte, als ich die Kiste mit der Cyrinishad darin berührt hatte. Lag die Schreiberin vielleicht richtig? Konnten die finsteren Wahrheiten des heiligen Folianten derartig machtvoll
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sein, daß sie selbst den göttlichen Geist des Einen und Einzigen zu umnachten in der Lage wären? Dieser Zweifel war mehr, als ich ertragen konnte. Ich mußte die Aufzeichnungen an mich bringen und die Lüge in ihren Worten finden, mußte diese blasphemischen Befürchtungen von der Hand weisen, bevor sie mich ebenso irre werden ließen wie Cyric selbst! Nachdem sie beobachtet hatte, wie ich einige Augenblicke lang auf Rindas Tagebuch gestarrt hatte, hob die Hexe es hoch und brachte es herüber zu mir, wo sie unmittelbar außerhalb meiner Reichweite stehenblieb. »Ich schlage dir ein Geschäft vor, Malik.« Sie hatte mich schon vorher dazu gebracht zuzugeben, daß dies mein wahrer Name war. »Für jede Frage, die du mir wahrheitsgemäß beantwortest, lasse ich dich eine Seite lesen.« »Ich muß sie lesen!« platzte es aus mir heraus. Tethtoril zog eine Augenbraue in die Höhe, Ulraunt runzelte die Stirn, und ehe einer der beiden Einspruch einlegen konnte, fügte ich auch schon hinzu: »Ich werde dir alles erzählen.« Vielleicht kann ich dieses Versprechen entschuldigen, indem ich erneut betone, daß ich damals nichts von Mystras Zauberspruch ahnte. Ich merkte lediglich, daß ich von einem fremdartigen Drang erfaßt worden war, Rindas Aufzeichnungen immer und immer weiter zu lesen. Nach meinem damaligen Erkenntnisstand mußte ich also davon ausgehen, daß ich immer noch ebensogut lügen konnte, wie eh und je. Die Hexe nickt und fragte dann: »Bist du wegen der Cyrinishad hier oder deswegen?« Sie hob das Tagebuch
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hoch. »Wegen der Cyrinishad.« Es schien nicht viel auszumachen, wenn ich das zugab, sie hatten es sicher ohnehin bereits erraten. »Cyric hat mich geschickt, um sie für ihn in meinen Besitz zu bringen, weil er sie für seinen Prozeß brauchte und Oghmas Verzauberung es ihm immer noch unmöglich macht, sie selbst zu finden.« Diese Erklärung schien ohne mein Zutun von meinen Lippen zu sprudeln. Ich schob meinen Mangel an Selbstbeherrschung auf meine Besessenheit und kümmerte mich nicht mehr darum. Ruha zog eine Braue hoch. »Prozeß?« Ich schüttelte den Kopf. »Seite acht.« »Antworte!« befahl Ulraunt, die Hexe aber schnitt ihm mit einer wegwerfenden Geste das Wort ab, blätterte dann zur nämlichen Seite, und als sie das Buch vor mir in die Höhe hielt, begann ich zu lesen: »›Was das Buch angeht, das später Das Wahre Leben heißen würde, so hörte ich, daß Fzoul Chembryl es immer noch an einem sicheren Ort nahe den Ruinen der Zentilfeste aufbewahrt, und auch wenn ich wünschte, es wäre in den Händen eines vertrauenswürdigeren Beschützers, bete ich doch, daß es stimmt. Das Wahre Leben ist der einzige Weg, die Geister, die die Cyrinishad in ihren Bann schlägt, zu befreien, und ich fürchte, seine schlichten Wahrheiten werden dereinst benötigt werden, um ganz Faerûn zu retten. Gwydion und ich sind nur Menschen; eines Tages wird die Cyrinishad in die falschen Hände fallen.‹« Ruha senkte das Buch, denn die Aufzeichnung endete hier, und mehr als die Hälfte der Seite war weiß.
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»Das ist nicht fair!« Ich geriet fast in Panik, hatte dieser Absatz in mir doch die seltsame Überzeugung entfacht, ich könne Cyric besser dadurch dienen, daß ich Das Wahre Leben an mich brachte und ihn von seinem Wahn heilte, und nun suchte ich verzweifelt nach etwas, das mich von diesem Gedanken abbrächte, bevor er zu einer weiteren schrecklichen Besessenheit wurde. »Das war nur eine halbe Seite!« »Aber alles, was daraufsteht.« Die Hexe schloß das Buch, unsere Blicke trafen sich, und sie bereitete sich darauf vor, die nächste Frage zu stellen. Lange schaute sie mich an und sagte nichts, als überlege sie, welche Worte sie wählen sollte. Sie blinzelte kein einziges Mal. Mir wurde bewußt, wie still die Kammer geworden war; nicht einmal das Flackern einer Fackel, das Reiben von Stiefeln auf dem Steinboden oder das Zischen eines Atems war zu hören. Ulraunt und Tethtoril standen ebenso still da wie Ruha. Ich begann zu schwitzen. »Herr?« stieß ich hervor. Ein fauliger Geschmack lag mir auf der Zunge. Die Luft wurde immer kälter. Ein Schatten sickerte durch die Steine des Bodens empor und nahm die Gestalt eines riesigen Mannes an. Er hatte einen Knochenschädel auf den Schultern und zwei schwarzflammende Feuerbälle, wo die Augen hätten sein sollen, und sein Leib war ein einziges Gewirr aus Sehnen und Adern. »Du hast mich enttäuscht, Malik.« Er sprach in tausend kratzigen Stimmen, jede davon scharf geschliffen von Verbitterung und Zorn. »Du hast das falsche Buch geholt.«
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»I-ich konnte die Cyrinishad nicht anheben«, erklärte ich. »Sie lag in einer Eisentruhe, und ich bin nur ein unwürdiger Händler ...« »Ich weiß, was du bist! Weißt du, wo die Cyrinishad ist?« Ich wollte ihm nicht sagen, wo sie sie versenkt hatten. »Mehr oder weniger, o Mächtigster. Sie haben sie fortgebracht, aber ich glaube, sie ist immer noch im ...« »Nein, sag’s mir nicht«, knurrte Cyric. Er kam herüber, stellte seinen Fuß auf den Basaltblock, in dem meine Beine steckten und ergriff mich bei der Kehle. »Wir haben nur noch eine Chance.« Jetzt begann er, mich hochzuheben. Ich wurde immer länger und dünner, selbst mein Brustkorb, mein Bauch und sogar meine Beine, und ich schwöre, ich war bald so groß und dürr wie ein Gnoll. »O Gott der Götter, ich zerreiße gleich!« »Unsinn. Ich könnte dir nicht einmal wehtun, wenn ich es wollte.« Der Eine riß meinen Hals nach oben, ein beunruhigendes Krachen erklang aus Richtung Fußboden, und da Knochen nun einmal schwächer sind als Basalt, fürchtete ich das Schlimmste. Dann ruckten meine Knie nach oben und trafen mit solcher Wucht meinen Bauch, daß ich husten mußte. Ich öffnete die Augen und sah an mir herab. Zu meiner Erleichterung hingen da noch immer zwei Füße an den Enden meiner kräftigen Beine. »Du stehst unter Tyrs Schutz.« Cyric hielt mich weiter an der Kehle hoch, so daß meine Zehen über dem Boden baumelten. »Deshalb wird mein Plan diesmal auch funktionieren.«
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»Diesmal?« Von meiner Stimme war nicht viel mehr zu hören als ein Gurgeln, denn der Griff des Einen hatte mir die Kehle so gut wie vollständig zugeschnürt. »Du willst immer noch, daß ich deinen Mitgöttern die Cyrinishad vortrage?« Nun war ich in der Tat überrascht. »Siehst du? Vielleicht bist du am Ende gar nicht mal so dämlich. Jetzt hast du auch noch jede Menge Zeit. Der Prozeß wird erst in zehn Tagen fortgesetzt.« An dieser Stelle wurde mir klar, daß mein Gott noch viel irrer war, als ich geglaubt hatte. »Aber die Götter werden niemals gestatten, daß ich ...« Cyric schloß seine Faust um meine Kehle und quetschte mir mitten im Satz die Stimme ab. »Natürlich werden sie das. Der Unvoreingenommene hat meinen Ruhm erlebt. Er ist bereits ein wahrer Gläubiger.« Ein Schaudern durchlief meinen ganzen Körper, wußte ich doch, daß unser finsterer Herr sich selbst belog. Tyr war wild entschlossen, einen gerechten Prozeß zu führen, aber das war immer noch etwas völlig anderes, als den Einen zu verehren. Wenn Cyric das nicht zu erkennen bereit war, dann war sein Schicksal besiegelt, und das aller wahren Gläubigen auch. Der Abschnitt, den ich soeben in Rindas Aufzeichnungen gelesen hatte, kam mir wieder in den Sinn, und mit ihm die merkwürdige Idee, daß der wahre Weg, ihm zu helfen, nicht darin bestand, die Cyrinishad zu beschaffen, sondern darin, ihn dazu zu bringen, Das Wahre Leben zu lesen! Wenn ich ihn nur wieder zur Besinnung bringen konnte, würde er die Cyrinishad – oder sonst irgend etwas – nicht mehr brauchen, um die anderen Götter zu vernichten oder seinem Willen zu unterwerfen!
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Ich erkannte, daß das meine Bestimmung war und daß ich meine Vision von dem Buch zu wörtlich genommen hatte. Meine Bestimmung lag darin, die Kirche Cyrics zu einen, nicht aber, indem ich die Cyrinishad an mich brachte, sondern indem ich ein anderes Buch fand und ihn von seinem Irrsinn heilte! Ich stöhnte vor Freude auf, und Cyric, der mich im Freudentaumel ob der Konvertierung Tyrs wähnte, setzte mich auf dem Boden ab. Aus Angst, Cyric könnte meinen geheimen Plan erraten, vermied ich es, in Richtung von Rindas Buch zu spähen, aber der Zwang brach sich Bahn. Ehe ich es noch selbst verstand, war ich auch schon zu der regungslosen Hexe hinübergegangen und hatte ihr das Tagebuch aus den Händen gerissen. Ich begann, laut zu lesen. Cyric deckte die Seite mit einer seiner Knochenhände ab. »Muß das sein?« Als ich zu ihm aufsah, um zu antworten, fühlte ich mich niederträchtiger als jemals zuvor. »Es scheint, als könne ich nichts dagegen tun.« Schwarze Flammen schossen züngelnd aus Cyrics Augenhöhlen, aber er schien mich nicht bestrafen zu wollen. »Der Zauberspruch der Herrin der Mysterien – verdammt sei sie!« Einen Augenblick lang schaute er auf das Buch, dann schüttelte er den Kopf. »Da kann man wohl nichts machen, als dich das Ding lesen lassen. Den Band zu vernichten würde dich wahrscheinlich nur noch viel mehr verblöden lassen.« Als Antwort gab ich ein paar Zeilen zum Besten, die beschrieben, wie General Vrakk Rinda half, dem Untergang der zugrundegehenden Zentilfeste zu entfliehen.
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Daraufhin zog ich den Krummdolch aus der Scheide am Gürtel der Hexe und holte zu einem Stich in ihr Herz aus, da ich davon ausging, damit auf einen Schlag dem Einen Ehre erweisen und mich meiner Nemesis entledigen zu können. Cyrics eisige Hand fiel mir in den Arm, entriß mir die Klinge und warf sie in eine Ecke. »Noch nicht! Ich habe schon genug Probleme, auch ohne daß der Fürst des Wissens und Mystra wissen, daß ich mich in ihrer ach so hoch geschätzten Zitadelle aufhalte.« Nachdem Cyric das gesagt hatte, riß er der Harfnerin alle Kleider vom Leib und warf mir die Klamotten entgegen, während die Harfnerin so nackt dastand wie am Tage ihrer Geburt. Was mir durch den Kopf ging, werde ich hier nicht darlegen, denn kein Mann sollte so etwas über seinen Feind denken. »Zieh das an.« Ich gehorchte auf der Stelle und legte hierzu das geöffnete Buch auf dem Tisch ab, um, während ich mich ankleidete, lesen zu können, welchen Gefahren Rinda auf ihren Reisen durch die Täler zu trotzen hatte. Zu meinem Glück trug die Hexe so weit geschnittene Gewänder, während sie überdies auch noch ein wenig größer war als ich, daß all der viele Stoff half, meinen Körperumfang etwas zu verbergen. Cyric wand mir höchstpersönlich den Turban der Hexe um den Kopf, bedeckte mein Gesicht mit ihrem Schleier und umrahmte meine Augen mit etwas Kajal aus ihrer Tasche. Ihr silberner Gürtel aber war leider zu eng für mich. »Was soll’s«, erklärte ich, während ich nach der Beschreibung, wie Rinda einer Bande plündernder Frostrie-
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sen entkommen war, kurz innehielt. »Wie’s aussieht, wird die Verkleidung schon ausreichen, um mir die Flucht zu erleichtern.« »Die Flucht?« hallte es vom Einen herab. »Du mußt nicht fliehen. Finde einfach nur die Cyrinishad, und dann ruf mich, wie beim letzten Mal.« Ich nahm das Buch und drückte die Kerkertür auf. »Selbstverständlich.« Genau dabei wollte ich es auch belassen, wußte ich doch, daß es ein Leichtes sein würde zu fliehen, wenn ich erst einmal draußen war. Vom Turban und dem schweren Schleier der Hexe verborgen konnte ich einfach durch das Haupttor spazieren, ohne daß sich irgendwer etwas dabei dachte. Als ich aber aus dem Verlies in das enge Treppenhaus trat, spürte ich, wie die Wahrheit in mir hochkochte, und bevor ich es selbst noch recht verstand, war es schon aus meinem Mund hervorgeplatzt. »Ich werde alles tun, um dir zu helfen.« Noch während ich es sagte, schlug ich schon die Kerkertür zu und hieb den Riegel ins Schloß. »Aber die Cyrinishad wiederzubeschaffen würde dich nur noch kranker machen. Ich werde dich statt dessen heilen.« Der Eine brandete mit solcher Wucht gegen die Tür, daß sich der Riegel verbog und ich ganze fünf Stufen die Treppe hinauf geschleudert wurde. Der Riegel verbog sich, aber er hielt. Ich hob Rindas Aufzeichnungen auf und preschte die Wendeltreppe hinauf, und selbst dann noch, als mir das Herz im Hals pochte, zwang mich etwas dazu weiterzulesen, wie Rinda eines Morgens erwacht war und auf Gwydion aufmerksam wurde, wie
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er über ihr Lager wachte. Endlich tauchte über mir am Ende der Treppe ein helles Licht auf. Ich erklomm eine weitere Stufe und hielt erst einmal inne, um umzublättern. Als ich wieder nach oben sah, versperrte mir ein bluttriefender Geist den Weg. Mich heilen willst du? Diesmal entstand Cyrics Stimme in meinem Kopf, denn er hatte nicht die Absicht, durch seine Anwesenheit irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bin der Gott aller Götter – wenn jemand der Heilung bedarf, dann bin das nicht ich. Ich blieb stehen und stieß einen solchen Schrei aus, daß mir die Kehle schmerzte. Warum so ängstlich? Der Geist schwebte eine Stufe näher heran. Du weißt, daß ich dir nichts tun kann – nicht, bis der Prozeß vorüber ist. Ich fiel auf die Knie und küßte die kalten Stufen mit der Stirn. »Allmächtiger«, winselte ich. »Laß mich erklären ...« »Ruha?« Obwohl die Stimme vertraut klang, war es nicht die Cyrics. »Laß mich dir helfen.« Ich blickte auf, und da kam der Priester Oghmas, angetan in seiner weißen Hose und weißem Hemd, die Stufen herabgerannt. Auch wenn von Cyric jede Spur fehlte, hielt der Priester zwei Stufen über mir an und schüttelte sich. Zehn Tage. Cyrics tausend Stimmen krächzten im Innern meines Kopfes. Die Verhandlung wird in zehn Tagen vorüber sein, und dann gehörst du mir. In meinem Bauch regten sich ein mulmiges Gefühl und Kälte, und mein Kiefer wurde von jenem furchtbaren
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Gefühl gepackt, das immer dann kommt, kurz bevor man sich übergeben muß. Dann fühlte ich die Hand des Priesters unter meinem Arm. »Foltert Ulraunt allen Ernstes diesen armen Bettler?« fragte er. Meine Antwort war das kränkliche Ächzen von jemandem, der mit seinem Magen zu kämpfen hat. Ich wandte mich ab und preßte mir die Hand vor den Schleier. »Kein Grund, sich zu schämen. Folter hat auf mich genau dieselbe Wirkung.« Der Priester half mir auf und begann, mich die Treppe hochzugeleiten. »Vielleicht sollten wir dich lieber in den Greifenhorst bringen, damit du etwas Luft schnappen kannst.«
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Gwydion der Schnelle schob sich durch das vollgepfropfte Vorzimmer, dann durchquerte er die leere Richthalle und kniete vor Kelemvors Kristallthron nieder. Auf der Kehle des toten Ritters lächelte eine rote Narbe, diese Entstellung war jedoch nichts gegen die Schmach in seinem Blick. »Rinda ist tot.« Er senkte den Blick. »Ich ließ zu, daß Cyrics Assassine sie im Schlaf ermordete.« »Du hattest sie davor hundertmal gerettet«, sagte Kelemvor. »Sieh mich an, Gwydion. Du hast keinen Grund, dich zu schämen.« Gwydion hob den Kopf, und ihre Blicke trafen einander, aber immer noch stand ihm die Schmach ins Gesicht geschrieben. »Es war dieser schmutzige kleine Bettler! Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Gelegenheit hatte.« »Wie hättest du das wissen sollen? Wenn du jeden getötet hättest, der Cyrics Handlanger hätte sein können, hättest du Hunderte von Unschuldigen geopfert, um einige wenige Schuldige zu bestrafen. Glaubst du, dafür ließ ich dich nach Faerûn zurückkehren?« Gwydion schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« »Gut.« Kelemvor lächelte. »Dann bleibt wohl wenigstens diese eine Entscheidung, die ich nicht in Zweifel
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ziehen muß. Du hast deine Pflicht treu und brav erfüllt, und daher ist es nicht meine Aufgabe, ein Urteil über deine Seele zu fällen. Doch bevor ich dich entlasse, auf daß du deinen Platz bei Torm dem Treuen einnimmst, will ich dich um einen Gefallen bitten.« Gwydion nickte. »Selbstverständlich.« »Rindas Seele steckt irgendwo in der Menge, die die Ebene außerhalb der Stadt der Toten durchwandert. Oghma kann sie nicht finden, solange sein Amulett noch um ihren Hals hängt, wird es jedoch entfernt, dann findet Cyric die Cyrinishad.« Gwydion erhob sich. »Du willst, daß ich sie finde.« »Ja, und sie dann zu Oghmas Palast geleitest«, antwortete Kelemvor. »Er wird ihre Anwesenheit nicht bemerken, aber ich denke, Rindas Seele wird sich im Haus des Wissens wohlfühlen.« Gwydion lächelte, und der Stolz fegte alle Scham aus seinem Gesicht. »Wird erledigt.« Kelemvor wedelte mit der Hand, und neben Gwydion manifestierte sich Jergals geisterhafte Gestalt. »Mein Haushofmeister wird dich zu Oghmas Palast und wieder zurück in die Fugenebene geleiten. Torm wird erscheinen, wenn du ihn rufst. Ich wünsche dir ein glückliches Leben nach dem Tod auf seiner Burg.« »Danke, Fürst der Toten.« Gwydion verbeugte sich, wandte sich um und ging mit Jergal, der an seiner Seite schwebte. Aber Gwydion hatte seinen Schatten auf dem Kristallboden liegenlassen. Der Fürst der Toten wollte ihn gerade zurückrufen, überdachte das ganze dann aber noch einmal und ließ sich in seinem kristallenen Thron zu-
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rücksinken, wo er die Stirn runzelte und mit den Fingern auf den Armlehnen herumtrommelte. Schließlich erschien ein Paar weißer Augen im Kopf des Schattens; bald hatte er sich vom Boden geschält und stand auf zwei Beinen da. »Es freut mich, dich gnädig gestimmt anzutreffen, Kelemvor.« Die Glieder des Schattens füllten sich und nahmen die Gestalt eines in Dunkelheit gehüllten Elfen an. »Vielleicht nimmst du meine Anfrage ja ebenso freundlich auf, wie du Gwydion behandeltest.« »Das bezweifle ich. Ich habe nichts übrig für Diebe.« Kel bedachte den Eindringling mit einem feindseligen Blick. Maske konnte jedes Schloß knacken und selbst den bestgehüteten Schatz entwenden, und darum war er in keinem der Götterpaläste ein gerngesehener Gast. »Jergal!« Ein Paar weißer Handschuhe schloß sich um Maskes Handgelenke und zog seine Arme auseinander. Zu beiden Seiten des Schattenfürsten tauchte ein wabernder Schattenumhang auf, und Jergal sprach mit zwei Stimmen zugleich. »Wie immer zu Diensten.« Maske verwandelte sich in eine wehrlose Frau, ignorierte den Haushofmeister ansonsten aber vollkommen und richtete seine Worte ausschließlich an Kelemvor, als er sagte: »Du magst keine Diebe? Du hast mich doch selbst bestohlen!« Maskes zarte Stimme klang weder männlich noch weiblich. »Aber vielleicht ist dir ja auch nur ein Fehler unterlaufen.« »Ein Fehler!« Kelemvor schnellte nach vorn, aber er hielt sich im Zaum und sprang nicht auf. Einen Gott eines Fehlers zu bezichtigen war schlimmer, als zu be-
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haupten, er habe etwas gestohlen, und er wußte, daß Maske solche harten Geschütze nur auffuhr, um eine harte Reaktion hervorzurufen. »Erkläre dich und verschwinde! Ich habe keine Lust darauf, daß Kezef dich durch meine Stadt jagt.« Ein Schlottern durchlief Maskes düsteren Leib, doch er hatte sich schnell wieder erholt und fuhr fort: »Du hast einen gewissen Avner aus Hirschtal verurteilt, nicht wahr?« Obschon nach Avner bereits viele tausend andere Seelen vor Kelemvor gestanden hatten, ist das Erinnerungsvermögen eines Gottes doch grenzenlos und vollkommen. Der Fürst der Toten wußte sofort, daß Maske einen elternlosen Tunichtgut meinte, der in den Straßen von Hirschschweig aufgewachsen war, wo er ehrbare Kaufleute bestohlen hatte, aber auch jeden anderen, der dumm genug gewesen war, keinen großen Bogen um ihn zu machen. Ein Waidmann namens Tavis Burdun hatte Mitleid mit dem Jungen gehabt und ihm gezeigt, wie er seine Brötchen mit ehrlicher Arbeit verdienen konnte, und Avner hatte der Dieberei den Rücken zugekehrt und war der bestbeleumundete Kundschafter im Königreich Hirschtal geworden. »Avner hat sein Leben gegeben, um das Kind seiner Königin zu retten«, sagte Kelemvor. »Ich habe seine Seele zu Torm gesandt.« »Womit du mich um meinen Anteil gebracht hast.« Maskes ausgemergelte Gestalt wurde dicker und bildete an Armen und Brust schwellende Muskeln aus. »Deinen Anteil?« schnaubte Kelemvor verächtlich. »Wenn eine Seele erst einmal die Stadt der Toten betre-
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ten hat, dann gehört sie mir, und ich kann mit ihr tun und lassen, was ich will.« »Du kannst über sie urteilen, aber du kannst sie nicht einfach nach Belieben deinen alten Kumpels in die Hände spielen!« Maskes bulliger Leib wuchs zur Größe eines Hügelriesen an und zerrte an Jergals Händen. Kelemvor hatte nur ein höhnisches Lächeln für den tobenden Fürsten der Schatten übrig und schwieg. »Avner hat mich verleugnet!« fuhr Maske fort. »Für ihn war es in Ordnung, an meinem Altar zu beten, wenn Diebstahl das einzige war, wodurch er seinen Bauch füllen konnte, aber welche Ehre erwies er mir, nachdem ihn dieser Waldschrat unter seine Fittiche genommen hatte? Keine! Im letzten Jahr seines Lebens hat er nicht mal eine einzige Kupfermünze mitgehen lassen!« Kel zuckte die Achseln. »Sterbliche dürfen ihr Verhalten ändern – besonders, wenn es zum Besseren ist.« Maske hörte auf zu zerren und schrumpfte auf die Größe eines gebückten Greises zusammen. »Avner mag sein Verhalten geändert haben – aber hat er auch den Gott gewechselt?« »Den Gott gewechselt?« »Hat Avner je zu Torm gebetet? Hat er ihm je geopfert?« In diesem Moment erschien einer von Jergals Verkörperungen an der Tür. »Der Treue bittet um die Erlaubnis, wie gewünscht in den Kristallturm zu kommen.« »Wie gewünscht?« Der Meister aller Diebe verwandelte sich in ein perfektes Abbild Kelemvors. »Ich hoffe, du nimmst keinen
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Anstoß daran.« Die Stimme des Schattenfürsten klang genau wie die Kelemvors. »Aber ich war so frei. Ich bin sicher, du möchtest die Angelegenheit ordentlich aufarbeiten.« Plötzlich stand Kelemvor auf, aber Torm hatte sich bereits vor dem Kristallthron manifestiert. In seiner Hand trug der Gott der Pflicht einen jungen Blondschopf mit stahlgrauen Augen: Avner von Hirschtal. Torm sah die beiden Kelemvors verdutzt an, merkte aber bald, daß derjenige, der von den beiden Aspekten Jergals festgehalten wurde, wohl ein Betrüger sein mußte. Er beugte das Knie vor dem wahren Kelemvor. »Ich habe den Knaben dabei.« »Ich bitte wegen deines Aufwands um Entschuldigung, aber ich hatte dich nicht hierher gebeten.« »Aber ich«, fuhr Maske dazwischen, mittlerweile in Gestalt eines Drow. »Ich wollte lediglich erfahren, ob Avner von Hirschtal jemals zu dir gebetet hat.« Der junge Mann in Torms Hand erbleichte, und der Gott der Pflicht antwortete: »Nein. Aber er gab sein Leben in Erfüllung seiner Pflicht.« »Das ist aber keine Anbetung«, konterte Maske. »Hat er dir je Opfer auf einem deiner Altäre dargebracht?« Torm schaute mißbilligend drein, sah Kelemvor an und schüttelte widerwillig den Kopf. Ein weißes Grinsen glitt über das Gesicht des Meisters aller Diebe. Er nahm die Gestalt einer sechsarmigen Göttin der Zerstörung an; mit einer seiner zusätzlichen Hände griff er in seinen Mantel aus Finsternis, förderte eine Ansammlung funkelnder Gegenstände zutage und hielt sie dem Sterblichen in Torms Hand entgegen.
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»Erinnerst du dich noch an die hier?« Avner spähte über die Hand des Treuen hinweg und schrak zusammen. »Aber die hatte ich Diancastra geopfert!« »Aber sie ist eine Göttin der Riesen, und du bist ein Mensch!« Während Maskes Körper der jener sechsarmigen Göttin blieb, verwandelte sich sein Gesicht in die grobschlächtige Fratze der verschlagenen Diancastra. »Dein Opfer ging an mich – wie du siehst, trage ich in meiner Domäne eine Vielzahl von Gesichtern.« Dem Sterblichen klappte der Kiefer nach unten, und sein Mund begann, Worte zu formen, ohne sie auszusprechen. »Dein üblicher Zehnt belief sich auf ein Kupferstück die Woche. Das macht dann siebenhundertzehn?« Maske begann, Kupfermünzen von einer Hand in die andere rieseln zu lassen. »Wir sollten auch nicht die Sonderzuwendungen außer acht lassen: einen Silberklumpen, einen Messingkamm, einen Fetzen Leinen ...« Während der Fürst der Schatten all die Dinge aufzählte, fielen sie auch in seine Hand. »Dann noch diese Achatmurmel. Wenn ich mich recht entsinne, war sie dein erstes Geschenk ...« »Das reicht«, sagte Kelemvor. »Diese Gaben bedeuten nichts. Mit den Falschen kann ich tun, was ich will.« »Das macht sie aber auch noch nicht zu den meinen.« Torm erhob die Hand und richtete das Wort an den verängstigten Avner. »Avner von Hirschtal, du bist gut und voll Pflichterfüllung gestorben, und hättest du je auch nur ein einziges Wort im Gebet an mich gerichtet,
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wäre es mir eine Ehre, dich auf ewig im Haus der Triade wohnen zu lassen.« »Aber mein Leben war ...« Der Sterbliche faßte sich ein Herz und senkte sein Haupt. »Vergib mir, Treuer. Ich sollte wissen, daß von allen Göttern du deine Verantwortung am wenigsten vergessen kannst.« »Wohl gesprochen«, gab der Treue zurück. »Wir werden dich im Haus der Triade vermissen.« Der Treue wandte das Haupt, um Avner Maske zu übergeben, doch Kelemvor trat zwischen sie und streckte seine eigene Hand aus. »Die Falschen gehören mir, und eine treue Seele wie Avner kann ich immer gut gebrauchen.« Der Fürst der Toten schnappte sich Avner von Torms Handfläche und zog sich dann wieder auf seinen Thron zurück. Ein Paar schwarzgefiederter Schwingen sproß aus dem Rücken des Jungen, und Kelemvor sagte, »Avner von Hirschtal wird mein erster Todesseraph sein.« »Todesseraph!« spottete Maske. »Was soll er denn tun? In den Himmeln den Ruhm des Verfalls besingen?« »Vielleicht – vielleicht wird er aber auch ein Auge auf dich haben. Er kann Kezef herbeirufen, wann immer du anfängst Ärger zu machen.« Die Augen des Meisters aller Diebe wurden rot wie glühende Kohlen. »Es freut mich, Fürst der Toten, daß du offenbar über Humor verfügst.« Der Leib des Schattenfürsten schmolz auf dem kristallenen Boden zusammen, und Jergal blieb mit leeren Händen zurück. »Denn bevor das hier vorüber ist, wirst du ihn brauchen.«
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Gemeinsam mit Oghmas dämlichem Priester hastete ich, auf ihn gestützt und das verschleierte Gesicht in den Ärmeln meiner Robe verborgen, aus dem Kerkerturm über einen Pfad in den Burghof hinab, wo Hunderte von Mönchen und Kriegern sich versammelt hatten, um Neuigkeiten bezüglich meines Verhörs aufzuschnappen. Sie schoben sich näher, um uns auszuhorchen, was wir denn wüßten, aber der Priester verfluchte sie alle und spie ihnen gräßliche Warnungen entgegen, sie mögen sich vor dem Zorn dessen, der alles Wissen bindet, in acht nehmen. Ich senkte mein Haupt, um meine Augen zu verstecken, die denen der Hexe so gar nicht ähneln wollten. Auch begann ich, Würgelaute zu erzeugen – sie waren nicht gespielt – und ließ meinen Kopf auf und nieder wippen. Die Menge gab den Weg frei, und ich hetzte so schnell ich konnte aufs Hohe Tor zu. Die ganze Zeit über erwartete ich einen Aufschrei von irgendwoher, daß ich nicht die neunmalkluge Harfnerin sei oder daß aus dem Keller des Turmverlieses ein fremdartiges Hämmern zu hören sei, aber nichts dergleichen geschah. Rindas Aufzeichnungen hatten nicht aufgehört, mich zu plagen. Es war zwar nicht so schlimm, daß ich trotz meines revoltierenden Magens weiterlesen mußte; doch
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es gefiel der Jungfer des Unglücks, daß ich auch jetzt noch gezwungen war, die Worte auszusprechen. Ich schaffte es mit Mühe und Not, mich aufs Flüstern zu beschränken, und so hielt der Priester ein ums andere Mal inne, um mich zu fragen: »Wie bitte?« oder: »Hast du etwas gesagt, meine Teure?« Ich konnte nur den Kopf schütteln und noch einen verstohlenen Blick auf das furchtbare Buch erhaschen. Niemand durchschaute meine Verkleidung, und schon bald hatten wir das Pförtlein erreicht. In Anbetracht der Eindringlichkeit in der Stimme des Priesters zog einer der Mönche das Türchen auf, und da ließ ich mich auf alle viere fallen und kroch durch den düster verhangenen Durchgang unter dem Torhaus. Der Adlerhorst lag vor mir, und jenseits davon nichts als Wind und Wolken. Ich sprang auf und sauste über den Hof, mit dem festen Vorsatz, mich voller Vertrauen in den Schutz des Unvoreingenommenen in die Tiefe zu stürzen. Aber tapfer war ich noch nie. Als ich mich dem Abgrund näherte, verlangsamte sich mein Schritt wie von selbst; bis ich die Kante erreicht hatte, ging ich nur noch. Ich fiel auf die Knie und stieß ein kränkliches Stöhnen aus, viel mehr eingedenk der Worte, die Cyric auf der Treppe geäußert hatte, als aus Furcht vor einer erneuten Gefangennahme – auch wenn diese Gefahr durchaus bestand. Im Himmel vor mir schlängelte sich ein Band aus schwarzem Rauch zu jenem Hügel hernieder, wo Jabbar und Harun einander umgebracht hatten. Der ganze Hügel wimmelte nur so vor dunklen Flecken, die andere dunkle Schemen über den Boden zu einem prasselnden
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Feuer zerrten. Es brauchte keine schärferen Augen als meine, um zu wissen, daß Kerzenburgs Verteidiger hier gerade die Überreste der Armee des Glaubens in Flammen aufgehen ließen. Dieser unselige Anblick war zu viel für meinen Magen. Er gab auf und entleerte seinen Inhalt mit einem solchen Schwall, daß ich nach vorn schoß und plötzlich geradewegs die Steilwand hinabblickte. Zuerst dachte ich, es seien die Finger Tyrs persönlich, die mich am Kragen festhielten, doch dann war es die vertraute Stimme des Priesters, die mir in den Ohren klang. »Nur ruhig, ich habe dich ja.« Ich erlaubte ihm, mir zurück in die Hocke zu helfen, und legte mir dann die Hände auf die Knie. Ich hatte den Schleier der Hexe mit etwas Übelriechendem ziemlich verunziert, nahm davon selbst aber kaum Notiz. Der Priester ließ meinen Kragen los und kniete sich neben mich. Ich blickte flugs beiseite und zog meine Männerhände in die Ärmel hinein – und bemerkte, daß Rindas Tagebuch verschwunden war! Ich streckte mich flach auf dem Boden aus und spähte heulend in die Tiefe hinab. Der völlig überraschte Priester warf sich auf mich und rief: »Ruha! Was tust du denn da?« Ich antwortete nicht, starrte einfach nur in den Abgrund, bis ich das Buch die Steilwand hinabsegeln sah. Auf halbem Weg nach unten schlug es nun gegen einen Felsen und prallte ab. Jetzt fing der Wind die flatternden Seiten des Buches und trug es in Richtung Küste. Ich kroch vom Rand weg und schlüpfte unter dem Priester hervor, der seinerseits so aufgeschreckt war, daß
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er mein Bein ergriff und es nicht mehr loslassen wollte. »Was ist los, Ruha?« Ich wedelte mit meinem Arm in Richtung Klippe, rannte hinüber zum Pfad, der hinunter zum Niederen Tor führte und kreischte in meiner besten Frauenstimme: »Das Buch!« Ich schaute nicht noch einmal zurück, um zu sehen, ob ihn diese Erklärung befriedigt hatte, sondern raffte die Robe der Hexe und fegte den Pfad mit voller Geschwindigkeit hinunter, und das nicht nur aus jener seltsamen Besessenheit heraus, das Buch zu Ende zu lesen. Mehr denn je glaubte ich, daß die einzige Möglichkeit, Cyric zu helfen, darin bestand, ihn von seinem Irrsinn zu heilen, und wenn Rindas Lästerungen auch nur ein Fünkchen Wahrheit innewohnte – was ich natürlich ehrlichen Herzens bezweifelte –, dann bestand die einzige Möglichkeit, den Kräften der Cyrinishad entgegenzuwirken, darin, Das Wahre Leben zu lesen, und meine einzige Hoffnung, Das Wahre Leben zu finden, bestand nunmehr darin, Rindas Reiseroute bis zu jenem Punkt zurückzuverfolgen, an dem sie Fzoul Chembryl zuletzt gesehen hatte. Sobald der Weg die erste Kurve vollendet hatte, wurde er steiler und enger und neigte sich sogar bisweilen von der Klippe weg, so daß meine Füße mit jedem Schritt ein Stück näher auf den Abgrund zurutschten. Nirgends war von den Mönchen ein Seil oder eine Kette zum Festhalten angebracht worden, behaupteten sie doch, ein tückischer Pfad sei eine bessere Verteidigung, und ich mußte ihnen da zustimmen. Ich hielt meinen Blick starr auf den Weg gerichtet und rannte so schnell, wie ich es mir zu-
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traute, stets darauf gefaßt, das Läuten der Alarmglocke zu vernehmen. Aber die Glocke erklang nicht. Der Pfad hatte den Berg einmal umrundet und hing nun eine Zeitlang hoch über der donnernden Brandung der Schwertküste, und ich hielt kurz an und spähte über den Grat, bis mein Auge die flatternden Seiten von Rindas Aufzeichnungen ausgemacht hatten. Das Buch lag vierzig Pfeilschüsse unter mir, auf halbem Weg die Geröllhalde hinab, die die Grassteppe von der Felsenküste trennte. Jedesmal, wenn eine Böe seine Seiten durchblätterte, wurde der Band ein Stück weiter den Hang hinabgeschoben. Niemand konnte sagen, was mit dem Buch geschehen würde, wenn es erst einmal bis hinab zum Boden geschlittert war; zu der Küste aus reißzahnähnlichen alten Lavazungen, von der Flut ausgewaschenen Becken und tiefen, rasiermesserscharf gezackten Erdspalten, in denen gefangene Wellen donnerten. Ohne daß ich mich hätte erinnern können, wie es dazu gekommen war, merkte ich plötzlich, daß ich auf dem Bauch lag und die Beine über die Kante des Pfades die Klippe hinabschob. Plötzlich erfüllte die Höhenangst meinen Kopf wieder mit dem Hämmern meines Pulses, doch meine Arme wollten und wollten mich nicht wieder auf den Weg zurückziehen. Ich begann, die Steilklippe hinabzuklettern, wobei meine Finger und Zehen mein ganzes Gewicht Vorsprüngen und Rissen von der Breite einer Münze anvertrauten. Ich tat das nicht aus eigenem Antrieb, das hatte ich nur meiner Besessenheit zu verdanken. Ich kannte ja die Grenzen meines eigenen Mutes und hätte solch ein Unterfangen niemals aus freien Stü-
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cken versucht. Zweimal schon hatte mein Fuß sich im Saum der Robe dieser Hexe verfangen, was mich fast in die Tiefe gezogen hätte, und nur der Schutz Tyrs gab meinen Händen die nötige Kraft, um mich zu halten, bis ich meinen Fuß befreien und neuen Halt finden konnte. Bezüglich der unförmigen Robe konnte ich nichts anderes tun, als mir ihren Saum in den Gürtel zu stopfen, er rutschte aber immer wieder heraus und hing jedesmal wieder an mir herunter. Nun hatte sich mein Fuß zum dritten Mal verfangen. Ich geriet so außer mir vor Wut, daß ich mir den Schleier vom Gesicht riß und ihn wegschleuderte. Dabei blickte ich zufällig hinab und entdeckte, daß Rindas Buch schon drei Viertel des Hangs hinuntergerutscht war. Was noch viel schlimmer war, die felsige Küste war unterdessen in der ansteigenden Flut versunken, und ich hatte lange genug an dieser Küste gelebt, um zu wissen, daß das Meer in einer Viertelstunde so hoch gestiegen sein würde, daß seine Wellen auf jene Stelle klatschen würden, an der das Buch jetzt lag. Ich kraxelte noch ein paar Minuten länger die Klippe hinunter und hielt sehr oft an, um einen Blick nach dem Buch und der ansteigenden Flut zu werfen. Die Brandung begann gerade, zaghaft auf die Schutthalde hinüberzufließen, als das Läuten der Alarmglocke aus windiger Höhe zu mir herabhallte, und da wußte ich, daß Ulraunt und die Hexe sich befreit hatten. Die Küste lag vielleicht zweimal die Höhe eines Riesen weit unter mir, und wenn ich sie nur erreichen konnte, bevor der Feind entdeckte, wie ich hier in der Steilwand hing, dann wäre ich gerettet.
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Die tosenden Wellen hatten schon Hunderte und Aberhunderte von Jahren an diesem Abhang gezerrt, hatten selbst die winzigsten Risse zu kleinen Höhlen ausgewaschen. Während der langen Winter im Umland Kerzenburgs hatte ich in Hunderten von ihnen übernachtet. Sie waren nie sehr bequem gewesen, aber sie hielten den Regen fern, und eine jener Grotten besaß sogar einen Eingang, der bei Hochwasser unsichtbar war. In dieser Höhle würde ich mich verbergen können, bis gegen Mitternacht die Ebbe kam, und dann unter dem Mantel der Nacht meine Reise antreten. Der Wind hatte Rindas Tagebuch erfaßt und wirbelte es herum, es schlitterte den Hang hinunter, bis es schon so nah am Wasser war, daß ich auf den Felsen um es herum bereits Spritzer niedergehen sah. Ich schloß meine Augen, sprang und betete, daß Tyrs Schutz mich auch vor verstauchten Knöcheln und Beinbruch bewahren würde, und ganz besonders davor, von der Unterströmung einer Welle erfaßt und ersäuft zu werden.
In einem anderen Ozean, weit, weit entfernt von Faerûn, wo Salzwasser wie Honig schmeckte, die Brandung so lieblich wie Glöckchen klingelte und die Sterne und der Mond den Himmel mit Licht, so strahlend wie Silber erfüllten, tauchten Kelemvor und Mystra in den funkelnden Wogen nahe des Ufers auf. In der Ferne ragte der himmlische Berg über dem Horizont auf. Der Fuß des Berges war in den Dunst des Meeresnebels gehüllt, und seine gezackte Spitze hing in der Luft wie eine riesige Wolke. Ganz in der Nähe ragte der riesige weiße Palast Tyrs des Gerechten auf der Felsenkrone einer Insel auf, die er vollkommen bedeckte. Als Mystra und Kelemvor sich in Richtung Insel wandten, staunten sie, als sie sahen, daß Oghma der Weise sie erwartete. Er trug einen gelben Burnus, dessen Saum nichts von dem Wasser aufsog, das auf den steinigen Strand unterhalb der Palastmauern klatschte, auf dem er stand. In seinem dichten Bart öffnete sich ein breites Lächeln, und er hob eine Hand zum Gruß. »Dachte ich mir doch, daß ich euch hier finden würde«, rief der Fürst des Wissens. »Ihr seid hier, um Tyr zu bitten, euren Prozeß getrennt von Cyrics zu verhandeln, nicht wahr?«
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Mystra und Kel wateten zum Strand. »Das geht dich nichts an«, gab der Fürst der Toten trotzig zurück. »Möglich, aber ihr hättet meinen Rat einholen können.« »Wir sahen keinen Sinn darin, dich um etwas zu bitten«, erklärte Mystra. »Du schienst ganz glücklich zu sein, uns mit dem Prinzen der Lügen zusammen angeklagt zu sehen.« »Das ist wahr«, entgegnete Oghma. »Aber ein Gespräch hat noch keinem geschadet. Nur im Dialog kann man Weisheit erlangen.« Kelemvor blieb stehen. »Dann rede. Wir hören.« Oghma neigte seinen Kopf leicht in Richtung des Herrn der Toten. »Man hat mir berichtet, du habest Jergal und Gwydion ausgesandt, um Rindas Seele ausfindig zu machen; danke. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mich ihre Rufe quälten.« »Das war nur aus Anstand ihr gegenüber, nicht um deine Gunst zu erlangen. Die Tapferen und Pflichtbewußten sollten sich nicht von den Götter verlassen wähnen.« Mystra watete aus dem Wasser, stellte sich neben Oghma und legte dem, der alles Wissen bindet, ihre Hand auf den Arm. »Doch wenn Kelemvors Dienst deine Einstellung verändert haben sollte, dann wäre uns deine Unterstützung bei der Verhandlung sehr willkommen.« Oghmas Gesicht wurde nüchtern, und er würdigte Mystra keines Blicks, sondern hielt die Augen starr auf Kelemvor gerichtet. »Ihr steht gemeinsam unter Anklage. Wenn ich zu eurer Verteidigung spreche, dann tue ich
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das auch für den Prinzen der Lügen. Das wollt ihr doch sicher nicht!« Der Fürst des Wissens legte die Stirn in Falten. »Cyric hat seine Pflichten vernachlässigt, und wir stimmen alle darin überein, daß das schlimm ist – auch wenn wir uns nicht darauf einigen können, was diesbezüglich zu unternehmen ist.« Kelemvor ging an Oghma vorbei. »Können wir dann? Er ist genau wie die anderen.« Mystra nickte und schickte sich an, ihm zu folgen, denn Kelemvor hatte recht. Sie hatten bereits sämtliche anderen Götter des Rats aufgesucht und jedesmal dieselbe Antwort erhalten – sogar von Sune, die sonst eigentlich stets bereit war, ihre Meinung zu ändern. Außer Tyr und Cyric waren alle höheren Gottheiten so entschlossen, den Einen zu richten, daß sie für die Mutter aller Magie und den Fürsten der Toten keine Fürsprache halten wollten. Kelemvor begann sich langsam zu fragen, ob es noch einen anderen Grund für all das gab, aber er hielt seinen Argwohn fürs erste geheim. Er wußte, es wäre dumm, Mystra gegenüber anzudeuten, daß die Anklage gegen sie beide vielleicht berechtigt sein könnte. Sie erreichten das Ende des Strandes und sahen sich dem Zitadellentor aus Ohrschnecken gegenüber, das einladend geöffnet war. Dahinter fanden sie eine Ehrengarde aus zwölf Paladinen in glänzenden Harnischen, warteten nur darauf, Mystra und Kelemvor hineineskortieren zu dürfen. Ihr Hauptmann trat vor und verneigte sich. »Herrin der Mysterien, Fürst der Toten, bitte folgt uns. Tyr erwartet euch.« »Tut er das?« Mystra warf Kelemvor einen finsteren
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Blick zu, denn sie hatte nicht erwartet, daß Tyr sich so offen gegen sie stellen würde. »Es hat den Anschein, als hätte der, der alles Wissen bindet, einige Vorkehrungen getroffen.« »Ich nicht«, antwortete Oghma, der sich zu ihnen gesellte. »Wer dann?« fragte Kel. »Das solltet ihr euch lieber selbst ansehen.« Oghma scheuchte Kelemvor und Mystra durch das Tor, das vor ihnen lag. Die drei folgten ihrer Ehrengarde einen langen Aufgang hinauf und tauchten auf einem riesigen Platz, umgeben von herrlichen, von Säulengängen gesäumten Gebäuden, auf. Die Paladine überquerten das Areal in direkter Linie, wobei sie eine breite Schneise in der Menge umherhastender Bediensteter hinterließen, die innehielten, um die vorbeigehenden Götter anzugaffen. Vor dem größten Gebäude machten sie schließlich halt. Die Kapitelle der Säulen vor diesem Bau waren so hoch wie Klippen, und die Säulen schienen das Himmelszelt selbst abzustützen. Mystra, Kelemvor und Oghma traten in die Schatten, die sich zwischen den Kapitellen auftaten, und standen unvermittelt im riesigen Gerichtssaal Tyrs des Unvoreingenommenen. Der Saal war U-förmig, und an drei Seiten türmten sich zahlreiche Sitzreihen, an der vierten aber befand sich der Alabasterthron des Gerechten Gottes. Neben Tyrs Sitz stand, den Rücken daran angelehnt, als sei sie des Unvoreingenommenen engster Vertrauter, eine knochengesichtige Spukgestalt in zerrissener Lederrüstung.
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»Cyric!« zischte die Herrin der Mysterien. »Der Eine und Einzige«, kam es von Cyric zurück. Auch wenn der Gerichtssaal mit Tyrs Getreuen angefüllt war, die die Bänke bei Tag und Nacht überrannten, um sich in der Weisheit seiner Dekrete zu sonnen, war es jetzt mucksmäuschenstill. Es kam selten vor, daß die Götter in diesem Saal eine Angelegenheit verhandelten, und nicht ein einziges Ohr wollte auch nur eine Silbe von dem verpassen, was sie zu sagen hatten. »Ich bin sicher, ihr habt nichts dagegen, wenn ich dem Vortragen eures Gesuchs beiwohne«, sagte der Prinz der Lügen. »Es betrifft ja gewiß auch mich.« »Hier entscheide ich, was dich betrifft und was nicht, Cyric.« Tyr reckte den Hals und funkelte den Einen und Einzigen böse an. »Du kannst sicher sein, ich hätte dich gerufen, wenn es angebracht gewesen wäre.« »Aber es ist angebracht.« Cyric marschierte schnurstracks zur Kante des Podiums und sah auf Mystra herab. »Mystra und ihr Freund sind gekommen, weil sie um einen gesonderten Prozeß bitten wollen.« Mit einem Gedanken ließ Tyr seinen Thron wachsen, bis er hoch genug saß, um über Cyrics Kopf hinwegsehen zu können. »Ich möchte von der Herrin der Mysterien und dem Herrn der Toten persönlich hören, weshalb sie hier sind.« Die Herrin der Mysterien nickte. »Wir sind hier, um dich um einen gesonderten Prozeß zu ersuchen. So wie die Sache momentan aussieht, können wir uns nicht verteidigen, da wir mit der Anklage gegen Cyric übereinstimmen.« »Und natürlich wird auch niemand etwas zu eurer
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Verteidigung vorbringen, da dies auch mir zugute käme«, fügte Cyric hinzu. »Ich habe dich gewarnt. Sie sind eifersüchtig auf mich!« »Eifersüchtig?« schnaubte Kel. »Das glaube ich kaum.« Mystra erhob die Finger, um den Fürsten der Toten zum Schweigen zu bringen, ignorierte Cyric vollkommen und wandte sich direkt an den Gerechten. »Tyr, du hast uns in eine Lage gebracht, in der wir uns nicht verteidigen können. Es ist nicht anständig von dir, uns vor die Wahl zu stellen, ob wir uns verteidigen oder gegen den Prinzen der Lügen stimmen.« »Ich bin nicht der Gott der Anständigkeit, o Mutter aller Magie. Ich bin der Gott der Gerechtigkeit, und das ist etwas ganz anderes.« Das brachte ihm respektvolles Geflüster von den Rängen ein, das Tyr aber sofort mit nur einem einzigen Blick wieder verstummen ließ. »Wenn du es für unmöglich hältst, euch gegen die vorgebrachte Anklage zu verteidigen, dann solltest du dich vielleicht fragen, ob sie eventuell berechtigt ist.« Hier brach Beifall auf den Rängen aus, und Tyr tat nichts, um seine Bewunderer zu beruhigen. Der Prinz der Lügen erhob die Knochenhand und blickte in die Ränge ringsumher, ganz so, als hätte er einen großen Sieg errungen, und es war wohl seiner Gnade und Geduld zu danken, daß er sich nicht gekränkt zeigte, als der Beifall recht schnell verebbte. Oghma nutzte die Stille, um vorzutreten und das Wort zu erheben. »Wohl gesprochen, Unvoreingenommener. Ein wenig Selbstprüfung könnte sicher sowohl Kel als auch Mystra guttun.« Er sah erst zum Herrn der Toten
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hinüber, der sich auf die Lippen biß und sich abwandte, dann zu Mystra, deren Blick sich verengte und umwölkte. Oghma richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf den Augenlosen. »Hierin unterscheiden sie sich wesentlich von Cyric, will es mir scheinen.« Cyric lehnte sich vom Podium herunter und stocherte mit einem seiner verwitterten Fingerknochen nach Oghmas Gesicht. »Ich warne dich, alter Mann ...« Der Unvoreingenommene erhob sich, griff Cyric bei der Schulter und riß ihn vom Rand fort. »Ich warne dich, Wahnsinniger: Meine Gutmütigkeit hat ihre Grenzen. Dies ist mein Gerichtssaal, und du wirst keine der Seelen in diesen Mauern bedrohen!« Cyric klappte der Kiefer herunter. Er fuhr zum Gerechten Gott herum, und eine gespannte Stille legte sich über den Saal. Die beiden Götter sahen einander einen Moment lang an, bis der Eine sich zu entsinnen schien, wo er sich befand, und den Blick über die Reihen der verblüfften Anbeter Tyrs schweifen ließ, die den Gerichtssaal anfüllten. Die Wut verschwand aus Cyrics schwarzlodernden Augen, und er schloß den Mund und nickte, als gewähre er eine Bitte. »Du kannst natürlich für dich selbst sprechen. Wir dürfen nicht vergessen, daß dies dein Palast ist.« »Nein, das dürfen wir nie vergessen«, kam die Antwort des Unvoreingenommenen. Oghma räusperte sich und hob dann zu sprechen an. »Die Anklagen gegen die Herrin der Mysterien und Kelemvor können so, wie sie sind, nicht aufrechterhalten werden.« »Nicht?« Die Stimme der Herrin der Mysterien brach
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vor Verblüffung. »Aber du hast gesagt ...« »Daß ich nichts zu eurer Verteidigung sagen würde. Aber ich kann nicht zulassen, daß ihr des falschen Vergehens beschuldigt werdet.« Der Fürst des Wissens wandte sich zu Tyr, und im Auge des weisen Gottes flackerte kurz etwas auf. »Wir haben Cyric der Unschuld, geboren aus seinem Wahnsinn, angeklagt – aber Mystra und Kelemvor sind weder unschuldig noch wahnsinnig. Wir haben sie gebeten, eine Unwahrheit zu beweisen, was gleichermaßen lächerlich wie ungerecht ist.« Der Unvoreingenommene nickte nachdenklich. Ehe er noch irgend etwas entgegnen konnte, platzte es auch schon aus Cyric heraus: »Aber Tempus hat sie unter Anklage gestellt! Sie sind genauso unfähig wie ich!« »Das muß der Rat erst entscheiden«, gab Tyr zu bedenken. »Aber der Fürst des Wissens hat recht. Die Anklage wird abgewandelt in ›Unfähigkeit aufgrund von Menschlichkeit.‹« Mystra und Kelemvor wandten sich Oghma zu, um ihm zu danken, aber ihre Würdigung ging im Wehgeschrei des Einen unter. »Neiiiiiin!« Stille legte sich über den Saal. Aller Augen waren auf Cyric gerichtet, der immer wieder Fetzen von seinem zerschundenen Lederharnisch abriß und sie zu Boden warf. In dem Augenblick, da sie auf dem Boden auftrafen, verwandelten sie sich in dampfende Haufen Unrats, was die Halle mit solch einem ungesunden Gestank erfüllte, daß sämtliche Getreuen Tyrs aufsprangen und zu
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den Ausgängen drängten. Kein Anzeichen von Zorn war bei Tyr zu erkennen. »Auf welcher Grundlage fußt dein Einspruch?« Der Eine sah von seinem heiligen Werk auf. »Auf welcher Grundlage?« »Der Grund«, soufflierte der Fürst des Wissens. Cyric nahm die Hände von seiner zerrissenen Rüstung und sah sich den verdreckten Saal an. Ihm gefiel, was er da sah, und so klapperte er mit den Zähnen seines Knochenschädels und wandte sich wieder zu Tyr um. »Meine Gründe sind einfach.« Der Eine sprach in einem angenehmen, ruhigen Tonfall, als hätte er überhaupt nichts Unrechtes angestellt. »Schon einmal hat Mystra versucht, die Verhandlung meines Falles zu unterbrechen. Wenn du die beiden Verfahren getrennt voneinander verhandelst, laufen wir Gefahr, daß sie es erneut probiert.« »Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Tyr. Tyr versank in grüblerischem Schweigen, und wie er so Cyrics Argument bedachte, fiel sein Blick auf einen Haufen Unrat. Darauf aufmerksam geworden, wohin Tyr da schaute, machte der Eine eine beiläufige Bewegung mit seiner Knochenhand, und das Häuflein löste sich sofort auf. Der Blick des Verstümmelten wanderte zum nächsten Haufen, den Cyric ebenfalls mittels derselben Handbewegung entfernte, und so verfuhren sie mit einem jeden Häufchen, bis der ganze Saal wieder so sauber und steril wie zuvor war. Da lächelte der Unvoreingenommene und sah zu Mystra. »Beide Fälle werden zur selben Zeit verhandelt.« Das rief von Seiten Cyrics ein bösartiges Kichern
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hervor. »Aber die Anklagen werden getrennt voneinander betrachtet; Cyrics Urteil wird unabhängig von dem gefällt werden, das gegen dich und Kelemvor ergeht.« »Was?« schrie Cyric. Tyr ignorierte ihn und fuhr zu Mystra gewandt fort: »Ich warne dich ausdrücklich, mir keinen Grund zu liefern, das zu bereuen. Ich werde sehr gut auf Einmischungen jedweder Art achten. Sollte ich entdecken ...« »Du wirst keine Spur von Einmischung entdecken«, gab die Herrin der Mysterien zurück, und um sicherzugehen, daß Tyr ihr Versprechen nicht als Prahlerei mißverstehen konnte, fügte sie schnell noch hinzu: »Ich habe meine Lektion gelernt.« Cyric rupfte eine Handvoll Leder von seinem Panzer, aber Tyr war schnell genug, um dem Einen in den Arm zu fallen. »Was du tust, wird keinen Einfluß auf mein Urteil haben«, erklärte er. »Ich könnte es jedoch bei deiner Verhandlung als Beweis anführen.« »Verräter!« schrie Cyric. Er öffnete die Hand, und der Fetzen verschwand. »Jeder ist mir in den Rücken gefallen!« »So mag es scheinen.« Um die leise vorgebrachten Worte des Fürsten des Wissens verstehen zu können, mußte Cyric aufhören zu toben. »Du tätest gut daran herauszufinden, warum das so ist – es sei denn natürlich, du möchtest deinen Prozeß verlieren.«
Mit der Mitternachtsflut verließ ich die Kaverne und setzte mein Fluchtvorhaben in die Tat um. Ich schleppte mich die Küste entlang, bis Kerzenburgs Lichter hinter mir in der Ferne und die kreisenden Pferdegreife am Himmel verschwunden waren. Dann erklomm ich die Hauptmauer und kroch kilometerweit durch das hohe Salzgras, bis ich einen Bauernhof mit einer kleinen, miefigen Scheune erreichte. In der Annahme, dieser Schober gäbe einen guten Rastplatz ab, an dem ich mich wieder etwas sammeln könnte, öffnete ich die Tür und schlich mich hinein. Die leuchtenden Augen von fünf Ziegen und einem räudigen Köter hießen mich willkommen, allesamt hatten sie sich unter dem Wanst einer hängebäuchigen Schindmähre zusammengedrängt. Ich fauchte die Viecher an, sie sollten ja still sein, suchte mir ein Astloch, spähte hindurch – und dann hätte ich beinahe selbst laut aufgeschrien. Draußen zeichnete sich gegen den rosaroten Streifen am vormorgendlichen Horizont ein einzelner Pferdegreif ab, der sich dem Bauernhaus näherte. Das Tier trug zwei Reiter, einen Mann, der die Zügel hielt, und die mit flatternden Stoffen umwickelte Gestalt der Harfnerin.
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Ob sie mich bis hierher verfolgt oder ihre Suche lediglich ausgeweitet hatten, wußte ich nicht – nichts desto trotz ein markerschütternder Anblick! Bald würde der Morgen kommen, und wenn ich dann floh, könnten sie mich über die offene Steppe laufen sehen. Dennoch konnte ich nicht den ganzen Tag in diesem Stall zubringen. Unter den Kompanien, die als Entsatz nach Kerzenburg gekommen waren, gab es mit Sicherheit Spurensucher, und das Tageslicht würde es ihnen deutlich erleichtern, mich zu verfolgen. Der Pferdegreif umkreiste nun den Hof und glitt in weniger als einer Schwertlänge Abstand über die Dächer hinweg, landete jedoch nicht. Meine Feinde suchten nur ins Blaue und hofften, ihr Reittier würde mir solche Angst einjagen, daß ich mein Versteck verließe, oder würde meine Witterung aufnehmen – was in Anbetracht der ganzen Jauche hier im Stall vollkommen unmöglich schien. Ich wagte wieder zu atmen, beließ aber mein Auge hartnäckig am Astloch und dankte Tymora inständig dafür, daß ich mit Rindas Aufzeichnungen fertig war. Ich hatte sie in der Höhle am Meer beim Licht eines kleinen Feuers zu Ende gelesen, das ich aus einem der Rattennester gemacht hatte, die stets so schön alt und trocken sind, daß sie einen hervorragenden Zunder abgeben. Das Buch war hauptsächlich ein Bericht über Rindas gemeinsame Reisen mit Gwydion und ihre vielen Kämpfe gegen Cyrics treue Anhänger. Über weite Strecken sprach mir Rinda aus der Seele, war sie doch ebenso von Oghma abgeschnitten wie ich von dem Einen, als ich vor Kerzenburg auf der Wacht lag. Auch war
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Gwydions Gegenwart wohl nicht gerade eine Annehmlichkeit, machte doch das, wodurch er zu einem hervorragenden Wächter wurde, zugleich auch einen miesen Reisegefährten aus ihm. Weder sah er irgendeinen Sinn im Essen oder Schlafen noch in all den anderen Bedürfnissen, die Menschen nun einmal haben, und dies war für Rinda Grund zu großer Trauer, war sie doch eine resolute Frau mit eigenen Wünschen. Oft dachte sie an ihre Heimat in der Zentilfeste und an ihre Lieben und Freunde, die sie dort zurückgelassen hatte und die sie niemals wieder sehen würde. Hierin unterschieden wir uns wie Tag und Nacht, denn ich war mir absolut sicher, daß ich eines Tages heimkehren würde, um meinen Freund, den Prinzen, und meine liebende Gemahlin wiederzusehen und ihnen endlich das zuteil werden zu lassen, was ihnen zustand. Die Aufzeichnungen erwähnten Das Wahre Leben des weiteren nicht mehr, außer als sie berichteten, Rinda hätte gehört, daß Fzoul Chembryl sich eine Zeitlang an einem Ort mit Namen Teschwelle versteckt gehalten hatte. Dann sei er zu den Ruinen der Zentilfeste zurückgekehrt, um dort einen neuen Gott anzubeten, einen gewissen Iyachtu Xvim. Es war eine immense Erleichterung für mich, als mir klar wurde, daß das Ziel meiner Nachforschungen wichtig genug war, daß die Leute über seinen Verbleib redeten, hatte ich doch nur noch knapp zehn Tage Zeit, um meine Reise zu vollenden und den Mann zu finden. Ich war nun auf einer heiligen Mission, einer Queste zur Rettung meines Gottes – und wenn der Eine meine Bemühungen noch nicht zu schätzen wußte, so ahnte ich
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doch, daß er mich um so reichhaltiger belohnen würde, wenn er erst einmal Das Wahre Leben gelesen hatte und wieder zur Besinnung gekommen war. Die Alternative war einfach zu grauenhaft, um sie sich auch nur vorzustellen – wenngleich ich sie auch fast nicht aus meinen Gedanken verbannen konnte. Wenn Cyric immer noch verrückt war, wenn seine Verhandlung fortgesetzt wurde, dann gab es keine Rettung mehr für ihn – und für mich. Verglichen mit meiner Strafe für den Ungehorsam gegenüber dem Einen würden die Qualen in Kelemvors Stadt sicher wie die himmlischsten Genüsse erscheinen. Dreimal umkreiste der Pferdegreif den Hof, wobei er jedesmal aus einer anderen Richtung nahte. Er führte gerade einen gekonnten Sturzflug auf die Stalltür aus, als die alte Mähre plötzlich angstvoll zu wiehern begann, was wiederum mehrstimmiges Blöken und ein Knurren von unter dem Bauch des Gauls hervorrief. Ich fuhr herum und legte den Finger an die Lippen. »Ruhe!« zischte ich. »Wirklich, Malik, langsam wirst du ein bißchen anmaßend.« Wenngleich die tausend Stimmen des Einen nur ein Flüstern waren, erfüllten sie meinen Schädel mit einem heulenden Sturm. Meine Knochen schmerzten vor stechender Kälte, und ich erkannte die Gestalt eines Mannes, die das Leuchten der goldenen Augen des Viehs verdunkelte. Ein leichtes Wummern war von draußen zu hören, wo der Pferdegreif in der Luft mit den Flügeln schlug und über die Hütte hinweg glitt. Ich fiel auf die Knie und drückte meinen Kopf auf den stinkenden Boden.
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»Allmächtiger!« Cyric stapfte durch den Dreck, und eine Knochenhand ergriff mich bei der Schulter. »Zeige keine Verehrung, die du nicht empfindest.« Der Eine klaubte mich vom Boden auf und stellte mich hin. »Es erniedrigt uns beide, und du stehst immer noch unter dem Schutz des Unvoreingenommenen – noch.« »Aber ich ...« »Kein Grund zur Sorge. Ich wollte nur wissen, warum du mich verraten hast.« Er bürstete meine Robe ab – ich hatte die Aba der Hexe immer noch an, weil der dunkle Stoff bei Nacht eine gute Tarnung abgab. »Du kannst es ruhig sagen. Was immer du auch sagst, es wird deine Bestrafung nicht verschlimmern.« Ich glaubte ihm, wußte ich doch, daß dem, was er ohnehin schon für mich im Auge hatte, nichts mehr hinzuzufügen wäre, und doch war es unmöglich zu tun, was er befohlen hatte. »Allmächtiger, ich habe dich nie verraten. Wie sollte ich je den Gott der Götter verraten können?« Der Eine griff mich bei der Kehle, und ich bin sicher, daß nur Tyrs Schutz ihn davon abhielt, mir die Luftröhre zu zerquetschen. »Lüg mich nicht an, du ...!« Er brach seine Drohung ab, ließ meine Kehle los und klopfte mir freundschaftlich auf die Brust. Er nahm die Harfnerfibel von meiner Robe und warf sie beiseite, und ich hörte sie dort landen, wo sie hingehörte, in etwas Weichem und Feuchtem. »Ich versuche, geduldig mit dir zu sein. Vielleicht sollte ich deiner Frau einen Besuch abstatten?« Das war zuviel der Ehre. »Das würdest du für mich tun, Allmächtiger?«
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»Aber natürlich.« Seine tausend Stimmen waren so melodiös und wohlklingend wie ein Eunuchenchor. »Sag mir, was ich hören will.« »Aber das habe ich doch«, erwiderte ich. »Ein Amil verrät seinen Kalifen nicht, weil er bereits zuviel in ihn investiert hat. Welche Hoffnung hätte ich wohl außer dir, all die Opfer vergolten zu bekommen, die ich dir gebracht habe? Kein anderer Gott würde mich für das entlohnen, was ich getan habe.« Das schien Cyric einzusehen. Plötzlich erfüllte purpurnes Licht den Stall, was den Gaul und die nervösen Schafe zum Schnauben und Blöken veranlaßte, und der Eine richtete seine flammende schwarzen Augen auf mein Gesicht und musterte mich lange Zeit. Der Hund schlich sich in die Ecke, verkroch sich hinter einer Futterkrippe und blieb dort leise knurrend liegen. Aber ich hätte mir ja denken können, daß das Vieh nicht besonders tapfer war, sonst hätte es nie so lange überlebt. »Sagst du vielleicht wirklich die Wahrheit?« Ich nickte. »Natürlich, Mächtiger.« Den Prinzen der Lügen interessierten meine Beteuerungen wenig. Er richtete seine knochige Hand auf meine Brust und begann zu drücken, und ich stolperte zurück, weiter und weiter, bis ich die Wand erreichte und nicht weiterkam. »Das könnte jetzt ein bißchen wehtun«, erklärte Cyric. »Aber es wird dich nicht umbringen – nicht, solange du unter Tyrs Schutz stehst.« Meine Augen fielen auf die Knochenklauen auf meiner Brust, und urplötzlich begann mein Herz zu schlagen wie die Hufe eines edlen Hengstes.
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»W-Was hast d-du vor?« Cyric drückte immer weiter, und mein Brustbein bog sich nach innen. Meine Rippen krümmten sich um seine Hand. Ein schrecklicher, reißender Schmerz erfüllte meinen Oberkörper, als stünde ein Riese auf meinem Brustkorb, und mir stockte der Atem. Mein Herz aber schlug heftiger denn je, und jedesmal, wenn es sich ausdehnte, fühlte ich, wie es mein Brustbein und meine Wirbelsäule zugleich berührte, und in mir regte sich die Befürchtung, der Eine wolle mir das Herz im Leib zermalmen. Dann wurde seine Hand durchsichtig wie ein Geist und glitt in meine Brust, so daß ich nur noch sein eng an mein Sternum gepreßtes Handgelenk sah. Mein Leib fühlte sich kalt und taub an, und der Schmerz war verschwunden. Seine Hand schloß sich um mein Herz. Mit jedem Schlag fühlte ich die schwammigen Muskeln zwischen seinen Fingern hindurchquellen; und bei jedem Mal, da es sich zusammenzog, wurde sein Griff fester. »Stärker, als ich dachte«, sagte er. »Das könnte ein schlechtes Zeichen sein. Die standhaften Herzen gehören Tempus und Torm, nicht mir.« Meine Knie gaben nach. Ich fiel gegen die Wand und glitt zu Boden; ich konnte nichts tun, um es zu verhindern. Die Wärme kam zurück in meinen Leib geflutet, ein tiefes Pochen erfüllte meine Ohren, und in meiner Brust fühlte ich eine seltsame Leere. Das Pferd wieherte, und der alte graue Köter riskierte ein Bellen. Da wußte ich, noch bevor ich hinsah, daß ich den Einen mit meinem Herzen in seiner Hand sehen würde. Der Anblick war eigentlich nicht so grauenhaft wie
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befürchtet. Er erinnerte mich ein wenig an einen kleinen, pulsierenden Schwamm, bloß daß jedesmal, wenn es pumpte, Blut statt Wasser aus seinen Poren hervorquoll. »Beim Einen!« Ich war nicht in der Verfassung, darüber nachzudenken, was ich sagte. »Ich bin nur ein armer Sterblicher! Tu das wieder rein!« »Wenn ich fertig bin.« Cyric sah mich nicht einmal an, sondern steckte mein Herz in den Mund und biß ein Stück von der Seite ab. Ich stieß einen gewaltigen Schrei aus, der mit Sicherheit selbst den faulen Bauern weckte, der bei Sonnenaufgang noch nicht aufgestanden war, um nach seinem Vieh zu sehen. Dann wurde ich Zeuge, wie der Eine das Stück wieder ausspie, das er eben abgebissen hatte. »Ah! Es ist noch frisch!« »Na klar«, antwortete ich. »Du hast es mir ja gerade erst aus der Brust gerissen.« »Das meine ich doch gar nicht.« Der Prinz der Lügen faßte mich beim Kragen und richtete mich auf. Mein Blut war überall um den Mund seines Knochenschädels verteilt, und ich fand es unerträglich, ihm ins Gesicht zu schauen. »Du hast die Wahrheit gesagt.« »Ich würde nie zu lügen wagen – nicht dir gegenüber!« »Natürlich würdest du das.« Cyric lehnte mich an die Wand – ich glaube, er fürchtete, ich könnte wieder stürzen –, dann trat er kopfschüttelnd zurück. Als er zu sprechen anhob, erklang nur eine einzige krächzende Stimme. »Das ergibt keinen Sinn. Es ergibt keinen Sinn.« Er starrte zur Decke und antwortete sich selbst mit der donnernden Stimme eines Dämons. »Sei kein Narr.
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Du hast es mit eigenen Augen gesehen!« Cyric machte auf dem Absatz kehrt und richtete sich nun an den Fußboden, diesmal in einer sanften Frauenstimme. »Malik war stets dein treuester Anhänger.« Das waren exakt die Worte des Einen und Einzigen, und ich habe keine einzige Silbe hinzugefügt oder weggelassen. »Er ist dir treu. Du hast es selbst geschmeckt.« »Aber alle haben uns verraten!« Die Stimme des Prinzen der Lügen war jetzt tief und zornerfüllt. »Selbst der Fürst des Wissens hat das gesagt!« Noch eine weitere Stimme erklang aus Cyrics Mund. »Er sagte, es mag sein!« Diese Worte richtete er an den Hund in der Ecke, der zu winseln begann und noch tiefer unter den Trog kroch. »Er sagte auch, wir müßten herausfinden, warum das so ist!« Mit diesen Worten rammte sich der Eine die freie Hand tief in die eigene Brust und förderte einen schleimigen Quarkklumpen zutage, braun wie geröstete Kaffeebohnen. Er schlug nicht, sondern glitschte vielmehr zwischen seinen Fingern umher, und auf ganz Faerûn gab es nichts, das stärker roch. Die Ziegen ließen sich auf die Vorderläufe niedersinken und rieben ihre Schnauzen im Mist auf dem Boden. Aus der Kehle des Kleppers drangen häßliche Erstickungslaute, und der Hund kroch unter dem Trog hervor und tat, was ich selbst auch gern getan hätte, wäre mir nicht so angst und bange gewesen. Cyric hob die ekelhafte Masse zum Mund, nahm einen Bissen, und diesmal schluckte er ihn. »Verdorben!« gab er bekannt, wieder in der Kakophonie von tausend Stimmen, die alle recht zufrieden klangen. »Verdorben
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bis ins Mark.« Da er die Kontrolle über sich wiedererlangt hatte, tat er Pferd und Hund den Gefallen, auf meine Seite des Stalls zurückzukehren. Er hielt mir sein schleimtriefendes Herz vors Gesicht. »Auch ein Stück?« Ich war zu benommen, um antworten zu können. Die Zahl der Sterblichen, die je eingeladen wurden, gemeinsam mit ihrem Gott zu speisen, ließe sich sicher an einer Hand abzählen, doch welchem Menschen wäre wohl je gleich eine solche Ehre zuteil geworden? Ich konnte lange nichts anderes tun, als nur den schmatzenden Klumpen anzustarren und darüber nachzudenken, welche Vorteile aus einem einzigen Bissen vom Herz des Einen wohl erwachsen mochten: unermüdliche Stärke, ein Leben in ewiger Gesundheit – vielleicht gar die Unsterblichkeit selbst! Das Organ war mir jetzt so nah, daß ich erkannte, daß es von weißen Fäden durchzogen war, die sich aus eigener Kraft hin und her wanden. Es waren die Seelen aller Götter, die Cyric getötet hatte, um sich selbst zum Einen aufzuschwingen, was ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ahnte, und ich gestehe, mir drehte sich der Magen um. Nichtsdestoweniger schloß ich die Augen und öffnete meinen Mund, und als ich meinen Kopf vorreckte, um das Manna meines Gottes zu kosten, versuchte ich, den Gestank zu vergessen. Aber wann war ich je stark? Sobald meine Lippen die zuckende Masse berührten, drehte sich mein Kopf zur Seite. Mein Blick verfinsterte sich, eine betäubende Stille senkte sich über mich und ließ das Pochen meines Herzens in seiner anderen Hand verstummen.
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Als ich die Augen wieder öffnete, saß ich an die Wand gelehnt da, und der Eine hockte im Schneidersitz vor mir. Er hielt immer noch beide Herzen in Händen und bewegte die Hände auf und ab, als wolle er wiegen, welches wohl schwerer war. Er betrachtete die schmatzende Masse in seiner Linken. »Das hatte ich nicht erwartet.« Der Prinz der Lügen schüttelte den Kopf, dann hob er den Blick. »Malik, wovor warnt mich Oghma? Stimmt etwas nicht mit mir?« Ich, der ich ähnliche Fragen schon von vielen mächtigen Freunden daheim in Calimshan zu hören bekommen hatte, wußte, daß hier keine ehrliche Antwort gefragt war. Ich wagte es, dem Einen tröstend eine Hand auf den Arm zu legen, wobei ich darauf achtete, nicht das Herz zu erschüttern. »Nichts«, sagte ich. Dabei wollte ich es bewenden lassen, aber die Wahrheit sprudelte in mir hoch und über meine vor Angst bebenden Lippen, bevor ich noch wußte, was ich da sagte. »Nichts, was nicht repariert werden könnte, Allmächtiger. Dein Herz ist verdorben, weil du deine Anhänger und deine Pflichten verraten hast – das war es, was Oghma dir zu erklären versuchte.« Die Hand des Prinzen der Lügen schloß sich um mein Herz. Ich weiß, daß er es zerquetschen wollte, was sicher meinen Tod bedeutet hätte, sobald Tyr seinen Schutz von mir nahm, und trotzdem konnte ich nicht aufhören zu reden. »Du schließt dich in der zerschmetterten Feste ein ...« »In der Burg des Obersten Throns!« »... und redest dir ein, mit den anderen Göttern zu
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spielen wie mit Marionetten. Wenn sie sich weigern zu tun, was du befiehlst, dann behauptest du, sie seien nur eifersüchtig auf deine Macht, aber selbst wir Sterblichen wissen, daß sie hinter deinem Rücken über dich lachen ...« »Über mich lachen!« Die Wucht von Cyrics Hieb schmetterte mich gegen die Wand, und mir schwante, daß nicht einmal der Schutz des Unvoreingenommenen mich vor dem Zorn des Einen zu bewahren vermochte. Ich senkte das Haupt. »Vergib mir.« Meine Stimme war so heiser und schrill wie die eines verängstigten Kindes. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.« »Der Wahrheitszauber der Herrin der Mysterien«, fauchte er. Dann begannen seine tausend Stimmen – eine nach der anderen – zu glucksen und zu kichern, und plötzlich brachen sie allesamt in tosendes Gelächter aus. »Sie hat mich gerettet!« »Gerettet?« Der Eine ließ unsere Herzen auf den dreckigen Boden fallen und faßte mich bei den Schultern. »Die Magie der Herrin der Mysterien war für einen Gott bestimmt, du aber bist nur ein Sterblicher!« Das war das erste, was ich über ihre Wahrheitsmagie hörte, aber mein loses Mundwerk erhellte die Bedeutung des Gesagten deutlich genug. »Selbst hier auf Faerûn kannst du nicht mehr lügen!« Ein Stöhnen entfuhr mir. Das waren schlechte Neuigkeiten für einen Kaufmann wie mich. »Du mußtest die Wahrheit sagen!« Cyric lachte laut auf. »Jetzt wird mich die Wahrheit retten.«
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Ich wandte mein Gesicht ab, denn das war eigentlich genau mein Plan gewesen. Nach kurzer Zeit hatte Cyric sich wieder eingekriegt und hob mein Herz auf. Wie er dann so den Dreck davon abwischte, fragte er: »Also, was soll ich jetzt machen?« »Das fragst du mich?« Der Prinz der Lügen nickte. »Ja – und bitte eine ehrliche Antwort.« Schon wieder wurde er von einem Lachkrampf erfaßt, was mir etwas Zeit zum Nachdenken verschaffte, und als er aufgehört hatte zu lachen, da war mir eine gute Antwort eingefallen. »Mein Vater sagte einmal: ›Das Kamel fürchtet seinen Reiter nicht, weil der Reiter es so will, sondern weil es ihn kennt.‹« Der Eine sah mich an, aber da war kein Fleisch über die Knochen in seinem Gesicht gespannt, und so konnte ich seine Ratlosigkeit nicht wahrnehmen. Schließlich fragte er: »Bei den Neun Höllen, Malik, wovon redest du?« »Das Kamel fürchtet sich nicht vor der Rute des Reiters; ein paar Peitschenhiebe sind einem Tier mit einem so dicken Fell vollkommen egal. Es fürchtet den Reiter vielmehr, weil es gesehen hat, daß er Kamele ißt.« Der Eine hörte nicht auf, mich anzustarren, bis ich irgendwann meinte, es sei besser, das Ganze doch noch ein wenig auszuführen, verstehst du? Du bist der Reiter ...« »Ich weiß, Malik. Ich bin ein Gott – oder hast du das schon vergessen? Du meinst, ich müßte etwas tun, um meine Untergebenen daran zu erinnern, wie gefährlich
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ich sein kann.« »Genau.« »Ich weiß auch schon was.« Ein rotes Leuchten flammte in den Augen des Prinzen der Lügen auf. »Adon!« »Der Patriarch der Herrin der Mysterien?« Ich kannte Adons Namen aus dem Tagebuch, hatte er doch viel getan, um Rinda und Gwydion kurz nach der Vernichtung der Zentilfeste zu helfen, und er hatte auch dafür gesorgt, daß sie sich einen Monat lang oder so in einem winzigen Dörfchen namens Tegea erholen konnten. »Aber Mystra hat bestimmt eine ganze Menge an Wachen für ...« »Laß das meine Sorge sein. Geh zurück nach ...« Der Eine hielt inne. Oghmas Zauber war immer noch intakt, und er erinnerte sich schon nicht mehr daran, wo die Cyrinishad versteckt war. »Geh wieder dorthin, wo du Rinda getötet hast, und hol die Cyrinishad.« »Wie du ...« Ich wollte eigentlich sagen »befiehlst«, hatte aber den Zauber der Herrin der Mysterien nicht einberechnet; meine Zunge bewegte sich von selbst und statt dessen sagte ich die Wahrheit: »... zweifellos weißt, habe ich nicht die Absicht, nach Kerzenburg zurückzukehren. Ich bin auf dem Weg zur Zentilfeste.« »Was? Zur Zentilfeste!« Cyrics Brüllen brachte den Hund dazu, aufgeregt an der Schuppenwand zu scharren. »Wozu?« Ich sagte nichts, denn ich wußte, daß es, wenn ich etwas sagte, die Wahrheit sein würde. »Also?« Ich schwieg.
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Cyric musterte mich. Mir wurde unwohl, und ich wandte mich ab und schaute mein Herz an, wie es da am Boden schlug. Ich fragte mich, ob ich es je zurückerhalten würde. Der Eine folgte meinem Blick und starrte auch auf mein Herz, und einen Moment später klappte er die fleischlosen Kiefer zu. »Ich verstehe. Du kannst es mir nicht sagen.« Er sah mir wieder in die Augen, die ich sorgfältig auf mein Herz gerichtet hielt »Was soll ich also tun, Malik – dir vertrauen?« »Was immer ich tun werde, es ist nur zu deinem Besten«, sagte ich, und Mystras Zauber ließ mich hinzufügen: »Weil es der einzige Weg für mich ist, mich selbst zu retten.« Cyric hob mein Herz zum Mund. Ich verzog das Gesicht und mußte mich abwenden, denn ich erwartete eigentlich, daß er sich einen weiteren Bissen genehmigen würde. Aber er leckte nur noch einmal daran und zog seine lange Zunge dann angewidert zurück. »Ich muß dir wohl vertrauen. Dein Herz ist wahrhaftig.« Das letzte Wort sprach er als eine Art Beleidigung aus. »Das erklärt auch dein Versagen in Kerzenburg. Vielleicht hatte Rinda die Cyrinishad ja noch nicht einmal! Wie sagt ihr Kaufleute? ›Ein Dieb stiehlt die verschlossene Truhe immer zuerst‹.« Ich nickte, denn das war in der Tat einer der Lieblingssprüche meines Vaters. Soll heißen, ein weiser Mann versteckt sein Gold nie an einem offensichtlichen Ort. »Das ist es! Sie hatte einen Köder bei sich!« Cyric sprang auf und wäre um ein Haar selbst in die zuckende Masse seines eigenen Herzens getreten, das er im Dreck
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hatte liegenlassen. »Sie hat die Cyrinishad in der Zentilfeste versteckt – habe ich recht?« Ich biß die Zähne zusammen und war über alle Maßen erleichtert, als ich merkte, daß ich mich nicht gezwungen sah zu antworten. Die Magie der Hure zwang mich offenbar nur, die Wahrheit zu sagen, und zwar vollständig, wenn ich etwas sagte, aber sie zwang mich scheinbar nicht, gegen meinen Willen zu sprechen. Wenigstens das hatte sie mir gelassen. Als ich nicht antwortete, sprühte der Eine vor Begeisterung. »Glänzend!« Er beugte sich herab und fischte mich vom Boden hoch. »Aber du wirst Hilfe benötigen, um die Zentilfeste noch vor meiner Verhandlung zu erreichen.« »Dann wirst du mich hinbringen?« »Du weißt, das kann ich nicht. Du würdest die Cyrinishad niemals finden. Oghmas Magie hält mich davon ab, sie zu finden.« Er drückte mir mein Herz in die Hand und wandte sich dann der alten Mähre zu. Sie wieherte, hob den Kopf und schaute ihn mit ihren großen, runden Augen an. »Aber ich kann dafür sorgen, daß du ein gutes Reittier hast.« »Ein gutes Reittier?« Unter keinen Umständen konnte man diesen buckligen Klepper so nennen – auch wenn ich ohnehin vorgehabt hatte, das Tier zu stehlen. Immerhin sah er wie ein Pferd aus, das selbst ich unter Kontrolle halten konnte. »Wenn du mir vielleicht einfach mit einem Zügel aushelfen könntest?« »Einem Zügel? Für ein Wesen mit solch einer Seele?« Cyric ging zu ihm hinüber. Der bebende Klepper wich bis zur Wand zurück, wäh-
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rend die Ziegen zu den Seiten des Schuppens flohen, und ich hob Cyrics Herz vom Boden auf. Selbst wenn sie Angst haben, sind Ziegen gefräßige Biester, die bereit sind, alles zu verschlingen. Cyric ergriff die Mähne der Stute und zog ihren Kopf zu seinem Mund herab. Das arme Tier bekam solche Angst, daß es ein Brett aus der Wand trat, und durch den Spalt strömte das goldene Licht der Morgensonne herein und verschmolz mit dem purpurnen Leuchten, das der Eine zuvor hier hatte erstrahlen lassen. Unser finsterer Gebieter schlug seine Zähne in eine der Adern am Hals des Tieres … und das Wiehern des Pferdes war so schrill wie der Ruf eines Falken, bloß hundertmal lauter. Mir dröhnten die Ohren, von unter dem Trog ertönte das Geheul des Hundes, und die Ziegen meckerten und rammten in einem verzweifelten Fluchtversuch wieder und wieder gegen die Tür. Schneller, als Cyric trinken konnte, strömte das Blut aus der Kehle des Pferdes, es lief ihm über das Kinn, und wahre Sturzbäche ergossen sich in den Dreck. Der Klepper wurde schwach und begann zusammenzubrechen. Der Eine aber trank weiter und zwang das Tier, auf den Vorderläufen in einer Lache seines eigenen Blutes niederzuknien. Bei diesem Anblick drohte mein schwacher Magen wieder einmal, mir den Dienst zu verweigern, also drehte ich mich lieber weg und preßte den Kopf gegen die Stallwand. Durch einen Spalt zwischen den Brettern konnte ich draußen einen alten Mann stehen sehen. In den zitternden Händen hielt er eine gespannte Armbrust, aber der Mund stand ihm offen, und seine Füße waren vor Angst wie angewurzelt.
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»Malik! Hör auf zu träumen. Hol das Geschirr.« Ich ließ mein Herz in meine Armbeuge gleiten, nahm die Zügel von einem Haken an der Wand und trug sie zu ihm hinüber. Die Stute hatte aufgehört, sich zu wehren, und Cyric hatte sich auf sie gelegt und hielt sein aufgeschlitztes Handgelenk über ihren Hals. Ein kränklich schwarzer Sirup lief aus seiner Wunde in die des Tieres, was sie auf der Stelle gesünder wirken ließ. Ich konnte geradezu mitverfolgen, wie sich ihr krummer Rücken streckte, ihr ausgemergelter Körper kräftiger und robuster wurde und ihr Fell in neuem, hellem Glanz erstrahlte. Cyric nahm seinen Arm von ihrem Hals. Sowohl seine Wunde als auch die der Stute hörten auf zu bluten, und ihre Augen erstrahlten im Blau von Saphiren. Das Pferd bleckte die Zähne, die mit einem Mal so scharf und häßlich wie die eines Haifischs waren. Sie stieß Wolken von kaltem Dampf aus ihren Nüstern aus, hob ihren Kopf und sah mich an. »Sie wartet auf ihren Namen.« Mit diesen Worten nahm mir der Eine die Zügel weg, riß das Beißstück heraus und stülpte sie über den Kopf des Pferdes. »Du mußt ihn ihr geben.« »Halah.« Ich wählte diesen Namen nicht aufgrund seiner Bedeutung, die etwa »flink« gewesen wäre, sondern weil sie mich an meine Frau erinnerte, deren Schönheit, der dieses Pferdes in vielerlei Hinsicht nahe kam. »Ich nenne dich Halah.« Halah wieherte, und es klang wie das Rasseln der Fußfesseln eines Gefangenen. Sie hob sich auf die Knie und stand dann auf. Dabei stieß sie den Einen von ihrem Hals weg, als sei es nichts.
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»Zurück«, befahl Cyric. »Sie ist hungrig.« Ich hatte kaum Zeit, beiseite zu springen, ehe Halah einen Satz durch die Scheune machte und alle fünf Ziegen gegen die Wand drängte. Sie tötete alle fünf in einem Wirbel von zuschnappenden Fängen und herabdonnernden Hufschlägen und schnellte dann herüber zu dem winselnden Hund. Als er erkannte, was sie vorhatte, schoß er unter seinem Trog hervor und verschwand durch das Loch, das die Stute zuvor in die Wand getreten hatte. Das Pferd hielt inne, kurz bevor es ebenfalls hindurchgebrochen wäre, auch wenn ich sicher bin, daß es die Kraft dazu besessen hätte, und machte sich wieder auf zu den toten Ziegen. »Stör sie nie beim Fressen!« beschwor mich Cyric. »Du kannst sie rund um die Uhr in vollem Galopp reiten, aber wenn sie Hunger hat, dann denk nicht einmal daran, sie zurückzuhalten.« Ich wandte mich von den Ziegen ab, denn sie war dabei, sie mitsamt Fell, Hufen und Hörnern zu verschlingen. »Ich bezweifle ohnehin, daß ich das könnte.« Der Eine streckte den Arm aus und nahm mein Herz in die Hand. »Sicher nicht damit. Wir sollten dir etwas Stärkeres geben.« »S-Stärkeres?« »Ich werde es für dich aufbewahren.« Cyrics Hand wurde durchsichtig, dann schob er sich mein Herz in seine Brust und schüttelte den Kopf, als hätte er etwas Saures gegessen. »Vielleicht hilft es ja sogar, wenn du recht hattest mit dem, was du über Oghma gesagt hast.« Ich blickte auf meinen eigenen Brustkorb, in dem sich eine Leere auftat, die sich so groß anfühlte wie der
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Schuppen, in dem wir standen. »Kein Grund zur Sorge, Malik. Du darfst meins haben, bis wir fertig sind.« Cyric nahm mir sein Herz aus der Hand, pflückte die sich windenden weißen Fäden aus dem schmatzenden Klumpen und ließ sie in seinem Mund verschwinden. »Aber es wäre wohl unklug, die hier bei dir zu lassen, nicht wahr? Kaum vorherzusagen, was für Probleme sie dir bereiten würden.« Ich verfolgte, wie er den letzten der Fäden herausklaubte und herunterschluckte, dann fiel ich auf die Knie. »Allmächtiger, ich bin unwürdig! Laß mich mein Herz behalten.« Der Prinz der Lügen faßte mich bei den Schultern. »Hör auf zu jammern.« Er stieß mir die Hand in die Brust, und mit ihr sein fauliges Herz. »Es ist nur zu meinem eigenen Besten.«
Der Zerstörer ritt auf einem Sturm über das Schwertermeer heran, und er konnte Pferdegreife ausmachen, die aus allen Richtungen auf Kerzenburg zuströmten, waren ihre Herren doch darauf bedacht, schnell die Zuflucht zu erreichen, bevor sie noch von einem Blitz vom Himmel geholt würden. Nur noch ein Tier, das große, auf dessen Rücken hinter dem Reiter noch die Harfnerin saß, flog weiter unablässig über der Steppe umher. An diesem Tag hätten sich die Reiter nicht zu sorgen brauchen. Talos hatte nicht vor, Blitze auf sie zu schleudern. An diesem Tag war seine Wut weiter aufs Landesinnere gerichtet, als sie sehen konnten. Sie richtete sich gegen einen Reiter auf einem Pferd, das bereits weiter galoppiert war, als sie sich ausmalten. Auch wenn Tyrs Schutz Talos davon abhielt, dem Reiter ein Leid zuzufügen, war der Zerstörer doch fest entschlossen, den Boden unter den Hufen von dessen Reittier in Schlamm zu verwandeln. Als der Sturm sich donnernd der Küste entgegenwarf, drang ein mächtiges Gebell aus den Wolken hinter ihm zu Talos heran. Es hallte tief und war ohrenbetäubend wie ein Donnerschlag und ließ selbst den Zerstörer frösteln. Kezef nahte.
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Talos ließ aus dem Nichts einige Blitze in seiner Hand erscheinen und schnellte herum, wild entschlossen, die Bestie zu harpunieren, sobald er ihrer gewahr würde. Kezef labte sich am Mark der Gläubigen, und der Tobende hatte überall in seinem Sturm seine Blitze schleudernden, Donnerpauken schlagenden und den Boden mit Sturzbächen von Hagelschlägen aufwühlenden Getreuen bei sich. Ein weiteres langgezogenes Heulen erklang in der wogenden Finsternis. Da schleuderte der Zerstörer seinen ersten Blitz, der Schatten aber sah ihn auf sich zurasen und wich ihm gekonnt seitlich aus. Der Blitz schoß in eine trübe Wolke, und ein silbern leuchtendes Herz erblühte in ihr, als ein unsagbarer Lärm durch den Sturm hallte. »Laß deine Waffen stecken!« Obwohl die Stimme dünn klang, war sie laut wie der tosende Wind, der sie umgab. »Ich will keinen Schaden anrichten.« »Keinen Schaden?« Trotz seines Donnerns senkte Tabs seine Blitze und ließ sie zischend aufs Meer herniederfahren. »Warum lockst du dann Kezef durch einen Orkan meiner Getreuen?« Der Meister aller Diebe trottete über die Kuppe der Wolke, bis er neben Talos stand. »Vergib mir, das war nicht meine Absicht.« Maske legte sich die Hände auf die Knie und verwandelte sich in einen keuchenden Gnoll. »Kezef hatte meine Witterung aufgenommen, als ich in den Sturm geriet.« »Dann verschwinde.« Wieder erhob sich ein Heulen aus den Tiefen des Sturmes, und Maske warf einen Blick in die Gewitterwolken hinter ihnen. »Bald.« Der Fürst der Schatten
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behielt immer noch die Gnollgestalt, denn er konnte seine Stärke gut gebrauchen, wenn er später vor Kezef fliehen würde. »Ich wollte mit dir über den Streit reden, in den du dich da gerade hineinbegibst.« »Ich erzeuge meine Gewitter, wo und wann ich will.« »Dagegen habe ich auch überhaupt nichts«, antwortete Maske. »Aber es mutet schändlich an, solch einen Aufwand an einen Sterblichen zu verschwenden, den du noch nicht einmal töten kannst.« »Ich muß ihn ja auch gar nicht töten, nur ein bißchen behindern.« Der Meister aller Diebe nickte. »Dann sind wir offenbar zum selben Schluß gekommen. Malik ist immer noch hinter der Cyrinishad her.« »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« Während Talos diese Worte sprach, begannen die ersten Ausläufer der Gewitterfront über Kerzenburg hinwegzurollen. In Gedanken wies er seine Getreuen an, die Donnerpauken zu rühren und Blitze auf die Küste hinabregnen zu lassen, dann wandte er sich wieder dem Meister aller Diebe zu. »Aber ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum Cyric ihm solch ein Pferd geben sollte.« »Stimmt, aber das hier ist so ... offensichtlich.« Maske wedelte mit einem Arm in Richtung des Sturms. »Selbst wenn Tyr dich nicht aufhält, wird Cyric selbst eigene Maßnahmen einleiten.« Talos zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht ändern.« »Nein, aber vielleicht würde sich etwas mehr Subtilität als wirksamer erweisen – und vielleicht auch deinen Vorstoß gegen Mystra etwas vorantreiben.«
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Aus dem Inneren des Sturms drang das Kreischen einer gequälten Seele, gefolgt von einem langen, zufriedenen Geheul. Der Zerstörer sah Maske finster ins Gesicht. »Sag, was du zu sagen hast, und verschwinde. Wenn ich noch einen Anhänger verliere, dann könnte ich vergessen, daß dir die Höflichkeit zukommt, die Göttern gebührt.« »Wie du willst.« Der Meister aller Diebe wies auf die Harfnerin und ihren Gefährten, die auch jetzt noch auf ihrem Pferdegreif hoch über der Steppe dahinfegten. »Da siehst du, wie entschlossen die Hexe ist, Malik zu schnappen. Vielleicht könnte sie Hilfe brauchen.« »Einer Anhängerin der Herrin der Mysterien helfen? Niemals.« »Du bist wütend darüber, daß die Herrin der Mysterien die Zerstörungsmagie geschwächt hat?« Talos gab keine Antwort, denn diese Frage verdiente keine. Die Magie hatte ihre Vernichtungskraft fast völlig eingebüßt, und die Lage war bereits so aussichtslos, daß der Zerstörer schon oftmals einen Avatar als neuen Gott ausgegeben und hinab entsandt hatte, um die Lehre von der Magie der Wildheit und Verwüstung in der Welt zu verbreiten. Als Maske keine Antwort erhielt, sagte er: »Nicht immer ist die beste Möglichkeit, einen Feind zu überwinden, ihn zu bekämpfen. Manchmal ist es besser, ihn zu bestehlen.« Talos schenkte Maske einen langen Blick. »Was kümmern dich meine Händel mit Mystra?« »Nichts.« Ein ohrenbetäubendes Heulen erklang aus dem Inneren der Gewitterwolke, aus der Maske aufge-
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taucht war. Er schlotterte, hielt seinen Blick aber weiter auf Talos gerichtet. »Ich bin hinter dem Prinzen der Lügen her. Bis ich mir wiedergeholt habe, was er mir geraubt hat, werde ich nie über die nötige Stärke verfügen, um Kezef loszuwerden.« Die Augen des Zerstörers verengten sich. »Aber Tyr hat die Verfahren aufgespalten. Um Beweise gegen den Prinzen der Lügen zu finden, müssen wir jetzt nicht auch gleichzeitig welche gegen Mystra und Kelemvor ausgraben.« »Zu spät, was mich angeht«, erwiderte der Meister aller Diebe. »Ich habe bereits eine Falle für Kelemvor ausgelegt, und ich will auch nicht, daß Mystra nach dem Prozeß Rache nimmt. Mir ginge es schlechter als zuvor, es sei denn, sie würden beide gemeinsam mit dem Prinzen der Lügen abgesetzt.« Der Zerstörer lächelte und schüttelte den Kopf. »War es nicht eines dieser Ränkespiele, das dir Kezef überhaupt erst auf den Hals gehetzt hat?« »Das war nicht mein Fehler! Wie sollte ich denn ahnen, daß der Unvoreingenommene die beiden Verfahren trennen würde?« Fast schrie der Meister aller Diebe. »Ganz nebenbei ist es wahrscheinlicher, daß das Urteil gegen Cyric ausfällt, wenn der Rat sich zuvor bereits gegen Mystra und Kelemvor ausgesprochen hat.« »Wie gewöhnlich hast du dich mal wieder in deinen eigenen Ränken verstrickt.« Talos sah zu, wie die Harfnerin und ihr Kamerad ihren Pferdegreif landen ließen und abstiegen; der Sturm peitschte jetzt über die Steppe, und nicht einmal der tapferste Reiter würde einen Flug durch eine solche Ge-
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witterfront wagen. »Ich wüßte nicht, warum ich mich mit dir einlassen sollte.« »Nicht einmal, um dir die Herrin der Mysterien vom Hals zu schaffen?« Ein gewaltiges Heulen brach durch die Wolken und übertönte fast die Frage des Schattenfürsten. Kezef platzte aus einer fernen Gewitterwolke hervor. Zwischen seinen geifernden Kiefern hingen noch die zappelnden Überreste eines von Talos’ Getreuen. Maske hielt den Blick weiter auf Talos gerichtet, noch suchte er sein Heil nicht in der Flucht. »Selbst wenn es schlecht für mich läuft, wird dir niemand einen Strick daraus drehen. Es wird aussehen, als hättest du bloß versucht, Cyric aufzuhalten.« Jetzt warf Maske einen Blick auf Kezef, der die Sturmwolken bald hier, bald dort prüfend mit der Nase durchpflügte – wie ein Jagdhund verließ auch er sich oftmals selbst dann auf seine Nase, wenn ihm seine Augen bessere Dienste geleistet hätten. Talos dachte über den Plan des Schattenfürsten nach und gab dann seinen Getreuen den Befehl, keine Blitze in Richtung der Hexe zu schleudern. »Meine Magie ist nicht dieselbe wie die der Herrin der Mysterien«, gab er bekannt. »Wenn ich Ruhas Kräfte stärke, dann wird sie spüren, daß etwas nicht stimmt.« Ein weiteres machtvolles Bellen entrang sich der Kehle des Chaoshundes, dann schleuderte er Talos’ halbverschlungenen Anhänger von sich und kam mit großen Sätzen über die Wolken herangesprungen. »Laß das, was Ruha weiß, meine Sorge sein.« Maske
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trat an die Kante der Wolke und spähte in die tosende Finsternis unter dem Sturm. »Gib ihr nur die Kraft, Malik zu fangen.« Dann sprang er.
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Jeder Gott hat seinen ganz persönlichen Liebling unter allen Sterblichen, und in Mystras Fall war das Adon der Geck. Er war vor mehr als dreißig Jahren in eine reiche Familie in Sembia hineingeboren worden, und bis zum Alter von fünfzehn Jahren war sein Leben eines der Faulheit und des Überflusses gewesen. Bei jedem Jungen dieses Alters erwächst in dieser Zeit eine normale Besessenheit in bezug auf weibliche Reize, und so schloß er sich der Kirche Sune Feuerhaars an. Hier erlernte er alle Spielarten der Liebe: die Verzauberungsmagie, die Kunst der Körperpflege und die des Nahkampfs. Diese Talente waren es letztlich auch, die Cyric und Kelemvor seine Gegenwart erträglich machten und dazu führten, daß er zugegen war, als sie auf Mitternacht, wie Mystra damals noch hieß, trafen und gemeinsam ihre Suche nach den Tafeln des Schicksals begannen. Schon sehr bald auf ihrer Reise mußte Adon das schrecklichste Schicksal erleiden, das einen Kleriker Sunes, der Wankelmütigen und Schönen, ereilen konnte: Ein Verrückter zerschnitt ihm das Gesicht und verursachte ihm eine häßliche Narbe. Da er die Narbe als Zeichen von Sunes Mißfallen deutete, verlor der Geck seinen Glauben und wandte sich von der Kirche der
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Anmut ab. Doch seinen Freunden war er treu wie ein Hund seinem Herrn, und in den vielen Kämpfen, die sie durchzustehen hatten, retteten Mitternacht und er einander hundertfach das Leben. Er war es, der in Tiefwasser ihre Blutungen stoppte, nachdem Cyric auf sie eingestochen und ihr die Schicksalstafeln entwendet hatte, und als die verlogene Hure Ao überredet hatte, sie zur Göttin der Magie zu machen, war er der erste gewesen, der ihr die Treue schwor. In der Folgezeit widmete er sich dem Einsammeln von Gläubigen für die Kirche der Mysterien. Mystra dankte es ihm mit vielerlei Gaben, von denen nicht die Geringste war, daß sie ihn zu ihrem Patriarchen machte. Auch erschien sie ihm vor den Augen anderer, auf daß alle wissen mochten, daß Adon ein Günstling der Götter war, und so wurde er ein hochgeschätzter Gast an den Höfen der Reichen und Mächtigen. Nie war dies mehr der Fall als während der Freudenriten. Eingedenk der Liebe zwischen Kelemvor und Mystra war das Sterben zu einer Zeit voller Wunder geworden. Wenn der Verblichene ein tugendhaftes Leben hinter sich hatte und ein Kleriker Mystras im Augenblick des Todes anwesend war, dann geschah es bisweilen, daß sich alle möglichen Wunder ereigneten. Jedem, der einen kleinen Wunsch hatte, wurde er erfüllt, vorausgesetzt, daß er gerecht und zum Wohle eines anderen war. Unter denen, die solche Torheiten wie Mitgefühl und Nächstenliebe schätzten, wurden die Riten als sicheres Zeichen für das Wohlergehen des Verstorbenen im Leben nach dem Tode angesehen. Adon hatte in den vergangenen Jahren an Hunderten
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dieser Riten teilgenommen, aber irgend etwas im Hause Bhaskar ließ ihn sich unwohl fühlen. War es vielleicht Pandara Bhaskar selbst, die nicht, wie es sich für eine liebende Ehefrau gehörte, bei ihrem sterbenden Gatten saß, sondern an Adons Seite klebte und ihn ihren auserlesenen Gästen präsentierte? Von denen gab es hier eine ganze Menge, unter ihnen die Fürstmarschallin Yanseldara und ihre gute Freundin Vaerana Falklyn, Prinz Tang, Thunsroon Frostbryn und ein Dutzend weitere, die sich durch großzügige Spenden sehr um die Errichtung des neuen Tempels der Mystra in Elversult verdient gemacht hatten. Damit alle Gäste dem Augenblick des Todes beiwohnen konnten, war das Sterbelager des armen Nadisu auf ein Podium in der Banketthalle verlegt worden, wo er über der Gruppe von Musikanten, Tänzerinnen, Akrobaten und Jongleuren weithin sichtbar war, die engagiert worden waren, um die Feierlichkeiten aufzuheitern. Auch mußten die Gäste nicht hungern, während sie auf Nadisus Dahinscheiden warteten; das Essen, unter dessen Gewicht sich die Tafel bog, hätte die Bedürftigen von Elversult eine Woche lang ernähren können – aber Pandara hatte selbstverständlich nicht einen einzigen Bettler zur Feier geladen. Ihr Mann hatte zu Lebzeiten so viel für die Armen getan, daß er verdient hätte, in Würde zu entschlafen, so hatte sie Adon erklärt. Die Reste würden ins Armenviertel gebracht und dort an die Hungernden verteilt werden. War es die Pracht der Feierlichkeiten, die Adon Unbehagen bereitete? Schließlich war nichts von der Melancholie zu spüren, die selbst für die glücklichsten Riten
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typisch war. Oder war es einfach nur dieses seltsame Jucken unter seinem Sternenring, einem schmucklosen, wenngleich mit einem Rohdiamanten besetzten goldenen Reif? Mystra hatte ihn ihm gegeben, um ihn vor Cyrics Getreuen zu schützen, die ständig versuchten, die Gunst des Einen zu erringen, indem sie den Patriarchen erschlugen. Wann immer ein Attentäter sich näherte, begann der Diamant wie ein leuchtender Stern zu funkeln, und der Reif wurde heiß. Aber gejuckt hatte er noch nie; Adon wußte nicht, ob es eine Warnung war oder eine schlichte Hautreizung, wie sie nun einmal unter Ringen auftrat. Pandara zog Adon zu einer Menschenmenge, die sich um ein Schleiertänzerpaar versammelt hatte, und machte neben einem Gast in einer Gazerobe halt. Von schwüler Schönheit und üppig proportioniert schaute die Dame zum Patriarchen hinüber und lächelte, und sein Ringfinger begann nun merklich stärker zu jucken. »Adon, darf ich dir Usreena Juepara vorstellen«, sagte Pandara. »Ich glaube, sie ist ... eine Bewunderin deiner Göttin.« »Sogar eine Anhängerin.« Usreena Juepara reichte Adon die Hand zum Kuß. »Was nicht heißen soll, daß ich einer ihrer Günstlinge wäre.« »Es ist mir eine Freude.« Adon verbeugte sich vor Usreena, nahm ihre Hand aber nicht. »Du mußt bald den Tempel besuchen. Er ist fast fertig. Wenn du mich nun entschuldigst, ich muß zu Nadisu. Schließlich ist dies ein Fest zu seinen Ehren.« Damit machte sich Adon zum vorderen Teil der Halle auf. Pandara ergriff seinen Arm und ließ sich von ihm
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mitziehen. »Also wirklich! Weißt du nicht, wer das eben war?« »Doch«, antwortete Adon. Er hielt inne und sah Pandara ins Gesicht, dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Und ich muß sagen, ich bin in großer Sorge, was den Ritus deines Ehemannes angeht. Du hast bei weitem zu viele Leute von Usreenas Schlag eingeladen.« Pandara Bhaskar riß sich los. »Was meinst du denn damit?« Ihr Aufbegehren war so schrill, daß einige umstehende Gäste sich umwandten und sie anstarrten. Unter ihnen waren sehr viele, die Mystras neuem Tempel große Spenden hatten zukommen lassen, aber Adon konnte vor der Wahrheit nicht zurückschrecken. »Etwas fühlt sich hier nicht gut an.« Während er sprach, befingerte er seinen Ring. »Die Freudenriten ehren die Sterbenden. Sie sind nicht dazu da, seine Freunde zu beeindrucken.« Pandara Bhaskars Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wie kannst du es wagen! Ich bin mir bewußt, wieviel Nadisu für den Bau des Mystratempels gespendet hat, auch wenn du es offenbar nicht bist.« »Das bin ich – deshalb will ich ehrlich zu dir sein.« Der gesamte Bankettsaal war verstummt, und alle Augen waren auf Adon und Pandara gerichtet – außer natürlich die Nadisus. »Die Freudenriten wurden von Mystra und Kelemvor denen gestiftet, die sie für würdig befinden. Ich habe auf diese Entscheidung keinen Einfluß.« Pandara sah sich in der Halle um, dann wurde ihr Gesicht zornig. »Was meinst du damit? Willst du noch mehr Geld?«
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Adon schüttelte den Kopf. »Nein. Es würde keinen Unterschied machen.« Er nahm Pandara bei der Hand und sprach dann in seiner tröstlichsten Stimme zu ihr: »Ich versuche dir lediglich zu erklären, daß sich etwas hier nicht richtig anfühlt. Ich empfange ein Zeichen. Die Pracht des Festes könnte den Fürsten der Toten erzürnt haben, oder vielleicht ist die Herrin der Mysterien nicht willens, so viele Wünsche zu erfüllen. Es ist sogar möglich, daß Nadisus Zeit noch nicht gekommen ist. Womöglich erholt er sich ebenso schnell wieder von seinem Leiden, wie er erkrankt ist.« Pandara entriß ihm ihre Hände. »Mach dich nicht lächerlich! Natürlich wird Nadisu sterben! Sein Gesicht ist grün wie Schimmel, und die Ringe unter seinen Augen sind so dunkel wie eine Krähe am Bauch.« Adon machte große Augen. »Du scheinst es ja nicht mehr erwarten zu können.« »Na und?« Da war keine Liebe in Pandaras Stimme, und seltsamerweise erleichterte Adon das im selben Maße, wie es ihn verblüffte. Vielleicht hatte ihre Selbstsucht sein Unwohlsein verursacht; es wäre sicher nicht das erste Mal, daß ein guter Mensch einen verderbten geheiratet hätte. »Nadisu wird im Leben nach dem Tode doch viel glücklicher sein, nicht wahr?« wollte Pandara wissen. »Geht es nicht darum bei den Riten?« »Die Riten selbst bewirken das nicht«, erklärte Adon. »Sie sind nur ein Symbol ...« Vom Thron her erklang ein gräßliches Keuchen, gefolgt von einem rasselnden Stöhnen. Nadisu setzte sich auf und sah sich verwirrt im Saal um. Sein Mondgesicht
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hatte die Farbe einer Wassermelone, seine Augen lagen dunkel und tief wie Brunnenschächte in den Höhlen. »Pan...dara!« röchelte er. Seine trockenen Lippen waren rissig und bluteten. »Komm ... her!« Nadisu fiel zurück auf sein Lager und stieß ein ersticktes Gurgeln aus. Adon nahm Pandaras Arm und führte sie zum Podium, die Frau aber befreite sich und schüttelte den Kopf. »Nein – geh du.« Die Angst in ihren Augen war die erste wahrnehmbare Gefühlsregung gegenüber ihrem Mann. »Ich will ihn nicht sehen ... nicht so.« »Aber er hat nach dir gerufen. Es könnte sein letzter ...« »Ich will nicht!« Pandara schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich ab; Adon sah mißbilligend ihren Rücken an. Yanseldara trat zu Adon. »Ich denke, es ist soweit. Du solltest zu Nadisu gehen.« Adon konnte die Fürstmarschallin kaum hören, so sehr war er mit Pandaras seltsamem Verhalten beschäftigt. Selbst wenn sie nichts für ihren Mann empfand, sollte man meinen, daß sie den Anschein wahren wollte. »Was ist los?« fragte Adon. »Hast du Angst vor deinem Mann?« Pandara fand den Mut, sich umzudrehen, sie weinte. »Natürlich nicht. Ich will nur nicht ...« Sie schwieg einen Moment, blickte in die Runde der Würdenträger, die sie beobachteten, und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich will nicht, daß Nadisu mich so in Erinnerung behält.« Ob dieser Lüge verfinsterte sich Adons Blick; was
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immer es war, das Pandara zu verbergen hatte, es brachte seinen Finger mehr denn je zum Jucken. Ein langes, rasselndes Schnaufen erklang vom Bett her. Dann trat eine Dienerin an den Rand des Lagers. »Es ist soweit!« Yanseldara nahm Adons Arm. »Solltest du nicht zu ihm gehen?« Adon entgegnete kopfschüttelnd: »Ich glaube nicht, daß es geschieht. Pandara verbirgt etwas vor uns.« Yanseldara kam näher an Adons Ohr, während sie ihn in Richtung des Podiums schob. »Pandara ist halb verrückt«, flüsterte die Fürstmarschallin. »Sie ist die Hälfte der Zeit in den Mondtürmen, aber Nadisu hat sich nie darüber beklagt, und er hat mehr getan, um die Armen zu speisen als sonst irgendwer in dieser Stadt. Ich würde es sehr schätzen, wenn du an seinem Lager stündest, wenn er von uns geht.« »Wie du willst«, seufzte Adon. »Es wird mir nichts schaden, dort zu sein, solang du dich daran entsinnst, daß man mit Geld ...« »Danke.« Yanseldara ließ ihn los. In Anbetracht der Tatsache, daß Yanseldaras Wort in dieser Stadt Gesetz war und daß sie ihm höchstpersönlich das Land übertragen hatte, auf dem der Tempel errichtet wurde, konnte Adon nur hoffen, daß die Fürstmarschallin es ihm nicht nachtragen würde, wenn Mystra und Kelemvor Nadisu die Riten vorenthalten würden. Sich der vielen auf ihn gerichteten Augen bewußt erklomm er die Stufen und trat ans Lager des Sterbenden. Ein furchtbarer Gestank lag in der Luft, und die Laken waren mit ekelhaften Ausscheidungen beschmiert,
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die aus den Poren von Nadisus aufgeblähtem Leib rannen. Die Fingerspitzen des Dahinsiechenden hatten sich schwärzlich verfärbt und waren abgefault. Adon konnte sich nicht vorstellen, was für eine Krankheit den armen Mann befallen haben könnte, am Morgen war der Kerl ja noch gesund gewesen wie ein junges Reh. Nadisus Lider öffneten sich zitternd, seine Augen aber wirkten nur noch wie zwei schwarze Löcher. Er hob die geschwollene Hand. »Pandara?« Adon setzte sich auf die Bettkante und nahm seine Hand. Nadisus Haut fühlte sich schuppig an, das Gewebe darunter erschien ihm weich und schwammig. »Nein. Ich bin es.« »Adon?« Nadisu umklammerte die Hand des Patriarchen und zog sich daran hoch, dann hob er den Blick zur Kassettendecke. »Vergib mir! Vergib meinem ungläubigen Herzen!« Verblüfftes Gemurmel erfüllte den Saal. Pandara stieß einen spitzen Schrei aus und sank in einen Stuhl, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Jeder hier im Raum, ob Künstler, Diener oder Ehrengast, hatte die Augen starr auf das Podium gerichtet, und Adons Sternenring wurde heiß. Er versuchte vergeblich, seine Hand loszureißen, denn Nadisus Griff war so fest wie der eines Ogers. Der Diamant erstrahlte warnend, und Strahlen silbrigen Lichts schienen durch Nadisus Finger hindurch und tanzten über die Decke des Saals. Jemand rief: »Seht! Die Riten!« Stille senkte sich über die Halle herab, als Pandaras Gäste ihre kleinen Wünsche formulierten, Adon aber wußte, daß er ein Problem hatte. Sein Ring war so heiß
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geworden, daß er förmlich spürte, wie er seine Haut verbrannte. Er rammte seine freie Hand in Nadisus Gesicht. »He!« schrie jemand auf. »Ist das Teil der Riten?« Nadisus Griff blieb so fest wie ehedem, und sein Blick war nun auf Adons Gesicht gerichtete. »Cyric, Einer, Einziger! Nimm mich wieder auf!« Obschon Nadisu in tausend Stimmen zugleich sprach, waren sie allesamt kaum mehr als ein Flüstern, so leise, daß von all den Leuten in der Halle nur Adon hören konnte, was er gesagt hatte. Der Patriarch griff über seinen Leib hinweg und zog seinen Streitkolben vom Gürtel. »Was tut er da?« schrie jemand. Nadisus eingefallene Augen quollen aus den Höhlen, sie waren finster wie ein Grab und tausendmal so tief. Als Adon in sie blickte, wallte zähe Tintenschwärze aus ihren Tiefen auf und drohte ihn zu verschlingen. »Haltet ihn auf!« schrie jemand. Adon schwang seinen Streitkolben und spürte, wie er tief in Nadisus aufgedunsenen Kopf eindrang. Jetzt war das Gold seines Sternenrings schon so heiß, daß es ihm die Haut am Finger wegbrannte. Er rief nach seiner Göttin. »Herrin der Mysterien!« Herrin der Mysterien? Adon hörte, wie das Wort in seinem Kopf widerhallte, die Stimme klang scharf, fauchend und grausam, und er erkannte sie wieder, von damals, mehr als ein Jahrzehnt zuvor. Wie du willst, alter Freund – aber ich muß dich warnen, sie hat sich verändert. Meine Güte, hat die sich verändert! Die Stimme war natürlich die Cyrics. Er hatte es noch
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nicht ganz ausgesprochen, da erschien Mystra auch schon in der Finsternis und sauste auf Adon zu, die langen schwarzen Locken wirbelten hinter ihr, faulig und beißend wie Qualm. Sie trug ein dünnes schwarzes Kleid, das an ihrem abgehärmten Körper klebte wie feuchte Seide. Ihre Jochbeine ragten durch die ledrige Haut hindurch, die sich über ihr Gesicht spannte. Ihr lippenloser Mund war weit aufgerissen und gab den Blick auf zwei Reihen blutverschmierter Fänge frei. Der Haß in ihren Augen troff in langen, gewundenen Zungen aus ihren Pupillen, und als sie nach ihrem Patriarchen griff, tat sie es mit bluttriefenden Klauen. Adon schrie und riß die Arme vor das Gesicht, hatte er doch das wahre Antlitz Mystras geschaut. Jetzt erkannte er in ihr die mordgierige Metze, die sie war. Sie trachtete ihm nach dem Leben, wie sie alle tötete, die ihrem Geheimnis auf die Schliche kamen, und sie hatte sogar vor, jegliche Erinnerung an seine bloße Existenz vom Angesicht Faerûns zu fegen. Er stolperte zurück, fiel vom Podest, und als er mit dem Kopf aufschlug, ertönte ein lautes Krachen, das den Saal zum Verstummen brachte. Jetzt siehst du sie so, wie ich sie sehe, kicherte Cyric. Nicht so hübsch, oder? Adon konnte die Worte des Einen nicht mehr hören, denn er lag auf dem Marmorboden, hatte sich zusammengerollt und hielt seine blutige Waffe fest umklammert. Der Sternenring hatte seinen Finger zu einem verkohlten Stummel werden lassen und war abgefallen. Sein Blick war auf einen Punkt weit jenseits der Mauern des Hauses Bhaskar gerichtet. Immer wieder fragte er sich:
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»Warum haßt sie mich? Warum?« Er merkte nicht, daß er sich bei seinem Sturz den Arm gebrochen hatte, und auch nicht, daß Vaerana Hawklyn sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte und an seiner Seite niedergekniet war. »Bei Torm!« Sie klaubte den blutverschmierten Streitkolben aus seinen Fingern. »Er hat den Verstand verloren!«
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Die Spur des Höllenpferds – denn das war es, was Ruha über das Vieh dachte, das sie verfolgten – führte geradewegs in den Scharfzahnwald. Schon vom Waldrand aus konnte sie in die Schneise hineinsehen, die es durch das Unterholz gefräst hatte, und auf der gesamten Strecke gab es keine einzige Wegbiegung. Das Pferd lief die ganze Zeit stracks nach Osten und wich nie mehr als ein oder zwei Schritte von seinem Kurs ab. Ruha kehrte dem Wald den Rücken und ging wieder zurück zu ihrem Gefährten, einem hochgewachsenen und gutaussehenden Pferdegreifenreiter namens Zale. Er hatte sich abseits vom Waldrand in einem blutroten Kreis hingekniet, denn hier hatte das Höllenpferd etwas gerissen. Es hatte seine Beute fast vollständig verschlungen und nur zehn lange Klauen, ein Paar scharfer Fänge und das Blut auf dem Boden übriggelassen. »Wie lang ist es her?« fragte sie, als sie den roten Kreis betrat. »Sechs Stunden mindestens.« Zale zerrieb einen Klumpen blutroten Drecks zwischen den Fingern. »Das kann nicht unser Mann sein. Wir reiten einen Pferdegreif! Niemand kann uns so weit voraus sein.« »Er ist es.«
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Ruha befühlte die Harfnerfibel, die nun die Brust ihrer Wechselaba zierte. Nachdem sie vom Signalfeuer eines der Kundschafter zu dem Viehstall geführt worden waren, hatte sie die Brosche aus einem Haufen blutigen Ziegenmistes gezogen und Rache geschworen, sowohl für die Respektlosigkeit gegenüber Harfe und Mond als auch für den Tod des alten Mannes, der zertrampelt im Hof gelegen hatte. Zale und Ruha hatten sich augenblicklich an die Fersen des Höllenpferdes geheftet, aber es lief so schnell, daß sie bisher noch nicht einmal einen einzigen Blick auf es hatten erhaschen können. Aus der Tiefe des Waldes erklang ein langgestrecktes Heulen, ebenso geisterhaft wie beängstigend. Noch einmal warf Ruha einen Blick auf die düstere Schneise, dann auf Zales Pferdegreif. Das Tier hockte in erhabener Pose auf dem Boden, die mächtigen Schwingen zusammengefaltet an die Flanken seines Pferdekörpers gelegt, den gewaltigen Adlerkopf stolz und hoch erhoben. »Kann Silberwolke durch den Wald fliegen?« fragte die Harfnerin. »Er sieht mir ziemlich überwuchert aus.« »Wir werden ihn wohl überfliegen und bei jeder Lichtung heruntergehen müssen, um ihnen auf der Spur zu bleiben.« Zale spähte gen Westen, wo die Sonne hinter den Gewitterwolken versank, die ihnen schon den ganzen Tag über auf dem Fuß folgten. »Aber heute spielt sich da nichts mehr ab. Silberwolke ist müde, und wenn dieses Unwetter über uns hereinbricht, während wir über dem Wald fliegen, dann stecken wir wirklich in Schwierigkeiten.« Ruha blickte finster drein, auch wenn Zale das hinter ihrem dunklen Schleier nicht erkennen konnte. »Wenn
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wir warten, fangen wir den Mörder nie. Er hat ohnehin schon einen ziemlichen Vorsprung.« »Ich weiß«, sagte Zale. »Ich will ihn ja auch zu fassen kriegen – aber nicht, wenn es mich Silberwolke kostet. Diesen kleinen Bettler einzufangen macht Rinda und Gwydion nicht wieder lebendig, und den Mann vom Bauernhof auch nicht.« In dem Augenblick zerriß ein Blitz die Finsternis im Inneren des fernen Sturms, ein Donnergrollen fegte über den Himmel und ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern. Silberwolke stieß einen Schrei aus, breitete die Schwingen aus und legte sich flach ins Gras. Der Blick, den er Zale zuwarf, legte beredtes Zeugnis davon ab, was Pferdegreife von Gewitterstürmen über offenem Gelände hielten. Aus dem Scharfzahnwald erklang ein weiteres düsteres Jaulen, aber Ruha schenkte dem weniger Aufmerksamkeit als eben noch dem Donner. »Was du sagst, ist vollkommen richtig, Zale, aber Malik ist kein gewöhnlicher Dieb. Als Pelias ihn nach Kerzenburg gebracht hatte, sah er aus, als hätte ihn ein Löwe zerfleischt, und doch durchschwamm er einen Burggraben voll kochenden Wassers, und doch erklomm er den Bewahrerturm. Anschließend tötete er noch Rinda und Gwydion – was zuvor schon Hunderte von Cyrics Meuchlern vergeblich versucht hatten.« »Ich weiß.« Zale erhob sich und ging hinüber zu Silberwolke. Er nahm seine Zügel, denn nun hallte ein stetes Donnergrollen über die Ebene. »Dann wäre da noch seine Flucht aus dem Kerker.« Dies trieb Ruha das Feuer in die Wangen, denn Be-
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dinfrauen waren es nicht gewohnt, ihre Gesichter zu zeigen – ganz zu schweigen von ihren nackten Leibern, und es hatte sie sehr beschämt, derart offenbart worden zu sein. Dieser Schande war es auch zu danken, daß sie sich so entschlossen zeigte, die Morde an den Trägern der Cyrinishad zu rächen, auch wenn sie ihrem Gefährten dies verschwiegen hatte. »Cyric hat diesem Mörder geholfen. Das ist die einzige Erklärung für alles, was wir gesehen haben, und wenn Cyric ihm geholfen hat, dann gibt es einen Grund für das, was er gerade tut.« »Welcher wäre das?« Die Harfnerin schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, aber er würde die Cyrinishad nicht ohne guten Grund aufgeben. Wenn wir es nicht bald herausfinden, dann werden wir nicht die einzigen sein, die unser Versagen bedauern werden.« Die Harfnerin erzählte Zale nichts über ihre Vision von mir, mußte sie doch vor langer Zeit schon lernen, daß nur wenige Verständnis für ihren Fluch aufbrachten. Entweder gaben sie ihr die Schuld für das Unglück, das sie in ihren Eingebungen vorhersah, oder aber sie wurden wütend, weil sie sie nicht vor irgendeiner anderen Katastrophe gewarnt hatte. Das düstere Geheul hallte im Wald wider, diesmal erschien es noch näher. Silberwolke hob den Kopf, öffnete den riesigen Schnabel und fauchte den Wald an. Zale hielt die Zügel noch fester und zog den Kopf des Pferdegreifen wieder nach unten. »Vielleicht hast du recht, aber was macht das für einen Unterschied? Selbst wenn wir den Flug wagten,
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könnten wir in der Finsternis keiner Spur folgen.« Die Harfnerin hob eine Braue. »Du würdest es riskieren, wenn wir die Spur sehen könnten?« Zale schaute auf die herannahenden Unwetterwolken und nickte. »Ich tu’s – aber wir sollten uns ranhalten.« »Du bist ein tapferer Mann.« Die Harfnerin ging zu ihm. »Darf ich mir deinen Feuerstein und den Stahl ausleihen?« Zale kramte die Sachen aus seiner Satteltasche und gab sie ihr. Ruha ging an die Stelle, wo die Spur des Höllenpferds verlief, schloß die Augen und schlug mit Feuerstein und Stahl einen Funken, während sie gleichzeitig die Formel für einen Feuerzauber rezitierte. Die Welt blitzte silbrig auf, dann riß ein ohrenbetäubender Donnerschlag sie von den Beinen. Ruha fand sich auf dem Boden sitzend wieder, es hämmerte in ihren Schläfen, und ihre Nase war erfüllt vom Geruch verbrannten Grases. Ein Schleier aus weißen Punkten drehte sich vor ihren Augen. Tausend Glocken klangen ihr in den Ohren, und sie konnte ihre Muskeln nicht dazu bringen, zu zucken aufzuhören. Die Luft erschien ihr rauchgeschwängert und furchtbar heiß. »Ruha!« Zales Stimme war durch das Klingen in den Ohren der Hexe kaum zu hören. »Bist du verletzt?« Zale griff ihr unter die Arme und zog sie über den Boden. Nach und nach verschwanden die silbernen Flecken, ihre Muskelzuckungen und das Klingeln in ihren Ohren, und dann erkannte sie, was der Grund dafür war, daß die Luft so heiß und voller Rauch zu sein schien: Ihr Zauber hatte eine Flammenwand die Spur des Höllenpferdes entlangjagen lassen!
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Die Feuerwand hatte den Wald auf beiden Seiten der Schneise in Brand gesetzt, und nun fraßen sich zwei gigantische Flammenteppiche in entgegengesetzte Richtungen in den Wald. Der Himmel über dem Forst hatte sich vor lauter fliehenden Vögeln verfinstert. Die Luft war erfüllt vom Krachen und Knistern von Tieren, die blindlings durchs Unterholz flohen. Ein weiteres Mal ertönte ein leidend vorgetragenes Jaulen im Wald, noch näher und noch gespenstischer als zuvor. »Zale, was ist passiert?« stieß Ruha hervor. »Ein Blitz«, gab Zale zurück. »Er schlug ein, als du deinen Zauber sprachst.« »Das war ich?« Die Hexe griff nach Zales Arm und zog sich hoch, dann schob sie ihn in Richtung dieser Mimose von einem Pferdegreif. »Bring mir etwas Wasser!« Als der Reiter sich in Bewegung setzen wollte, um ihrer Bitte Folge zu leisten, ertönte eine Frauenstimme aus dem brennenden Wald. »Bemüh dich nicht.« Die Worte waren gleichermaßen tröstlich wie fordernd, so machtvoll wie ein Donnerschlag und so sanft wie eine Liebkosung. »Das Feuer wird sich um sich selbst kümmern.« Eine dunkelhaarige Frau von unvorstellbarer Schönheit entstieg dem Qualm, ihre Haut war blaß und strahlend, die Augen glänzten wie Ebenholz. Sie trug ein einfaches Kleid aus schwerer, schwarzer Seide, an der Taille zusammengehalten vom heiligen Netz der Herrin der Mysterien. Ruha und Zale fielen auf der Stelle auf die Knie, die Münder standen ihnen vor Ehrfurcht offen. Bevor sie auch nur ein Sterbenswörtchen sagen konnten, hob die Frau schon zu sprechen an. »Keine Namen.
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Wir möchten doch nicht die Aufmerksamkeit des Feindes erregen, oder?« Ruha und Zale tauschten Blicke und schwiegen. Ein klagendes Heulen scholl durch den Wald. Die Frau warf einen besorgten Blick über ihre Schulter; ganz gleich, welche Gestalt Maske auch annahm, welcher Gott er auch zu sein vorgab, der Chaoshund folgte ihm stets auf dem Fuße. Maske blieb vor den beiden stehen und bedeutete Ruha aufzustehen. »Der Feind hat sein Schoßtier auf mich gehetzt«, sagte Maske, noch immer mit der Stimme Mystras. »Ich habe leider nicht viel Zeit, aber wisset dies: Was ich dir heute nacht geschenkt habe, habe ich dir aus gutem Grund geschenkt. Selbst wenn es die Kraft besitzt, ein ganzes Königreich zu vernichten, darfst du niemals zögern, es einzusetzen. Es steht mehr auf dem Spiel, als du dir vorstellen kannst, und ganz gleich, was du auch auslöschen magst, es wird nichts sein im Vergleich zu dem, was du dadurch rettest. Verstehst du?« »Ja, Mut ...« Der Meister aller Diebe legte seinen Frauenfinger auf Ruhas Schleier, denn er wollte nicht, daß die Hexe die Aufmerksamkeit der Herrin der Mysterien erregte. »Keine Namen.« »Ja, Herrin.« »Gut.« Ein wildes Knurren erklang am Rand des brennenden Waldes. Dann ertönte ein furchtbares Krachen, und ein riesiger, unförmiger Schatten sprang aus dem Rauch hervor. Maske legte eine Hand auf Ruhas Schulter und die andere auf die Zales, dann drängte er sie beide in
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Richtung Silberwolke. »Geht!« Die beiden hasteten zu ihrem Reittier und schwangen sich auf dessen Rücken. Ein grauenerregendes Knurren erklang dort, wo sie eben noch gestanden hatten. Noch bevor Zale den Befehl dazu gab, hatte Silberwolke schon die Schwingen erhoben und sich vom Boden abgestoßen. Ruha zog einen Kieselstein aus der Tasche und rief sich die Formel für einen Sandzauber ins Gedächtnis, als sie aber wieder in Richtung des brennenden Waldes beidrehte, sah sie, daß Mystra verschwunden war, als wäre sie nie dagewesen. Jetzt war dort ein riesiger Mastiff zu sehen, der den Boden anheulte und mit den Klauen bearbeitete. Die Bestie war groß wie ein Zugpferd, von einem Pelz aus wimmelnden Maden bedeckt, und in seinen rabenschwarzen Zähnen hingen Reste verwesten Fleisches. Seine gelben Augen funkelten vor Gottlosigkeit jenseits aller menschlichen Maßstäbe. Fäden blubbernden, grünlichen Gifts troffen von seiner gewundenen Zunge. »Mystra hatte recht«, bemerkte Zale. »Der Feind ist wahrlich grauenhaft.« »Dies ist nur ein Schoßhund«, fügte Ruha hinzu. »Möge Mystra mir vergeben, aber ich bin froh, daß er sie jagt und nicht uns.«
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Die Herrin der Mysterien stand im Vorzimmer zu Adons Schlafgemach, blickte durch ein Fenster auf die friedlichen Wellen des Hügelschattensees und begutachtete, wie sich ihr neuer Tempel in ihm widerspiegelte. Auch wenn er noch sechs Monate von der Fertigstellung entfernt war, war er schon jetzt ein funkelndes Bauwerk aus Alabastersäulen, Silberkuppeln, und kristallenen Strebepfeilern, die von ihrem großen Ruhm kündeten. Wenn es einst fertig wäre, würde sie den Patriarchen bitten, sein Domizil dort zu errichten; das Leben der Sterblichen war irgendwann vorüber, und Adon hatte das seine bereits zum größten Teil damit zugebracht, ihren Kult in Faerûn bekanntzumachen. Mystra wandte sich vom Fenster ab und sah ein paar Menschen, die vor ihr auf dem Marmorboden knieten, die Hände flehentlich zum Gebet gefaltet. Zwei der Männer trugen die Schuppenpanzer und Streitkolben der Stadtwache von Elversult, und die meisten anderen waren in die einfachen Roben ihrer Kirche gehüllt. Nur ein Mann war nicht auf die Knie gegangen; er verfügte über die gelbliche Haut, das schwarze Haar und die schräg gestellten Augen des Shou-Volkes, und er war in eine weiße, weitärmelige Seidentunika gekleidet, die sein
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Volk Mai-tung nannte. Er nickte Mystra fast unmerklich zu, zeigte ansonsten jedoch kein Zeichen von Unterwürfigkeit. Es war Prinz Tang, ältester Sohn der dritten tugendhaften Konkubine des Kaisers Kao Tsao Shou Tang von Shou Lung, und er verneigte sich nicht vor irgendwelchen Göttern außer denen der himmlischen Bürokratie. Die Herrin der Mysterien ließ es geschehen und trat an Adons Tür, verspürte sie doch wenig Lust, dem Prinzen die Vielfalt des Daseins nahezubringen. Tang fing sie ab, indem er sich vor die kupferbeschlagene Tür drängte, die den Zugang zum Gemach des Patriarchen versperrte. »Laß Adon ruhen.« »Was?« Die Herrin der Mysterien konnte ihre Irritation nicht verhehlen. »Du wagst ...« »Ich habe dem ehrenwerten Patriarchen einen Trank verabreicht, damit er Schlaf findet«, führte Tang aus. »Er war verwirrt.« »Verwirrt?« Mystra war immer noch nicht im Bilde über die Ereignisse im Hause Bhaskar, denn ihre Aufmerksamkeit war gerade auf etwas anderes gerichtet, als Adon nach ihr rief, und dann hatte er in der Tat seinen Geist vor dem Bild verschlossen, das sie ihm sendete. Sie fragte sich, ob Tangs Trank Adons seltsames Verhalten verursacht hatte. »Was hast du ihm zu gegeben?« »Einen Lasalblattsaft. Er läßt aufwühlende Gedanken aufhören ...« »Ich weiß, was Lasalblätter machen, Prinz Tang.« Mystra war die Wirkung eines jeden Heilkrauts oder Gewürzes, das es in Faerûn gab, klar, und daher wußte sie auch, daß Lasalblätter Verwendung fanden, wenn es
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darum ging, den Geist zu beruhigen. Auch wußte sie, daß sie Verwirrungen und Muskelzuckungen verursachten und daß sie den Geist zerstören konnten, statt ihn zu beruhigen, wenn sie zu oft oder überdosiert verabreicht wurden. »Ich warne dich, wenn du Adon ein Leid zugefügt hast ...« »Ich habe ihm geholfen!« beharrte Tang. »Adon ist irr geworden. Er denkt, du haßt ihn, und er hat einen kranken Mann erschlagen.« »Adon ist kein Mörder!« Tang hielt Mystras festem Blick stand. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er Nadisu Bhaskar tötete.« Die Göttin blickte erst finster und schaute dann zu ihren vor ihr knienden Anhängern. »Stimmt das?« Die älteste von ihnen, eine rothaarige Frau namens Chandra, nickte. »Vor hundert Zeugen. Nadisu lag im Sterben, und ein jeder erwartete die Freudenriten ...« »Der Mann hat hundert Menschen gebeten, seinem Tod beizuwohnen?« Auf das offensichtliche Mißfallen der Göttin hin erbleichte Chandra. »Seine Frau hat das veranlaßt, und Adon war der Priester ...« Sie warf Tang einen Blick zu und schaute dann wieder Mystra an. »Nun, selbst Vaerana Falklyn sagt, der Patriarch sei wahnsinnig geworden und habe dem armen Nadisu ohne jeden Grund den Schädel eingeschlagen.« »Es gibt einen Grund.« Das Gesicht der Herrin der Mysterien wurde grimmig wie ein Sandsturm. »Er heißt Cyric.« Die Göttin trat direkt durch Tang hindurch, und der Prinz schrie. Dann betrat sie das Schlafgemach ihres
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Patriarchen, ohne die kupferbeschlagene Tür zu öffnen. Der Raum war mit seiner Eichenholzdecke und den Alabasterwänden mit Reliefdarstellungen der Wunder der Herrin der Mysterien ebenso majestätisch wie der Rest des Tempels. Das Bett aber, in dem der Patriarch lag, war mit seinem hölzernen Rahmen und der dünnen, mit einer grauen Baumwolldecke bespannten Strohmatratze ebenso schlicht wie das jedes anderen. Es stand auf der anderen Seite des Raumes so, daß Adon durch die Geländersäulen seines Balkons hindurch die purpurnen Wogen des Hügelschattensees sehen konnte. Der Patriarch warf sich unter seinen Laken hin und her, murmelte etwas Unverständliches und zitterte von der Medizin des Prinzen am ganzen Leib. Mystra drang in seinen Geist ein und fand sich eingehüllt im wallenden Nebel des Lasalblattes. Sie behielt seine Gedanken im Auge und machte sich daran, den Raum wie ein Dschinn über den Marmorboden schwebend zu durchqueren. »Adon.« Der Kopf des Patriarchen schnellte herum, und er sah sie an. Seine blutunterlaufenen Augen wurden groß wie Untertassen, dann erbleichten seine eingefallenen Wangen, und er stieß einen durchdringenden Schrei aus. Jemand machte sich daran, die Türen von außen zu öffnen, aber Mystra versperrte sie alle mit einem bloßen Gedanken und näherte sich Adon weiter. Er schleuderte die Decke von sich, stellte sich in seinem Bett hin und wies mit dem Finger auf Mystra, als wäre seine Hand eine Armbrust, und da sah sie, daß der Finger, an dem einst ihr Sternenring gesessen hatte, nur noch ein ausgebrannter Stumpf war. Das Herz wurde ihr
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schwer, denn sie wußte, daß nur Cyric selbst das Gold so heiß hatte glühen lassen können. »Bleib weg von mir, du Hexe!« In Adons Geist fand die Göttin nichts anderes vor als nur die wabernden Lasalblattnebel. Das verschlimmerte ihren Zorn gegenüber Tang noch mehr, erschwerte er es ihr doch noch zu erkennen, was nicht in Ordnung war. »Kein Grund zur Furcht. Ich bin’s, Mitternacht.« »Mitternacht?« Der Patriarch ließ die Hand sinken. »Ja. Immer noch.« Mystra schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Adon sah sie an und rieb sich dann die Augen. »Fänge!« Mystra schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe keine Fänge.« Sie streckte die Arme aus, um ihn zu umarmen. »Laß dich um...« Adon wies auf ihre Hände. »Klauen!« Der Patriarch schoß hinaus auf den Balkon, wobei sein Kopf hin und her ruckte wie bei einem wilden Tier auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber es gab keine. Die Veranda hing zwei Riesen hoch über dem See, und außer Luft gab es nichts zwischen dem Wasser und dem Balkon. Mystra öffnete die Hände und zeigte ihm ihre Finger. »Adon, ich habe keine Krallen. Der Prinz der Lügen hat deinen Geist verwirrt.« »Feuer! Gift!« Der Patriarch machte Anstalten, über die Brüstung zu springen. Ehe er auch nur einen Schritt tun konnte, ließ Mystra einen zweiten Avatar ihrer selbst in seinem Weg erschei-
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nen. Der Patriarch rammte sie in vollem Lauf. Die Wucht brachte sie nicht einmal ins Wanken. Sie fing ihn ab wie ein kleines Kind und schenkte seinen Hieben, die auf das Gesicht ihres Avatars eintrommelten, keinerlei Beachtung. »Das ist alles Cyrics Werk, und darum vergebe ich dir.« Die Herrin der Mysterien trug Adon in seine Kemenate zurück, und jetzt endlich sah sie das Blut zwischen ihren Fingern hervorquellen. Ein halbes Dutzend lange Schnitte, gerade und tief wie von einer Klinge, hatte sich dort aufgetan, wo sie ihn bei der Schulter und am Schenkel festhielt. Sofort war es Mystra klar: Die Hände ihres Avatars hatten diese Wunden verursacht, ihr war jedoch völlig unerklärlich, wie. Sie legte Adon auf sein Bett. Er kreischte und wollte aufspringen, und sie hielt ihn niedergedrückt. Dort, wo ihre Hände seine Brust berührten, spritzten vier weitere Blutstrahlen hervor. Da erklang ein Gebet der Harfnerhexe Ruha, die um Führung im Umgang mit ihren neugewonnenen Kräften bat. Da sie momentan mit Adons ungewöhnlichem Zustand zu beschäftigt war, um der Angelegenheit viel Aufmerksamkeit zu widmen, registrierte sie nur, daß Ruha ein Zeichen erbat, ob sie all ihre Magie gegen den Mörder Rindas und Gwydions aufbieten solle. Die Göttin rief einen Stern aus dem Firmament herab, um ihr zu bedeuten, sie möge alles aufbieten, was ihr zu Gebote stand. Dann schenkte sie der Angelegenheit keine Beachtung mehr, nicht ahnend, daß ein Blitzschlag die großtuerische Harfnerin mit der Kraft der Vernichtung beschenkt hatte.
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Während sie dies alles tat, schickte sie ihren ersten Avatar zur Tür von Adons Schlafgemach und rief um Hilfe. Prinz Tang hetzte herein, dicht gefolgt von den Wächtern und Mystras Anhängern. Ihnen befahl Mystra, Arme und Beine des Patriarchen festzuhalten. »Was ist hier geschehen?« fragte Tang, während sein Blick zwischen Adon und Mystras Avataren hin- und herglitt. »Hat er sich das selbst angetan?« »Nein, ich glaube, das war ich.« Mystras zweiter Avatar trat vom Bett des Patriarchen zurück und verschmolz mit dem ersten, der außer Sichtweite Adons an der Tür wartete. »Für ihn bin ich zu einem Ungeheuer geworden.« Prinz Tang legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht.« »Ich auch nicht.« Mystra winkte den Prinzen zu sich heran. »Der Lasaltrank macht es mir unmöglich, in seinen Geist vorzudringen.« Tang blieb drei Schritte von ihr entfernt stehen und beäugte sie mißtrauisch. »Ich entschuldige mich für dieses Mißgeschick, aber ich hatte keine Ahnung, daß du kommen würdest, ehrwürdige Göttin. Ich habe nur versucht, zu Diensten zu sein.« »Das wirst du auch, Tang.« Während sie dies aussprach, wurde sie schon geisterhaft durchscheinend und stand urplötzlich Schulter an Schulter mit dem Prinzen. »Das verspreche ich.« Sie glitt in Tangs Körper, ganz so, wie man in einen neuen Mantel schlüpft. »Nein! Das ist nicht erlaubt.« Tang versuchte, vor ihr zurückzuweichen, aber sie bemächtigte sich einfach nur
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weiter seines Körpers. »Ich bin ein Kaiserlicher Shou ...« Das letzte Stück von der Robe der Göttin verschwand, und Prinz Tang verstummte. Er zwinkerte ein paarmal, dann streckte er sich, wie man es tut, wenn man morgens aufsteht. »Das muß reichen.« Die Stimme war die Tangs, doch die Worte gehörten Mystra. Sie lenkte den Körper des Prinzen zu Adons Lager und beugte sich über ihn. »Nun, lieber Freund, laß uns mal nachsehen, was Cyric so alles angerichtet hat.« Adon beäugte den Körper des Prinzen mißtrauisch, unternahm aber keinen Versuch, sich von den MystraAnhängern, die ihn festhielten, loszureißen. Die beiden Wachen standen direkt daneben, wogen ihre Streitkolben in Händen und blickten unbehaglich drein. Vaerana Falklyn hatte sie angewiesen, Adon niederzuschlagen, sollte er versuchen zu fliehen, sie waren jedoch nicht gerade geneigt, dies zu tun, während die Göttin der Magie zugegen war. Mystra nahm einen Ring von einem von Tangs Fingern und drückte ihn fest mit beiden Handflächen. Als der Prinz erkannte, was sie zu tun beabsichtigte, schrie er in Gedanken auf: Nein! Das ist ein magischer Ring der Chamäleonkräfte! Mystra quetschte weiter, denn in ihrer Arroganz war sie davon überzeugt, es stehe ihr zu, jegliche Magie zu geben oder zu nehmen, ganz wie es ihr beliebte. So zerfiel der Diamantring zu Staub, was einen beißenden Geruch, ein schrilles Knirschen und einen hellen Blitz verursachte. Die Herrin der Mysterien ließ die Hände über Adon gleiten und bedeckte ihn von Kopf bis Fuß
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mit dem funkelnden Diamantstaub. Sie tat dies, um die Magie zu bannen, die Cyric benutzt hatte, um Adon in den Wahnsinn zu treiben. »Gift!« schrie Adon. Seine Haut wurde fleckig und lief rot an, dann entstanden Furunkel voll weißlichen Eiters überall dort, wo der Staub ihn berührt hatte. Adon wimmerte vor Schmerz und schlug um sich, wodurch er einen Arm und ein Bein befreien konnte. Die beiden Wächter hoben ihre Streitkolben und kamen herübergeeilt. Die Herrin der Mysterien sah sie kurz an, und ihre Waffen lösten sich in Rauch auf. Sie winkte die beiden an Adons Seite. »Helft mit, ihn festzuhalten«, befahl Mystra. Dann sagte sie zu ihrer Anhängerin Chandra: »Wascht ihn ab, schnell!« Chandra griff sich den Wasserkrug von Adons Frisierkommode und goß ihn über ihm aus. Adon hörte auf zu schreien, aber er schenkte Tangs Körper einen Blick, als stünde er seinem eigenen Mörder gegenüber. Seine Haut blieb gerötet und war mit Furunkeln übersät, und er begann unwillkürlich zu zittern. Niemand wagte zu fragen, was geschehen war, was Mystra gelegen kam, da sie ohnehin keine Antwort gewußt hätte. Adons Beschwerden konnten nicht magischen Ursprungs sein, sonst hätte ihr Zauber sie beseitigt – in diesen Dingen hatte nur Ao selbst die Macht, ihr zu trotzen. Sie merkte selbst, wie sie immer wütender auf Tang und seinen Lasaltrank wurde. Er machte es ihr unmöglich, zu erkennen was nicht stimmte, aber jeder Versuch, die Nebel aus Adons Geist zu vertreiben, barg
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in sich auch die Gefahr, ihn eines Teils seiner Erinnerung zu berauben, und doch war sie noch nicht bereit aufzugeben. »Gib das her.« Mystra wies auf einen silbernen Strahlenkranz, das heilige Symbol der Kirche der Mysterien, der um den Hals der Mystra-Anhängerin hing. »Öffne Adons Tunika.« Der Patriarch brachte keine Einwände vor, als Chandra gehorchte. Mystra hob das heilige Symbol an Prinz Tangs Lippen und küßte es. Die Augen des Patriarchen weiteten sich, und er begann sich gegen seine Häscher zur Wehr zu setzen. »Feuer!« Mystra war kurz davor zurückzuschrecken, dann aber fiel ihr die unendliche Schläue Cyrics ein und ihr dämmerte, daß er vorhergesehen haben mußte, daß sie den Patriarchen nicht verletzen würde. Was erschiene Cyric also geeigneter, um seinen Fluch darunter zu verbergen, als der Deckmantel des Schmerzes? Ihr Kuß war noch nicht vom Metall getrocknet, da legte die Göttin ihren heiligen Strahlenkranz auch schon auf Adons nackte Brust. »Nimm es weg!« Adon sah direkt in Prinz Tangs Augen, aber Mystra wußte, daß er sie sah. »Was habe ich nur getan, um deinen Haß zu verdienen?« »Nichts«, erwiderte Mystra. »Ich könnte dich niemals hassen.« Winzige gelbe Flammen begannen züngelnd aus dem Strahlenkranz zu schlagen, und der Patriarch stieß einen gräßlichen Schrei aus. Chandra und die anderen erschraken und sahen Mystra mit großen Augen an, doch die
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Göttin hörte nicht auf, ihr Symbol auf die Brust des Patriarchen zu drücken. Im Geiste fragte Tang Mystra: Besteht die einzige Möglichkeit, wie du Cyrics Fluch beenden kannst, darin, deinen höchst geschätzten Patriarchen umzubringen? Die Göttin ignorierte den Prinzen und hielt den Strahlenkranz weiter fest. Nach einiger Zeit erstrahlte ein Ring aus orangefarbenen Flammen rund um das Amulett, und Adon hörte auf zu schreien. Einen Moment lang glaubte Mystra, ihr Plan hätte funktioniert, aber die Flammen wurden immer heißer. Der Gestank verbrannten Fleisches lag in der Luft, und Adon sah voller Entsetzen zu, wie seine Haut schwarz und brüchig wurde. De Herrin der Mysterien nahm den Strahlenkranz weg. »Cyric!« Mystras Schrei hallte durch neun Himmel zugleich. »Du bist zu weit gegangen!« Vielleicht bist ja auch du zu weit gegangen, gab Prinz Tang zu bedenken. Das sind schwere Verbrennungen. Die Herrin der Mysterien verließ Tangs Körper, wobei sie rückwärts ging, so daß der Prinz Adon den Blick auf sie versperrte. »Adon wird sich erholen, wenn er gepflegt wird, Prinz Tang.« »Wir werden uns seiner annehmen.« Chandra umrundete einen der Wächter und trat ans Kopfende des Bettes. »Wir haben hier Dutzende von Priestern ...« »Nein.« Mystra hielt ihre Anhängerin mit einer Geste zurück. »Bis ich entdeckt habe, was der Prinz der Lügen getan hat, müssen wir fürchten, daß unsere Magie Adon mehr schadet als nützt.« Sie hielt Chandra den Strahlenkranz hin.
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Chandra warf einen Blick auf die Verbrennung auf Adons Brust und zögerte einen Moment, dann überkam sie Angst, und sie griff nach dem heiligen Symbol. Es war noch genauso kühl, wie sie es weggegeben hatte. »Aber wenn wir den Patriarchen nicht ...« »Adon wird sich dank der Fürsorge des Prinzen Tang schnell erholen.« Mystra wandte sich an Tang und fügte hinzu: »Sein Lasaltrank hat sich zumindest als wirkungsvoll erwiesen.« Der Prinz errötete, nickte dann aber. »Ich kann die Verbrennungen und den Ausschlag des Patriarchen heilen, aber was seinen Wahnsinn angeht ...« »Laßt das mein Problem sein – aber kein Lasal mehr, zumindest nicht, bis ich herausgefunden habe, was Cyric ihm angetan hat.« Mystra wandte sich an Chandra. »Sobald Adon etwas wacher zu werden scheint, wirst du zu mir beten.« Die Mystra-Anhängerin wirkte überrascht. »Du wirst nicht zuschauen?« »Ich werde beschäftigt sein.« Mystra warf einen langen Blick auf ihren gepeinigten Patriarchen und fügte dann hinzu: »Und Cyric ebenfalls.«
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Zuerst erhob sich hinter uns fauchend ein brausender Wind, dann fegte eine Wand aus Luft von hinten über uns weg. Halah stolperte, wäre beinahe gestürzt und kippte mich auf eine ihrer Flanken, und bald hielt ich mich nur noch an ihrer Mähne fest und rutschte ihren Hals entlang auf ihre blitzenden Hufe zu. »Halt, Halah!« Es war eine Stunde nach Mittag, und wir galoppierten in der Steppe östlich des Scharfzahnwaldes in einem Affentempo der fernen Stadt Berdusk entgegen. »Halt!« Ich war überrascht, daß Halah gehorchte. Meine Finger ließen ihre Mähne los, und ich stürzte zu Boden und kullerte dann mehr als ein Dutzend Schritte weit einen Abhang hinab in einen Graben, der etwa so tief war wie ich groß. Einen Augenblick lang war ich zu benommen, um mich zu bewegen, und lag einfach nur da, blickte in den Himmel und grübelte über die Stärke dieses so unvermittelten Windstoßes nach. Dann wurde das Fauchen zum tiefen, dröhnenden Heulen, und Blätter, kleine Zweige und kreischende Vögel fegten durch die Luft über mich hinweg. Ich stand auf und spähte über den Rand des Grabens. Da erfaßte mich auch schon eine schmerzhafte Flut-
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welle von Kieseln und Schutt, und mir war klar, daß es hier nicht um einen gewöhnlichen Sandsturm handelte. Der westliche Horizont war mit einem tausend Fuß hohen Schleier aus Staub verhangen. »Halah, komm her!« Die Stute dachte, ich wolle hier Zuflucht suchen, trabte darum herüber und begann, in den Graben hinabzusteigen. Ich nahm ihre Zügel und kletterte aus der Rinne, denn so groß war meine Ergebenheit, daß ich vorhatte, durch den Sturm hindurchzureiten. Halah stampfte mit den Hufen auf und weigerte sich, mir den Abhang hinauf zu folgen. Der Sturm fegte weiter auf uns zu, und je näher er kam, desto ohrenbetäubender wurde das Heulen, bis mir von dem Windgebraus die Ohren schmerzten. Die Haare auf meinen Armen sträubten sich, und ich sah finstere Schemen – Äste und Büsche und zerrissene Baumstämme – in dem grauen Schleier durcheinanderwirbeln. Ich riß an den Zügeln. »Ich bin dein Reiter! Tu, was ich dir sage!« Halah schnaubte angewidert, hob dann ihre Nüstern in Richtung des Sturmes, und ich sah eine weitere dunkle Gestalt im Himmel über dem oberen Rand der Sturmfront dahinsegeln. Sie sah aus wie ein Kreuz, ihr Leib war kastenförmig, und sie hatte zwei gefiederte Schwingen ausgebreitet, die sie auf den grimmigen Winden trugen, welche sie so schnell vorantrieben, daß ihre Größe sich mit jedem einzelnen Herzschlag zu verdoppeln schien. Noch bevor ich den stoffumflatterten Kopf der Hexe über die Schulter des Reiters hinweg erkannte, wußte
ich, wer mich da verfolgte. »Schnell!« Ich sprang von der Kante des Grabens auf ihren Rücken. »Lauf wie der Wind!« Das tat sie.
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Kelemvor hatte die Wand seiner Richthalle in einen Spiegel verwandelt, der so vollkommen war, daß er alle Fehler dessen enthüllte, der hineinsah, gleich, ob es sich um Fehler geistiger, körperlicher oder charakterlicher Art handelte, und nun stand er selbst vor diesem Spiegel und musterte sich in seiner silbrigen Tiefe. Er erblickte einen bärbeißigen Mann mit dunklen Zügen, stechenden grünen Augen und einer wilden schwarzen Mähne. Er konnte keine Verwachsungen oder Mißbildungen ausmachen, ebensowenig jedoch das strahlende Abbild eines Gottes. »Darin wirst du keinen Rat finden.« Jergal schwebte zum Herrn der Toten hinüber, an seiner körperlosen Hand hielt er einen der Falschen. »Was ein Gott tut, ist stets vollkommen.« »Wenn das wahr wäre, wäre ich nicht bloß der letzte in einer langen Reihe von Todesgöttern.« Im Spiegel war Jergal nicht mehr als ein graues, augenloses Gesicht und zwei körperlose Arme, das exakte Gegenstück zu dem schattenerfüllten Mantel in der Halle. Der Geist, den er in seinem Griff hielt, spiegelte sich als schwarze, gelbäugige Ratte mit einem Fell, das vor Läusen nur so wimmelte, wider.
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Kelemvor wies auf das unerquickliche Spiegelbild. »Ich hatte doch gesagt, daß ich keine Seelen mehr aburteile, bis der Prozeß entschieden ist.« »Stimmt. Richte trotzdem über diesen hier.« Jergal wartete nicht erst lange, bis sein Herr die Erlaubnis erteilte, sondern zwang die falschgläubige Seele auf die Knie. »Erzähle deine Lebensgeschichte, Nadisu Bhaskar, und der Gott des Todes wird über dich richten.« Kelemvor drehte sich um und wollte Jergal für die Anmaßung, ihn herumzukommandieren, bestrafen, und Nadisu, der den Zorn des Gottes auf sich gerichtet glaubte, faltete die Hände vor seiner Brust. »Hab Gnade mit meiner Seele, und ich schwöre, es soll dein Schaden nicht sein!« Der Herr der Toten zog die Brauen zusammen und blickte auf den unverfrorenen Geist hinab. Nadisu war ein Mann mit einem runden Gesicht, gesunder Hautfarbe und dem durchtriebenen, finsteren Blick eines Meuchlers, und seine Worte waren solch eine Beleidigung, daß er Jergals Verwegenheit auf der Stelle vergaß. »Die Richter von Elversult magst du bestechen können, Nadisu Bhaskar, aber hier wird dir das nichts bringen.« Kelemvor wandte sich an Jergal. »Willst du anfangen? Wenn Nadisu danach ist, freimütig und aufrichtig zu beichten, kann er ja für sich selbst sprechen.« »Natürlich.« Jergal wies mit seinem körperlosen Handschuh auf Nadisu. »Du bist die Gossengeburt einer Puffmutter, Bhaskar. Noch ehe du sprechen konntest, hattest du schon gelernt, wie man Beutel schneidet. Deinen ersten Mord hast du im Alter von zehn Jahren ver-
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übt. Aus diesem Grund hat Indrith Shalla dich auch rekrutiert, um dem Drachenkult beizutreten. Mit zwanzig Jahren warst du ihr bester Meuchler und ein ergebener Anhänger Bhaals, des damaligen Gottes des Mordes.« »Zu dieser Zeit leitete Indrith auch meine Anstellung im Hause Ganesh Lal in die Wege.« Nun, da er merkte, daß Jergal entschlossen war, sein Leben auf möglichst mißbilligende Art und Weise vorzutragen, wollte er die Erzählung lieber selbst in die Hand nehmen. »Ganeshs Karawanen hatten sich als zu erfolgreich in der Abwehr der Banditen erwiesen, die beim Kult in Lohn und Brot standen, und ich sollte Ganesh nun auf eine Weise töten, die etwaige Nachahmer abschrecken sollte.« Hier machte Nadisu eine Pause und sah auf, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war sehr ernst. »Dann hat etwas mein Leben verändert. Während ich meinen Dienst versah, traf ich Pandara Lal, und wir verliebten uns ineinander.« »Sie verliebte sich in dich«, verbesserte Jergal. »Du fandest es nur witzig, mit der Tochter deines Opfers einen Bastard zu zeugen.« »Vielleicht verliebte ich mich später.« Auch wenn Nadisus Blick auf Kelemvor haftenblieb, schnaubte die Ratte im Spiegel schwarzen Rauch in Richtung von Jergals Spiegelbild. »Jedenfalls überzeugte ich ...« »Indrith entschied«, unterbrach Jergal. »Man gelangte zu der Überzeugung, daß ich dem Kult innerhalb des Fuhrunternehmens Lal mehr nützen würde. Ganeshs Leben wurde ...« Nadisu warf Jergal einen
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kurzen Blick zu und fuhr dann fort »... eine Zeitlang verschont, und Pandara und ich heirateten. Nach einem angemessenen Zeitraum wies Indrith mich an, Ganesh die Kehle durchzuschneiden. Aber Ganesh hatte mich so gut behandelt, daß ich ihn statt dessen lieber im Schlaf erstickte.« Der Falsche unternahm den Versuch eines schwachen Lächelns, glaubte er doch, Kelemvor würde nun sein Mitgefühl loben. Der Fürst der Toten sah wieder Jergal an. »Bisher sehe ich keinen Grund, warum ich die Beurteilung Nadisu Bhaskars vorziehen sollte. Nach dem, was ich bis jetzt gehört habe, schätze ich, er wird mehr Gnade erfahren, wenn er sich in die Schlange einreiht.« »Laß ihn zu Ende erzählen.« Jergals Glubschaugen wanderten zu Nadisu. »Berichte, was nach der Zeit der Sorgen geschah.« Nadisus Bhaskar fuhr fort, seine Stimme war dabei zuversichtlicher, als seine Position es eigentlich rechtfertigte. »Nachdem Bhaal gestorben und Cyric zum Gott geworden war, wählte ich ihn zu meinem Patron und mordete weiter für Indrith Shalla. Als dann Yanseldara Raunshivears Kartell aufrieb und diesen Ort zu einer ehrbaren Stadt machte, entschloß sich Indrith, einen Agenten im Kreise ihrer engsten Freunde zu plazieren. Sie befahl mir, mit dem Morden aufzuhören und für die Wohlfahrt zu spenden, und bald ernährten meine Karawanen die Hälfte der Bettler in der Stadt. Pandara und ich wurden Freunde Yanseldaras, und ich begann es regelrecht zu genießen, anderen zu helfen.« »Du hast es genossen, dich wichtig zu fühlen«, korri-
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gierte Jergal. »Selbst Indrith hatte keine Ahnung, daß du dein Mehl mit Sägespänen strecktest.« Nadisu zuckte die Achseln und fuhr dann fort: »Als ich merkte, daß Indrith nicht vorhatte, mich je wieder als Assassinen zu beschäftigen, wurden meine Opfer an Cyric immer kleiner und auch immer seltener, bis ich eines Tages feststellte, daß er für mich nicht mehr so wichtig war, wie die Menschen, denen ich half. Ich gründete sogar ein Waisenhaus und verdiente daran nie auch nur eine Kupfermünze.« Jergal nickte, das stimmte wohl. »Aber ich hätte es besser wissen sollen, als ich dachte, ich könnte die Kirche des Einen so einfach verlassen. Eines Tages kam Cyric zu mir ...« »In Elversult?« Plötzlich interessierte sich Kelemvor für Nadisu Bhaskars Geschichte ebensosehr wie für seinen eigenen Prozeß. »Wie lang ist das her?« »Kurz bevor ich starb.« Die Ratte im Spiegel grinste, denn Nadisu konnte förmlich spüren, wie Kelemvors Interesse wuchs, und er hatte vor, es sich zunutze zu machen. »Er nahm Besitz von meinem Leib. Dann sagte er: ›Die Wahrheit zu sagen ist gut für die Seele.‹ Er hat mich die arme Pandara schlagen und ihr gestehen lassen, daß ich ihren Vater umgebracht und sie nie wirklich geliebt hatte.« »Letzteres war eine Lüge, nicht war?« lächelte Jergal höhnisch. Nadisu nickte. »Pandara war ein dämliches Weib, aber sie war die Mutter meiner Kinder. Im Laufe der Jahre habe ich sie, je weicher ich wurde, immer mehr geliebt, will es scheinen. Ich hätte mich lieber umge-
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bracht, als ihr zu sagen, daß ich sie nicht liebte.« »Du hättest besser daran getan, dich umzubringen statt ihres Vaters«, sagte Kelemvor. »Was tat Cyric dann?« »Er verließ mich«, gab Nadisu zurück. »Ich fühlte mich todkrank, und die Herrin Yanseldara selbst regte an, die Riten zu begehen.« »Adon kam, um sie zu überwachen!« »Ja, und in dem Augenblick, da er mich berührte, ergriff Cyric wieder Besitz von mir.« »Was für eine Art von Magie setzte Cyric gegen Adon ein?« Die Augen der Ratte im Spiegel glänzten vor Schläue. »Es wäre hilfreich, wenn ich mich erinnerte, nicht wahr?« »Ich habe dich schon einmal davor gewarnt, mit mir verhandeln zu wollen.« »Warum sollte ich dann antworten?« Auch wenn Furcht in Nadisus Stimme mitschwang, sah er Kelemvor in die Augen und blieb standhaft. »Ich erbitte nicht viel, und mehr für mein Weib als für mich.« Kelemvor konnte diese Frechheit nicht fassen. »Jergal! Sag mir, was geschah!« »Wie du willst, Fürst der Toten – aber würde es dir etwas ausmachen, zunächst in den Spiegel zu sehen?« Kelemvors Blick umwölkte sich, und er drehte sich um, dann stieß er einen so erschreckten Laut aus, daß die Geier in ganz Faerûn allesamt auf einmal zu krächzen anfingen. Sein Spiegelbild war von Kopf bis Fuß mit Teer besudelt, so daß nur noch seine Augen und der große Smaragd auf seiner Gürtelschnalle zu sehen waren.
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Der Fürst der Toten erkannte das sogleich als das Zeichen für einen korrupten Beamten, hatte er doch viele Jahre lang im Königreich Cormyr gelebt, wo es üblich war, diejenigen, die ihr Amt mißbrauchten, zu teeren. »Was ist das?« fragte Kelemvor Jergal. »Du hast doch gesagt, alles, was ein Gott tut, sei vollkommen!« »Ja, und du hast gesagt, daß du, wenn es so wäre, nicht bloß der letzte in einer langen Reihe von Göttern wärest«, antwortete Jergal. »Das ist dein Werk. Du hast die Regeln, die Regeln, die du an dein Amt knüpfst, selbst gemacht, und jetzt mußt du selbst entscheiden, ob du dich an sie halten oder sie brechen möchtest.« »Aber ich muß wissen, wie diese Seele starb.« Kelemvor deutete auf Nadisus Spiegelbild. »Es ist nötig, um ein Urteil über ihn fällen zu können.« »Aber es ist nicht nötig, Mystra zu berichten, was du erfahren hast«, konterte Jergal. »Das wäre eine Verletzung von Nadisus Privatsphäre, und du bist es schließlich selbst gewesen, der erklärt hat, die Toten verdienten, daß man ihre Gräber in Ruhe lasse. Wenn du deine Meinung jetzt änderst, dann nur aufgrund deiner Zuneigung zu Mystra und Adon.« »Was, wenn ich ihm gestattete, es Mystra zu verraten?« Nadisus Stimme war verschlagen und leise. Kelemvor sah den Geist an. »Im Gegenzug für Nachsicht?« Nadisu lächelte, denn er glaubte, er könne sich Kelemvors Einvernehmen sicher sein. »Im Gegenzug für ein bißchen Aufschub und das Versprechen, die wahre Geschichte meines Lebens geheimzuhalten. Wenn mein Ruf ruiniert wird, werden die hohen Häuser Elversults Pan-
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dara meiden. Das hat sie nicht verdient – nicht nach allem, was Cyric mich zu ihr sagen ließ.« Kelemvor sah Nadisu sehr lange an und sagte schließlich: »Ich schätze, als Meuchler und Spion muß man so gute Nerven besitzen, wie du sie gerade unter Beweis stellst, aber hier wird dir das leider nichts nützen.« Nadisu machte große Augen. »Adon ist dir egal?« »Nein. Wenn ich allerdings meine Pflichten als Gott des Todes vernachlässige, dann nicht, um dich zu verschonen.« Kelemvor sah Jergal an. »Wie starb dieser Mann?« Jergals gelbe Augen wanderten zu Nadisu. »Cyric hatte wieder von seinem Leib Besitz ergriffen, Adon gepackt und ihm in die Augen geschaut. Der Patriarch versuchte, sich zu verteidigen und zertrümmerte Nadisus Schädel.« »Was für eine Magie hat Cyric gegen Adon eingesetzt?« »Bist du sicher, daß du das wissen willst?« Kelemvor warf einen weiteren Blick in den Spiegel und sah sich selbst, wie seine Augen von Sicheln aus Eis offengehalten wurden. Er wußte, daß dies das Zeichen für Pflichtverletzung war, denn im eisigen Land Vaasa wurden die, die eines solchen Vergehens schuldig befunden worden waren, gefesselt und mit abgeschnittenen Augenlidern in einem Schneesturm ausgesetzt. »Ich will es wissen«, sagte Kelemvor. »Keine«, sagte Jergal. »Cyric hat keine Magie gewirkt. Er hat nur seine Seele geöffnet und dem Patriarchen gestattet, einen kurzen Blick hineinzuwerfen.« »So sah Adon Mystra durch Cyrics Augen!« Kelemvors Blick war immer noch auf sein Abbild im Spiegel
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gerichtet. »Ja, das hat ihn den Verstand gekostet«, sagte Jergal. »Adons Glaube ist bemerkenswert, aber er ist nichts im Vergleich zum Verstand eines Gottes.« Kelemvor wandte sich ab und ging zur Tür zum Vorzimmer. Jergal schwebte ihm nach. »Wohin gehst du?« »In die Stadt«, vermeldete Kelemvor. »Ein Spaziergang wird mir beim Nachdenken helfen.« Jergal schwebte neben Kelemvor her, und sein körperloser Handschuh zerrte Nadisu über den Boden. »Was ist mit Nadisu?« Kelemvor hielt inne und blickte auf die falsche Seele herab, die es besser wußte, als jetzt um Gnade zu flehen. »Wisse, Nadisu Bhaskar, daß dein Ruf in Elversult makellos bleiben wird, denn ich habe entschieden, daß die Geheimnisse der Toten nur sie etwas angehen sollen. Aber du hast ein unmoralisches, verlogenes Leben gelebt, und dafür wirst du büßen.« Kelemvor wies in Richtung der verlausten Ratte im Spiegel. »Was du da siehst, soll deine Bestrafung sein. Solange auch nur eine einzige der Münzen, mit deren Hilfe du einen Verrat verübt hast, irgendwo in Faerûn als offizielles Zahlungsmittel gilt, sollst du die Straßen meiner Stadt in dieser Gestalt durchstreifen.«
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Wenn das Sturmhorngebirge nicht das höchste und kälteste Bergmassiv der Welt ist, dann will ich nicht länger Malik heißen. Es besteht aus nichts als schroffen Granitzähnen, Hunderte von Metern hoch, und die Bäume, die dort wachsen, sind nicht viel größer als ein Feuerriese. Von seinen kahlen Höhen weht unablässig zu jeder Tages- und Nachtzeit ein eisiger Wind herab. Doch Barbarenvölker findet man überall, und einige von ihnen lebten in einem kleinen Dorf, das einen trügerischen, schmalen Gemsenpfad flankierte, den sie in ihrer Beschränktheit die Hohe Straße nannten. Im Herzen des Dorfes stand eine kleine Zitadelle, und der Schädel sowie der ihn umgebende Strahlenkranz, die dezent über dem Torbogen eingraviert waren, verrieten mir, daß es sich hierbei um einen dem Einen geweihten Tempel handelte. Hunger und Müdigkeit trotzend zögerte ich, an das Tor zu klopfen. Aus dem Inneren der Burg drang ein fürchterliches Wehklagen, und in der Nähe der Mauern schmeckte die Luft nach Tod. Es hätte gut und gerne an der letzten Beute gelegen haben können, die Halah sich genehmigt hatte, als wir das Dorf durchquerten, aber der unterschwellige Gestank von Fäulnis und Verfall sprach dagegen, und selbst das war noch nicht mal annähernd
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so beunruhigend, wie die grüne Fliege, die über der Zitadelle brummte; das Vieh war riesig wie ein Elefant, die schwarzen Beine länger als Speere, die Augen so groß wie Wagenräder. Das war nicht die Art von Schoßtier, die wahre Gläubige gemeinhin in ihren Tempeln hielten – zumindest nicht in zivilisierten Gebieten –, und ich konnte kaum glauben, was ich da sah. Ich erwog, weiterzureiten. Halah war sicher in der Lage dazu; sie war nun schon weiter galoppiert, als Calimshan breit war, und war doch immer noch so munter wie zu dem Zeitpunkt, da wir aus dem Viehstall aufgebrochen waren. Vielmehr hätte mir eine Rast gut getan. Die Hexe war mir nun schon auf den Fersen, seit dieser Windstoß mich vom Rücken meines Reittiers gefegt hatte, und es war das erste Mal, daß ich Halt gemacht hatte und sie nicht irgendwo am Horizont ausmachen konnte. Ob sie und ihr Begleiter ihren Pferdegreif nun endlich zu Tode geritten oder einfach nur eine Rast eingelegt hatten, entzog sich meiner Kenntnis – aber es war mir auch ziemlich egal. Selbst mit dem Herzen des Einen, das matschig in meiner Brust schlug, hatten mich zwei durchrittene Tage so müde gemacht, daß ich zweimal fast vom Pferd gekippt wäre. Tyrs Schutz allein hatte mich davor bewahrt, mir den Schädel einzuschlagen. Halah riß vom Kadaver ihrer Beute ein Bein ab und begann im Versuch, an das Mark heranzukommen, am Oberschenkelknochen zu nagen. Ich wandte meine Augen von dem grauenhaften Anblick ab und sah mir, so wie ich es mir angewöhnt hatte, die Gegend an, die hinter uns lag. Der Tun schlängelte sich braun und düster
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wie die Ebene selbst, in die er sich ergoß, am Fuße der Berge entlang. Der Himmel in der Ferne war azurblau. Als ich keinerlei Buschbrände, Wirbelstürme oder Springfluten, wie sie die Hexe gemeinhin begleiteten, ausmachen konnte, beugte ich mich endlich herüber, um an das Tor zu klopfen. Noch ehe meine Hand das Portal berührt hatte, schwang es bereits auf. Ein alter Priester sah mich durch den Spalt hindurch an, die silbernen Schädelarmbänder eines wahren Gläubigen an den Handgelenken. Sein Blick war leer wie eine Geisterstadt, die Haut grau und brüchig wie Lehm. Wenn er die Fliegen, die seine Ohren, Augen und Nasenlöcher umschwirrten, überhaupt bemerkte, so tat er nichts, um sie zu vertreiben, kein Zucken, kein Blinzeln – soweit ich das sagen kann, atmete er nicht einmal auf sie. »Ja?« »Ich bin im Auftrag des Einen und Einzigen unterwegs.« Ich mußte regelrecht brüllen, um mich beim Lärm der gewaltigen Fliege über uns verständlich zu machen. »Ich brauche etwas zu essen, einen Unterschlupf und Schutz vor meinen Feinden.« Er warf einen Blick auf das Blutbad, das mein Pferd vor seiner Tür angerichtet hatte, und wandte sich dann an mich. »Kannst du bezahlen?« »Nein, aber du wirst dafür bezahlen, wenn du mich abweist.« Ich gab Halah die Sporen, und sie schnappte sich ihr Futter und schob sich durch die Öffnung. Der Torwächter taumelte mit dem steifen Gang eines Schlafwandlers zurück, und erst jetzt bemerkte ich, daß ich mit einem
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Leichnam gesprochen hatte. Nun, es wunderte mich nicht sonderlich, es erschien mir nur als eine weitere Begegnung auf meiner kräftezehrenden Reise durch die Barbarenlande. Ich stieg ab. »Was ist dir widerfahren, Alter?« Er zuckte die Achseln, wie es nur ein Erschöpfter kann, dann schaute er zu der Riesenfliege hinauf. »Die Sorgen«, sagte er, als würde das erklären, warum er nicht in seinem Grabe ruhte. Er schloß das Tor und legte den Riegel vor, dann drehte er sich zu mir um. »Die unsere war die Pestilenz.« Ich sah mich im Hof um und stellte fest, wie leer und ungepflegt er war. Fliegen schwirrten in den Ecken, und Grillen von der Größe einer Hauskatze zirpten auf dem wannen Kopfsteinpflaster. Auch wenn ich sehr erstaunt war über das, was sich mir hier darbot, wollte ich doch nicht einfältig erscheinen. Überhaupt war ich sowieso viel zu erschöpft, um nachzufragen. »Ich gehe davon aus, daß du etwas zu essen für mich hast.« Der Priester wies auf ein paar Ratten, die sich in einem offenen Durchgang zankten. »Sie servieren Mittagessen, wenn du das Risiko eingehen willst.« »Für mich stellt es kein Risiko dar«, antwortete ich und fragte mich, worüber der Alte eigentlich sprach. Ich hielt ihm Halahs Zügel hin. »Sieh zu, daß sie gestriegelt und trockengerieben wird. Gib ihr zwei Ziegen und was sie sonst noch verlangt und laß keine Kinder, an denen dir etwas liegt, in ihre Nähe.« Der wandelnde Leichnam griff die Zügel und machte sich auf den Weg Richtung Stall, und von ihm kam kein
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Wort mehr über Bezahlung. In seinem toten Gesicht war nicht zu ergründen, ob sein Sinneswandel auf mein Auftreten oder auf etwas anderes zurückzuführen war; ich wußte nur, daß meine Pilgerfahrt und das Götterherz, das schlurfend Blut durch meine Adern pumpte, mich zur wichtigsten Persönlichkeit unserer ganzen Glaubensgemeinschaft gemacht hatten. Jetzt verstand ich, wie sich der Sohn des Kalifen fühlte, wenn er auf seinem tänzelnden Hengst durch die Straßen der Glänzenden Stadt ritt und warum er das so oft tat. Ich überquerte den Hof, trat nach den Ratten am Eingang des Refektoriums und ging hinein. Im Inneren war es wie üblich duster, nur ein vierarmiger Kandelaber unter der gewölbten Decke spendete ein spärliches Licht. Die Luft roch nach Fleisch und Bier, und in der Mitte des Raumes hockten ein Dutzend finstere Gestalten um einen Tisch herum, der gut und gerne für dreimal so viele ausgelegt war. Außer dem Schmatzen ihrer Münder und dem Klappern ihrer Krüge gaben sie kein Geräusch von sich, und falls unter ihnen einer war, der aufblickte, um zu schauen, wer da im Eingang stand, dann hatte ich es nicht bemerkt. Ich setzte mich nahe der Mitte des Tisches hin. Als ich merkte, daß sich offenbar keiner der Anwesenden auf die Verwendung von Besteck verstand, benutzte ich die Finger, um mir ein Stück von dem muffig riechenden Fleisch zu angeln und es auf eine Scheibe steinhartes Brot zu legen. Dann aß ich. Der Fraß war genauso abstoßend wie meine Gastgeber, aber für jemanden, der zwei Tage lang nichts als den Staub der Straße zwischen die Zähne bekommen hatte, war es ein Festmahl. Ich verschlang die
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unmenschliche Kost, als seien es Rebhühner in Honig und nahm mir nach. Als ich meinen Hunger zu stillen begann, machte sich auch mein Durst bemerkbar. Da ich nirgends auf dem Tisch einen leeren Krug erspähen konnte, sagte ich zu der Gestalt, die mir gegenübersaß: »Ich habe nichts, woraus ich trinken könnte.« Eine Frau mit Haaren so spröde wie Stroh beugte sich so weit vor, daß ich ihren finsteren Blick erkennen konnte. »Was soll ich dagegen tun?« Ich erwiderte ihren Blick. »Hol mir etwas.« Als sie sich nicht sofort erhob, fügte ich hinzu: »Ich bin im Namen des Einen und Einzigen unterwegs.« Ihr finsterer Blick umwölkte sich noch mehr. Dann schien sie die Gegenwart des Einen in mir zu spüren, und sie zog die Brauen hoch. Sie stand auf, ging in eine dunkle Ecke und kehrte mit einem hölzernen Krug zurück, den sie aus der Kanne auf dem Tisch vollgoß. Das Bier war sauer und sandig von dem Staub, den sie vergessen hatte, von dem Krug abzuwaschen. Nachdem ich aber zwei Tage lang nur den ekelhaften Inhalt meines Wasserschlauchs zu trinken bekommen hatte, schmeckte das hier so erfrischend wie ein Jungbrunnen – eigentlich noch viel süßer, da er mir ja von jemand anderem serviert worden war. Ich genehmigte mir noch einen dritten Gang, weniger um meinen Hunger zu stillen, als um mich noch ein wenig in meiner neuerworbenen Stellung zu aalen, und genau in diesem Augenblick schlug irgend etwas auf dem Tisch auf. »Gib mir ein Stück Hund.«
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Die lebhafte Stimme ließ die Frau und all die anderen düsteren Esser von ihren Sitzen aufspringen. Ich sah den Tisch entlang und erblickte einen Ring aus im Kerzenlicht gelb funkelnden Kugeln. Sie hatten in etwa die Größe eines menschlichen Auges, funkelten wie Diamanten und drehten sich in ihren Fassungen. »Hund?« fragte ich. Hinter den glitzernden Augen konnte ich vage acht haarige Beine und eine aufgeblähte Gestalt, so groß wie der Rumpf meines Pferdes, erkennen. Ich warf einen Blick auf das Fleisch auf meinem Brot. »Das hier?« »Erwartest du etwa, daß ich Ratten esse?« »Nein.« Ich trug die Platte zur Stirnseite der Tafel und setzte sie der Spinne vor. Nebenbei schob ich ihr auch einen Krug mit Bier vor die Mandibeln, bückte mich dann und schaute ihr in die Augen. »Bis du es, Allmächtiger?« »Gratuliere.« Nun erklangen die Wort der Spinne in der tausendfachen Stimme des Einen. »Du wirst bald Vater werden.« »Was?« »Vater!« Die Spinne rollte eines ihrer Beine zu einem Ring zusammen, dann benutzte sie ein weiteres, um in dem Ring eine obszöne Geste zu machen. »Du weißt, wie man Vater wird, oder?« »Vater!« Ich mußte mich erst mal setzen. Auf eine der Bänke. »Aber wie? Ich habe meine Frau nicht mehr gesehen, seit ... nein! Sag, daß das nicht wahr ist!« »Ein Wunder.« Die Spinne zischte und gluckste vor Lachen. »Deine Frau behauptet, du hättest sie in ihren Träu-
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men besucht.« Ich hieb meine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, daß lediglich Tyrs Schutz mich davor bewahrte, mir die Hand zu brechen. »Also wirklich«, sagte Cyric. »Ich dachte, du freust dich. Ich nehme an, du hättest gern einen Sohn? Das kann man arrangieren – er könnte dir sogar ähnlich sehen.« Mit diesen Worten hieb die Spinne ihre Freßwerkzeuge in die Fleischplatte und begann, den Saft aus dem Braten zu schlürfen, und ich stützte das Gesicht in meine Hände und begann, Rotz und Wasser zu heulen. Was würden meine Freunde denken? Zynische und mißtrauische Bande, die sie waren! Sie würden das Wunder der Schwangerschaft meiner Frau nie akzeptieren. Ohne Zweifel würden sie mich einen Hahnrei nennen und kleine Hörner an ihren Köpfen andeuten, wann immer sie meinen Namen aussprachen. »Hör auf zu heulen,«, fauchte Cyric. »Was hast du schon für einen Grund, dich zu beklagen? Hat Mystra etwa deine Tempel geplündert?« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte mich das dazu gebracht, das Haupt zu heben und die Hure zu verfluchen. Jetzt aber konnte ich nur noch an den guten Ruf meiner Frau und an zahllose andere Schmähungen, die sie ob dieses Wunders über sich müsse ergehen lassen müsste, denken. Nicht einmal die Gunst des Prinzen könnte ihren Ruf retten – beziehungsweise mein Geschäft, denn der Weise hält sich von Skandalen fern. Ich schlug meinen Kopf auf die Tischplatte. »Die Frechheit der Metze ist jenseits alles Denkba-
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ren!« knurrte der Eine, aber er meinte selbstverständlich Mystra und nicht meine Gemahlin. »Sie hat Kelemvor befohlen, meine Toten hier auf Faerûn zu belassen, und dann hat sie das Gewebe um meine Tempel herum verwirrt.« Ich sah Cyric an, wie er mit einigen seiner Spinnenbeine in Richtung der Fliege, die draußen herumschwebte, deutete. »Meine Anhänger werden jetzt von Rieseninsekten, Sturzbächen aus siedendem Teer und singenden Ratten heimgesucht!« Der Eine trippelte näher heran und klapperte direkt vor meinen Augen mit seinen Beißwerkzeugen. »Laß dich nie mit einer Frau ein. Es wird dir leid tun.« »Ja.« Ich senkte den Blick wieder auf die schwarze Oberfläche unter meinem Gesicht. »Wunder sind etwas Grauenhaftes.«
Ruha und Zale ritten stramm, um aufzuholen, und gegen Abend hockten sie zusammengekauert im Schutze einer dunklen Gasse und spähten hinaus auf den Cyrictempel im Sturmhorngebirge. Ihr Reittier blieb wegen der grünen Fliege, die über dem Tempel kreiste, vor dem Dorf angeleint. Silberwolke war nicht zu bewegen, sich der häßlichen Kreatur zu nähern, denn Pferdegreife sahen alles, was Flügel hatte, entweder als etwas an, was man fressen oder von dem man gefressen werden konnte. »Hier hinein ist der kleine Mann gegangen?« fragte Ruha flüsternd einen ausgemergelten Mann mit rotunterlaufenen Augen. Als sie und Zale das Dorf betreten und nach einem dicken Mann mit einem Pferd aus der Hölle gefragt hatten, war der Dorftrottel sofort bereit gewesen, sie zum Tempel zu führen. »Bist du sicher, daß er noch drin ist?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Kann nicht sicher sein. Zu viele Geheimtüren und Tunnel.« Sein Flüstern war rauh und leidenschaftslos. »Niemand hat ihn oder sein Pferd rauskommen sehen, und hier isser rein. Da is’ immer noch das Blut von mein’ Neffen.« Der Bauer wies auf einen großen, dunklen Fleck auf dem Boden vor dem Tor. Ruha sah sich den Fleck lange
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an und war sich dann sicher, daß er mit schwirrenden Fliegen bedeckt war. Dann schaute sie sich das Torhaus an. Ein alter Priester stand Wache, reglos wie eine Statue. Vier weitere Wachen standen in den Ecktürmen. »Postieren sie immer so viele Wachen?« begehrte Ruha zu wissen. Der Bauer meinte kopfschüttelnd: »Bloß den Torwächter, und der stiehlt sich oft davon, um ein Nickerchen zu machen. »Sie beschützen irgend etwas«, zischelte Zale. »Ich wette, es ist unser kleiner Freund.« »Ihr seid Freunde dieses Mörders?« »Nur in dem Sinn, daß wir ihn gut kennen«, erklärte Ruha. »Aber du kannst dir sicher sein, daß wir ihn genausogern in die Finger kriegen wollen wie du.« »Ich will’s gar nicht!« beeilte sich der Bauer zu sagen. »Ich hab eine Frau und drei Kinder! Ich find’s aber gut, wen ihr ihn allemacht.« »Leichter gesagt als getan.« Zale warf Ruha einen Blick zu. »Was glaubst du? Silberwolke heimlich um das Dorf herumführen und dann einen Hinterhalt legen?« »Es wäre besser, wenn wir ihn schlafend erwischen. Wenn wir ihn von seinem Pferd fernhalten können, sehen seine Fluchtmöglichkeiten weniger gut aus.« Zale runzelte die Stirn. »Wir müßten Magie verwenden, um an den Wachen vorbeizukommen.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen, schließlich gab es jedesmal, wenn Ruha einen Zauber sprach, einen Wirbelsturm, ein Erdbeben oder ein Gewitter, und je häufiger sie ihre Magie einsetzte, desto dramatischer gestalteten sich diese Naturereignisse. Ihre letzte Verzauberung
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hatte ein wahres Bombardement von Hagelkörnern ausgelöst, was gut die Hälfte der Bauernhäuser um Iriaebor eingeebnet hatte. Während Ruha darüber nachsann, was selbst ein einfacher Zauber aus diesem Dorf hier machen würde, verschwamm Zales Gesicht plötzlich vor ihren Augen und wurde dann dick und rund, mit breiten, fleischigen Lippen und Augen, die wie die eines Käfers aus den Höhlen traten. Sie wußte gleich, wen sie da sah, denn sie hatte dieses hübsche Angesicht nun schon annähernd ein Dutzend Mal in ihren Visionen gesehen, seit Rinda und Gwydion tot waren. Vor ihren Augen färbten die Glubschaugen sich kohlrabenschwarz und gingen in einem Feuer, so kalt wie das Nichts, auf. Eine lange, nachtblaue Flammenzunge wand sich schlangenhaft zwischen den fleischigen Lippen und begann zu zucken, wobei sie winzige Tröpfchen eines zischenden Gifts in alle Richtungen verspritzte. Ruha schloß die Augen und fing zu zittern an, denn noch nie zuvor hatte eine so große Anzahl an Visionen sie in so kurzer Zeit ereilt. Diese Häufung mußte ein Maß für die Wichtigkeit ihrer Mission darstellen, doch so erschöpft, wie sie war, beanspruchten diese Wunder ihre Nerven zusehends. »Ruha, was ist los?« verlangte Zale zu wissen. Obgleich er schon oft gesehen hatte, wie ihr Blick in die Unendlichkeit schweifte, hatte sie ihm nie erzählt, was genau es war, das sie dann sah. Und nun war er ziemlich ratlos, was den Grund für ihr Zittern anging. »Leg dich hin; ich halte Wache.« Ruha schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt angrei-
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fen, Zale. Du hast gehört, was Mystra sagte. Nichts ist wichtiger, als unsere Beute zu schnappen.« Zale schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es ...« »Was auch immer ihr vorhabt, tut es schnell.« Der Bauer wies auf das Torhaus. »Seht.« Der Wächter war fort. Ruha drehte sich zu dem Bauern um. »Sag allen, sie sollen das Dorf verlassen.« Der Mann legte die Stirn in Falten. »Fortgehen? Aber es ist fast dunkel!« Ehe Ruha noch mehr sagen konnte, hatte Zale sie am Arm gepackt. »Vielleicht ist der Wächter nur kurz weg, um sich zu erleichtern.« »Vielleicht hat er uns aber auch gesehen und ist jetzt reingegangen, um Malik zu warnen! Das Risiko können wir nicht eingehen. Wenn Malik wieder entwischt, hat Silberwolke dann die Kraft, ihn noch einmal einzuholen?« Zale gab kopfschüttelnd zurück: »Es grenzt an ein Wunder, daß er überhaupt so weit durchgehalten hat.« Wieder wandte Ruha sich an den Bauern. »Geh und empfiehl den anderen, den Ort zu verlassen, wenn sie den morgigen Tag erleben möchten.« Sie drängte den Mann die Gasse hinab, und Zale zog sein Schwert. Sie beobachteten ihn schweigend, bis sie schließlich hörten, wie er gegen Haustüren hämmerte. Die Wachen tauchten an der Vorderseite ihrer Türme auf und spähten über die Stadt. Als keiner von ihnen ging, um einen Lagebericht zu erstatten, stand für die Hexe fest, daß der Torwächter gegangen war, um den Flüchtigen zu warnen.
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Die Harfnerin sammelte eine Handvoll Steinchen auf. »Verschwende deine Kraft nicht auf den Versuch, Malik zu töten.« Sie begann, die Steinchen in ihrer Hand zu schütteln. »Töte das Pferd und überlaß mir den Rest.« Die Hexe sprach einen Sonnenzauber und warf die Steinchen. Die Kiesel jagten in einem goldenen Leuchten davon, und das Tor zerbarst in einem Splitterhagel, doch was dann kam, hätte nicht einmal Ruha erwartet. Ein ohrenbetäubender Schlag fegte den Staub von den Festungsmauern, dann schoß plötzlich auf dem Burghof ein Geysir gelblichen Dampfs in die Höhe. Er stank nach brennendem Schwefel und war so heiß, daß er das Fleisch jedes Wesens verbrühte, das er berührte. Kaum einen Moment später war der Hof voller brandblasenübersäter Ratten, gargekochter Riesengrillen und kreischender Gläubiger – die sich zügig in die entlegenen Winkel des Tempels zurückzogen und dort verschwanden. Ruha und Zale überquerten die Straße. Als sie das Tor erreichten, waberte der gelbe Dampf in einer riesigen Wolke daraus hervor. Ein einziger Atemzug, den die Hexe von dem Zeug nahm, schnürte ihr die Kehle zu und brachte ihre Augen zum Tränen. Ein Schwall Ratten, die aus Augen und Nasenlöchern bluteten, begann sich auf die Straße zu ergießen. Die Riesenfliege senkte sich dröhnend vom Himmel herab und schwebte über dem Tor, von wo aus sie die Hexe und ihren Begleiter aus einem ihrer schwarzen Facettenaugen beobachtete. Zale ignorierte sie und trat nach den fliehenden Ratten. »Warum kommen die Cyricanbeter nicht einfach
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mit dem ganzen anderen Ungeziefer heraus?« Er spähte in den gelben Dunst und sagte dann: »Sicher verschwinden sie durch die Geheimgänge – und Malik mit ihnen!« Zale zog sich die Tunika über den Kopf, und ehe Ruha ihn aufhalten konnte, war er in dem kochenden Nebel verschwunden. Die Hexe ließ die Hände unter ihren Schleier gleiten, blies dann ihren Atem in sie hinein und wirkte einen Zauber. Diesmal brachte ihre Magie den Ort zum Beben. Das Torhaus geriet ins Wanken, und das Kopfsteinpflaster klapperte. Aus den Gassen hinter ihr drangen gedämpft die Geräusche von herabstürzenden Tonziegeln und die verzweifelten Rufe der Fliehenden an ihr Ohr. Ruha drehte die Handflächen nach außen in Richtung Hof und blies. Ein unbarmherziger Wind heulte durchs Tor und riß die giftigen Dämpfe mit sich davon. Auf der anderen Seite des sprühenden Geysirs kniete Zale, vielleicht fünf Schritt vom Stall entfernt. Der gelbe Dampf hatte seinen Umhang in einen Haufen zerrissener Fetzen verwandelt, und wo seine Haut zum Vorschein kam, war sie mit einem gelblichen Ausschlag übersät. Er nahm einen tiefen Zug frische Luft, rappelte sich auf und stolperte in Richtung des geöffneten Stalltores – und Ruha ihm hinterher. Der Geysir erbrach einen Donnerschlag, und die Schwefeldämpfe gingen in Flammen auf, was den Hof in der Mitte spaltete. Zale warf noch einen Blick zurück, dann strömte eine Wand von Asche und geschmolzenem Gestein aus dem Riß, der durch den Hof hindurch verlief, hervor und trennte ihn und die Hexe endgültig. Ruha nahm ihren Wasserschlauch von der Schulter
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und öffnete den Verschluß, als die grünschillernde Fliege über die Mauer geflogen kam und vor ihr herabschwebte. Die Hexe zog sich zurück, indem sie rückwärts eine Treppe hinaufstolperte, die ins Torhaus hinaufführte. Währenddessen ergoß sich aus der Erdspalte eine solche Menge Asche und feurigen Gesteins, daß Halah und ich uns einer undurchdringlichen Wand aus brennendem Fels gegenübersahen, als wir durch das Stalltor sprengten. Der Grat türmte sich bereits mannshoch auf, und ein geifernder Schwall geschmolzenen Gesteins sprühte dahinter in die Höhe. Jenseits davon konnte ich nichts erkennen, außer der Festungsmauer und Ruha auf den Stufen der Torhaustreppe. »Die Pest möge sie befallen!« Ich hatte gerade den Schlaf der Gerechten geschlafen, als mich die Torwache wachrüttelte, um mir zu berichten, daß jemand den Tempel beobachtete, und so hatte ich eilends meine Sachen gepackt und war halbwach in die Stallungen geeilt, und deshalb hielt ich immer noch Rindas Aufzeichnungen in den Händen, als ich hin und her blickte, auf der Suche nach einem weiteren Ausgang aus dem Hof. Ich bemerkte Zale nicht einmal, bis Halah sich plötzlich aufbäumte und bedrohlich schnaubte, und nur aus Angst riß ich Rindas Buch herum und hielt es einem Schild gleich vor mich. Zales Schwert fraß sich halb durch den Folianten hindurch. Halah machte einen Satz nach vorn, und das Tagebuch rutschte mir beinahe aus der Hand, denn die Klinge meines Gegners hatte sich in ihm verkeilt, genau wie ein
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Baumstamm bisweilen die Axt nicht mehr hergeben will. Ich ließ die Zügel los und klammerte mich nun nur noch mit den Schenkeln an Halah fest, denn ich packte jetzt das Buch mit beiden Händen und merkte, wie ich den Blick an Zales Waffe entlanggleiten und in seinem mit gelben Blasen übersäten Gesicht verweilen ließ. Er verfluchte meines Vaters Namen und versuchte, mich aus dem Sattel zu zerren, aber Halah riß ihn auf ihrem Weg durch den Hof mit sich. Er tat alles, um auf den Beinen zu bleiben, und ich gab alles, um das Buch nicht fallenzulassen. Plötzlich färbte sich eine Seite von Zales Körper puterrot, und sengende Hitze schlug mir entgegen. Ich warf einen Blick nach vorn und sah, wie sich Halahs Kopf hob, während sie den Grat hinauf auf die lohende Wand aus geschmolzenem Fels zujagte. Weshalb mein Gegner sein Schwert weiter fest umklammert hielt, ist mir ein Rätsel, ein noch größeres vielleicht als die Frage, wie ich mich auf Halahs Rücken halten konnte, als sie über die Erdspalte hinwegsetzte. Ich sah, wie Zales Beine von den Flammen erfaßt wurden; es roch nach verkohltem Fleisch, und ich konnte seine qualvollen Schmerzensschreie hören. Dann wurde er zur orangefarbenen Flamme, und da sah ich die Feuer aus der Schlimmsten von Kelemvors Höllen in jenem Abgrund unter uns lodern. Der Sprung dauerte nur einen Augenblick, doch er erschien mir wie eine Ewigkeit. Meine Haut brannte. Meine Augen schmerzten. Mein Kopf dröhnte, mir drehte sich der Magen um, und der Hals schnürte sich mir zu. Halah landete auf der anderen Seite und jagte mit
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brennenden Hufen einen Strom von geschmolzenem Fels hinab auf das Tor zu. Zales Schwert hing erst von Rindas Buch herab und fiel dann zu Boden, aber das bewahrte die Seiten nicht davor, Feuer zu fangen. Ich schlug es gegen meine Brust, aber nur mit dem Erfolg, daß nun auch die Aba der Hexe in Flammen aufging. Einen Augenblick lang saß ich brennend im Sattel, hielt ein brennendes Buch in Händen und überlegte einfach nur, was ich tun sollte. Dann hörte ich, wie Halahs Hufe über Kopfsteinpflaster klapperten, sah auf und erkannte vor mir das Tor und die eigensinnige Hexe auf den Stufen über dieser grünlichen Riesenfliege. Ich sah, wie die Hexe eine Prise Staub von der Mauer des Torhauses nahm, was mich vor Angst fast um den Verstand brachte, hatte sie doch schon einmal bewiesen, daß sie in der Lange war, mich aufzuhalten. Ich drückte mich so fest es ging an Halah und umschlang ihren Hals mit den Armen, und meine brennende Robe ließ sie noch einmal so schnell galoppieren wie zuvor. Wir waren schon auf halbem Weg zum Tor, als mir auffiel, daß ich Rindas Aufzeichnungen hatte fallenlassen. Ich muß wohl nicht sagen, daß ich mich nicht umdrehte. Es gab wirklich eine Menge anderer Möglichkeiten, die Zentilfeste zu finden. Ruha hob die Hand und wirkte ihren Zauber, aber das riesige Insekt richtete sich auf und blockte ihre Magie einfach ab. »Was hast du getan?« fragte die Fliege. Obwohl das Insekt immer noch die Größe eines Elefanten hatte, verwandelten ihre schwarzen Facettenaugen sich in ein Paar menschlicher Augen, weich und
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dunkel wie die Nacht. Der lange Rüssel schrumpfte zu einer schmalen Nase zusammen, die gräßlichen Mandibeln verbanden sich zu einem schmalen Kinn, und die Flügel faltete sie auf dem Rücken. Sie wurden zu einer wallenden schwarzen Haarpracht. Dann verjüngte sich ihr Leib zu dem einer wohlgestalten Frau, und die Luft um sie spann sich zu einer einfachen Robe, die sich um die Gestalt legte und in der Taille von einer Schließe in Form eines Spinnennetzes gehalten wurde. »Mystra!« Ruha fiel auf die Knie, konnte jedoch nicht umhin, einen Blick an Mystras Avatar vorbei auf den weggeworfenen Folianten zu werfen; vielleicht enthielt das Buch ja einen Hinweis darauf, wohin ihre Beute unterwegs war. Zu ihrer großen Erleichterung hatten die Seiten des Bandes zu brennen aufgehört, als es auf dem Boden aufgeschlagen war. Jetzt lag es qualmend kurz hinter dem Torbogen, weniger als ein Dutzend Schritte entfernt von der heranrollenden Flut aus geschmolzenem Fels. »Hör mir zu!« sagte Mystra. »Antworte mir – was hast du getan?« Ruha sah Mystra wieder an. »Ich habe versucht, Malik aufzuhalten, wie du es befohlen hattest.« »Das hier hatte ich dir nicht befohlen!« Mystra gestikulierte in Richtung des Flammenmeers hinter ihr. »Du hast ein Viertel des Dorfes zum Einsturz gebracht, und den Rest wird dieser Lavastrom hier mit sich reißen.« »Aber du sagtest, das, was ich zerstöre, werde nichts sein im Vergleich zu dem, was ich rette! Du hast gesagt, ich solle tun, was nötig ist, um Malik aufzuhalten – selbst wenn das hieße, ein Königreich auszuradieren!«
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Mystras Augen wurden schwarz vor Zorn. »Willst du mich beleidigen? So etwas würde ich nie sagen.« Schockiert von der Reaktion ihrer Göttin senkte Ruha den Blick und stellte fest, daß der Reisebericht nun nur noch neun Schritte von der nahenden Lava entfernt war. »Ich dachte, du wolltest, daß ich ihn dingfest mache. Ich hatte um ein Zeichen gebetet, und du schicktest mir eine Sternschnuppe.« Das ließ Mystra verstummen, denn sie erinnerte sich gut an sowohl das Gebet als auch an ihre Reaktion darauf. »Ich habe das Zeichen gesandt – aber das gibt dir nicht das Recht, ein Dorf zu zerstören. Was hast du dir dabei gedacht?« Ruha gab die einzige Antwort, die sie wußte. »Daß es dir gefiele, wenn ich ihn aufhielte, koste es, was es wolle.« »Daß ich das hier wollte? Es gibt nur eines, was das hier entschuldigen könnte ...« Mystra wurde nachdenklich und fragte dann: »Ist es das, Ruha? Hat Malik letzten Endes doch noch die Cyrinishad an sich gebracht?« Die Hexe schüttelte den Kopf. »Nein, Göttin, sie ist immer noch in ...« »Sag es nicht! Es mag nicht mehr viel von diesem Tempel stehen, aber er gehört immer noch Cyric.« Ruha runzelte die Stirn. Im Gegensatz zu ihrem ersten Aufeinandertreffen am Rande des Scharfzahnwaldes verwendete Mystra nun ganz freimütig auch Namen. Vielleicht fürchtete die Göttin ja nicht länger, ihre Feinde auf sich aufmerksam zu machen – aber vielleicht gab es auch eine andere Erklärung dafür. »Mystra ...«
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»Nicht jetzt.« Mystra wandte sich der sprudelnden Wand in der Mitte des Hofs zu. Der Grat aus Asche und geschmolzenem Stein hatte sich schon so hoch aufgetürmt, daß er ihren Avatar überragte, und machte keine Anstalten, bald damit aufhören zu wollen. »Jetzt habe ich erst mal ein Dorf zu retten. Wir reden später. Bis dahin wird dir das Gewebe verweigert bleiben.« »Verweigert?« Die Hexe geriet ins Taumeln und wäre um ein Haar die Treppe hinuntergestürzt. »Du nimmst mir meine Magie?« Die Göttin hielt inne und warf der Harfnerin über die Schulter einen Blick zu, wobei sie nicht einmal zu bemerken schien, daß die Lava schon ihre Fußknöchel umfloß. »Fürs erste. Geh, solange du noch kannst. Wenn ich Glück habe, dann versiegle ich deinen Vulkan, bevor er das gesamte Dorf unter sich begräbt.« Ruha verneigte sich vor Mystra und ging dann zu dem Tagebuch, das in der Nähe des Tores auf dem Boden lag. Das flüssige Gestein war bereits bis auf drei Schritt an es herangekommen, aber auch ohne ihre Magie konnte sie schnell genug laufen.
Die Mauern der Zitadelle waren in orangefarbenes Licht gebadet und aufgrund der Hitze aufgeweicht, und die Wehrgänge waren dabei, in sich zusammenzubrechen. Die Anhöhe um die Erdspalte ragte mittlerweile schon höher auf als das Torhaus. An beiden Enden des Risses kniete, größer als jeder Drache, jeweils ein Avatar Mystras, schob ganze Arme voll Schlacke und Asche in die Spalte zurück und verschweißte dann das Ganze mit ihrem magischen Atem. Doch Vulkane sind machtvoll, weshalb Talos der Zerstörer sie auch zu seinen Lieblingsspielzeugen zählt, und selbst dieser winzige hier ergoß sich weitaus schneller in den Innenhof, als die Göttin ihn verschließen konnte. Flüssiges Gestein lag mehr als hüfthoch im Hof. Jeden Moment würde es sich durch die Mauern der Zitadelle hindurchschmelzen und einen Schwall flammenden Sirups ins Dorf hinabschicken. Aber Mystra war nicht in der Lage, noch mehr Avatare ihrer selbst hier zu manifestieren. Der Vulkan war nur eine von tausend Sachen, die sie beschäftigten. Zwei ihrer Avatare waren dabei, sich Unterstützung für den anstehenden Prozeß zu sichern, ein weiterer war damit befaßt zu untersuchen, warum sie nicht vorankamen.
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Vier mußten sich um die Händel kümmern, die sie mit dem Prinzen der Lügen vom Zaun gebrochen hatte, hatten ihre Angriffe Cyric doch keine Wahl gelassen, als ihre Tempel im Gegenzug auch zu attackieren. Überhaupt war sie rund um die Uhr damit beschäftigt, den Finsterwurm durch die Höhlen von Bergisch Talath zu verfolgen, einen Titan in Elfenbaum zu bekämpfen, einen Kraken im Hügelschattensee zu jagen oder aber ihre Tempel zu verteidigen, an zu vielen Orten, um sie alle aufzuzählen. Egal, was sich auch in den Himmeln oder auf Faerûn zutragen mochte, ein Avatar blieb stets im Haus des Wissens und durchforstete Oghmas Bibliothek nach dem einen Zauber, der Adons Geist gegen sie aufgebracht hatte – als ob der Eine seine Tricks in einem Buch nachschlagen müßte, pah! So war sie, als sich plötzlich einer von Kelemvors Avataren aus der brodelnden Lava in der Erdspalte erhobt dankbar für die Hilfe. Sein Avatar war fast ebenso groß wie die beiden, die sie manifestiert hatte, deshalb ragte er auch ab den Schultern aus der feurigen Schlucht hervor, obwohl er von der Hüfte an abwärts immer noch in dem flüssigen Gestein stand. »Schieb die Schlacke zurück in den Spalt, ich werde sie dann direkt hinter dir versiegeln.« Kelemvor stand so unter dem Pantoffel, daß er allen Ernstes ihrer Anweisung folgend hinauflangte, dann besann er sich und zog die Hand zurück. Er fegte einige Lavabrocken von seinem glühenden Kettenhemd, ganz so, als wäre es das gewesen, was er ohnehin die ganze Zeit über schon vorgehabt hatte. Dann sah er in die
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siedende Gesteinsmasse. »Ich habe nicht vor, mich einzumischen. Es ist eine Sache, den Toten des Prinzen der Lügen die Erlaubnis zu verweigern, Faerûn zu verlassen. Aber seine Tempel zerstören? Wenn du nicht aufpaßt, dann beginnst du genau den Götterkrieg, den Oghma fürchtet – und dann wird Ao euch beide verbannen.« Allen beiden Avataren Mystras stand der Mund vor Fassungslosigkeit offen, und der, der Kelemvor gegenüberkniete, hielt inne und starrte ihn an. »Wenn der einzige Grund, weshalb du hier bist, ist, daß du irgendwelche Warnungen aussprechen möchtest, dann verschwendest du deine Zeit.« Mystra deutete mit der Hand auf den orangefarben leuchtenden See, der den Innenhof füllte. »Glaubst du, ich habe die Harfnerin gebeten, das hier zu tun? Ich habe noch nicht einmal eine Ahnung, wie sie es getan hat.« Kelemvor blickte finster drein, denn es erschien doch allzu ungewöhnlich, daß sich eine Lavaspalte genau in dem Augenblick auftat, in dem Ruha ihren Angriff einleitete. »Vielleicht ist es das Werk Talos’.« Mystras Avatar setzte seine Arbeit fort. »Daran habe ich auch schon gedacht. Diese Magie wäre sicher sein Stil, und er hat ebenso gute Gründe, Malik aufzuhalten, wie wir.« Kelemvor nickte. »Da wir gerade von Malik sprechen, warum hast du ihn entkommen lassen? Es wäre dir doch ein leichtes gewesen, ihn zu fassen zu kriegen.« »Gegen Cyrics Zeugen vorzugehen hätte den Bruch meines Eides, den Prozeßverlauf nicht zu behindern,
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bedeutet, den ich Tyr gegenüber schwören mußte, und nebenbei bemerkt hat Ruha mir versichert, daß er derzeit nicht hinter der Cyrinishad her ist.« »Wenn du dir solche Gedanken um dein Versprechen gegenüber dem Unvoreingenommenen machst, warum hast du dann Ruha überhaupt erst hinter Malik hergeschickt?« »Ich hab sie nicht geschickt – die Wahrheit ist, daß ich sie gemieden habe. Wie sollte Tyr mir etwas vorwerfen können, was sie aus freiem Willen heraus getan hat?« Mystra versiegelte einen Abschnitt der Erdspalte mit ihrem magischen Odem und hob dann den Blick. »Willst du mir jetzt helfen oder nicht?« Kelemvor sah zur vorderen Umwallung der Zitadelle, die just in diesem Moment in die Lava stürzte, und schüttelte den Kopf. »Wenn dies Talos’ Werk ist, dann wäre es nicht angemessen, als Gott des Todes das Dorf zu retten.« »Was?« Diesmal verharrten beide Avatare und starrten ihn an. »Meinst du damit, diese Leute hier hätten verdient, was ihnen widerfährt?« »Ich sage, es könnte für mich unangemessen sein, es zu verhindern«, gab Kelemvor zurück. »Als Gott des Todes ist es mein Anliegen, ihre Seelen zu retten, nicht ihre Häuser.« »Dieses Anliegen hält dich doch aber nicht davon ab, Mitgefühl zu zeigen.« Das Torhaus stürzte in den Hof und schleuderte eine mächtige Lavawelle gegen die Mauer, von der sich ein immenses Stück nach außen in Richtung der Hohen Straße durchbog und alsbald barst.
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»Kelemvor, wenn du nicht hier bist, um zu helfen, warum bist du dann überhaupt gekommen?« Die Avatare wandten sich wieder der Lavaspalte zu. »Ich wollte dir nur sagen ...« Eigentlich wollte er sagen: »Wie Cyric Adon in den Wahnsinn trieb«, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Vor seinem geistigen Auge sah er sich vor seinem Spiegel, wie er das Bild eines geteerten Kriegers mit Sicheln aus Eis in den Augen anstarrte. »Was?« Mystra schob einen Arm voll Schlacke in den Spalt, ohne aufzuschauen. »Du willst mir was erzählen?« Kelemvor schloß die Augen, und nicht einmal er selbst war sich sicher, ob vor Scham oder aus Sorge. »Ich wollte sagen, daß ich Zale finden muß.« Er zog sein Schwert und suchte das flüssige Gestein um seine Hüfte herum ab. »Da ist etwas, das ich ihn fragen muß.« Mystra fragte ihn stirnrunzelnd: »Das kannst du nicht in deiner Stadt tun?« »So lange kann ich nicht warten.« Kelemvor durchstöberte weiter die Lava und war darauf bedacht, die Herrin der Mysterien dabei nicht anzusehen. »Zale wird alle elementaren Ebenen bereist haben, ehe seine Seele aufhört zu brennen, und ich muß ihn nun mal jetzt sprechen.« Mystra schob Kelemvor eine Ladung Schlacke vor die Brust. »Mach schnell. Ich werde sicher nicht damit warten, das Ding hier zu verschließen.« Der Fürst der Toten trat zurück und tastete weiter herum. Kurze Zeit später zog er sein Schwert aus dem flüssigen Fels und hielt es hoch. Eine Flamme, rot wie Blut, tanzte auf der Spitze, wobei sie sich prasselnd und
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jammernd hin und her wand. »Zale!« Die Flamme huschte um Kelemvors Schwert herum, das jammern hörte auf, und sie kauerte sich auf der dampfenden Klinge zusammen. »Herr der Toten.« »Zale Protelyus, warum hast du dem Feind erlaubt, dich in diesen Abgrund zu ziehen? Warum hast du dich an das Heft deines Schwertes geklammert, wo du es doch nur hättest loslassen müssen, um dein Leben zu retten?« »Um ... Malik ... aufzuhalten!« Zales Worte schienen von großen Schmerzen und immensem Kraftaufwand begleitet zu werden. »Als du merktest, daß du sterben und somit auch versagen würdest, hast du immer noch daran festgehalten. Warum?« »Nichts zu befürchten ... im Tode.« Zale hielt seinen glühenden Kopf vor dem Schwert gebeugt. »Tapfer im Leben ... sicherer Lohn im Tod.« »Aber du bist ohne Glauben! Wer soll dich belohnen?« Zum ersten Mal erhob Zale sein brennendes Haupt. »Du ... Fürst der Toten! Vertraue deinem Urteil ... mehr als sonst einem Gott ... der Schmeichelei will ... und Opfer.« Kelemvor war so fassungslos, daß er unwillkürlich zu schrumpfen begann, bis er bis zur Brust in brodelnder Lava steckte. »Könnte der Prinz der Lügen recht haben?« Sein Kopf reichte kaum über den Rand des Spalts. »War ich zu anständig?« In dieser Sekunde erhellte sich Kelemvor das ganze
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Ausmaß der grenzenlosen Schläue des Einen und Einzigen. Um Faerûn für sich allein haben zu können, mußte er nur beiseite treten und nichts weiter tun. Mystra würde die eine Hälfte der Arbeit erledigen, indem sie jeder Macht, die ihren geliebten Sterblichen ein Leid zufügen könnte, den Zugang zum Gewebe verweigerte, und Talos der Zerstörer wie auch der Schlachtenfürst Tempus und Shar die Nachtbringerin würden schwach werden, während ihnen scharenweise die Gläubigen davonliefen. Kelemvor würde den Rest erledigen, indem er die Geister der Edlen und Barmherzigen so freundlich behandelte, daß sich viele von ihren Göttern abwenden würden, um sich statt dessen seinem Richtspruch anzuvertrauen. Am wichtigsten war jedoch: Die Mutigen, Tapferen würden jede Furcht vor dem Tod verlieren und sich wie Zale für unsinnige Ziele aufopfern. Faerûn würde bald den Ängstlichen und Verderbten gehören, und wenn es erst einmal soweit war – wenn die übrigen Götter durch die Gnade der Herrin der Mysterien und Kelemvors zu schwach geworden wären –, dann würde der Eine aus seinem »Wahnsinn« erwachen und die Schlechten unter seinem Banner einen, und schließlich würde er die anderen Götter vom Angesicht seiner Welt hinwegfegen. All das erkannte Kelemvor, und ihm wurde auch klar, daß all dies geschah, weil Cyric es so geplant hatte, und doch konnte er sich nicht eingestehen, daß er dem Einen in die Hände gespielt hatte. In seiner Dummheit glaubte er, jeder Mensch strebte nach Tapferkeit und Edelmut, und dabei entging ihm, daß das Beschützen der Hilflosen zu Faulheit und Abhängigkeit führte und daß das Leben noch unerträglicher wurde, wenn er gnädig zu den Toten
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war. Eine Lawine aus heißer Schlacke prasselte Kelemvor auf den Rücken. Eine weitere ging spritzend vor ihm nieder und bedeckte sein Kettenhemd mit zischenden Klumpen flüssigen Gesteins. »Wenn du fertig bist, habe ich noch ein Dorf zu retten.« »Ich habe hier nichts mehr zu tun, aber fertig sind wir noch lange nicht.« Kelemvor senkte seine Klinge und setzte Zale wieder in der Lava ab. »Es tut mir leid, daß deine Reise so lang und schmerzhaft sein wird.« »Was ist mit ... meinem Urteil?« Zales Leib begann zu schmelzen und in die Lava einzugehen. »Was erwartet mich ... in der Stadt der Toten?« »Ich weiß es erst, wenn du hinkommst.« Der Fürst der Toten mußte in die Lava fassen, um sein Schwert in die Scheide zu stecken, und zog sich dann selbst aus der Spalte heraus. Daß sein Kettenhemd von der Hitze weiß glühte und flüssiges Gestein in Klumpen von seinem Körper glitt, bemerkte er kaum. Er war gegenüber den Verheerungen des Feuers ebenso unempfindlich wie gegenüber jeder Art von Schmerz außer dem, der ihn ergriff, wenn Mystra ihm zürnte. Cyrics Tempel war vollständig geschliffen, geschmolzen zu einem Lavasee. Nur drei schmale Zungen flüssigen Gesteins hatten sich über die Hohe Straße geschlängelt, und Kelemvor wußte, daß sie nicht mehr als drei Hütten verschlingen würden, bevor sie ausrollten. Der Fürst der Toten hätte ihrem Lauf mit nicht viel mehr als einem Gedanken Einhalt gebieten können, nichtsdestotrotz wendete er sich ab und hob die Arme, die Finger zu
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einem Trichter geformt. »Avner!« Die schwarzen Umrisse des Seraphen erschienen am abendroten Himmel und schraubten sich dem Boden entgegen. Seine Schwingen waren schwärzer als die Nacht, so daß sie aus mehr Schatten denn Federn zu bestehen schienen, und von Kopf bis Fuß war er in eine zu nachtschwarzem Glanz polierte Lederrüstung gehüllt. Er trug einen Bogen, der so lang war wie sein eigener Körper, zweifach geschwungen für die rechte Spannung und mit einer Sehne aus einem güldenen Faden versehen. An einer Hüfte hing ein Köcher mit gläsernen Pfeilen, an der anderen blitzte ein blankes Krummschwert. Er fegte hinter dem Fürsten der Toten entlang, breitete die Flügel aus und landete auf dem ausgestreckten Finger des Gottes. »Was befiehlst du, Fürst Kelemvor?« Seine Augen blickten ihm wie zwei stählerne Kugeln entgegen, waren sie doch silbrig grau, während ihnen sowohl Iris als auch Pupille fehlten. »Zu Diensten.« »Das sollst du auch sein, mein Seraph. Gehe hin und sieh Menschen in ganz Faerûn beim Sterben zu. »Wenn du dann Zeuge von tausendundzehn Toden geworden bist, kehre zurück zum kristallenen Turm und berichte mir, was du gesehen hast.« »Wie du befiehlst.« Die Herrin der Mysterien trat zu Kelemvor. »Ein hübscher Herold. Ist er der Verkünder deiner neuentdeckten Gleichgültigkeit gegenüber den Hilflosen?« »Vielleicht. Das werden wir sehen, wenn er zurückkehrt.«
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Der Herr der Toten hob die Hand, und der Seraph erhob sich lautlos wie eine Eule in die Lüfte. Der Fürst der Toten blickte seinem Boten noch nach, wie er seine Bahnen über der Tunebene zog und vor dem schattigen Boden verschwand. Dann nahm er die Hand der Herrin der Mysterien. »Ich mache mir Sorgen.« Er sprach, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, wir haben einen schweren Fehler gemacht.« »Einen Fehler?« Mystra dachte an den Fehler, den er begangen hatte, als er sich geweigert hatte, ihr mit dem Vulkan zu helfen, aber sie hatte bessere Möglichkeiten, als ihm das einfach zu sagen. »Was für einen?« Kelemvor wandte ihr sein Gesicht zu, und als er ihr in die Augen schaute, sah er in ihnen das Abbild eines teertriefenden Gottes. »A...« Der Fürst der Toten vermochte Adons Namen nicht auszusprechen, war er doch wie eh und je ein heimtückischer Geselle, der sein eigenes Gewissen höher bewertete als das Wohl seines guten alten Freundes. »A... was, Kel?« Mystra zog ihre Hand zurück. »Ich habe alle Hände voll zu tun. Selbst jetzt, da wir hier stehen, hat Cyric ...« »Alles eine Gewissensfrage! Der Prinz der Lügen ist die Wurzel des Übels.« Die Herrin der Mysterien runzelte die Stirn. »Du hast meine Aufmerksamkeit. Rede weiter.« Der Fürst der Toten schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr sagen, als daß unsere Probleme weiter reichen, als wir sehen, und Cyric ist der Grund für sie. Das ist er schon die ganze Zeit.«
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Mystra wurde nachdenklich, dann hielt sie Kelemvors Blick fest. »Hier geht’s um Adon, nicht wahr? Du weißt doch etwas.« Der Fürst der Toten nickte. »Aber ich kann dir nichts sagen. Die Geheimnisse der Toten gehören unverbrüchlich ihnen allein, und ich werde die Heiligkeit des Grabes nicht entweihen, nicht einmal für dich.« »Aber ...« »Wenn Adon dereinst vor meinem Thron steht, werde ich ihn mit gebührendem Respekt behandeln.« »Vor deinem Thron? Adon ist ja wohl immer noch einer meiner Getreuen. Wenn er stirbt, dann kannst du dir sicher sein, daß sein neues Heim bei mir in ...« Mystra ließ den Satz abreißen, ihre Augen weiteten sich, ihr Blick wurde ruhelos, als sie die Bedeutung der Worte des Fürsten der Toten erfaßte. »Ich werde nicht zulassen, daß er ohne Glauben stirbt!«
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Vater zu werden ist stets eine überwältigende Erfahrung, und das gilt im besonderen für einen Mann, der seine Frau seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Im Zustand völliger Verwunderung galoppierte ich gen Norden und stand dabei so neben mir, daß ich gar nicht merkte, wie die Gipfel um mich herum immer höher und höher wurden, ebensowenig wie die langgestreckte Kurve, die die Hohe Straße in Richtung Westen beschrieb, bevor sie sich durch den Hochhornpaß zwängte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an jene unziemliche Zeit, da meine Frau empfangen hatte, und daran, auf der Stelle nach Hause zu reiten und sie für ihre Untreue zurechtzuweisen. So groß war meine Erregung, daß ich mich kaum darum scherte, daß ich der Harfnerhexe direkt in die Arme rennen, meine heilige Pilgerreise zur Zentilfeste abbrechen und damit alle Hoffnung begraben könnte, Das Wahre Leben aufzufinden und den Einen von seinem Irrsinn zu heilen. Ebensowenig dachte ich daran, daß ich mich hierdurch zu ewigen Qualen in Kelemvors Hölle verdammen würde; keine Folter des Fürsten der Toten konnte schlimmer sein als die Schmach, die meine Ehefrau mir angetan hatte. Nur meine Hingabe an den Ei-
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nen hielt mich davon ab, Halah herumzureißen – meine Hingabe und der Gedanke an all meine Freunde, die hinter meinem Rücken flüsternd über mich redeten! Das waren meine Gedanken, während Halah am Rand eines steilen Felshanges die Hohe Straße hinabgaloppierte, und ich war derart vertieft, daß ich den Schatten jenes Flugwesens, der auf mich fiel, gar nicht bemerkte. Von der Gefahr, in der ich schwebte, wußte ich erst, als mich eine riesige Klaue an der Schulter traf und mich von Halahs Rücken riß, über die Kante des Abgrunds hinweg. Ich fand mich dreihundert Meter über einem bewaldeten Tal an der Klaue baumelnd wieder, und mir war klar, wem ich das zu verdanken hatte. »Hexe!« »Sag es netter, Malik – oder willst du in Silberwolkes Krallen nach Kerzenburg zurückreisen?« Mir wurde augenblicklich klar, wie die Harfnerin mich eingeholt hatte – sie war geradewegs über die Berge geflogen, während ich mit Halah die lange Biegung vor dem Hochhornpaß entlang geritten bin –, und ich verfluchte mich selbst dafür, daß ich mich dermaßen hatte ablenken lassen, daß ich diese Abkürzung nicht vorhergesehen hatte. Ich verrenkte meinen Hals und erkannte, wie die Schwingen des Pferdegreifen silbern aufleuchteten, während er sich immer höher über das Tal erhob. Ruhas kajalumrandeter Blick traf mich über seine Schulter hinweg. Da ich nicht wußte, daß die Herrin der Mysterien der Hexe den Zugang zum Gewebe verweigert hatte, war es meine größte Angst, daß sie vielleicht gerade dabei war, irgendeinen Zauber vorzubereiten, der mich unbeweglich
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werden lassen würde. Ich griff in meine gestohlene Aba und zog meinen Dolch hervor. »Schau, wie hoch wir über dem Boden sind!« Ich sah nicht nach, denn dann hätte ich nicht den Mut gehabt zu handeln. Ich riß den Dolch zurück und verdrehte den Arm, um mit der Klinge auf Silberwolkes Pferdeherz zu zielen. »Nein!« bellte die Hexe. »Du wirst uns beide töten!« »Nicht uns beide!« gab ich zurück, und dann zwang mich Mystras Zauber dazu hinzuzufügen: »Ich stehe unter dem Schutz vonTyrs Magie!« Diesen letzten paar Worten war es zu danken, daß die Hexe die Zeit hatte, um auf Silberwolkes gefiederten Hals zu klopfen. »Faß!« Mein Dolch schnellte vor, und im selben Moment stieß Silberwolkes Kopf zum Angriff herab. Meine Klinge traf seinen gekrümmten Schnabel, glitt an seinem Oberkiefer entlang ab und stach tief in sein Auge. Silberwolke stieß einen Schrei aus und öffnete die Krallen. Ich stürzte. Mein Magen stieg mir in den Brustkorb, und bald waren der Pferdegreif und seine Reiterin nur noch Flecken am Himmel. Ich stürzte an der Oberkante der Klippe vorbei, und als ich herübersah, erkannte ich, wie Halah weiter die Straße hinabgaloppierte. Dann rauschte mir das Tal von unten entgegen, und ich brach durch die wogende Krone einer riesigen Eiche, wobei ich einen Ast zerbrach, der so dick war wie ich selbst, und meinen Weg zum Boden fortsetzte. Immer diese großtuerischen Harfner!
Am Fuße der Aphrunnberge trugen hundert HlondetharFußtruppen hundert Erstürmungsleitern einen mit Felsklumpen übersäten Hang hinauf. Ein steter Pfeil- und Steinhagel prasselte von der Burg ihrer Feinde aus auf sie herab, und zu Dutzenden fielen die Verwundeten ihnen zum Opfer. Je näher die Leitern der Zitadelle kamen, desto weniger Männer blieben übrig, um sie aufzurichten. Das Bellen der Kriegshunde hallte von den Festungsmauern herab. Der Todesseraph sah auf einer scharfen Granitnadel hockend zu, und sechs Avatare Tempus’, des Schlachtenfürsten, schritten über das Schlachtfeld. Mit ihren verbeulten Plattenharnischen, den geschlossenen Visieren und den blutüberströmten Gliedmaßen sahen sie allesamt den Erschlagenen auf dem Hang zum Verwechseln ähnlich, wie sie da Pfeile aus Gefallenen zogen, Wunden heilten und die Verletzten mit neuer Kraft wieder zu den Leitern sandten, und trotzdem hatte sich der Angriff verlangsamt. Die Hlondethar wußten, daß sie die Zitadelle nie würden einnehmen können, und selbst die Gegenwart des Schlachtenfürsten mochte sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Mystra materialisierte sich neben einem von Tempus’
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Avataren, der zufällig gerade dabei war, durch die Lederrüstung eines der Kämpfer hindurchzugreifen, und einen Pfeil aus seiner Lunge zu ziehen. Das Gesicht des Mannes, das normalerweise die Farbe von Ingwer besaß, war jetzt so blaß wie Senf, und der Anblick zweier Götter, die sich über ihn beugten, schien ihn mehr zu erschüttern als der Pfeil in seiner Brust. Er ließ den Blick zwischen beiden hin und her schweifen und schluchzte, lachte und kicherte wie irre. Mystra berührte seine Stirn, und als er sich beruhigt hatte, sagte sie: »Es erscheint mir seltsam, sie zu heilen und dann wieder loszuschicken, auf daß sie wieder verwundet werden.« »Es ist die einzige Möglichkeit, die Schlacht am Laufen zu halten.« Der Fürst der Schlachten hielt inne und erhob sein behelmtes Gesicht, und Mystras Haut brannte unter seinem verborgenen Blick. »Die Hlondethar lieben ihre Kampfzauber; es grenzt an ein Wunder, daß sie überhaupt angreifen, wo du ihnen doch ihre Magie vorenthältst.« Die Herrin der Mysterien zuckte die Achseln. »Es ist nicht meine Schuld, wenn ihre Hexenmeister ihre Studien vernachlässigen.« »Kein Sterblicher kann zwanzig Stunden am Tag lernen.« Der Fürst der Schlachten quetschte den Schaft zwischen den Fingern und zog ihn aus der Brust des Mannes, und an seiner Spitze hingen weder Blut noch Gewebe. »Sie hätten dann keine Zeit mehr zum Essen oder Trinken, ganz zu schweigen vom Kriegführen.« »Das wäre wirklich eine Schande, nicht wahr?« »Mehr, als du denkst.« Der Fürst der Schlachten legte
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seine Hand auf die Wunde und murmelte ein mystisches Wort. Ein. Ring aus Rauch stieg zwischen seinen Fingern auf, und der Mann schrie. »Du bist aber nicht gekommen, um etwas über den Ruhm in der Schlacht zu erfahren. Was willst du?« »Mein Patriarch. Sag mir, was für eine Magie Cyric verwendete, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.« Tempus legte seinen behelmten Kopf schief und schwieg. Mystras Haut kribbelte unter seinem starren Blick, doch sie konnte seinen Gesichtsausdruck durch das Visier hindurch nicht sehen. Die Kriegshunde bellten lauter als zuvor, und von irgendwo tief in den Bergen antwortete ihnen ein unheimliches Geheul. Ein Pfeil traf die Göttin an der Schulter und brach entzwei, und sie fühlte dies weitaus weniger stark als den Blick des Fürsten der Schlachten. Tempus wandte sich wieder seinem Patienten zu und hob die Hand. Ein blutroter Handabdruck markierte die Stelle, an der der Gott die Rüstung des Mannes berührt hatte, aber da war kein Loch oder sonstige Anzeichen einer Verletzung. Der Fürst der Schlachten stellte den Krieger auf die Beine und gab ihm einen Schubs in Richtung der nächstgelegenen Leiter. »Geh und mach deine Maharani stolz.« Den Worten des Fürsten der Schlachten zum Trotz stolperte der Krieger eher kriechend als stürmend über die Felsbrocken hinweg. Der Fürst der Schlachten schüttelte angewidert den Kopf. »Der gehört dem Herrn der Toten – auch wenn Kelemvor ihn nie so bestrafen wird, wie er es verdient.« »Kein Grund, das Thema zu wechseln. Verrate mir,
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was für eine Magie Cyric gegen Adon eingesetzt hat.« Tempus antwortete nicht, er drehte noch nicht einmal sein Visier in Mystras Richtung. Sie sagte: »Bis jetzt habe ich deinen Kriegsmagiern das Leben nur schwer gemacht. Wenn du nicht willst, daß ich jedem einzelnen Zauberkundigen, der in den Krieg verstrickt ist, den Zugang zum Gewebe verwehre, dann antworte.« Tempus sah Mystra direkt an. »Warum sollte ich irgend etwas über Cyric und deinen Patriarchen wissen?« »Weil der Prinz der Lügen hinter diesem Prozeß steckt, und zwar gemeinsam mit dir.« »Mit mir!« Der Fürst der Schlachten schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat nichts mit der Anklage zu tun, außer, daß sie sich auch gegen ihn richtet.« Mystras Stirn legte sich in Falten, lag es doch nicht in der Natur des Fürsten der Schlachten zu lügen. Stets geneigt, den offenen Kampf einer Intrige vorzuziehen, sagte er immer entweder die Wahrheit oder schwieg. »Wer hat behauptet, der Prinz der Lügen stecke hinter diesem Prozeß?« Tempus begann, den Hang hinaufzustapfen, wobei er die Gesteinsbrocken nicht wie ein Sterblicher erklimmen mußte, sondern einfach durch sie hindurch und auf die Luft zwischen ihnen trat. »Ich mag es nicht, wenn jemand Lügen über mich verbreitet.« »Niemand hat behauptet, Cyric stecke hinter dem Prozeß.« Die Herrin der Mysterien schwebte neben ihm her. »Ich habe es aus etwas gefolgert, was Kelemvor sagte: ›Unsere Probleme reichen weiter, als wir sehen.‹« Der Fürst der Schlachten machte halt und kniete neben einem bewußtlosen Kämpfer nieder, ließ zwei Finger
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in den Kopf des Mannes gleiten und drückte den eingedellten Schädel wieder zurecht. »Eure Probleme reichen weiter, als ihr seht – aber der Grund hierfür ist Maske, nicht Cyric.« »Der Meister aller Diebe?« Der Fürst der Schlachten nickte. »Er hofft, zurückgewinnen zu können, was Cyric ihm gestohlen hat.« Der Herrin der Mysterien wurde das Herz schwer. Darin, auf Tempus Druck auszuüben, hatte sie ihre beste Chance gesehen zu entdecken, was Cyric ihrem Patriarchen angetan hatte, und Adons Zustand verschlimmerte sich zusehends. Als sie das letzte Mal bei ihm vorbeigeschaut hatte, war seine Furcht ebenso groß gewesen wie zuvor – und das, ohne daß der Lasaldunst seinen Geist vernebelte. Aus Angst, ihn vollends den Verstand verlieren zu lassen, hatte sie nicht gewagt, seine Gedanken zu durchforsten. Mystra hielt den Blick auf Tempus gerichtet, der seine Hand auf die Kopfwunde des Mannes drückte, und vollführte eine hackende Bewegung mit ihren Fingern. Sofort verschwand die Magie aus Tempus’ Berührung, und der Gefallene blieb bewußtlos. Tempus hob den Kopf, und sein Starren traf Mystra wie ein Sandsturm. »Du wagst es, mich vom Gewebe abzuschneiden?« »Um Adon zu retten, ja. Deine Anklage lenkt mich ab. Vielleicht möchtest du sie ja zurückziehen?« »Das kannst du nicht tun!« drohte der Fürst der Schlachten. »Der Rat ...« »Wird mein Verhalten beim Prozeß beurteilen. Bis dahin wirst du deine Pflichten ohne das Gewebe erfüllen
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müssen.« Die Herrin der Mysterien ließ ihren Blick über das Blutbad auf dem Hang schweifen. »Ich frage mich, wie Faerûn wohl nach sieben Tagen ohne Krieg aussehen wird.« »Nicht einmal du kannst den Krieg aufhalten. Er wird auch ohne Magie überleben.« Die Stimme des Fürsten der Schlachten war eher grüblerisch als zornig. »Aber vielleicht können wir einen Handel eingehen.« »Was für einen?« Ein zweites Heulen ertönte, und diesmal schien es von unter dem Hügel selbst heraufzudringen. Tempus zollte ihm keine Aufmerksamkeit. »Du mußt der Kampfmagie wieder ihre alte Macht zurückgeben, wenn ich dir beweise, daß der Krieg gut für Faerûn ist.« »Das kannst du nie beweisen.« »Dennoch werde ich meine Anklage zurückziehen, wenn du einwilligst, in Betracht zu ziehen ...« »Aber Tempus!« erhob eine sanfte Stimme Einspruch. Ein schwarzer Schatten erhob sich zwischen den Brocken zu Tempus’ Füßen und nahm alsbald die Gestalt eines Fußsoldaten der Hlondethar an. »Was ist denn mit unserer Übereinkunft? Du hast versprochen, die Anklage nicht fallenzulassen.« »Maske!« Die Schärfe, die in Mystras Stimme lag, erregte die Aufmerksamkeit des Todesseraphen, der seine Flügel ausbreitete und herübergeflogen kam, wobei er im Tiefflug über einen Haufen Hlondethar-Soldaten hinwegfegte. Mehr als fünfzig von ihnen brachen aus und rannten zurück zu ihren Stellungen. Die Herrin der Mysterien
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bemerkte es kaum, denn ihr Blick war auf den Schattenfürsten geheftet. »Das hier hat nichts mit dir zu tun.« »Oh doch.« Der Meister aller Diebe sah weiterhin Tempus an und gönnte ihr keinen Blick. »Es hat mit mir zu tun, weil nämlich Feindhammer und ich eine Übereinkunft getroffen haben.« »Diese Übereinkunft betraf den Prinzen der Lügen«, wandte Tempus ein. »Aber ich habe nicht gesagt, daß du die Anklage auf Mystra und Kelemvor ausweiten sollst.« Ein weiteres Heulen erklang von unterhalb der Felsen. Maske spähte in die Spalte, blickte dann wieder zu Tempus und sagte sehr schnell: »Oder daß Tyr die Urteile aufteilen sollte – bis dahin hatte ich gewisse Vorkehrungen getroffen.« »Vorkehrungen?« Der Blick der Herrin der Mysterien verengte sich. »Wenn du gegen mich und Kelemvor intrigierst, dann hör sofort damit auf.« »Sonst was?« schnaubte Maske verächtlich. Ein Schütteln durchlief seine schattenhafte Gestalt; ein zusätzliches Gesicht entstand an seinem Hinterkopf. »Was immer du mir auch antust, es wird nach dem Prozeß rückgängig gemacht. Ich habe dich und deinen Geliebten bereits dazu gebracht, eure eigene Schuld zu beweisen.« »Das hast du?« fragte der Fürst der Schlachten. Das war genau die Art von Komplikation, die er hatte kommen sehen, als der Meister aller Diebe bei ihm aufgetaucht war. »Hattest du nicht gesagt, du hättest deine Schwäche für Ränkespiele überwunden?« »Es war nicht mein Fehler!« Ein tiefes Knurren erdröhnte unter den Steinen zu Maskes Füßen, und er
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begann, den Hügel hinauf Richtung Burg Haken zu schlagen. »Ganz nebenbei, du hast nichts zu befürchten. Mystra und Kelemvor werden sich ebensowenig retten können wie Cyric.« Mystra schnaubte. »Wenn dem so ist, was sollte mich dann davon abhalten, dich auf der Stelle zu vernichten?« Tempus antwortete: »Tyr der Gerechte.« Das Visier des Fürsten der Schlachten drehte sich nach oben, in Richtung von Maskes flüchtender Erscheinung. »Ich werde den Fürsten der Schatten wohl als Zeugen aufrufen müssen. Es ist nur angemessen, die Identität dessen zu enthüllen, dessen Idee dieser ganze Prozeß war.« Maske blieb auf der Stelle stehen. »Aber wenn Cyric rausfindet, daß ...« »Vom Prinzen der Lügen hast du nichts zu befürchten«, beruhigte ihn Tempus. »Nicht, wenn alles nach deinem Plan läuft.« Der Fürst der Schatten welkte auf seine halbe Größe zusammen, und in just diesem Moment erfüllte der Gestank fauligen Fleische die Luft. In den Schatten zu Tempus’ Füßen tauchte ein gelbes Augenpaar auf, und Kezef sprang zwischen den Felsbrocken hervor. Ehe die Bestie ihn aber finden konnte, war er bereits den Abhang hinaufgehastet und in einem der Schatten unter den Burgmauern verschwunden. Kezef gab ein tiefes, unheilvolles Knurren von sich und hob seine schleimtriefenden Nüstern, um die Luft einzusaugen. Mystra deutete den Abhang hinauf. »Dort entlang.« Kezef legte den riesigen Kopf auf die Seite, verzog dann das Maul zu einer Art Grinsen und sprengte über die Felsen davon. Er krachte durch eine schwere Hlon-
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dether Sturmleiter und zerquetschte die armen Kerle, die sie getragen hatten, unter seinen Pfoten. Dann verschwand er in den Schatten, seiner Beute hinterher. Der Todesseraph spreizte die Flügel und stieg in den Himmel auf. Mystra sah noch einmal zu Tempus und schüttelte den Kopf. »Du solltest klüger sein, als dich in die Ränkespiele des Meisters aller Diebe verstricken zu lassen. Das wird ein böses Erwachen für dich.« »Möglich, aber ich habe bereits mein Wort gegeben.« Tempus blickte den Hang hinauf in Richtung des zögerlichen Angriffs der Truppen aus Hlondeth. »Nebenbei bemerkt hast du mir auch gar keine Wahl gelassen. So kann das mit dem Krieg nicht weitergehen.«
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Von allen Orten in der Stadt der Toten versinnbildlichte der Ring der Verzückung am deutlichsten, wie Kelemvor herrschte. Der Ring war ein riesiger, kreisförmig angelegter Garten und bildete den Punkt, an dem ein Dutzend Stadtbezirke zusammentrafen, wobei der Bezirk Bußhügel von ihm umschlossen wurde, und von hier aus konnte der Fürst der Toten seine ganze Stadt überblicken. Im Kloster Pax, einem weit ausgedehnten Gebiet aus hohen Gipfeln und schattigen Tälern, verweilten die Seelen von friedliebenden Eremiten, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes begehrt hatten als Ruhe und Abgeschiedenheit. Daneben lagen die Idyllweiler, die Dörfer einfacher, ländlicher Geister, die die Familie und gute Freunde höher schätzten als Macht und Reichtum. Diese beiden wurden umrahmt von der singenden Stadt und dem ertragreichen Wald, in die der Herr der Toten all jene Seelen sandte, die in ihnen glücklich werden mochten. An sie angrenzend gab es noch weitere Bezirke, angefüllt mit freundlichen und noblen Seelen, die sich entweder von ihrem Gott abgewandt oder aber überhaupt nie einen gefunden hatten. Das Panorama im Rücken des Fürsten der Toten war weitaus weniger schmeichlerisch für das Auge. In den
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Säuresümpfen scharten sich die Geister von Scharlatanen und Schwindlern auf Knüppeldämmen und Brücken zusammen und flehten Durchreisende um Hilfe an. Der blutrote Dschungel nebenan war angefüllt mit Mördern und Folterern aller Couleur, allesamt in hungrige Bestien verwandelt, die allzusehr damit beschäftigt waren, einander zu verschlingen, um fliehen zu können. Neben diesen beiden Bezirken lagen das Gassenlabyrinth und die Stadt der Kälte, in die Kelemvor die Seelen von Dieben und Zuhältern verbannte, und hinter diesen lagen die Heimstätten all der zügellosen und pragmatischen Seelen, die es sich zur Berufung erkoren hatten, sich nur um sich selbst und um niemanden sonst zu scheren. »Weißt du, Jergal, es gab einmal eine Zeit, da mußte jede Handlung, die ich vollführte, selbstsüchtig sein.« Während der Fürst der Toten sprach, erschien der schattenwabernde Mantel seines Seneschalls neben ihm. »Ja, der Fluch der Lyonsbanes: selbstlose Tat, Verwandlung in ein menschenfressendes Monster.« »Wohin hättest du mich geschickt?« Der Fürst der Toten drehte sich um und wies auf das Schlangennetz. »Dahin vielleicht? In die Heimstatt der hoffnungslos Verwirrten?« »Ich hätte dich nirgends hingeschickt«, antwortete Jergal. »Myrkul hätte dich in den Leichenwall gesteckt, und wer kann schon sagen, was Cyric getan hätte?« »Ich konnte es mir gut vorstellen.« Die Stimme war die Mystras, und sie erschien auf dem Hügel direkt neben Kelemvor. »Aus diesem Grund hatte ich auch so unnachgiebig darum gekämpft, ihn zu stürzen, ehe er dich finden konnte.«
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Kelemvor entließ Jergal kraft eines Gedankens und wandte sich dann an Mystra. »Ich bin froh, daß du mich davor bewahrt hast, der Gnade des Prinzen der Lügen ausgeliefert zu sein, aber manchmal überlege ich, ob es klug war, mir seinen Thron zu übergeben.« »Ich habe dir gar nichts übergegeben. Die Bewohner der Stadt haben dich zu ihrem Herrscher gemacht.« Die Augen des Fürsten der Toten füllten sich mit Trauer. »Das habe ich nicht vergessen. Fast denke ich, es wäre für mich leichter, ein wahrer Todesgott zu sein, wenn ich das könnte.« Der Blick der Herrin der Mysterien verfinsterte sich. »Ich mag dieses ›Denken‹ nicht. Das Handeln steht dir besser zu Gesicht, und ich wünschte, du würdest bald damit anfangen!« Kelemvor fuhr zusammen, als sei er geprügelt worden, dann hob er den Kopf und reckte sich. »Gut möglich. Bist du gekommen, mir das zu sagen?« Mystra schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es Maske ist, der hinter all dem steckt, und nicht Cyric.« Kelemvor nickte. »Ich weiß. Avner kehrte zum kristallenen Turm zurück und berichtete alles, was Maske gesagt hatte.« »Auch seine Behauptung, uns übertölpelt zu haben?« »Ich fürchte, es ist mehr als nur eine Behauptung. Er ist zu mir gekommen und hat gefordert, daß ich Avner als einen seiner Falschen bestrafe, und ich bin ihm wie ein blinder Bär in die Falle gegangen. Ich habe mich geweigert.« Mystra runzelte die Stirn. »Aber Avner fiel im Dienste
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seiner Königin.« »Das würde eine Menge bedeuten, wenn er einer von Torms Anhängern gewesen wäre. Aber Avner hat nie einen anderen Gott verehrt als Maske.« »Verstehe.« Die Herrin der Mysterien biß sich auf die Lippe. »Was führt Maske wohl im Schilde? Ich habe keine solche Forderung gehört.« Der Fürst der Toten schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber ich kann dir sagen, daß es nur einen Weg gibt, seiner Falle zu entgehen.« »Nämlich?« »Über uns nachzudenken. Geh sicher, daß wir unserer Natur gemäß und dem Gleichgewicht entsprechend handeln.« Die Herrin der Mysterien verdrehte die Augen. »Ich denke, es wäre klüger, unsere Gegner dazu zu zwingen, ihre Anklage fallenzulassen. Ich werde mich um den Meister aller Diebe kümmern, aber du mußt den Fürsten der Schlachten übernehmen.« »Ihn übernehmen?« Kelemvors Tonfall verriet seinen Argwohn. »Wie?« »Halte den Tod von der redlichen Seite jeder Schlacht fern.« »Den Tod fernhalten?« Der Fürst der Toten war so geschockt, daß er nichts weiter sagen konnte. »Nichts könnte alle Kriege auf ganz Faerûn rascher beenden. Tempus wäre gezwungen zu tun, was wir wollen.« »Du bist genauso verrückt wie Cyric!« schrie Kelemvor. Das war selbstverständlich gänzlich unmöglich; Mystra war nicht schlau genug, um auch nur halb so
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verrückt zu sein wie Cyric. »Selbst wenn ich entscheiden könnte, welche Seite die gerechte ist – und das fällt ganz klar in die Zuständigkeit Tyrs, nicht in meine –, würde Tempus das Versprechen, das er Maske gegeben hat, niemals brechen.« »Wenn ich mit Maske fertig bin, wird er Tempus anflehen, die Anklage fallenzulassen.« Kelemvor legte den Kopf schief. »Ich dachte, du hättest versprochen, dich nicht in den Prozeß einzumischen?« »Das war, ehe Adon ein Leid angetan wurde. Um es kurz zu machen, Maske war bisher nicht Teil des Prozesses, und er wird es ebensowenig in Zukunft sein – es wird keinen Prozeß geben, zumindest nicht gegen uns.« Der Fürst der Toten atmete tief durch und schwieg. Mystra musterte ihn. »Du wirst es nicht tun.« Der Fürst der Toten schüttelte den Kopf. »Du bittest mich, meine Pflicht als Gott des Todes zu vernachlässigen.« »Aber es wäre für Adon!« »Ich weiß.« Kelemvor schloß die Augen. »Aber meine Weigerung ist für uns. Wenn du das tust, dann bist du verloren.« Die Herrin der Mysterien taumelte zurück. »Was ist nur mit dir los?« Sie trat von dem Hügel ins Nichts hinaus. »Wir sprechen uns wieder, wenn du wieder bei Sinnen bist!« Kelemvor beobachtete, wie Mystra verschwand, und sah dann noch einmal zum Schlangennetz. »Jergal!« »Wie immer zu deiner Verfügung.« Der leere Umhang des Haushofmeisters erschien an Kelemvors Seite. »Wie
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kann ich zu Diensten sein?« »Hast du gehört, was sich zwischen Mystra und mir abgespielt hat?« »Wolltest du, daß ich es höre?« Kelemvor dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht.« Jergals gelbe Augen schwenkten beiseite, blickten auf ein Beet blutroter Lilien. »Dann habe ich nichts gehört. Sonst noch etwas?« Kelemvor nickte und blickte seinen Seneschall fest an. »In einer Hinsicht hatte Mystra recht; ich sollte langsam anfangen zu handeln.« Von der Hügelspitze aus betrat er direkt seinen Thronsaal im Kristallturm, auch wenn die Entfernung eigentlich weiter war, als ein Kamel an zwei Tagen hätte laufen können. »Jergal, ich will, daß du eine Liste anfertigst mit allen Urteilen, die ich gesprochen habe, seit ich der Gott des Todes geworden bin.« Jergal erschien in seinem leeren, bannerartig im Wind flatternden Umhang direkt neben Kelemvor. »Alle Urteile?« »Alle Urteile. Avner wird bald mit seinem Bericht zurückkehren, und wenn alles so läuft, wie ich denke, dann werde ich eine Menge zu tun bekommen.«
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Es kostete Halah nicht eben viel Zeit, mich in dem Wald, in dem ich abgestürzt war, zu finden, denn meine Hand war mit Silberwolkes Blut benetzt, und für derlei Gerüche hatte sie eine sehr scharfe Nase. Binnen weniger Minuten saß ich auf ihrem Rücken und galoppierte dahin. Über die Anstrengung hinaus, die mein Schreck für Cyrics muffiges Herz bedeutet hatte, ging es mir nach meinem tiefen Sturz nicht schlechter als zuvor. Auch wenn meine Gedanken zu einem Großteil noch um das untreue Wunder meiner Frau kreisten, hatte ich meine Lektion gelernt und warf jetzt hin und wieder einen Blick über die Schulter. Allem Anschein nach war unser kleiner Ausflug dem Pferdegreif der Harfnerin sehr viel schlechter bekommen als mir. Den ganzen Tag über konnte ich kein Anzeichen der Hexe oder ihres Tierchens erkennen, und so kam es, daß ich kurz vorm Dunkelwerden, zur Zeit des Abendmahls, in Arabel eintraf. Obwohl der Eine die Stadt dadurch gesegnet hatte, daß er vor der Zeit der Sorgen in ihr lebte, glich Arabel mit seinen streunenden Hunden und den aus offenen Gossen schwärmenden Insekten jeder anderen Barbarenstadt aufs Haar. Die Straßen waren eng, verwinkelt und nahezu menschenleer, denn die meisten Stadtbewohner
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waren in ihren Häusern mit dem Einnehmen ihrer Mahlzeit beschäftigt. Der Duft gebratenen Fleisches und warmen Brots lag in der Luft. Nach meiner qualvollen Flucht am Morgen und dem anschließenden harten Ritt hielt ich mich eines guten Essens und eines weichen Bettes für würdig. Ich lenkte Halah auf eine der wenigen Personen zu, die noch unterwegs waren, einen stämmigen Wächter, der am Eingang einer Gasse stand. Als wir uns näherten, wandte er uns sein Gesicht zu und zog die Hellebarde näher an seinen Körper heran. »Sei gegrüßt«, sagte er. »Wie kann ich ...« Ehe ich ihm auch nur eine einzige Frage stellen konnte, hatte Halah auch schon seine Hellebarde entzweigebissen und ihn rückwärts in die Gasse geschubst. »Im Namen Torms!« Der Wächter ließ seine nutzlose Waffe fallen und griff nach seinem Schwert. »Halt dein Tier unter Kontrolle!« Die arme Seele wußte gar nicht, wie dumm das war, was er gerade gesagt hatte. Ehe seine Klinge noch die Scheide verlassen hatte, hatte Halah dem verdutzten Kerl bereits die Hand abgebissen. Es hat wenig Sinn zu beschreiben, was nun geschah, außer vielleicht, um zu erwähnen, daß ich großes Glück hatte, daß ich wenigstens noch seinen Geldbeutel an mich bringen konnte, bevor mein gefräßiges Reittier den auch noch verschlang. Ich zog mich zum Eingang der Gasse zurück, und dank meiner dunklen Aba und zerzausten Erscheinung schaffte ich es, verdächtig genug auszusehen, daß die wenigen Passanten die Straßenseite wechselten. Als ich Halah dabei zuhörte, wie sie fraß, wanderten meine Gedanken
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ganz von selbst zu meinem eigenen leeren Magen und dem weichen Lager, das ich bald beziehen würde. Als ich an ein weiches Bett dachte, kamen mir auch wieder mein Weib und ihre untreue Zeitplanung jenes Wunders in den Sinn. Mir kam die Galle hoch, die Brust schnürte sich mir zusammen, und ich wurde so zornig über das, was Zuhause in Calimshan passierte, daß ich die schlaksige Gestalt in dem Kapuzenumhang noch nicht einmal bemerkte, bis sie fast an mir dran war. Ich trat auf sie zu und hoffte, sie mit derselben Frage zu verwirren, die ich ursprünglich dem Wächter zugedacht hatte. »Mein Herr, könnt Ihr mir ein Gasthaus empfehlen?« »Natürlich!« Die Gestalt sprach mit tausend Stimmen, und als sie schließlich den Kopf hob, erkannte ich Cyrics Knochengesicht. »Aber was nützt dir ein Gasthaus, wenn du die Cyrinishad noch nicht hast?« Mystras Zauberbann zwang mich zu sagen: »Ich bin hungrig und müde.« »Na und?« fragte der Prinz der Lügen. Ich seufzte, denn ich wußte es besser, als darauf zu bestehen, daß ich ohne Rast nicht Weiterreisen konnte. Die Wahrheit war schlicht, daß ich mich selbst bemitleidete und darum nicht Weiterreisen wollte, und wer konnte schon wissen, was ich sonst noch alles ausplaudern würde? »Malik, es scheint, als seiest du nicht mehr mit ganzem Herzen bei deiner Mission.« Der Eine klopfte sich an die Brust, wie um mich zu erinnern, woher er das wußte. »Vielleicht bist du ja etwas ... abgelenkt?« »Vielleicht«, sagte ich, und dann ließ mich der Huren-
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zauber noch hinzufügen: »Ich kann an nichts anderes mehr denken als an die Schande, die meine Frau und der Prinz über mich gebracht haben!« Der Prinz der Lügen grinste breit, was in einem Knochenschädel wirklich furcheinflößend aussieht, und sagte dann: »Das hab ich mir doch gedacht.« Der Eine sah einen Moment lang weg und meinte dann: »Du brauchst dich nicht länger um deine Frau und den Prinzen zu sorgen. Ich habe das Problem beseitigt.« »Beseitigt, Allmächtiger?« »Ja! Du weißt, was ›beseitigen‹ heißt, nicht war? Laß sie dir nicht mehr im Hirn herumspuken.« »Sie?« Ich stolperte zurück, denn es war eine Sache, meiner untreuen Frau den Tod zu wünschen, und eine völlig andere zu wissen, daß er sie ereilt hatte. »Meine Frau ist ... weg? Ich werde sie nie wiedersehen?« »Nicht in diesem Leben.« Die schwarzen Sonnen unter des Einen Stirn erstrahlten zum Doppelten ihrer üblichen Größe. »Es überrascht mich, daß ihr Tod dich grämt. Wie kannst du an deine Frau denken, wo ich vor Gericht stehe?« »Wegen der furchtbaren Schande, die sie ...« Hier schien meine Kehle sich von selbst zu verschließen, und eine andere Antwort sprudelte aus meinem Mund hervor: »Weil ich sie vermissen werde.« Cyrics Kiefer schlugen aufeinander, dann sah er mich so lange an, daß ich schon dachte, er hätte sich in eine Statue verwandelt. Doch er konnte nicht überraschter darüber gewesen sein als ich selbst, hatte ich die Wahrheit meiner Worte doch selbst nicht bemerkt, bis sie mir
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über die Lippen gekommen waren. Schließlich schüttelte Cyric den Kopf. »Ich werde sie nicht wiedererwecken. Sie stellt eine zu große Ablenkung für dich dar.« Er legte mir einen seiner knochigen Arme um die Schultern und zog mich an sich heran, so nah wie einen Bruder. »Aber vielleicht – wenn du sehr schnell reitest – werde ich sie von der Fugenebene her rufen hören, und dann wirst du, nachdem du die Cyrinishad an dich gebracht hast, in der Burg des Obersten Thrones wieder mit ihr vereint sein.« Ich wußte nicht, ob ich verzweifeln oder frohlocken sollte, denn er hatte nicht erwähnt, wie bald das sein würde. »Das ist mehr, als ich verdiene!« Der Prinz der Lügen klopfte mir auf die Schulter. »Ach was, überhaupt nicht. Wenn du versagst, wirst du deine Frau in der Stadt der Toten wiedersehen – das verspreche ich dir.« Der Eine schaute zum Sturmhorngebirge, das jenseits der Stadtmauern aufragte. »Jetzt denk nicht mehr an deine Gattin. Da sind andere Frauen, um die du dir Gedanken machen mußt.« Ich stieß mich von dem Gebäude ab und spähte in dieselbe Richtung. Dort sah ich die entfernte Gestalt eines Pferdegreifen mit seiner Reiterin sich gegen die blutrote Scheibe der untergehenden Sonne abzeichnen. »Diese elende Hexe ist eine Dämonin des Abgrunds!« »Nein, Malik«, korrigierte der Eine. »Sie ist Harfnerin.«
Wenn ein Mann von einer unerklärlichen Angst erfaßt wird und das auch weiß, dann beginnt er, sich vor seinem eigenen Verstand zu fürchten. Er zweifelt an dem, was ihm seine Augen zeigen und an dem, was seine Ohren ihm sagen, was er riecht und schmeckt, und selbst an den Gedanken, die seinen Kopf erfüllen. Er kann sich über nichts mehr sicher sein, außer darüber, daß er existiert und daß da draußen irgend etwas ist, das ihn nicht existieren lassen will. Dies ist der Zustand, in dem sich Adon der Patriarch befand. Er lag auf seinem unwürdigen Lager, die Seiten seiner Strohmatratze umklammert, voller Furcht, die Augen auf irgend etwas anderes zu richten als auf die Kassettendecke hoch über ihm. Als er nach draußen schaute, glitt sein Blick zwischen den Geländersäulen des Balkons hindurch und fiel auf den Avatar der Herrin der Mysterien am Ufer des Hügelschattensees. Eine Wolke aus Haar umfloß ihr Haupt wie schwarzer Rauch, und ihre blutigroten Klauen schleuderten Blitz und Feuer auf ein vielarmiges Tentakelmonster, das sich im Wasser hin und her warf. Ihre Anwesenheit beunruhigte Adon so sehr wie seine feste Überzeugung, daß er sich all dies nur einbildete.
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Der Kampf lief so lautlos ab wie eine Fata Morgana; die Blitze und das wallende Feuer donnerten und krachten nicht, und wenn das schleimige Wesen sein Maul öffnete, um zu brüllen, gab es nicht den geringsten Laut von sich. Das kam daher, daß Mystra, die den Schlaf ihres gepeinigten Patriarchen nicht stören wollte, den Kampf mit einem Vorhang der Stille umgeben hatte. Doch das konnte Adon nicht ahnen. Ihm erschien der Kampf wie ein Traum, nur daß er wach war, und da er wachte, konnte der Traum nur eine Halluzination sein, und wenn er halluzinierte, dann mußte er verrückt sein. Dieser Gedanke brachte ihm große Erleichterung. Wie jeder Narr, der je eine betrügerische Frau geliebt hat, zog Adon Unwissenheit dem Betrogenwerden vor; den Verstand zu verlieren war nichts als die Entschuldigung, die er brauchte, um das zu ignorieren, was er in den Augen Nadisu Bhaskars erblickt hatte. Wo zuvor noch ein Herz voll Verehrung für Mystra in seiner Brust geschlagen hatte, gab es jetzt nur noch eine nagende Leere, die er nicht ertragen konnte. Er hatte diese Leere schon einmal empfunden, als er einst den Glauben an Sune verloren hatte, nachdem der Dolch eines Verrückten ihm das Gesicht zerschnitten hatte. Noch Monate später hatte er sich krank und leer gefühlt, und er konnte solch eine Leere nicht noch einmal erdulden. Der Eindruck ließ sich aber nur schwer ignorieren. Wann immer er irgendwo anders hinblickte als an die Decke, erschien ihm Mystra in all ihrer schrecklichen Pracht. Ihre knurrende Fratze war in jedes Brett der immensen Doppeltür des Zimmers geschnitzt, und ihre furchterregende Gestalt war an den Wänden vielfach als
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Relief grauenhaft in Szene gesetzt. Adon erinnerte sich, daß er selbst die Szenen ausgewählt hatte, aber aus irgendeinem Grund hatte er seinerzeit geglaubt, sie stellten Wunder dar, nicht Kataklysmen. War er damals verrückt gewesen? Oder war er es jetzt? Nach vielen Stunden hatte sich Adon entschlossen, seinen Wahnsinn auf die Probe zu stellen, indem er ein Relief suchte, dessen er sich sehr genau erinnerte. Auf der seinem Bett gegenüberliegenden Wand befand sich eine Darstellung der Göttin, in der sie die Hände von zwei rivalisierenden Königen zusammenführte. Einst hatte er diese Szene als Darstellung von Mystras göttlicher Liebe erachtet. Wenn er es jetzt betrachtete und irgend etwas anderes sah, konnte er sich sicher sein, daß er den Verstand verloren hatte. Adon löste den Blick von der Zimmerdecke. In dem Augenblick, da sein Blick auf das Relief fiel, verschwamm seine Sicht. Er atmete durch, kniff die Augen zusammen und zwang sich hinzusehen. Halb erwartete er, daß die Göttin sich zu bewegen beginnen würde, doch sie blieb ebenso unbeweglich wie jeder andere Stein auch. Sein Blick klärte sich, und er seufzte erleichtert. Keine Fänge oder Klauen, keine blanken Knochen, die durch das Fleisch in ihrem Gesicht stachen. Dennoch war das Relief ebenso sanft und weiß, wie die Haut der Herrin der Mysterien gewesen war, als sie ihn das letzte Mal besuchen kam. Die seidigen, langen Locken mochten auch die rauchschwadenartige Haarpracht gewesen sein, derer er sich entsann, und wer mochte schon mit Sicherheit sagen, ob sich der Künstler Zähne hinter ihren vollen Lippen vorgestellt hatte oder
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vielleicht doch eher Fänge? Adons Atem ging schnell und flach, aber er zwang sich, weitere Szenen zu betrachten. Drängte Mystra da eine Feuersbrunst zurück oder half sie ihr, sich über die Felder auszubreiten? Hielt sie jene Flutwelle auf oder beschwor sie sie herauf? Adon schloß die Augen und weinte aus Verzweiflung leise vor sich hin. Er war darauf bedacht, nicht aufzuschreien, denn er wollte nicht, daß eine MystraAnhängerin hereinkam, um nach ihm zu sehen. Sie stanken nach der Magie der Göttin, und der Geruch ließ ihn würgen und sein Lager besudeln. »Es ist alles so vage! Sehe ich diese Dinge nun oder nicht?« »Was für Dinge, Adon?« Auch wenn die Stimme so leise wie ein Gedanke war, wußte der Patriarch doch, daß sie nicht seinem Kopf entstammte. Er warf seine Decke von sich, rollte sich auf die Knie und schnellte herum, um nach der Sprecherin zu schauen. Das Zimmer war leer. »Das beweist es.« Adon kauerte sich zusammen. »Ich bin verrückt.« »Verrückt?« Jetzt kam die Stimme von hinter ihm. Sie war weich wie die einer Frau und kränklich süß. »Nicht im geringsten. Wenn du verrückt wärest, gehörtest du Cyric. Glaubst du, ich würde das zulassen?« »Aber ich bin verrückt.« Der Patriarch weigerte sich, sich nach der Stimme umzuwenden. »Ich höre Stimmen.« Ein Lachen erschallte. »Ist das nicht ganz normal,
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wenn eine Göttin mit ihrem Patriarchen spricht?« Etwas raschelte auf der anderen Seite des Zimmers. Adon wandte den Kopf in Richtung des Geräusches, sah aber nichts. Es kam von dem Relief in der Nähe der riesigen Doppeltür. Er brach in Schweiß aus und starrte die dargestellte Szene an. Das Bild zeigte die Herrin der Mysterien, die einen wilden Reigen mit gehörnten Unholden tanzte. Die Bestien waren überall um sie herum, fielen zu Boden und wanden sich in Ekstase – oder warfen sie sich schmerzgepeinigt am Boden hin und her? Adon sah keinen Unterschied mehr; was hier dargestellt war, hing voll und ganz davon ab, wie er es betrachtete. Die Ungeheuer, so entschied er, konnten entweder grinsen oder Fratzen schneiden. Adon kniff die Augen zu. »Wenn dir irgend etwas an mir liegt, Mystra, dann laß mich allein.« »Du hast nichts zu befürchten. Ich werde dir nichts tun.« Der Patriarch ließ sich über das Bett gleiten, weg von dieser Stimme, und seine Füße berührten den Boden. Er warf einen Blick über seinen Balkon und sah die Herrin der Mysterien dort draußen immer noch den Kraken bekämpfen. Das raubte ihm jedoch nicht die Fassung, war er doch Herr seiner Sinne genug, um sich zu entsinnen, daß Götter mehr als einen Avatar ihrer selbst zu erzeugen in der Lage waren. Schritte hallten über den steinernen Boden, als hätte jemand den Raum betreten. Adon sah noch einmal zur Tür und wurde gewahr, wie Mystras Form sich aus dem Relief löste und langsam auf ihn zukam.
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Der Patriarch kauerte sich hinter das Kopfbrett seines Bettes. »Bleib weg!« Die Alabastergöttin war klein, sie reichte dem Patriarchen nur bis zur Hüfte. Ihre Locken umflossen sie wie fahle Rauchschwaden, und ihre Augen erstrahlten in einem bösartigen, gelben Licht. Unter der Wölbung ihrer Oberlippe glänzten die Spitzen fünf kleiner Fangzähne. Die Gestalt wies mit einer ihrer weißen, klauenbewehrten Hände hinab auf ihren blassen Leib. »Wie kannst du an dem zweifeln, was du siehst, wo es doch in Stein gemeißelt vor dir steht?« Adon schrie, denn was da vor ihm stand, war ein Unhold, schlimmer als jeder aus dem Abyss. Die Tür zum Vorraum schwang auf. Prinz Tang trat ein, ein Schwert mit abgeschrägter Spitze vor sich haltend. »Patriarch! Was ...« Der Avatar wedelte mit einem seiner Arme nach dem Prinzen. »Hinaus!« Die Tür krachten augenblicklich wieder zu und schleuderte Prinz Tang zurück über die Schwelle. Er hatte keine Chance, seine Hand zurückzuziehen; sein Unterarm wurde zwischen den mächtigen Torflügeln eingeklemmt. Es krachte vernehmlich, und die Waffe fiel scheppernd zu Boden. Der Prinz gestattete es einem Schmerzensschrei, über seine Lippen zu kommen, fand jedoch schnell wieder zu seiner üblichen Contenance zurück. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, sagte Tang, der durch den Spalt zwischen den beiden Torflügeln schielte. Trotz der unnatürlichen Krümmung seines Armes lag kein Schmerz in seiner Stimme. »Ich wollte
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nicht stören.« »Dann schweig!« Mystra gestikulierte in Tangs Richtung. Mit geschlossenen Augen ging er nun, den Arm immer noch in der Tür gefangen, zu Boden. Die Göttin schenkte dem kaum Beachtung, sondern hob statt dessen ihre alabasterfarbenen Arme Adon entgegen. »Komm zu deiner Göttin und laß dich trösten.« Adon hatte nur Augen für Tangs gebrochenen Arm. Die Mystra aus seiner Erinnerung hätte einen Sterblichen nie so grausam verstümmelt. Natürlich nicht, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Du hättest dich ja auch von ihr abgewandt, wenn du die Wahrheit über sie gekannt hättest, und sie war darauf angewiesen, daß du ihre Kirche gründest. Mystra war stets gut in derlei Dingen – oder hast du vergessen, wie sie Kelemvor und mich gegeneinander ausgespielt hat? »Cy..., Cyric?« In dem Moment, da Adon diesen Namen ausstieß, sprang Mystras Avatar aufs Fußende seines Bettes. »Komm zu mir!« Die Stimme des Avatars war so eindringlich, daß Adon plötzlich merkte, wie er gehorchte und das Kopfbrett umrundete. Nein! Wenn du zu ihr gehst, kann ich dich nicht schützen. Adon hielt inne. Rufe meinen Namen, und ich kann dich retten. »Mich retten?« Adon betete kopfschüttelnd, er möge noch nicht so wahnsinnig sein, solch eine Lüge zu glauben. »Nie würdest du mich retten.«
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Sprich meinen Namen aus, und ich rette dich vor ihrem Zorn. Die alabasterfarbene Göttin sprang wieder vom Fußende seines Bettes. »Nein, Adon, du tust, was ich dir sage.« Sie setzte sich in seine Richtung in Bewegung und bleckte ihre Fänge in all ihrer schmerzhaften Pracht. Adon zog sich in den Durchgang auf seinen Balkon zurück. »Bleib weg! Bring mich nicht dazu, es zu sagen.« »Was?« Mystras Avatar hielt einige Schritte von ihm entfernt inne. Das Fleisch war von ihren Wangen abgefallen, und die Knochen darunter waren so weiß wie der Rest ihres Körpers. »Ich will dir nur helfen.« »Dann laß mich in Ruhe!« Mystra schüttelte den Kopf. Ihr seidiges Haar verwandelte sich in schwarzen Rauch und verteilte sich wie bitterer Weihrauch im Raum. »Das geht nicht. Du hast den Verstand verloren.« »Aber du hast gesagt ...« Adon keuchte und rieb sich den Hals; der Qualm hatte seine Kehle ausgetrocknet, und es war ihm kein Leichtes, die Worte auszusprechen. »Du hast gesagt, wenn ich verrückt wäre, gehörte ich ...« Adon sträubte sich dagegen, den Namen des Einen auszusprechen. Nur zu, Adon. Sag es. Adon schüttelte den Kopf und starrte weiter Mystra an. »Du hast gesagt, wenn ich verrückt wäre, gehörte ich ihm.« »Ich sagte auch, ich würde das niemals geschehen lassen, und jetzt ist die Zeit gekommen, um es zu verhindern.« Die Statue kam einen Schritt auf ihn zu, den Arm zum
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Schlag erhoben. Adon hastete zum Rand des Balkons. Draußen auf dem See sah er Mystras Avatar über das Wasser gehen. Er blickte nicht zu ihm auf, denn seine Augen suchten etwas unter der Oberfläche, und er beharkte seine Beute mit Harpunen aus Blitzen. Bei jedem Angriff brandete das Wasser wie ein Vorhang in die Höhe, und immer noch verursachte nichts davon auch nur den geringsten Laut. Sag meinen Namen und laß mich dich retten! »Ich wäre lieber tot!« Das war auch die Wahrheit, denn Adon fürchtete die Versprechungen Cyrics noch weit mehr als den Tod als Ungläubiger. »Ich werde mich Kelemvors Urteil anvertrauen, dir aber vertraue ich nie.« Diese Worte aussprechend hob er ein Bein über die Brüstung und blickte in die Tiefe. Fünf Stockwerke unter ihm sprudelte, umgeben von einer Terrasse, auf der die Gläubigen des Tempels gern ihre Morgenandacht abhielten, der Morgenbrunnen. Jetzt war der Hof menschenleer; die Gläubigen hatten sich am Ufer versammelt, von wo aus sie die stille Schlacht zwischen Mystra und dem Kraken beobachteten. Auch einige Dutzend Stadtbewohner waren am See zusammengekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. Der Avatar der Göttin griff nach Adon. Er versuchte, ihn wegzustoßen, doch seine Krallen hatten sich zu tief in sein Fleisch gegraben. Sag meinen Namen, drängte die Stimme in seinem Kopf. »Ich weise euch zurück!« schrie Adon. »Ich schwöre euch beiden ab!«
Dann drehte Adon sich um und stürzte sich in die Tiefe. Er war schon auf halbem Weg hinunter zum Brunnen, als er sich fragte, wie er die Kraft gefunden hatte, sich aus dem Griff einer Göttin herauszuwinden – aber da war es bereits zu spät, um zu widerrufen – oder sich dem Einen anzuvertrauen.
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Mystra kämpfte noch mit dem Kraken, als sie einen Stich im Herzen fühlte und hörte, wie ein Körper in den Brunnen unter Adons Balkon fiel. Ihr Avatar erreichte die Terrasse, noch ehe das Platschen verklungen war, und doch kam er zu spät. Der Patriarch trieb im Becken, die toten Augen gen Himmel gerichtet, während sich Schwaden roten Blutes von seinem Kopf ausbreiteten. Ein Riß war am Brunnenrand entstanden, wo er mit dem Schädel aufgeschlagen war, und jetzt ergoß sich ein steter Wasserschwall über die Terrasse. Die Göttin zog Adons Leiche aus dem Becken und drückte sie an ihre Brust. Da sah sie seinen Geist durch den Riß in der Beckenwand entweichen. »Adon!« »Veeergiiib miiir ...« Die Worte des Patriarchen klangen gedehnt und verzerrt. Die rotumwölkte Strömung hatte seinen Geist zur alptraumhaften Spukgestalt werden lassen, und sein gespenstisches Gesicht war so dünn wie eine Schlange. »Cyyyric haaat miiiich reiiingeeeleeegt ...« »Adon, was hätte ich dir schon zu vergeben? Es war ja nicht dein Fehler.« Mystra kniete neben dem Brunnen nieder und wartete, bis sich des Patriarchen Seele als
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leuchtender Klumpen in den Innenhof ergossen hatte. »Sprich einfach meinen Namen aus, und ich nehme dich wieder auf.« Adons Gesicht löste sich in einem zersprungenen Mosaikmuster auf; das Wasser sickerte in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen, und seine Seele mit ihm. »Namen ... sprechen?« Die zerrüttete Stimme schrillte vor panischer Angst. »Das ist es, was ... er ... wollte!« »Was er wollte, spielt keine Rolle!« rief die Herrin der Mysterien. Schon war Adons Gesicht zu einem verwobenen, geisterhaften Gitternetz geworden. Die Göttin stieß ihre Hand ins Wasser, um der Seele etwas zu geben, woran sie sich festhalten konnte. »Rufe mich an, dich zu retten, und ich gebe deiner Seele ihren Leib zurück!« Es erklang ein ersticktes Keuchen, aber nicht einmal Mystra konnte behaupten, es sei ihr Name gewesen; der Laut hätte ebensogut der Laut eines ersaufenden Wurms wie die Stimme des Patriarchen sein. Adons Geist verrann zwischen den Steinen. Mystra schrie, und durch die Magie ging eine solche Welle, daß alle Zauber in ganz Faerûn mißlangen. Nun würde Adon für sie verloren sein, bis er die Fugenebene erreichte, und das würde einige Zeit dauern – bis er erst einmal seinen Weg aus der Elementarebene des Wassers gefunden hatte. Mystra schwor Rache. Eine Meute Schaulustiger umringte sie, um einen Blick auf die Leiche im Schoß der Göttin zu erhaschen. Die meisten von ihnen waren Mystra-Anhänger, einige wenige waren jedoch auch neugierige Stadtbewohner, die sich
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nicht schämten, die Abgeschiedenheit des Tempels zu stören. Sie alle waren zu verstört, um zu sprechen, zum einen aufgrund von Adons Ableben und zum anderen aufgrund des Wunders, dessen sie gewahr wurden, daß sich nämlich eine Mystra hier auf der Terrasse befand, während eine zweite den Kraken im See jagte. Ein paar Gläubige fielen auf die Knie und spreizten die Finger zum Symbol ihrer Göttin, dem Strahlenkranz. Andere zerrissen ihre Mäntel aus Trauer um Adon. Woran keiner von ihnen dachte, war, seine Hilfe anzubieten oder zu fragen, was geschehen sei, bis Prinz Tang auf die Terrasse gestürmt kam. »Was ist geschehen?« Der Prinz barg seinen gebrochenen Unterarm vor der Brust und hielt sein Schwert in der anderen Hand. »Was hast du getan?« Die Herrin der Mysterien legte die Stirn in Falten. »Was ich getan habe, Prinz Tang?« Während sie sprach, wuchs ihr Avatar und beugte sich vornüber, so daß sie urplötzlich über Tang aufragte und auf ihn herabblickte. »Nichts, außer darauf zu vertrauen, daß du ihn bewachst.« Prinz Tang erblaßte, bis er die Farbe von Elfenbein angenommen hatte. »Bitte vergib mir, Mystra; ich habe einen schweren Fehler begangen. Doch als ich deine Staue sprechen sah ...« »Meine Statue, Prinz?« Mystra stand da, hielt immer noch Adons Körper in den Armen und sie war mittlerweile so groß wie ein Verbeeg. »Deine Statue aus dem Relief an der Wand.« Der Prinz hatte es noch nicht richtig ausgesprochen, als ihm auch schon dämmerte, wie leicht er sich hatte hereinle-
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gen lassen, und nun plapperte er drauflos, ohne auch nur eine Spur seines üblichen Gleichmuts erahnen zu lassen. »Deine Statue befahl mir zu verschwinden und schlug mir dann die Tür auf den Arm, so daß ich nicht gehen konnte, dann hat sie mich eingeschläfert, und als ich ...« »Es reicht, Prinz.« Mystra sprach nun mit sanfterer Stimme, war sie doch eine willensschwache Göttin, die ihre Diener nie für Verfehlungen bestrafte, für die sie nichts konnten. Als Tang endlich schwieg, ließ sie Adons Leichnam in die Arme vierer bereitstehender Anhänger sinken. »Sorgt gut für Adons Leib. Er wird bald wieder Verwendung für ihn haben.« »Ja.« Sie nahmen die Leiche und machten sich zum Tempel auf. Mystra drehte sich noch einmal zu Prinz Tang um und schrumpfte auf eine Größe zusammen, die seiner näherkam. »Na, dann nehmen wir uns mal dieses Bruchs an.« »Das wäre zu freundlich, ehrenwerte Mystra.« Der Prinz zeigte ihr den verdrehten Arm. »Ich bedaure meine Unzulänglichkeit in der Verteidigung deines Patriarchen zutiefst, aber ehe ich auch nur begriff, was vor sich ging, war ich auch schon eingeschlafen und unfähig, um Hilfe zu rufen.« »Kein Grund, dich zu entschuldigen.« Mystra hielt Tangs Arm oberhalb und unterhalb des Bruches und zog sodann in beide Richtungen. Mit einem sanften Ploppen richtete sie den Knochen, Tangs Beine gaben fast unter ihm nach, doch er war zu eitel, um aufzuschreien oder gar ohnmächtig zu werden, wie jeder ehrliche Mann es getan hätte. Mystra drückte ihre Hand auf die Verletzung und fuhr dann fort, den Prinzen von
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jeglicher Schuld freizusprechen. »Man kann nicht von dir erwarten, daß du Adon vor einem anderen Gott schützt.« »Einem anderen Gott?« fragte Prinz Tang. »Du glaubst nicht, daß es Cyric war?« »Jemand will mich glauben machen, es sei Cyric gewesen.« Mystra erwähnte mit keiner Silbe, wer dieser »jemand« war, denn vor so vielen neugierigen Ohren wollte sie den Namen nicht nennen. »Wenn dieser jemand möchte, daß ich etwas glaube, dann bin ich geneigt, etwas anderes zu glauben.« An dieser Stelle mußte Mystra an die Schlacht der Hlondethar gegen ihre Feinde denken, als Maske damit geprahlt hatte, er hätte sie dazu gebracht, ihre eigene Schuld zu beweisen, und ihr wurde klar, wie gelegen es dem Schattenfürsten käme, eine Auseinandersetzung zwischen ihr und Cyric vom Zaun zu brechen, wie gern Maske von solcherlei Doppelzüngigkeit Gebrauch machte und wie der Gott der Diebe genausogut imstande gewesen wäre, Adon den Verstand zu rauben, statt ihn mittels Magie oder Flüchen zu zerschmettern. Sie entschied, daß es sich genau so zugetragen haben mußte, und entschloß sich, grausame Rache am Herrn der Schatten zu nehmen. Als die Herrin der Mysterien die Hand von Tangs Arm zurückzog, war die Schwellung verschwunden, ebenso die dunkelrote Verfärbung und jede andere Spur von Verletzung. Tand bewegte die Finger und lächelte. »Tausend Dank.« Er neigte kurz das Haupt. »Der Arm ist wieder heil.« Jetzt lächelte Mystra. »Deine Wunden zu versorgen ist
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wohl das geringste, was ich tun kann. Gib mir deine Waffe, und du sollst deinen wahren Lohn erhalten.« Ein Leuchten entstand in des Prinzen Augen, und er überreichte ihr das Schwert. Heft und Scheide waren mit Rubinen, Saphiren und Diamanten besetzt, als Mystra die Waffe jedoch blankzog, war klar erkennbar, daß sie für den Kampf gemacht worden war. Die silbrige Klinge schillerte im sagenumwobenen Glanz des hundertfach gefalteten Shoustahls, der länger scharf blieb als jedes andere von Menschen zu Klingen geschmiedete Metall. Die Göttin fuhr mit dem Finger die Klinge entlang, verschmierte ihr hervorsprudelndes rotes Blut darauf und sprach eine mystische Silbe. Ihr Blut verdampfte zu einem braunen Rauchwölkchen, und die Shouklinge erglühte aus ihrem tiefsten Inneren in dunkelrotem Glanz. Das Leuchten war von solcher Schönheit, daß alle Umstehenden in Verzückung aufatmeten. Mystra schob das Schwert zurück in die Scheide. »Die Waffe wird einen jeden Hund töten, den sie trifft, gleich, ob die Kreatur nun auf natürlichem oder sonstigem Wege entstanden sein mag.« Obwohl er ebenso unergründlich war wie jeder Prinz der Shou, konnte Tang nicht umhin, seine Brauen zu heben. »Jeden Hund, Mystra?« »Ja, Prinz Tang.« Ein fassungsloses Aufatmen ging durch die Menge der Umstehenden. Mystra ignorierte es und konzentrierte ihre volle Aufmerksamkeit auf den Prinzen. »Solange du es in der Hand hältst, wird kein Tier deine Witterung aufnehmen können, egal, ob es dieser Welt oder einer anderen entstammt.«
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»Ah ... wie nett.« Tang nahm seine Waffe entgegen und neigte sein Haupt, auch wenn sein Blick verriet, wie sehr ihn das Ganze verwirrte. Die Prinzen von Shou waren eher darin geübt, Attentätern aus dem Weg zu gehen als vor Hunden zu fliehen. »Das wird mir sehr nützlich sein. Ich bin sicher, es wird mir das Leben retten ... irgendwann einmal.« »Es ist nur eine kleine Geste der Dankbarkeit für die Pflege, die du Adon hast zukommen lassen. Möge es dir nützen.« Mystra führte den Prinzen in den Tempel und überließ die Schaulustigen ihrem Getuschel. Sie hätte jedes Wort hören können, wenn sie Wert darauf gelegt hätte, aber dafür gab es keine Veranlassung; sie wußte, daß ihr Plan funktionieren würde. Die Diebe von den Purpurmasken hatten aus ihrem Tempel seit seiner Erbauung viele Lagen von Alabaster und ganze Fuder Marmor entwendet, und ganz gewiß waren ihre Spione unter den Neugierigen, die beobachtet hatten, wie sie Tangs Schwert segnete. Eben diese Spione würden die Meister ihrer Gilde über jene Segnung in Kenntnis setzen, und die Gildenmeister würden ohne jeden Zweifel sofort wissen, von welch großem Nutzen die Waffe ihrem himmlischen Schutzherrn sein mochte, und noch bevor Prinz Tang seinen Palast erreicht haben würde, wäre es Maske bereits zu Ohren gekommen, welche besonderen Kräfte in jener Waffe schlummerten – und Mystra würde bittere Rache nehmen. Zumindest hatte sich die dämliche Hure das so ausgemalt.
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Nach meiner Audienz bei dem Einen machte ich mich in Arabel sofort aus dem Staub und preschte gen Norden durch Tilverton und die Schattenkluft hindurch ins Schattental, jener Heimstatt einer ganzen Nation ungebildeter Bauern und des verdrießlichen alten Schwätzers namens Elminster. Ruha, die die Nacht in Arabel verbracht hatte, damit ein Heiler sich um Silberwolkes verletztes Auge kümmern konnte, war mir beharrlich wie ein schlechter Ruf eine halbe Tagesreise entfernt auf den Fersen. Jedesmal, wenn ich einen Gebirgspaß überquerte oder ein weites Tal durchritt, warf ich einen Blick über die Schulter und sah jenen Punkt am Südhimmel, und ich wußte, sie war immer noch da, klebte an meiner Spur wie der Chaoshund an der Maskes. Dann nannte ich sie eine verfluchte Höllenhexe, hob den Blick zum Himmel und fragte, was ich ihr denn angetan hatte, aber natürlich bekam ich niemals eine Antwort. In Wahrheit haßte sie mich nicht für etwas, das ich ihr vielleicht angetan hatte, sondern nur aufgrund meines Auftauchens in den vielen gar schrecklichen Visionen und Träumen, die sie letzthin hatte erleiden müssen, und aufgrund der Tatsache, daß sie befürchtete, diese Erscheinungen würden sie ebenso verrückt werden lassen wie Cyric, wenn sie es
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denn nicht schaffte, mich aufzuhalten. Doch selbst wenn die Hexe weiter zurückgelegen hätte, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, länger Pause zu machen, als bis Halah ihren Hunger gestillt hatte. Das Zusammentreffen mit Cyric hatte meinen Eifer für die heilige Pilgerfahrt, auf der ich mich befand, wieder angeheizt, da ich nicht den Wunsch verspürte, mein untreues Weib in die Stadt der Toten hinabfahren zu lassen – noch ihr dort Gesellschaft zu leisten, was aber ganz gewiß mein Schicksal sein würde, wenn ich beim Versuch, Das Wahre Leben an mich zu bringen und den Einen mit dessen Hilfe von seinem Irrsinn zu heilen, scheiterte. Da mein Glaubenseifer solcherart wieder aufgefrischt war, ritt ich Tag und Nacht und verschwendete keinen Gedanken an Rast, Nahrung oder sonstige Bedürfnisse, die man in der kurzen Zeit, die Halah benötigte, um ihr Futter herunterzuwürgen, nicht hätte befriedigen können. Das Feuer in mir brannte so heiß, daß ich, als ich irgendwann in ein schlammiges, kleines Dorf preschte und das geheiligte Symbol des Einen, den Schädel im Strahlenkranz, offen vom Flaggenmast einer imposanten schwarzen Festung herabbaumeln sah, nur lange genug anhielt, um eine Mahlzeit für Halah und mich selbst zu erbitten. Wie immer waren die Cyric-Anhänger zunächst nicht willens, mich zu verköstigen, als ich ihnen erklärte, daß ich nicht zahlen würde, aber das änderte sich, sobald sie Cyrics Gegenwart in mir spürten. Halah wurde in den Stall geführt, mich brachte man in eine gewaltige Halle und wies mir einen Platz am Kopf einer langen Tafel. Wie auch der Rest des Tempels erschauderte und
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erbebte die ganze Halle im Nachhall der ungerechtfertigten Übergriffe der Herrin der Mysterien auf den Einen, aber ich war einfach zu müde, um mir darüber Sorgen zu machen. Während ich auf mein Essen wartete, erschienen zwei Gläubige und stellten sich neben mir auf, die Hände am Heft ihrer Waffen. Der eine, ein muskulöser Mann mit hartherzigen Augen und einem schmalen Gesicht, trug eine purpurne, silbern und schwarz abgesetzte Robe. Der andere, dessen Schultern so breit waren wie die Halahs, war mit einer Rüstung aus rotem Leder angetan, und er war es auch, der das Wort an mich richtete. »Wer bist du, daß du es wagst, nach Voonlar zu kommen und Gormstadd zu beleidigen« – an dieser Stelle deutete er mit dem Daumen auf seinen in Seide gekleideten Begleiter und fuhr dann fort, – »indem du seine Mönche in seinem eigenen Tempel herumkommandierst?« Ohne aufzustehen entgegnete ich: »Ich bin Malik el Sami yn Nasser, und ich befinde mich auf einer heiligen Pilgerfahrt für den Einen. Es ist für Gormstadd eine große Ehre« – und nun deutete ich mit dem Daumen auf den Herrn in Seide –, »mir auf jede erdenkliche Weise seine Hilfe zukommen zu lassen.« Das ließ beide die Stirn in Falten legen und die Hände von ihren Waffen nehmen, denn wie jedem Anhänger des wahren Glaubens war es ihnen ein leichtes, die Präsenz des Einen zu spüren. Zufällig kam just in diesem Moment ein Mönch mit einem Tablett vorbei, auf dem sich Essen und Getränke türmten, und Gormstadd selbst nahm ihm das Servierbrett ab und hielt es dem Rotge-
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harnischten hin. »Warum bedienst du ihn nicht, Buorstag?« Buorstag nickte, stellte mir einen Krug vor die Nase und schenkte mir aus einer Kanne Met ein. Dadurch verbesserte sich meine Stimmung gewaltig, rief es mir doch die großen Ehren und die immense Macht in Erinnerung, die nach meinem Dienst an Cyric mein sein würden. »Du siehst erschöpft aus«, erklärte Buorstag. Mit seinem eigenen Dolch schnitt er mir ein Stück Brot ab und tränkte es mit Honig. »Vielleicht solltest du in Voonlar verweilen und dich ausruhen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde von einer Harfnerhexe verfolgt, und wenn ich ihr erlaube, mich zu fangen, dann werde ich den Einen nie von seinem Wahnsinn heilen können.« Ich weiß nicht, ob es meine eigene Müdigkeit oder Mystras Zauberei waren, die mich dazu brachte, diese letzten paar Worte hinzuzufügen, aber ich hatte sie noch nicht ganz ausgesprochen, da war mit schon klar, was für einen Riesenfehler ich gemacht hatte! Buorstag und Gormstadd schauten finster, wechselten einen Blick und ließen ihre Hände wieder zur Waffe gleiten. Ich sprang auf. Gormstadd schlug klatschend mit einer Hand auf meine Schulter, und Buorstag hielt mich fest. Ich glaubte ganz fest, daß sie mich in Ketten legen und an unseren finsteren Gebieter ausliefern würden. Doch ihre Ehrfurcht ob der Präsenz, die sie in mir spürten, war so groß, daß sie entweder dachten, es wäre
klüger, meine Lästerung zu überhören, oder aber sie erst gar nicht bemerkt hatten. »Diese Harfnerin – kannst du sie beschreiben?« fragte Buorstag. An seinen weißen Knöcheln konnte man erkennen, daß er die selbstgefälligen Harfner ebensowenig mochte wie ich. »Klar. Ihr könnt sie an dem Pferdegreifen erkennen, den sie reitet, und an dem Schleier, hinter dem sie ihr Gesicht verbirgt.« »Gut«, sagte Gormstadd, während er mich wieder auf meinen Stuhl drückte. »Iß in aller Ruhe. Buorstag wird dafür sorgen, daß diese Harfnerin dich nicht zu fassen bekommt.«
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Prinz Tang verbrachte den Tag damit, seine Armee aus Leibwächtern zusammenzurufen und heim in den Ingwerpalast zu reiten, der etwa eine halbe Tagesreise südlich von Elversult lag. Am Ende dieser Reise war er so erschöpft, daß er seinen Dienern befahl, ihn zu waschen und dann ins Bett zu bringen. Er schlief bis spät in die Nacht und wurde erst von einem seltsamen und gespenstischen Bellen aus dem Schlummer gerissen. Das Geheul klang gleichermaßen nah und fern, ganz so, als hätte sich sein Schlafgemach auf mehrere Li Länge gestreckt. Prinz Tang dachte an Mystras Geschenk und setzte sich auf. Sein Bett bildete durch den seidenen Himmel und aufgrund der Tatsache, daß es von lackierten Platten umgeben war, auf denen alle möglichen fratzenschneidenden Monster abgebildet waren, eine Art eigenen Raum. Das waren die Wächter seines Schlafs, die böse Geister davon abhalten sollten, ihm nächtens die Seele zu rauben. Als der Prinz nichts von seiner Nachtdienerin hörte, die auf der anderen Seite der Platten zu Fuße seines Bettes kauerte, fragte er sich, ob das Bellen nicht vielleicht nur ein Traum war. Ein zweites Heulen ertönte, lauter diesmal und so furchterregend, daß es ihm einen Schauer über den Rü-
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cken jagte. Aber die Nachtdienerin öffnete nicht die Platten und unternahm auch sonst nichts, um ihn zu wecken, und Tang fand das sehr seltsam. Er zog unter seinem Kopfkissen einen silbernen Dolch aus Shoustahl hervor. Dann kroch er zum Fußende seines Bettes und fragte sich, ob Mystra dies vorhergesehen hatte, als sie sein Schwert segnete. Er zwängte die Spitze seines Dolchs zwischen zwei Platten und drückte sie auseinander, wobei er so langsam vorging, daß er nicht den geringsten Laut erzeugte. Die Nachtdienerin lag auf den Boden, die toten Augen weit aufgerissen und starr auf das Lämpchen gerichtet, das sie auf dem Nachttisch hatte brennen lassen. Die purpurne Kordel, mit der sie stranguliert worden war, war immer noch um ihre Kehle gewunden, und die dunkle Silhouette des Assassinen stand mit dem Rücken zum Bett ein paar Schritte hinter ihr. Im flackernden Kerzenschein schien der Leib des Eindringlings sich zu winden und zu wabern wie Rauch. Er starrte auf den frei im Zimmer stehenden Schwertständer, auf dem die geschätztesten Waffen des Prinzen ruhten. Der Ständer sah aus wie eine Leiter, von deren Sprossen jede eine juwelenbesetzte Scheide war, die allein schon soviel wert war wie eine ganze Karawanenladung Weihrauch. In der obersten Halterung ruhte das Chien, das Mystras Segen empfangen hatte. Tang rief nicht nach seinen Wachen; er ging davon aus, daß der Eindringling sie bereits getötet hatte. Statt dessen beobachtete der Prinz die finstere Gestalt und wurde immer verwirrter. Der Dieb starrte das gesegnete Chien zwar die ganze Zeit an, schien jedoch nicht wil-
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lens zu sein, es zu nehmen. Tang konnte nicht ahnen, daß sein nächtlicher Besucher Maske war, und auch der Gott der Diebe bemerkte nicht, daß Prinz Tang erwacht war; der Schattenfürst war vollkommen in Gedanken über dieses Chien versunken. Selbst durch die Scheide hindurch erstrahlte die Klinge dermaßen stark in Mystras Magie, daß er davon regelrecht geblendet wurde. Das ließ Maske argwöhnischer werden als je zuvor, hatte er doch schon, als er das Gebet des Gildenmeisters vernommen hatte, gewußt, daß das Schwert nur ein Köder war. Trotzdem war er gekommen. Eine Waffe, mit der man sich den Chaoshund vom Leib halten – oder ihn vielleicht sogar töten – konnte, war jedes Risiko wert. Wieder erklang Kezefs klägliches Geheul in der Ferne. Der Schattenfürst erschauderte, als er sich vorstellte, was geschehen würde, wenn die gifttriefenden Fänge sich in sein schattenhaftes Fleisch bohrten. Er griff in seinen Umhang, zog ein blutiges Stück Fleisch hervor und schleuderte es in eine dunkle Ecke. Dann nahm er einen ausgehungerten Wolfswelpen aus seiner anderen Tasche und setzte ihn auf dem Boden ab, um zu prüfen, ob die Magie des Schwertes das Tier wirklich daran hinderte, sein Futter zu finden. Der Welpe schaute sich in dem dunklen Zimmer um, berührte den kalten Marmorboden mit der Nase und fiel tot um. Beinahe hätte Maske seine Freude in die Welt hinausgeschrien, denn die Waffe war ja noch mächtiger, als er eigentlich gehofft hatte: Sie hatte das Wolfsjunge getötet, ohne es auch nur zu berühren. Alles, was er jetzt noch zu tun hatte, war, Mystras Falle zu finden und zu
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tun hatte, war, Mystras Falle zu finden und zu entschärfen, eine Aufgabe, die durch die blendendhelle Aura des Schwertes zugegebenermaßen deutlich erschwert wurde. Aus derselben finsteren Ecke, durch die Maske die Kammer betreten hatte, drang ein weiteres Heulen, und diesmal war es so laut, daß die hübsch lackierten Platten am Bett des Prinzen zu klappern begannen. Prinz Tang schreckte zusammen, denn er dachte, das Geräusch würde die Aufmerksamkeit des Eindringlings auf sein Versteck lenken. Aber dem war nicht so. Der Dieb – und genau dafür und nicht mehr hielt der Prinz ihn – ignorierte das Bellen und auch das sanfte Vibrieren der Platten und schritt vor dem Schwertständer auf und ab. In der Finsternis sah der Eindringling mal wie ein Elf aus, ein andermal wie ein Mensch, und einmal wirkte er gar wie ein Ork. Diese Verwandlungen tat Prinz Tang als Folge der trügerischen Lichtverhältnisse ab. Der Prinz konnte sich schlichtweg nicht vorstellen, weshalb der Störenfried zögerte, aber er wünschte, der Kerl würde sich endlich mal ein Herz fassen. Das fremdartige Geheul hatte ihn überzeugt, daß Mystra seinen Bedarf an genau solch einer Waffe vorhergesehen hatte, und sobald der Eindringling sich nach dem Chien recken würde, wollte Tang zuschlagen. Leider wollte es langsam so scheinen, als würde der Hund hier in der Kammer sein, bevor der Geselle endlich mal einen Entschluß gefaßt hätte. Tang drückte sein Auge fest gegen den Spalt zwischen den Brettern und beobachtete, wie der Eindringling über den Schwertständer nachsann. Zwei weitere Male noch ließ der Hund ein Heulen hören, und jetzt schien auch
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der Dieb beunruhigt zu sein, denn er begann zu zittern wie Espenlaub und blickte stumm in die Richtung, aus der diese Laute kamen. Ein tiefes Knurren grollte durch den Raum; dann erschien in jener finsteren Zimmerecke ein gelbes Augenpaar. Die Augen wurden immer größer, und der Prinz wollte es nun nicht mehr wagen, noch länger auszuharren. Er zog die Holzplatte beiseite und warf sich, den Dolch zum Stoß erhoben, auf den Dieb. Der dunkle Umriß der Gestalt wandte sich nicht um, sondern waberte vielmehr herum, und nun sah sich der Prinz einem ausgewachsenen Gnoll mit violetten Augen gegenüber. Wie alle Edlen der Shou hatte auch Tang die Kunst des waffenlosen Kampfes gemeistert, und innerhalb eines Augenblicks hatte er innegehalten und dem Gnoll einen Tritt vors Knie versetzt, der einen Ginkgobaum gefällt hätte. Aber es geschah nichts, außer daß Prinz Tang sich durch die Wucht des Aufpralls gleich mehrere Fußknochen brach. »Du Narr!« höhnte der gnollische Eindringling. »Laß mich, oder ich werde ...« Das Grollen in der Zimmerecke wurde zum dröhnenden Heulen, und der abscheuliche Gestank verdorbenen Fleische erfüllte die Kammer. Vier klauenbewehrte Pfoten klapperten über den Boden, und Prinz Tang war klar, daß ihn jetzt nichts mehr retten konnte, wenn er nicht sein Chien erreichte. Er täuschte einen weiteren Tritt an, hieb dann mit der Klinge nach den Augen seines Gegners und versuchte dann, an ihm vorbeizugelangen, um sein Schwert zu greifen.
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Ein dunkler Arm fuhr herunter, um den Angriff abzuwehren, und schleuderte den Prinzen zurück zu seinem Bett. Aus dem Augenwinkel konnte Tang eine gewaltige Bestie erkennen, die unter ihm durchsprang, dann krachte er durch zwei verschiebbare Holzplatten und lag plötzlich wieder genau dort, wo er ursprünglich herkam. Obwohl sein ganzer Leib schmerzte, rollte der Prinz sich an die Bettkante und sah ein Wesen von den Ausmaßen eines Pferdes. Mit seinem Schweif aus blanken Knochen und dem bräunlichen Dampf, den es aus seinem kantigen Schädel ausstieß, war dies wohl der abscheulichste Hund, den man sich vorstellen konnte. Das Ungeheuer blieb stehen und schüttelte sich, was einen Regen sich windender Maden in alle Richtungen fortstieben ließ. Dann sprang die Bestie den Dieb an. Prinz Tang hielt den Atem an, wußte er doch, daß er der nächste sein würde, wenn der Hund den Gauner erst einmal gefressen hätte. Als er gewahr wurde, daß Prinz Tang ihn jeder Fluchtmöglichkeit beraubt hatte, wirbelte der Dieb herum und griff sich das Schwert in der Absicht, den Kreis zu vollenden und Kezef in einer einzigen eleganten Bewegung anzugreifen. Aber so sollte es nicht sein. Ein schlanker Arm schoß aus der Halterung des Schwertes hervor und schlang sich fest um das Handgelenk des Herrn aller Diebe. Er versuchte, sich zu befreien, indem er sich verwandelte, aber je dünner er seinen Arm werden ließ, um so fester griff die fremde Hand zu. »Mystra!« Als Maske den Namen der Göttin hervorpreßte, ver-
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biß sich der Chaoshund in sein Bein und riß es am Oberschenkel ab. Ein gewaltiger Schwall Schwärze breitete sich schlagartig im Raum aus, zerschmetterte die Wände des Himmelbettes und schleuderte die Möbel krachend gegen die Wände des Raums. Kezefs Gift durchpulste die Adern des Fürsten der Schatten und erfüllte ihn mit einer brühendheißen Schwäche, die ihn von innen heraus aufzufressen schien. Er spürte, wie sein Kopf zu einer faltigen Hülle zusammenschrumpfte, seine Glieder zu schlaffen Stelzen dahinwelkten und wie sein Geist durch die zerfetzten Adern aus seinem Leib entschwand. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, was für eine Dummheit er begangen hatte, als er Mystra gegen sich aufbrachte. Der Fürst der Schatten schüttelte sich die Benommenheit aus dem Kopf und sah Kezefs riesigen Kopf über ihm aufragen. Die Überreste seines Beines baumelten noch immer von seinen geifernden Kiefern herab, doch der Hund machte keinerlei Anstalten, ein zweites Mal anzugreifen. Statt dessen hielt er seinen zornigen Blick fest auf das Chien gerichtet, denn er konnte sehr wohl die Magie spüren, die ihm innewohnte, und ebenso den Zweck, den es zu erfüllen hatte, und darum war er lieber vorsichtig. Der Meister aller Diebe warf noch einen zweiten Blick auf den Arm, der aus dem polierten Holz des Schwertständers gesprossen war. »Mystra, warte!« flehte der Fürst der Schatten. Alle Schwerter außer dem gesegneten Chien schepperten zu Boden. »Erlaube mir, mich zu retten, und ich werde dem Fürsten der Schlachten sagen, er soll seine Anklage fallenlassen.«
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»Dafür ist es zu spät.« Der Avatar der Herrin der Mysterien floß aus dem Waffenständer heraus und nahm neben ihm Gestalt an. Er hielt Maskes Handgelenk in der einen und Tangs Chien in der anderen Hand. »Nach allem, was du getan hast, kannst du mich nicht mit einer bloßen Gefälligkeit abspeisen.« »Ich dachte, du willst das!« »Nicht mehr.« Mit einem Ruck ihres Handgelenks befreite Mystra des Prinzen Chien aus seiner Scheide. Sofort erfüllte die blanke Klinge den Raum mit einem blutroten Leuchten. Maskes schattenhafte Gestalt verlor jede Ähnlichkeit mit einem Körper, sie wurde zu einer Pfütze aus Schwärze auf dem Boden, und die Göttin erhob ihren Arm zum Schlag. Als das Schwert herniederfuhr, erschien ein stählerner Panzerhandschuh und fing ihren Waffenarm am Handgelenk ab. Die Göttin schrie auf, als ein zweiter Panzerhandschuh auftauchte und ihr das Chien entwand. »Bedeutet dein Wort so wenig?« Die donnernde Stimme brachte die Kammer dermaßen zum Beben, daß Tangs Bett über den Boden tanzte. Im nächsten Augenblick erschien, während die beiden stählernen Hände die Herrin der Mysterien immer noch zur Unbeweglichkeit verdammten, ein stämmiger, einarmiger Krieger vor der Göttin. Einen Moment lang leuchteten seine Augen in einem grimmigen Stahlgrau, verschwanden dann jedoch und hinterließen lediglich zwei schwarze, leere Höhlen. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte Prinz Tang je solche Gäste erwartet! Tyr stand hier zwischen Mystra und dem Chaoshund, den Stumpf auf
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die Göttin gerichtet. »Du hast versprochen, dich nicht in den Prozeß einzumischen.« »Maske war niemals im Pavillon von Cynosure«, erwiderte Mystra und versuchte, sich von den beiden Panzerhandschuhen loszureißen, die sie immer noch am Arm festhielten. »Herrin der Mysterien, ich will keine Entschuldigungen hören!« Tyrs Stimme bebte vor Zorn derart, daß Kezef Maskes Bein fallen ließ und sich unterwürfig abwand. »Ich habe alle beobachtet«, fuhr der Unvoreingenommene fort. »Tempus sagte dir, daß er Maske als Zeugen berufen würde, und trotzdem hast du das hier getan!« Der Augenlose wies auf den bebenden See aus Dunkelheit, der sich auf dem Boden ausbreitete. Diesen Augenblick der Verwirrung nutzte Kezef dazu, um das Bein aufzuheben, damit in die Schatten zu huschen und aus dem Raum zu verschwinden. »Aber Maske hat Adon getötet!« »Ich weiß, was der Meister aller Diebe getan hat, und zwar besser als du.« Tyr richtete seinen leeren Blick auf etwas, das sich hinter ihr befand, und dann befahl er: »Halte die Göttin bis zur Verhandlung fest, niemand darf sie besuchen, sprechen oder auf irgendeine andere Weise mit ihr Kontakt aufnehmen.« Als Tyr dies aussprach, riß die Panzerhand Mystras Arm grob nach hinten. Die zweite ließ das Chien fallen, ergriff ihr anderes Handgelenk und hielt beide auf ihrem Rücken fest. Erst jetzt enthüllte ihr Peiniger seine Identi-
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tät; er war bloß eine leere Plattenrüstung, denn dies war die einzige Gestalt, die Helm der Wachsame je annahm. Auch wenn er nicht so mächtig war wie andere Götter, war der Wächtergott doch ebenso beständig wie herzlos, und aus diesem Grunde war er auch der Kerkermeister der Unsterblichen. Sobald man ihm einmal überantwortet war, gab es selbst für Götter kein Entrinnen mehr, und ebenso unmöglich war es, ihn zu überzeugen, er möge seine Pflichten vernachlässigen, oder ihn auf irgendeine Weise zu überwältigen. Helm bedachte Tyrs Anordnung mit einem Nicken und drängte Mystra in Richtung des zertrümmerten Bettes, wo Prinz Tang immer noch furchtsam kauerte. Die Mutter aller Magie wußte, es hatte keinen Zweck, sich zu wehren. Mit eigenen Augen hatte sie gesehen, wie der Wächter während der Zeit der Sorgen die damalige Göttin der Magie vernichtete, und sie war sich sicher, daß er nicht zögern würde, sie auf der Stelle zu töten. Sie wandte sich noch einmal in einem letzten Gnadengesuch um. »Unvoreingenommener, wie kannst du das erlauben? Der Meister aller Diebe ist der Einmischung schuldiger als ich!« »Laß mich das entscheiden.« »Aber das Gewebe ...« »Das hast du allein zu verantworten«, sagte Tyr. »Was auch immer gerade dem Gewebe widerfährt, bleibt auch einzig und allein dein Fehler.« Helm schob die Göttin auf Prinz Tangs Bett, wobei er dem vor Ehrfurcht erstarrten Prinzen kaum Zeit genug ließ, um sich aufzurappeln. Plötzlich erschienen anstelle der Holzpanelen vier endlose Mauern, der seidene Him-
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mel wurde zu einer Decke aus Finsternis, die Matratze zu einem Nichts aus flauschiger Leere, und Mystra fand sich auf einmal in einem Kerker aus einem undurchdringlichen Nichts wieder. Helm nahm die purpurne Schlinge von der Kehle der Dienerin und band sie an eines der Beine des hoheitlichen Bettes. Dann nahm er die Kordel in eine Hand und verschwand aus der Kammer, wobei er Mystras Kerker mitnahm. Tyr ließ seinen Blick auf jene schlotternde Pfütze gleiten, in die sich Maske verwandelt hatte. »Hör auf zu zittern. Kezef ist weg.« Der dunkle Klumpen nahm die Gestalt eines Einbeinigen an. »Warum hat das so lange gedauert? Kezef hätte mich fast gefressen!« Der Unvoreingenommene schüttelte den Kopf. »Du hast Glück, daß ich überhaupt gekommen bin. Wenn Mystra nicht angegriffen hätte, hätte ich Kezef sein Mahl zu Ende einnehmen lassen.« Mit diesen Worten löste sich der Augenlose auf und ließ Maske zurück, der versuchte, so gut wie möglich wieder zu seiner alten Form zu finden. Noch einmal schmolz der Schattenfürst zu einer unförmigen Masse zusammen und wand sich auf dem Boden. Alsbald wurde er ein Ork mit drei Armen und ohne Beine, dann ein Gnom mit drei Beinen, dafür aber ohne Arme und dann eine Spinne mit Tentakeln statt Beinen. Tang stand hinter einer umgefallenen Couch auf und sah sein rotglühendes Chien dort neben dem sich ständig verwandelnden Klumpen Schwärze auf dem Boden liegen. Er hastete durch das Zimmer und griff nach der
Waffe. Als er das juwelenbesetzte Heft berührte, schoß ein Fangarm aus eisiger Schwärze aus der Pfütze heraus und umschlang sein Handgelenk. »Im Leben nicht, mein Prinz!« zischte Maske. »Das Schwert hat mich ein Bein gekostet!«
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Jeder Spion fürchtet sich vor einem speziellen Ort mehr als vor allen anderen, und in Ruhas Fall war dieser Ort die Stadt Voonlar. Sie lag etwas nördlich der Täler, wo die Shindstraße in Richtung der Zentilfeste abzweigte und die Nordroute nach Teschwelle weiterverlief, und genau hier hatte die Hexe sich seinerzeit zum erstenmal in die Angelegenheiten anderer eingemischt. Die Harfner hatten sie geschickt und sie angewiesen, sie möge sich in der Taverne Schwertertreff eine Anstellung suchen. Hier sollte sie einem anderen Gesandten und Spion, der bei den Zentilaren eingeschleust war und den sie hier treffen sollte, als Botin dienen. Um ihre Rolle richtig spielen zu können, war es erforderlich, daß sie sich in derselben unanständigen Weise kleidete wie ein leichtes Serviermädchen, also ohne ihr Gesicht und viel von ihrem Busen zu bedecken, und hübsch genug, um Männerblicke auf sich zu ziehen, war sie ja allemal. Es dauerte nicht lange, bis ein Sklavenschieber ihr eine Silbermünze in die Hand gleiten ließ, und sie nahm sie dankend an. Es war wohl so, daß Ruha eben erst aus der Wüste gekommen war und nicht so recht um die Bedeutung dieser Transaktion wußte, aber ein Handel ist ein Handel, und sie hatte keinerlei Recht, den von ihr erwarteten
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Dienst zu verweigern. Der Schieber tobte, zog seinen Dolch und hätte sie sicher auf der Stelle umgebracht, wäre nicht einer seiner eigenen Männer – bei dem es sich zufälligerweise um eben jenen Spion handelte, dem zu helfen Ruha dort war – aufgesprungen und dazwischengegangen. Die beiden waren gezwungen, sich ihren Weg aus der Stadt freizukämpfen und den Schieber weiterhin Hunderte armer Seelen in die Sklaverei verkaufen zu lassen. Seit diesem Tage war dieser Zwischenfall in Harfnerkreisen nur als das Voonlardebakel bekannt. Also schlug das Herz der Hexe ängstlich, als sie auf Silberwolke wieder hier eintraf, niedrige Kreise über der Weggabelung zog und sich fragte, welchen Weg sie wohl genommen haben mochten. Ihre übliche Art und Weise, solch ein Dilemma zu lösen, bestand darin, zu landen und nach einem Höllenpferd zu fragen, denn Halah schaffte es jedesmal, daß die Bevölkerung irgendeinen guten Grund hatte, sich an sie zu erinnern. Aber die Hexe wußte, hier in Voonlar würden solche Fragen nichts bewirken, denn hier waren die Leute klug genug, ihre Zunge im Zaum zu halten. Darüber hinaus hatte Ruha in den zurückliegenden fünf Tagen nicht mehr als fünf Stunden geschlafen, und leider hatte sie auch nicht viel Zeit gehabt, um Rindas Aufzeichnungen zu studieren. Trotz des Verlustes seines einen Auges war Silberwolke seitdem die meiste Zeit über in der Luft gewesen und hatte sich von den Federspitzen bis tief ins Mark über alle Maßen verausgabt. Ruha hatte keine andere Wahl, als eine Rast einzulegen und diskret Erkundigungen einzuholen. Dabei vertraute sie darauf, daß ihr Schleier ihre Identität verbergen und
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das Bier die Zungen der Dorfbevölkerung lösen würde. Die Hexe entfernte die Harfnerfibel und ließ sie in ihrer Robe verschwinden, dann landete sie am Stadtrand. Sie führte ihr Reittier am Schwertertreff, wo sie einst als Schankmaid so kläglich versagt hatte, vorbei und in Richtung des einzigen anderen Gasthofes von Voonlar: dem Zeichen des Schildes. Die Hexe zahlte vier Silbermünzen für eine Ziege in der Hoffnung, Silberwolke möge noch genug Kraft haben, um selbst zu fressen, und wies den Stallknecht dann an, den Pferdegreif gesattelt zu lassen. Als sie das Gasthaus betrat, hatte sie Rindas Aufzeichnungen unter dem Arm. Die Gaststube war bescheiden, aber sauber mit weißverputzten Fachwerkwänden. Fast zwei Dutzend Gäste saßen da, tranken Bier und warteten auf den Inhalt des Kessels, der auf dem Herd brodelnd vor sich hin kochte. Ruha nahm in einer Ecke Platz, wo sie sich zur Wand drehen konnte, wenn sie ihren Schleier zum Essen lüftete, dann öffnete sie Rindas Tagebuch in der Hoffnung, einen Hinweis auf das Ziel meiner Reise zu finden. Was Cyric betrifft, er sitzt jetzt einsam in seiner Zerschmetterten Feste, verloren an den Größenwahn und Vorspiegelungen von Herrlichkeit, während er seine täglich schwächer werdende Kirche in ganz Faerûn immer weiter auseinanderbrechen läßt. Einige sagen, der Schock, die Stadt der Toten zu verlieren, habe ihn verrückt werden lassen, aber ich weiß es besser. Cyric war der erste, der die Cyrinishad gelesen hat; seine eigenen Lügen haben ihm den Verstand geraubt. Die Hexe gähnte. Es war eine Sache, wach zu bleiben, während man zig Meter über dem Boden auf einem
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launischen Pferdegreifen ritt – und eine ganz andere, wenn man in einer warmen Gaststube saß, eingelullt vom Duft einer Mehlsuppe. Die Buchstaben begannen zu verschwimmen, der Kopf fiel ihr auf die Brust, und als der schwere Ledereinband auf den Tisch krachte, hörte sie es nicht einmal. Ruha hätte sicher das ganze Mahl verschlafen, wenn nicht ein allzu bekanntes Brüllen ihren Schlaf vertrieben hätte. »Bring uns ein paar Krüge, Mädchen!« Die Stimme des Mannes war voller Arroganz und Trotz, und selbst im Schlafe hatte sie den Schreihals erkannt: Buorstag Hlammythyl. »Mach schnell! Wir haben einen Durst, daß wir den Mondsee aussaufen könnten.« Die Hexe öffnete die Augen und wurde einer Vierergruppe Männer gewahr, die am Nachbartisch Platz nahm. Drei von ihnen trugen die Kettenhemden der örtlichen Stadtwache, der vierte aber, Buorstag, trug eine rote, silbern abgesetzte Lederrüstung. Er war der Bron von Voonlar, der gewählte Herrscher des Dorfes und ein notorischer Harfnerhasser. Obwohl er ihr den Rücken zuwandte und Ruhas Gesicht hinter ihrem Schleier verborgen war, pochte der Hexe das Blut in den Ohren. Buorstag war für gewöhnlich im Schwertertreff; auch in der Nacht des Debakels war er dort gewesen, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er jetzt hier im Gasthof zum Schildzeichen zu suchen hatte. Der Bron hatte eben Platz genommen, als ein fünfter Mann, angetan mit einer Rüstung aus schwarzem Leder und Stahlplatten, die Gaststube betrat. Er überragte alle Anwesenden um wenigstens zwei Köpfe, ein wahrer
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Hüne. Sein schwarzer Bart und die dunkle Augenklappe gaben ihm ein verwegenes Äußeres, was ihm die Aufmerksamkeit jeder Dirne im Raum einbrachte, doch er schien nur für Ruha Augen zu haben. Er schritt zu ihrem Tisch und setzte sich, wobei sein Oberkörper Buorstag und die Wächter verdeckte. »Sei gegrüßt, Ruha«, sagte der Mann. Er sprach zu laut für den Seelenfrieden der Hexe, denn jeder in der Nähe würde seine Worte verstehen, ohne angestrengt lauschen zu müssen. »Du scheinst ein Problem zu haben. Vielleicht bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.« Während es all den Serviermädchen gefallen zu haben schien, Ruha zu übersehen, solange sie schlief, erschien jetzt ungefragt eine der Dirnen, und sie hatte die vier Krüge mit Ale bei sich, nach denen Buorstag verlangt hatte. Ohne die Augen vom hübschen Gesicht des Neuankömmlings abwenden zu können, stellte sie drei der Krüge vor ihm ab und gab Ruha den vierten. Weder Buorstag noch einer seine Kumpane erhob Einspruch. Der Fremde ließ ein strahlendes Lächeln blitzen. »Ich habe nicht einmal eine Kupfermünze.« Die Kellnerin errötete. »Ach, das macht nichts. Ich zahle es.« Sie erwiderte sein Lächeln, offenbarte dabei einem Mund voller Zähne, die ebenso lang wie schief waren und wirbelte herum, um sich wieder ihren Pflichten zu widmen. Der Fremde hob einen der Krüge und begann ihn zu leeren. Ruha beugte sich über Rindas Aufzeichnungen. »Wer bist du?« Der Mann warf den halbvollen Krug zu Boden, wo er zerbrach und einen dunklen Fleck zurückließ. Ein paar
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Gäste warfen einen Blick in Richtung der Ecke, sobald sie aber den riesigen Fremden erblickten, verschwanden ihre finsteren Mienen, und sie kümmerten sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Der Kerl wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und führte eine Hand zu seiner Augenklappe. »Komm schon. Du weißt, wer ich bin.« Der Fremde hob die Lederklappe und offenbarte eine leere Augenhöhle, die mit wirbelnden Sternen angefüllt war. »Ich bin der, der dir geholfen hat, Malik zu fangen.« Ruha holte tief Luft, denn nach Mystras Tadel hatte sie sich vorstellen können, wer ihr Wohltäter gewesen war. »T-Talos?« Der Fremde nickte, leerte einen weiteren Krug und schmetterte ihn an die Wand. Wieder beschwerte sich niemand. »Du hast mich ausgetrickst!« sagte Ruha. »Ich habe dir geholfen – und ich wäre willens, dir noch ein weiteres Mal zu helfen, wenn du nett darum bittest.« Die Harfnerin schüttelte den Kopf. »Die Herrin der Mysterien ist schon wütend genug auf mich.« »Mystra ist für dich derzeit wertlos.« Talos leerte einen halben Krug und sah sich dann in der Stube um, als könne er sich nicht entscheiden, wo er ihn hinwerfen sollte. Die übrigen Gäste beobachteten das Treiben, und ihre Gesichter verrieten verschiedene Abstufungen von Verwunderung, Angst und Ehrfurcht. »Tyr hat sie weggesperrt bis zur Gerichtsverhandlung – du weißt doch über die Gerichtsverhandlung Bescheid, oder? Wenn die Verhandlung erst einmal zu Ende ist ...«
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Talos zuckte die Achseln und warf den Krug an die Decke. Er zerbarst zu einem Regen aus Tonsplittern und Bier und besudelte einen ganzen mit Gästen vollbesetzten Tisch. Der Zerstörer zupfte an seinem Bart. »Vielleicht sollten wir einfach sagen, du wirst deine Magie nach dem Prozeß von mir erhalten?« »Um dann eine Katastrophe heraufzubeschwören, wann immer ich zaubere?« konterte Ruha. »Dann lasse ich’s lieber bleiben.« »Wahrlich.« Talos wies auf Ruhas Krug. »Darf ich?« Ruha schob ihm das Gefäß zu. »Selbst wenn ich mich im Hinblick auf den Prozeß irren sollte, brauchst du Hilfe.« Talos senkte die Stimme. »Ich fürchte, die Typen hinter mir wissen, daß du eine Harfnerin bist, und du weißt ja, was das in dieser Stadt bedeutet. Ohne deine Zauberkraft ...« Talos lehnte sich zurück und hob die Brauen. »Deine Chancen stehen nicht gut.« Ruha sah zur Tür und bemerkte, daß sie sich einen miesen Sitzplatz ausgesucht hatte, denn Buorstag und seine Spießgesellen würden ihr den Weg abschneiden, bevor sie sie würde erreichen können. Auch das Fenster war kein guter Ausweg. Sie würde über ihren Tisch steigen müssen, um das Fensterbrett zu erreichen, außerdem ging es auf die Straße, so daß sie wieder an der Tür des Gasthauses vorbeimüßte, um zu den Stallungen zu gelangen. Aber Pferdegreife boten einer Dame in Eile gewisse Vorteile, und sie wußte, daß das Fenster ihre einzige Hoffnung darstellte. Noch einmal sah die Hexe Talos an. »Ich verstehe,
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was du meinst, aber ich muß es einfach riskieren.« Winzige Blitzbögen summten in Talos’ Augen – im leeren wie auch im anderen –, und das Lächeln in seinem Gesicht gefror. »Du weist mich ab?« Die Harfnerin nickte. »Ich bin zu alt, um eine neue Art von Magie zu lernen – aber wenn du es immer noch für wichtig erachtest, Malik einzufangen, dann könntest du mir ja sagen, wo er ist.« »Wozu? Du wirst nicht lange genug leben, um ihn zu fangen.« Talos hob den Krug über seine Schulter und schüttete den kompletten Inhalt über Buorstags Kopf aus. Dann verschwand er, nicht einmal in einem Blitz, sondern er verwandelte sich vielmehr in einen, und nur ein Häufchen qualmender Asche blieb auf der Bank, auf der er eben noch gesessen hatte, von ihm übrig. Buorstags Helfershelfer standen plötzlich auf und versperrten Ruha den Weg zur Tür, der Bron jedoch wischte sich lediglich das Bier aus dem Gesicht, drehte sich zu der Hexe um und ließ seinen Blick auf sie fallen. Ruha bleckte die Zähne, so wie Zale es ihr beigebracht hatte, und gab dann, in der Hoffnung, die Mauern der Taverne mögen nicht dicht genug sein, um einen Pfiff zu verschlucken, ein lautes Trillern von sich. Buorstag stand auf, griff aber nicht nach seinem Schwert. »Dieser Malik, hinter dem du her bist – beschreibe ihn.« Ruhas Herz schlug ihr bis zum Hals, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß der, vor dem sie sich am meisten fürchtete, ihr verraten würde, wohin ihre Beute geflüchtet war, und doch verstand sie, daß sie nichts zu
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verlieren hatte, indem sie ihm antwortete. »Er ist ein dicker Kerl mit dunkler Haut und Augen, die hervortreten wie bei einem Käfer. Woran ihr ihn aber am ehesten erkennen werdet, das ist sein Pferd: ein gewaltiges Vieh mit saphirnen Augen und dem Gebiß eines Ungeheuers.« Buorstags Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Deine Stimme kommt mir bekannt vor.« Mit finsterem Blick kam er zu ihrem Tisch herüber. »Warum suchst du diesen Malik?« Ruha antwortete, ohne zu zögern, denn jeder Versuch, ihre Stimme zu verstellen, hätte lediglich noch mehr Verdacht erregt. »Er ist ein Dieb und hat mir etwas Wichtiges gestohlen.« Sie hatte diese Antwort wohl schon bei hundert verschiedenen Gelegenheiten gegeben, und jedesmal war’s der Fragende damit zufrieden gewesen, nicht jedoch Buorstag. Er haßte Harfner fast ebensosehr, wie er es liebte, der Bron zu sein, und er suchte bloß noch einen Grund, Ruha in Haft zu nehmen, der den Wirt nicht erzürnen und ihn Stimmen bei der nächsten Wahl kosten würde. Buorstag starrte sie an, um sie aus der Ruhe zu bringen, aber Ruha war solcherlei Spielchen gewöhnt und erwiderte seinen Blick. Der Bron senkte zuerst den Blick und griff nach Rindas Reisebeschreibung. »Was ist das? Dein Tagebuch?« Er durchblätterte die Seiten und begann zu lesen. »›Was das Buch angeht, das später Das Wahre Leben heißen würde, so hörte ich, daß Chembryl es immer noch an einem sicheren Ort nahe der Ruinen der Zentilfeste aufbewahrt.‹«
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»Natürlich!« stieß Ruha leise aus. Buorstag schenkte dem keine Beachtung und las weiter, immer noch auf der Suche nach einem guten Grund für eine Festnahme. »›Auch wenn ich wünschte, es wäre in den Händen eines vertrauenswürdigeren Beschützers, bete ich doch, daß es stimmt. Das Wahre Leben ist der einzige Weg, die Geister, die die Cyrinishad in ihren Bann geschlagen hat, wieder zu befreien, und ich fürchte, daß seine schlichten Wahrheiten dereinst benötigt werden, um ganz Faerûn zu retten.‹...« Hier hörte Buorstag auf zu lesen. »Was für eine Ketzerei ist das?« Seine Stimme bebte nun vor Zorn, denn er war ein treuer Anhänger des Cyrictempels von Voonlar. »Gotteslästerung ist illegal!« Ruha gab keine Antwort, denn sie war von dem, was sich ihr soeben eröffnet hatte, wie benommen. Ihr Ziel befand sich eindeutig auf dem Weg zur Zentilfeste; das war offensichtlich. Aber konnte es sein, daß dieser findige kleine Spion Das Wahre Leben ausfindig machen wollte, daß er wirklich im Sinn hatte, Cyric von seinem Irrsinn zu erlösen? Ruha stand der Mund voller Ehrfurcht vor der Genialität dieses Planes offen. »Hast du mich verstanden?« wiederholte der Bron. »Dieses Buch ist in Voonlar illegal!« »Dann konfisziert es. Es ist Maliks.« Einen Moment lang hatte sie es geschafft, Buorstag zu verwirren. Ruha machte sich zur Tür auf. »Entschuldigt mich ...« »Augenblick! Ich kenne diese Stimme.« Buorstag griff über den Tisch und riß Ruha den Schleier vom Gesicht. »Du!«
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Die Hexe bleckte die Zähne und pfiff ein zweites Mal, dann täuschte sie eine Flucht durch die Tür an. Sofort schickten sich der Bron und seine Männer an, ihr den Weg abzuschneiden. Sie wirbelte herum und rollte sich auf ihren Tisch, sprang auf den daneben und fegte von Tisch zu Tisch springend durch die Gaststube. »Halt!« bellte der Bron. »Haltet sie!« Der Befehl kam zu spät. Ruha war bereits durch das Fenster gesprungen und rief nach Silberwolke. Sie schlug auf der Straße auf, rollte sich jedoch ab, und als sie sich erhob, kam der Pferdegreif schon über das Stalltor geflogen. Ruha befahl dem Tier nicht zu landen, sondern warf ihre Arme in die Luft und ließ sich von ihm mit den Klauen greifen. Bis Buorstag auf die Straße hinausgetaumelt war, fegten die beiden bereits über den Tempel des wiedergeborenen Dunklen Gottes hinweg und machten sich auf in Richtung der Zentilfeste.
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Hinter dem fernen Horizont erhob sich eine dunkle Reihe von Bollwerken, die die Straße vor uns blockierten. Das Umbraband des Tesch sickerte von Westen heran, und der graue Mondsee breitete sich nach Osten hin aus. Ein Leichentuch aus gelbem Dunst hing tief über den Zinnen, wie Rinda es in ihren Aufzeichnungen beschrieben hatte. Endlich hatte ich meinen Wallfahrtsort erreicht, die große Zentilfeste. Ich hätte Halah die Sporen gegeben, wenn sie nicht ohnehin schon in ihrem üblichen Affenzahn dahingefegt wäre, und ich konnte nur versuchen, mich auf ihrem Rücken zu halten. Meine lange Reise war vorüber, doch der schwerste Teil der Aufgabe lag noch vor mir. Jetzt mußte ich Fzoul Chembryl Das Wahre Leben entwenden und den Einen überzeugen, er möge es doch lesen, und ich hatte nur noch vier Tage, bevor der Prozeß wieder aufgenommen wurde. Als mich Halah näher an die Zentilfeste heranbrachte, erkannte ich, daß der Eine die Stadt für ihren Verrat schwer bestraft hatte. Er hatte den Drachen und Riesen erlaubt, die Stadtmauern und Wachtürme in zerklüftete Ruinen zu verwandeln, und weite Bereiche aus blassem Stein ließen erkennen, wo ihre Angriffe Ausbesserungs-
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arbeiten nötig gemacht hatten. Von all den Gebäuden in der Stadt, die die Stadtmauern überragten, waren nur bei den wenigsten die obersten Stockwerke erhalten geblieben, und noch weniger hatten noch ihr Dach. Aus der Ferne war es schwer, mehr zu erkennen, denn auf der anderen Seite des Flusses erhob sich ein hoher, kuppelartiger Hügel, und die Einzelheiten der dunklen Formen verschwanden vor dem felsigen Angesicht des seltsamen Berges. Als Halah und ich nah genug herangekommen waren, um eine Ansammlung von Hütten außerhalb des Tores zu bemerken, erkannte ich, daß die Zentilfeste nicht jene immense Stadt war, die Rinda in ihrem Tagebuch beschrieben hatte. Der ganze Ort erstreckte sich wohl nur ungefähr tausend Schritt von Ost nach West und konnte höchstens ein Zehntel dieser Strecke breit sein, ohne bis in den Tesch zu reichen, der ihn von besagtem runden Berg auf der anderen Seite trennte. Für einen Barbaren aus dem Osten hätte ein solcher Weiler vielleicht wie eine Stadt wirken können, für einen Kaufmann aus Calimshan war er jedoch nicht mehr als eine Wegstation! Ich zügelte Halah in ein Schrittempo und bemerkte dann, daß der Hügel am andern Flußufer vollständig aus Bruchstein bestand. Es sah aus wie eine Geröllhalde, denn zwischen den Felsbrocken gab es immer wieder große Flächen von Mauerwerk, scheinbar achtlos weggeworfen. Wäre der Berg nicht so viel größer gewesen als die Zentilfeste selbst, dann hätte ich ihn wohl für eine Art Müllhalde gehalten. Halah schritt langsam in den Kreis der windschiefen Hütten vor dem Tor, und der fremdartige Berg ver-
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schwand hinter den Zinnen der Stadtmauer. Das Tor stand offen; zwei Wächter kamen aus dem Torhaus gelaufen und kreuzten ihre Hellebarden über der Straße. Beide waren groß wie Haremswächter, und über ihren Kettenhemden trugen sie schwarze Wappenröcke, auf denen das Stadtwappen der Zentilfeste prangte: eine weiße, juwelengekrönte Faust in stählernem Handschuh. Ich zerrte an Halahs Zügeln und brachte sie unter dem Fallgitter zum Stehen. Sofort wimmelte es hinter dem Tor von Bettlern, die nur darauf warteten, sich auf mich zu stürzen, sobald mir Einlaß gewährt würde. Auch aus den Hütten hinter mir tauchten zwei Männer auf; einer hielt eine dünne Karte in Händen, und der andere führte ein in Lumpen gekleidetes Kind, das er zweifellos als Führer zu vermieten gedachte. Aus Angst, Halah würde sich an dem Jungen gütlich tun, scheuchte ich die drei fort und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Wächter vor mir. »Darf ich eintreten?« »Nenn uns deinen Namen und was dich in die Zentilfeste führt«, befahl der Ältere der beiden. Von hinter ihm kamen der ätzende Geruch brennenden Torfs und das behutsame Gemurmel einer geschäftigen Stadt. »Zeig uns außerdem deine Münzen, damit wir wissen, daß du dir den Aufenthalt in der Stadt leisten kannst.« Nun, ein Händler, der so viele Städte besucht hat wie ich, weiß, daß es keine gute Idee ist, sein Geld am Stadttor zu zeigen. Denn wenn die Wächter selbst keine Diebe sind, so sind sie sicher mit Dieben im Bunde, und selbst wenn sie allen Ernstes ehrlich sein sollten, dann versuchen sie gewiß nur zu entscheiden, was für einen Weg-
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zoll sie einfordern können. Ich machte keine Anstalten, ihm irgend etwas zu zeigen. ‹Vielleicht wäre es besser, wenn du mir einfach sagtest, was es mich kosten würde, in die Zentilfeste eingelassen zu werden, und ich kann dann entscheiden, ob ich soviel zahlen kann oder nicht.« Der Wächter begutachtete meine zerschlissene Aba und mein edles Roß, wohl im Versuch zu entscheiden, ob ich ein Pferdedieb oder das Opfer von Wegelagerern war. Sein Interesse an der Angelegenheit beruhte einzig und allein darauf, daß er einem Dieb mehr abknöpfen konnte als dem Opfer eines Raubüberfalls. Halah stieß schwärzlichen Dampf aus und beäugte die beiden Soldaten, und ich betete, daß sie sich darüber im Klaren war, daß sie sich an einem solchen Kettenhemd leicht die Zähne ausbeißen konnte. Schließlich entschied der ältere Wächter, ich sähe mehr wie ein Uberfallener aus als wie ein Dieb. »Der Wegzoll beträgt eine Silbermünze.« »Eine Silbermünze!« schrie ich. Da ich eine kleine Geldreserve von Halahs Opfern zusammengeklaubt hatte, hätte ich mir locker das Zehnfache leisten können, aber mein Vater hatte mich gelehrt, es sei weise, bei jedem Geschäftsabschluß nach Gewinn zu streben, also schüttelte ich den Kopf. »Ich werde auf der Straße schlafen müssen! Ich kann euch genau soviel geben, nicht mehr.« Ich griff in meine Aba, um eine Kupfermünze herauszuholen, aber Mystras Magie zwang meine Hand in die Tasche, in der ich meine Silbermünzen aufbewahrte, und eine davon war es dann auch, die ich dem Wächter zu-
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schnippte. Er fing sie, lächelte überrascht und ich konnte gerade noch einen Aufschrei der Enttäuschung ersticken, denn ich hatte im Gefühl, daß er mich für nicht mehr als drei Kupferstücke eingelassen hätte. Ich drängte Halah mit einem Stups nach vorn. Sie machte zwei Schritte, berührte dann mit ihrer Schnauze fast die Blätter der gekreuzten Hellebarden und bleckte die scharfen Fänge. Die Wächter hoben die Brauen, ließen die Waffen jedoch unten. »Nun nenn deinen Namen und dein Begehr«, sagte der jüngere, und ich merkte, daß er diesen Teil seines Dienstes mehr genoß als sein Kamerad das Eintreiben des Wegzolls. »Wir wollen keine finsteren Gesellen in der Zentilfeste haben.« »Mein Name ist Mu...« An dieser Stelle verschluckte ich mich durch Mystras verfluchten Zauber an der Lüge, die ich eben im Begriff war auszusprechen. »Mein Name ist Malik el Sami yn Nasser, und alles, was ihr über mein Begehr wissen müßt, ist, daß es eine Privatangelegenheit ist, die einen der Bewohner dieser Stadt betrifft«, und der Zauber der Hure brachte mich dazu, noch hinzuzufügen: »Fzoul Chembryl.« Es war mir sofort klar, daß das ein schreckliches Mißgeschick darstellte. Der Kartenzeichner und der Stadtführer zogen sich in ihre Hütten zurück, und die Bettler verschwanden in ihre Gassen und ließen nur ein flachshaariges altes Mütterlein und zwei Greise zurück, die mich noch belästigen könnten. Ich wünschte der Hure der Magie die Blattern an den Hals, denn ich wollte ja wohl kaum, daß irgendwer erfuhr, daß ich auf der Suche nach Fzoul Chembryl war.
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Doch der ältere Wachmann reagierte völlig ruhig, senkte die Hellebarde und bedeutete seinem Kameraden, es ihm gleichzutun. Er trat zu mir. »Es wäre weiser, den Namen des Hohen Tyrannars nicht zu laut auszusprechen.« Während er dies flüsterte, schwenkte Halah ihren Kopf beiläufig, ganz so, als wolle sie den Mann beobachten, und wenn er nicht so vorsichtig gewesen wäre, seine Hellebarde zwischen seine Schulter und ihre Zähne zu manövrieren, dann hätte er jetzt sicher einen Arm weniger gehabt. »Fzoul steht auf Orgauths Prioritätenliste für den Richtblock.« »Ich verstehe.« In der Hoffnung, das Beste aus einer schlimmen Situation zu machen, beugte ich mich hinunter, um zu fragen: »Kannst du mir sagen, wo ich seinen Palast finde?« »Palast? In der Zentilfeste?« »Dann vielleicht den Tempel Iyachtu Xvims. Ich bin so weit gereist ...« »Bist du ein Gläubiger?« Der Wächter hob die Handfläche und blinzelte zweimal mit beiden Augen, und ich, der ich daran gewöhnt bin, Waren von gewissen Leuten zu kaufen, die mit geheimen Gesten operierten, erkannte das Zeichen sofort als solches. Ich wiederholte es, nickte und glaubte mich sicher vor der Magie der Metze, solange ich dem Impuls zu reden widerstand. Aber mein Mund öffnete sich aus eigener Kraft, und dies kam daraus hervor: »Ich glaube an den Herrn Cyric, den Einen und Einzigen.«
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»Ein Cyricist?« Der Wächter trat zurück, als sei ich aussätzig. »Ein stinkender, dreckiger Cyricist?« Nach all den Tagen auf der Straße war ich das und noch mehr, doch ich verspürte keinen Wunsch danach, das von einem niederen Wächter hören zu müssen. Ich trat ihm vor die Brust und ließ die Zügel knallen, und Halah sprengte an dem jüngeren Wächter vorbei in die Zentilfeste. In jeder anderen Stadt hätten die Wachen im Torhaus uns einen Pfeilhagel hinterhergeschickt, hier aber war es nur ein Stein, der über meine Schulter geflogen kam. »Cyricist!« rief jemand. Ich warf einen Blick zurück und sah den jungen Wächter und seinen älteren Kameraden noch mehr Steine zusammensuchen, dann flog mir aus dem Torhaus ein Hagel aus vergammelten Rüben entgegen und landete klatschend auf mir. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätten ihre Armbrüste abgefeuert, Tyrs Magie hätte mich gewiß davor geschützt, und ich wäre nicht mit dem widerlich stinkenden Schleim besudelt gewesen. Die Torwachen warfen ihre Steine. »CyricLiebhaber!« Von dem seltsamen Alarm, den die Wachen gaben, verwirrt, wandte ich mich nach vorn und sah Bettler aus den Gassen hervorpreschen. Sie begannen, allen möglichen Unrat zu werfen, und dabei wurden sie von gutgekleideten Bürgern unterstützt, die Steine warfen, und von Maurern, die mir Kellen mit Mörtel hinterherschleuderten. Jemand in einem der höheren Fenster warf gar einen vollen Nachttopf nach uns, der direkt auf Halahs Kopf zersprang.
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Das war zuviel für mein stolzes Roß. Es stieg hoch und blies schwarzen Dampf aus den Nüstern, dann wirbelte es in Richtung unserer Angreifer herum und streckte sie mit den Hufen nieder. Ich konnte mich nur in seine verklebte Mähne krallen und daran festhalten. Ich fühlte die Wut in Cyrics Herz in meiner Brust aufsteigen, und bald rauschte das Blut so laut in meinen Ohren, daß ich die Beleidigungen, die der Mob schrie, kaum noch verstand. Halahs blitzende Hufe schleuderten einen Maurer durch eben jene Mauer hindurch, die er gerade ausbesserte, und ich wies auf seinen blutenden Kopf. »Narren! So ergeht es allen, die Cyric beleidigen!« Halah wirbelte einem in Seidenroben gewandeten Kaufmann entgegen und hieb ihm ihre Hauer in die Schulter, dann riß sie den Kopf herum, und er flog über die Straße. Ich folgte seiner Flugbahn mit dem Finger. »Seht Cyrics Zorn!« Schließlich wich die Menge zurück, was mir einen Moment Zeit gab, um mich umzuschauen. Wir befanden uns mitten auf einem belebten, kopfsteingepflasterten Boulevard, der von großen Ratsgebäuden aus düster aussehendem Stein flankiert wurde. Viele waren von Baugerüsten eingerahmt und von Steinhaufen umgeben, denn die Maurer waren noch damit beschäftigt, die Schäden vom letzten Mal zu beseitigen, als die Zentilfeste den Einen beleidigt hatte. Am anderen Ende der Straße, nicht mehr als fünf Blocks entfernt, befand sich ein weiteres, ebenfalls offenes Tor, durch das man eine halbfertige Brücke erkennen konnte, die über den Tesch
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zu dem seltsamen Abfallberg führte, den ich schon bemerkt hatte. Das Getrappel rennender Stiefel brachte meine Überlegungen zu einem Ende. Ich blickte zurück und sah eine Heerschar schwarzer Wappenröcke aus dem Torhaus sprudeln. Selbst wenn mich Tyrs Schutz vor ihren Hellebarden und Armbrüsten abschirmte, er würde mir nicht helfen, aus einem Verlies zu entkommen, wenn ich mich von ihnen fangen ließ. Ich trieb mein Pferd in Richtung des Tores am Fluß, und ausgerechnet jetzt mußte die alte Vettel Halah in den Weg springen. Sie war eine jener Bettlerinnen, die sich nicht in die Gassen verdrückt hatten, als ich Fzoul Chembryls Namen erwähnt hatte. Die Vettel erhob die Hände. »Halt!« Halah stieß schwarzen Rauch aus und ging auf die Hinterbeine, und das Bettelweib duckte sich und hielt die Arme schützend über den Kopf. »Verschone mich, wenn du Cyric liebst!« Halahs Hufe fuhren neben der Vettel nieder, und hinter mir klickten Armbrüste. Zwei Bolzen trafen mich direkt in den Rücken, doch sie verfingen sich in meiner schmutzigen Aba, und so blieb ich unverletzt. Der Vettel blieb der Mund offenstehen. »Im Namen Cyrics!« »Was willst du, Weib?« Ich warf einen Blick über die Schulter und sah die Gardisten weniger als zehn Schritt weit entfernt. »Ich habe keine Zeit.« »Dann hilf mir rauf.« Die Alte streckte mir einen Arm hin. »Im Tempel bist du sicher.« Ich griff ihre Hand, zog sie herauf und gab Halah die Sporen, so daß sie losjagte. »Cyric hat einen Tempel in
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dieser lästerlichen Stadt?« »Links.« Die Vettel deutete in eine Seitengasse und fügte dann hinzu:, »Unter uns gibt es einige, die wissen, daß die Zentilfeste ihre Vernichtung verdiente. Wir sind nicht sonderlich beliebt – wie du gesehen hast –, aber Fürst Orgauth fürchtet den Zorn des Einen und beschützt deshalb unseren Tempel.« Wir sprengten zwanzig Schritt tief in eine schmutzige Gasse, die so eng war, daß meine Knie zu beiden Seiten an den Wänden entlangschleiften. Halah setzte über zwei schlafende Bettler hinweg und rauschte über einen dritten dahin, dann ließ die Alte endlich meine Taille los und wies in eine weitere dunkle Gasse. »Rechts.« Wir rutschten um die Häuserecke, galoppierten ein weiteres Dutzend Schritte und platzten auf eine noch viel breitere Straße hinaus, als jene, auf der ich die Stadt betreten hatte. »Links.« Als ich Halah um die Ecke lenkte, nahm die Stute einen Umweg über den Karren eines Straßenhändlers, zertrümmerte dessen Hühnerkäfig und fing sich einen laut krähenden Hahn, den sie komplett verschlang, während wir die Straße hinunterpreschten. Über die Schulter hinweg fragte ich: »Kannst du mir helfen, Fzoul zu finden?« »Klar. Aber du hättest am Tor nicht nach ihm fragen sollen. Genau wie wir hat auch er seine Spione dort, und jetzt wird er die Augen nach dir offenhalten.« »Ich konnte nichts dagegen tun«, antwortete ich, und wie alles, was ich an diesem Tag sagte, war es die Wahrheit.
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Nach nicht mehr als vielleicht hundertfünfzig Schritt lotste mich die Alte eine kurze Seitenstraße hinunter, bis zum Hof eines schwarzen Baus. Er war in keinem besseren Zustand als die übrigen Gebäude der Stadt. Von seinem zweiten Stock und dem Dach fehlte ein großer Teil, und die lästerlichen Einwohner der Stadt hatten die Mauern mit allen möglichen Schimpfworten beschmiert, in denen sie Cyric für das Schleifen der Stadt verantwortlich machten. In Anbetracht der Sakrilege, deren Zeuge ich bis jetzt geworden war, hatte der Eine der Stadt gegenüber mehr Gnade walten lassen, als sie verdient hatte. Die alte Vettel ließ sich von Halahs Rücken hinabgleiten und begann, an die kupfernen Tore des Tempels zu hämmern. »Bruder Fornault, hier ist Schwester Svanhild!« Sie winkte mich herbei. »Öffnet, und zwar plötzlich! Der Eine hat uns einen Retter gesandt!«
In einem Gebiet wie Faerûn sterben jeden Tag Hunderte, und darum brauchte der Todesseraph auch nicht lange, bis er die letzten Augenblicke im Leben von tausendundzehn Seelen miterlebt hatte, wie sein Herr Kelemvor es ihm aufgetragen hatte. Nun stand Avner im kristallenen Turm und berichtete alles, was er beobachtet hatte. Der Fürst der Toten saß zusammengesunken auf seinem Thron aus Kristall, das Gesicht betrübt und finster, während er seinen Bericht verfolgte. »Im Nessersumpf«, fuhr Avner fort, »stieg ein schwarzer Drache unter einem Stechkahn empor, in dem Gutwin von Heuwald unterwegs war. In dem Moment, da der Wurm sein Maul öffnete, zog Gutwin sein Schwert und warf sich zwischen die mächtigen Kiefer.« Kelemvor hob die müden Augen. »Aus welchem Grund?« »Keinem. Der Kahn war schon am Sinken, und seine Begleiter waren entweder bereits ertrunken oder auf dem Weg zum Ufer. Den Schatz zu retten stand außer Frage, und Gutwin hätte sich durch einen beherzten Sprung ins Wasser selbst retten können.« »Vielleicht auch noch einen seiner ertrinkenden Kameraden?«
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»Ja. Er war ein guter Schwimmer und nur leicht gerüstet.« Der Todesseraph machte eine kurze Pause, während der er die verhagelte Stimmung des Gottes bemerkte. »Gutwins Tod war der tausendundzehnte. Soll ich losziehen und mehr beobachten?« Der Herr der Toten gab keine Antwort, denn selbst für den blindesten Narren kommt irgendwann der Augenblick, da sich ihm die Fehler seines Handelns offenbaren. Kelemvor erkannte, daß er einen armseligen Totengott abgab – ganz besonders im Vergleich zu Cyric, der in seiner grenzenlosen Weisheit wußte, daß Menschen schwache, selbstsüchtige Kreaturen sind, die stets den Weg des geringsten Widerstand gehen, es sei denn, sie haben unglaubliche Qualen und Pein zu befürchten. Deshalb hatte der Eine sein Reich zu einem Ort bitterer Tränen werden lassen, um die Ungläubigen und die Falschen davon abzuhalten, den Tod als billigen Ausweg aus ihrem harten, niederen Dasein zu sehen, und die Gläubigen davon abzuhalten, ihren Göttern den Rücken zu kehren. All das hatte Cyric zum Wohle der Bewohner von Faerûn getan, wie ein gestrenger Vater, der seine Kinder so sehr liebt, daß er ihnen eine harte Erziehung angedeihen läßt. Endlich wurde Kelemvor all dies klar, und er saß minutenlang zusammengesunken da; und wie ein eifersüchtiges Kind, machte es ihn wütend, daß sein Rivale recht gehabt haben sollte, wo er falschgelegen hatte. Wieder und wieder dachte er über die Angelegenheit nach, bis er wieder davon überzeugt war, daß sein Fehler sich auf eine lobenswerte Anteilnahme am Geschick der Sterblichen in Faerûn gründete, während Cyrics Herrschafts-
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form nur ein Nebenprodukt seiner brutalen und selbstsüchtigen Art war. Als er sich schließlich wieder seiner Rechtschaffenheit versichert hatte, fiel der Blick des Totengottes auf Avner. »Du könntest zehntausendundzehn Tode mit ansehen. Es würde nichts ändern. Wenn die Würdigen das Sterben nicht fürchten, dann werden sie den Unwürdigen die Welt der Lebenden überlassen – und Faerûn wird darunter zu leiden haben.« Der Todesseraph ließ die Flügel hängen. »Aber es ist doch gewiß nicht falsch, den Toten gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen.« »Es steht mir nicht zu, gerecht zu sein.« Kelemvors Blick richtete sich auf die leere Luft neben Avner. »Jergal!« Sofort erschien der schattenwabernde Umhang des Seneschalls, seine gelben Augen unter der Kapuze glühten. »Stets zu Diensten. Wie kann ich behilflich sein?« »Ich habe meine Pflichten vernachlässigt. Hast du die Liste meiner Urteile angefertigt?« Zwischen Jergals weißen Handschuhen erschien eine Schriftrolle vom Umfang eines Riesenleibs. »Ja.« »Gut.« Kelemvor schenkte dem Todesseraphen einen Blick und sagte dann: »Beginnen wir mit dem äußerst schwierigen Fall Avners von Hirschtal.« Hätte Avner noch gelebt, wären ihm die Knie weich geworden, und Übelkeit hätte sich seines Magens bemächtigt. So jedoch verlor er nur eine paar schattenhafte Federn und tat sein Bestes, um sich aufrechtzuhalten, mit dem festen Vorsatz, sich nicht lächerlich zu machen, indem er vielleicht auf die Knie fiel oder um Gnade win-
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selte. Wenn Kelemvor Avners stoische Akzeptanz des Unausweichlichen bemerkte, zeigte er es nicht. »Bring mir die Liste.« Der Gott des Todes winke Jergal herbei, nahm dann die Schriftrolle und begann, die Namen durchzugehen. »Jetzt hol mir den Gott der Diebe her, falls er lange genug damit aufhören kann, sich an Mystras Einkerkerung zu weiden, um mich zu besuchen.« »Er wird keine Wahl haben.« Jergal drehte sich nicht zum Ausgang um, er schwebte einfach rückwärts. Avner trat beiseite und ließ ihn vorbei. Dabei erhaschte er einen Blick auf seinen Widerschein im vollkommenen Spiegel an der Wand. Statt des mächtigen Todesseraphen sah er einen flachsblonden Waisenjungen von zehn Jahren, der sein bestes tat, um seine Angst hinter einer Maske aus Zynismus und Schläue zu verbergen. Die schmalen Augen und die zerfurchte Stirn taten ihr übriges, um den Jungen eher einsam als gefährlich erscheinen zu lassen. Avner verlor seine Haltung und begann zu zittern. Kelemvor sah lange genug von der Schriftrolle auf, um eine Braue hochzuziehen, dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu und überließ Avner dem Schrecken seiner Vorstellungskraft. Jergal erschien vor dem Thron des Totengotts. »Maske ist im Vorraum und wartet darauf, daß Ihr ihn ruft.« »Wie nett. Zeig ihm bitte den Weg.« Plötzlich erfüllte Maskes seidenweiche Stimme die Richthalle. »Ich stehe unter Tyrs Schutz!« Ein zweiter Jergal erschien im Durchgang, sein kör-
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perloser weißer Handschuh zerrte ein Bündel sich windender Schatten hinter sich her. »Ich warne dich!« Maske hörte lange genug zu zappeln auf, um die Gestalt eines riesigen Firbolgs anzunehmen; dieser Krieger besaß zwei Beine, doch fehlte ihm ein Arm, und er hielt das magische Chien in seiner Hand, das er dem Prinzen Tang gestohlen hatte. Das juwelenbesetzte Schwert war gerade einmal so lang wie der Unterarm des Bolgs. »Wenn du dir mit Mystra die Zelle teilen willst ...« Kelemvor verdrehte die Augen. »Helm hat alle Hände voll damit zu tun, die Herrin der Mysterien zu bewachen. Aber ich habe dich nicht zu mir gerufen, um gegen dich handgreiflich zu werden. Spar dir jegliches Getue. Es bedeutet mir nichts.« Um seine Worte zu bekräftigen, nickte der Herr der Toten in Richtung des Spiegels. Maskes Spiegelbild war das einer kleinen Kreatur mit einer hundeartigen Schnauze und Ziegenhörnern auf dem geschuppten Haupt. Dieser Kobold besaß zwei Gesichter und wirkte noch weit kleiner und dürrer als andere Vertreter seiner Art, denn unter seinem Rumpf gab es nur ein Bein, und das riesige Shou-Schwert in seiner Hand überragte ihn bei weitem. Maske schrie auf und verwandelte sich in einen kräftigen Minotaurus; sein Abbild aber blieb das eines Kobolds. Der Fürst der Schatten nahm schneller die verschiedensten Formen an, als ein Sterblicher blinzeln konnte, er wurde zu einem Bedinscheich, einem Ritter von Myth Drannor und einem Dutzend anderer nobler Recken. Das Spiegelbild blieb stets das eines erbärmli-
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chen Kobolds mit einem viel zu großen Schwert. Schließlich gab der Gott der Diebe auf, nahm einfach die Gestalt jenes Kobolds an und gestattete Jergal, ihn zum Thron des Fürsten der Toten zu schleifen. »Hast du mich hergebracht, um mir das zu zeigen?« »Keineswegs«, antwortete Kelemvor. »Ich habe dich hergebeten, weil ich den Fall Avners von Hirschtal noch einmal überdacht habe.« Maske sah den Todesseraphen an, nahm ihn scheinbar zum erstenmal überhaupt wahr. »Überdacht?« »Vielleicht habe ich mich geirrt, als ich mich weigerte, ihn dir zurückzugeben.« »Geirrt!« Die Stimme des Meisters aller Diebe bebte vor Zorn; in seiner Arroganz glaubte der Gott der Diebe, Kelemvor mit Mystras Einkerkerung das Fürchten gelehrt zu haben. Er blies sich zur Gestalt eines kräftigen Zwergs auf, dann hob er die Nase und wagte es, seinen Fuß auf die kristallene Stufe zu Füßen von Kelemvors Thron zu stellen. »Es ist zu spät, meine Vergebung zu erbitten.« »Ich erbitte nichts, insbesondere nicht von einem feigen, niederen Gott wie dir. Doch ich gebe Avners Geist in deine Obhut.« »In meine Obhut?« Um seine Überraschung zu verbergen, kratzte sich Maske an seinem dreckigen Kinn und wandte sich ab. Er begann, den Todesseraphen von oben bis unten zu mustern, wie ein Mann, der im Begriff ist, ein Kamel zu kaufen. Aber der Fürst der Schatten hatte nicht vor, den Preis zu drücken. Er erkaufte sich nur gerade etwas Zeit zum Nachdenken. Wenn Kelemvor anfing, sich wie ein
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vernünftiger Gott des Todes aufzuführen, dann könnte das Urteil beim Prozeß zu seinen Gunsten ausfallen – und Maske sähe sich noch einem mächtigen Feind gegenüber. Der Todesseraph stand stocksteif da und blickte auf die dürre Silhouette des Fürsten der Schatten hinab. Sicher, er hatte den Gott der Diebe einst angebetet, aber er war auch dem hohen Ruf der Pflicht gefolgt, und das ohne zu zögern; nichts, was Maske tun konnte, würde ändern können, wozu Avner in jenem Augenblick geworden war. Endlich verzerrte der Fürst der Schatten die Koboldschnauze zu einem schiefen Lächeln, dann wandte er sich wieder zum Herrn der Toten um. »Du erwartest, daß ich ihn zurücknehme? Nachdem du ihn ruiniert hast?« »Ich erwarte gar nichts. Ich frage nur, ob du ihn willst.« Der Meister aller Diebe schüttelte den Kopf. »Nicht, bis er sich würdig erwiesen hat.« »Würdig erwiesen?« Kelemvor beugte sich vor. »Wie?« Der Fürst der Schatten reckte die Schnauze und kratzte sich am Kinn. »Mal überlegen. Ich bin sicher, da wird mir was einfallen.« Er machte ein immenses Aufhebens darum, die Decke zu begutachten. »Ich hab’s, und es ist sogar etwas, daß dir noch viel gelegener käme als mir. Er soll die Herrin der Mysterien befreien!« »Das kann niemand«, wandte der Fürst der Toten ein. »Nicht, solange Helm sie bewacht.« »Klar, ich dachte mir schon, daß du das sagen würdest.« Der Meister aller Diebe zuckte die Achseln.
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»Schade. Wenn er es geschafft hätte, hätte ich ihn zu meinem Diebesseraphen gemacht. So wie’s aussieht, schätze ich, wirst du ihn wohl in eine Ratte verwandeln und ins Gassengewirr schicken müssen.« Der Fürsten der Schatten schüttelte in scheinbarer Enttäuschung den Kopf, als er sich jedoch zum Gehen wandte, huschte ein Grinsen über seine schattenverhängten Züge. »Ich kann es.« Maske blieb abrupt stehen, fuhr herum und richtete die Koboldschnauze auf Avner. »Wie bitte?« »Ich kann es. Erlaube mir, mir etwas aus dieser Kammer auszuborgen, und ich werde Mystra befreien.« »Nimm, was du brauchst.« Jetzt war Kelemvor mit Lächeln an der Reihe. »Ich bin ganz sicher, wenn du Erfolg hast, dann wird der Fürst der Schatten sein Wort halten – nicht wahr, Maske?« Maskes erster Gedanke war, daß der Fürst der Toten ihn übertölpelt hatte – wie aber hätte der Totengott wissen sollen, daß er darauf bestehen würde, den Seraphen zu testen, ganz zu schweigen von der Art des Tests? Die Antwort war, daß das unmöglich gewesen wäre; Avners Prahlerei war nur der verzweifelte Versuch einer verdammten Seele, ihrem Verderben zu entgehen. Maske verzog die Koboldschnauze zu einem selbstsicheren Lächeln, dann sah er den Seraphen an. »Einverstanden. Wenn du Mystra befreien kannst, bist du ein besserer Dieb als ich.«
Zeit ist für die Toten nicht von Bedeutung, als Adon sich also in der blendenden Weite der Fugenebene wiederfand, hatte er keine Ahnung, wie lange er hierher unterwegs gewesen war. Er erinnerte sich, daß er sich den Kopf an diesem Brunnen gestoßen und daraufhin seinen Mund zum Schreien geöffnet hatte, und dann war eine riesige Flutwelle über ihm zusammengeschlagen und hatte seine Lunge gefüllt. Die Seele verläßt den Körper leichter, als es einem Mann fällt, seine Robe auszuziehen. Die eisigen Fluten hatten ihn mitgerissen, und Mystras Gesicht war an der Oberfläche erschienen, verschwommen und wellig aufgrund der Strömung, aber endlich wieder die wunderschöne Göttin aus seiner Erinnerung. Dann bat ihn die Herrin der Mysterien, ihren Namen auszusprechen, und wieder erfüllte der Haß ihre Augen, und ihre Stimme erbebte vor Zorn. Adon schrie und versank in den Tiefen des kalten, schwarzen Ozeans, und das Bild seiner Göttin hoch über ihm zerbrach und verschwand. Seine anschließende Reise war gleichermaßen lang und ephemerisch. Wirbelndes Licht erschien in der Finsternis vor ihm, und er schwamm darauf zu, bis die Was-
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ser um ihn herum sich in einen schmatzenden, zähen Schleim verwandelt hatte. Das wirbelnde Licht wurde zum fernen Leuchten, und er grub sich hinter ihm her, bis sich der Matsch zur Granitplatte verhärtet hatte. Das ferne Leuchten wurde zu einem Strahlen hinter dem Horizont, und er stolperte ihm hinterher, bis sein Marsch sich in eine ohnmächtige, gefühllose Reise verwandelt hatte. Dann weitete sich das Leuchten zu einer grenzenlosen, weißen Fläche aus, und Adon stand unvermittelt mitten auf der Fugenebene, ohne eine klare Erinnerung daran, wie er eigentlich dorthin gelangt war. Wie etwas Lebendiges, Ruheloses bebte der Boden unter seinen Füßen, die Luft war erfüllt vom Dröhnen von einer Million Stimmen, und überall um ihn herum flehten die Toten ihre Götter an, herbeizukommen und sie aus dieser unendlichen Ödnis zu erretten. In seiner Nähe schrie eine Matrone: »O Chauntea, Große Mutter, güldene Ährengöttin, gnadenvolle Lebensspenderin! Erhöre mich, erhöre den Ruf deiner treuergebenen Dienerin Gusta, die fünf Kinder auf die Welt gebracht, in jedem Lenz ein ertragreiches Feld gepflanzt und an jedem einzelnen Tag ihres Lebens zu dir gebetet hat. Ich flehe dich an, hol mich in deinen Garten ...« Eine goldene Lichtsäule zerriß den Himmel, und über Gustas Haupt erschien ein geflügelter Herold, einen gelben Getreidehalm in der Hand. Der Sendbote senkte den Halm zu ihr herab, und ein flachsfarbener Strahl schien auf Chaunteas Bittstellerin herab und hüllte sie ein; in einem Atemzug schmolzen die Sorgen und Nöte von Gustas Leben dahin, und ihre Seele wurde so leicht, daß sie den flachsfarbenen Strahl hinaufflog, direkt in
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die Arme des Herolds. Ein Stück weiter hatten sich die Geister von vielleicht hundert Hexern und Zauberinnen zusammengeschart, und sie alle blickten zum Himmel in ein und dieselbe Richtung. Ein tiefes Gemurmel erhob sich in der Ferne, rollte auf Adon zu und brach mit der Macht einer Welle auf dem weiten Ozean über ihn herein. »Mystra!« Der Schrei war so laut, daß Adon ob des Lärms das Gesicht verzog; er konnte sich durchaus vorstellen, daß es bis in die Himmel hinauf und an Mystras Ohr reichte, während sie in ihrem Palast aus schillernder Magie saß. »O Mystra, Herrin der Mysterien, Wächterin des Gewebes, höre unser Flehen, erhöre deine treuen Gläubigen!« Hundert Stimmen sprachen gemeinsam, und trotzdem waren die Worte klar verständlich. »Wann wirst du uns erlösen, die wir unser Leben dem Studium deiner Wunder widmeten und den Glanz deiner Magie in aller Herren Länder trugen? Höre die Anrufungen deiner Getreuen, Mutter aller Magie. Sieh! Dies ist Mandra die Mächtige, die die Petarksee in Wein verwandelt hat, und hier ist Darshan die Fürchterliche, die den Abgrund von Narfell mit Diamanten auffüllte, und hier ist Baldemar die Glänzende, die ...« Weiter dröhnte das Gebet, es verkündete die unverbrüchliche Treue der Anhängerinnen der Herrin der Mysterien sowie die Großtaten jeder einzelnen, und bevor noch fünf weitere Wunderwirkerinnen benannt waren, sah der Patriarch die Herolde von Dutzenden anderer Götter auftauchen und ihre Anhänger einsammeln. Von allen Gottheiten Faerûns gefiel es allem An-
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schein nach nur Mystra, das Flehen ihrer Gläubigen zu überhören und sie zusammengepfercht auf der Elegiensteppe stehen zu lassen, wie eine versprengte Rinderherde. Adon rannte hinüber zu der Menge. »Hört auf!« Er bahnte sich einen Weg in ihre Mitte. »Die Herrin der Mysterien wird nicht kommen! Wir kümmern sie nicht!« Die Menge verfiel in Schweigen, und aller Augen waren auf ihn gerichtet. »Vergebt mir.« Adon drehte sich langsam. »Mystra hat mich geblendet, und so habe ich euch geblendet.« Eine Zauberin, schön wie nur eine Frau auf Faerûn, trat näher an ihn heran und schaute den Patriarchen von oben bis unten an, dann schüttelte sie traurig den Kopf und wandte sich wieder zum Gehen. »Ach, es ist nichts«, sagte sie. »Nur der unglückselige Adon.« Adon nahm den Arm der Frau. »Ich habe das wahre Angesicht der Herrin der Mysterien gesehen! Sie ist eine Hexe! Wenn sie sich um uns schert, warum hat sie uns dann noch keinen ihrer Herolde gesandt?« »Das wird sie«, mischte sich ein anderer Geist ein, ein hochgewachsener Zauberer mit schwarzem Bart. »Wir müssen nur daran glauben.« »Warum?« schrie der Patriarch. »Seht ihr nicht, daß sie uns geblendet hat?« »Armer Adon.« Die Zauberin hob die Hand und berührte sanft seine Wange. »Armer, verrückter Adon.« Adon stieß die Hand der Frau weg. »Hört mich an! Ihre Augen brennen vor Haß! Ihr Mund ist voller giftiger Fänge ...«
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»Genug!« Der schwarzbärtige Zauberer rammte Adon einen Handballen vor die Brust und warf ihn um. »Wenn wir uns Adons Irrsinn noch länger anhören, werden wir sein Schicksal erleiden. Er ist ungläubig!« »Ungläubig!« Adon rang nach Luft. »Wir müssen ihn hierlassen.« Die Zauberin drängte von ihm weg und zwang die Geister hinter ihr, es ihr gleichzutun. »Sein Wahn wird uns alle zerstören.« Wie ein Mann glitt die Menge davon, und Adon blieb allein auf der Fugenebene zurück. Er sah sie verschwinden, und als sie weit genug weg waren, daß er ihre Gebete nicht mehr hören konnte, begab er sich in eine kniende Position. Er faltete die Hände vor der Brust und hob den Blick zum Himmel. »O Kelemvor, Fürst der Toten und Richter über die Verdammten, erhöre mich, deinen toten Freund Adon ...«
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Die Gläubigen der Zentilfeste waren das seltsamste Häuflein von Getreuen, das es irgendwo auf Faerûn gab. Alle siebzehn lebten in derselben Halle aus kaltem Stein, schliefen in derselben strohgefüllten Krippe, wuschen sich in ein und demselben Badezuber, aßen aus derselben hölzernen Schüssel und teilten miteinander alles, was sie besaßen, ohne jeden Groll oder Feindschaft. Sie erklärten, sie täten dies aufgrund der vielen Entbehrungen, unter denen ihre Stadt und besonders ihr Tempel zu leiden hätten, aber jeder Narr hätte erkannt, daß sie es genauso haben wollten, wie es war. Als wir auf dem nackten Boden beisammen saßen und die Schüssel mit Haferschleim von einem zum anderen wanderte – sie besaßen nicht einen einzigen Löffel –, da wurden viele Witze gerissen, es wurde gelacht und sich umarmt, und nicht ein einziger beschwerte sich, wenn er die Schüssel geleert hatte und aufstehen mußte, um sie aus dem Kessel wieder aufzufüllen. Svanhild stand am Feuer und beschrieb den anderen mein Eintreffen. »Malik sagte: ›Ich bin ein Gläubiger unseres Herrn Cyric, des Einen und Einzigen‹. Es kümmerte ihn nicht das geringste, ob die Wache oder sonst irgendwer erfuhr, daß er ein Anhänger des wahren
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Glaubens ist!« Svanhild sah jetzt, da sie sich im Bad des Tempels gewaschen hatte, nicht mehr wie eine vertrocknete Alte aus. Auch mich hatte sie mit in ihren Zuber genommen – wie sie gesagt hatte, teilten die Gläubigen der Zentilfeste alles – und hatte mir und sich selbst eine jener flachsenen Roben angezogen, die hier im Tempel jeder trug. Ihre war gerade eben eng genug geschnitten, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sie gerade mal halb so alt war, wie ich sie zuvor am Tor geschätzt hatte, aber das hatte ich natürlich schon vorher im Bad bemerkt. »Er trat die Wächter beiseite ...« Svanhild lüpfte die Robe und hob eines ihrer wohlgeformten Beine, um es zu demonstrieren »... und ritt in die Zentilfeste ein, als sei er Fürst Orgauth persönlich. Als dann der Regen der Gläubigen einsetzte, stieg Halah vorn hoch und begann, Köpfe einzuschlagen, und Malik brüllte nur: ›So ergeht es allen, die den Einen beleidigen!‹« Svanhild wies auf den Boden und sprach mit einer Stimme, die tiefer war als meine, was seitens ihrer Gefährten eine Menge Gelächter hervorrief. Aber sie lachten mich nicht etwa aus, sondern machten sich über die Lästerer lustig, deren Schädel Halahs Hufe eingeschlagen hatten. »›Seht Cyrics Zorn!‹ hat er geschrien, und die Wächter haben ihre Armbrüste abgefeuert.« Jetzt starrte Svanhild mich an, und noch nie zuvor hatte ich in den Augen einer Frau solche Hingabe gesehen. »Die Bolzen haben ihm nicht mal eine Schramme zugefügt. Ihr hättet die Gesichter der Wächter sehen sollen!« Ich fühlte die Hitze in meine Wangen steigen, denn
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Svanhild hatte bereits durchblicken lassen, daß sie mir nach dem Abendmahl Gesellschaft leisten wolle. In Wahrheit waren ihre Avancen so keck, daß sie meine Brust mit so etwas wie einer göttlichen Pflicht erfüllten, und es war ein Wunder, daß ich sie mir nicht schon lange vorgenommen hatte – besonders nach der langen Zeit der Trennung von meinem Weib. Aber was bedeuteten mir Frauen, wenn Das Wahre Leben in so greifbarer Nähe lag? Ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran, das Buch zu stehlen und den Einen von seinem Wahn und mich selbst vor der Stadt der Toten zu erretten – und an den gewaltigen Lohn, den der Eine mir zugedenken würde, wenn sein Prozeß erst gewonnen war. Natürlich dachte ich auch an die vier kurzen Tage, die mir noch blieben, um all dies zu bewerkstelligen, sowie an die Schwierigkeit, Fzoul Chembryl in einer Stadt zu finden, die so fremdartig war wie eben die Zentilfeste, sowie an die Möglichkeit, daß er Das Wahre Leben gar nicht mehr besaß. Mehr als an alles andere dachte ich jedoch an die furchtbaren Folgen für die Kirche des Einen, sollte auch nur ein winziger Teil meines Planes nicht aufgehen, und aus genau diesem Grund verspürte ich keinerlei Interesse daran, den Haferschleim des Tempels zu mir zu nehmen, in seiner strohgefüllten Krippe zu nächtigen und ganz sicher auch nicht, mich mit seinen Frauen zu vergnügen. »Malik?« Svanhild schüttelte mich; ich hatte mich so in meinen eigenen Gedanken verloren, daß ich gar nicht bemerkt hatte, wie sie von der Feuerstelle fortgegangen war. »Fornault hat dich gefragt, was für einen Zauber du gewirkt hattest.«
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»Zauber?« Ich schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, dann sah ich Fornault Schwarzsonne direkt an, der mir im Kreis gegenübersaß. Der Priester, wie sie ihn hier nannten, war ein schlangenäugiger Mann von fünfzig Jahren, genauso mager wie seine Anhänger und mir ein wenig zu eifrig damit beschäftigt, aller Welt so ein Echsengrinsen zu präsentieren. An seinem Zeigefinger trug er das Siegel des eisernen Schädels im Strahlenkranz. »Ich kenne keine Zauber.« Fornault legte seine schmale Stirn in Falten, und irgendwie schaffte er es, dieses Lächeln auf seinen Lippen beizubehalten. »Du bist kein Kleriker?« »Ich bin der Finder des Buches.« Ich hatte Svanhild davon berichtet, wie ich die Cyrinishad gefunden hatte, während sie mir den Rücken schrubbte. Weil auch noch einige andere Leute in dem Bad gewesen waren, waren diese Geschehnisse bereits dem gesamten Tempel bekannt. »Ich hatte während meines Dienstes am Einen noch keine Verwendung für Magie.« Fornaults Lächeln erschlaffte an den Mundwinkeln etwas. »Das hatte ich auch schon gehört, aber die Zauber des Großen Auslöschers sind bei weitem mächtiger als die meinen.« Der Priester und seine Anhänger nannten Chembryl den Großen Auslöscher, denn er war derjenige gewesen, der Das Wahre Leben am Morgen der Zerstörung dieser Stadt vorgetragen hatte und somit den Glauben an Cyric hier in der Zentilfeste auf dem Gewissen hat. »Du verzeihst, wenn ich es seltsam finde, daß der Eine jemanden ohne magische Fähigkeit schickt, um unseren Feind zu bestrafen.«
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Das Herz in meiner Brust wurde kalt und trotzig, und ich wurde von dem Drang erfaßt, den Dolch zu zücken und diesen Narren abzuschlachten. Ich widerstand der Versuchung, und das nicht nur, weil ich fürchten mußte, daß seine Anhänger mich niemals bis zu ihm würden gelangen lassen. Svanhild zufolge war Fornault die einzige Person in diesem Raum, die wußte, wo Fzoul Chembryl zu finden war, und er war mit diesem Wissen bisher noch nicht herausgerückt. Ich zwang mich, das Lächeln des Priesters zu erwidern und versuchte, meinen Zorn zu verbergen. »Ich hatte dich nur gebeten, mir bei der Suche nach Fzoul Chembryl behilflich zu sein.« Die nächsten Worte wählte ich aufgrund von Mystras Wahrheitszauber sorgfältig. »Ich hatte nicht behauptet, der Eine habe mich gesandt oder ich sei gekommen, um Fzoul zu bestrafen.« In Fornaults Augen blitzte die Wut, aber sein Lächeln blieb unbeschadet. »Aber du hast auch nichts Gegenteiliges behauptet. Vielleicht solltest du uns verraten, was du nun vom Großen Auslöscher willst.« Da ich wußte, daß ich nicht würde lügen können und daß vermutlich weder Fornault noch seine Anhänger meinen Plan, den Einen zu heilen, gutheißen würden, preßte ich die Lippen aufeinander und sagte lieber gar nichts. Doch ich hielt seinem Blick stand, denn die Wut in meinem Bauch ließ mich mutiger werden, als ich eigentlich hätte sein sollen. Das Echsenlächeln verschwand aus Fornaults Gesicht. »Ich hab ein ungutes Gefühl dabei, einfach irgendwen zu Fzoul zu bringen.« In jedem anderen Tempel der wahren Gläubigen wäre solch eine Äußerung seitens eines Ho-
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hepriesters als ein undenkbares Zeichen von Schwäche verstanden worden; in der Zentilfeste war so etwas ebenso normal wie die zugemauerten Fenster. »Ein unüberlegter Angriff würde mit Sicherheit sofortige Vergeltung nach sich ziehen, und Fürst Orgauth würde einfach daneben stehen und sich das Schauspiel anschauen. Nichts käme ihm gelegener, als unseren Tempel ohne Gefahr für ihn selbst vernichtet zu sehen, denn nur die Angst vor dem Zorn des Einen hat ihn unsere Anwesenheit bisher dulden lassen.« Svanhild beeilte sich, mir zur Seite zu stehen. »Malik ist ja wohl kaum ein wichtigtuerischer Neuling. Er hat die Cyrinishad berührt und von Angesicht zu Angesicht mit dem Einen gesprochen!« »Zumindest sagt er das.« Fornaults Augen wurden gefährlich wie die einer Kobra, und sein Blick blieb auf mir haften. »Aber wir haben nur sein Wort, woher sollen wir denn wissen, daß er nicht ... übertreibt?« Ein seltsamer Tempel, wo Cyrics Anhänger davor zurückschrecken, einander der Lüge zu bezichtigen. Svanhild dachte einen Moment lang nach, dann sagte sie: »Wir wissen es, weil ich am Tor sah, was ich sah. Armbrustbolzen prallen nicht einfach vom Rücken normaler Menschen ab.« »Und wir wissen es auch wegen Halah«, fügte eine andere Tempelschwester, eine rabenhaarige Schönheit mit Namen Thir, hinzu. Sie wies auf eine entlegene Ecke, wo mein Pferd gerade dabei war, die einzige Ziege des Tempels zu verschlingen. »Wie viele Pferde fressen Fleisch und atmen schwarzen Nebel aus?« »Das ist ein guter Punkt«, mischte sich eine Schwester
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namens Oda ein, und dann vermeldete ein Bruder mit Namen Durin: mich glaube ihm.« Was folgte, war ein allgemeines Nicken und Zustimmung. Als ich in die Runde blickte, sah ich, daß alle Schwestern und einige Brüder des Tempels mich mit demselben sehnsuchtsvollen Blick bedachten, den ich auch schon in Svanhilds Augen erkannt hatte. Zweifellos hatte diese Begeisterung mehr mit dem Götterherz in meiner Brust zu tun als mit dem Anblick, den mein korpulenter Leib im Bad geboten hatte – zumindest hoffte ich das im Fall der Männer. Fornaults Miene wandelte sich von Erschrecken über Wut zu Schläue und schließlich zu freundlichem Einvernehmen. Es wirkte in seinem Gesicht ebenso unecht wie tierische Grausamkeit in meinem. »Nun ja, dann scheint die Angelegenheit ja entschieden zu sein.« Der Priester faltete die Hände und erhob sich. »Warum hole ich nicht eine kleine Überraschung, die ich aufgespart habe? Dann werden wir uns alle ans Feuer setzen und unsere Rache am Großen Auslöscher planen.« Svanhild runzelte die Stirn. »Eine Überraschung?« »Du wirst schon sehen«, gab Fornault zurück. »Wascht den Kelch aus, ich bin gleich wieder bei euch.« Fornault entzündete an der Feuerstelle eine Fackel, durchquerte die leere Halle und verschwand in einem finsteren Treppenaufgang. Obgleich sie im Hinblick auf das Angebot des Priesters offensichtlich beunruhigt war, nahm sie den Kelch vom Rand der Feuerstelle und ging nach oben, um ihn in der Dachzisterne auszuspülen. Als die beiden weg waren, setzte sich Thir neben
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mich. Sie schlang ihren Arm um meinen, wobei sie das Heft meines Dolches unter meiner Robe streifte, und kuschelte sich eng an mich. Sie kam mit ihren Lippen nah an mein Ohr und war im Begriff, mir etwas zuzuflüstern. Ehe sie Gelegenheit hatte, sich in Verlegenheit zu bringen, tätschelte ich sanft ihre Hand. »Verzeih mir, aber Svanhild hat mich vorhin schon gebeten, ihr später noch Gesellschaft zu leisten.« An dieser Stelle zwang mich die verfluchte Hurenzauberei hinzuzufügen: »Doch selbst in ihren Armen, so fürchte ich, werde ich wohl viel zu sehr mit Fzoul Chembryl beschäftigt sein, um das Ganze so recht genießen – ganz nebenbei bin ich erst kürzlich Witwer geworden.« Thir legte die Stirn in Falten. »Witwer? Was hat das denn damit zu tun, oder mit sonst irgendwas?« Sie zog sich ein bißchen von mir zurück. »Schau, ich weiß, du bist einer der Auserwählten, aber das ist nicht so mein ...« Fornaults Schritte kamen aus dem Treppenaufgang, und Thir verstummte. Zwar hielt sie auch weiter meinen Arm, aber ich merkte, daß sie den Priester nicht eifersüchtig machen wollte, denn sie drückte sich nicht mehr so eng an mich. Einen Augenblick später kam Svanhild von der Zisterne zurück. Es schien sie nicht zu irritieren, daß da eine andere Frau so nah bei mir saß, sie kam einfach zu uns herüber, nahm an meiner anderen Seite Platz und drückte sich ebenso eng an mich wie Thir. Es war eine wahre Schande, daß meine Gedanken so sehr um Chembryl kreisten! Der Priester trat in die Runde und präsentierte seine
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Überraschung: eine staubige Flasche mit einem scharlachroten Schnaps. In diesem Moment fiel mir auf, daß er seinen Siegelring gegen einen anderen ausgetauscht hatte, denn wie jeder gute Händler mit einem wachen Auge konnte ich unreines Silber von kaltgeschmiedetem Eisen unterscheiden. »Der beste Mulmaster-Port, den man für Geld bekommt«, erklärte Fornault. »Oder sollte ich lieber sagen, den eine flinke Hand stehlen kann?« Dies provozierte nervöses Gelächter seitens der CyricAnhänger, die gleichermaßen bemüht waren, meinen Blick zu meiden, wie sie mir flüchtige Blicke zuwarfen. Vielleicht hielten sie mich für egoistisch, daß ich weder Thir noch Svanhild fortschickte, oder vielleicht wußten sie auch irgend etwas über das Verhältnis des Priesters zu Thir, das mir bisher entgangen war. Fornault kam herüber und machte großes Aufhebens darum, wie er die Flasche entkorkte, dann streckte er Svanhild eine Hand hin. »Den Kelch, meine Liebe.« Svanhild warf mir einen Blick zu. »Svanhild, gib ihn mir.« Ihre Hand zitterte. Sie schlug die Augen nieder, als sei sie nun doch eifersüchtig auf Thir, dann gab sie Fornault den Kelch. Als er ihn vollschenkte, beugte ich mich zu Svanhild. »Du mußt dir keine Sorgen machen«, flüsterte ich. Svanhild sah mit Verwunderung im Blick auf. »Nicht?« Fornault trank aus dem Kelch und war sehr darauf bedacht, daß jeder sah, wie er sich den Portwein in den Schlund kippte.
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»Ich habe Thir schon erklärt«, flüsterte ich, »daß ich zu sehr mit meinem Auftrag beschäftigt bin, um mich heute nacht noch mit ihr zu vergnügen.« Svanhild furchte die Stirn, Ihre Enttäuschung war offenkundig. Sie zischte mir zu: »Aber Malik ...« Der Priester schmatzte lautstark und erklärte: »Ein feines Tröpfchen!« Schnell schenkte er den Kelch wieder voll, schwenkte den Inhalt darin herum und gab ihn mir. Svanhild fing das Gefäß ab, ehe ich zugreifen konnte. »Svanhild!« sagte Fornault. »Glaubst du nicht, wir sollten den Auserwählten Cyrics zuerst kosten lassen?« Svanhild sah von mir zu den anderen CyricAnhängern. Aufgrund ihres schändlichen Verhaltens wichen alle ihrem Blick aus, aber sie ließ den Kelch einfach nicht los. Eine bittere Kälte kroch ob dieser ungewöhnlichen Kränkung in meine Brust, denn seit meinem Weggang aus Calimshan hatte ich keinen Tropfen Port getrunken, weder guten noch anderen. Thir reckte sich über meine Brust und ergriff Svanhilds Hand. »Laß ihn trinken.« Sie nahm den Becher und reichte ihn mir, und ich sah, daß ihre Hände ebensosehr zitterten wie die Svanhilds. »Was soll so ein bißchen Portwein schon jemand so mächtigem wie Malik anhaben.« Wenn ich den Kelch nicht bereits an den Lippen gehabt hätte, dann hätte ich es mir vielleicht zweimal überlegt, ob ich trinken sollte. Aber wie es aussah, umspülte der Portwein schon meinen Gaumen und war bereits auf halbem Weg meinen Schlund hinunter, als mir dämmerte, was ihre Worte bedeuteten, und selbst dann bezwei-
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felte ich noch ihre Richtigkeit, dieser Portwein trug in sich nämlich nicht einmal den geringsten Hauch von Bitterkeit oder beißendem Geruch. Genaugenommen war ich mir nicht sicher, daß der Priester den Trank vergiftet hatte, bis sich mein Magen plötzlich seltsam voll anfühlte und die weiche Masse in meiner Brust zu gluckern und heftig zu pochen anfing. Ich schluckte die Hälfte dessen, was sich im Kelch befand, dann ließ ich ihn sinken. Die Augen des Priesters waren so groß wie Untertassen, und sein Teint hatte von blaß zu gespenstisch gewechselt. »In der Tat ein feines Tröpfchen.« Meine Ohren waren so mit diesem Gluckern erfüllt, daß ich kaum mein eigenes Wort verstand, und mein Bauch fühlte sich aufgebläht an wie der einer Hochschwangeren, und doch entnahm ich der Miene des Priesters, daß ich eigentlich schon hätte tot sein sollen, ehe ich den Kelch sinken ließ. »Wirst du mir nun endlich sagen, wo ich Fzoul Chembryl finde? Oder willst du vielleicht noch etwas von dem Port?« Ich stand auf und drückte Fornault den Kelch in die Hände. Er starrte in den Becher und versuchte zu ergründen, ob sein Gift versagt hatte oder ob ich wahrhaftig so mächtig war, wie Svanhild behauptet hatte. Mein Schädel begann zu dröhnen. Eine grauenhafte Kälte sickerte aus Cyrics Herzen in meine Brust, mit dem Gift hatte das allerdings rein gar nichts zu tun. »Deine Entscheidung?« fragte ich. Der Kelch glitt aus Fornaults Händen und fiel scheppernd zu Boden, und roter Wein ergoß sich über die Steine. Er fiel auf die Knie und küßte den Saum meines
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Gewandes. »Ich wollte doch bloß unseren Herrn des Mordes ehren!« Er bezog sich natürlich auf den ehrenhaften Akt der Tötung eines arglosen Gastes. »Ich wußte nicht, daß du ein Auserwählter bist!« »Ich habe auch nie behauptet, einer zu sein.« Ich vermochte ihn durch das Rauschen in meinen Ohren kaum mehr zu verstehen. »Wo finde ich also jetzt Fzoul Chembryl?« Sein Blick folgte meiner Hand, die in meine Robe wanderte und die glänzende Klinge meines Dolches zutage förderte. »Nicht!« flehte er. »Ich werde dich hinbringen!« Ich schüttelte den Kopf, denn mir war klar, daß ich dem kalten Sehnen in meinem Herzen nichts entgegenzusetzen hatte. »Sag’s mir, oder ich werde dich töten, und dann wird der Eine dein Schweigen im nächsten Leben bestrafen.« Diese Drohung war zu viel für Fornault. »Sein alter Turm! Meine Spione sagen, das sei der Ort, an dem er Iyachtu Xvim huldigt.« Ich blickte auf und sah die Augen der Cyric-Anhänger vor Vorfreude strahlen, denn die Ermordung eines Meisters war dem Einen ein noch viel größeres Wohlgefallen als der Mord an einem Gast. Svanhild nickte zustimmend. »Ich kann den Turm finden«, sagte sie. »Er steht in den Ruinen.« Ich ließ den Blick über die leergeräumte Halle streifen, hatte ich doch bisher gedacht, wir befänden uns hier bereits in den Ruinen, und hob den Dolch. Fornault
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kniff die Augen zusammen, wußte er doch, daß er einem Auserwählten des Einen nichts entgegenzusetzen hatte. Die klebrige Masse in meiner Brust preßte Matsch durch meine Adern, und ich tat einen Schritt nach vorn, um Rache zu nehmen. Plötzlich stellte ich mir Fornaults Seele unten auf der Fugenebene neben der meiner Frau vor, wie sie nach unserem finsteren Herrn riefen, und in der Tiefe des kalten Klumpens in meiner Brust war mir klar, daß Cyric ihm nie antworten würde. Die Vergiftung wurde zur Gotteslästerung, als sie das Herz des Einen in Bedrängnis brachte, und dafür gab es keine Vergebung. Der Priester würde vor Kelemvor geschleift und für gleichermaßen unedel wie falsch befunden werden, und dann würde man ihn zu einer Ewigkeit der Qualen verurteilen. Meine Hand wollte und wollte diesen Wurm einfach nicht niederstrecken. Ich biß die Zähne zusammen und strengte mich an, mit dem einzigen Erfolg, daß meine Hand zu zittern begann. Wie konnte ich nur so schwach sein? Es war eine furchtbare Pietätlosigkeit, Fornaults Verrat ungerächt zu lassen, doch ich konnte einfach nicht zustoßen, nicht einmal, als ich die Kraft aus dem Herzen des Einen zu schöpfen suchte. Ich verfluchte die Zauberkraft der Hure und wußte doch, daß es allein mein Fehler war. Ich hatte selbst solch panische Angst vor den Folterungen in Kelemvors Reich, daß ich es einfach nicht fertigbrachte, jemanden dem auszusetzen. Selbst jetzt noch erfüllt es mich mit Schande, mir solche Feigheit einzugestehen. Ich stand da und hielt die Klinge lange genug hoch, daß all die frohe Erwartung in
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den Gesichtern sich in Verwunderung gewandelt hatte, und Fornault öffnete die Augen und sah mich mitleidheischend an. Svanhild trat mit mißbilligendem Blick zurück. »Also? Wirst du ihn jetzt töten oder nicht?« Wieder versuchte ich, den Dolch niederfahren zu lassen, und war wieder zu schwach – besonders, wo mir mein Opfer nun auch noch in die Augen sah. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ein Raunen der Verwunderung ging durch das Rund. Ich sah das Begehren aus Svanhilds Augen verschwinden – und dann ergriff Thir meinen Arm. »Natürlich nicht! Malik muß seinen Glauben nicht mehr beweisen.« Thir nahm mir den Dolch weg. »Wir sind es, die den unseren noch unter Beweis zu stellen haben!«
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Ein beliebter Ausspruch des Kalifen lautete: Wenn es nicht grausam ist, dann ist es keine Strafe. Um diesem Motto Rechnung zu tragen, hatten seine Kerkermeister eine Vielzahl prächtiger, ausgeklügelter Utensilien entwickelt. Sie hatten Gerätschaften gebaut, die den Delinquenten so weit nach hinten durchbogen, daß er mit dem Kopf seine Fersen berührte, und winzige Werkzeuge erdacht, die ihn sich solange vor Lachen ausschütten ließen, bis seine Stimme auf ewig dahin war. Einen grausigen Apparat hatten sie konstruiert, der zog sich jedesmal, wenn der Gefangene ausatmete, enger um seinen Brustkorb zusammen. Dennoch hätte der Kalif all diese Schätze für jene einfache Gefängniszelle hergegeben, in der Helm Mystra eingesperrt hatte, denn sie war brutaler als alle Streckbänke und Haken in ganz Calimshan zusammengenommen. Die Göttin saß auf einem Bett aus weicher Leere und verfluchte Tyr für ein Schicksal, das sie allein herbeigeführt hatte. Ihre Zelle war so eng, daß sie nicht einmal ihr Haupt heben konnte, ohne es sich an der eisigen Leere der Decke zu stoßen, noch war es ihr möglich, sich im Liegen richtig auszustrecken, ohne die undurchdringliche Abwesenheit der Wände zu berühren, und doch
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war ihre Qual keine körperliche, denn die Leiber der Götter vermögen jegliche Unbill zu überstehen, ohne dabei mehr Schmerzen zu fühlen als etwa ein Sterblicher in der strahlenden Sonne. Was Mystra Sorgen machte, war Adon. Ihr Patriarch befand sich dort unten auf der Fugenebene und schrie vor Wahnsinn und Verwirrung auf, seine Stimme so voller Zorn, daß sie das Flehen all der anderen Getreuen übertönte. »Kelemvor, Fürst der Toten und Richter über die Verdammten, erhöre mich, deinen toten Freund Adon! Hab Erbarmen mit meiner und all den armen Seelen, die jemals zu Mystra, der Göttin der Lügen, gebetet haben! Sie ist voll des Hasses und des Neides und täuscht all jene, die ihr huldigen! Sie hat uns alleingelassen, um zu verrotten und dich anzuflehen, gerechter, freundlicher und gnädiger Fürst. Hab Mitleid mit unseren elenden Seelen und laß uns Zuflucht suchen in der Stadt der Toten!« Mystra heulte vor Schmerz, denn keine Folter hätte sie mehr schmerzen können. Sie hatte Adons Beteuerungen tausendmal gehört und jedesmal vergeblich zu antworten versucht. Helms Kerker lag außerhalb von Raum und Zeit; jede Gottheit, die in ihm festgesetzt wurde, war all ihrer göttlichen Kraft beraubt. Daß die Mutter aller Magie ihren Getreuen überhaupt hörte, war eine Geste der Freundlichkeit seitens ihres Kerkermeisters, die er ihr in Anbetracht der Tatsache zugedacht hatte, daß ihre Schuld auch weiterhin noch unbewiesen war. Mystra hätte um Ruhe bitten können, doch tat sie es nicht, da sie glaubte, Kelemvor werde versuchen, sie zu befreien, und sie wollte bereit sein,
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wenn der Zeitpunkt ihrer Flucht gekommen war. Adons Anrufung Kelemvors ertönte nun zum tausendundersten Mal. Mystra stieß einen tiefen Seufzer aus und schwor sich, das erste, was sie nach ihrer Flucht täte, wäre, ihrem Patriarchen Trost zu spenden, und dann bereitete sie sich darauf vor, das Gebet noch einmal zu hören. Aber die Stimme des Patriarchen verklang. Mystras erster Gedanke war, er habe nun wohl jede Hoffnung aufgegeben, und es drängte sie, einen Sendboten hinunter zu ihm zu schicken, um ihn zu trösten – dann wurde ihr auf einmal bewußt, daß Kelemvor Adons Flehen ebenso deutlich vernommen haben mußte wie sie. Gewiß hatte der Fürst der Toten seine eigene Ehrengarde entsandt, um Adons Bitten zu beantworten. Mystra hatte sich gerade von ihrem Schmerz erholt, als aus heiterem Himmel eine Lawine von Gebeten die Stille von Adons Schweigen erfüllte. »... der Mysterien, warum hast du mich verlassen?« »Mystra, ich bin allein und ohne Führung ...« »... antwortest du mir nicht? Erhöre meine Gebete! Antworte ...« Die Gebete stammten nicht nur von ihren ergebensten Klerikern, sondern auch von gewöhnlichen Zauberkundigen. Die Verzweiflung in ihren Stimmen raubte Mystra die Besinnung. Selbst jetzt, da sie in Helms Kerker eingesperrt war, blieb das Gewebe erhalten, und jeder, der die Magie eifrig studierte, konnte es sich zunutze machen. »... Angst, meine Magie zu wirken ...« »Mein Lichtzauber hat die halbe Stadt geblendet! Wie habe ...«
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»... schmolz die Kugel des Königs ...« Talos! Der Name kam Mystra blitzartig in den Sinn. Vor drei Jahren hatte sie damit begonnen, die Zerstörungsmagie zu beschneiden. Der Zerstörer hatte das damit beantwortet, daß er einen stillen Feldzug führte, um ihre Anhänger auf seine Seite zu ziehen, indem er den Zerstörerischsten unter ihnen insgeheim gestattete, ihn als Kanal ins Gewebe zu nutzen. Da sie verstand, daß es leichter war, eine Verschwörung zu lenken, über die sie Bescheid wußte, als eine, die ihr verborgen blieb, hatte die Göttin der Magie Unwissenheit vorgeschützt und den Zerstörer gewähren lassen. Es überraschte die Herrin der Mysterien nicht im geringsten, daß sie nun mitansehen mußte, wie der Zerstörer die Gelegenheit ihrer Kerkerhaft beim Schopfe packte und seine geheimen Pläne voranbrachte. Aber sie war sich des Ausmaßes seiner Erfolge nicht bewußt, bis sie auf einmal das Gebet der Harfnerhexe Ruha vernahm. »… tut mir so leid wegen meines Fehlers, Göttin. Wenn du mir aber nicht vergeben kannst, warum gestattest du Talos dann, dir deine treuen Anhänger wegzunehmen? Ich habe sein Angebot ausgeschlagen, denn ich wollte nicht einmal dann zur Geißel des Landes werden, wenn ich wüßte, daß es dein Wille ist. Doch viele haben anders gehandelt. Auf der Flucht von Voonlar nach Yûlash mußte ich fünf ungezähmten Wirbelstürmen ausweichen, und einmal war der Rauch, der von dem brennenden Wald aufstieg, so dicht, daß ...« Mystra sank auf alle Viere. »Beobachter!« Helm gab keine Antwort. Wie jeder Kerkermeister
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war er an solcherlei Rufe und sonstige Schreie seiner Häftlinge gewöhnt und kannte die Weisheit, die darin lag, sie zu überhören. »Beobachter, du mußt wissen, was der Zerstörer tut! Du kannst es nicht einfach seinen Lauf nehmen lassen!« Keine Antwort. »Er stielt das Gewebe! Es ist deine Pflicht, mich freizulassen!« Der Kopf des Beobachters kam durch eine dieser Wände aus Nichts hindurch. Sein Visier war wie immer geschlossen, und so glich er einem Stück Rüstung, das an einer schwarzen Mauer hing. »Du wagst es, mir erzählen zu wollen, was meine Pflichten sind? Meine Pflicht besteht darin, dich hier gefangenzuhalten. Hättest du die deine erfüllt, dann hätte der Zerstörer dir nicht so viele deiner Gläubigen wegnehmen können. Selbst der Fürst des Wissens sagt das!« »So viele? Wie viele?« Helm schüttelte seinen gepanzerten Kopf. »Ich wage keine Schätzung. Doch noch in vielen Jahrhunderten, da bin ich sicher, wird man dies den Monat der Verheerungen nennen.« »Hör mir zu.« Mystra faltete die Hände vor der Brust. »Du mußt mich freilassen.« »Nein. Es ist meine Aufgabe, dich hier festzuhalten.« »Du bist der Beobachter. Ist es nicht auch deine Pflicht, Faerûn zu beschützen?« Wie jede Hure fand auch Mystra schnell die richtigen Worte, um einen Mann an sich zweifeln zu lassen. »In der Zeit der Sorgen warst du es, der die Götter aus dem Himmel ferngehal-
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ten hat. Vieles von dem, was sie damals zerstörten, ist nie mehr wiederhergestellt worden. Willst du den Zerstörer den Rest auch noch vernichten lassen?« Helm verfiel in Schweigen, und das Visier verbarg seine Gedanken. »Ich bin die einzige, die den Zerstörer aufhalten könnte«, erklärte die Herrin der Mysterien. »Du weißt das.« »Nein! Du bist es, die ihre Pflichten vernachlässigt und ihr Versprechen gegenüber Tyr gebrochen hat. Wenn Faerûn nun dafür leiden muß, ist das deine Schuld, nicht meine.« Damit zog sich Helm zurück und überließ Mystra den flehentlichen Rufen ihrer Getreuen und ihrem Bett aus Nichts.
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Auf der brennenden Galerie im Kristallturm saßen vier von Kelemvors Avataren auf vier identischen Thronen und ließen ihren Blick auf vier Reihen wartender, völlig verängstigter Geister aus allen Winkeln der Totenstadt fallen. Die Seelen husteten und würgten vor schwarzem, ätzendem Qualm, der den Wänden aus glühenden Kohlen entstieg. Viele von ihnen murmelten leise vor sich hin und fragten sich, warum sie an diesen finsteren, verräucherten Ort gerufen worden waren, und wenn sie dann den Anfang ihrer Schlange erreichten und man ihnen diese Frage beantwortete, dann schrie so mancher vor Freude auf, andere brachen in Tränen der Verzweiflung aus, und dann warfen sie sich dem Herrn der Toten zu Füßen und küßten sie ihm oder umschlangen flehentlich seine Beine, doch er schenkte keinem von ihnen Beachtung. Die Seelen verschwanden einfach und tauchten in ihrem neuen Heim wieder auf, und Jergal rief die nächste nach vorn und verlas seine Geschichte, und Kelemvor verkündete ein neues Urteil, und wieder warf ein Geist sich Kelemvor zu Füßen, heulend oder außer sich vor Freude, und die Revision ging weiter, Stunde um Stunde, Tag um Tag. In der Richthalle, deren kristallene Decke schon so
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rußigbraun geworden war wie ein Topas, saßen noch zwei weitere Kelemvors und sprachen Recht über all jene Seelen, die soeben erst in seinem Reich angelangt waren. Wenn diese Geister ihr Urteil hörten, erklang nicht Lachen noch Wehklagen, nur hie und da ein erschrockenes Japsen oder ein langes, betretenes Schweigen. Draußen in der Stadt gestalteten drei weitere Avatare die vielen Distrikte und Viertel in Ghettos um, die sich für ein Reich der Toten besser schickten. Kelemvor ließ seinen Atem also darüber streichen, und das Kloster Pax und die schattigen Täler und waldigen Bergeshöhen verwandelten sich in eine Wüstenei aus heulenden Stürmen und kahlen Gipfeln. Im selben Moment stieß der Fürst der Toten in der Singenden Stadt ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus, und das ganze Viertel versank in Grabesstille. Er watete in die Säuresümpfe und pflanzte eine Handvoll Kieselsteine in den Schlamm, die zu steinernen Inseln anschwollen. Auf ihnen konnten die Scharlatane und Schwindler eine Zuflucht vor der Nässe finden. Die Entscheidungen des Herrn der Toten kamen nicht länger ewiger Verdammnis oder der Zusicherung eines Paradieses gleich. Die Toten würden ihr Dasein nun selbst in die Hand nehmen können, ganz so, wie sie es zu Lebzeiten getan hatten, nur daß sie jetzt ausschließlich mit ihresgleichen auszukommen hatten, was ganz gewiß schon ausreichte, um einen jeden Sterblichen davon abzuhalten, seinem Gott den Rücken zu kehren. Der letzte Avatar stand am Stadttor und rieb die Alabasteroberfläche mit den Händen, und wo immer seine Hände es berührten, begann der Stein, wie Quecksilber zu glänzen und verfestigte sich zu einem Spiegel wie dem
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in der Richthalle, und er war gleichermaßen vollkommen und offenbarte sämtliche Schwächen eines jeden, der in ihn hineinblickte. Nun würden alle, die falsch oder gar nicht glaubten, sich selbst schon aus der Entfernung sehen, wenn sie sich Kelemvors Stadt näherten, und so würden sie genügend Zeit haben, um über die Fehler nachzudenken, die sie in die Stadt der Toten gebracht hatten. Dieser Avatar war es denn auch, dem Jergal den Geist Adons brachte. »Hier ist der, den du sehen wolltest.« Bevor der Herr der Toten noch von seiner Arbeit aufblicken konnte, kreischte auch schon eine Stimme: »Kelemvor!« Zwei spindeldürre Arme schlangen sich um seine Knie. »Du hast mich erhört!« Der Fürst der Toten drehte sich um und hob die jämmerliche Gestalt hoch. Adon war nur ein Viertel so groß wie Kelemvor, und er sah so irre aus, wie jeder andere Verrückte auch. Seine Wangen waren eingefallen und hohl wie Trinkschalen, die Haare standen struppig nach allen Seiten ab, und keine Quetschung hatte jemals eine so dunkelblaue Färbung wie die Ringe unter seinen Augen. Kelemvor seufzte bei dem Anblick. »Was soll ich mit dir machen?« »Was du mit mir machst, ist egal!« Adon wies mit einem Finger über die riesige weiße Ausdehnung der Elegiensteppe. »Es sind die anderen Anbeter Mystras, die du retten mußt. Sie beten da draußen, aber Mystra will und will nicht kommen!« »Sie kann ihre Anbeter nicht erhören.« Kelemvor machte sich nicht die Mühe, das näher auszuführen,
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denn ihm war durchaus bewußt, daß Adons Geist von Cyric berührt worden war und bloße Worte die Schläue des Einen nicht zunichte machen konnten. »Außerdem steht es mir nicht an, den Anbetern einer anderen Gottheit zu helfen. Ich habe nur nach dir schicken lassen, weil deine Gebete dich zu einem Ungläubigen gemacht haben – vielleicht gar zu einem Falschen, da du ja versucht hast, die Anbetung Mystras zu verhindern. Bevor ich deine Strafe nenne, werde ich entscheiden müssen, was von beiden du bist.« Adon keuchte. »Meine Strafe?« »Dies ist die Stadt der Toten, die Falschen und Ungläubigen zahlen hier den Preis für ihr zügelloses Leben. Du wärst nicht hier, wenn du keine Strafe verdientest.« »Aber die Herrin der Mysterien ist ein Ungeheuer!« Adon taumelte von ihm weg, wurde aber von Jergals körperlosen Handschuhen gepackt und blieb stehen. Der Patriarch schenkte seinem Häscher keinerlei Beachtung. »Ich konnte ihr wahres Gesicht sehen! Ihre Gläubigen sind ihr egal!« »Selbst wenn das zuträfe, würde es für mich keinen Unterschied machen.« In Kelemvors Stimme war ein gewisses Zögern zu erkennen, und er mied Adons Blick. »Solange sie ihr treu ergeben sind, bleiben sie für mich unantastbar. Du hingegen hast dich voll und ganz in meine Obhut gegeben und wirst dafür büßen müssen.« Adons irrer Gesichtsausdruck wandelte sich von Verstörtheit zu Wut. »Aber du hast versprochen, gerecht und anständig zu sein! Du hast versprochen, du würdest die Verdammten nicht quälen!« Kelemvor blickte auf ihn herab, und seine Augen lo-
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derten rot. »Weder dein Schwachsinn noch unsere einstige Freundschaft geben dir das Recht, so mit mir zu sprechen, und das ist jetzt die letzte Warnung. Was mein Versprechen angeht, so entscheide immer noch ich, was gerecht ist, und ich habe keinen Grund, die Verdammten zu quälen. Das tun sie ganz allein.« Dem Patriarchen stand der Mund offen. »Was ist nur mit dir los?« Er ließ die Schultern sacken, dann verzog sich sein Gesicht zu einer Maske des Irrsinns. »Ich hätte es wissen sollen! Du warst schon immer ...« »Genug!« Kelemvor unterfütterte seinen Befehl mit genug Kraft, um den Patriarchen in die Knie zu zwingen. »Ich hatte dich gewarnt ...« Schallendes Gelächter unterbrach Kelemvor. »Deine Warnung bedeutet Adon nichts!« Ein riesiger, in Blut gebadeter Schädel tauchte in der Luft vor ihm auf. »Genaugenommen fordere ich von dir zu erfahren, was du mit ihm vorhast. Adon ist einer meiner Anhänger!« Die Augen des Patriarchen weiteten sich angsterfüllt, und unter dem Schädel des Einen erschien ein Skelett, das hier und dort mit Rüstungsteilen und Lederflicken besetzt war. Der Avatar war anderthalbmal so groß wie Kelemvor, auch wenn es bei den Göttern überhaupt nicht auf die Größe ankommt. »Ist Cyrics Behauptung wahr?« fragte Kelemvor. »Hast du je zu ihm gebetet?« »Nie!« Cyric lächelte gönnerhaft und schüttelte dann den Knochenkopf. »Ts, ts, Adon. Du darfst jetzt nicht lügen. Nur ich kann dich retten.« Adon trat neben Kelemvor und zog dabei Jergals
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schattenwabernden Umhang hinter sich her. Cyric griff zu und wollte beide zu fassen kriegen und emporreißen, aber der Herr der Toten ließ seine Hand nach vorn schnellen und fing den Arm des Einen am Handgelenk ab. Dann wagte es Kelemvor, den Blick des Einen und Einzigen zu erwidern und wuchs auf dessen Größe an. Jergal drängte Adon durch die Tore der Stadt, ohne sich die Mühe zu machen, sie zuvor zu öffnen. »Gib ihn zurück!« fauchte der Prinz der Lügen. »Ruf ihn sofort wieder heraus, oder ich sorge dafür, daß du gemeinsam mit deiner Metze in Helms Kerker schmorst!« »Du hast keinen Anspruch auf Adon«, gab Kelemvor gleichmütig zurück. »Wenn du ihn hättest, dann hätte er dich an meiner Stelle gerufen.« »Adon ist irre!« platzte Cyric heraus. »Darum ist er mein!« »Es macht ihn zu deinem Opfer, nicht zu deinem Anbeter. Der Unvoreingenommene wird den Unterschied erkennen, nur für den Fall, daß du ihn vielleicht hinzuziehen möchtest.« Cyric riß sich los und trat zurück. Vom Handgelenk abwärts hielt Kelemvor seine Hand noch immer fest, aber für die Götter sind derlei Dinge folgenlos. Der Eine drohte dem Herrn der Toten mit seinem Stumpf. »Du kannst mich nicht einfach um meinen Lohn betrügen. Er ist mein Beweis!« »Dein Beweis?« Kelemvor warf Cyrics abgerissene Hand beiläufig weg, als sei sie bloß Abfall. »Wofür?« »Für meine Schuld!« Die Hand des Einen kroch auf ihren Herren zu, dabei zuckten die Knochenfinger auf
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und ab wie Spinnenbeine. »Die Anklage gegen mich lautet auf Unschuld aus Gründen des Wahnsinns. Ich bin aber schuldig! Könnte ein Unschuldiger der Herrin der Mysterien ihren Patriarchen stehlen?« Kelemvor schüttelte den Kopf. »Du hast nur sein Leben gestohlen. Adons Gebete bedeuten, daß er falsch und gegenüber Mystra ohne Glauben ist – aber sie bedeuten nicht, daß er dir treu ergeben ist.« Der Fürst der Toten wuchs gerade eben so weit, daß er auf den Einen herabsehen konnte. »Der Patriarch gehört mir. Wie dieses Reich.« Cyric streckte den Stumpf aus, und einen Moment später flog seine abgetrennte Hand an die Kehle des Herrn der Toten und verkrallte sich darin wie ein Unhold. »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen! Der Unvoreingenommene ist auf meiner Seite!« »Dann ruf ihn.« Kelemvor zerrte die Hand des Einen von seinem Hals fort, wobei er sich den eigenen Kehlkopf herausriß, dann warf er Cyric die ganze Schweinerei entgegen. »Solange du das nicht tust, halt dich von mir fern. Ich habe vor der Verhandlung noch viel zu erledigen.« Während er noch sprach, war Kelemvors Halswunde auch schon geheilt. Er drehte dem Einen den Rücken zu, machte sich vor seinem vollkommenen Spiegel wieder an die Arbeit und sah mit an, wie Cyrics Spiegelbild sich in einer schwärzlichen Rauchwolke auflöste. Sofort war Jergal wieder da, den völlig verblüfften Geist des Patriarchen im Schlepptau. »Ich erwarte Eure Befehle, Fürst der Toten.« Kelemvor blickte über die weite, leere Ebene. »Ich
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frage mich, ob der Prinz der Lügen wiederkehren wird.« Die Schulterpartien von Jergals leerem Umhang hoben und senkten sich. »Das ist kaum von Belang. Ihr wart völlig im Recht.« »Gleichwohl, Fürst der Toten,«, sagte Adon, »danke, daß du mich ihm nicht ausgehändigt hast.« Kelemvor blickte auf Adon herab. »Danke mir nicht, solange du dein Urteil nicht kennst.« Er richtete seinen Blick auf das Paar gelber Augen, das unter der Kapuze von Jergals Mantel schwebte. »Bring ihn zum kristallenen Turm, gliedere ihn am Ende der Schlange ein und paß auf, daß er auch dort bleibt.« Jergals Augen blitzten golden, und er verneigte sich. »Wie Ihr befehlt.« Nun spaltete sich der Seneschall in zwei Avatare. Der eine drängte Adon in die Stadt der Toten, diesmal, nachdem er zuvor das Tor geöffnet hatte, und der andere blieb bei Kelemvor zurück. »Wenn Ihr gestattet, daß ich etwas vorschlage«, sagte der Seneschall, »dann wüßte ich vielleicht eine Lösung für Euer Dilemma – noch dazu eine, die sich voll und ganz im Rahmen der Regeln bewegt, die Ihr für Euch selbst aufgestellt habt.« Kelemvor hob eine Braue. »Ich höre.« »Laßt ihn Mystra doch durch Eure Augen sehen. Eure Wahrnehmung sollte eigentlich stark genug sein, um der Cyrics entgegenzuwirken.« Der Fürst der Toten seufzte. »Ich wollte, es wäre so leicht, aber Liebe und Anbetung sind zweierlei Dinge. Adon muß Mystra als Göttin sehen, und für mich ist sie immer noch ein Mensch, so wie ich.«
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Halah kniete in der Gasse hinter uns, kaute an einem Oberschenkelknochen und machte ein grauenhaftes Geräusch. Zum Glück schraken die meisten Passanten nur zusammen und eilten sich, an der finsteren Gasse vorbeizukommen, ohne hineinzuspähen. Einmal jedoch waren drei stämmige Gardisten in die Schatten vorgedrungen, um dem schrecklichen Knurren auf den Grund zu gehen, aber Svanhild und die anderen Cyric-Anhänger hatten schnell sichergestellt, daß sie uns keinen Ärger machen konnten. Warum Halah nicht hatte im Tempel bleiben und dort zu Ende essen können, war mir ein Rätsel. Nach dem Tod des Priesters hatte ich daraufgedrängt, daß wir uns unverzüglich auf die Suche nach Fzoul Chembryl machten, und die Cyric-Anhänger hatten mich zu einem Geheimgang geführt. Halah hatte darauf bestanden mitzukommen und war auf den Knien durch den engen Gang gekrochen, wobei sie eines von Fornaults Beinen komplett hinter sich hergezerrt hatte. Ihre Anwesenheit hatte uns gezwungen, durch die ganze Stadt auf verschlungenen Wegen und Hintergassen zu reisen; selbst hier in der Zentilfeste waren fleischfressende Pferde eine Seltenheit, und wir wollten nicht die Aufmerksamkeit von Fzouls
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Spionen auf unsere Ankunft lenken. Nun stand ich hier, beobachtete das Tor der Südstreitkräfte und fragte mich, wie wir uns mit einer blutverschmierten Stute an den Wächtern vorbeimogeln sollten. »Worauf wartest du?« Obgleich die Frage von hinter meinem Rücken kam, wußte ich sofort, wer sie gestellt hatte; die Gasse war plötzlich eiskalt geworden und hatte begonnen, nach Tod zu riechen, und außerdem dröhnten tausenderlei verschiedene Stimmen in meinen Ohren. Ich drehte mich auf dem Absatz um und sah mich einem bluttriefenden Gespenst in schwarzer Rüstung gegenüber. Cyrics schwarzes Gebiß schob sich vor und zurück, während er mit den Zähnen knirschte und die Gasse mit einem grausigen Grollen erfüllte, und in den Knochenhöhlen unter seiner Stirn begannen die schwarzen Kugeln seiner seligen Augen dunkler denn je zu brennen. Falls er seine sechzehn überwältigten Anhänger hinter sich wahrnahm, so ließ er sich nichts dergleichen anmerken. Halah selbst schien unbeeindruckt; sie fraß weiter an ihrem Knochen und schenkte ihm keine Beachtung. Cyric hob drei seiner knochigen Finger. »Drei Tage noch bis zum Prozeß.« Ich gab keine Antwort, aus Angst, die Magie der Metze würde mich zwingen, irgend etwas Unkluges wie zum Beispiel die Wahrheit zu sagen: Bitte tausendmal um Entschuldigung, ehrwürdigster Gott, aber ich kann nicht tun, was du da von mir verlangst, da ich derzeit zu sehr damit beschäftigt bin, das zu machen, was das einzig Richtige ist; eine Möglichkeit zu suchen, dich von deinem Wahnsinn zu heilen.
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Cyric legte mir eine seiner Skeletthände auf die Schulter. »Gute Neuigkeiten: Ich habe Mystra dazu gebracht, den Meister aller Diebe anzugreifen, und jetzt ist sie im Kerker des Beobachters eingesperrt.« Es war wahrlich ein Hohelied auf die Schläue des Einen, daß all die anderen Götter glaubten, Mystras eigene Dummheit habe sie dort hineingebracht. »Sie wird kein Problem mehr für uns darstellen, aber ich brauche die Cyrinishad nun mehr denn je.« Beim Klang des Namens dieser geheiligten Schrift erhoben Svanhild und einige andere die Köpfe. Der Eine drückte meine Schulter so fest, daß mein Schlüsselbein schmerzte und fügte dann noch hinzu: »Aber dieser eitersaufende Kelemvor hat mir mein Beweismittel weggenommen.« »Beweismittel?« »Die Seele des Patriarchen. Ich hatte sie Mystra abgeluchst.« »Adon betet jetzt dich an?« Ich war ziemlich aufgeregt, denn ich wußte ja bis dato noch nichts von den ganzen Versuchen des Einen, Adon zu bekehren. »Wundervoll!« »Er betet niemanden mehr an.« Der Eine ließ meine Schultern los und sah die Straße hinunter. Ein Strom schmutziger Maurer und Tagelöhner ergoß sich aus dem Tor. Sie kamen über die Streitkräftebrücke zurück, um die Nacht in der Sicherheit der Zentilfeste zu verbringen. »Das geht auf meine Kappe. Habe ihn in den Wahnsinn getrieben, und jetzt hat er der Herrin der Mysterien abgeschworen und betet überhaupt nicht mehr. Wenn das nicht reicht, damit er mir gehört, was dann?«
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»Ich weiß nicht.« Das war so aus mir hervorgesprudelt, ehe mir noch klar war, daß ich es eigentlich doch wußte, und, natürlich, die Magie der Metze ließ mich dann noch mehr hinzufügen, als klug gewesen wäre. »Ich weiß nicht, was dich glauben läßt, er gehöre jetzt dir, nur weil du ihn verrückt gemacht hast. Wenn jemand keinen Gott mehr anbetet, dann ist er ja wohl eher ungläubig und gehört demzufolge Kelemvor.« Im nächsten Augenblick wurde ich gegen die Mauer hinter mir geschleudert, dabei lösten sich einige Ziegel und prasselten auf meinen Kopf hernieder; ohne den Schutz Tyrs wäre ich vermutlich auf der Stelle tot gewesen. Auch wenn ich nicht hatte sehen können, wie Cyric sich bewegte, dämmerte mir auf einmal, daß seine Knochenhand mich gegen die Mauerreste gedrückt hochhielt, und ich starrte hinab in die schwarze Eisigkeit unter seiner Stirn. »Langsam ermüdet mich deine Ehrlichkeit etwas.« »Mich auch. Ich versuche mich zu bessern.« »Hol einfach die Cyrinishad«, zischte er. »Anderenfalls kannst du Adon in der Stadt der Toten Gesellschaft leisten – und das früher, als dir lieb ist.« Der Prinz der Lügen ließ mich fallen. Meine Beine knickten ein, und ich stürzte auf die Knie. Als ich aufblickte, war der Eine verschwunden. Die Cyric-Anhänger kamen mir zur Seite gesprungen wie eine Meute junger Hunde und küßten den Boden, auf dem der Eine gestanden, den Stoff meiner dreckigen Robe, den er berührt, und die Mauer, gegen die er mich geschleudert hatte. Nur Svanhild und Thir schien das Auftauchen unseres finsteren Herrn bloß mäßig erregt zu
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haben, doch sie drängten sich trotzdem dicht an mich. Svanhild verkündete: »In diesem Ton mit unserem finsteren Herrn zu sprechen und zu überleben! Malik muß ihm wahrlich nahe sein!« Sie ging sicher, daß sie ausnahmslos jedem CyricAnhänger in die Augen schaute, während sie das sagte, denn der Kampf um Fornaults Nachfolge war in vollem Gange. »Was haben wir doch für ein Glück, daß ich ihn am Tor erkannte!« »Solange der Eine uns nicht für sein Versagen zur Verantwortung zieht«, wandte Oda ein, die ebenfalls gern die neue Priesterin geworden wäre. Sie drängte nach vorn und richtete anklagend einen Finger auf mich. »Wenn du die Cyrinishad zurückholen willst, was tust du dann hier? Wir haben Briefe an jeden Tempel Faerûns geschickt und mitgeteilt, daß Rinda aus der Stadt geflohen ist und sie mitgenommen hat!« Wie sonst hätte ich hierauf antworten können als mit einer schallenden Ohrfeige? Ich hätte wohl kaum erklären können, daß ich versuchte, den Irrsinn des Einen zu heilen – sie wäre sofort auf die Knie gefallen und hätte mich verraten. Also tat ich, was ich tun mußte, und schob sie Svanhild zu, deren schnellem Dolch alles Weitere zu danken war. Als Odas Leiche auf dem Boden aufschlug, war Svanhild schon herumgewirbelt und sah ihre Gefährten an. »Tut mir leid wegen Oda, aber sie hatte kein Recht, den Günstling des Einen in Frage zu stellen.« Freilich war das nur ein Vorwand für die Beseitigung einer Rivalin gewesen, die Cyric-Anhänger aber waren schnell bereit, die Erklärung hinzunehmen – besonders,
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da Svanhild ihren Dolch auch weiterhin gezückt hielt. Odas Tod schien nur Thir verärgert zu haben, und sie richtete ihre Wut gegen mich. »Hast du Angst, deine Morde selbst zu begehen? Erst muß ich Fornault für dich töten, und jetzt läßt du Svanhild Oda meucheln! Langsam glaube ich, du bist ein Hochstapler!« Sie fing sich eine Ohrfeige, genau wie Oda, und auch sie schob ich Svanhild in die Arme und hoffte auf eine ebenso geschwinde Lösung meines Problems. Aber diesmal waren die Arme meiner Verbündeten nicht schnell genug, und Thir warf sich mir, ein schmales Stilett in der Hand, entgegen. Aufgrund des Schutzes des Unvoreingenommenen zerbrach die Klinge genau in dem Augenblick, als sie auf mein Brustbein einstach. Svanhild zog Thir von mir weg, diesmal jedoch ließ sie ihre blutige Klinge ruhen. »Vergib ihr. Thir wollte dir nichts Böses. Oda war einfach ihre beste Freundin.« Bei diesen Worten blickte ich finster drein und schaute dann in Thirs zornige Augen. »Ich habe schon genug, worum ich mir Sorgen machen muß. Wenn ich dich jetzt am Leben lasse, dann mußt du mir auf den Einen schwören, daß du mir keine Schwierigkeiten mehr machen wirst.« »Ja, ich schwöre.« Thirs Lächeln wurde ebenso honigsüß, wie ihre Augen vor Wut brannten. »Auf meine Seele als wahre Gläubige.« Das erleichterte mich sehr, denn ich hätte nicht den Mumm gehabt zu tun, was ich ihr angedroht hatte, und ich wußte es besser, als zu glauben, daß die restlichen Cyric-Anhänger es weiter mitangesehen hätten, daß ein
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anderer die Drecksarbeit des Tötens für mich übernimmt. Ich nickte Svanhild zu, sie lächelte und warf Thir in die erwartungsfrohen Arme der übrigen CyricAnhänger. Nun warf Svanhild einen prüfenden Blick zum Himmel. Er färbte sich im Zwielicht langsam blutrot. Dann winkte sie ihre Gefährten aus der Gasse. »Wir müssen uns eilen, oder die Wachen werden uns das Tor vor der Nase zumachen.« Einer nach dem anderen kamen die Cyric-Anhänger aus der Gasse auf die Straße. Ich betrachtete noch ein wenig Odas Leiche und mußte plötzlich daran denken, daß Svanhild mit mir ebenso kurzen Prozeß machen würde, wenn ich irgendwann zum Problem werden sollte. »Kommst du, Malik?« »Sicher!« Ich riß meinen Blick von Odas Körper los und sah, daß die anderen bereits in der überfüllten Straße verschwunden waren. Ich trat an die Mündung der Gasse, wo Svanhild mich erwartete, und Halah stand auf, um sich zu uns zu gesellen, während sie weiter an Fornaults Schenkel nagte. Svanhild riskierte einen kurzen Blick und schüttelte angewidert den Kopf, aber ich vermochte nicht zu sagen, ob das mir galt oder meinem treuen Roß. »Kannst du nicht mal was wegen deines Pferdes unternehmen?« Es war ein Befehl, keine Frage. »Solange ihr dieser Schenkel aus dem Maul hängt, können wir uns der Aufmerksamkeit der Wachen sicher sein.« Ich wandte mich an Halah. »Könntest du das zurücklassen?« »Du bittest sie?«
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»Halah ist sehr temperamentvoll.« Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was geschehen würde, wenn ich ihr den Knochen einfach wegnahm, denn ich hatte nie die warnenden Worte des Einen vergessen, mit denen er mir nahegelegt hatte, sie alles fressen zu lassen, was sie wollte. »Du hast sie ja erlebt.« Svanhild schaute finster. »Du hast erlebt, wie die Zentiler im allgemeinen mit wahren Gläubigen verfahren.« Sie wies in Richtung der Arbeiter, die über die Streitkräftebrücke in die Stadt hineinschwemmten. »Willst du wirklich einen Aufstand der Gläubigen heraufbeschwören, wenn wir ausziehen, um den Turm des Großen Auslöschers zu suchen? Oder glaubst du vielleicht, Fzoul würde das nicht bemerken?« Mein Blick fiel auf die Masse stämmiger Männer, die uns entgegenkam. Svanhilds Plan sah vor, die Flut zu nutzen, um die Stadt ungesehen zu verlassen, während die Wache beschäftigt war; der Anblick einer Halah, die an einem menschlichen Oberschenkelknochen nagte, würde hingegen sicher ihre Aufmerksamkeit erregen. Im Vertrauen darauf, daß die Magie des Unvoreingenommenen mich beschützen würde, atmete ich einmal tief durch. Dann fischte ich ihr den Knochen geschickt aus dem Maul und warf ihn auf eines der Dächer. Halah wieherte überrascht, hob dann den Kopf und suchte nach dem Knochen. Einen Moment lang schien sie bereit zu sein, hinter ihm herzuklettern, und ihr Blick verfinsterte sich wie eine Gewitterwolke. Dann senkte sie den Kopf und blies mir schwarzen Dampf ins Gesicht. »Du hättest – hatschi – im Tempel bleiben sollen!« nieste ich. »Mach keinen Ärger, oder ich werde den
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Einen dich wieder in die Schindmähre zurückverwandeln lassen, als die ich dich kennengelernt habe!« Ich nahm die Zügel. Ein langgezogenes, fauchendes Knurren entstieg ihrer Kehle, aber sie scheute nicht etwa oder bockte, als ich sie in den Strom menschlicher Leiber zog. Nirgends war auch nur einer der anderen CyricAnhänger auszumachen, vermutlich waren sie schon durch das Tor und über die Brücke entkommen. Die Straße stank nach Schweiß, Leim und Schlamm aus dem Fluß, und unter dem ständigen Druck der grimmigen Arbeiterleiber bekam ich eine Gänsehaut. Es dauerte nicht lange, und Svanhild, Halah und ich waren ebenso von oben bis unten mit Schlamm bedeckt wie alle anderen auch. Keine Ahnung, ob das zu Svanhilds Plan gehörte, aber bis wir das Tor ereichten, waren wir nicht einmal mehr ansatzweise von der dreckigen Menge zu unterscheiden, die uns von der anderen Seite entgegenkam. Ich zerrte Halah an der Nase eines Wächters vorbei, und er sagte nur, ich müsse verrückt sein, mein Pferd nach Einbruch der Dunkelheit in die Ruinen mitzunehmen. Svanhild und ich warteten ein paar Minuten, bis die Flut der Arbeiter zu einem konstanten Dahinrauschen versiegt war, und drängten uns dann auf die Streitkräftebrücke hinaus. Es war eine lange, bogenartige Konstruktion, breit genug, daß drei Fuhrwerke nebeneinander darauf Platz gefunden hätten. Ab einem Viertel ihrer Länge war sie jedoch in ein Skelett aus hölzernen Baugerüsten gekleidet und verjüngte sich an der Stelle, an der sie repariert wurde, auf die Breite eines Eselkarrens. Hier saßen wir auf und verließen uns auf Halahs schiere Mas-
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se, um durch die Menge der Arbeiter vorwärtszukommen, und so dauerte es denn nicht lange, bis wir den Scheitel der Brücke erreicht hatten. Selbst im abendlichen Halbdunkel verschlug mir der Anblick den Atem. Vor uns erhob sich der Schuttberg, der mir beim Betreten der Stadt ins Auge gefallen war, ein ansehnlicher Berg aus Steintrümmern und zerbrochenen Holzbalken. Hier und da konnte man noch die auseinandergerissenen Überreste eines Turms oder ein Stück einer Marmorwand erkennen, oder aber eine tausend Fuß lange Furche im Boden, die einst eine Straße war – aber hauptsächlich eröffnete sich mir hier ein Durcheinander von Tausenden über Tausenden über Tausenden quadratischen Felsbrocken. »Was in Cyrics Namen ist das?« Svanhild schob ihr Kinn über meine Schulter. »Die Ruinen dessen, was einst die Zentilfeste war.« »Was ist dann das?« Ich wedelte mit dem Arm in Richtung der Stadt, die wir eben verlassen hatten. »Das war nur das Fremdenviertel. General Vrakk und seine Orks hatten es vor den Riesen gerettet, indem sie die Brücken einrissen. Sie handelten natürlich auf Weisung des Einen.« »Natürlich.« Mystras Zauber zwang mich nicht, dem etwas hinzuzufügen, denn zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, daß es eine Lüge war. Als Halah auf der anderen Seite des Brückenbogens herunterkam, bemerkte ich, daß nahe dem Ufer einige Häuserzeilen der alten Stadt wiedererrichtet worden waren. Die Gebäude wirkten selbst wie kleine Festungen, denn sie hatten weder Türen noch Fenster oder sonstige
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Öffnungen in den unteren beiden Stockwerken. Man konnte sie nur über ein Gewirr aus hölzernen Stufen betreten, das sich bis ins dritte Stockwerk erhob und dort vor einer befestigten Zugbrücke endete. Mich schauderte bei dem Gedanken daran, was für Kreaturen solche Vorsichtsmaßnahmen nötig machen könnten. Als wir den Brückenkopf erreichten glitt eine spillerige Gestalt, kaum größer als ich, aus den Schatten und schreckte Halah auf. Sie ging auf die Hinterbeine und warf Svanhild in den Schlamm der Straße. Dann warf sie sich herum, um den ungebetenen Gast mit den Hufen zu zermalmen. Die ausgemergelte Gestalt fiel auf die Knie und hielt die Arme schützend über den Kopf. »Im Namen des Einen, töte mich nicht!« Es war Durin, einer der Tempelbrüder. »Aber wenn du mich tötest, laß nicht dein Pferd mich fressen!« Halah sank auf alle Viere zurück und tat keins von beidem. »Wo sind die anderen?« wollte Svanhild wissen, während sie sich aufrappelte. »Wir wollten uns hier treffen.« »Sie verfolgen den Großen Auslöscher«, flüsterte Durin. Er wies in die Schatten, aus denen er gekrochen war. »Thir sah ihn, als sie die Brücke hinunterkam – und er war allein!« Svanhild zog Durin hoch. »Was kauerst du dann noch hier? Zeig uns den Weg!« Sie schob ihn in die Schatten und hob mir ihren Arm entgegen. »Ich kann kaum glauben, was wir für ein Glück haben!« Ich ergriff ihre Hand und zog sie hoch auf Halahs Rücken. »Stimmt, ich kann es auch nicht so recht glauben.«
Der Todesseraph betrat den Mechanus genannten Himmel genau dort, wo er es beabsichtigt hatte: am Nachthimmel über der Burg Immerwacht, der Zitadelle des Wachsamen Helm. Die Festung war selbst ein eigener Himmel, was sie größer machte als jedes Reich in Faerûn. Sie bestand aus fünf jeweils fünfseitigen Höfen. Alle paar Minuten erklang von tief unter ihren Fundamenten ein tiefes metallisches Dröhnen, dann ging ein Ruck durch das gesamte Reich, und es drehte sich mit Mann und Maus exakt um ein Kreisfünftel. Der innerste Hof war größer als die Glänzende Stadt, also sehr, sehr groß, und im Herzen dieses Hofs erhob sich Helms Feste, der wachsame Turm. Der Turm war fünfseitig und überragte alle Gebäude in Immerwacht um fünf Stockwerke. Sein oberstes Geschoß war von einem eisernen Balkon umgeben und hatte gläserne Wände, und hier, hinter diesen Glaswänden, befand sich Mystras Gefängniszelle, während der große Wächter draußen auf dem Balkon Wache hielt. Der Todesseraph wartete, bis sich Immerwacht wieder einmal um ein weiteres Fünftel eines Kreises drehte und Helm mit sich nahm, auf daß er in eine andere Richtung spähte, dann glitt er auf sanften Schwingen bis auf eine
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Hellebardenlänge an das eiserne Geländer des Balkons heran. Hier blieb er schweben und spähte durch das Glas auf Mystras Kerker. Es sah weniger wie eine Kiste als vielmehr wie ein rechteckiges Fenster ins Nichts aus, denn der Teil der Kammer, den es einnahm, schien einfach nicht zu existieren – was auch haargenau der Fall war. Von unten erklang ein lautes Dröhnen, und der wachsame Turm drehte sich um ein weiteres Kreisfünftel. Avner schwang seine Schultertasche von der Schulter vor seinen Bauch. Auch wenn die Tasche leer wirkte, so war sie doch mit allerlei Ausrüstung gefüllt, einschließlich der Gegenstände aus Kelemvors Richthalle, die er erbeten hatte. Der Seraph zog drei silberne Haken hervor und hängte sie in einer langen Reihe einfach in die Luft. Dann faßte er noch einmal in den Behälter und ergriff eine Ecke des vollkommenen Spiegels, den er sich aus Kelemvors Thronsaal geborgt hatte. Als er daran zog, wurde die Öffnung des Ranzens immer weiter und weiter, und obgleich der Spiegel doppelt so breit wie hoch war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, ihn vollends zutage zu fördern. Erneut erklang das metallische Donnern der Zahnräder, und wieder drehte sich der wachsame Turm. Der Todesseraph griff auf die Rückseite des Spiegels und fand einen goldenen Draht, den er zuvor dort befestigt hatte. Er hängte diesen Goldfaden über den ersten silbernen Haken, dann flog er rückwärts, wobei er den Spiegel ganz aus der Tasche zog und den goldenen Draht über die verbliebenen beiden Haken spannte. Als er damit fertig war, hing der Spiegel sicher in der Luft.
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Der wachsame Turm drehte sich ein weiteres Mal. Avner flog hinter den Spiegel, dann faßte er in seine Tasche und zog ein kleines, rechteckiges Stück verzauberten Glases hervor. Das drückte er gegen die Rückseite des Spiegels, um sehen zu können, was auf der anderen Seite vor sich ging. Danach zog er ein magisches Pergament ab und rollte es zu einem Trichter zusammen, dann begann er, seine Flügel sanft zu schlagen, um auf der Stelle zu schweben. Er konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu verlangsamen und hoffte, sein Herz würde aufhören, so laut zu pochen. Schließlich zog er sich zusammen und wartete. Avner verspürte nicht das Verlangen, sein Dasein als Todesseraph aufzugeben – aber was er wollte, war nicht von Belang. Kelemvor hatte sich verändert; er kümmerte sich nicht mehr darum, was eine sterbliche Seele belastete. Wenn Avner Mystra nicht die Freiheit verschaffen und sich damit vor Maske beweisen konnte, dann würde der Fürst des Todes ihn zu derselben grausamen Strafe verdammen, die er jeder ungläubigen Seele zugedacht hätte. Der wachsame Turm drehte sich wieder ein Stück weiter, und Helm wurde so weit herumgeschwenkt, daß er direkt in den vollkommenen Spiegel blickte. »Halt!« In seiner Überraschung merkte Helm gar nicht, daß er sein eigenes Spiegelbild erblickte. Die müde Gestalt vor ihm war ein pferdegesichtiger Krieger mit schütterem Haar und Schultern, die unter der Last der Trauer von mehr als nur einer Welt schlaff herabhingen. »Wer da?« bellte Helm.
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Der Seraph hob den Pergamenttrichter an die Lippen und sprach: »Du weißt, wer ich bin.« Die Worte schienen aus dem Spiegel zu ertönen, denn die Lippen im Spiegel bewegten sich mit Avners, und die Stimme klang genau wie die Helms. »Wenn du mich nicht erkennst, dann ist es zu lange her, daß du dein Visier einmal oben hattest.« »Was?« Helm rang nach Luft. Der Wachsame beugte sich über das Geländer und musterte die Gestalt eingehender. Die Rüstung glich der seinen aufs Haar, bis auf die Tatsache, daß sie vom Alter gezeichnet und in Tausenden von Schlachten verbeult war. Der Schild trug seinen geheiligten Panzerhandschuh mit Auge, und den Knauf des Schwertes, das dem Greis an der Seite hing, zierte derselbe riesige Rubin. Doch dieser Ritter hielt sich nicht wie Helm stolz und aufrecht; dieser Ritter ließ die Schultern hängen, sein Rücken war krumm und sein Blick starr auf den Boden zu seinen Füßen gerichtet, alles in allem sah er ebenso einsam und niedergeschlagen aus wie jeder, der einmal im Wachsamen Turm eingekerkert war. Die Getriebe Mechanus’ krachten, und der Turm drehte sich weiter. Er nahm Helm mit und ließ ihn in eine andere Richtung schauen. Nachdem der Wachsame aber einen zweiten Avatar hier oben auf dem Balkon manifestiert hatte, erkannte er, daß er sein Spiegelbild sah. Er sah das Geländer in seiner Hand, den eisernen Boden unter seinen Füßen und die gläsernen Wände in seinem Rücken – eines jedoch sah er nicht, und zwar deshalb, weil Kelemvor den Spiegel alles nur so zeigen ließ, wie es wirklich war, und
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Mystras Zelle war nun einmal aus reinem Nichts. »Das kann nicht sein!« Der Wächtergott wirbelte herum und wankte zurück, als er die schwarze Kiste wie gewohnt an ihrem Platz zwischen den Glaswänden stehen sah. Nachdem er sie lange gemustert hatte, drehte er sich wieder um und betrachtete wiederum lange das Abbild im Spiegel. Die Kiste schien zu fehlen. In all der Zeit, die hierdurch ins Land ging, schwebte Avner voll Sorge hinter dem Spiegel. Er wußte, daß ein Gott viele Avatare von sich erzeugen konnte, aber er war davon ausgegangen, daß Helm einfach nur um den Balkon herumgehen würde, um zu jeder Zeit vor dem Spiegel zu stehen. Aber statt dessen hatte der Gott einen neuen Avatar erscheinen lassen, als der Turm sich drehte, und jetzt hatte der Seraph sich nicht mehr nur mit einem Gott herumzuärgern, sondern gleich mit zweien. Die Burg Immerwacht erbebte, die Zahnräder krachten noch einmal, und der wachsame Turm drehte sich erneut. Helm ließ einen dritten Avatar entstehen. Avner unterdrückte ein Stöhnen; er konnte nur noch abwarten. Helm sah wieder in den Spiegel. Das Abbild von Mystras Zelle blieb verschwunden. »Was für ein Zauber ist das?« fragte Helm. »Kein Zauber – es sei denn, Mystra wäre entkommen.« Wieder hatte Avner durch seinen Pergamenttrichter gesprochen, auch wenn es ihm nun zusehends schwerer fiel, eine selbstsichere Stimme nachzuahmen. »Nur Mystras Magie wäre in der Lage, dich zu täuschen.« Als Helm keine Antwort vernehmen ließ, schwieg auch Avner, um den Wächtergott über die unerquickli-
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chen Möglichkeiten nachdenken zu lassen: Entweder war Mystra entkommen und hatte einen Zauber gewirkt, mit dem sie das Bild in diesem Spiegel erzeugt hatte, oder aber das, was Helm in jenem Spiegel erblickte, war die Wahrheit. Eine Zeitlang überlegte der Beobachter, wie es möglich war, daß sein eigenes Spiegelbild so anders aussah. Er zog in Betracht, daß es sich vielleicht um ein Abbild seines wahren Wesens handelte, denn Sterbliche und Götter lasteten es ihm ja in der Tat immer noch an, daß er in der Zeit der Trauer Aos Befehle befolgt und die Götter in Faerûn eingesperrt hatte. Dennoch konnte der Wächter einfach nicht glauben, daß er jene traurige Gestalt im Spiegel sein sollte. Wie die Sterblichen, die ihn verehrten, glaubte auch er fest daran, daß die, die ihre Pflicht erfüllen, stets ihren gerechten Lohn dafür erhielten. Wenn das nicht auf ihn zutraf, wie sollten seine Anhänger es dann von sich selbst annehmen können? In diesem Augenblick entschied Helm, daß das, was er da im Spiegel sah, ein Trugbild war. Das tröstete ihn, bedeutete es doch, daß er immer noch der stolze Wächter und Mystra noch in seinem Turm gefangen war – dann aber erinnerte er sich daran, was die Existenz eines solchen Trugbildes voraussetzte. Die Göttin der Magie konnte nicht in ihrem Kerker sein, denn sie allein vermochte ihn zu täuschen und war doch selbst durch jene Zellenwände aus Nichts vom Gewebe abgeschnitten. Wie aber sollte sie irgendwo anders sein, wenn eine Flucht unmöglich war? Die Zahnräder Mechanus’ ließen die Burg beben. Der
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wachsame Turm drehte sich noch einmal und beförderte Helm vom Spiegel weg. Er manifestierte einen vierten Avatar seiner selbst auf dem Balkon, und während dieser weiter den Spiegel beobachtete, schritten die übrigen drei durch die Glaswände hindurch und traten zu Mystras Zelle hin. Wie ein Mann riefen sie: »Herrin der Magie?« Mystra gab keine Antwort. Sie hatte alles mitangehört, was sich draußen zugetragen hatte, und verspürte, da sie davon ausging, daß Kelemvor gekommen war, um sie zu retten, keine sonderliche Neigung, ihrem Kerkermeister zu helfen. Wieder griff Avner in seine Tasche. Diesmal holte er einen kleinen Schatten in Gestalt eines Vogels hervor, eine Erinnerung, die er sich von Kelemvor erbeten hatte. Er barg ihn sanft in den Händen und hauchte seinen Atem darauf, woraufhin sich die kleinen Flügel erhoben und ausbreiteten. »Mystra?« Helms Stimme wurde immer argwöhnischer. Aufgrund seiner ausgiebigen Erfahrungen im Bereich des Kerkerwesens wußte er, daß das Schweigen einer Gefangenen vieles bedeuten konnte – und davon war die Möglichkeit, daß sie geflohen war, noch das wenigste. »Antworte mir, Mutter aller Magie!« Avner öffnete die Hände. Der kleine Schatten flog davon und schrie die Worte, die Kelemvor die Göttin einst hatte rufen hören, nachdem zwei ihrer Helden einen Leichnam vernichtet hatten. »Auf Wiedersehen und danke für die Befreiung!« Sofort ließ Helm noch einen fünften Avatar seiner selbst entstehen, diesmal mitten in der Luft. Er schaute nach, von wo Mystras Stimme erklungen war, doch die
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Erinnerung löste sich auf, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte. Die drei Avatare, die sich um Mystras Zelle scharten, zogen ihre Schwerter und machten sich bereit hineinzuschauen. Avner betete, sie mögen noch einen Moment länger brauchen. Der vierte Avatar betrachtete immer noch sein Spiegelbild, und ihm war klar, daß es müßig war, schneller sein zu wollen als ein Gott. Die drei Avatare knieten nieder, jeder an einer anderen Seite des Gevierts aus schwarzer Nichtexistenz. Erneut krachten die Eingeweide Mechanus’, und der wachsame Turm drehte sich aufs Neue und nahm jenen vierten Avatar mit sich. Avner blickte hinüber zu den drei Avataren, die Mystras Zelle umknieten, und sah sie sich nach vorn beugen, um ihre Köpfe durch das Nichts der Kerkerwände hindurch zu stecken. Er flog aus seinem Versteck, und einen Augenblick später war er auch schon hinter einem von ihnen. Flugs wie ein vom Himmel herabstürzender Stein lehnte er sich gegen die Glaswand und brach scheppernd hindurch. »Hier entlang!« rief er. Ehe Avner seinen Satz noch beendet hatte, brauste Helms vierter Avatar auch schon vom Balkon herein, um ihn abzufangen. Aber das war egal. Der Seraph flog ja immer noch, und als Helm ihm in den Weg trat, da senkte Avner den Kopf und krachte mit voller Wucht in ihn hinein. Hätte Helm mit gezogenem Schwert mit beiden Beinen fest am Boden gestanden, dann wäre der Seraph gewiß schlichtweg an seiner Brust abgeprallt und wäre der leuchtenden Klinge des Gottes zum Opfer gefallen.
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Aber Helm war noch damit befaßt, seine Waffe zu zücken, und erst dabei, sich in Kampfstellung zu begeben. Avners verzweifelter Angriff brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel scheppernd auf einen der anderen Avatare. Die Wucht des Aufpralls katapultierte jenen völlig unvorbereiteten Avatar durch die Mauer aus Nichts, und Mystra erkannte sofort, was die geheimnisvolle Stimme dort draußen gemeint hatte. Sie sprang von den Füßen des fallenden Wächters ab und verließ ihren Kerker auf demselben Weg, auf dem er ihn betreten hatte. Die Göttin sah Helms vierten Avatar über sich aufragen und aufgrund der Wucht von Avners Schlage rücklings auf sie niederstürzen, und sie fürchtete bereits, hierdurch wieder in diese Kiste aus schwärzestem Nichts zurückgedrängt zu werden. Aber der Avatar verschwand, und sie fand sich neben dem lädierten Todesseraphen auf dem Boden wieder. In diesem Moment dämmerte Mystra, daß sie entkommen war, denn in dem Augenblick, da Helms Avatar vollständig in die Zelle hineingestürzt war, hatte der Wächtergott all seine göttlichen Kräfte verloren, und all die anderen Avatare hatten sich aufgelöst. Sie sprang auf, ahnte sie doch, daß es nicht lange dauern würde, bis Tyr feststellte, was sich zugetragen hatte, und Ao bitten würde, Helm wieder zu befreien. Ehe Avner auch nur stöhnen konnte, hatte sie schon acht Avatare nach Faerûn entsandt, um dem Flehen ihrer Anhänger nachzukommen und den Schaden zu beheben, den Talos ihrer Kirche zugefügt hatte. Einen weiteren Aspekt ihrer selbst schickte sie zu Kelemvor in die Stadt der Toten, und erst
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dann kniete sie neben ihrem zerschmetterten Befreier nieder. »Mein Dank gehört dir.« Mystra erkannte, daß der Seraph sich das Genick gebrochen, beide Flügel ausgerissen und eine seiner Schultern zermalmt hatte, als er gegen Helm gedonnert war. Während sie sprach, begann sie schon, diese Verletzungen zu heilen. »Ich werde deinem Herrn von deinem Mut berichten. Kelemvor wird dich belohnen.« Avner schüttelte den Kopf. »Kelemvor ist nicht mehr ... mein Herr. Maske ... schickt mich.« »Maske?« Die Göttin streckte Avners Hals, dann umfaßte sie ihn mit beiden Händen und gestattete ihrer Heilmagie, in ihn zu fließen. »Das kann nicht sein. Maske hat mehr Grund als sonstwer, mich hier gefangen bleiben zu lassen.« »Vielleicht – er hatte auch nicht erwartet, daß ich Erfolg habe.« Jetzt, da sein Genick wieder geheilt war, fiel dem Seraphen das Sprechen schon leichter. Während die Göttin den Rest seiner Verletzungen heilte, berichtete er ihr, wie Kelemvor sich dazu entschlossen hatte, all seine Urteile, die er als Totengott gesprochen hatte, noch einmal neu zu erwägen. Dann führte Avner noch aus, wie Maske ihm die Gelegenheit gegeben hatte, der Diebesseraph zu werden, indem er ihm die nicht zu bewerkstelligende Aufgabe übertragen hatte, sie zu befreien. Als er seine Erzählung beendete, hatte Mystra all seine Wunden geheilt. Sie standen auf, und die Göttin sagte: »Avner, du solltest nicht der Seraph eines so niederen Gottes wie Maske
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sein. Ich werde bei Kelemvor Einspruch erheben, du bleibst der Todesseraph.« Avner schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube nicht, Göttin. Der Fürst der Toten hat sich verändert. Der alte Kelemvor ist verschwunden, und ich fürchte, nicht einmal du kannst ihn uns wiederbringen.«
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Bruder Durin führte uns durch die zerstörten Überreste des alten Hafenvierteltors und folgte dann einem glitschigen Schlammfluß, der als Haupteinkaufsstraße der wiedererrichteten Stadt fungierte. Der Abend war über das Viertel hereingebrochen und hatte es in Schatten von der gleichen purpurnen Färbung getaucht, wie sie die heiligen Gewänder des Einen zierte. Die letzten Steinmetze und Tagelöhner waren über die Brücke verschwunden, und nun waren nur noch die Bewohner da und spähten von den Schießscharten und Zugbrücken im dritten Stock ihrer festungsartigen Häuser auf uns herab. Die Straße stank nach Seetang, Fischdärmen und jeder Menge anderer Dinge, die irgendwer auf sie zu kippen gedachte. Der Dreck stand so hoch auf dem Pflaster, daß Halahs Hufe schmatzende Geräusche von sich gaben, als sie Svanhild und mich vorantrug. Etwa ein Viertel des Weges durch die wiedererrichtete Stadt, das heißt also nicht viel mehr als hundert Schritt die Straße hinunter, zischte jemand Durin etwas aus den Schatten zu. Er wandte sich in Richtung einer schmalen Gasse zwischen zwei Gebäuden und verschwand in der Finsternis. Während ich Halah hinter ihm herlenkte, dachte ich an die stämmigen Wächter, die in der Gasse,
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in der wir uns zuvor versteckt hatten, ihr Leben aushauchen mußten, und ein Schaudern lief mir über den RükKen. Sie waren in den »zivilisierten« Bereichen der umfriedeten Stadt gestorben. Ich bezweifelte stark, daß selbst der Eine genau wußte, was hier in den Ruinen hinter der nächsten Ecke lauern mochte. In dieser Gasse hier lauerte jedenfalls nur Armod, ein Tempelbruder, der fast ebenso hager und schmutzig war wie Durin. Armod führte uns durch ein Labyrinth von Gassen, so finster, daß ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte, und die ganze Zeit über mußte ich daran denken, was für ein herrlicher Ort für einen Hinterhalt das hier doch wäre. Aber ich fühlte nur unzählige Augen von hoch oben auf mir lasten, und einmal bellte uns ein Straßenköter aus seiner schlammigen Nische an. Svanhild und ich mußten absitzen und in dem Spülicht herumstehen, während Halah versuchte, den Hund zu reißen, aber ihr Hals war nicht lang genug, um bis hinten in seine Höhle hineinzureichen, und ein paar Minuten später durften wir wieder aufsitzen. Wir tauchten aus diesem Gassengewirr auf und fanden Schwester Kelda, die hinter den gezackten Überbleibseln des Hafenschutzwalls auf uns wartete. Sie nahm Armods Platz als Führer ein und lotste uns weiter, und die düsteren Zitadellen der wiedererrichteten Stadt wichen schattigen Geröllhalden. Der Klang von Halahs Hufen änderte sich von einem fortwährenden Schmatzen zu einem unvorhersagbaren Geklapper, und das Licht des Vollmonds schien herab und ließ den Weg, der vor uns lag, silberhell erstrahlen. Der Gestank des Hafenbeckens verschwand, und
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Svanhild hinter mir entspannte sich. Sie beugte sich nach vorn und schob ihre Lippen direkt an mein Ohr. »Weshalb bist du in die Zentilfeste gekommen?« flüsterte sie »Dir muß klar gewesen sein, daß die Cyrinishad nicht mehr hier ist. Wir haben ein ganzes Jahr damit zugebracht, Briefe an wichtige wahre Gläubige zu schicken.« »Mir habt ihr keinen geschickt«, entgegnete ich. »Aber ich weiß, daß mein Kalif einen bekam.« »Warum bist du dann hier?« Ich hielt den Mund, denn ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, dieser Frau gegenüber die Wahrheit auszuplaudern. Vielleicht war Fzoul den ganzen Tag über in seinem Turm und spähte und wartete, wann wir denn nun endlich kamen – oder vielleicht hatte ihm ja auch jemand gesagt, daß wir bei Einbruch der Dunkelheit kämen, und dieser jemand konnte ebensogut Svanhild gewesen sein wie jeder andere Cyric-Anhänger der Zentilfeste. »Na?« drängte Svanhild. Ich drehte mich um. »Du stellst zu viele Fragen.« Svanhild schreckte zurück, als hätte ich ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt, aber ihre Arme blieben fest um meine Hüfte geschlungen – wohl, um mich besser festzuhalten, wenn Fzoul seine Falle zuschnappen ließ, nahm ich an. Verstohlen suchte ich die Schatten mit den Augen ab, bis mir einfiel, daß ich von einem Hinterhalt wenig zu befürchten hatte. Mit Tyrs Schutz, der mich unverletzt bleiben ließ, und einem Reittier wie Halah, mit dem mein Entkommen so gut wie sicher war, konnte kein
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Angriff mir oder meiner Mission gefährlich werden. Derart meiner selbst sicher tat ich etwas sehr Dummes: Ich beugte mich herab, um meinem treuen Roß auf den Hals zu klopfen. Halah schwenkten den Kopf herum und fletschte die Zähne, und ich hatte gerade noch Zeit genug, um mein Bein wegzuziehen, bevor ihre Kiefer zuschnappten. Svanhild lehnte sich vor. »Was ist los mit ihr?« »Sie ist wütend, weil der Hund entwischt ist.« Mystras Zauber zwang mich hinzuzufügen: »Oder vielleicht ist es auch, weil ich ihr ihren Knochen weggenommen habe.« »Wer ist denn hier der Herr?« schnaubte Svanhild. »Du oder Halah?« »Was glaubst du denn? Cyric hat sie gemacht.« Kelda lief eine breite steinige Furche entlang, die einst eine Straße gewesen war. Nach etwa fünfzig Schritten endete der Pfad vor einer hohen, unbeschädigten Mauer. Hier trafen wir auf den Rest der Cyric-Anhänger. Sie warteten in der Mündung eines steilen Grabens, den jemand, oder vielleicht auch etwas, hinterlassen hatte, als er versuchte, einen schmalen Tunneldurchgang durch das Geröll zu treiben. Einer der Brüder wies den Kanal hinunter. »Der Auslöscher ist dort entlanggegangen. Thir ist noch ...« »Los!« Thirs Stimme erklang fern und gedämpft aus dem Graben. »Fzoul versucht zu fliehen!« Kelda und die anderen hasteten sofort in den Graben, ich aber hielt Halahs Zügel straff und ließ sie allein klappernd in die Finsternis davonjagen. »Los!« befahl Svanhild und trieb dem Tier ihre Fersen
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in die Flanken. Ein Gebrüll wie das eines Löwen entrang sich Halahs Kehle, und sie wagte einen zögerlichen Schritt nach vorn. Ich riß an den Zügeln, um sie zurückzuhalten, und sie bockte und schlug aus, wodurch sie Svanhild beinahe abwarf. »Malik! Was tust du da?« Svanhild umklammerte meine Taille, um nicht vom Pferd zu fallen. »Ich dachte, du wolltest Fzoul Chembryl zu fassen kriegen!« »Wie gesagt, du stellst zu viele Fragen.« Wieder ließ mich Mystras Zauber etwas hinzufügen. »Ich bin nicht so weit gekommen, indem ich Dummheiten mache. Ich weiß, daß ihr einen Hinterhalt plant.« »Einen Hinterhalt?« Sie schien wahrhaftig überrascht, und da erkannte ich, was sie für eine geübte Lügnerin war. Ein lautes Knacken hallte aus dem engen Graben, dann warfen seine steilen Wände einen silbernen Blitz zurück. Jemand schrie in Agonie. »Siehst du?« rief ich aus. »Ich bin kein Narr!« Die Cyric-Anhänger schrien wie ein Mann. Ein sanftes Grollen drang aus dem Graben, dann ließ ein orangefarbenes Leuchten die Steine in der Tiefe erglühen. Svanhild nahm einen Arm von meiner Hüfte, und etwas Scharfes stach mir in den Rücken. »Du wolltest den Auslöscher finden, jetzt haben wir ihn. Also reite weiter!« »Dummes Weib – glaubst du, ich fürchte mich vor deinem Messer?« Meinen Worten zum Trotz hatte ich Halah in den Graben gelenkt, war ich doch immer noch gewillt, Fzoul Chembryl bis zu seinem Unterschlupf zu
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folgen. »Du hast doch gesehen, wie die Bolzen von meinem Rücken abgeprallt sind, als ich die Zentilfeste betrat. Tyr hält seine schützende Hand über mich!« »Tyr?« Svanhild stieß mit ihrem Dolch zu, aber die Klinge verfing sich in meiner Robe, glitt an meinen Rippen ab und fügte mir nicht mal einen Kratzer zu. Sie spie mir in den Nacken. »Verräter! Tyr-liebender Spion!« »Ich?« Ich schenkte ihrem Mordversuch keine Aufmerksamkeit. »Du bist ja wohl die Verräterin!« Während all das geschah, waren wir schon den halben Graben entlanggeritten. Ich hätte die Arme ausstrecken und die Steine zu beiden Seiten berühren können, und die Wände ragten so hoch über uns auf, daß sie das Mondlicht verschluckten. Während sie so durch die Finsternis trappelte, gab Halah ein furchtbares Geklapper von sich – aber das war ziemlich egal, denn plötzlich hoben am andern Ende des Kanals ein gewaltiges Grollen und ein schreckliches Geschrei an. Ich sah auf und wurde einer imposanten langhaarigen Gestalt gewahr, die zwanzig Schritt den Graben hinunter vor einer halbversunkenen Mauer eingekesselt war. Ein niedriger Ring aus Feuer trennte sie von den wenigen ihrer Angreifer, die immer noch auf den Beinen waren; die übrigen Anhänger des Einen wälzten sich auf dem Boden und kreischten in Todesqualen, während sie die Flammen um ihre Leiber mit Schlägen zu ersticken suchten. Beim Anblick der Kampfkraft meines Gegners wurde mir die Kehle trocken, aber zum Staunen hatte ich keine Zeit. Svanhild stieß sich von Halahs Rumpf ab und landete im Geröll hinter uns.
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Sie fiel auf die Knie und hob die Arme zum Himmel. »O Cyric, Gott der Götter, Einer und Einziger, höre dieses Gebet deiner Dienerin, Svanhild von der Zentilfeste.« »Nein!« Ich riß an Halahs Zügeln, aber der Graben war zu eng und steinig, als daß ich sie schnell hätte wenden können. »Allmächtiger«, fuhr Svanhild fort, »du hast dein Vertrauen ...« Ich zog so fest an den Zügeln, daß Halah vorn hochstieg und sich drehte. Ihre Vorderhufe krachten gegen die Grabenwand und riefen einen prasselnden Steinschlag hervor. Svanhild brüllte:, »... einem Verräter geschenkt!« »Schlampe!« Ich zog meinen Dolch und warf mich von Halahs Rücken aus auf sie. Ehe meine Füße noch den Boden berührten, zischte ein silberner Blitz vom Rand des Grabens herab und traf Svanhild direkt zwischen die Augen. Ihr Kopf platzte in einer stiebenden Wolke aus blendenden Flammen und Knochensplittern, und ich stürzte auf ihren kopflosen Leichnam und drückte ihn in den Boden des Grabens. Einen Moment lang war ich zu benommen, um mich zu bewegen, und lag auf diesem greulichen Etwas, während ich versuchte, mir die Blindheit aus den Augen zu reiben. Der herbe Geruch, der von der Stelle aufstieg, an der eigentlich ihr Gesicht sein sollte, brachte mich zum Würgen. »Ich bin sicher, daß sie tot ist.« Die Worte waren so tief und dröhnend, daß ich sie zunächst für die des Einen hielt, bis ich merkte, daß der Mann mit nur einer Stimme sprach, nicht mit Tausenden. »Wir können sie ja wohl
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nicht den Wahnsinnigen herbeirufen lassen, oder?« Ich rollte mich von Svanhilds totem Körper herunter und sah nach oben. Der Sprecher stand am höchsten Punkt der Grabenwand und reckte die Arme in die Höhe. »Hoch!« Zuerst dachte ich, er meine mich, bis er hinzufügte: »Erwachet, meine Kinder!« Ein gewaltiges Klappern hob auf der gesamten Länge des Durchgangs an. Halah stieß ein verwirrtes Wiehern aus, drehte sich schließlich mühsam um und blickte mich direkt an. Das orangefarbene Leuchten des Grabens hinter ihr war verschwunden, und nun begann das Geröll neben ihr zu schäumen. Halah fletschte die Zähne und zog sich zurück. »Nicht, Halah! Hier entlang!« Halah zog sich immer weiter zurück, bis sie auch hinter sich die Steine sich rühren hörte und abrupt stehenblieb. Ich trat auf sie zu, um ihre Zügel zu fassen, aber urplötzlich schoß ein Paar langer Arme aus dem Geröll zwischen uns. In der Finsternis sahen sie aus wie die Äste eines knorrigen Myrrhenbaumes, aber ich konnte gut genug sehen, um zu erkennen, daß eines dieser Glieder in einer verwachsenen Klaue endete. »Zu mir, Halah!« Als Reaktion auf meinen Tonfall hob die Stute ihren Kopf, dann knurrte sie. Aus dem Schutt tauchte ein Kopf auf und gesellte sich zu den Armen, die uns trennten. Im Licht seiner brennend roten Augen war klar das Gesicht eines schon lange toten Leichnams auszumachen, an dem Schädel hing an manchen Stellen immer noch faltige, graue Haut. Das Wesen sah mich an und begann, sich aus dem Dreck
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herauszugraben. Es war nicht allein. Das Kratzen weggeschobener Steine wurde auf der gesamten Länge der Klamm immer vernehmlicher, und ich blickte mich um und sah Dutzende rotglühender Augenpaare unter dem Geröll auftauchen. Ich bedachte Svanhilds Seele mit einer geflüsterten Verwünschung und warf einen Blick in Richtung meines Pferdes, der einzigen Möglichkeit für mich zu entkommen. »Halah, jetzt!« Halah sah mir mit einem ihrer dunklen Augen ins Gesicht, knurrte und machte einen Satz vorwärts. Der Leichnam zwischen uns schlug zu und fing ihren Vorderlauf mit seiner verdrehten Klaue. Sie biß den Arm im Vorbeirennen ab und hielt neben mir an, das grauenhafte Ding immer noch zwischen den Zähnen. Ich dankte Cyric für ihre Treue und lief um sie herum, um aufzusteigen. Plötzlich ging sie auf die Hinterbeine, hämmerte mir einen ihrer Vorderhufe gegen die Brust und warf mich zu Boden. »Halah!« Mein Blick schweifte den Graben entlang, und ich sah Dutzende rotäugiger Umrisse auf uns zuschlurfen. »Laß mich hoch! Was tust du da?« Halah knurrte und schob ihre Schnauze näher an mein Gesicht. Sie ließ den dreckigen Leichenarm zwischen ihren Fängen kreisen und gab ein tiefes, bedrohliches Meckern von sich. »Halah?« Der erste Leichnam schlurfte heran, ihm fehlte der Arm, den mein Pferd ihm abgebissen hatte. Er bückte
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sich und umfaßte mein Fußgelenk mit der verbliebenen Hand. Halah ließ es geschehen, und ich erinnerte mich an die Drohung, die ich ausgesprochen hatte, bevor wir die Brücke überquert hatten. »Halah, es tut mir sehr leid, daß ich deine Mahlzeit unterbrochen habe, aber wir mußten die Stadt verlassen.« Ein zweiter Leichnam tauchte auf, und sie gestattete es ihm, sich meinen Arm zu krallen. »Ich würde den Einen niemals darum bitten, dich wieder in eine alte Schindmähre zu verwandeln. Das weißt du.« Halah schnaubte mir ins Gesicht, genau wie sie es getan hatte, als ich ihr den Knochen entwendete, dann nahm sie ihren Huf von meiner Brust und trottete davon. »Halah?« Ich versuchte aufzustehen, aber die beiden Leichname hielten mich nieder. Ich bekam einen Stein zu fassen und zertrümmerte den Schädel des einen, aber das Ding lockerte noch nicht einmal seinen Griff. Ein dritter Kadaver schnappte sich den Stein und drückte meine Waffenhand zu Boden. »Halah!« Ihre einzige Antwort war ein höhnisches Schnauben, mittlerweile schmerzlich weit weg. Ich trat aus, warf mich herum und versuchte, mich dem Griff der Untoten zu entwinden. Aber jedesmal, wenn ich ein Körperteil bewegte, kam eine weitere Leiche angewankt und hielt es fest. Innerhalb von Sekunden war ich unter einem Haufen verrottenden und sich windenden Fleisches begraben, meine Glieder wurden durchgebogen und waren bald noch viel verdrehter als der Geist unseres finsteren Herrn.
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Ich verwünschte den Einen auf tausend verschiedene Weisen, nannte ihn einen Narren und einen Trottel, einen Verräter, einen Betrüger und einen Geizhals, einen, der leere Versprechungen macht, einen Verschwender geliehener Reichtümer, einen Mörder, Lügner und Dieb, und noch hundert andere Namen gab ich ihm, die noch doppelt so verächtlich waren. Doch ich bereute nichts; ich konnte nur an die großen Opfer denken, die ich aus Liebe zu Cyric gebracht hatte, und daran, wie nun alles zunichte gemacht würde, weil er mir einen Gaul gegeben hatte, der so wankelmütig war, daß er mich für einen Knochen verriet! Daß der Eine mich nicht erschlug, ist wohl nur seiner grenzenlosen Gnade und vielleicht auch Tyrs Schutz zu danken. Bis ich irgendwann jemand anmutigeren als einen Leichnam in Reichweite meiner Ohren herumschleichen hörte, hatte sich mein gotteslästerlicher Wutanfall schon wieder gelegt. Ich verstummte und lauschte hoffnungsvoll, denn diese Person machte neben dem Haufen Halt und begann, die Gliedmaßen einiger Kadaver von meinem Gesicht wegzuräumen, und dann sah ich, wer mich verraten hatte. »Thir!« Sie hatte die im Cyrictempel übliche Hanfrobe gegen einen Seidenumhang und ein tiefausgeschnittenes Leibchen eingetauscht. Um den Hals trug sie ein silbernes Amulett in Form einer menschlichen Hand, auf dessen Handfläche ein smaragdenes Augenpaar prangte – das heilige Symbol Iyachtu Xvims. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich immer noch meine Finger ab, wo ich sie zuvor geschlagen hatte.
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»Wie schön, dich wiederzusehen, Malik. Es ist ein Wunder, daß die Fluchtoten dich nicht umgebracht haben.« Sie lächelte ein honigsüßes Lächeln, dann spie sie mir ins Gesicht. Als ich unter Beweis gestellt hatte, daß ich zu hilflos war, um mir ihre Spucke aus den Augen zu wischen, drehte sie sich um und fügte noch hinzu: »Er scheint keine Gefahr darzustellen, Tyrannar.« Ein schweres Stiefelpaar knirschte auf dem Geröll, und die beeindruckende Gestalt von vorhin zeichnete sich gegen den Himmel über mir ab. Das fürstliche Gesicht, das da auf mich herabblickte, zierten ein kantiger Kiefer und ein tief herabhängender roter Schnauzbart, und seine blassen Augen waren ebenso grausam und kalt wie das Herz, das in meiner Brust schmatzte. »Ich bin Fzoul Chembryl.« Er löste einen Stoffsack vom Gürtel und kniete nieder, um ihn mir überzustülpen. »Ich hörte, du bist auf der Suche nach mir.«
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Die Stadt der Toten war ein Juwel, das seinen Glanz verlor. Kelemvor stand im höchsten Zimmer seines Kristallturms und schaute zu, wie die graue Flut sein Reich umtoste. Als die trostlosen Wogen sich teilten, verdunkelten sich die Lichter in den Fenstern, die schimmernden Straßenlaternen wurden trübe, und die funkelnden Kerzen flackerten kurz auf und verloschen. Nur der aschene Glanz blieb zurück, legte sich wie ein Leichentuch über die Stadt und erhellte jeden Winkel mit einem fahlen, schattenlosen Leuchten. Kelemvor löschte das Licht in seiner Domäne. Von nun an würde keine Flamme in ihren Mauern brennen, keine Sonne auf ihre Straßen scheinen. In der Stadt der Toten würde es nie wieder strahlendes Licht oder samtiges Schwarz geben, nur noch zahllose Abstufungen von Grau. »Ich halte nicht viel von diesen Veränderungen.« Als die Herrin der Mysterien diese Worte sprach, erschien sie neben dem Fürsten der Toten oben in seinem Turm. »Ich hoffe, du verzeihst, daß ich das sage.« »Es gibt nichts zu verzeihen.« Der Fürst der Toten wandte sich Mystra zu und offenbarte, daß er sich noch weitaus mehr verändert hatte als seine Stadt. »Ich habe
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es nicht getan, um dir zu gefallen.« Mystra rang nach Luft. Sie hatte sofort bemerkt, daß Kelemvor seine Lederrüstung gegen einen perlmuttfarbenen Umhang mit kohlrabenschwarzer Kapuze eingetauscht hatte, aber darauf, was sich in diesen Gewändern befand, war sie nicht vorbereitet gewesen. Das kantige Gesicht ihres Geliebten hatte sich in das teilnahmslose Antlitz einer silbernen Totenmaske verwandelt. Seine Augen waren von Smaragden zu düsteren grauen Kugeln geworden, die sowohl Pupillen als auch eine Iris vermissen ließen, und seine wilde schwarze Mähne war nun weiß und schütter wie Spinnweben. Selbst seine geschwellte Brust schien ihr nun, da sie in einem zerfetzten Schuppenharnisch steckte, eingefallen und hohl. Kelemvor deutete mit einer Hand auf seine neue Gestalt. »Diese Erscheinung paßt besser zu meiner Natur.« Mystra hielt sich eine Hand vor den Mund und schwieg, denn es wollte ihr einfach nichts Nettes einfallen. Der Fürst der Toten zuckte die Achseln. »Ich sehe, Avner hatte Erfolg.« »Ja. Danke, daß du ihn geschickt hast.« »Maske hat ihn geschickt.« »Das hat Avner auch gesagt.« Die Herrin der Mysterien machte eine Pause. »Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Avner verdient es nicht ...« »Avner ist jetzt der Seraph der Diebe. Was getan ist, ist getan, und du kannst es dir nicht erlauben, deine Zeit auf Dinge zu verschwenden, die nicht zu ändern sind.« Kelemvor nahm Mystras Arm und führte die verblüffte Göttin durch den Raum. »Sobald Helm freikommt, wird
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er dich hier suchen. Vielleicht solltest du dir anschauen, weswegen du hier bist, und dann verschwinden. Du hast bis zum Prozeß noch viel zu tun.« Obwohl sie von dieser kurz angebundenen Rede Kelemvors vor den Kopf gestoßen war, nickte Mystra angesichts der Wahrheit seiner Worte zustimmend. »Talos hat Überfälle ...« »Vergiß Talos. Kümmere dich um die Anklage!« Sie hatten die andere Seite der Kammer erreicht, und die Stimme des Herrn der Toten beruhigte sich etwas. »Tust du es nicht, dann sind wir verloren. Unser beider Anklagen hat Tyr noch nicht geteilt.« »Ist das deine einzige Sorge?« Mystra riß sich los. »Ich hätte nicht gedacht, daß du so egoistisch bist. Vielleicht solltest du jetzt wirklich Adon holen, und dann verschwinde ich.« »Ich kann ihn dir nicht geben.« Kelemvor wies durch die kristallene Wand hinab auf eine riesige Ansammlung von Seelen, die vor dem Palast seinen Richtspruch erwarteten. »Adon wartet da in der Schlange.« »Schlange?« Mystra drückte ihr Gesicht gegen den Kristall und spähte ins schattenlose graue Licht der Stadt der Toten. Selbst für eine Göttin war die Menge zu weit weg, um eine einzelne Seele auszumachen. »Du läßt Adon in der Schlange warten?« »Natürlich. Er hat sich zu Lebzeiten von dir abgewandt; das macht ihn zu einem der Ungläubigen. Darüber hinaus hat er mich angefleht, dir deine Anhänger von der Fugenebene wegzuholen, und das macht ihn zu einem Falschen.« »Aber Adon ist verrückt!« Die Herrin der Mysterien
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ging auf Kelemvor los. »Du solltest das besser verstehen als jeder andere.« »Ich muß selbst die Verrückten für ihre Entscheidungen geradestehen lassen.« Kelemvor starrte hinab auf die Menge. Seine Augen konnten die einzelnen Seelen nicht besser erkennen als Mystras, aber er wußte genau, welcher Fleck Adon war: derjenige am hintersten Ende der Schlange. »Wenn ich die Irren nicht dafür bestrafe, daß sie ihren Göttern den Rücken kehren, dann wird halb Faerûn verrückt. Zu viele Sterbliche sind zu faul, um ihren Göttern die angemessene Verehrung zukommen zu lassen.« Mystra drehte Kelemvor zu sich herum und sah ihm in die leeren, grauen Augen. »Bist du noch bei Trost? Oder wer versteckt sich hinter dieser Maske? Cyric? Der Fürst der Schlachten? Der Meister aller Diebe?« Sie trat von ihm weg und erhob die Hände, um den Hochstapler mit reiner Magie zu zerfetzen. »Du kannst nicht Kelemvor sein. So etwas hätte er nie gesagt.« »Dies hier ist derselbe Kelemvor, den du, edle Ariel, auf dem Weg zu Elminsters Turm auf ganz besondere Weise bezahlt hast.« Die Hände der Herrin der Mysterien senkten sich nicht. Vielen war bekannt, daß ihr wahrer Name als Sterbliche einst Ariel gewesen war, unter anderem Cyric. Cyric war auch bekannt, daß sie ihn als eine Art Bezahlung dafür, daß er sie zu Elminsters Turm begleitete, in der Zeit der Sorgen Kelemvor verraten hatte. Doch es gab etwas, das Cyric nicht wußte. »Welches war der Preis?« Er antwortete unverzüglich: »Deine Liebe.«
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»Du bist es.« Mystra senkte die Hände und deutete dann mit dem Arm in Richtung der traurigen Stadt dort draußen. »Aber warum?« »Weil ich der Gott des Todes bin.« »Wo ist dein Mitleid? Adon dazu zu verurteilen ...« »Mitleid ist etwas für Sterbliche, nicht für den Todesgott. Adon wird anhand seiner Worte beurteilt.« Mystra stand der Mund offen. Sie starrte lange auf die düstere Stadt hinaus und wandte sich dann Kelemvor zu. »Dann will ich, daß du ihn für mich wiedererweckst.« »Einen Wahnsinnigen ins Leben zurückrufen? Wem sollte das nützen, außer Cyric?« »Das soll nicht deine Sorge sein«, entgegnete die Herrin der Mysterien. »Für dich ist nur wichtig, daß ich darum bitte.« »Nein. Daß Adon gegen dich aussagen könnte, ist dein Problem, aber er hat es gewagt, mich dafür zu schelten, daß ich dich liebe. Ich werde nicht zulassen, daß er noch den Glauben meiner eigenen Anhänger untergräbt.« »Ich flehe dich an.« Mystra trat näher an den Herrn der Toten heran und nahm seine Hand. »Um unserer Liebe willen.« Kelemvor schüttelte den Kopf. »Nicht einmal das. Ich muß meine göttlichen Pflichten erfüllen – und ich beschwöre dich, es mir gleichzutun, oder es wird der Rat sein, der dich deiner Kräfte beraubt, nicht Talos oder Cyric.« Die Herrin der Mysterien nahm ihre Hand weg. »Wie kannst du es wagen! Ich bin nicht zur Göttin geworden, um denen den Rücken zu kehren ...«
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Zwischen der Herrin der Mysterien und Kelemvor erschien Jergals schattenerfüllter Umhang. »Verzeiht mir, Kelemvor, aber Helm bittet um eine Audienz.« »Gib meinem Patriarchen sein Leben zurück!« Mystras Worte hingen in der leeren Luft, denn Jergal hatte Helms Namen noch nicht recht ausgesprochen, da war die Göttin auch schon verschwunden. »Schick ihn zurück nach Faerûn, oder unsere Liebe ist passé!« »Dann ist sie es jetzt schon«, antwortete der Fürst der Toten, auch wenn selbst er nicht sagen konnte, ob Mystra ihn gehört hatte. »Was ist sie jetzt schon?« Der Beobachter erschien hinter Jergal, und zwar genau dort, wo eben noch Mystra gestanden hatte. »Ich warne dich, versuch bloß nicht, irgend etwas zu ...« »Droh mir ja nicht.« Kelemvor trat direkt durch Jergal hindurch, so daß er mit Helm Nase an Visier stand. »Ich verstecke Mystra nicht. Du darfst mein Reich durchsuchen, wenn du willst, aber wenn du mir noch einmal drohst, dann kann nur noch der große Ao selbst dich retten.« Helm trat einen Schritt zurück und neigte das Haupt. »Eine Durchsuchung wird nicht nötig sein, Fürst der Toten. Dein Wort genügt mir.« Der Wächter verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war – und das nicht nur, um seiner Gefangenen nachzusetzen. Irgend etwas in Kelemvors Tonfall hatte sich für ihn danach angehört, als dürste es ihn nach Blut, und er verspürte keinerlei Wunsch danach, seine Kräfte mit einem frischgebackenen Todes-gott zu messen. Jergal schwebte an Kelemvors Seite, und ein weißer
Handschuh flatterte hinauf und deutete auf eine Reihe kleiner, schwarzglänzender Perlen, die die Wangen des Gottes hinabkullerten. »Was ist das?« »Nichts.« Kelemvors Stimme klang angespannt. »Alles, was von meiner Sterblichkeit noch übrig ist, nehme ich an.« »Ich hoffe, Ihr spült es recht bald aus.« Der Seneschall ging auf Abstand, ganz so als hätte Kelemvor eine ansteckende Krankheit und sei im Begriff, einen Hustenanfall zu bekommen. »Das ist das seltsamste, was ich einen Gott des Todes je habe tun sehen.« »Dann schau weg!« Es war der Fürst der Toten, der sich abwandte, und weder er noch Jergal bemerkten, daß jede einzelne Träne verschwand, wenn sie den Boden berührte.
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Fzoul Chembryl und seine Handlangerin Thir legten mich in Ketten und zerrten mich durch die Ruinen. Der Sack über meinem Kopf machte mich blind, und die kurze Kette zwischen meinen Knöcheln ließ mich hinken, aber meine Peiniger schoben und zogen und murrten, als könnten sie nicht verstehen, warum ich nicht schneller humpeln konnte. Nach Stunden der Mißhandlung betraten wir endlich weicheren Boden, dann stiegen wir ein paar Stufen in einen felsigen Durchgang hinab, und der Geruch von feuchten Steinen und brennendem Pech stieg mir in die Nase. Fzoul riß mir den Sack vom Kopf, und vor mir tat sich eine riesige Kammer aus grobbehauenem Fels auf. Ein paar Fackeln flackerten in den Halterungen an den Wänden und erfüllten die Luft mit einem Rauch, so schwarz und bitter, daß er mir Sturzbäche von Tränen in die Augen trieb. Die Mitte des Raumes war leer bis auf das auf den Boden gemalte Symbol Iyachtu Xvims und einen schwarzen Altar am anderen Ende. Entlang einer Wand standen alle möglichen seltsamen Möbel, doch in dem trüben Licht war es mir unmöglich zu erkennen, welchen Zweck sie erfüllten. Nachdem ich die Lage schnell eingeschätzt hatte, ließ
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ich, in der nächstliegenden Ecke beginnend und auf der Suche nach einer eisernen Truhe oder sonst irgendeinem Behältnis, in dem Das Wahre Leben aufbewahrt werden mochte, meinen Blick durch den Raum schweifen. Die Finsternis hing jedoch dermaßen dicht in diesem Raum, daß ich nur seltsame Umrisse und vage Formen ausmachen konnte. Fzoul Chembryl machte sich in Richtung der Mitte der Halle auf. Ich schlurfte neben ihm her und verfluchte meine ermüdenden Fußfesseln wie auch die Handschellen, die mir die Handgelenke vor den Bauch banden. »Der Tempel Iyachtu Xvims.« Fzoul deutete ins Rund der finsteren Halle. »Nicht so großartig, wie du es vielleicht von der Kirche des Cyric gewohnt bist – aber andererseits müssen wir hier in der Zentilfeste uns damit begnügen, seit der Wahnsinnige unsere Häuser pulverisiert hat.« »Die Schleifung habt ihr euch selbst zuzuschreiben.« Ich hatte keine Angst, das zu sagen, denn ich wußte ja, daß Tyrs Schutz mich davor bewahren würde, Schaden zu nehmen. »Wenn ihr hier in der Zentilfeste euren Glauben nicht verloren hättet ...« »Schweig, du Schwein!« Thir sprang mir in den Rücken. »Ich hab genug von Cyrics Dreck ertragen müssen, daß es mir fürs Leben langt.« »Nicht.« Fzoul griff hinter meinen Rücken und drückte Thir von mir weg. »Laß Malik ausreden. Nach allem, was du mir erzählt hast, würde ich mir gern anhören, was er zu sagen hat.« »Ich habe aber weiter nichts zu sagen, außer daß du ein Gossenkind und ein Verräter bist, weil du Das Wah-
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re Leben in deiner Stadt vorgetragen hast.« An dieser Stelle suchte ich bei Fzoul nach irgendeinem Hinweis auf den Aufbewahrungsort des Buches – oder darauf, ob er es überhaupt noch besaß – aber das einzige, das in seinen Augen aufblitzte war Wut. Ich fuhr fort: »Du hast die Bewohner der Zentilfeste betrogen, nicht den Einen.« Fzouls Griff um meinen Arm wurde fester, aber ansonsten deutete nichts auf seinen Zorn hin. »Ein Jammer, daß du so denkst. Denn ich hege keinerlei Groll gegen dich.« Fzoul hielt über dem Symbol auf dem Boden inne, und ich hatte das unangenehme Gefühl, als würden mich die grünen Augen in der Handfläche anstarren. »Ehrlich gesagt, möchte ich dir sogar helfen.« »Mir helfen?« Fzoul Chembfyl nickte. »Ich will dich die Wahrheit über Cyric lehren.« »Nichts könnte wundervoller sein!« Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, denn ich glaubte, er würde mir damit drohen wollen, mir aus dem Wahren Leben vorzulesen. »Ich bin bereit.« Fzoul runzelte die Stirn, überrascht ob meines Enthusiasmus, dann schüttelte er den Kopf. »Zunächst müssen wir deinen Geist reinigen.« Er schaute an mir vorbei und nickte Thir zu, dann fügte er an mich gewandt hinzu: »Die Wahrheit wird ... besser ... sein, wenn dein Geist erst einmal reingewaschen wurde.« Ich fühlte ein Messer meine Wirbelsäule hinabgleiten. Die Klinge verletzte mich nicht, meinen Gewändern erging es jedoch schlecht. Ein feuchter Luftzug streifte über eine Region meines Körpers, die so etwas ansonsten
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nur selten zu spüren bekommt, Thir riß mir die zerschlissene Robe herunter, und ich stand nackt da wie an jenem Tage, da ich das Licht der Welt erblickte. »Ich dachte, ihr wolltet meinen Geist reinigen!« »Das werden wir, Malik.« Thir hatte das gesagt. »Das werden wir gewiß.« Sie lief um mich herum und blieb vor mir stehen, und ich senkte die Hände, um den intimsten Teil meiner Blöße zu bedecken. Thir schlug mir ins Gesicht, packte die Kette, die zwischen weinen Handschellen verlief, und riß meine Handgelenke wieder vor meinen Bauch. »Du hast nichts zu verbergen!« »Hättest ja nur fragen müssen!« Das war sogar die Wahrheit, denn in dieser Hinsicht hatte ich schon immer allen Grund, stolz zu sein. Thir hob die Hand und wollte mich noch einmal ohrfeigen, aber Fzoul fing ihren Arm und schüttelte den Kopf. »Sei nicht zu hart mit ihm. Malik muß erst noch verstehen lernen.« Der hohe Tyrannar legte mir einen seiner kräftigen Arme um die Schultern und führte mich zu einer der Wände. »Thir meinte, du fühlst keinen Schmerz.« »Niemals!« Ich hatte nur gehofft, uns allein eine sinnlose Zeitverschwendung ersparen zu können, aber Mystras Zauber ließ mich dann noch hinzufügen: »Jedenfalls nicht in den letzten paar Tagen.« »Nicht?« Fzoul packte meine Ketten und riß sie zurück an meinen Bauch, denn mein Anstand hatte meine Hände wieder in südlichere Gefilde gleiten lassen. »Nun gut, es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die Gedanken eines Mannes zu reinigen.«
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Fünf Schritte vor der Wand machte Fzoul halt. Im flackernden Fackelschein vor uns erkannte ich ein Dreiergespann aufwendiger Gerätschaften. Der Große Auslöscher gestikulierte in Richtung der ersten. Vier Kupferkugeln hingen über einer Tischplatte, an der mehr Lederriemen befestigt waren, als ich zählen konnte. Aus der Unterseite jeder Kugel ragte ein schmales Glasröhrchen, sie liefen in einem kleinen Hahn zusammen, der über einer hölzernen Kopfstütze hing. »Die Tropfenfolter.« Fzoul Chembryl gab Thir ein Zeichen. »Zeig’s ihm.« Thir trat in den Lichtkegel und drehte den Hahn auf. Ein einzelner Wassertropfen fiel aus dem Spund und landete direkt auf besagter Kopfstütze. Ein, zwei Augenblicke später kam der nächste. Mir schien das keine rechte Folter zu sein. Verglichen mit den wundersamen Apparaten im Verlies des Kalifen sah es sogar recht entspannend aus. Fzoul führte mich zum nächsten Gerät, einem geneigten Stuhl mit vielen Riemen. Vor dem Stuhl stand ein rundes Tischlein, auf dem ein Dutzend Keramiktöpfchen stand. Ein jedes von ihnen hatte einen drehbaren Deckel mit einem langen Widerhaken in der Mitte. Thir drehte unter dem Tisch an einer Kurbel. Die Platte drehte sich um ein Zwölftel eines Kreises, und eines der Keramiktöpfchen schwang vor dem gekippten Stuhl umher. Der Widerhaken am Deckel blieb an einem kleinen hölzernen Fortsatz des Stuhles hängen, und das Töpfchen ging auf. Auf einmal roch es in dem Raum, als hätte ein Stinktier den Schwanz gehoben. »Die Folter der Gerüche« Ich mußte grinsen. Während meiner Zeit im Umland
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von Kerzenburg hatte ich Sachen gegessen, die übler gestunken hatten. Fzoul führte mich zum nächsten Apparat, dabei handelte es sich um nicht viel mehr als eine trübe Kupferwanne voll dunklen Wassers. »Das Aalbad.« Hier zögerte Thir, und Fzoul mußte sie zur Wanne hintreiben. »Zeig’s ihm!« Thir erblaßte, aber sie krempelte den Ärmel hoch und stieß ihren Arm ins Wasser. Etwas platschte. Ein leises Zischen dröhnte durch die Wanne, dann verdrehte Thir die Augen, sie biß die Zähne zusammen, ihr Kinn hob sich, sie begann zu zittern und fiel schließlich rückwärts um. Als ihr Arm aus dem Tank freikam, wickelte sich etwas Schwarzes, Flaches von ihrem Unterarm los und glitt zurück in die kupferne Wanne. Thirs Blick war glasig und leer. Als sie sich auf die Knie zu rollen versuchte, waren ihre bebenden Muskeln nicht imstande, sie zu halten, aber sie zeigte keine Anzeichen von Schmerzen. Genaugenommen zeigte sie keinerlei Anzeichen irgendeines Gefühls. Fzoul gab mir eine Ohrfeige und wies auf meine Hände, denen ich wieder einmal gestattet hatte südwärts zu gleiten. Als ich sie hob, nickte er. »Wir würden dich natürlich ganz in die Wanne setzen.« »Natürlich.« Obwohl ich beiläufig zu klingen versuchte, war meine Stimme nicht mehr als ein Quieken. Der hohe Tyrannar wurde still und zeigte mir ein schmales Lächeln, damit ich darüber nachsinnen konnte, was er mir da gezeigt hatte. Mir wurde klar, daß er mehr vorhatte als »mich die Wahrheit über Cyric zu lehren.« Um meinen Glauben an die Macht des Einen zu zerrüt-
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ten, brauchte er nichts weiter zu tun, als Das Wahre Leben hervorzuholen und es mir vorzulesen, und die Macht von Oghmas Worten würde den Rest erledigen. Aber Fzoul wollte noch etwas anderes; er wollte, daß ich um die ›Wahrheit‹ bettelte, denn das wäre eine noch viel schlimmere Schmähung des Einen und seinem eigenen Gott, Iyachtu Xvim, eine wahre Wohltat, und ich war nur allzugern bereit, genau das zu tun, was er wollte, wußte ich doch, daß immer noch Cyric hier zuletzt lachen würde, und daß nichts, was im Wahren Leben geschrieben stand, mich von unserem finsteren Herrn entfremden könnte – nicht, während noch Cyrics Herz in meiner Brust vor sich hin schmatzte und mein eigenes in der seinen schlug. »Du verschwendest deine Zeit mit dieser Reinigung«, sagte ich. »Ich bin soweit, daß du mir die Wahrheit vorlesen könntest.« Fzoul schüttelte den Kopf. »Es reicht nicht, daß du die Wahrheit nur hörst, du mußt sie verinnerlichen.« Das Herz des Einen in meiner Brust schlug mir vor Freude fast bis in die Kehle, denn Fzoul war gerade auf einen simplen Verkaufstrick hereingefallen. Der hohe Tyrannar hatte keinerlei Einwände gegen meine Behauptung erhoben, daß er mir die Wahrheit vorlesen wolle, da hätte er mir ebensogut auch gleich verraten können, daß sich das Wahre Leben in seinem Besitz befand. Alles, was ich jetzt noch zu tun brauchte, war, ihn dazu zu bringen, daß er mir verriet, wo er es aufbewahrte, und mir dämmerte langsam, daß hierzu ernstere Maßnahmen vonnöten waren. »Die Wahrheit ist, daß Iyachtu Xvim ein ziemlich nie-
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derer Gott ist, der der Aufmerksamkeit Cyrics darum auch vollkommen unwürdig ist!« Mein Plan war, Fzoul so wütend zu machen, daß er meine Reinigung vergaß und Das Wahre Leben hervorholte, nur um mich zum Schweigen zu bringen. »Wenn du stirbst, wird Cyric deinem erbärmlichen kleinen Gott deine Seele wegnehmen und sie in den Verliesen der zerschmetterten Feste tausend Jahre lang peinigen!« In Fzouls Gesicht schoß die Zornesröte. Seine Hand schnellte von der Seite herauf und donnerte mit solcher Wucht gegen meinen Schädel, daß es mich von den Beinen hob. Ich stürzte auf Thir, die sich gerade ein wenig gesammelt hatte, wälzte mich dann auf dem Boden umher und lachte und lachte. »Schlag mich noch mal!« Ich rappelte mich auf und hinkte zu Fzoul zurück. »Ein Diener des pissenden Xvim kann mich nicht verletzen.« Der hohe Tyrannar erhob seine Hand, fing sich dann aber und fächelte den Dreck von meinen nackten Schultern herunter. »Verzeih meinen Wutanfall. Eigentlich bin ich ja hier, um dir zu helfen.« Er drehte mich zu den Foltergeräten um. »Was darf’s denn sein, Malik? Die Tropfen? Die Gerüche? Die Aale?« Mir wurde der Mund trocken. Die Wahl schien anfangs leicht zu fallen, denn die Aale würden offensichtlich weniger Zeit in Anspruch nehmen als die beiden anderen Marterungen. Aber ich konnte den Blick einfach nicht von Thir abwenden, die immer noch so benommen und verwirrt war, daß sie sich kaum aufrappeln konnte. »Ich wähle ...« Ich erstickte fast an den Worten, und mein Blick wan-
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derte in Richtung Tropfenfolter. Nach meinem langen Ritt erschien es mir verlockend, ein paar Stunden auf einem Tisch liegend zuzubringen. Ich würde meine Augen schließen und ein paar Tage lang durchschlafen können. Warum auch nicht, nach allem, was ich für den Einen getan hatte? Jahrelang hatte ich in Kälte und Regen das Leben eines Bettlers geführt, ich war in einen siedenden Burggraben gesprungen, hatte gegen Wächter gekämpft, die von den Toten zurückgekehrt waren, und war Tag und Nacht von einem Ende Faerûns zum anderen geritten – und was hatte der Eine für mich getan, außer mir ein bösartiges und hinterhältiges Pferd zu geben, meine Frau umzubringen und mir fürs Versagen ewige Verdammnis anzudrohen? Als ich aber über all das nachdachte, überkam mich wieder jene schreckliche Verzweiflung, die mich schon damals vor den Toren von Kerzenburg ereilt hatte. Ich erinnerte mich, wie ich mitten im Blutbad des Schwarzen Sporns erwacht war und in meiner Not Cyric entsagte, und wie er dann zu mir gekommen war, um mich den Schrecken des Unglaubens am eigenen Leibe erfahren zu lassen, und mich auf den Weg des Glaubens zurückgeführt hatte, und wie er mir eine Chance gegeben hatte, meine elende Seele zu erlösen, und mich durch den Austausch unserer beider Herzen ehrte, und plötzlich war mir bewußt, daß ich eigentlich gar keine Wahl hatte. »Was soll’s sein, Malik?« Fzoul trat hämisch grinsend neben das Aalbad. »Die Aale?« Ich nickte, ehe ich Gelegenheit hatte, den Mut zu verlieren.
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Fzoul hob eine Braue. »Ehrlich? Die Aale?« »Ich werde an Iyachtu denken.« Ich versuchte trotzig zu klingen, aber meine Stimme bebte vor Furcht. »Selbst sein Name klingt schleimig wie ein Aal.« Fzoul Chembryls Mund zuckte, und doch trug er seine Antwort mit ruhiger Stimme vor. »Ich hätte gedacht, du wärst eher der Tropfen-Typ.« Er musterte mich eingehend und sah, daß ich meinen Blick nicht von der mit Aalen gefüllten Wanne abwenden konnte. »Aber nein, du wählst die kräftezehrendste aller Foltern. Warum nur?« Ich gab keine Antwort, denn ich fürchtete, Mystras Zauber könnte mich zwingen, die Wahrheit zu sagen. Noch einen Augenblick länger schwieg Fzoul, dann huschte ein Anflug von Schläue über sein Gesicht, und er zuckte die Achseln, als würde er sich mit meiner Wahl abfinden. »Na gut – das Aalbad.« Thir, die immer noch von dem hinter ihr liegenden Erlebnis zitterte, kam herüber, um zu helfen, mich in die Wanne zu hieven. Fzoul Chembryl stoppte sie, indem er die Hand hob. »Noch nicht. Ich habe Malik gegeben, was er wollte. Jetzt muß er mir auch etwas geben.« »Du kannst etwas von meinem Achselschweiß kriegen!« Ich spie aus. »Das ist alles, was ein Anbeter Iyachtu Xvims verdient.« Thirs Knie drohte, sich mir in den entblößten Unterleib zu rammen, aber sie glitt in einer Wasserpfütze aus und ging mit Getöse zu Boden. Ob es an Tyrs Schutz oder ihren zitternden Muskeln gelegen hatte, entzieht sich meiner Kenntnis.
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Fzoul blickte finster drein, aber dann sah er mich weiter an. »Nun komm schon. Ich will ja nur von dir wissen, wer dich geschickt hat.« Der hohe Tyrannar kam etwas näher und sprach mit einer beruhigenden Stimme. »Es ist doch nichts dabei. Ich weiß ohnehin schon alles.« »Wirklich?« Cyrics geronnenes Herz sprudelte mir in die Kehle, dann dämmerte mir, daß Fzoul entweder log oder irrte. Niemand kannte meine Pläne in bezug auf Das Wahre Leben. »Warum muß ich es dir dann noch einmal erzählen?« »Du mußt beichten. Das ist der Weg zur Wahrheitsliebe. Sag mir, wer dich geschickt hat, und ich werde dich im Aalbad sitzen lassen.« »Mich lassen?« Das klang weniger verlockend, als er dachte. »Ich werde dich bis nach dem Jahr des Blutbads die Sohlen wahrer Gläubiger sauberlecken lassen!« »Ich verstehe.« Fzouls Gesicht wurde zu einer Fratze, so häßlich wie die eines Orks. Er griff meinen Arm. »Was ist es, das du mehr fürchtest als einen Bottich voller Aale?« Der hohe Tyrannar schleuderte mich von dem Tank weg und blieb vor der Folter der Gerüche stehen. Er schnippte drei Deckel auf und erfüllte den Raum mit einer Mixtur von Gerüchen, die zu übel zum Einatmen war. »Abfall? Tod? Innereien?« Er suchte Anzeichen von Angst an mir, und als ich keine zeigte, schüttelte er den Kopf. »Wohl nicht. Als Cyricist bist du derlei Dinge sicher gewöhnt.« »Weil wir so häufig an den Leichen von Iyachtu Xvims toten Anhängern riechen!« Mystras Zauber ließ
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mich noch hinzufügen: »Ich habe das zwar selbst nie gerochen, habe aber gehört, es sei so.« Fzoul zerrte mich zum nächsten Gerät, packte meine Handschellen und warf mich auf den Tisch, wo er mich so hinlegte, daß mein Nacken auf der hölzernen Kopfstütze ruhte. »Wasser?« So wie Fzoul jetzt brüllte, schien mein Plan aufzugehen. Er drehte den Hahn auf, und ein einzelner Tropfen eiskalten Wassers benetzte meine Lippen und lief mir in die Nase. Als ich mich immer noch nicht beklagte, schüttelte er wieder den Kopf. »Oder ist vielleicht die Zeit deine Folter?« »Du bist ein Hund und betest einen Hund an!« Da lächelte Fzoul. »Thir sagte, du wolltest nicht die Nacht im Tempel verbringen.« Er beugte sich über mich. »Du bist in Eile, nicht wahr? Hat Cyric dir eine Frist gesetzt? Ist er so begierig danach, mich tot zu sehen? Ich hob den Kopf und spie ihm ins Gesicht. Fzoul schob mich mit Wucht zurück auf die Folterbank und zerrte mich wieder an Ort und Stelle. Ich schrie: »Ein elender Feigling bist du, genau wie dein Gott!« »Genug!« Er zog unter der Bank einen mit Kruste überzogenen Lappen hervor und stopfte ihn mir zwischen die Zähne. Ehe ich ihn noch ausspucken konnte, hatte mir Thir schon eines der Lederbänder über den Mund gelegt und festgezurrt. Fzoul seufzte erleichtert. »Schweigen war nie zuvor so sehr Gold.« Meine nächste Tirade war ein einziges Grunzen, aber das war mir gleich. Der Große Auslöscher war bereits so wütend wie ein verwundeter Löwe.
Bei Tagesanbruch, da die trostlose Sonne den grauen Himmel über den baufälligen Türmen der Zentilfeste zum Erstrahlen brachte, standen Ruha und ihr Pferdegreif auf der Straße davor und warteten. Sie wußte, daß es keinen Sinn haben würde, gegen das Tor zu hämmern, denn jede Stadt in den Herzlanden ließ ihre Tore von Sonneuntergang bis zum Tagesanbruch geschlossen, und wie sehr sie auch klopfen mochte, sie würde keinen Wächter überzeugen, daß die Sonne auch nur einen Deut eher aufgegangen war, als er es sagte. Die Hexe wartete fast eine Stunde, bis im Torhaus ein Dröhnen erklang und die Torflügel aufschwangen. Zwei triefäugige Wächter traten heraus und grüßten. Beide waren riesig wie ein Bär und stanken fürchterlich nach Bier. Über ihren Kettenhemden trugen sie Wappenröcke, in die das Wappen der Zentilfeste, die Panzerhand und der Edelstein, gestickt war, ein Zeichen, das die Hexe lange schon, bevor sie zu den Harfnern kam zu verachten gelernt hatte. Obwohl sie keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, kreuzten die beiden ihre Hellebarden vor ihrem verschleierten Gesicht. »Nenn uns deinen Namen und was dich in die Zentilfeste führt«, befahl der Altere der beiden. Von hinter
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ihm kamen der ätzende Geruch von in Feuerstellen verbrennendem Torf und das behutsame Gemurmel einer erwachenden Stadt. »Zeig uns auch deine Münzen, damit wir wissen, daß du dir den Aufenthalt in der Stadt leisten kannst.« Ein paar Bettler schoben sich aus den Gassen hinter den Wächtern heraus, doch sie wirkten zu gesund, um arm zu sein. Ruha griff in ihre Robe und zog einen kleinen Geldbeutel hervor, dann ließ sie die Münzen darin klingen. »Ich suche einen Dieb«, sagte sie und entnahm dem Beutel zwei Silbermünzen. »Vielleicht habt ihr ihn gesehen?« Beide Wächter schnappten sich eine der Münzen, aber sie machten keinerlei Anstalten, ihre Hellebarden auseinanderzunehmen. »Es gibt viele Diebe in der Zentilfeste«, sagte der Ältere. »Der, den ich meine, ist ein kleiner, dicker Kerl mit Augen, die hervortreten wie bei einem Käfer, und wenn ihr sein Pferd gesehen habt, könnt ihr es nicht vergessen haben. Es frißt Fleisch, und schwarzer Dampf quillt ihm aus den Nüstern.« Die Gardisten wechselten einen Blick, dann hielt der Altere der beiden die Hand auf. »Wir könnten ihn gesehen haben. Weshalb suchst du ihn?« »Er hat mir etwas gestohlen.« Da sie nur ein dummes Weib war, das glaubte, Geld hätte jenseits dessen, was man damit kaufen konnte, keinen Wert, legte Ruha noch zwei weitere Silbermünzen in die Hand des Mannes. »Ich sähe ihn gerne dafür bestraft.«
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Der Wächter nahm das Geld lächelnd an. »Wenn du ihn bestrafen willst, dann wirst du dich hinten anstellen müssen.« Er gab eine Münze seinem Gefährten weiter und hob wieder die Hand. »Möglich, daß ich dir deine Sorgen abnehmen kann.« Jetzt hätte jede Person mit nur ein bißchen Anstand den Geldbeutel weggesteckt und dem Witzbold gesagt, daß er schon genug bekommen hatte, daß der Käufer sich jeden Gedanken in seinem Schädel leisten konnte. Da Ruha aber das Geld der Harfner ausgab und nicht ihr eigenes, zog sie noch zwei weitere Münzen hervor. »Ich will nicht, daß du mir meine Sorgen abnimmst.« Die Hexe ließ die Münzen über der hohlen Hand des Mannes hin- und herbaumeln. »Ich will nur diesen Dieb finden. Ich glaube, er wird nach Chembryl suchen.« Der ältere Wächter blickte finster drein. »Was bist du? Auch einer von Cyrics stinkenden Meuchlern?« »Nein.« Ruha hielt ihm weiter die Münzen hin. »Aber ich muß diesen Dieb finden, ehe er Fzoul Chembryl erreicht.« »Dafür kommst du zu spät.« Der ältere Wächter schnappte sich die Münzen aus ihrer Hand und setzte dann hinzu: »Aber mach dir keine Sorgen – dein Dieb wird nirgends hingehen. Wer immer dich da bestohlen hat, er wird mehr als hinreichend dafür büßen.« »Ich will mir das gern selbst ansehen.« Ruha griff noch ein weiteres Mal in den Beutel, förderte diesmal jedoch zwei Goldmünzen zutage. »Könntest du das arrangieren?« »Dafür würde ich dich auf meinem Rücken hintragen!« Der Wächter hob die Hand, um die Münzen ent-
gegenzunehmen. »Du wirst allerdings warten müssen, bis mein Dienst zu Ende ist – und ich kann nur hoffen, daß du keine Cyricanbeterin bist!«
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Ein weiterer Tropfen fiel aus der Finsternis und zerplatzte auf meiner Lippe. Die Tropfen gab es in viererlei Sorten. Dieser hier nervte. Er lief mir in die Nase und verursachte einen Niesreiz. Ich rotzte ihn wieder aus. Trotzdem nieste ich. Sechsundachtzig-tausendvierhundertund... Ein weiterer Tropfen fiel aus der Finsternis. Ich wußte nie, wann sie kamen. Dieser brannte. Er lief mir in die Nase und verbrühte mein zartes Nasenloch. Ich rotzte ihn aus. Das Brennen blieb, und ich wünschte, ich könnte niesen. Sechsundachtzig... nein, vierundachtzigtausendsechshundertundvier – oder war es fünf? Ich wartete darauf, daß der nächste Tropfen fiel. Ich wußte nie, wie schnell sie kamen. Manchmal brannten sie, manchmal waren sie eisig, manchmal ließen sie einfach ewig auf sich warten. Ich hatte versucht, sie anhand meines Herzschlags zeitlich einzuordnen, aber Cyrics Herz schlug nicht wirklich. Es pumpte und quoll unrhythmisch wie ein tanzender Amner. Ich fragte mich, wie mein eigenes Herz sein mochte, wenn ich es zurückerhielt. Ich fragte mich, ob ich es dann überhaupt ... Ein weiterer Tropfen zerplatzte auf meiner Lippe. Er lief mir in die Nase und kühlte die verbrannte Nasen-
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scheidewand. Ich rotzte ihn aus. Man kann tröpfchenweise ersaufen. Vierundacht-zigtausendundvierundsechzig. Ein weiterer Tropfen zerplatzte auf meiner Lippe. Sie kamen nicht regelmäßig. Dieser hier nervte. Er lief mir in die Nase und verursachte einen Niesreiz. Ich rotzte ihn wieder aus. Ich zählte die Tropfen, um die Zeit zu messen, um die Sekunden zu zählen und die Tage, damit ich wußte, wieviel Zeit mir noch blieb – Achttausend... einhundertvierundsechzig? Ich schrie. Dabei wäre ich fast an dem Lappen in meinem Mund erstickt; er wurde ja auch von einer Würgeschlinge an Ort und Stelle gehalten. Ich wartete darauf, daß der nächste Tropfen auf meiner Lippe zerplatzte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich schon bei achttausendeinhundertundvierundsechzig war oder bei acht-tausendsechshundertundvier oder ... »Malik? Bist du noch da?« Fzoul Chembryls Stimme grollte durch die Dunkelheit, und ich war fast blind vom flackernden Schein einer Fackel. Der hohe Tyrannar lachte. »Natürlich bist du da! Wo solltest du auch sonst sein?« Ein weiterer Tropfen zerplatzte auf meiner Lippe. Wieviel Zeit war vergangen? Das hier war ein kalter Tropfen. Er lief mir in die Nase und kitzelte meine Stirnhöhlen. Ich rotzte ihn aus. Hatte Cyrics Prozeß schon begonnen? Ein Tropfen alle zwei Sekunden wären dreißig in der Minute, dreihundert alle zehn Minuten, fast zweitausend pro Stunde.
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Sechsundachtzigtausendvierhundertundeins – oder waren es zwei? Ich öffnete die Augen und sah zwei verschwommene Umrisse über mir. Einer davon drehte am Hahn. Der andere löste den Riemen, der meinen Knebel hielt. Ein letzter Tropfen zerplatzte auf meiner Lippe. Er lief mir in die Nase, ich rotzte ihn aus und spie den Lappen aus. »Tausend Segen über deine Kinder!« Fzoul Chembryl kicherte. »Habe ich dir nicht gesagt, daß die Tropfenfolter seine Zunge lösen würde?« Der hohe Tyrannar tupfte mir das Gesicht trocken. Dabei verwendete er einen weichen Stofflappen, damit er nicht meine aufgesprungene Haut aufriß und zum Bluten brachte. Ich schob jeden Gedanken daran, ihn wieder zu verärgern, beiseite, sowohl aufgrund seiner immensen Freundlichkeit wie auch aus Angst, er könnte den Hahn wieder aufdrehen. Fzoul wischte den Tisch um meinen Kopf herum ab, bis er ebenso trocken war wie mein Gesicht. Dann wrang er den Lappen aus und breitete ihn sanft über meinen Intimbereich. Auch wenn mir bis zu diesem Moment kaum bewußt gewesen war, daß ich nackt war, erschien es mir als wahrhaft freundliche Geste. »Danke.« Fzoul Chembryl lächelte. »Du kannst mir danken, Malik, indem du den ersten Schritt wagst. Sag mir, wer dich geschickt hat.« Ich sagte nichts; wenn ich überhaupt gesprochen hätte, dann wäre die ganze Wahrheit aus mir hervorgeplatzt, und dann hätte ich den Einen niemals erretten können.
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»Komm schon, Malik.« Fzoul Chembryl nickte Thir zu, und sie begann, die Riemen zu lösen, die mich hielten. »Ich muß doch sicher gehen, daß du bereit bist, ehe ich dir die Wahrheit enthülle.« »Wirklich?« Ich rang nach Luft. »Du wirst mir die Wahrheit vorlesen – und dafür muß ich dir nur sagen, wer mich geschickt hat? Sonst nichts?« Fzoul Chembryls Schnauzbart streckte sich über einer perfekten Reihe weißer Zähne, und das Ergebnis wirkte weniger wie ein Lächeln als wie das Grinsen eines Schakals. »Das ist alles.« Thir war nun fertig damit, meine Fesseln zu lösen. Dankbar für den Luxus des Lappens, der meinen Schritt bedeckte, setzte ich mich auf. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich das Buch denn stehlen und entkommen sollte, sobald Fzoul erst einmal enthüllt hatte, wo es sich befand, aber das kümmerte mich nicht so sehr wie die Frage, wie ich den Einen denn dazu bringen würde, es zu lesen. Aber wenn mich mein Dienst am Einen eines gelehrt hatte, dann war es wohl die Kunst, einfach draufloszustürmen. Ich nickte Fzoul Chembryl zu. »Nun gut. Ich sage dir, wer mich geschickt hat, sonst nichts.« Ich wiederholte das zu meinem eigenen Nutzen, hoffte ich doch, es könne den Zauber der Herrin der Mysterien davon abhalten, mich mehr offenbaren zu lassen, als ich vorhatte. »Niemand hat mich geschickt. Ich bin auf eigene Faust hier.« »Lügner!« Thir gab mir eine schallende Ohrfeige und riß mir den Stoff weg. »Du kannst vor uns nichts verbergen. Ich habe selbst gesehen, wie dir Cyric erschien!« Ich ignorierte sie und blickte Fzoul an. »Er hat mir be-
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fohlen, die Cyrinishad zu finden. Du besitzt die Cyrinishad aber nicht. Ich weiß das, also hätte es keinen Sinn, sie hier zu suchen. Ich habe dir die Wahrheit darüber gesagt, wer mich geschickt hat, und nun mußt du mir die Wahrheit über den Einen vorlesen.« »Malik, was sollen wir nur mit dir machen?« Fzoul Chembryl ergriff meine Ketten und zerrte mich von der Folterbank herunter, dann zog er mich hinüber zu dem Aalbad. »Denkst du wirklich, du kannst mich anlügen?« »Aber ich lüge doch gar nicht!« Vor meinem geistigen Auge sah ich Thirs leeren Blick und ihre zuckenden Muskeln, nachdem sie nur ihren Arm in die Wanne hineingesteckt hatte, und ich dachte an die Höllenqualen, die ich unter der Tropfenfolter hatte erleiden müssen, und ich schrie: »Ich kann nicht lügen!« »Jedenfalls nicht gut.« Fzoul Chembryl warf mich in den Bottich, und ich fiel platschend ins warme Wasser. Etwas Großes, Schleimiges wickelte sich um mein Bein, und ein weiterer Aal schlitterte um meinen Arm, und dann wand sich ein besonders großes Exemplar um meinen Bauch, und einen Moment lang erinnerte mich das Ganze an eine Erfahrung, die ich einst in den Bädern des Kalifen gemacht hatte. Dann jedoch machte ich eine sehr unerquickliche Entdeckung: Man muß keine Schmerzen fühlen, um Schmerzen zu haben. Jeder Muskel meines Körpers krampfte sich um meine Knochen, und ohne Tyrs Schutz wären sie sicher allesamt gebrochen. Das Knirschen meiner zusammengebissenen Zähne hallte in meinem Kopf wider, und ich könnte schwören, daß tausendundeine
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eine Todesfee in meine Ohren kreischten. Mein Mund füllte sich mit dem Geschmack von Mandeln und meine Nase mit dem Geruch verbrannter Zwiebeln, und meine Augen verdrehten sich dermaßen in ihren Höhlen, daß ich imstande war, das Innere meines eigenen Schädels zu sehen. Unbestimmte Zeit später begann ich zu frösteln, obwohl mir warm war. Langsam dämmerte mir, daß ich ausgebreitet auf einem Steinboden lag, und hatte doch keine Ahnung, weshalb. Dann klärte sich mein Sichtfeld, und ich sah Fzoul im vollen Ornat seiner Priesterroben über mir aufragen. Er hielt eine Holzstange in Händen, und als ich den Metallhaken an deren einem Ende erblickte, von dem immer noch schleimiges Wasser triefte, und dann die Wanne neben mir erspähte, entsann ich mich all dessen, was sich zugetragen hatte. »Die Aale!« »Daran trägt niemand anders die Schuld als du ganz allein, Malik.« Fzoul kauerte sich neben mich und sah mir in die Augen. »Wie soll ich Iyachtu Xvim bitten, dich aufzunehmen, wenn du dich weigerst, dich zu reinigen?« »Mich aufzunehmen? Du willst, daß ...« Was ich da hörte, konnte ich kaum glauben, denn Iyachtu haßte Cyric ebensosehr, wie Eis das Feuer verabscheute. Ich versuchte, meinen Kopf klarzubekommen und schüttelte ihn; aber das einzige Ergebnis meiner Bemühungen war, daß ich das Wasser aus meinen Ohren bekam. »Du willst, daß ich konvertiere?« »Das ist deine Entscheidung. Aber die Alternative ...« Fzoul schüttelte den Kopf. »Laß es uns einfach dabei
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belassen, daß es für uns beide besser wäre, wenn du konvertierst.« Mein geschwächter Zustand ließ mich meine heilige Aufgabe vergessen. Ich entsann mich all der vielen Nöte, die man im Namen des Einen erdulden konnte, und erkannte, wie ich aus diesen Nöten entrinnen konnte, indem ich mich Iyachtu Xvim andiente, und ich bemerkte mir selbst gegenüber, daß Iyachtu Xvim mir weder einen Batzen Quark in die Brust gerammt noch gefordert hatte, ich solle das Unschaffbare vollbringen, und er hatte mir auch nicht mit ewiger Verdammnis gedroht, wenn ich versagte. Alles, was Iyachtu Xvim jemals getan hatte, war, mir Hoffnung auf ewige Erlösung zu machen. Ich fragte: »Was müßte ich denn tun, um zu konvertieren?« Da ballte sich meine Brust eiskalt zusammen, aber das ließ mich nur noch entschlossener werden. »Wie schnell könnte es geschehen?« »Sobald du gebeichtet hast.« Fzoul Chembryl lächelte. »Die Wahrheit wird deine Erlösung sein.« »Die Wahrheit? Ich habe dir die Wahrheit gesagt!« Liebend gern hätte ich ihm eine Lüge aufgetischt, die ihm besser gefallen hätte, aber Mystras Zauber verhinderte das. »Du hast mich ins Aalbad geschmissen!« »Ja, und jetzt mußt du mir verraten, warum dich Cyric hierhergeschickt hat.« »Er hat mich nicht hierhergeschickt! Der Eine hat sein eigenes Buch gelesen, und jetzt ist er so verrückt wie ein Schakal, der einen Koller hat! Er hält sich für ebenso mächtig wie Ao selbst und erwartet, daß alle Götter sich seinem Willen unterwerfen, und er verlangt, daß ich ihm die Cyrinishad aushändige, damit er das mit ihrer Hilfe
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bewerkstelligen kann!« Eine erdrückende Last senkte sich auf meine Brust, und ein Frösteln verbreitete sich in meinen Gliedern, und in meiner Narretei mehrte sich meine Entschlossenheit, Fzoul Chembryl von meiner Ehrlichkeit zu überzeugen, noch. Ich fuchtelte mit einer Hand über meinen weichlichen Leib. »Sieh mich an. Ich bin kein Held! Einst habe ich die Cyrinishad gefunden, und ich habe es nicht mal geschafft, sie aufzuheben, und das, obwohl mir der Eine gedroht hatte, mich Kelemvors Urteilsspruch zu überlassen, wenn ich versage.« Ich mußte kurz innehalten und Luft holen, denn meine Brust fühlte sich mittlerweile an, als wenn ein Kamel sich auf ihr niedergelassen hätte. »Vergib mir, o Quell der Gna-äh-Bosheit-äh-aaaiee!« Der Zauber der Herrin der Mysterien gestattete es mir nicht, die rechten kriecherischen Worte zu wählen. Ich ergriff den Saum von Fzouls Robe und küßte sie wie besessen, aber die Augen des hohen Tyrannars waren düster und zu Schlitzen verengt. Der Hüne hob mich vom Boden auf, als wäre ich ein leerer Sack, und er warf mich zurück in den Bottich. Das Kamel auf meiner Brust wurde zum Elefanten. Die riesigen Aale wanden sich um mich, aber diesmal verlor ich nicht auf der Stelle das Bewußtsein: Diesmal spürte ich, wie sie mich hinabzogen. Ich reckte mein Gesicht an die Oberfläche und rang nach Atem, ehe ich ein zweites Mal hinabgezogen wurde. Ich fühlte etwas Scharfes, Hartes an meinem Handgelenk; dann verdrehten sich meine Augen, und ich fühlte nichts mehr. Als ich erwachte, waren nur ein paar Sekunden ver-
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gangen, zumindest nahm ich das an, denn der hohe Tyrannar hatte eben erst meinen aufgeweichten Leib auf den Boden fallen lassen und zog gerade den Haken von der Kette zwischen meinen Handschellen zurück. Cyrics Herz fühlte sich immer noch an wie ein Elefant auf meiner Brust. Meine Muskeln zitterten, es klingelte in meinen Ohren, und mein Mund schmeckte nach Mandeln, meine Sicht hingegen war besser als nach dem ersten Tauchgang. Fzoul stieß mich mit dem Haken an. »Du schuldest mir ein Geständnis.« »Ich gestehe, daß du ein Sack voll Ausfluß bist, aus dem eitrigen Schließmuskel gepreßt, den Iyachtu Xvim seinen Mund nennt!« Er wollte die Wahrheit nicht hören; was für eine Wahl hatte ich dann noch, als zu meiner ersten Strategie zurückzukehren? »In der Zeit nach dem Jahr des Blutbads wird dein Gott im Palast der Ewigkeit die Nachttöpfe ausleeren, und du wirst die Latrinen putzen!« Das erdrückende Gewicht auf meinem Brustkorb verschwand auf der Stelle, und ich erkannte, wie blind ich doch gewesen sein mußte zu glauben, ich könne von irgendeinem anderen Gott als Cyric Erlösung erwarten. Er war der Gott meines Herzens, und für mich gab es nun einmal kein Schicksal als das, das er für mich vorgesehen hatte. Nur im Schatten seines Lichts konnte ich gedeihen und mußte in der Dunkelheit seines Untergangs vergehen! Wie dumm war ich doch gewesen zu glauben, ich könne meinem Schicksal entrinnen. Ich verfiel in einen Lachanfall, denn ich fühlte mich so tölpelhaft wie der
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Narr des Kalifen, und der hatte mich stets zum Lachen gebracht, bis es schmerzte. Fzoul fand das nicht lustig. Er beugte sich zu mir herab, griff nach meinen Handfesseln und hob mich an ihnen hoch. Dann sah er mir mit Mordgier im Blick in die Augen. »Weshalb versuchst du, mich wütend zu machen?« Sein Atem blies mir heiß ins Gesicht. »Hat Cyric deinen Geist schon so verdreht, daß du das hier genießt?« Mit diesen Worten schleuderte er mich zurück in den Bottich. Das Lachen erstarb sofort. Die schleimigen Dinger umschlangen mich, und schon wieder verbrannte mir diese grauenhafte Magie jede einzelne Sehne. Es klang in meinen Ohren, und durch meinen Schädel dröhnte das Knirschen meiner Zähne. Meine Muskeln krampften sich um mein Gebein, aber ich wurde nicht ohnmächtig. Das war weniger ein Segen, als es scheinen mag, denn außer jenem unkontrollierbaren Zittern war ich zu keiner Bewegung fähig. Die Aale zogen mich unter Wasser. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich die Bläschen von meiner Nase aufsteigen, und so lag ich minutenlang untergetaucht da, gelähmt und verzweifelt, reglos nach Luft ringend. Doch jedesmal, wenn mich die Atemnot übermannen wollte und ich den Mund öffnete, um Luft zu holen, stieß mein Kopf stets an die Oberfläche; durch Tyrs Gnade füllte sich meine Lunge mit Luft, und dann versank ich jedesmal wieder in Fzoul Chembryls ganz spezieller Hölle. Nachdem ich das vierte oder fünfte Mal aufgetaucht war, angelte Fzoul Chembryl sich meine Handschellen
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mit seinem Haken und fischte mich wieder heraus, stets selbst auf der Hut vor dem Bottich. Ich schaffte es, mich aufzurappeln, und als ich so hin- und herwankte, erspähte ich zwei neue Besucher in dieser Kammer des Schreckens. Eine der Personen war der alte Wächter, der mich am Stadttor um zwei Silbermünzen betrogen hatte. Die andere war eine schlanke Frau in einer dunklen Robe, das Gesicht hinter einem Schleier verborgen. »Sei gegrüßt, Malik«, sagte sie. »Du bist wirklich schwer zu fassen.« Meine Hände, zitternd und immer noch in Ketten, verirrten sich nach unten, um meine Blöße zu bedecken. »Laß mich! Das ist nicht deine Angelegenheit, Harfnerin!« »Harfnerin?« rief Fzoul Chembryl aus. Thir schnappte auch nach Luft, dann wandte sich der hohe Tyrannar an den Wächter. »Du hast eine Harfnerin in meinen Tempel gebracht?« »Sie hat nicht gesagt, daß sie Harfnerin ist!« Der Gardist ergriff Ruhas Arme. Die Hexe leistete keinen Widerstand, sondern musterte mich über ihren Schleier hinweg. »Nun, Malik – hast du gefunden, wonach du suchtest?« Thir hob eine Hand, um die Hexe mit einer Ohrfeige zum Schweigen zu bringen, aber Fzoul fiel ihr in den Arm. Ruha starrte mich weiter an. »Oder kamst du zu spät?« »Zu spät?« keuchte ich. Die Hexe nickte. »Cyrics Prozeß endete gestern.«
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Ruha täuschte mich – wie aber hätte ich das wissen sollen? Ich war sechsundachtzigtausend Tropfen lang auf eine Folterbank geschnallt und so oft in Aalbäder geworfen worden, daß meine Zähne surrten, und ich hatte nicht mal meinen eigenen Herzschlag, um mich daran zu orientieren. Ich ließ mich zu Boden sacken und schlug meinen Kopf gegen den Bottich. »Wenn der Prozeß um ist, bin ich verloren!« Ich dachte nicht einmal daran zu fragen, wie das Urteil ausgefallen war. Ich dachte einzig und allein an meine sechsundachtzigtausend Tropfen, mein Bad mit den Aalen und die Idiotie all meiner sinnlosen Leiden, und so warf ich mich Fzoul zu Füßen. »Ich werde dir alles sagen – aber bitte foltere mich nicht mehr!« Der hohe Tyrannar grinste hämisch und wandte sich dann an den Wächter. »Vielleicht solltest du jetzt gehen. Ich werde Thir vorbeischicken, wenn ich im Weiteren Verwendung für dich habe. Du kannst die Harfnerin hier lassen.« Der Gardist blickte über seine Entlassung düster drein, aber er übergab Ruha an Thir und verschwand durch den Tunnel, der als Tempeleingang diente. Erst als seine Schritte verklungen waren, drehte sich Fzoul wieder zu mir um. »Deine Beichte muß umfassend und wahrhaftig sein ...« »Gesegnet sei dein Name!« Ich wollte noch hinzufügen, daß er der gnädigste und weiseste aller Männer sei, aber diese Lüge brachte ich einfach nicht über die Lippen. »Was willst du wissen?« »Was ich schon die ganze Zeit wissen will. Wer hat dich geschickt und weshalb?«
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Ich stöhnte. »Wer hat dich geschickt und weshalb?« Der hohe Tyrannar hob mich an meinen Ketten hoch und zog mein Gesicht nah an das seine. »Du mußt mir die Wahrheit sagen, oder ich werde dir nicht helfen können.« »Ich bin auf eigene Faust hier.« Meine Antwort war zaghaft, denn ich wußte, daß der hohe Tyrannar nichts anderes glauben würde, als daß Cyric mich gesandt hatte, um ihn zu töten. »Niemand hat mich geschickt.« »Malik!« Fzoul schüttelte mich so kräftig, daß ich dachte, meine Ketten würden abfallen. »Ich werde deiner Spielchen langsam überdrüssig!« »I-i-ich bi-i-in hi-i-ier, u-u-um da-a-as Wahre Leeeben zu ste-e-ehlen!« meckerte ich. »Ich habe es doch gebraucht, um den Einen von seinem Irrsinn zu heilen ...« Fzouls Gesicht nahm die sattrote Färbung von Henna an, dann hob er mich hoch und hielt mich über den Bottich. »Ganz wie du willst!« »Halt!« schrie Ruha. Zum ersten Mal hatte ich nichts gegen die Einmischung der Hexe, wußte ich doch aus meinen Erfahrungen in Kerzenburg, daß sich ihr angesichts von Folter der Magen umdrehte. »Malik zu foltern wird nichts daran ändern.« Fzoul wirbelte zu ihr herum, wobei er mich an meinen Ketten gepackt hielt. »Was?« Wenn die Wut, die in Fzouls Stimme mitschwang, Ruha Angst gemacht haben sollte, dann hielt sie sie hinter ihrem Schleier verborgen. »Malik sagt die Wahrheit. Er will tatsächlich Das Wahre Leben dazu verwenden, Cyrics Wahnsinn zu heilen.«
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Das war mehr, als Fzoul Chembryl ertragen konnte. »Du auch noch? Genug der Lügen!« In seiner Wut schleuderte mich der hohe Tyrannar deutlich über den Bottich hinweg. Ich klatschte kopfüber gegen die Wand und stürzte mehr als eine Körperlänge hinab. Mein Kopf schlug mit einem fürchterlichen Krachen auf dem Boden auf, dann fühlte ich ein grausiges Rütteln in meinem Nacken, und ich bleibe als ungeordneter Haufen aus Ketten und nacktem Fleisch liegen. Ich hatte mich so an Tyrs Schutz gewöhnt, daß es mir kaum bemerkenswert erschien, einen solchen Sturz ohne gebrochenes Genick oder eingeschlagenen Schädel zu überleben. Ich rollte mich einfach nur auf Hände und Knie und ging dazu über, meinen Peiniger um Gnade anzuflehen – und in diesem Moment wurde mir schlagartig bewußt, daß Ruha mich getäuscht hatte. Der Prozeß gegen Cyric konnte noch gar nicht vorüber sein, denn ansonsten hätte der Unvoreingenommene mich nicht länger vor Schaden bewahrt. Ich spähte in Richtung Ruha, sah meinen Blick jedoch von der massigen Gestalt des hohen Tyrannars abgeblockt, der seine Aufmerksamkeit von mir auf Ruha verlagert hatte. Ich erhob mich und rasselte auf sie zu, um einen Blick auf die besserwisserische Hexe zu werfen. »Ihr seid eine verlogene Schweinebande!« Wenn diese Erkenntnis ein bißchen lange gebraucht hatte, um zu reifen, dann nur, weil ich in Fzouls Tempel all diese Qualen zu erleiden gehabt hatte; sonst bin ich nämlich immer außergewöhnlich scharfsinnig. »Du schwarzäugige Betrügerin ...« »Bitte keine Beleidigungen!« Fzoul Chembryl fuhr zu
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mir herum und machte eine piekende Geste mit Daumen und Zeigefinger, während er gleichzeitig den Namen Iyachtu Xvims aussprach. »Ich habe genug davon gehört!« Der hohe Tyrannar verdrehte sein Handgelenk, als wolle er mir die Zunge ausreißen, und als ich versuchte, ihm zu erklären, daß meine Beleidigungen nicht ihm galten, sondern Ruha, versagte mir meine Stimme ihren Dienst. Fzoul Chembryl fuhr sich mit den Händen durch sein langes Haar und ließ seinen Blick zwischen mir und Ruha hin und her wandern, dann schüttelte er angewidert den Kopf. Er nahm eine Kette mit Schlüsseln von seinem Hals und gab sie Thir. »Geh und hol Das Wahre Leben aus meiner Kammer.« Der hohe Tyrannar griff sich Ruhas Arm. »Das Opfer wird nicht so süß werden, wie ich es versprach, aber vielleicht wird die Neue Dunkelheit uns vergeben, wenn es dafür doppelt so reichhaltig ausfällt.« »Das Opfer?« Ruha probierte, sich loszureißen, aber Fzoul Chembryls Griff war zu fest. »Was meinst du mit ›Opfer?‹« Fzoul Chembryl hob sie hoch. »Was glaubst du denn?« Diese Unterhaltung bekam ich fast nicht mit, denn meine Ohren waren erfüllt vom Brodeln jenes geronnenen Klumpens in meiner Brust, meine Augen aber waren auf Thir gerichtet. Sie würde zu dem Buch gehen. Anstatt durch denselben Tunnel zu verschwinden wie der Wächter, nahm Thir eine Fackel von der Wand und machte sich auf den Weg zu jenen Gemächern. Ich sehnte mich danach, ihr zu folgen, aber selbst wenn Fzoul
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mich nicht aufhielte, machten mich die Ketten an meinen Füßen doch alles andere als flink und unauffällig. Dennoch glomm ein Fünkchen Hoffnung in meiner Brust auf. Hinter mir schrie Ruha, als sie ins Aalbad platschte. Ich hielt meinen Blick starr auf Thir gerichtet. Sie blieb auf der anderen Seite des Altars stehen und steckte ihre Fackel in eine leere Wandhalterung, dann nahm sie die Schlüssel und führte sie zur Wand. Eine Luke in der Decke klappte auf, und sie faßte hinein, um eine Rolleiter herunterzuziehen. »Du hast genug gesehen, Malik!« Fzoul fing meinen Hals mit dem Haken an der Holzstange und zerrte mich Richtung Kupferwanne. »Oder hast du etwa ein Problem damit, gemeinsam mit Ruha ein Bad zu nehmen?« Ich öffnete den Mund, um ihm zu versichern, daß ich das natürlich nicht hatte, doch es erklang kein einziger Ton; er hatte mir meine Stimme genommen. So schüttelte ich nur den Kopf. Fzoul Chembryl lachte schallend. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem schäumenden Wasser in der Aalwanne zu und verwendete den hölzernen Haken dazu, Ruha am Kopf aus dem Wasser zu fischen. Der Schleier war von ihr abgefallen, aber sie bot keinen hübschen Anblick. Sie hatte sich auf die Zunge gebissen, ihre Zähne waren blutig und aufeinandergepreßt, und ihre Augen waren so verdreht, daß man nur noch das Weiße darin sehen konnte. Für mich hingegen war es ein wunderschönes Bild, denn die Hexe war bewußtlos, genau wie ich, als ich das erste Mal in diesem Bottich gelegen hatte. Der Funken Hoffnung in mir wuchs langsam.
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Fzoul drückte Ruha zurück in die Wanne und sah zu, wie sie sich darin hin und her warf. Ich wartete. Cyrics Herz brodelte wie wild, als könne es den Verrat spüren, den zu begehen ich im Begriff war. Bis Thir endlich, einen großen ledergebundenen Folianten im Arm, an die Seite ihres Herren zurückkehrte, war der Spaß für Fzoul schon lange zu Ende. Er hakte Ruha mit seiner Stange unter dem Arm ein und trat vom Rand der Wanne zurück, und so zog er die bewußtlose Hexe halb aus dem Wasser. Ich duckte mich unter dem Stab hindurch und hieb die Unterarme ins Wasser. Auf der Stelle umschlangen zwei Aale meine Handgelenke, ein furchtbarer Ruck erfaßte meine Arme, und meine Finger krallten sich in das schleimige Fleisch der Tiere. Die Ellenbogen versteiften sich mir, meine Zähne bissen krampfhaft aufeinander, und der Geschmack von Mandeln erfüllte meinen Mund – aber ich blieb bei Bewußtsein. »Malik!« bellte Fzoul Chembryl. »Was tust du da?« Die Aale immer noch in Händen riß ich meine Arme aus dem Bottich. Den ersten schleuderte ich auf Thir und traf sie voll im Gesicht. Fackel und Buch sowie Fzouls Schlüsselbund entglitten ihrer Hand, und ihr Mund war wie zum Schrei weit aufgerissen – doch kein Laut entrang sich ihrer Kehle. Thirs Knie gaben unter ihr nach, und noch ehe sie auf dem Boden aufschlug, schwenkte ich schon auf Fzoul zu. Der hohe Tyrannar ließ seine Stange fallen, und Ruha blieb über dem Rand der Wanne hängen. Mein Arm schwang weiter, und der Aal traf ihn in der Seite. Er wurde stocksteif und fiel der Länge nach hin, wobei er
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sich die Nase brach. Blut spritzte über die Steine. Ich schüttelte meine Handfesseln über seinem Körper, bis die Aale mich losließen und sich um seine Glieder legten. Thir stöhnte und begann, sich aufzurappeln. Da ließ ich meine Hände noch einmal in den Bottich gleiten und holte zwei weitere Aale heraus, die ich lose über ihren Körper warf. Sie verstummte sofort. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange die Aale wohl außerhalb des Wassers überleben konnten, aber aus eigener leidlicher Erfahrung wußte ich, daß selbst ein einzelner Stromstoß Fzoul und Thir zu minutenlanger Bewegungslosigkeit erstarren lassen würde. Ich drehte mich um und sah, daß Ruha immer noch über dem Rand des Bottichs hing. Ihr Zucken verriet mir, daß in der Wanne noch mindestens ein Aal um ihr Bein gewunden war. Nach all den Strapazen, die ich ihr zu verdanken hatte, hätte ich sie hineinschieben und ersaufen lassen sollen, aber wir haben ein Sprichwort in Calimshan: »Der Feind meines Feindes ist mein Freund.« Also entschloß ich mich, Ruha genau so weiterhin in dem Bottich liegen zu lassen, in der sicheren Erwartung, daß Fzoul und Thir, wenn sie erwachten und sahen, daß ich weg war, sie auf noch grausamere Art und Weise foltern würden, als ich es hatte erleben dürfen. Ich griff mir das Buch vom Boden direkt neben Thirs zuckenden Gliedern. Es war eine immense Blättersammlung, in schwarzes Leder gebunden und mit Dutzenden schwarzer Sonnen und grinsender Totenköpfe versehen, die einen der heiligen strahlenumkränzten Totenschädel umgaben. Die Verzierungen wirkten ungewöhnlich für eines von Oghmas Büchern, aber Rinda hatte in ihren
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Aufzeichnungen ja dargelegt, dieser Zierrat sei nötig gewesen, damit Fzoul den Band an Cyrics Priesterschaft vorbeischmuggeln konnte. Aber da ich ja irgendwie die dumme Angewohnheit besaß, immer genau das falsche Buch zu stehlen, schlug ich diesmal den Einband auf, um sicherzugehen, daß dies hier das richtige war. Wie erhofft waren die ersten Seiten leer. Als ungeübter Erzähler, der nicht in der Lage war, einen Satz über dreißig oder vierzig Zeilen auszudehnen, hatte Oghma eine Version des Lebens des Einen verfaßt, die ebenso kurz wie gelogen war. Um nun Das Wahre Leben der Cyrinishad möglichst ähnlich sehen zu lassen, hatte Rinda die erste Hälfte mit leeren Seiten aufgefüllt. In meinen Händen lag nun jener Gegenstand, um den sich meine heilige Pilgerfahrt drehte, jenes Relikt, um dessentwillen ich so viel über mich hatte ergehen lassen: Das Wahre Leben!
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Ich hätte Cyric direkt vor dem Altar und dem Zeichen Iyachtu Xvims sofort herabbeschwören und versuchen können, seinen Wahnsinn auf der Stelle zu heilen. Aber eine solche Beleidigung des Eigentümers dieses Tempels wäre nicht unbemerkt geblieben. Der Göttersohn Tyrannos’ verachtete unseren finsteren Herrn, und obgleich Xvims Macht im Vergleich zu Cyrics verblaßte, bleibt ein Gott immer noch ein Gott, und ein zorniger Gott ist sogar noch schlimmer. Auf eine solche Verkomplizierung der Lage konnte ich gut verzichten, denn selbst unter günstigsten Bedingungen würde es auch so schon schwer genug werden, den Einen dazu zu bringen, Oghmas Buch zu lesen. Ich griff mir Fzouls Schlüssel vom Boden und entledigte mich meiner Handschellen und der Fußketten, stahl aber keine Gewänder, um meine Blöße zu bedecken, da ich nicht mit den Aalen in Berührung kommen mochte, die sich um meine Feinde schlangen. Ich ließ Ruha in der Wanne zucken und Fzoul und Thir sich auf dem Boden umherwälzen, löschte alle Fackeln im Raum bis auf eine, die mir den Weg leuchten sollte, und wandte mich dann dem Durchgang zu, durch den der Bewacher der Hexe den Tempel verlassen hatte.
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Ich hatte gerade einmal die ersten Schritte in dem Tunnel zurückgelegt, da drangen entfernte Gesänge und der Hall von nahenden Schritten an mein Ohr. Obgleich Xvims Anhänger allesamt Narren in ihrem Glauben waren, waren die meisten unter ihnen doch schlau genug, um einen nackten Mann mit einem Buch unterm Arm, das dem Wahren Leben ähnelte, aufzuhalten. Sofort zog ich mich zu der Leiter zurück, die Thir von der Decke herabgezogen hatte, und stieg in den felsigen Tunnel hinauf, der zu den Gemächern des hohen Tyrannars führte. In der Tat kein leichtes Unterfangen. Ich mußte Das Wahre Leben in den Armbeugen tragen und die Sprossen mit der einen Hand greifen, während ich die Fackel in der anderen hielt. Mehrfach rutschte ich ab und mußte den Arm in der Leiter verhaken, wobei ich der Fackel jedesmal so nahe kam, daß ich mir das Haar auf der einen Seite meines Kopfes vollkommen versengte. Tyrs Schutz bewahrte mein Gesicht vor den furchtbarsten Verbrennungen. Bald hatte ich das Ende des Schachtes erreicht und schob meinen Kopf in einen finsteren, muffig riechenden Raum. Meine flackernde Fackel ließ eine Kammer mit steinernen Wänden und grob behauenen Bodendielen erkennen. Es gab ein Bett, einen Schreibtisch, und in der Dunkelheit lauerten noch ein paar weitere Möbel. Das einzige Geräusch hier war das Prasseln meiner Fackel, und der Raum war von einer bleiernen Kälte erfüllt, wie es ganz typisch ist für Orte, an die niemals das Tageslicht dringt. Ich legte Das Wahre Leben beiseite, hievte mich auf den Boden und stand dann auf, um mir eine
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Tür zu suchen. Zu meiner Bestürzung konnte ich jedoch keine erblicken. Direkt hinter dem Schreibtisch lag zwar ein alter Durchgang, aber dieser war zugemauert. Ich warf einen Blick zurück auf die Leiter und fragte mich, ob ich nicht einfach springen und mein Glück in dem anderen Durchgang versuchen sollte, aber da war ja immer noch das Problem der Tempelwächter. Dann begann unten in der Kammer Fzoul leise zu stöhnen. Gleich, ob die Aale von ihm abgefallen oder aufgrund des Wassermangels gestorben waren, jetzt war es zu spät, um umzukehren. Ich schloß die Falltüre und sicherte sie mit einem Riegel, und ohne einen Gedanken an meine Nacktheit zu verschwenden – denn sind wir nicht alle nackt, im Angesicht der Götter? – öffnete ich sodann meinen Mund und rief, »Cyric, Einer und Einziger!« Nicht der geringste Laut drang an mein Ohr. Das Nächste, was ich von mir gab, war ebenso stumm, wenn auch von weitaus profanerer Natur. Da hatte ich doch glatt den Zauber vergessen, den Fzoul Chembryl auf mich gewirkt hatte, um mich zum Schweigen zu bringen. Das Herz wurde mir schwer. Wie sollte ich den Einen herbeirufen, wenn ich keine Stimme besaß? Ich fiel auf die Knie und faltete die Hände vor meinem Bauch. Sicher würde Cyric meine stillen Gebete erhören – schließlich war er ein Gott! Cyric, Herr des Mordes, Säer der Zwietracht! Nichts geschah, außer daß Fzouls Stöhnen lauter wurde. Eine Welle der Wut stieg in mir auf. Mit wel-
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chem Recht hatten die Schicksalshexen sich für mich interessiert und ihre Gunst gegen mich gerichtet, gegen mich, einen hilflosen Sterblichen, einen Floh in den Angelegenheiten der Götter? Auf der Suche nach etwas, womit ich den Einen auf mich aufmerksam machen konnte, begann ich, in dem Zimmer herumzustöbern, und dabei entdeckte ich eine Kiste voller Kleidungsstücke, aber ich gab mich kaum damit ab, sie auch nur flüchtig durchzusehen. Selbst wenn die Gewänder nicht zu groß gewesen wären, war jetzt wirklich nicht die Zeit, wählerisch zu sein! Wieder stöhnte Fzoul auf, und dann stöhnte auch die Hexe. Das machte mir wieder ein wenig Hoffnung; wenn Fzoul wieder zur Besinnung kam, dann würde sie ihn wenigstens ein zwei Augenblicke lang beschäftigen. Ich schlurfte zum Schreibtisch hinüber und fand auf ihm neben einem Bogen Pergament eine Schreibfeder und ein Tintenfaß. Auf dem Pergament lag ein Dolch mit einem ebenhölzernen Griff in Form von Iyachtu Xvims Symbol der Hand mit dem Auge. Ich fegte den ekelerregenden Talisman beiseite und schob meine Fackel in eine Wandhalterung, dann tunkte ich die Feder in das Fäßchen und kritzelte eine Nachricht auf das noch jungfräuliche Pergament: Cyric, der Eine und Einzige! Fzouls Stimme dröhnte durch die Falltür. Er rief nach Thir und schwor mir Rache. Ruha antwortete etwas, und Thir begann nun auch zu stöhnen. Ich durchforstete die finsteren Winkel des Raumes nach der teuflischen Gestalt des Einen, sah aber nichts als Finsternis und Schatten. Ich hätte seinen Namen mit meinem eigenen Blut niedergeschrieben, wenn es denn
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möglich gewesen wäre, aber dank Tyr blutete ich nicht mehr. Noch einmal tauchte ich die Feder in die Tinte und schrieb: Cyric, Höchster der Hohen – ich tauchte sie noch einmal ein, Herr der Drei Kronen! Währenddessen ließ ich diese Worte durch meinen Kopf hallen, schrie sie auf die einzige mir zu Gebote stehende Art und Weise. Die Kammer lag ebenso still da wie zuvor, und Cyrics Herz erfüllte meine Brust mit kaltem Feuer. Fzoul und Ruha schrien; ich konnte nicht verstehen, was sie da riefen, aber eine Menge Schläge und schallendes Klatschen vibrierten durch die Luke herauf. Ich fühlte eine furchtbare Niedergeschlagenheit über mich hereinbrechen, aber ich mochte einfach nicht glauben, daß mich das Schicksal so weit hatte kommen lassen, nur um mich jetzt zu verlassen. Ich griff nach der Fackel und lief die Wände der Kammer ab. Dort suchte ich nun nach einem kleinen Durchgang, der mir bisher entgangen war. Wenn ich entkommen konnte, würde ich in den Ruinen Zuflucht suchen, bis der Zauber des hohen Tyrannars von mir abfiel, und dann würde ich zu dem Einen hinaufbrüllen, bis ich von dem Schreien ganz heiser wäre. Es stellte sich heraus, daß der einzige Ausgang in der Tat die zugemauerte Tür hinter dem Schreibtisch war. Ein Blick Richtung Decke vertrieb jeden Gedanken daran, dort entlang entkommen zu können, denn die Dachsparren bogen sich unter irgendeinem schweren Gewicht, und meine Brust brannte, als hätte ich Essig geschluckt. Ruha schrie auf und verstummte abrupt, dann begann der hohe Tyrannar, in einer geheimnisvollen Sprache zu singen. Er hatte die Hexe unter Kontrolle und bereitete
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sich nun darauf vor, mich zu finden. Um mich zu verteidigen, ging ich zum Tisch zurück und griff mir den Dolch. In dem Augenblick, da ich das Heft berührte, fiel mir eine Möglichkeit ein, in den Genuß der vollen Aufmerksamkeit des Einen zu kommen. Ich schob die Fackel wieder zurück in die Halterung und preßte mir das ebenhölzerne Heft direkt über das Herz des Einen in meiner Brust. Die geronnene Masse ballte sich zu einem Knoten aus kalter, sengender Wut zusammen, die gleichermaßen furchtbar und unwirklich war. Ein Schwall Galle sprudelte hoch und verätzte mir die Kehle, als brächte schon die kleinste Berührung von Xvims heiligem Symbol das faulige Herz des Einen zum Bersten. Ich glaubte, mein Brustkorb müsse bersten. Ich fiel rückwärts auf den Tisch und konnte nur noch den Dolch auf meine Brust gedrückt halten. »Malik!« schrien die tausend Stimmen des Einen. »Was tust du da?« Ehe ich meine Hand heben konnte, packte Cyric mich schon am Hals und riß mich vom Tisch hoch. Er hielt mich vor sein Knochengesicht und richtete diese beiden schwarzflammenden Sonnen auf meine blanke Brust, und erst jetzt wurde mir wirklich klar, daß ich Iyachtu Xvims Dolch mit seinem heiligen Symbol über sein Herz hielt. Ich öffnete die Hände und ließ den Dolch klirrend zu Boden fallen, und da wurde der Schmerz in meiner Brust auch schon erträglicher. »Also, Malik? Hast du mich etwa verraten?« Er trat auf den Ebenholzgriff und zermalmte ihn unter seinem
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Knochenabsatz zu Staub, was solch ein Grollen hervorrief, daß ich Fzoul erstaunt aufschreien hörte. »Du mußt es nur bestreiten – ich weiß ja, du kannst nicht lügen.« Nein! Meine Lippen formten das Wort, aber kein Laut erklang. »Du bestreitest es nicht?« Cyrics Griff wurde fester, und nur Tyrs schützende Hand ließ meinen Kopf auf den Schultern bleiben. »Auch du? Erst verrät mich Tempus, dann Tabs und Shar, dann Tyr, und jetzt du auch noch? Treuloser Hund!« Der Eine warf mich gegen das Bücherregal, das unter dem Aufprall meines breiigen Körpers zersplitterte. Inmitten einer Kaskade von Büchern fiel ich zu Boden, und als ich dann aufblickte, sah ich Cyric durchs Zimmer stampfen. Mit jedem seiner Schritte erbebte die Kammer, und Dampf und Staub rieselten von der Decke. »Du glaubst, der Richtspruch wird gegen mich ergehen?« Cyric fegte Fzouls Bett mit einem Fußtritt beiseite, ohne mir auch nur den Hauch einer Chance zu geben, den Kopf zu schütteln. »Du denkst, Iyachtu Xvim wird dich auf der Fugenebene erhören? Wie kannst du so ein Narr sein?« Über seinem Kopf brach ein Balken entzwei, aber Cyric schien es überhaupt nicht zu bemerken. »Als die Hure aus Helms Kerker entkam, hat sie ihren eigenen Untergang besiegelt – und den des Thronräubers auch!« Er hob seine Knochenkrallen und krümmte die Skelettfinger. »Wenn die Lügen der Herrin der Mysterien erst einmal nicht mehr durch den Pavillon geistern, habe ich den Rat in meiner Gewalt. Sie werden vor mir knien. Werden mir die Füße küssen, mich um Gnade anflehen
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...« Diese Worte erfüllten mich mit derselben ausgehöhlten Übelkeit, wie damals, als ich Cyric sie zum ersten Mal aussprechen hörte. Seine Vision erwuchs aus seinem Wahnsinn, denn selbst ich wußte, daß die Götter eher Faerûn einebnen würden, als vor dem Einen in die Knie zu gehen. Ich raffte mich auf und kroch über den Boden auf Das Wahre Leben zu, das ich direkt neben der Luke hatte liegen lassen. Cyric griff mich, riß mich hoch und schüttelte mich wie ein Mungo eine Schlange. »Du wirst den Tag, da du mich verraten hast, noch verfluchen, Malik!« Der Eine katapultierte mich gegen eine Wand, ein gewaltiges Grollen erschütterte die Kammer, ein weiteres lautes Knacken erklang von den Deckenbalken, und ein stetes Rinnsal von Staub und Holzsplittern regnete auf meinen Kopf herab. »Glaubst du, ich fürchte den Prozeß? Ich begrüße ihn! Der Tag, da ich an Aos Seite stehen werde, ist nah, und alle andern werden uns als Brüder ansehen!« Ich rappelte mich hoch und stürzte mich auf Das Wahre Leben. Cyric aber schnappte sich meinen Knöchel und stoppte mich unsanft. Ich schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf, aber meine Hingabe an den Einen war zu groß, als daß ich mich jetzt von ihm aufhalten lassen konnte. Ich streckte die Hand aus, bekam eine Ecke des Buches in die Finger und zog es zu mir. Als der Eine und Allmächtige mich über die Bretter zurückzerrte, klappte ich den Deckel auf und begann, die leeren Seiten durchzublättern. Rinda hatte geschrieben, daß der, der auch
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nur das erste Wort las, nicht mehr zu lesen aufhören konnte, bis er nicht die gesamte Chronik durchgegangen war; wenn ich bloß herumwirbeln und dem Einen die erste Seite vors Gesicht halten konnte, würden Oghmas schmutzige Worte den Rest erledigen. Sobald Cyric das Buch sah, hörte er auf zu ziehen. »Was haben wir denn da?« Der Band war etwa zu einem Drittel aufgeschlagen, und das Pergament war immer noch leer. Der Eine riß es aus meinen Händen, klappte es zu und sah sich prüfend die um den strahlengekrönten Schädel herum eingravierten schwarzen Sonnen und Totenköpfe an. Dann drehte er den Band herum, und wollte den Buchrücken inspizieren, und sein fauliges Herz brauste mir dermaßen nervös in den Ohren, daß ich ihn kaum fragen hörte: »Malik, was ist denn das?« Natürlich konnte ich nicht antworten. Statt dessen setzte ich mich auf und streckte die Hände nach dem Buch aus, denn ich beabsichtigte, es am Anfang von Oghmas Geschichte aufzuschlagen. So niederträchtig es auch war, ich mußte dafür sorgen, daß der Eine den Bericht noch vor dem Prozeß las. Cyric riß mir das Buch weg. »Ist das das Buch, um dessentwillen du hierher gekommen bist?« Aus Angst, Mystras Magie könnte Fzouls Zauber vertreiben und mich mit der ganzen Wahrheit herausplatzen lassen, gab ich nicht einmal ein Nicken von mir. »Du sagst ja gar nichts«, bemerkte Cyric. »Genau wie vor Tagen, als du auf deine Mission aufbrachst.« Die schwarzen Kugeln unter der Stirn des Einen flammten auf, und er stolperte bis zur Wand zurück und
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ließ sich dann zwischen den Überresten des zertrümmerten Bücherregals nieder. Die verbogenen Balken beklagten sich mit unheilvollem Knacken, er aber überhörte es. Was sollte es ihn auch kümmern? Diese Dinge waren Sterblichen wie mir viel wichtiger als jemandem wie ihm. »Es ähnelt der Cyrinishad überhaupt nicht, aber wie könnte es auch anders sein? Die Magie des Fürsten des Wissens würde es unmöglich machen ...« Cyric ließ den Gedanken abreißen, dann sah er mich an. »Bist du mir immer noch treu ergeben?« Ich nickte eifrig, denn das war wahr wie eh und je. Cyric ließ seinen knochigen Unterkiefer in der Karikatur eines Lächelns herabsinken, dann öffnete er das Buch auf der ersten Seite. »Leer!« Ein dicker Knoten bildete sich in meinem Magen, und ich betete zu Tymora, er möge es bis zu den hinteren Seiten durchblättern. Statt dessen blätterte Cyric die Seite nur zum nächsten Pergament um, dann zum nächsten, eine Seite nach der anderen. »Alle leer – aber wie sollten sie mir auch sonst erscheinen? Die Magie des Fürsten des Wissens wirkt immer noch. Könnte ich das Buch lesen, wüßte ich, was ich in Händen halte.« Er drehte den Band am Rand herum und schüttelte den Sand heraus, der von der Decke auf seine Seiten gefallen war. »Du hast den Prozeß für mich entschieden! Wenn du das hier bei der Verhandlung vorträgst, wird sich selbst Oghma vor meiner Pracht verneigen!« Bei der Verhandlung? Ich mußte den Wahnsinn des Einen noch vor dem Prozeß heilen, oder er würde lediglich seine Mitgötter verärgern und damit sicherstellen,
daß das Urteil gegen ihn schlimm ausfiel. Ich schüttelte den Kopf und rief ein stummes Nein! Behutsam klappte Cyric den Band zu. »Wir müssen was wegen deiner Stimme unternehmen. Der Prozeß beginnt in einer Stunde.« Ich klopfte auf den Boden, spreizte meine Hände, als seien sie ein offenes Buch, und warf dem Einen dann flehentliche Blicke zu. »Wir haben jetzt keine Zeit für so etwas.« Cyric erhob sich und streckte mir seine Skeletthand entgegen. »Komm, Malik. Du darfst dich in meinem Schatten sonnen.«
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Mystra erschien im Tempel Iyachtu Xvims und sah Ruha mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem schwarzen Altar liegen, wobei ihre Glieder von straff gespannten Seilen über die Ränder des Altars gezogen wurden. Über Ruha stand Fzoul Chembryl mit einer verzerrten Maske über dem Gesicht, der Haßhaube, und fuchtelte mit einem schmalen Häutungsmesser herum. Seine Stimme intonierte tief dröhnend eine Art Grabgesang, während seine Getreuen in den Chor einstimmten und um die ebenholzfarbene, in den Boden gearbeitete Hand herumtanzten. In ihrer Mitte schlängelte sich eine Schattensäule mit leuchtendgrünen Augen und einem Heiligenschein aus beißendem, schwarzem Qualm empor. All dies erfaßte Mystra innerhalb eines Augenblicks und ragte urplötzlich hoch neben Fzoul auf. Er schrie auf und wirbelte, die Waffe zum Stoß erhoben, zu ihr herum. Schneller, als daß ein menschliches Auge der Bewegung hätte folgen können, fing Mystra den Unterarm des hohen Tyrannars in der Luft ab und hob ihn in die Höhe. »Wag es nicht!« Fzoul Chembryls Mund stand offen. Der Chor verstummte, und allein die Schattensäule bewegte sich noch
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weiter. Mystra entwand dem Griff des hohen Tyrannars das Messer, dann schloß sich ihre riesige Faust darum, und der Dolch schmolz und fiel tropfenweise zu Boden. »Dies ist kein guter Zeitpunkt, um mich wütend zu machen. Ich bin in Eile.« Der grünäugige Schatten flackerte wie eine Flamme und fauchte: »Das solltest du auch sein, Gewebehexe! Verlaß auf der Stelle meinen Tempel!« »Oder was?« Der Blick der Herrin der Mysterien fiel auf Xvim. Die Säule schrumpfte zusammen, die Stimme aber verlor nichts von ihrer Schärfe. »Oder ich hole den Beobachter.« »Schon bald, Iyachtu.« Ohne ihren Blick von Xvims nebulösem Avatar zu lösen, schleuderte Mystra Fzoul Chembryl mit einer beiläufigen Geste fort. »Bis dahin schweig – oder ich muß dich direkt hier vor deinen Gläubigen blamieren.« Iyachtus Anhänger schnappten angesichts dieses Sakrilegs nach Luft und zogen sich zurück, denn sie fürchteten, ein Kampf der Götter könne entbrennen. Aber die Neue Dunkelheit wußte es besser, als sich mit einer so mächtigen Göttin anzulegen. Er vermochte nichts weiter zu tun, um seinem Ärger Luft zu machen, als den Raum mit dem Gestank Gehennas zu erfüllen. Mit einem Wedeln ihrer Hand vertrieb sie die schlechte Luft und schickte Iyachtu mitsamt seinem Mief zurück an den Ort, von dem sie gekommen waren. Fzouls Anhänger preschten zu den Ausgängen, und sogar der hohe Tyrannar höchstselbst zog sich in einen dunkle Ecke zurück.
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Die Herrin der Mysterien wandte ihre Aufmerksamkeit nun Ruha zu, deren Haut unter dem Opfergewand blaß und klamm wirkte. Der flache Atem der Hexe verriet ihre Schmerzen angesichts der ausgekugelten Gelenke. Noch immer zuckten ihre Muskeln von ihrem Bad mit den Aalen, und ihre rot angeschwollene Wange und die Veilchen um ihre Augen legten beredtes Zeugnis von dem Kampf ab, den sie Fzoul geliefert hatte, bevor man sie dingfest machen konnte. All dem zum Trotz hatte sie ihren gewohnt stoischen Gesichtsausdruck beibehalten. »Göttin«, schnappte sie. »Endlich ... bist du da!« Mystra machte keinerlei Anstalten, die Hexe zu befreien. »Danke mir nicht zu früh. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob der Grund meines Besuchs in der Zentilfeste deine Rettung einschließt – ich habe den Vulkan im Sturmhorngebirge noch nicht vergessen.« »Ich bin nicht wichtig«, sagte die Hexe. »Malik ist entwischt!« Der Blick der Herrin der Mysterien umwölkte sich. »Du sagtest, die Cyrinishad sei sicher.« »Das ist die Cyrinishad auch! Er kam hierher, um Das Wahre Leben zu entwenden.« Die Harfnerin zerrte an ihren Fesseln. »Dieser kleine Skorpion ist ebenso verrückt wie sein Gott. Er gedenkt, den Irrsinn des finsteren Gottes zu heilen!« »Wie bitte?« »Es könnte schon zu spät sein.« Ruha deutete mit dem Kinn in Richtung der Zimmerdecke und stieß dann hervor: »Cyric war dort oben ... ich habe gehört, wie Fzoul das seinem Gott sagte.« Mystra warf einen Blick in die dunkle Ecke, in der
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sich der hohe Tyrannar versteckte. »Ist das so?« Fzoul nickte. »Ich weiß nicht, was er damit vorhatte, aber dieses faulzähnige kleine Ferkel hat mir Das Wahre Leben gestohlen und ist dann in meine Privatgemächer hinaufgestiegen.« Der hohe Tyrannar sprach mit einer gleichermaßen trotzigen wie furchterfüllten Stimme, wobei er besonders darauf bedacht schien, einerseits Xvims haßerfülltes Wesen mitschwingen zu lassen und Mystra andererseits auch nicht zu erzürnen. »Dann hörte ich Cyric reden. Er hatte tausend Stimmen, und jede einzelne von ihnen klang verrückt.« Diese Neuigkeiten bestürzten Mystra so sehr, daß ihr Avatar auf die Größe einer gewöhnlichen Frau zusammenschrumpfte. Das war der schlimmste von allen Rückschlägen, die sie in den vergangenen paar Tagen erleiden mußte – Adons Tod, Talos’ Verschwörung zur Bekehrung ihrer Anhänger, ja selbst Kelem-vors Verrat mit inbegriffen. Ein geistig gesunder Cyric wäre in der Lage, bei der Verhandlung ein günstiges Urteil einzustreichen und wieder seine Verderbtheit in der Welt zu verbreiten. Darüber hinaus schien es jetzt, da der Fürst der Toten mit seinen »Revisionen« zu beschäftigt war, um ihr zu helfen, die Fürsprache der anderen Götter zu gewinnen, wahrscheinlicher denn je, daß der Rat sie und Kelemvor für schuldig befinden und darauf bestehen würde, daß sie beide ihrer göttlichen Kräfte beraubt würden. Mystra schüttelte angewidert den Kopf, zum einen über den Prozeß selbst, zum anderen aber auch über Kelemvors seltsame Bereitschaft zu glauben, die Anklage könne berechtigt sein. Wenn sie die Sterblichen Faerûns
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nicht beschützten, wer dann? Die Göttin schickte ihren Avatar aus, um die zerschmetterte Feste zu beobachten, und sah dort, daß Cyric jeden Eingang versiegelt und Avatare um die Umfriedung herum postiert hatte. Da sie keinen Grund sah, warum er solche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollte, als daß er das Buch bereits gelesen hatte und nun einen besonderen Winkelzug für den Prozeß vorbereitete, gab sie ihr Vorhaben, ihm Das Wahre Leben wieder wegzunehmen, bevor er es lesen konnte, auf. All dies dauerte nur einen Augenblick, und es gab nur eine kurze Unterbrechung, bevor Fzoul zu drängen wagte: »Vielleicht solltest du jetzt gehen, Göttin. Iyachtu Xvim ist bereits jetzt, da wir hier sprechen, auf der Suche nach dem Beobachter.« Die Herrin der Mysterien überhörte die Warnung und setzte ihr Gespräch mit Ruha fort. »Ich habe wenig Zeit, also werde ich dich ganz direkt fragen. Wie hat Talos dich überredet, mich zu verraten?« Ruha senkte verschämt den Blick. »Ich hätte es besser wissen sollen ... aber nach alldem, was Malik in Kerzenburg getan hatte, war es leicht zu glauben, daß du ihn durch mich um jeden Preis fangen lassen wolltest.« »Ich?« »Ja. Als deutlich wurde, daß ich Malik niemals einholen würde, gabst du ... oder jemand, der aussah wie du ... mir die Magie, die mir helfen sollte, an ihm dranzubleiben, und befahlst mir, sie anzuwenden, gleich, wie verheerend sie sich auch auswirken mochte.« »Dann hat dich Talos getäuscht?« Mystra klang mehr erleichtert als wütend, denn jeder Beweis für Talos’ Wir-
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ken würde ihre Flucht aus Helms Gewahrsam ein Stückweit rechtfertigen. »Er hat meine Gestalt angenommen und meine eigenen Anhänger dazu mißbraucht, meine Macht über das Gewebe zu untergraben!« Mystra machte sich daran, Ruha zu befreien, und zerriß dabei die straffgespannten Seile, als seien sie nur Fäden. Fzoul hob an, sich gegen den Diebstahl des seinem Gott zugedachten Opfers zu verwahren, dann überlegte er es sich noch einmal und schwieg lieber im Vertrauen darauf, daß Helm schon bald eintreffen und die Göttin mitnehmen würde. Ruha setzte sich auf, wobei sie über die Dummheit, Talos ins Netz gegangen zu sein, errötete. »Ich erkannte meinen Fehler, als du mich vom Gewebe abschnittest, aber ich war nicht sicher, wer mich hinters Licht geführt hatte, bis Talos in Voonlar auftauchte und mir anbot, meine Kräfte wiederherzustellen.« »Du hast ihm widerstanden?« Mystra zerriß die letzte Fessel. »Hast ihn nicht einmal dann angerufen, nachdem Fzoul dich in seiner Gewalt hatte?« »Seine Hilfe hat einen hohen Preis.« Ruha rieb sich die Handgelenke. »Ich würde lieber sterben, als ihn anzurufen.« »Ich bin gerührt.« Die Herrin der Mysterien legte Ruha die Hand auf die Wange, und ihre Magie heilte das zerschundene Gesicht. »Wie viele haben mich während dieser sorgenvollen Zeit verlassen – selbst der Fürst der Toten. Doch du stehst zu mir, treu im Glauben, selbst nach einer Ungerechtigkeit, die ich dir angetan habe.« Die Harfnerin nahm Mystras Hand von ihrem Gesicht. »Ich flehe dich an, mir jetzt nicht zu zürnen, aber
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ich muß meiner Göttin die Wahrheit sagen.« Die Hexe ließ ihre Füße auf den Boden gleiten und stellte sich auf wackligen Beinen hin, während sie Mystra mit möglichst festem Blick begegnete. »Ich habe dem Zerstörer nicht um deinetwillen widerstanden. Ich habe ihm widerstanden, weil ich schon das furchtbare Ausmaß der Zerstörung miterlebt hatte, die seine Hilfe mit sich bringt, und du hast mir auch kein Unrecht getan, indem du mir den Zugang zum Gewebe verweigertest. Ob es nun Talos war, der mir die Magie gab, um Malik zu verfolgen, oder du, es war in jedem Fall falsch von mir, sie zu benutzen. Das Gewebe kann man zum Guten gebrauchen, und man kann es mißbrauchen, und die Wahl, die wir treffen, bestimmt unser Schicksal. Ich habe schlecht gewählt und mußte dafür büßen.« Die Herrin der Mysterien hörte den letzten Satz kaum, denn die Worte der Hexe hatten die Gedanken der Göttin schon in Bewegung versetzt. »Ruha!« Die Hexe erbleichte, hielt sie den Ausbruch der Herrin der Mysterien doch fälschlicherweise für ein Anzeichen von Zorn. Sie fiel auf die Knie und krallte sich in den Saum von Mystras Robe. »Vergib mir, Göttin. Ich wollte dich ...« »Nein.« Die Herrin der Mysterien half Ruha hoch. »Nicht du hast etwas falsch gemacht – sondern ich.« In einer durchwirbelten schwarzen Rauchsäule kehrte Iyachtu zurück. »Fort mit dir, du selbstgerechtes, zänkisches Weib! Der Beobachter ist im Anmarsch!« Der haßerfüllte Gott ließ eine Woge aus Schwefelgerüchen durch den Raum wabern und die Harfnerin umfangen.
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»Aber laß ja mein Opfer hier!« Mystra durchschnitt die stinkende Wolke mit einer Handbewegung, dann sah sie Ruha ins Gesicht. »Schließ die Augen und denk an Silberwolke.« Die Hexe gehorchte, und im nächsten Moment saß sie auch schon auf ihrem Pferdegreifen, mitten in jenem Stall, in dem sie ihn hier in der Zentilfeste untergestellt hatte. Schon war sie sicher vor Iyachtu Xvim und frei, in ihr Leben als besserwisserische Harfnerin zurückzukehren. »Diebische Hexe!« Iyachtu Xvim schleuderte seine Hand in Mystras Richtung, und ein Käfig aus dunklem Rauch errichtete sich um sie herum, und die Gitterstäbe wurden auf der Stelle eisenhart. »Wenn Helm kommt, dann wirst du für diese Beleidigung auch noch bezahlen!« »Das glaube ich eigentlich nicht.« Mystra trat aus Iyachtu Xvims Zelle heraus und schien nicht einmal zu bemerken, daß die Stäbe ihren Leib in lange Streifen schnitten. »Falls ich mich aber irre, dann kannst du Helm ja sagen, daß ich bei meinem Prozeß auf ihn warte.«
Um deutlich zu machen, daß er zum letzten Mal einen Mißbrauch seiner Rechtsprechung toleriert hatte, hatte Tyr dem Pavillon von Cynosure das Erscheinungsbild gegeben, das ihm am meisten zusagte. Nun würde ein jeder Gott ihn so sehen, wie er es tat: als einen runden Saal mit mahagonivertäfelten Wänden, Marmorboden und einer leuchtenden Kuppel aus milchigem Alabaster. Rundherum waren Büttel verteilt, allesamt Avatare des Beobachters. Sie trugen durchgehende Vollplattenrüstungen, hatten die Visiere unten und hielten blanke Streitäxte auf dem Arm, und an ihren Gürteln hingen schwarze Handschellen aus reinstem Nichts. In der Mitte des Raumes standen die höheren Götter jeweils an ihrem angestammten Platz – wenngleich sie jetzt auch hinter einem kreisrunden Geländer aus blankpoliertem Gold warteten. Wie üblich hatte Tyr für sich den Platz neben der für Ao reservierten freien Stelle im Rund gewählt. Der Gerechte Gott trug seinen Kriegshammer für alle sichtbar im Gürtel, und anstelle seines üblichen Lederharnischs zierte ihn nun eine silberstrahlende Plattenrüstung. Dem Gerechten Gott direkt gegenüber stand Cyric. Auch unser finsterer Herr hatte sein Erscheinungsbild
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verändert und die Gestalt eines hageren jungen Mannes mit weißem Haar und kreidebleicher Haut angenommen. Das Blut zahlloser gemeuchelter Gäste klebte an den Ärmeln seiner elfenbeinfarbenen Tunika, über der er eine lange, aus der geschundenen Haut des letzten Königs von Tethyr zusammengenähte Halsberge trug. Wann immer einer der anderen Götter es wagte, dem Blick seiner brennenden Augen zu begegnen, dann starrte er ihn an, bis jener seinen Blick wieder mied. Der Fürst der Toten trug seine neuen Gewänder, dieselbe silberne Totenmaske und die weißliche Robe, in die er sich gekleidet hatte, als er die Lichter seiner Stadt gelöscht hatte. Mystra stand neben dem Thronräuber, die Knöchel mit einer der schwarzen Ketten des Beobachters aneinandergefesselt. Sie starrte zu Boden und blickte kein einziges Mal in die Richtung des Fürsten der Toten; nur die Metze selbst vermochte zu sagen, ob dies aus Zorn oder aus Schande geschah. Was aber war mit Malik, dem Retter seines Gottes und ganz Faerûns? Mittlerweile mit einer blutroten Robe angetan, stand ich mit fest geschlossenen Augen inmitten des goldenen Rings, und auch so war ich noch fast geblendet vom Glanz der Götter. Sie waren riesig, und ihre Pracht schien durch meine Augenlider hindurch, so wie die Glut der Sonne sich durch Wachs schmolz, und ich sah alles im Saal in ein blendendes Farbenspiel von Licht gehüllt. Neben mir standen zwei weitere Zeugen. Adon der Geck sah nun endlich auch wie der wandelnde Leichnam aus, der er war, und auch der Gott Maske war zugegen und verwandelte sich von einer Gestalt in die andere, wie
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ein Kind, das nicht stillsitzen kann, und jeder Gestalt, in die er sich verwandelte, fehlte ein Arm oder Bein. Auf dem Tisch vor uns lagen die Beweise: ein glänzender Goldkelch, eine herausgebrochene Ecke von Helms Kerker, jenes schwarze Buch, für dessen Erlangung ich alles riskiert hatte, und eine pulsierende gelbliche Masse, die einst mein Herz gewesen ist. Es lief nicht so, wie ich es geplant hatte. Die Götter hörten nicht auf, besorgte Blicke auf Das Wahre Leben zu werfen und mich dann anzuschauen. Sie glaubten, das Buch sei die Cyrinishad, und ich wußte, daß einige von ihnen mich lieber tot sähen, als es mich aufschlagen zu lassen, und selbst wenn Tyr sie zwingen würde, mich lesen zu lassen, würden Oghmas Lügen den Einen vor den Augen all dieser weniger bedeutenden Götter demütigen – mithin ein Schicksal, weit schlimmer als der Wahnsinn! Lathander, der Fürst des Morgens, nickte Tyr zu, und der bat um Ruhe, indem er seinen Armstumpf erhob. »Das Morgenrot hat die Türme Kerzenburgs erreicht.« Der Gerechte Gott deutete über die Runde hinweg auf Cyric. »Der Prinz der Lügen wird der Unschuld aufgrund seines Wahnsinns angeklagt, womit er auch beschuldigt wird, seiner göttlichen Pflicht, die Früchte der Zwietracht und Uneinigkeit auch über die Grenzen seiner Kirche hinaus zu verbreiten, nicht nachgekommen zu sein.« Tyr wandte seinen augenlosen Blick Mystra und Kelemvor zu. »Die Herrin der Magie und der Herr des Todes werden der Unfähigkeit aufgrund ihrer Menschlichkeit angeklagt, womit sie denn auch beschuldigt
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werden, ihren göttlichen Pflichten nicht nachgekommen zu sein, indem sie den Sterblichen in Faerûn ungebührliche Freundlichkeit angedeihen ließen.« Der Gerechte sah sich im Kreis um und verharrte einen Augenblick auf dem Gesicht eines jeden Gottes, dann sagte er: »Die Verhandlung ist hiermit eröffnet.« »Ich werde zuerst sprechen.« Als Cyric dies sagte, wurde mir mein geliehenes Herz schwer; er war wirklich zu begierig darauf, mich lesen zu lassen. »Ich wurde als erster angeklagt, und jetzt möchte ich auch als erster freigesprochen werden.« Die Protestrufe ließen mich fast ertauben, und die Götter warfen nervöse Blicke in meine Richtung. Ich fürchtete schon, ich würde herausfinden, was sie in petto hatten, noch bevor ich meiner Notlage entkommen konnte. Oghmas Stimme tönte lauter als die aller anderen. »Gerade weil du der erste Angeklagte bist, mußt du zuletzt abgeurteilt werden.« Dabei war er peinlich darauf bedacht, den Anblick des schwarzen Buchs auf dem Tisch zu meiden. »Dieser Prozeß hat mit dir begonnen, nun muß er auch mit dir enden.« Die Logik dessen, der alles Wissen bindet, verschloß sich mir, aber seine Mitgötter waren ebensowenig wie er darauf versessen, sich mit dem Buch zu befassen, und so stimmten sie einen Chor von Zustimmungsbeteuerungen an. Zu meiner Erleichterung erklärte Tyr: »Dann ist es entschieden.« Die dunklen Sonnen unter Cyrics Stirn schienen schwärzer denn je, aber er grinste und zügelte seinen
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Zorn. »Früher oder später müßt ihr mich anhören.« »Ja, später«, versetzte der Unvoreingenommene. Er wandte sich an Kelemvor. »Der Fürst der Toten wird als erstes sprechen. Worauf plädierst du?« »Schuldig«, antwortete der Gott mit der silbernen Maske. Erstauntes Flüstern grollte durch den Saal und warf mich fast um. Der Fürst der Toten trat vor; dabei ging er einfach durch das goldene Geländer hindurch, als sei er ein Geist. Darauf bedacht, seiner hochaufragenden Gestalt möglichst viel Platz zu lassen, trat ich beiseite. Des Thronräubers Stimme war düster wie ein Grabgesang. »Ich habe meine Pflichten vernachlässigt. Ich kann nicht vor euch treten und etwas anderes behaupten.« Er drehte sich langsam im Kreis und sah nacheinander jeden Gott an. »Ich habe die Tapferen und Höflichen belohnt und die Feigen und Grausamen bestraft, und das tut mir leid.« Jetzt wandte Kelemvor das teilnahmslose Antlitz seiner Totenmaske Mystra zu, und nun schlug die Metze ihre Augen auf und erwiderte den Blick ihres ehemaligen Geliebten. Ihre glänzenden Augen ließen ihre Trauer erahnen, denn was in ihnen so glänzte, das waren Tränen. Kelemvor fuhr in seiner Litanei fort: »Ich habe über Menschen gerichtet, als sei ich selbst noch ein Mensch. Gute Sterbliche haben ihren Glauben in meine Gerechtigkeit gesetzt anstatt in ihre eigenen Götter, während die Ruchlosen ihren Kirchen beim ersten Anzeichen von Mißfallen den Rücken kehrten. Was ich tat, hat die Anbetung eines jeden Gottes hier untergraben, und darum
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war es falsch.« Hierbei biß sich die Herrin der Mysterien auf die Lippe. Kelemvor trat Tempus gegenüber. »Mein Vergehen gegen dich war von allen das Schlimmste. Indem ich Mut über Feigheit stellte, habe ich die tapferen Krieger ermutigt, ihr Leben wegzuwerfen und Feiglingen eine gute Ausrede geliefert, sich in ihren Löchern zu verkriechen, und ich schwöre, daß ich das so nie beabsichtigt hatte.« Das Gesicht des Fürsten der Schlachten blieb hinter seinem Visier verborgen, aber er hob die blutverschmierten Arme und öffnete einvernehmlich die Hände. Als der Fürst der Schlachten zu sprechen ansetzte, brachte ihn Kelemvor mit einer Handbewegung zum Schweigen und drehte sich zu Tyr um. »Früher war ich all dessen schuldig, aber wie ich selbst mich verändert habe, so habe ich auch mein Reich verändert.« Kelemvor wies auf seine neuen Gewändern. »Ich lade euch alle ein, eure Avatare zu entsenden, um euch die neue Stadt der Toten anzusehen. Beurteilt mich nicht nach meiner Vergangenheit, sondern anhand dessen, was ihr jetzt dort vorfindet.« Während Kelemvor sprach, öffnete er die Tore seiner Stadt. Viele der Götter taten, worum er sie gebeten hatte, auch wenn Sune an den verspiegelten Toren kehrt machte; die Widerspiegelung ihres auch noch so winzigsten Schönheitsfehlers war für sie Grund genug zu der Annahme, der Herr der Toten habe all das getan, was er behauptet hatte. Die anderen setzten ihren Weg fort, schwebten aschebedeckte Straßen voller Stadtbewohner mit leeren Blicken entlang, durchquerten ganze Bezirke düsterer, von toten Bäumen gesäumter Gebäude und
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überquerten schmucklose Brücken, die sich über stehende Gewässer von stahlgrauer Farbe spannten. Sie sahen keine Grausamkeit oder Bosheit, aber ebensowenig Freude; das Reich des Herrn der Toten war zu einem Hort schlurfender Geister und leidenschaftsloser Schatten geworden, und es war beileibe kein Ort der Bestrafung oder der Belohnung mehr. Im Herzen dieser trostlosen Stadt ragte der Kristallturm auf, ein hoch aufstrebendes Minarett aus trübbraunem Topaz, umringt von einer Schlange aus trübsinnigen Geistern, den Falschen und Ungläubigen. Im Pavillon von Cynosure stützte sich die Herrin der Mysterien auf das goldene Geländer und ließ die Schultern hängen. In tiefer Trauer schlug sie die Augen nieder, aber Cyric war es, der zuerst das Wort erhob. »Sehr überzeugend.« Der Eine verdrehte seine flammenden schwarzen Augen zur Decke. »Eine nette Vorführung, die ebenso schnell wieder rückgängig gemacht werden könnte, wie sie auf die Beine gestellt wurde. Erwartest du wirklich, daß wir glauben, du hättest dich so plötzlich geändert?« Die Antwort des Fürsten der Toten war gespenstisch ruhig. »Ich erwarte überhaupt nichts von dir. Du bist unfähig, aus Fehlern zu lernen. Wie solltest du verstehen, daß andere dies können?« »Du hast nichts gelernt!« Cyric richtete einen Finger, so lang wie ein Schwert, auf Adon. Mystras Patriarch kauerte neben mir, den Blick von der Göttin abgewandt, die ihm solche Angst machte. »Selbst jetzt noch schützt du Adon den Gefallenen!« »Ich schütze niemanden«, antwortete der Fürst der
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Toten. »Adon wird abgeurteilt, sobald er vor mir steht.« »Er gehört mir!« Cyric trat durch das Geländer und schritt über den Boden. Tyr riß den Kriegshammer aus seinem Gürtel und wies damit auf den Einen. »Rühr den Zeugen nicht an!« Cyric ging weiter, und alle fünf Avatare Helms lösten sich gleichzeitig von der Wand. Einen schrecklichen Moment lang meinte ich, der Eine würde den Befehl Tyrs mißachten, aber er hielt abrupt inne und blieb Nase an Nase mit der Silbermaske des Herrn der Toten stehen. Kelemvor war ruhig und gelassen wie ein Toter. »Ich habe die Seele des Patriarchen geraubt!« fuhr ihn Cyric an. »Du hast kein Recht, ihn mir vorzuenthalten.« »Ich habe dir schon einmal gesagt«, kam umgehend die Antwort, »daß du ihm nur sein Leben gestohlen hast. Er hat nie zu dir gebetet, und daher ist er sowohl falsch als auch ungläubig.« Jetzt war es Mystra, die die Worte des Thronräubers nicht mehr ertragen konnte. »Du wagst es, meinen Patriarchen einen Ungläubigen – oder falsch zu nennen?« Sie durchdrang das Geländer, und dabei schwebte sie knapp über dem Boden, um sich die Peinlichkeit zu ersparen, in Ketten laufen zu müssen. »Adon hätte sich nie von mir abgewandt, wenn Cyric ihn nicht in den Wahnsinn getrieben hätte. Das weißt du genau!« Adon zitterte und verbarg sich hinter mir. Alle drei Götter waren so groß wie Bäume und strahlten heller als die Sonne, und sie standen nur ein Dutzend Schritte entfernt. Ich bedeckte meine Augen, aber ihr Bild brannte sich in meinen Schädel. Das Feuer schwand aus Cyrics Augen, und voll geheu-
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chelter Nachsicht fragte er: »Herrin der Magie, wie soll Kelemvor denn bitte etwas wissen, was einfach nicht stimmt? Ich habe deinen Patriarchen nicht in den Wahn getrieben. Das warst du selbst.« Er schenkte der Hure ein süffisantes Lächeln und fuhr dann fort: »Ich habe deinen Patriarchen einfach dich durch meine Augen sehen lassen, und der Anblick deines wahren Wesens war einfach mehr, als ein Mensch zu ertragen imstande ist.« Mystra wirbelte zu dem Einen herum, und ihr Haß war so groß, daß selbst ich die blutsaufende Harpyie aus Adons Alpträumen zu sehen meinte. »Du lästerliche, pustelübersäte Zungengeschwulst! Ich ...« »Halt!« Cyric hob immer noch lächelnd beide Hände. »Du hast keine Veranlassung, böse auf mich zu sein, Mystra. Der Fürst der Toten wußte, was ich getan habe. Er hätte Adon retten können, lange bevor unser alter Freund so zerrüttet war, daß er in den Tod sprang.« Aus Mystras Gesicht sprach Überraschung. Sie sah in die finsteren Steine, die Kelemvors Augen waren, dann schüttelte sie voller Bestürzung den Kopf. »Es stimmt, oder? Du wußtest es schon lange vorher, als du kamst, um Zales Geist aus dem Vulkan zu fischen – und hast es mir vorenthalten!« Der Fürst der Toten widersprach ihrer Behauptung nicht. »Die Geheimnisse der Toten gehören ihnen allein. Dahingehend hat sich in meiner Stadt nichts verändert.« »Du aber schon.« Tränen aus funkelnder Magie schössen Mystra in die Augen. »Ich kann diesen neuen Gott nicht so lieben wie den Mann, den ich einst liebte.« Hierauf senkte der Fürst der Toten sein Haupt, seine
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grauen Augen aber hielt er auf sie gerichtet. »Niemand sollte den Tod lieben.« Als Mystra sich abwandte, rann eine einzelne Träne aus ihrem Auge und lief ihre Wange hinunter. Cyric schnappte sich den goldenen Kelch vom Tisch, hielt ihn der Göttin geschwind unters Kinn und fing den Tropfen auf. Er offenbarte seine Freude darüber unverhohlen, und ich zuckte bei dem Anblick zusammen. Mystra schob ihn weg. »Geh mir aus dem Weg, Faulherz.« Sie schwebte zurück an ihren Platz hinter dem Geländer. »Du verleitest mich dazu zu vergessen, wo wir hier sind.« »Wie du willst.« Cyric lächelte willfährig und stellte den Kelch auf den Tisch. »Ich bin ohnehin fertig.« Kelemvor sah dem ganzen Treiben zu, schwieg jedoch. Die übrigen Götter schüttelten den Kopf oder verdrehten die Augen, und in meiner Beschränktheit hielt sogar ich Cyrics Verhalten nur für ein weiteres Anzeichen seines Irrsinns. Tyr reckte dem Einen seinen Stumpf entgegen. »Du darfst auch an deinen Platz zurückkehren. Wir haben genug über Adon gehört.« »Wir haben auch genug über die Anklage gegen den Herrn der Toten gehört«, fügte Oghma der Weise hinzu. »Ich sage, wir befinden zu seinen Gunsten. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, welche Opfer er für seine Pflichten gebracht hat.« Hierauf ließen die Götter im Pavillon von Cynosure einen allgemeinen Chor des Einverständnisses erklingen. Nur der Prinz der Lügen erhob die Stimme gegen dieses Urteil, und nicht einmal er widersprach allzu heftig. Das
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gab mir sehr zu denken, bis ich die Schläue in seinen nachtschwarzen Augen aufblitzen sah – und meine Verwunderung wurde zu Besorgnis, denn Cyrics Pläne reichten offensichtlich weiter, als mich die Cyrinishad vortragen zu lassen. Ich warf einen Blick auf mein Herz und fragte mich, ob ich es je wieder in meiner Brust schlagen spüren würde. Der Unvoreingenommene hob seinen Stumpf. »Der Rat hat seinen Willen im Hinblick auf Kelemvor kundgetan, aber die Anklage gegen ihn kann nicht einzeln betrachtet werden. Er und Mystra sind gemeinsam angeklagt. Wenn wir gegen einen ein Urteil verhängen, so auch gegen die andere.« »Dann laßt sie uns anhören«, sagte der Fürst des Wissens. Die Herrin der Mysterien richtete sich von ihrem Platz hinter der Brüstung aus an ihre Mitgötter. »Auch ich habe aus meinen Fehlern gelernt.« »Dein Tun läßt das Gegenteil vermuten«, erklang Tyrs strenge Antwort. Der Gerechte Gott deutete auf die abgesprungene Ecke von Helms schwarzem Kerker. »Du hast wenig Respekt für die Rechtsprechung dieses Rats gezeigt, und wir sollten auch nicht vergessen, weshalb Helm dich ursprünglich in Gewahrsam nahm. Du hast einen Zeugen angegriffen!« Tyr wies auf Maske, der ein paar Schritte von mir und Adon entfernt auf der anderen Seite des Tisches stand. Wie üblich verwandelte sich der Fürst der Schatten von einer düsteren Gestalt in eine andere – von denen keine im Vollbesitz all ihrer Gliedmaßen war –, und noch immer hielt er Prinz Tangs Zauberschwert umklammert.
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Die Herrin der Magie entgegnete: »Ich habe Maske großzügig für seinen Verlust entschädigt – es sei denn, er möchte das Chien des Prinzen Tang wieder zurückgeben und es gegen einen anderen Gefallen meinerseits eintauschen.« Maske barg das Schwert in einer Schattenfalte und schüttelte den Kopf, vor dem Chaoshund sicher zu sein, war ihm nämlich weitaus mehr wert, als alles, was er verloren hatte. So fuhr Mystra fort: »Er ist mehr als nur ein Zeuge in diesem Prozeß. Es waren seine Ränke, die Tempus dazu brachten, seine ursprüngliche Anklage vorzubringen, und mir hat Maske ins Gesicht gesagt, daß er für viele der Probleme verantwortlich war, die sich dem Fürsten der Toten und mir beim Ausbau unserer Verteidigung in den Weg gestellt haben.« Der, Unvoreingenommene ließ seinen leeren Blick zu Maske wandern. »Stimmt das?« Der Fürst der Schatten zuckte die Achseln und verwandelte sich sodann in einen einflügeligen Lammasu. »Etwas zuzugeben macht es noch nicht wahr.« »Hier schon«, antwortete Tyr. »Sich am Recht des Angeklagten auf Verteidigung zu vergreifen ...« »Bestrafe Maske nicht«, sagte Mystra. »Ich bin ihm verpflichtet. Ohne seine Einmischung hätte ich nie das Unrecht erkannt, das ich den Sterblichen Faerûns angedeihen ließ.« Ihre Verwendung des Wortes »Unrecht« war wohlplaziert, und zwar, um die Neugier des Unvoreingenommenen zu erregen, und die Falle schnappte zu. »Was für ein Unrecht?«
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»Eine Tyrannei, schlimmer als alle, die der Prinz der Lügen je heraufbeschwören könnte.« »Pah! Als ob du das könntest!« Cyric wandte den Blick zur Decke. »Körperliche Unterdrückung ist nichts im Vergleich zu einer seelischen.« Mystra ließ ihren Blick über Lathander, Silvanus und Chauntea schweifen, die alle die Freiheit über Gebühr hoch schätzten. »Indem ich versucht habe, das Gewebe vor den Zerstörerischen und den Verderbten zu verschließen, habe ich mich in das Schicksal Faerûns eingemischt. Das aber steht mir nicht zu – so wie es keinem der hier Anwesenden zusteht.« »Eine Wahl hat keine Bedeutung, solange sie nicht aus freien Stücken vollzogen wird«, pflichtete ihr Oghma bei. »Es steht den Sterblichen Faerûns zu, aus ihrer Welt zu machen, was sie wollen. Wenn wir sie von dieser Aufgabe entbinden, dann wird das Schicksal Faerûns für sie ohne Bedeutung sein.« »Für sie?« spöttelte Cyric. »Ich hab mich ja wohl nicht selbst zum Gott gemacht, um die Sterblichen über Faerûn bestimmen zu lassen.« »Nein, du bist ein Gott geworden, um ihre Welt zu vernichten.« Sune schenkte Cyric ihr strahlendstes Lächeln und fügte honigsüßer Stimme hinzu: »Wir wissen alle, was du aus der ganzen schönen Welt machen würdest.« »Schönheit liegt im Auge des Betrachters.« Cyrics Gesicht war so rot angelaufen, daß es Sunes Haar glich. Er erkannte, daß Mystra langsam ein paar Götter zuviel auf ihrer Seite hatte, und seine Pläne für die Neuordnung des Kosmos sahen keinen Platz für Kelemvor und die Herrin
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der Mysterien vor. Er wandte sich an die Hure und fragte: »Was sagst du da? Du willst mir freien Zugang zum Gewebe gewähren?« Mystra begegnete seinem Blick gleichgültig. »Ja – und Talos, Tempus und Shar auch.« Daraufhin schnaubte Talos und blickte von der Ferkelei auf, die er in Tyrs goldenes Geländer geritzt hatte. »Wofür? Dafür, daß ich ein für dich günstiges Urteil unterstütze?« »Nein, Talos«, entgegnete die Metze. »Ich habe das Gewebe bereits wieder für dich und deine Sturmherren geöffnet, auch für Tempus und seine Kriegsmagier und für Shar und ihre dunklen Anhänger, selbst für Cyric und seine Bande von Irren. Das Gewebe wird geöffnet bleiben, egal, wie dieser Rat über Cyric befindet.« »Gesetzt den Fall, es liegt weiterhin in deinen Händen«, erinnerte sie Tyr. Die Herrin der Mysterien nickte. »Ja.« »Es ist erst drei Jahre her, da hat der Rat sie dafür verwarnt, daß sie mich vom Gewebe abgeschnitten hat!« Es legte beredtes Zeugnis von seinem Wahnsinn ab, daß der Eine bei diesen seinen Worten nicht selbst erschrak, entsann sich doch jeder hier im Raum sehr gut daran, daß Mystra hierdurch lediglich die Erschaffung jenes Buches zu verhindern suchte, das ihnen allen jetzt so furchtbare Angst machte. »Ich glaube, da haben wir diese Beteuerungen schon einmal gehört!« Die Stimme Shars senkte sich auf mein Ohr herab wie ein Schleier aus Geflüster. »Es wäre besser gewesen, wenn wir Mystra hätten tun lassen, was sie vorhatte.« Die Nachtbringerin warf einen Blick auf das dunkle
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Buch auf dem Beweismitteltisch und fügte alsbald hinzu: »Ich für meinen Teil nehme die Mutter aller Magie beim Wort – wenn sie mir und einigen anderen bei einer Petition beisteht, in der wir von Tyr verlangen, daß er das Verlesen der Cyrinishad untersagt.« »Das ist unmöglich!« wetterte Tyr. »Der Beschuldigte hat ein Recht darauf, sich zu verteidigen!« »Wir haben aber unsererseits ein Recht darauf, uns gegen seine Lügen zur Wehr zu setzen!« konterte der Schlachtenfürst Tempus. Währenddessen erschien ein winziger Schattenfetzen neben dem Wahren Leben. In der Erwartung, irgendeine Lichtquelle durch den Alabaster hindurchscheinen zu sehen, spähte ich zu der hochaufragenden Kuppel über unsern Köpfen. Aber natürlich hatte der Pavillon von Cynosure solch weltliche Dinge wie Sonne und Mond weit hinter sich gelassen. Ich senkte meine Augen und erhaschte zufällig einen Blick auf Maske, der nur halb so groß war wie die riesigen höheren Götter. Er wandelte seine Gestalt von einem stämmigen, einarmigen Firbolg zu einem schlaksigen Verbeeg, ebenfalls nur mit einem Arm. Ebendieser Arm war auch der einzige Teil seines Körpers, der nicht ständiger Veränderung unterzogen war. Der Gott der Diebe streckte die Finger nach dem Wahren Leben von Cyric aus! Wenn einer der anderen Götter es mitbekam, dann taten sie so, als wären sie viel zu sehr mit dem Prozeßverlauf beschäftigt, um es zu bemerken. Was mich anging, so verhielt ich mich still und sann darüber nach, ob es wohl klug sei, Maske gewähren zu lassen. Immerhin konnte ich es später jederzeit zurückstehlen – irgend-
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wann, wenn es mir mal nicht bevorstünde, es vor so vielen von Cyrics Untergebenen vorzutragen. Während ich den Schatten über die Kante des Buches kriechen sah, richtete Tempus das Wort an Mystra. »Einst, Herrin der Magie, habe ich dir angeboten, meine Anklage fallenzulassen, wenn du die Möglichkeit in Betracht ziehen würdest, daß der Krieg für Faerûn von Nutzen sein könnte. Aufgrund meines vorher Maske gegebenen Versprechens vermag ich dieses Angebot nicht zu erneuern, aber ich bin bereit, einen für dich günstigen Ausgang des Prozesses sicherzustellen – wenn du garantierst, die Verwendung des Gewebes niemals wieder solchen Beschränkungen zu unterwerfen und versprichst, dich mit uns gegen das Verlesen der Cyrinishad zu wenden.« Mystra nahm den heiligen Strahlenkranz vom Hals und warf ihn Tempus durch den gesamten Saal hinweg zu. »Hier ist meine Garantie; das Gewebe wird keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen. Aber gegen das Verlesen des Buches kann ich mich nicht verwahren, auch nicht, wenn es meine Freiheit kostet.« Sie wandte sich zu Tyr um. »Ich habe mir angesichts der Gerechtigkeit des Rats schon zu viele Freiheiten herausgenommen; ich muß mich der Führerschaft des Unvoreingenommenen unterwerfen.« Der Schatten des Meisters aller Diebe kroch weiter über den Buchdeckel, und noch immer konnte ich mich nicht zum Handeln bewegen. Die Göttin der Schönheit trat an Mystras Seite und badete die Hure im Erröten ihres schmeichelhaften Glanzes. »Ich sage, wir befinden zu Mystras Gunsten. Es
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wäre wohl kaum angeraten, sie nach ihrer Vergangenheit zu beurteilen, wo wir doch auch schon Kelemvor gegenüber Zugeständnisse gemacht haben.« Der Fürst des Wissens nickte. »Es steht diesem Rat nicht zu, einen Gott für die Fehler der Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen. Unsere einzige Sorge gilt der Sicherstellung des Gleichgewichts, und wir können uns sicherer sein denn je, daß die Herrin der Mysterien sich in Zukunft diesem Ziel verschreiben wird.« Wieder war der Saal erfüllt von Stimmen, aber diesmal war Cyric nicht allein in der Verurteilung der Hure. Trotz ihres Eides, das Gewebe zugänglich zu lassen, machten Talos, Shar und Tempus ernst mit ihrer unausgesprochenen Drohung: Mystra hatte sich geweigert, mit ihnen einer Verlesung der Cyrinishad entgegenzutreten, also stellten sie sich gegen die Göttin. Auch Tyr sprach gegen Mystra; er hatte ihr noch nicht verziehen, daß sie sich seiner geheiligten Gerichtsbarkeit entzogen hatte. In der Abstimmung herrschte Gleichstand. Aber der Fürst der Toten war noch übrig und sollte nun das Zünglein an der Waage sein. »Was meinst du?« fragte Tyr. »Willst du zugunsten Mystras entscheiden und dich retten – oder sie für schuldig befinden und dieselbe Strafe erleiden?« Eine Zeitlang war die Antwort ebenso offensichtlich, wie sie schnell gegeben wäre, aber Kelemvor ließ sich Zeit. Statt dessen lasteten seine blicklosen grauen Augen auf Mystra, und er musterte sie lange und eingehend. Sie begegnete seinem Blick und hielt ihm stand, obschon ihr die Sorge über sein Zögern ins Gesicht geschrieben stand, und dann schwand selbst diese Sorge.
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Kelemvor winkte Adon zu sich heran, hob den zitternden Patriarchen hoch und ließ ihn auf seiner Handfläche stehen. »Keine Angst. Sieh mir in die Augen und sag mir, was du siehst.« Der Patriarch tat, wie ihm geheißen. Himmlischer Dunst quoll aus den Augen des Fürsten der Toten und hüllte ihn ein, und tief in diesem Nebel erschien eine Silhouette. Sie hatte langes, schwarzes, seidenweiches Haar und ein reines, strahlendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Obgleich ihre Augen so dunkel und tief waren wie die Nacht, erstrahlten sie im warmen Licht eines heiligen Strahlenkranzes, und ihren Leib umschmeichelten fließende Gewänder aus Zwielicht. Der Patriarch drehte sich ruckartig zu Mystra um und fiel auf Kelemvors Hand vor seiner Göttin auf die Knie. »Göttin! Vergib mir!« »Ich habe dir nie die Schuld gegeben«, antwortete die Herrin der Mysterien. »Nur Cyric.« Der Fürst der Toten überreichte Adon seiner Göttin. »Adon gehört mit Fug und Recht dir. Verfahre mit ihm, wie immer du willst. Ich sage, du bist eine ebenso wertvolle Gottheit wie jeder andere hier im Saal.« Die Worte des Herrn der Toten trugen keinerlei Zuneigung in sich, ganz so, als gäbe er nichts von sich als harte Fakten. Die Herrin der Mysterien hielt ihre Finger über Adons Kopf und ließ einen glitzernden Regen aus Magie auf seine Schultern hinabrieseln. Der Patriarch verschwamm vor ihrer aller Augen und war schließlich verschwunden, um in Zauberherz, dem Palast seiner Göttin, auf ihre Heimkehr zu warten.
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Tyr erklärte: »Die Anklage gegen Kelemvor und Mystra wurde abgewiesen.« »Betrug!« Cyrics Gekreisch war so laut, daß selbst die Götter in Deckung gingen, ich hingegen hielt mir die Ohren zu. Obwohl der Schatten über dem Wahren Leben mittlerweile schon das halbe Buch erfaßt hatte, zuckte er und sah fast so aus, als wolle er sich zurückziehen. »Der Fürst der Toten hat sich nur verstellt!« wetterte Cyric. »Er hatte nie vor, den Patriarchen zu verdammen!« Der Fürst der Toten wandte dem Einen seine Maske zu. »Ich hatte vor, Adon wie jeden anderen zu behandeln, aber diese Erwägungen sind nicht mehr von Bedeutung. Wie du habe auch ich diesem Sterblichen nur gestattet, Mystra mit meinen Augen zu sehen. Wenn er sie als Göttin anbetete, so war das seine Entscheidung, nicht meine.« Der Prinz der Lügen sah Tyr an. »Nimm das Urteil zurück!« »Warum?« »Sie haben betrogen!« Tyr schüttelte den Kopf. »Der Rat hat gesprochen, und jetzt ist die Zeit reif, die Anklage gegen dich zu prüfen.« Ich starrte auf Das Wahre Leben. Der Schatten bedeckte unterdessen drei Viertel des Buches. Ich bemerkte, wie der Zerstörer das Buch beäugte, während er das Geländer mit seinen scharfen Fingernägeln zerkratzte, und als er schnell wegsah, war mir klar, daß auch er wußte, was gerade geschah. Vielleicht hatten Maske und
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er dies gar gemeinsam geplant. Nachdem er einen Moment lang in Tyrs Richtung gespäht hatte, zuckte Cyric die Achseln. »Na gut, wie du willst; dann prüfe halt die Anklage.« Dabei schenkte er dem ganzen Rat ein dummes Grinsen. »Letztlich werden wir es ohnehin so machen, wie ich will.« Ein verärgertes Flüstern grollte durch den Pavillon, und ich wußte, daß mir die Zeit davonlief. Cyrics Fall sollte nun verhandelt werden, und er hatte bereits begonnen, sich den Haß seiner Gegner zuzuziehen. Ich fand zu meinem Mut zurück und hob die Hand. »Dieb!« Ich wies auf Maske. »Er will das Buch rauben!« Ehe ich noch das zweite Wort aussprechen konnte, hatte Maskes Schatten das Buch auch schon wieder losgelassen, aber selbst er war nicht flink genug, um dem Blick des großen Wächters zu entgehen. Innerhalb eines Lidschlags hatte ein Zweiergespann vollkommen identischer Helms den Schattenfürsten gepackt, einer an seinem sich windenden Arm, der andere an einem der krummen Beine. Ein dritter stand nun vor dem Tisch mit den Beweismitteln, bereit, jeden niederzuschmettern, der es wagte, nach dem Wahren Leben zu greifen. Der Zerstörer bedachte mich mit einem Blick, der zu besagen schien, ich täte gut daran, mich für den Rest meines Lebens vor Blitzen in acht zu nehmen. Tyr überwand das goldene Geländer – es wäre ihm nicht richtig vorgekommen, wenn er Aspekte seines eigenen Gerichtssaals ignorierte – und schritt mächtig aus, um Maske zur Rede zu stellen. »Erkläre dich!«
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Maske nahm die Gestalt eines hakennasigen Trolls an und zuckte die Achseln. »Ich bin der Meister aller Diebe. Du kannst mir nicht vorwerfen, wenn ich etwas stehle.« »Aber ich kann dich des Saales verweisen.« Tyr wechselte einen Blick mit dem Helm, der Maskes Arm hielt. »Bringt den Dieb hinaus. Ich werde dich rufen, wenn wir ihn als Zeugen brauchen.« »Ich bin mehr als nur ein Zeuge!« widersprach Maske. »Auch für mich steht hier einiges auf dem Spiel.« Der Unvoreingenommene sah ihn zweifelnd an. »Nämlich?« »Die Intrige.« Ein Zittern lief durch Maskes Trollkörper, und dann wurde er zu einem einbeinigen Oger und deutete auf den Einen. »Wenn du den Prinzen der Lüge seiner Göttlichkeit beraubst, dann fordere ich für mich die Herrschaft über die Intrige. Ich habe sie verdient.« In seinem Zorn vergaß unser finsterer Herr, immateriell zu werden, als er vortrat, und krachte durch das goldene Geländer hindurch. »Wenn der Rat mich erst einmal als seinen Führer bestätigt hat, dann werde ich dich töten!« Der Eine schleuderte Maske einen Blitz aus dunkel geronnener Energie entgegen, aber Helm hob seine Axt und fing den Angriff mit dem Blatt ab. Die Waffe verwelkte zu einem dürren Zweig und löste sich in Rauch auf. Tyr trat zwischen Maske und den Einen. »Noch haben wir dich nicht im Amt bestätigt. Geh an deinen Platz zurück, oder ich befinde dich für inkompetent, deine eigene Verteidigung zu übernehmen.«
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Angesichts dieser Drohung blitzten Cyrics Augen auf, aber er wußte, daß keiner der anderen Götter mich bitten würde, die Cyrinishad zu verlesen, also tat er, was der Gerechte von ihm verlangt hatte. Tempus, Fürst der Schlachten, straffte seine Schultern. »Wir könnten Maskes Antrag eigentlich ziemlich schnell bearbeiten. Als er mit seinem Plan zu mir kam, hat er mir versichert, er habe dazugelernt und seine Ränke würden nicht mehr aus dem Ruder laufen.« Der Feindhammer winkte mit stahlbehandschuhter Hand in Mystras und Kelemvors Richtung und wies dann auf den Tisch mit den Beweismitteln. »Wenn das der Wahrheit entspräche, hätte er sich nicht in die Verteidigung des Herrn des Todes und der Herrin der Magie eingemischt, und ohne ihn sähen wir uns jetzt auch überhaupt nicht der Bedrohung dieses niederträchtigen Lügenbuches gegenüber. Egal, wie der Prozeß auch ausgeht, ich sage, der Meister aller Diebe hat keinen Anspruch auf die Intrige. Möge er mit seinem geklauten Schwert und seiner wiedergewonnenen Freiheit von Kezef glücklich werden.« Als niemand widersprach, nickte der Unvoreingenommene. »So sei es.« Helms Avatar verschwand mit Maske, und Tyr wandte sich dem Einen zu. »Du kennst die Anklage: Unschuld, geboren aus Wahnsinn. Was hast du dazu zu sagen?« Der Eine grinste Tyr und die übrigen Ankläger an, dann fiel sein gleißender Blick auf mich. »Lies vor.« »Jetzt?« Cyric funkelte mich an, und eine schwarze Grube aus
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Schmerz fraß sich in meinem Magen fest. Kalte Schweißperlen rannen mir von der Stirn. Der Augenblick der Wahrheit stand bevor, und mir wurden die Knie weich, als ich zum Tisch vorging und nach dem Wahren Leben griff. Sobald meine Finger den Einband berührten, zerriß ein weißer Blitz die Luft, ein mächtiges Getöse erfüllte den Saal, und ein heißer Blitz traf mich mitten in die Brust. Ich flog durch den Raum, krachte durch das goldene Geländer und wäre gewiß durch die Wand des Pavillons geschleudert worden, wenn ich nicht vorher gegen einen der Avatare Helms gekracht wäre. Ich fiel zu seinen Füßen hin, Das Wahre Leben hielt ich dabei noch immer in Händen. Ich sah mich um. Talos, der Blitzeschleuderer, hielt einen Finger auf meine Brust gerichtet, und noch ein halbes Dutzend weiterer Götter näherte sich mir – Shar, Sune, Lathander und ein paar andere. Ihr Glühen verschmolz zu einer gewaltigen Feuersbrunst. Ihre Finger umspielte knisternde Magie, und ein jeder war fest entschlossen, mich vom Lesen abzuhalten. Silvanus kippte den Tisch mit den Beweismitteln um, und mein modriges Herz rollte über den Boden bis vor Kelemvors Füße. Ich hob eine zittrige Hand, um sie aufzuhalten. »Nein ...« »Still!« Der Befehl kam von der Großen Mutter. Er war noch nicht verhallt, da schwoll meine Zunge auch schon an, bis sie so dick war, daß ich kaum atmen konnte, geschweige denn reden. Tyr und vier von Helms Avataren traten vor, um die Angreifer abzufangen, dann hob die Nachtbringerin Shar
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ihre Hand. Schwärze senkte sich über den Raum, bis er einem Grab glich, und ich verlor mein Herz aus den Augen. »Zurück!« befahl Tyr. »Malik steht unter meinem Schutz.« »Wir wollen ihm kein Leid zufügen.« Während Lathander sprach, traf ein goldener Lichtstrahl meine Augen, so daß ich noch im selben Moment das einzig Sichtbare im ganzen Saal war und sofort erblindete. »Wir wollen nur das Buch.« Von irgendwo neben mir erklang Feuerhaars Singsang. »Schieb’s mir rüber, und dir soll die Liebe einer jeden Frau, die du begehrst, gewiß sein.« Nun ja, also ich hätte ein Dutzend Frauen nennen können, deren Zuneigung mehr wert war als ein gutes Reitpferd, und die Bewunderung seitens auch nur einer von ihnen wäre gewiß mehr wert gewesen als die Untreue meiner Gattin, die Cyric so weit aus meiner Reichweite fortgerissen hatte, und doch erwog ich Sunes Angebot nicht länger als vielleicht ein oder zwei Atemzüge lang, denn ich war doch ein zu treuer Diener, um den Gott meines Herzens zu verraten. Ich hörte schwere Schritte sich mir nähern und betete, daß niemand den pulsierenden Klumpen zertreten mochte, den Silvanus so grausam vom Tisch geworfen hatte. Tyr ließ sich vernehmen: »Laßt Malik das Buch vorlesen, oder ihr werdet Aos Zorn zu spüren bekommen!« Von irgendwo hinter den Angreifern fügte Cyric noch hinzu: »Ihr habt doch von der Wahrheit nichts zu befürchten.« Talos gab bissig zurück: »Du würdest die Wahrheit
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nicht einmal erkennen, wenn sie aus deinem eigenen Mund käme, Wurmhirn.« »Aos Zorn fürchten wir weniger als die Aussicht, Cyric in seinem Wahnsinn Gesellschaft zu leisten«, erklärte Chauntea. »Uns ist unklar, wie das dem Gleichgewicht zugute kommen sollte.« »Existiert etwas nur dann, wenn es dir klar ist?« gab der Fürst des Wissens zu bedenken. »Was dem Gleichgewicht nutzt, ist das Festhalten an einem Kodex; was ihr da tut, dient nur euch selbst.« »Wir haben kein Interesse an deiner Sophisterei. Wir sind uns einig.« Als der Fürst der Schlachten das sagte, klang er näher, als mir lieb war. »Ehe wir diesen Sterblichen das Buch des Verrückten lesen lassen, beschwören wir lieber eine zweite Zeit der Sorgen herauf.« »Was wäre das doch für eine Verschwendung«, sagte die Herrin der Mysterien. Eine leuchtende Kugel aus Magie umhüllte mich, hob mich hoch direkt unter das Kuppeldach, und ich blickte auf einen Raum hinab, der in vollkommener Finsternis dalag. Sofort schrumpfte meine aufgedunsene Zunge auf ihre normale Größe zurück. Ich öffnete die letzte Seite des Wahren Lebens und begann, es von hinten nach dem Anfang der Lügengeschichte des Fürsten des Wissens zu durchblättern. »Laßt ihn lesen.« Als Mystra das sagte, schwand die Dunkelheit aus dem Pavillon unter mir, und ich schaute von hoch oben auf die Köpfe der Götter herab. Das war weit weniger spaßig, als es vielleicht klingen mag, denn sie alle starrten mich nun an, und in den Augen von mehr als einem funkelte Mordlust. Ich erspähte mein
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Herz, das vollkommen intakt neben dem goldenen Geländer in der Nähe von Kelemvors Füßen herumlag, und die Metze fuhr fort: »Weder uns noch dem Gleichgewicht wird ein Leid geschehen.« »Das kannst du nicht garantieren.« Kelemvor hob die Hand, und ein silbernes Krummschwert erschien aus dem Nichts darin. »Du hast dem Unvoreingenommenen versprochen, dich nicht in Cyrics Verteidigung einzumischen.« Mystra trat neben ihn hin und nahm seinen Arm. »Ich habe mein Versprechen gehalten, aber du mußt mir vertrauen.« »Nicht mehr.« Kelemvor schüttelte sie ab, hob seine Klinge und wuchs, bis er mit Leichtigkeit meine magische Blase erreichen konnte. Sofort schwollen auch Tyr und Helms Avatare auf dieselbe Größe an und machten Anstalten, ihn aufzuhalten, und ich verlor unter ihren vielen Füßen mein Herz erneut aus den Augen. Der Fürst der Schlachten zog seinen Zweihänder, und Talos lud seine Hände mit Blitzschlägen auf. Lathanders Finger brannten in goldenem Feuer, und alle traten sie an Kelemvors Seite. In den Händen des Einen erschienen schwarze, gifttriefende Dolche, und er begann, sie zu umkreisen, um in ihren Rücken zu gelangen. Ich hatte endlich die Seite gefunden. Meine Hände fingen an, so sehr zu zittern, daß ich kaum in der Lage war, die Buchstaben auf den Seiten zu erkennen, und in meinen Ohren rauschte es so sehr, daß ich mein eigenes Wort nicht verstehen würde, wenn ich las. Oghma hastete zwischen die Fronten. »Halt! Wir
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können das nicht tun!« Der alle Weisheit bindet hob beschwichtigend die Hände, als glaubte er wirklich, so ein knochiges Paar Armchen könne das bevorstehende Blutbad aufhalten. »Ein Krieg zwischen uns wird Faerûn vernichten!« »Aus dem Weg, du Narr!« befahl Tempus. Als der Fürst des Wissens dem nicht Folge leistete, hieb ihm Tempus den Knauf seiner Waffe auf den Schädel und schickte ihn damit auf die Bretter. Cyric hob die Hand, um seinen ersten Dolch zu werfen, und ich mußte befürchten, daß meine Worte in dem anstehenden Durcheinander niemals die Ohren des Einen erreichen würden. Ich konnte nicht zulassen, daß all der Aufwand zunichte gemacht wurde. »Wartet, ihr geistlosen Schakale!« gellte ich, so laut ich konnte, und meine Verwegenheit stieß die Götter so vor den Kopf, daß ich Gelegenheit bekam, Das Wahre Leben hochzuhalten und zu brüllen: »Das ist nicht die Cyrinishad!« Erstauntes Schweigen machte sich im Pavillon breit, einen Moment lang hielten die Götter ihre Hände still, und es war allein Cyrics Aufschrei der Verwunderung, der diesen Moment ausdehnte. »Was?« Die Hand des Einen stieß nach vorn, und einen Augenblick später schnitt seine schwarze Klinge durch Mystras magische Kugel hindurch. Ich bin mir sicher, daß es der Schutz Tyrs war, der mich Das Wahre Leben vors Gesicht hochreißen ließ, und nicht meine eigenen Reflexe. Die gifttriefende Klinge durchbohrte den ledernen Einband und stoppte nur eine Haaresbreite vor meiner Wange. Mein Magen stieg mir in die Kehle, und
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ich stürzte hinunter auf den Boden. Ich merkte nicht einmal, wie ich aufschlug. Ich hatte lediglich meinen Blick von der Klinge ab- und dem Buch zugewandt, und so begann ich zu lesen: »Auch wenn der Mensch versuchen mag, den Göttern die Zügel seines Schicksals zu entreißen, so wird er doch immer der Natur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert geboren und ist in hundertfacher Art und Weise an seine Mitmenschen gebunden. So gehen die Götter sicher, daß Sterbliche mit ihrer Welt der Mühe und des Kummers verknüpft sind. Cyric von der Zentilfeste war keine Ausnahme. Im heißesten Flammleite, der die Feste je in seiner Gewalt hatte, wurde Cyric von einer mittellosen Bardin geboren, die so wenig Talent hatte, daß sie nicht einmal eine Kupfermünze verdienen konnte, ...« Der Prinz der Lügen hielt sich die Ohren zu. »Nein!« Die Wucht des Aufschreis schleuderte mich gegen die Wand und ließ die Rufe von tausend Todesfeen in meinen Ohren dröhnen, und trotzdem las ich weiter. Tatsächlich hätte ich nicht einmal aufhören können, wenn ich gewollt hätte; Mystras Zauber zwang mich ebenso gnadenlos weiterzumachen wie damals, als ich in derselben Kammer hier gestanden und Rindas Aufzeichnungen vorgetragen hatte. Ich las weiter, beschrieb, wie Cyric als Säugling an einen sembischen Händler verkauft wurde und ein Leben im Luxus genießen durfte, und wie unser finsterer Herr die Erziehung durch diesen Mann mit Verrat und Mord vergolten hatte. Als ich bei der Passage angelangt war, in der es um seine Rückkehr in die Zentilfeste in den Ketten
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eines Sklaven ging, kreischte der Eine so laut auf, daß mir das Blut in den Adern stockte. Dann hob er die Hände, und zahlreiche schwarze Wurfpfeile erschienen in ihnen. »Lügner!« Während er das schrie, zuckte sein Arm vorwärts und schleuderte die Wurfpfeile. Verräter!« Einer von Helms Avataren senkte seine Streitaxt vor mein Gesicht und fing die Geschosse mit dem Axtblatt ab. Dann ergriffen zwei weitere Aspekte des Beobachters Cyrics Arme und verdammten ihn zur Bewegungslosigkeit. Ich beendete die Geschichte, indem ich verlas, wie die Dunkle Sonne sich vor der Sklaverei in eine Diebesgilde flüchtete, welche Abenteuer er an der Seite Kelemvor Lyonsbanes erlebte und wie er sich schließlich während der Zeit der Sorgen auf die Suche nach den Tafeln des Schicksals machte. Gewiß, jedes Wort, das ich vortrug, war eine Lästerung und eine niederträchtige Lüge, aber diese endlose Aneinanderreihung von Blasphemien schien den Einen zu beruhigen. Als ich dort anlangte, wo berichtet wurde, wie er seinen alten Gefährten die Tafeln gestohlen und dazu verwendet hatte, die Gunst Aos zu erlangen, stand unser finsterer Herr, von Helm gehalten, ganz ruhig da, bedachte mich mit einem so klaren und ungetrübten Blick, wie ich ihn auf seinem Gesicht noch nie zuvor gesehen hatte, und schwieg, und als ich den letzten dieser abscheulichen Berichte hinter mich gebracht hatte und von dem Text aufblickte, da schüttelte er einfach nur noch den Kopf. Ich schlug das elende Buch zu und schleuderte es von mir, dann warf ich mich ihm zu Füßen. »Bestrafe mich
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nicht! Ich habe diese Abscheulichkeit nur für dich begangen, auf daß du deinen Verstand wiederfindest und dich in dieser Farce von einem Prozeß anständig verteidigen kannst!« Ich umarmte seinen riesigen Fuß und bedeckte ihn mit Küssen. »Ich schwöre, es hat mir nicht gefallen, und du weißt, ich kann nicht lügen!« Von Talos drang ein stürmisches Kichern an mein Ohr, aber Tempus beeilte sich, ihn in die Schulter zu knuffen. »Das ist nicht die Zeit für Schadenfreude. Nicht, wo wir unmittelbar vor dem Jahr des Blutbads standen.« Talos kehrte an seinen Platz im Kreis zurück, und Tempus folgte ihm. Als die anderen Götter auch wieder an ihre Plätze zurückgingen, schüttelte Cyric mich von seiner Stiefelspitze. »Mit dir befasse ich mich später.« Er wies auf die Wand, wo ich zu meiner großen Erleichterung immer noch mein modriges Herz auf dem Boden pochen sah. »Bring mir dein Herz.« Ich rannte zwanzig Schritte durch den Pavillon und kniete nieder, um meine Hände schützend um die wertvolle Masse zu legen. Es stank nach verdorbenen Früchten, und an einer Seite verunzierte es ein bräunlicher Fleck, wo der Stiefel eines Gottes es erwischt hatte, doch das kümmerte mich kaum. Ich hob es mit beiden Händen hoch und drückte es wie ein Kind an meine Brust. Seine Außenhaut war weich und samtig, und innen drin sah das Herz fast flüssig aus, und ich schätzte mich immer noch glücklich. Wenn jemand in diesem Zustand auf es getreten wäre, hätte es sich über den Boden verteilt, wie eine zermatschte Pflaume.
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»Malik! Ich warte auf mein Beweisstück.« Um die Wahrheit zu sagen, war es mir nicht so ganz recht, das Beweisstück aus der Hand zu geben. Da ich aber wohl kaum in meine eigene Brust fassen und das Herz an seinen rechten Fleck zurückschieben konnte, war mir klar, daß ich es früher oder später ohnehin weggeben mußte – und besser früher als später. Ich sprang auf und tat, wie der Eine mir geheißen. Sobald Cyric das Herz aus meiner Hand empfangen hatte, wuchs es zur Größe einer gigantischen Melone an, so daß es in seiner riesigen Hand wie ein pulsierender gelber Pfirsich aussah. »Dieses Herz half mir, die Wahrheit über meinen Zustand zu erkennen.« Cyric hob das modrige Ding hoch, damit alle es betrachten konnten, dann führte er es an seinen Mund und genehmigte sich einen großen Bissen von der Seite. Ein Schwall wäßriggelben Saftes lief ihm über das Kinn, und ich schrie auf, doch niemand schenkte mir Beachtung. »In Wirklichkeit bin ich immer noch ein wertvollerer Gott als jeder von euch!« Der Eine sprach mit vollem Mund, und zwischen den Worten schmatzte er vernehmlich. »Deshalb seid ihr auch alle eifersüchtig auf mich.« Ich dachte, mein Plan sei mißlungen, heulte verzweifelt auf und warf mich der Länge nach zu Boden. Cyric sprach jedoch weiter: »Ich muß jedoch zugeben, daß ich nicht mächtiger bin als jeder einzelne von euch.« Der Eine drehte mein Herz um, so als wolle er noch einen Bissen nehmen, dann schien er es sich überlegt zu haben und ließ es irgendwo in seiner Halsberge verschwinden. »Das war eine Vorgaukelung der Cyrinishad.
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Eine schöne Illusion« – nun schaute der Eine auf mich herab –, »aber nichtsdestotrotz nur eine Illusion. Ich denke, wir sind uns alle einig, daß es mir jetzt wieder besser geht.« »Das war deine Verteidigung?« schnaubte Lathander verächtlich. »Daß es dir wieder besser geht?« Cyric fuhr zum Fürsten des Morgens herum, als wolle er ihn angreifen, dann streckte er sich urplötzlich und schüttelte den Kopf. »Gewiß nicht. Ich habe nur eine Tatsache benannt.« Cyric ging hinüber und hob den goldenen Kelch vom Boden auf. »Meine Verteidigung lautet wie folgt: Selbst als ich noch verrückt war, habe ich wertvolle Dienste geleistet.« »Wie das?« Der Unvoreingenommene blickte finster drein, als er das fragte. Ehe der Prinz der Lügen antwortete, blickte er in den Kelch und lächelte, denn die Gefäße der Götter können ihren Inhalt nie versehentlich verschütten. Er brachte ihn Tyr und schob ihn unter des Gerechten Gottes Kinn. »Sieh hinein.« Tyr sah zwei Tränen am Grund des Kelches einander umkreisen, eine von ihnen schwarz glänzend, die andere silbrig funkelnd. »Das ist alles, was von der Liebe zwischen Mystra und Kelemvor noch übrig ist, und es gehört nun mir.« Cyric begann, den Rat zu umrunden, wobei er das Gefäß jedem der Götter unter die Nase hielt. »Ich war es, der Adon gegen Mystra aufbrachte, und es war Adons Unglaube, der Mystra und Kelemvor entzweite, und daran ist ihre Liebe zerbrochen. Es ist zwar nicht viel übrig, aber hier ist es jedenfalls, und es gehört mir.«
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Cyric setzte seinen Rundgang fort. Als Mystra und Kelemvor in das Gefäß blickten, zeigten sie keine Regung, auch schauten sie einander nicht an oder gaben sonst irgendeinen Hinweis auf die Gefühle, die sie einst für einander empfunden hatten. Cyric lächelte, als er von ihnen wegging, dann schloß er den Kreis, indem er vor Tyr stehenblieb. Er hob den Becher, dann drehte er sich zum Rest des Rats um. »Wenn ich die Liebe von Göttern zerstören kann, dann bin ich auch in der Lage, das Dasein der Sterblichen Faerûns mit Zwietracht und Uneinigkeit zu erfüllen.« Cyric führte den Kelch zum Mund und warf den Kopf in den Nacken, denn die Tränen, die ein gebrochenes Herz vergossen hatte, waren schon von jeher sein liebster Opfertrunk gewesen. Sobald die beiden Tropfen seine Kehle hinabgeronnen waren, schmatzte er und zerschmetterte den Kelch auf dem Boden. Er wandte sich dem Fürsten des Wissens zu. »Was meinst du? Schuldig und klar im Kopf oder unschuldig und irre?« »Wir müssen dich mit demselben Maß messen wie Mystra und Kelemvor, und obgleich auch du in den vergangenen Jahren Fehler begangen hast, müssen wir wohl alle eingestehen, daß du wieder genauso verderbt bist wie früher.« Oghma blickte am Einen vorbei und richtete sich an die anderen Götter. »Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß wir Cyric nicht aufgrund seiner teuflischen Art verurteilen dürfen. Das ist nun einmal das Wesen der Zwietracht, und er wäre nicht imstande, seinen Pflichten nachzukommen, wenn er nicht abgrund-
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tief böse wäre. Ich sage, wir befinden den Prinzen der Lügen für – schuldig und bei klarem Verstand.« »Niemals!« Feuerhaar schüttelte ihre feuerrote Mähne, daß die Flammen nur so durch den Saal stoben. Sie war die Göttin der Liebe wie auch der Schönheit, und Cyrics Wirken hatte sie zutiefst gekränkt. »Nicht nach all dem, was er Mystra und Kelemvor angetan hat.« »Ich befinde zugunsten Cyrics«, erklärte Chauntea. »Ob nun besser oder schlechter, zumindest ist er heil in unsere Mitte zurückgekehrt.« »Schuldig und bei klarem Verstand.« Der Fürst des Morgens erklärte sich nicht weiter, es erwartete ohnehin niemand, daß er Chauntea widersprach. Silvanus schüttelte den gehörnten Kopf. »Nein – klar im Kopf oder verrückt, er glaubt, es wäre sein Recht, mit Faerûn zu verfahren, wie es ihm beliebt, und das kann ich nicht dulden. Ich muß mich gegen ihn aussprechen.« »Ich auch«, meldete sich die Herrin der Nacht zu Wort. »Man kann nicht darauf trauen, daß er tut, was getan werden muß. Wir sollten ihn seiner Kräfte berauben und sie unter uns aufteilen.« »Natürlich«, sagte der Tempus. »Du würdest die ganze Schöpfung unter dein schwarzes Laken stecken, wenn du könntest. Ich meine, wir können uns keinen Besseren als ihn wünschen, um Zwietracht in der Welt zu säen – so lange er gelobt, nie wieder die Cyrinishad zu lesen oder auch nur danach zu suchen.« Cyric erhob die Rechte. »Ich schwöre.« »Wenn du das glaubst«, knisterte der Zerstörer, »dann bist du verrückter, als Wurmhirn es je war. Ich spreche mich gegen ihn aus ...« Talos verstummte, dann
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zuckte er die Achseln. »Weil ich es will.« »Das heißt, es steht vier gegen vier«, vermeldete Tyr, »und Cyric darf nicht abstimmen.« Cyrics Gesichtsausdruck ging von Überheblichkeit zu Erschütterung über. »Warum das denn?« »Weil das das Gesetz dieses Rats ist«, antwortete Tyr. »Ich werde mich nun ebenfalls gegen dich aussprechen. Du warst noch nie ein stabiler Gott, und ich habe den Verdacht, daß du schon verrückt warst, lange bevor du zu einem von uns wurdest. Du bist verrückt und unzuverlässig, und deshalb stellst du eine fortwährende Gefahr für das Gleichgewicht dar.« »Bitte?« Der Prinz der Lügen taumelte rückwärts gegen das Geländer und sah die Herrin der Mysterien und den Fürsten der Toten an. Mir wurde der Magen flau, und ich begann vor Angst zu schlottern. In diesem Moment wurde mir klar, daß all mein Leiden umsonst gewesen war, und ich machte mich bereit, mich vor Tyr zu Boden zu werfen und ihn um Gnade anzuflehen. Im Gegensatz zu Cyric; die Bestürzung in seinem Gesicht verwandelte sich in Wut, und er stürmte auf den Unvoreingenommenen los. »Du hinterhältige Viper! Du Heuchler!« »Cyric!« Obwohl Kelemvor das Wort gebellt hatte, enthielt seine Stimme keinerlei Emotion, weder Zorn noch Angst noch Gespanntheit. Der Eine hob die Stirn und knurrte den Herrn der Toten dann an: »Grins ruhig hämisch. Ich werde zurückkehren, und dann wird die Schadenfreude über dich auf
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meiner Seite sein.« »Ich weiß, das wirst du versuchen«, gab der Fürst der Toten zurück. »Aber was ist jetzt? Wirst du dich dem Urteil des Rats beugen?« Der Eine ließ seinen Blick durch den Pavillon schweifen und grinste jeden Gott an, der gegen ihn gestimmt hatte, und als er seine Augen wieder auf Kelemvor richtete, spuckte er auf den Boden und nickte. »Was hab ich denn für eine Wahl?« »Keine«, kam die Antwort des Fürsten der Toten. »Ich wollte nur sehen, ob du das auch erkannt hast; das hast du, und darum befinde ich dich für geistig gesund.« »Schuldig? Du sprichst dich für mich aus?« Die silberne Totenmaske nickte. »Hast immer noch Angst vor mir, nicht wahr?« Cyrics Grinsen war zurückgekehrt, denn ihm war klar, daß Kelemvor nicht aus Pflichtgefühl so entschieden haben konnte. »Das vergesse ich dir nicht.« »Da bin ich mir sicher«, sagte Tyr. »Aber noch haben wir dich nicht für schuldig befunden. Die Entscheidung liegt nun bei der Herrin der Mysterien.« Das Gesicht des Prinzen der Lügen gefror, und ich schwöre, das Blut in meinen Adern hörte auf zu fließen. Daß Kelemvor für den Einen stimmen würde, war vorbestimmt gewesen; mir war das jetzt klar, denn der Thronräuber war ein Feigling und ein Narr, der beim Gedanken an die Rache unseres finsteren Herrn das große Zittern bekam. Was aber war mit Mystra? Sie war fast ebenso furchtlos wie der Prinz der Lügen selbst und verstand es, aus jeder Lage ihren Vorteil zu ziehen, wenn sie glaubte, es wäre ein Sieg zu erringen.
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Cyric richtete seinen Blick auf die Hure und versuchte nicht, Versöhnung zu heucheln, denn er wußte, daß sie ihm nicht glauben würde. Entweder würde sie sich wie Kelemvor vor seinem Zorn fürchten. Oder sie war eine Närrin und versuchte, sich ihn vom Hals zu schaffen. »Also?« forderte Cyric sie heraus. »Nach allem, was du getan hast, wie kannst du da noch fragen? Mein Haß auf dich ist stärker denn je.« Oghma nahm ihren Arm. »Du bist jetzt eine Göttin. Es ist schon lange Zeit, diese ...« Mystra fuhr ihn an: »Ich habe genug von deinen Lektionen, Oghma! Du brauchst mich nie mehr an meine Pflicht dem Gleichgewicht gegenüber zu erinnern oder mir erzählen, wie ich sie am besten erfülle!« Oghma erbleichte und ließ ihren Arm los. Ich hingegen begann zu beben wie ein Kind. Die Metze war alles andere als ängstlich; ich schaute Kelemvors Silbermaske an und tröstete mich damit, daß meine Qualen nach den zahlreichen Veränderungen, die er an der Stadt der Toten vorgenommen hatte, vermutlich nicht viel schlimmer sein würden als das, was ich in meinem Dienst am Einen schon hatte erleiden müssen. Doch man nennt Mystra nicht umsonst die Herrin aller Mysterien. Sie blickte zurück und sah den Prinzen der Lügen an, und ich sah sein Grinsen. Dann war mir klar, daß Cyric in seiner grenzenlosen Gerissenheit etwas gesehen hatte, was sich mir noch verschloß. Als Mystra dann sprach, hatte sich ihr Zorn gelegt. »Aber mein Haß ist hier nicht das Thema – und Cyric weiß das ebensogut wie ich. Wenn ich ihm keinen Haß entgegenbrächte, wäre er nicht der Richtige für seine
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Aufgabe. Als Göttin der Magie darf ich Gefühle haben.« Hier schenkte sie Oghma einen Blick, den jeder, der noch recht bei Trost ist, für Besserwisser bereithält, und fuhr dann fort: »Aber als eine Wächterin des Gleichgewichtes muß ich auf meinen Verstand hören.« »Überlege gut«, drang der Unvoreingenommene auf sie ein. »Sobald du gesprochen hast, kann das Urteil nicht mehr rückgängig gemacht werden. Du könntest den Tag dieser Entscheidung irgendwann verfluchen.« »Das tue ich schon«, gab Mystra zurück. »Aber als der Rat zu meinen Gunsten entschied, da habe ich gelobte mich von nun an wie eine Göttin zu verhalten, nicht wie eine Sterbliche.« Die Metze wandte sich Cyric zu. »Ich spreche mich für den Prinzen der Lügen aus.«
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Epilog Mystra hatte kaum zu Ende gesprochen, da hatte sich der Zwölferrat auch schon aufgelöst, und ich blieb mit dem Einen allein zurück. Sofort verwandelte sich der Pavillon von Cynosure in eine abscheuliche Lasterhöhle, übersät mit Liegen und Kissen und so dermaßen erfüllt von Schwaden süßlichduftender Parfüms und schwarzen Rauchs, daß ich kaum noch atmen konnte. Cyric schrumpfte auf eine Größe zusammen, die meiner etwas ähnlicher war, und ließ sich tief in ein Sofa aus Plüschkissen sinken. Ich wagte es, auf ihn zuzugehen und mich vor ihm niederzuwerfen. Er seufzte laut, ließ dann den Kopf in den Nacken fallen und sah sich die nackten Teufel an der Decke an. Viele Minuten lang blieb ich auf dem Boden liegen, bis meine Knie taub waren und meine Gelenke vor Kälte schmerzten, und selbst dann wagte ich mich noch nicht wieder hoch. Ich mußte jetzt vorsichtig sein, denn Tyrs Schutz hatte mit dem Prozeß geendet, und ich war nun wieder genauso zerbrechlich wie jeder andere – vielleicht sogar noch etwas mehr. In der Tat hielt ich es für ein kleines Wunder, daß mich der schleimige Klumpen in meiner Brust noch nicht umgebracht und auf die Suche nach meiner Frau in die Stadt der Toten geschickt hatte. Schließlich geruhte der Eine, mich zu bemerken. Ohne seinen Blick von der Decke abzuwenden, fragte er, »Malik, willst du irgendwas von mir?« »Nein, Allmächtiger!« und zu meinem schier unglaublichen Entsetzen ließ Mystras verdammter Zauber mich immer noch hinzufügen: »Nur ein oder zwei Dinge, und für einen höheren Gott sollten sie
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für einen höheren Gott sollten sie eigentlich ganz leicht zu gewähren sein.« An dieser Stelle schwor ich Mystra Rache, denn ich wußte nun, daß ich auf ewig gezwungen sein würde, stets die Wahrheit zu sagen. Cyric riß seinen Blick von der Decke los und sah auf mich herab. »Ein oder zwei Sachen?« »Da ist noch die Sache mit unseren Herzen«, antwortete ich. »Ich bin sicher, daß du deines zurückhaben möchtest. Und, obgleich es mir eine große Ehre war, dir das meine zu leihen, werde ich später sicher noch Verwendung für es haben.« Der Eine faßte in seinen Mantel und zog mein armes, geschundenes Herz hervor. Es war kaum etwas von ihm übrig. Das meiste von der Flüssigkeit war ausgelaufen, und es war mittlerweile so platt wie ein Schuh. »Du willst das hier zurück? Es funktioniert aber vielleicht gar nicht mehr.« Der Gedanke war mir auch schon gekommen, und doch haßte ich es, das Herz des Einen zu behalten, denn ich machte mir Sorgen darum, was es mit dem Rest meines Körpers anrichten könnte. »Vielleicht kann man es reparieren, Allerhöchster. Ich bin sicher, du willst dein eigenes zurück.« »Ich glaube nicht, Malik.« Cyric schüttelte den Kopf, dann warf er mein Herz über seine Schulter. »Ich kann mir jederzeit ein neues suchen, aber du behältst besser meins. Du wirst es brauchen.« Hier wurde mir der Magen etwas flau. »Werde ich das?« Der Eine nickte, dann klopfte er neben sich auf die
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Couch. Ich stand auf und setzte mich auf den Rand des Kissens. »Ich habe etwas Besonderes mit dir vor, Malik.« Cyric legte mir seinen Arm um die Schulter. Mein orangefarbenes Herzblut triefte immer noch von seinen Fingernägeln. »Du wirst mein Lügenseraph werden.« »Lügenseraph!« schrie ich. »Aber ich kann doch überhaupt nicht lügen!« Jetzt lächelte Cyric. »Darum bist du ja so geeignet. Ich habe auch schon eine Aufgabe für dich; aber das bereden wir nachher. Du wolltest zwei Sachen. Was war die zweite?« Ich hob meine Hand und hielt Daumen und Zeigefinger ganz nah aneinander. »Eine Kleinigkeit, Allmächtiger. Ich habe mich gefragt ...« Meine Angst wuchs so sehr, daß nicht einmal Mystras Magie mich aus meinem Zaudern reißen konnte. »Ich habe mich gefragt, was für eine Belohnung ...« »Belohnung?« Cyrics Hand krallte sich in meine Schulter, und es war ein Wunder, daß er mir nicht die Knochen brach. »Nach allem, was du getan hast?« »Was ich getan habe?« Ich sprang – ich konnte es nicht verhindern. »Ich habe dich vom Wahnsinn geheilt und dich davor bewahrt, für unschuldig erklärt zu werden!« »Sicher – aber ich hatte dir befohlen, die Cyrinishad zu beschaffen.« Cyric zerrte mich wieder herunter und drückte mich so tief in die Kissen, daß ich fürchtete zu ersticken. »Du hast mich enttäuscht – dafür sollte ich dich eigentlich in die Stadt der Toten schicken, zu deiner Frau.«
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Ich begann zu zittern, denn nun wußte ich sicher, was ich bisher nur befürchtet hatte – daß, wenn ich meine Frau jemals wiedersehen würde, es nicht im Palast des Einen sein würde. Cyric fuhr fort: »Aber du hast mir auch geholfen zu erkennen, daß ich nicht der unbewegte Beweger des Multiversums bin, und deshalb verzeihe ich dir dein Versagen.« Der Eine kam mit seinem Gesicht so nah an meines heran, daß ich nicht auszuatmen wagte, aus Angst, mein Atem könne ihn beleidigen. »Aber das kann sich ändern. Ich habe einen Plan – und du spielst eine Rolle darin.« »Ich?« Ehrlich gesagt hatte ich auf eine etwas geringere Belohnung gehofft. »Welche denn?« »Wenn es soweit ist ... wenn es soweit ist, werde ich alles enthüllen.« Er grinste, drehte sich um und stand auf. »Aber vorher mußt du Buße tun.« »Buße tun!« rief ich aus – aber ich beeilte mich hinzuzufügen: »Was immer du auch befiehlst, Allerhöchster.« Der Eine faltete die Hände auf dem Rücken, dann drehte er sich um und schlenderte in Richtung der Wand des Pavillons. »Ich will, daß du einen Bericht verfaßt, Malik – eine Chronik der Suche nach der Cyrinishad, auf daß ein jeder meiner Anhänger von den zahlreichen Prüfungen erfährt, die ihr Gott um ihretwillen über sich ergehen ließ.« »Jawohl!« Mir wurde schlagartig klar, daß ich gesegnet war, daß die Vision, die in der Steppe vor Kerzenburg über mich kam, Wirklichkeit würde, daß ich unter einem sturmwolkenverhangenen Himmel vor einer gewaltigen Heer-
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schar von wahren Gläubigen stehen und zu ihnen in der donnernden Stimme des wahren Propheten sprechen und die Kirche der Getreuen unter meinem Banner wiedervereinen würde! In meiner Erregung sprang ich auf und folgte dem Einen auf dem Weg zur Wand des Pavillons. »Es wird eine wahre und getreue Chronik des Prozesses gegen Cyric den Wahnsinnigen, und ich werde alles berichten, von dem Zeitpunkt an, da ich die Cyrinishad entdeckte, bis gerade eben, als wir Faerûn vor einer zweiten Zeit der Sorgen bewahrten!« Cyric fuhr zu mir herum, schwarzes Feuer in den Augen. »Wir?« So begab es sich, daß Cyric der Einzige diesem unwürdigen Bericht seinen Segen erteilte, daß er mein untreues Herz erneuerte und mich auf den Weg des Glaubens zurückführte und daß er mir die Augen mit der Flamme von Wahrheit und Herrlichkeit blendete, bis ich all dessen gewahr wurde, was sich seit der Zeit vor der Schleifung der Zentilfeste auf der Welt und in den Himmeln zugetragen hatte, auf daß ich in vollkommener Exaktheit und absoluter Wahrheitstreue all das darzulegen imstande wäre, was Menschen und Götter während der Suche nach der heiligen Cyrinishad getan haben. Gepriesen sei Cyric der Eine, Mächtigster, Allerhöchster, Finstere Sonne, Schwarze Sonne, Herr der drei Kronen und Prinz der Lügen. Aller Segen und alle Kraft werden seiner Kirche und seinen Dienern zuteil. Mögen sie in der Zeit nach dem Jahr des Blutbads allein über die Königreiche der Sterblichen gebieten und auf immer im ewigen Palast gedeihen!
Dies ist das Buch des Seraphen Malik el Sami yn Nasser, Günstling des Einen und wahrer Prophet aller Gläubigen, und es ist ein vollständiger Bericht über meinen treuen Dienst an Cyric dem Einzigen hier in den grenzenlosen Landen Faerûns und weit darüber hinaus, und es ist ein Zeugnis jener großen Belohnung, die mir für meinen aufopferungsvollen Dienst im Verlaufe des Prozesses gegen Cyric den Wahnsinnigen zuteil wurde. Jedes noch so winzige Stück dieses Berichtes stimmt, und ich schwöre, wenn auch nur ein einziges Wort falsch ist, dann sind es alle!
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