BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12688 1. Auflage: August 1997 2. Auflage: Oktober 1997 Titel der amerikanischen Originala...
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 12688 1. Auflage: August 1997 2. Auflage: Oktober 1997 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Homeland Komposition »Ragtime Rose« © 1993 by Charles Strouse © 1994 für die deutsche Ausgabe unter dem Titel: Licht und Schatten © 1995 Die Flamme der Freiheit by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Published by arrangement with the author c/o Rembar & Curtis, 19 West 44th Street, New York, NY 10036, USA Lizenzausgabe: Bastei Verlag Gustav H. Lübbe, GmbH & Co. Bergisch Gladbach Printed in Germany Einbandgestaltung und Illustrationen: Achim Kiel AGD/BDG PENCIL CORPORATE ART Braunschweig Satz: Kremerdruck GmbH, Lindlar Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-404-12688-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Gewidmet meinem Großvater William Carl Retz, geb. 1849 in Neuenstadt-am-Kocher, gest. 1936 in Terre Haute, Indiana Es gibt ein Photo von ihm in hohem Alter, auf dem er, immer noch gutaussehend mit seinem weißen Knebelbart, im gefleckten Sonnenlicht sitzt und einen Jungen auf dem Schoß hat. Ich erinnere mich an diesen oder einen ähnlichen Tag; die Sonne schien, und ein Exemplar von Argosy mit leuchtend gelbem Einband lag in Reichweite. Mein Großvater liebte gute Geschichten. In liebevollem Gedenken
VORBEMERKUNG DES AUTORS Dieser Roman ist der erste Band eines geplanten Zyklus über die Angehörigen einer amerikanischen Familie und ihre Verstrickung in die explosiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Man kann dieses Jahrhundert unmöglich verstehen, ohne etwas über das vergangene zu wissen. Diese Geschichte versucht daher, ein Bild von amerikanischem Leben und amerikanischer Historie in den Jahren zwischen 1890 und 1900 zu liefern, dem Jahrzehnt, in dem ein argloser Riese mit seinen Muskeln spielte und allmählich begann, ihre enorme Kraft zu begreifen und einzusetzen. Die Crowns leben in Chicago, weil es ein urtümlicher amerikanischer Ort ist und war und – was wahrscheinlich ebenso bedeutsam ist – weil ich schon immer über diesen wilden Schmelztiegel inmitten der Prärie schreiben wollte, in dem ich geboren und großgezogen wurde. Das zweite Thema des Romans, über das ich ebenfalls unbedingt schreiben wollte, ist die Situation der Einwanderer. Mein Großvater mütterlicherseits, dem dieses Buch gewidmet ist, war einer von ihnen. Er kam im Jahr 1870 in Castle Garden an. Die junge Deutsche, die er in Cincinnati heiratete, war ebenfalls eine Immigrantin. Die Wurzeln meiner Familie reichen zurück bis nach Deutschland, wo einige meiner Vettern immer noch wohnen, und zwar in Aalen, der Stadt, von der mein Großvater nach Amerika aufbrach. Deutschland, die Nation, die uns den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts bescherte, schenkte uns außerdem das weitaus größte Einwandererkontingent, das während des 19. Jahrhunderts hierher fand, starke Menschen und – trotz ihrer gelegentlich erzwungenen Loyalität – gute Amerikaner. Mein Großvater und seine Familie gelangten in Ohio und Indiana zu Wohlstand und Ansehen. Nicht alle Einwandererschicksale erfüllten sich auf diese Art und Weise. Jemand wie der Bäcker aus Wuppertal, eine eher unwichtige, aber typische Person in diesem Buch, war in der damaligen Zeit nicht gerade selten anzutreffen. J. J.
Denn er sagte, ich war ein Fremder in einem fremden Land. Exodus 2 Und ich stand heimatlos, wo Tausende daheim. William Wordsworth Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art und Weise unglücklich. Leo Tolstoi Erster Deutscher: »Ich habe einen Verwandten in Amerika.« Zweiter Deutscher: »Jeder hat einen Verwandten in Amerika.« Anonymus, um 1900
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Wellenumtost am Tor der Sonne sie stehen soll, Ein starkes Weib mit einer Fackel, die Flamme Ist der Blitz, von ihr gebändigt, ihr Name sei Mutter aller Fremden. 1883 The New Colossus ›von Emma Lazarus, geschrieben in der Absicht, Spenden zur Fertigstellung der Freiheitsstatue zu sammeln.‹
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1 PAULI Er dachte: Wo ist mein Zuhause? Hier ist es nicht. Aus einem wackligen Wandregal neben seinem schmalen Bett zog er ein zerknittertes Stück Papier. Es war eine Weltkarte. Er hatte sie aus einem Buch herausgerissen, das er in einem Antiquariat gefunden hatte, obgleich er sich diese Geldausgabe eigentlich gar nicht hatte leisten können. Er hatte das Buch nur wegen der Karte gekauft. Er betrachtete die verschiedenen Regionen, als sei er ein gottähnliches Wesen, das die Macht hatte, an jedem Ort der Erde zu leben. Aber er wohnte in Berlin und nirgendwo sonst. Manchmal liebte er die Stadt, aber manchmal, so wie in diesem Moment, fühlte er sich dort wie in einem Gefängnis. Erschöpft von der Arbeit, war er gegen Mitternacht nach Hause zurückgekommen und lag nun unter dem alten Federbett. Er konnte nicht schlafen und studierte die Landkarte. Es war fast zwei Uhr nachts, und Tante Lotte war noch nicht zurück. Sicherlich war sie wieder mit einem ihrer Herren ausgegangen, vermutete er. Er machte sich Sorgen wegen ihr. Früher war sie eine überaus großzügige, freundliche Frau gewesen, doch nun war sie zu ihm immer so kurz angebunden, als könne sie ihn nicht leiden. Als hasse sie es, ihn in ihrer Nähe zu sehen. Sie trank mehr als gewöhnlich. Gerade an diesem Morgen hatte er vor dem Verlassen des Hauses beobachtet, wie sie zweimal über ein Möbelstück gestolpert war. Sein Zimmer kam ihm winzig und eng vor, wie eine Zelle. Der Platz reichte kaum für sein schmales Bett, einen alten Kleiderschrank, dessen fehlendes Bein durch einen Holzklotz ersetzt worden war, und für einen wackligen Hocker mit einer Petroleumlampe darauf. Ein Nachttopf stand in einer Ecke neben einer Holzkiste, in der einiges Kinderspielzeug lag. Das Zimmer gehörte zu einer Kellerwohnung. Es hatte noch nicht einmal ein Fenster. Dieser Raum war oft eisig kalt. Die meiste Zeit war er auch feucht. Tante Lotte beklagte sich, daß es darin unordentlich war, sehr un-deutsch. Das gleiche konnte man auch von ihm selbst behaupten. Seine Kleider waren meistens in Unordnung, häufig hing ihm das Hemd aus der Hose. Seine Hosentaschen waren ständig vollgestopft mit alten Bleistiftstummeln, Kreidestücken, Steinen und Papierfetzen, auf denen er seine Gedanken notierte oder was er noch erledigen mußte; auch vergaß er dort Kekse oder Süßigkeiten, bis sie schließlich zerbröselt oder geschmolzen waren. Er ging nicht mehr zur Schule. Es hatte ihm dort nie gefallen, und
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deshalb hatte er den Schulbesuch vor einem Jahr eingestellt. Obgleich das Fernbleiben vom Unterricht gegen das Gesetz verstieß, kam niemand, um ihn zu holen. Niemanden schien es zu interessieren. Gedankenverloren berührte er die Landkarte, legte einen Finger auf einen Punkt mitten in Amerika, wo sein Onkel lebte. Wie so häufig nachts, drangen schmerzhafte Fragen in sein Bewußtsein. Fragen, die gewöhnlich so tief vergraben waren, daß er sie anderen Menschen gegenüber niemals laut äußerte. Wahrscheinlich fürchtete er, daß es darauf keine Antworten gab. Auch an diesem Abend blieben die Antworten aus. Langsam streckte er die Hand aus und legte die zerknitterte Landkarte wieder zurück ins Regal. Sein Name lautete Pauli Kroner. Er war dreizehn Jahre alt. Frühlingsregen trommelte gegen die triefnasse Glasscheibe. Blitze zuckten und leuchteten grell. Pauli blickte in das Schaufenster des Kaufhauses Wertheim in der Leipzigerstraße. Dekorateure hatten verschiedene Herrenund Damenmäntel um einen wunderschönen, prächtig kolorierten Globus drapiert. Die Erdkugel hatte an ihrer Achse Messinghalterungen und ruhte auf einem schweren, kunstvoll verzierten Holzständer. Die aufgemalten Meere und Kontinente des Globus schienen voller Geheimnisse und ungeahnter Möglichkeiten zu sein, erstaunliche Sehenswürdigkeiten, die Pauli gerne bewundert hätte. Wenn er doch nur genug Geld hätte, um sich einen solchen Globus zu kaufen … Etwas Hartes schlug gegen seinen Hinterkopf. »Verdammter Bengel! Lehn dich nicht gegen die Scheibe! Sonst zerbrichst du sie!« Pauli fuhr herum und sah den massigen Portier des Kaufhauses vor sich. Er verschwand beinahe in seinem schweren Mantel mit den goldenen Epauletten und Tressen. Regen tropfte vom Rand seiner ebenfalls betreßten Mütze herab. »Ich hab’ doch nur geguckt.« »Dann guck woanders. Wir dulden es nicht, daß so heruntergekommenes Pack wie du hier herumlungert. Das schreckt nur die Kundschaft ab.« Pauli stampfte mit dem Fuß auf und sagte: »Ich bin genauso gut wie jeder andere!« »Ach, tatsächlich?« erwiderte der Portier. »Du willst ein guter Kunde sein? Viel Geld ausgeben? Verschwinde lieber, ehe ich die Polizei rufe!« Pauli starrte den Portier wütend an, aber der Trotz verbarg nur, was er tatsächlich von sich hielt. Der Portier hatte es richtig erkannt: Er war ein Nichts.
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Er rannte durch den Regen davon, die Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt. Bald darauf, an einem Sonntagvormittag, ging Pauli mit einem billigen Notizblock unter dem Arm in den Tiergarten. Am Vorabend hatte er sich nach der Arbeit anhören müssen, wie Tante Lotte klagte, daß an diesem Samstag keiner ihrer Bekannten vorbeikäme. Ihre Worte hatten schwerfällig und undeutlich geklungen. Sie hatte starken Apfelwein getrunken. Als er am Morgen das Haus verließ, schlief sie noch. Er hatte ihr Schnarchen durch die geschlossene Tür hindurch gehört. Pauli eilte mit langen, energischen Schritten durch den Tiergarten. Er sah älter aus als dreizehn. Er würde niemals eine attraktive Erscheinung sein, aber er hatte freundliche, lebhafte blaue Augen, breite Schultern und eine stämmige Figur, die seine Männlichkeit unterstrich. Das Blut seiner Vorfahren, die aus Süddeutschland stammten, floß in seinen Adern, und da in seiner Familie die Anlage zu roten Haaren vorhanden war, zeigten seine Haare einen rötlichen Schimmer. Wenn er sich wohlfühlte, verbreitete er eine Aura von Stärke und Selbstsicherheit, die sich seinen Mitmenschen stets mitteilte. An diesem Sommermorgen verbarg sich das Grün des Parks hinter einer feinen Dunstschicht. Paul steuerte auf einen ganz bestimmten Punkt zu, auf eine Erscheinung, die sein Interesse fesselte. Ein älterer Mann hatte sich auf einem mit Gras bewachsenen Hügel ausgestreckt. Er hatte seinen Strohhut und seine Meerschaumpfeife neben sich gelegt und war eingeschlafen. Dabei ragte sein dicker, mit Weste bekleideter Bauch wie ein kleiner Berg empor. Pauli kniete sich in sicherer Entfernung hin, strich das oberste Blatt des Notizblocks glatt und suchte in den Taschen nach seiner Zeichenkohle. Er leckte eine dünne Schokoladenschicht von der Spitze ab und hielt den Stift startbereit über das Notizblatt. Eifer und Nervosität versetzten ihn in eine innere Anspannung: Er wollte von dem schlafenden Mann eine möglichst gute Zeichnung anfertigen, aber er hatte Angst zu versagen. Er begann mit den äußeren Umrissen des Schläfers, wie sie sich von der Seite darstellten. Nach vier Strichen wischte er alles weg. Die Proportionen stimmten überhaupt nicht. Irgendwie schaffte seine Hand es nicht, die Signale seiner Augen und seines Geistes zu verstehen oder umzusetzen. Pauli riß das Blatt ab und zerknüllte es fluchend. Der alte Mann erschrak, setzte sich auf und sah ihn an. Pauli errötete. Er sprang auf und rannte mit dem Notizblock und der Zeichenkohle davon. Dabei vergaß er sogar, die losen Blätter aufzuheben, die im Gras zurückblieben.
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Weshalb versuchte er es ständig wieder? Er wollte so gerne die wunderbaren Ansichten und Erscheinungen zeichnen, die so reichlich auf der Welt vorhanden waren. Aber er hatte nur wenig Talent dazu. Er bemühte sich immer wieder aufs neue, und jedesmal ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Manchmal kam es ihm so vor, als habe er zu nichts Talent. Einmal mehr stand Pauli auf dem Gehsteig vor dem großen Kaufhaus Wertheim in der Leipzigerstraße. Der Portier war nirgendwo zu sehen. Es war Ende Juli; die Abendsonne war angenehm warm und tauchte alles in ein goldenes Licht. Pauli sah eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Dame mit einem Einkaufsnetz aus dem Kaufhaus herauskommen. In diesem Augenblick löste sich ein bärtiger Mann aus der Schar der Passanten und stieß die alte Frau brutal zu Boden. Sie schrie auf, während er ihr das Einkaufsnetz entriß, wütend fluchend zwei Dosen Tee herausholte und dann kehrtmachte, um durch die Menschenmenge zu entkommen. Dabei rannte er auf Pauli zu. Pauli zögerte nicht. Er warf sich quer auf den Gehsteig. Der Dieb konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und stolperte über den Jungen. Pauli packte den zerschlissenen Mantelsaum des Diebs und brachte den Mann endgültig zu Fall. Dabei schlug er heftig mit dem Kopf aufs Pflaster. Der unfreundliche Pförtner erschien, aber er beachtete Pauli nicht. Aufgeregt beugte er sich über die alte Dame, redete beruhigend auf sie ein, während er ihr beim Aufstehen half und sie in das Kaufhaus geleitete. Der benommen am Boden liegende Dieb rührte sich und versuchte aufzustehen. Aber Pauli setzte sich auf ihn und hielt ihn fest. Zwei Kaufhausdetektive kamen heraus, um den Mann in Gewahrsam zu nehmen. Pauli stand auf und klopfte sich den Staub ab. Ein paar aufgebrachte Passanten versammelten sich und ballten drohend die Fäuste vor dem Straßenräuber. Die Polizei traf ein. Die Beamten bestanden darauf, daß Pauli auf die Wache mitkam. »Aber ich bin hier mit einem Freund verabredet.« Der Freund war Tonio Henkel, dessen Vater eine gutgehende Konditorei auf der Allee Unter den Linden besaß. »Keine Widerrede, du kommst mit!« Einer der Polizeibeamten ergriff seinen Arm, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Sie brachten ihn in ein Zimmer mit schmuddeligen gelben Wänden und dem unvermeidlichen Heldenbild von Kaiser Wilhelm II. als einzigem
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Wandschmuck. Zwei ernsthafte Kriminalbeamte schossen ihre Fragen wie Kugeln ab. »Name?« »Pauli Kroner.« »Alter?« »Vierzehn, im vergangenen Monat. Am 15. Juni.« »Adresse?« Widerstrebend nannte er die Hausnummer der Müllerstraße. Die Beamten tauschten einen schnellen Blick aus. Sie kannten die Gegend. Eine heruntergekommene Straße in einer der Arbeitersiedlungen. Beinahe ein Elendsviertel. In der nächsten halben Stunde wiederholte Pauli seine Geschichte mehrmals. Plötzlich schlug eine Klingel an. Einer der Beamten wurde nach draußen gerufen. Als er drei Minuten später wieder erschien, hatte sein Verhalten sich völlig verändert. »Ich habe gerade ein Telephongespräch geführt«, sagte er zu Pauli. »Du hast einer sehr einflußreichen Dame geholfen. Frau Flüsser. Sie ist die Schwiegermutter des stellvertretenden Kaufhausdirektors. Sie möchte, daß du morgen zu ihr kommst. Um neun Uhr. Ich glaube, sie will dir eine Belohnung geben. Ich schreibe dir ihre Adresse auf.« Der andere Kriminalbeamte klopfte ihm auf die Schulter. »Bist ein aufgeweckter Junge.« Vor Erleichterung und Freude benommen, verließ Pauli das Gebäude und rannte zum vereinbarten Treffpunkt mit seinem Freund in der Allee Unter den Linden. »Und der Polizist hat tatsächlich gesagt, du seist ein aufgeweckter Junge?« fragte Tonio Henkel. Er und Paul saßen an einem der hinteren Tische in der Konditorei Henkel. »Ja, das hat er«, antwortete Pauli achselzuckend und mit dem Tonfall gespielter Bescheidenheit. Er stopfte sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund, kaute ein paarmal und schluckte es hinunter. Tonio lächelte. Sein großes rundes Gesicht wippte über der Tischplatte auf und ab. Sein Kopf war viel zu groß für seinen zarten Körper. Pauli und Anton Henkel hatten sich bereits in der Volksschule angefreundet, von der Pauli im Vorjahr zu Ostern nach dem siebenten Schuljahr abgegangen war. Er war nach dem vierten Schuljahr nicht auf die Oberschule übergewechselt wie viele intelligente Schüler. Deshalb gehörte er zu jenen, die niemals eine bessere Ausbildung am Gymnasium erhalten würden. Tante Lotte hatte gegen seinen Schulabgang nur wenige Argumente vorgebracht. Sie
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brauchten jeden Pfennig, den er nun dazuverdienen konnte. Paulis Abgang von der Schule hatte seiner Freundschaft mit Tonio keinen Abbruch getan. Er mochte Tonios Sanftheit und seine anhaltende gute Laune. »Ich bekam es mit der Angst, als ich zu Wertheim kam und du nicht dort warst«, gestand Tonio ihm. »Ich konnte nichts dafür«, entschuldigte Pauli sich und bediente sich erneut von dem Kuchen, den er ebenso schnell vertilgte wie das Stück zuvor. Er warf einen Blick auf die vergoldete Wanduhr. Kurz vor zehn. Er mußte nach Hause und früh zu Bett gehen, um am nächsten Tag pünktlich zu sein. »Wann besuchst du die alte Dame, die dich belohnen will?« erkundigte sich Tonio. »Morgen früh um Punkt neun.« »Was meinst du, was die alte Dame dir geben wird? Vielleicht darfst du dir was wünschen.« »Ach, das glaube ich nicht.« Tonio grinste. »Vielleicht schenkt sie dir eine Fahrkarte nach Amerika.« »O ja, die wünsch’ ich mir«, sagte Pauli spöttisch. Dann fuhr er fort: »Ich gehe jetzt besser. Tante Lotte kennt meine Arbeitszeiten genau, sie weiß, daß meine Schicht zu Ende ist. Sicherlich wird sie sich schon längst fragen, wo ich bleibe.« Tonio ging mit ihm nach vorne in den Laden. Dabei hielt er seinen großen Kopf leicht gesenkt, als trüge er eine unendlich schwere Last. »Wie klappt es in der Schule?« wollte Pauli wissen. Tonio schien auf diese Frage nur ungern zu antworten. »Die Schule. Ja – nun, also – da hab’ ich schlechte Neuigkeiten.« Pauli blieb an der Tür stehen und warf einen Blick hinaus auf das Treiben der Allee. Die Linden, die ihr den Namen gaben und die Gehsteige säumten, bewegten sich sacht im Wind. Hübsche Pferdekutschen rumpelten vorüber. Der Abend war klar und frisch. Kälteres Wetter war von der Nordsee herangezogen. Pauli bemerkte einen völlig untypischen Ausdruck der Angst in den Augen seines Freundes. »Du weißt doch, daß jede Woche der Arzt zu uns kommt und uns auf Anzeichen von Krankheit oder Lernschwächen untersucht?« Pauli nickte. »Heute wurde ich untersucht und – äh – ausgesondert. Ich muß in Zukunft eine besondere Schule besuchen. Eigentlich soll es eher ein Lager sein, wie erzählt wird. Im Herbst werde ich dort angemeldet. Der Arzt sagte, es täte ihm leid, aber es sei notwendig.« »Das ist ja schlimm, Tonio.« Wenn ein Schüler von der Schule genommen wurde, weil er behindert oder geistig schwach war, dann gab es
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keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu beeinflussen. Der Schularzt hatte einmal, als er zu einem Untersuchungstermin in der Schule war, erklärt: »Es ist die einzige Möglichkeit, um das Niveau zu halten. In Deutschland herrscht jetzt ein neuer Geist.« Wenn der neue Geist so aussah, dann hatte Pauli wenig dafür übrig. Vielleicht war das auch der Grund, daß er sich so brennend für das Land interessierte, in das sein Onkel vor einigen Jahren ausgewandert war. »Tonio, das tut mir wirklich leid.« »Ja, mir auch. Aber mach dir keine Sorgen, ich komme schon irgendwie zurecht.« Pauli legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter, drückte sie und machte sich auf den Heimweg. Seine Absätze klapperten auf dem Pflaster, als er durch die Straßen wanderte. Welkes Laub raschelte im kühlen Wind. Die Straßen hallten vom Lachen und den lebhaften Gesprächen der Passanten wider. Aus den Bierhallen drangen rauhe Stimmen und das Klirren von Bierkrügen. Dazwischen erklang die melodische Weise eines Leierkastens. Angesichts der Verabredung am nächsten Morgen war die Nacht voller Erwartung und Zauber. Pauli liebte Berlin wieder. Nun, warum auch nicht? Berlin war schließlich eine der größten Metropolen der Welt. Anderthalb Millionen Menschen drängten sich in den alten Straßen und erzeugten ständig Lärm und Hektik, zugleich aber auch eine Atmosphäre voller Energie, Kraft und Bedeutsamkeit. Das Rumpeln und Rattern der Kutschen und Pferdewagen würde bis zum frühen Morgen nicht verstummen. »Spree-Athen« nannten die alten Bewohner ihre Stadt. Für Rathenau, den Inhaber der Elektrizitätswerke, war sie wegen des Qualms, des Schmutzes und der unaufhaltsamen industriellen Entwicklung das »Chicago an der Spree«. Tante Lotte hatte andere, weniger schmeichelhafte Namen für die Stadt. »Dreckloch des Elends« war einer davon. In den Straßen sah man alle Arten von Menschen. Elegante Frauen und zerlumpte Zigeunerinnen. Reisende, Beamte, Geschäftsleute, Juden mit der typischen Barttracht und Schläfenlocken, bekleidet mit schwarzen Anzügen und langen schwarzen Mänteln. Pauli hatte noch nie mit einem Juden gesprochen, von den Ladenbesitzern unter ihnen einmal abgesehen. Man sah alte Landjunker, die von ihren Gütern angereist waren. Sie blickten überheblich und rauchten teure schlanke Zigarren. Tonios Vater behauptete immer, die Junker kontrollierten das Land, das neue kaiserliche Deutschland. Er sagte, der Eiserne Kanzler, Bismarck, habe die alte »Stahl-
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und Roggenbande« zurückgeholt – die Soldaten und die Landbesitzer. Er sagte, ihr Einfluß sei gut für Deutschland im Verbund mit der Politik Bismarcks, der die Bedeutung Deutschlands durch ein starkes Militär festigen wollte. Ja, Berlin bot ein prächtiges Bild. Aber Pauli war nicht mehr so überzeugt, daß Berlin für immer seine Heimat sein würde. Er dachte immer häufiger an Amerika. Vor allem an eine Stadt, an Chicago, und an den Onkel, den er nie kennengelernt hatte. Den Onkel, der Bierbrauer war und reich. Außerdem verabscheute Pauli seine Arbeit in der Küche des berühmten und eleganten Hotels Kaiserhof. Dort wischte er den gefliesten Küchenboden, räumte die Tabletts mit schmutzigem Geschirr ab und leerte die stinkenden Eimer mit den Küchenabfällen, bemüht, den Faustschlägen und Fußtritten der leicht aufbrausenden Köche auszuweichen. Manchmal arbeitete er tagsüber und manchmal bis tief in die Nacht, aber die Plackerei war immer die gleiche. Der einzige Lichtblick war die Möglichkeit, sich ab und zu für einige Minuten zu Herrn Trautwein, dem Hausdiener, davonzustehlen. Er war ein stämmiger Junggeselle, der, wann immer es möglich war, in die Betten der weiblichen Gäste kroch. Er begeisterte sich außerdem für moderne Erfindungen jeder Art und erzählte ununterbrochen, aber niemals langweilig, vom neuen Zeitalter der Mechanisierung, das im nächsten Jahrhundert die Welt erleuchten würde. In der Müllerstraße klapperten die Abortentleerer – durchweg Frauen – mit den Deckeln der Fäkalienbehälter, als Pauli um die Ecke bog. Jemand beugte sich aus einem Fenster, um sich über den Lärm zu beschweren. Der Fäkaliengestank trieb durch die triste Straße. Nur der warme, würzige Geruch, der von der Norddeutschen Brauerei ein paar Straßen weiter herübergeweht wurde, milderte den durchdringenden Gestank von Exkrementen und Schmutz. Die Glocke der katholischen Kirche eine Straße weiter schlug die Viertelstunde. Pauli lief die Treppe zur Tür der Kellerwohnung hinunter, die er zusammen mit Tante Lotte und ihren zahllosen Herren bewohnte. Für lange Zeit, ehe Tante Lotte sich entschloß, Herrenbesuche zu empfangen, war eine Ecke des Wohnzimmers von ein oder zwei Schlafburschen benutzt worden, Untermietern, die tagsüber außer Haus waren und nachts hinter einem Vorhang dort schliefen. Nun gelangte jeder Gast früher oder später in Tante Lottes Schlafzimmer. Pauli öffnete die Tür. Es war eine kleine Wohnung mit bemalter Gipsdecke, die eine bedrückende Wirkung hatte. Die unentbehrlichen,
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allmählich vergilbenden Spitzenvorhänge verbargen die wenigen Fenster des Raumes. Das Wohnzimmer, wo Pauli seine Tante antraf, war mit dunklen Möbeln zugestellt. Sie trug ihr bestes geblümtes Kleid und hatte Besuch von einem Amerikaner, der ungefähr alle sechs Monate bei ihr erschien. »Du kommst spät, wo warst du?« fragte Tante Lotte. »Du siehst ja noch unordentlicher aus als sonst.« Lotte war dreiundvierzig Jahre alt, eine attraktive, vollbusige Frau mit braunen Locken, hellblauen Augen und einem verkrüppelten linken Fuß. Der linke Schuh hatte eine mehrere Zentimeter dicke Sohle, und wenn sie ging, bemühte sie sich ständig, nicht zu sehr zu hinken. Pauli dachte oft, daß der Fuß sie sicherlich um die schönen Dinge des Lebens gebracht habe. Natürlich, sie legte auch einen gewissen Eigensinn an den Tag. Sie war sehr unabhängig und von sich selbst eingenommen, was er bei jemandem, der in solch ärmlichen Verhältnissen lebte, überaus sonderbar fand. Von ihrer Frage eingeschüchtert, wußte Pauli nicht, wo er anfangen sollte. Lotte hob ihr Glas. »Na los, red schon! Ich will eine Erklärung.« »Ich wurde auf dem Polizeirevier festgehalten –« »Polizei!« rief sie entsetzt. »Mein Gott, was hast du getan?« »Heh, laß den Jungen doch ausreden«, sagte der Gast. Er erhob sich, um sich ein weiteres Glas Champagner einzugießen. Er brachte immer eine Flasche als Gastgeschenk mit. Phil Reynard bereiste ganz Europa und verkaufte Globus-Nähmaschinen. Er war ein sich lässig bewegender, rundlicher Mann, der seine Haare färbte, damit sie ihre glänzende braune Farbe behielten. Sein Deutsch war hervorragend. »Nun erzähl schon, und faß dich kurz«, verlangte Tante Lotte. Und Paul berichtete alles. »Nicht schlecht, gar nicht übel. Er hat sich sogar eine Belohnung verdient«, sagte Reynard und lächelte amüsiert. Nun schenkte Tante Lotte sich von dem Champagner nach. »Schön, ich glaube, du hast das Richtige getan. Das entschuldigt jedoch nicht die Tatsache, daß dir alles Mögliche hätte zustoßen können. Gewöhn dir nur nicht an, dich mit Kriminellen abzugeben, Pauli. Und eins noch, wenn du morgen danach gefragt werden solltest, was du dir als Belohnung wünschst, dann bitte um Geld. Und jetzt geh ins Bett, und laß uns in Ruhe!« Pauli ging durch den langen, dunklen Korridor zu seinem Zimmer. Dort zündete er die Petroleumlampe an – in diesem Keller gab es noch kein elektrisches Licht. Er versetzte der Tür einen heftigen Stoß, damit das Schloß einschnappte. Während er seine Jacke abstreifte, fragte er sich, niedergeschlagen wie
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schon so oft zuvor, was über seine Tante gekommen war. Bis vor einem Jahr hatte zwischen ihnen eine liebevolle, großzügige Beziehung bestanden. Dann hatte irgend etwas dafür gesorgt, daß sie sich veränderte. Er konnte nicht erraten, was es war, aber die Veränderung war da. Er konnte sie sogar an ihrem Gesicht ablesen, das früher einmal rosig und gesund gewesen war, nun jedoch ein geisterhaftes Grau angenommen hatte. Er sah sich in dem erbärmlichen Zimmer um, und sein Blick fiel auf die Andenkensammlung, die auf die alte Tapete mit ihren eher an Unkraut erinnernden Blumen geheftet worden war. Der größte Teil der Sammlung bestand aus Ansichtspostkarten mit vorwiegend exotischen Szenerien. Die Sphinx. Ein Rikschafahrer vor der Chinesischen Mauer. Die Zwiebeltürme von Moskau. Ein amerikanischer Cowboy auf seinem Pferd. Eine imposante Felsformation namens El Capitan im Yosemite Valley, einem abgelegenen Ort in Amerika. Postkarten mit Landschafts- und Witzmotiven waren in Deutschland überaus beliebt. Wenn die Bilderklärungen in Englisch waren, übersetzte Tante Lotte sie ihm. Dank der internationalen Kontakte in ihrem Gewerbe beherrschte sie verschiedene Sprachen bruchstückhaft. Pauli wurde es niemals leid, die Postkarten zu betrachten. Zwei Heftzwecken hielten die schwarz-rot-goldene Flagge der gescheiterten Revolution von ‘48. Darunter befanden sich Fähnchen in weiß, rot und blau, die er von einem Diplomatenempfang im Hotel mitgenommen hatte. Sie erinnerten ihn anschaulich und ständig daran, daß er einen Onkel in Amerika hatte. Pauli bemühte sich, nicht zu oft an seinen Wunsch zu denken, seinem Onkel zu folgen, denn der Traum war derart phantastisch, daß er ihm schon absurd vorkam. Er hatte jedoch ein Symbol dafür, das er separat von den anderen Postkarten und Andenken festgeheftet hatte. Es war ein rechteckiges Stück Pappe für ein Zimrnerstereoskop, sepiafarben und an zwei Ecken geknickt. Einer der Herren seiner Tante hatte es ihm gegeben, ein fetter Amerikaner, der Dynamos verkaufte und versuchte, SiemensHalske damit Konkurrenz zu machen. Auf der Karte blickte die Kamera in zwei Ansichten über den Bug eines großen Schiffes, das gerade in den Hafen von New York einlief. Die große Stadt ragte im Hintergrund auf. Im Vordergrund stand eine wundervolle Statue auf einer felsigen Insel. In der erhobenen Hand hielt sie die Fackel der Freiheit. In der Beuge ihres linken Arms ruhte eine große Schrifttafel. Ihr Gesicht unter den Strahlen ihrer Krone war ausdrucksstark und bildschön. Sie sei das erste, was die Einwanderer zu sehen bekämen, hatte der fette Amerikaner erzählt. Ihr Name lautete: »Die Freiheit, die die ganze Welt erleuchtet«. Sie hatte
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Millionen anderer Ankömmlinge begrüßt, würde sie auch ihn begrüßen, wenn er die lange Reise auf sich nähme? Er amüsierte sich über den lächerlichen Gedanken. Wie sollte er jemals eine Ozeanreise unternehmen? Er konnte sich kaum von Tag zu Tag behaupten, und um zu überleben, versorgte er sich aus den Lieferungen überalterten Rindfleisches, die der Kaiserhof zurückgehen ließ. Er machte sich schnell für die Nacht fertig, löschte die Lampe und schlüpfte unter die dünne Steppdecke. Die Sommernacht hatte sich schlagartig abgekühlt. Er konnte sich nicht entspannen, mußte vielmehr immerzu an den nächsten Morgen denken. Der Staub in den Kissen reizte ihn zum Niesen und ließ ihn mit weit aufgerissenen Augen hochschrecken. Als er sich wieder hinlegte, störten ihn Geräusche aus dem anderen Schlafzimmer. Zuerst Tante Lottes mattes Husten, dann das vertraute Knarren und Quietschen des Bettgestells, gefolgt von lauten Stöhn- und Ächzlauten des Nähmaschinenvertreters. Pauli hatte sich lange genug auf der Straße herumgetrieben und wußte, was Männer und Frauen mit- und füreinander taten. Allerdings hatte er selbst bisher noch keine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet sammeln können. Er hatte gehört, daß Frauen dabei Vergnügen empfanden, daß sie es aber nicht zugeben durften. Gewiß hatte Tante Lotte keinen Spaß dabei. Nichts an ihr deutete darauf hin, daß ihr überhaupt noch etwas Spaß machte.
2 CHARLOTTE Lotte Kroner blickte auf das Bild, das auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Der Nähmaschinenvertreter schnarchte leise. Eine Hand mit einem protzigen Saphirring hatte er auf ihren massigen Oberschenkel gelegt. Die heruntergedrehte Lampe flackerte und ließ die verblaßte Metallplatte der Daguerreotypie in dem goldenen Rahmen matt schimmern. Das junge Mädchen auf dem Bild hatte wunderschöne, regelmäßige Gesichtszüge und dichtes, glänzendes Haar. Lotte wußte, daß es rot war. Das Mädchen war ihre uneheliche Tochter, über die sie mit Pauli niemals redete, ganz gleich wie oft er nach ihr fragte. Sie zog die mit Daunen gefüllte Steppdecke hoch, die an vielen Stellen gestopft und mit Flicken besetzt war. Die Decke hatte ebenso zu ihrer Aussteuer gehört wie all die andere Bettwäsche, die sie immer noch benutzte. Dann rutschte sie etwas weiter hoch, damit das dreieckige Keilkissen ihren Rücken etwas besser stützte. Reynard bewegte sich im Schlaf und murmelte protestierend. Sie achtete nicht darauf. Sie hatte
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andere, weit größere Sorgen, vor allem mit ihrem Neffen. Ihr blieb nur noch wenig Zeit, ihm zu einem besseren Leben zu verhelfen. Sehr wenig Zeit. Als wolle er sie daran erinnern, schnitt ein scharfer Schmerz durch ihre Kehle. Sie preßte eine Hand auf den Mund, um ein Husten zu ersticken, und der Krampf löste sich wieder. Paulis Gesicht verfolgte sie, vor allem der verletzte Ausdruck seiner Augen, wenn sie in scharfem Ton im Wohnzimmer mit ihm redete. Sie wollte eigentlich nie unfreundlich zu ihm sein. Sie liebte ihn. Harte Worte und böse Blicke waren ein Teil ihrer sorgfältig geplanten Taktik, mit der sie zwischen ihnen beiden eine größere Distanz schaffen wollte. Es sollte ihm den Entschluß erleichtern, von Berlin wegzugehen. Das verstand er nicht. Wie sollte er auch? Ein weiteres vertrautes Bild schob sich in ihre Gedanken. Teile des wunderschönen blau-grauen Steingutgeschirrs aus Süddeutschland, das von ihren Freundinnen am Abend vor ihrer Hochzeit vor ihrem Haus zerschlagen worden war. Das Zertrümmern von Porzellan und Steingut am Polterabend sollte die bösen Poltergeister davon abhalten, einer Ehe zu schaden. Als ob ihr das etwas genutzt hätte. Sogar später noch war zerbrochenes Geschirr für Lotte ein Symbol ihres erbärmlichen Daseins. Der Marktflecken Aalen liegt gut vierzig Kilometer östlich von Stuttgart in Württemberg inmitten der idyllischen grünen Ausläufer des Schwäbischen Jura. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich in der Stadt nur wenig verändert seit jener fernen Zeit, als eine römische Kavallerieeinheit dort stationiert war, um die Grenzen des Imperiums zu bewachen. Die Wurzeln der Familie Kroner reichten tief in die Erde dieses kleinen Teils von Deutschland. Die Schwaben waren schon immer ein unbequemes, eigensinniges Volk gewesen. Fleißig und eifersüchtig über alles wachend, was sie sich erarbeitet hatten. Württemberg und Bayern waren der reinste Zunder für die revolutionären Feuerstürme, die 1848 in Paris entfacht wurden, über die Grenze schlugen und schließlich über ganz Deutschland hinwegfegten. Lottes Vater, Thomas Kroner, besaß ein kleines Hotel und eine Brauerei in der Radgasse in Aalen. Er galt in der Umgebung als revolutionärer Rädelsführer. Er zog sofort los, um sich an den Demonstrationen in Baden zu beteiligen. Unterdessen tagte in Frankfurt die Nationalversammlung. Nachdem einige Reformen verfügt worden waren und man sich um die Vereinigung vieler kleiner Staaten bemüht hatte, kamen die Delegierten nicht weiter. Sie konnten sich nicht über die Grenzen einer neuen Nation einig werden. Als
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dem König von Preußen die Kaiserkrone eines konstitutionellen Deutschlands angeboten wurde, erklärte er, daß er niemals ein Zeichen der Herrscherwürde annehmen werde, »das aus dem Schmutz und dem Abfall der Untreue und des Verrats besteht«. Auf diese Weise in ihrer Haltung bestärkt, intensivierte die Land besitzende Klasse, die Junker, ihren Widerstand, und die Nationalversammlung löste sich auf. Im darauffolgenden Frühjahr kam es in Württemberg erneut zu Unruhen. Der Großherzog bat Preußen um Hilfe, und zwei Militäreinheiten unter dem Befehl von Kronprinz Wilhelm rückten auf Baden vor. Am 23. Juli 1843 kam es zur endgültigen Kapitulation der Revolutionäre. Es war das Ende der großen Hoffnung auf eine neue, demokratisch vereinte Nation, symbolisiert durch die drei Farben der Nationalflagge. Die Aristokraten hatten gesiegt. Hunderte der »Männer von ‘48« waren verbittert und flohen nach Amerika, weil sie um ihr Leben fürchteten. Thomas Kroner galt als einer der Anführer des Aufstands. Er hatte vier Kinder und eine Ehefrau, Gertrud Retz. Er hatte auch ein Geschäft, an das er denken mußte. Daher weigerte er sich, trotz der Gefahr, zu fliehen oder sich auch nur zu verstecken. Die Behörden verhafteten und verurteilten ihn. Er wurde schließlich drei Tage vor Weihnachten hingerichtet. Charlotte Kroner war das dritte Kind von Thomas und Gertrud. Während der Haft ihres Vaters wurde ihr ältester Bruder, Alfred, ebenfalls verhaftet und in eine Zelle gesperrt. Dort hielt man ihn achtundvierzig Stunden lang fest. Er war neun Jahre alt. Sadistische Gefängniswärter mißhandelten den Jungen mit Schlagstöcken. Durch die Prügel wurde ihm das linke Bein gebrochen. Der Schaden war irreparabel. Als Krüppel konnte Alfred Kroner danach kaum genug für seinen Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht aus Angst unterstützte er für den Rest seines Lebens begeistert jegliche Autorität und den vereinten deutschen Staat, der sich nach und nach herausbildete. Lotte selbst war bereits mit einem deformierten Fuß zur Welt gekommen. Manchmal – so dachte sie voller Bitterkeit, als sie älter wurde – schien es, als ob das Schicksal, die Geschichte oder irgendeine übelwollende himmlische Macht fast jeden Angehörigen der Familie Kroner gezeichnet hätte. Lotte war fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß Geist und Gemüt ihres Neffen nicht durch ein erbärmliches Leben eingeengt würden. Lottes Mutter war im Jahr 1853 gestorben. 1861 heiratete ihr verkrüppelter Bruder Alfred Karoline Wissen, eine junge Frau aus Aalen, die ihm keine
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Kinder gebären konnte. 1871 wurde nach der Niederlage Frankreichs im FranzösischPreußischen Krieg im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das neue Deutsche Reich ausgerufen. Es war die Ära Bismarcks, des Eisernen Kanzlers. Er schwor gewalttätige Fürsten, Stadtstaaten und räuberische Lehnsherren auf die Idee des Nationalismus ein, verschmolz ihre Gebiete im Siegestaumel des Französisch-Preußischen Krieges und schmiedete daraus seine ganz persönliche Vision – das Erste Reich. Alfreds Frau Karoline starb ‘73, während das neue Deutschland aufblühte. Alfred heiratete bald darauf Pauline Marie Schönau, die ihm einen Sohn, Lottes Neffen, gebar und wenig später ebenfalls starb. Lotte hatte zwei weitere Brüder. Der Zweitälteste, Josef, war ihr ganzer Stolz. Aus eigenem Entschluß hatte er 1857 mit fünfzehn Jahren Aalen verlassen. Er hatte den Atlantik überquert und war in die amerikanische Großstadt Cincinnati gelangt, wo sich bereits zahlreiche andere Deutsche niedergelassen hatten. Im Staat Ohio entwickelte Josef ungewöhnliche Fähigkeiten in der Kunst des Bierbrauens, die er schon als Junge kennengelernt hatte. Er kämpfte im blutigen Bürgerkrieg und schlug sich für die Abschaffung der Sklaverei. Nach dem Krieg heiratete er und zog mit seiner Frau in eine größere Stadt, nach Chicago. Von dort schickte er Lotte regelmäßig Weihnachtsgeschenke sowie Grüße und Neuigkeiten aus seiner Familie auf wertvollem Briefpapier. Er änderte die Schreibweise seines Namens, so wie es auch seine in Deutschland geborene Ehefrau bereits getan hatte. Er beantragte die amerikanische Staatsbürgerschaft und wurde in jeder Hinsicht ein vollwertiger Amerikaner. Seine drei Kinder wuchsen unter dem Namen »Crown« auf. Der jüngere Bruder, Gerhard, war gelernter Bäcker. Nachdem das familieneigene Hotel und die Brauerei zur Tilgung alter Schulden verkauft worden waren, entschied er sich, in Aalen zu bleiben. Er war ein frommer Mensch und hatte wenig Ehrgeiz. Er backte und verkaufte sein Brot und seine sonstigen Backwaren in bescheidenen Mengen und war mit dem zufrieden, was er hatte. Lotte wußte, daß Gerhard sie für unmoralisch hielt und daß Josef für ihn gestorben war, da er angeblich Deutschland verraten hatte. Sie hatte Gerhard seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und lehnte weiterhin jeden Kontakt mit ihm ab. So wie Lotte es betrachtete, hatte sie in Aalen keine Angehörigen mehr. Lottes Ehe mit einem Möbeltischler aus einem Dorf in der Nähe von Aalen war beinahe genauso schnell zerbrochen wie die blaugrauen Tontöpfe an ihrem Polterabend. Ihr Mann war eine vierschrötige Erscheinung und glaubte fest an das Prinzip, daß eine Frau ihr Leben einzig
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und allein den drei K’s zu widmen habe – Kinder, Küche, Kirche. Als Lotte auf vielfältige Art und Weise deutlich machte, daß sie das etwas anders sah, versuchte ihr Mann seinen Standpunkt mit der Faust durchzusetzen. Nach elf Monaten Ehe packte Lotte eines Abends einfach ihre Siebensachen zusammen, bedeckte ihre Blessuren mit Schminke, setzte sich in den nächsten Zug nach Stuttgart und kehrte nie mehr zurück. Ihr eigentliches Ziel hieß Berlin. Sie sehnte sich nach dem luxuriösen Stadtleben und suchte sich wohlhabende Herren, die sie in die Oper und in teure Restaurants ausführten, wofür sie ihnen dann häppchenweise ihre Gunst schenkte. Einer dieser Herren war Christines Vater. Unglücklicherweise verfügte Lotte weder über das makellose Äußere noch die Intelligenz, um eine erfolgreiche Kurtisane zu werden. Um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu sichern, mußte sie in Fabriken arbeiten, was sie nicht ohne triftigen Grund verabscheute. Damals mußte ein Mann – wenn er Glück hatte – für einen Wochenlohn von achtzehn bis zwanzig Mark harte Arbeit leisten. Frauen verdienten gewöhnlich vierzig bis fünfzig Prozent weniger. Mit fortschreitendem Alter mußte Lotte erkennen, daß sie nicht in der Lage war, ihrer Tochter die notwendige Erziehung angedeihen zu lassen. Christine war ein bildhübsches Kind. Sie war außerdem sehr eigensinnig. Als sie zehn war, schickte Lotte sie als Hausangestellte zu einer angesehenen und wohlhabenden Familie in Ulm. Sie hoffte inständig, daß Christine nicht zu schön und zu halsstarrig war, um ihre Stelle zu behalten, aber was wirklich geschah, erfuhr sie nicht. Genauso wie bei Pauli gab sie sich alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, als habe sie das Mädchen gar nicht gewollt. Damit wollte sie bewirken, daß Christine sich in ihrem neuen Zuhause heimisch und geborgen fühlte. Erst nach dem Abschied von Christine verfiel Lotte mehr und mehr dem Alkohol. Lottes Chancen sanken stetig. Sie wehrte sich verzweifelt gegen den Abstieg. Auf keinen Fall wollte sie in einem Stift landen, damals eine wohltätige Einrichtung für Frauen, die an der Erfüllung des weiblichen Daseins – Heirat, Kinder und die Führung eines ordentlichen Haushalts – gescheitert waren. Eine neue Ehe lehnte sie ab, da deutsche Männer sich nichts anderes wünschten als eine Dienerin, die sie mit der Bezeichnung »Ehefrau« aufwerteten. Ihr Bruder Gerhard hatte ihr, ein paar Monate, bevor er sie endgültig verurteilte, einen Brief geschrieben, in dem er ihr anbot, nach Aalen zurückzukehren und bei ihm, seiner Frau und seiner wachsenden Kinderschar zu leben. Vielen Dank, hatte Lotte gedacht. Sie hatte derartige Arrangements bei anderen Familien häufig genug mitansehen können. Die arme Verwandte, die alte Jungfer, wurde zur
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Sklavin degradiert und gab ihre Unabhängigkeit für ein winziges Zimmer und tägliche Plackerei auf, um bis an ihr Lebensende ein Gegenstand des allgemeinen Mitleids zu sein. Daher stürzte Lotte sich zwischen unangenehmen Arbeiten in eine Reihe unbefriedigender Beziehungen. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zu dem Gewerbe, das sie derzeit ausübte. Sie war keine Hure, die auf der Straße operierte. So tief war sie noch nicht gesunken. Mittels gezielt verteilter Schmier- und Trinkgelder in den guten Hotels lernte sie durchreisende Fremde einer ganz bestimmten Klasse kennen. Sie besuchte in ihrer Begleitung Theater und Cafés und nahm sie anschließend mit in ihre Kellerwohnung. Auf diese Weise hielt sie sich über Wasser. Für die Ladeninhaber und andere Bekannte im Viertel rund um die Müllerstraße war sie Frau Kroner, eine schwäbische Witwe mit bescheidenem Vermögen. Keiner der Nachbarn bezichtigte sie der Lüge, so offensichtlich falsch ihre Geschichte auch war. Der Gemüsehändler machte das Spiel sogar mit, indem er besorgte Fragen nach ihrem Freund stellte. Daraufhin erfand sie weitere Legenden und Lügen. Paulis Vater Alfred war 1881 gestorben, vier Jahre nachdem seine Frau Pauline den Jungen zur Welt gebracht hatte. Pauline selbst verschied im Jahr 1885. Gerhard, der sich wahrscheinlich über die verschiedenen Fehlschläge und Unzulänglichkeiten seiner Verwandten ärgerte, erklärte, in seinem Haus sei es einfach zu eng, um Pauli bei sich aufzunehmen. Am Neujahrstag des Jahres 1886 traf Pauli Kroner, acht Jahre alt und schnell heranwachsend, mit ein paar Kleidern in einem billigen Koffer auf dem Bahnhof in Berlin ein. Er hatte eine schroff formulierte Nachricht von Gerhard bei sich, aus der hervorging, er weigere sich, die Mühe auf sich zu nehmen und mit Josef in Amerika zu korrespondieren. Pauli werde in ihre Obhut gegeben. Lotte bemerkte eine gewisse gehässige Schadenfreude zwischen den Zeilen von Gerhards Schreiben. Es machte ihr nichts aus. Freudig übernahm sie die Verantwortung für Pauli. Sie war glücklich über seine Gesellschaft, über seine Energie und seine ständig gute Laune. Natürlich stellte sie schon sehr bald fest, daß dieses Leben für ihn nicht besonders angenehm war. In der Gemeindeschule wurde er wie einer der ärmsten Wohlfahrtsempfänger behandelt. Er erhielt seine Latein- und Deutschbücher geschenkt. Im Winter bekam er täglich sein Frühstück aus Brot und Milch und einmal in der Woche eine kostenlose Eintrittskarte für ein öffentliches Bad. Sie sah, wie dieses Stigma
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ihn quälte. Sie wünschte sich etwas Besseres für ihn. Das Problem war, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Das verriet der Spiegel ihr jeden Tag. Sie war grau und hager, und mit jedem Monat wies ihr Heft, in dem sie Buch führte, weniger auf. Sie wußte, daß sie am Ende gezwungen sein würde, in der Charité um Aufnahme zu bitten. Sie unterdrückte ein weiteres Husten, dann lehnte sie sich zur Seite und griff unter das Bett, wohin sie das Zierdeckchen vom Nachttisch geworfen hatte. Ihre Finger fanden das steife alte Spitzengeflecht. Sie hob es hoch ins Licht und betrachtete unverwandt den Schleim, der mittlerweile eingetrocknet war und sich braun verfärbt hatte. Nein, viel Zeit blieb ihr wirklich nicht.
3 PAULI Die alte Dame wohnte in einer Villa aus Klinker in einer ruhigen Straße im alten Westen, unweit des Tiergartens. Hier residierten die Vornehmsten und Reichsten, die wenig Wert darauf legten, sich selbst oder ihren Reichtum zur Schau zu stellen, indem sie eine protzige, überladene Wohnung im neuen Westteil bezogen, einem sich allmählich entwickelnden Viertel am Ku’damm. Überaus nervös stand Pauli um drei Minuten vor neun vor der Haustür. Er hatte sein bestes Jackett und seine beste Kniehose angezogen und dieses eine Mal versucht, sämtliche Bleistifte und anderen Gegenstände aus seinen Hosentaschen auszuräumen. Aber auf seinem linken Revers prangte dennoch ein großer Kohlefleck, der sich auch durch noch so heftiges Reiben nicht entfernen ließ. Ein Hausdiener mit ernster Miene öffnete die Tür. Er führte Pauli durch eine ganze Reihe geräumiger Zimmer, in denen schwere dunkle Möbel standen. So viele Möbel, daß er glaubte, im Schloß eines Adligen zu sein. Die alte Dame erwartete ihn in einem Korbsessel in einem sonnendurchfluteten Zimmer im Vorderteil des Hauses. Ein glänzender schwarzer Gehstock mit großem Silberknauf lag quer auf ihren Knien. Ihr Kleid – viele Meter schwarzer Seide – sah furchtbar warm aus. Die Frau hatte lebhafte braune Augen, die von tiefen Falten umgeben waren. »Der junge Herr«, meldete der Diener und zog sich zurück. »Guten Morgen«, sagte die alte Dame. »Setz dich in den Sessel hier neben mir. Ich denke, wir sollten eine Erfrischung nehmen.« Ein Hausmädchen erschien fast wie durch Zauber mit einem Silbertablett
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voller Lebkuchen. Außerdem standen ein kleiner Silberkrug Dunkelbier für Pauli und Tee für die alte Dame auf dem Tablett. Sie schüttete aus einer Karaffe etwas Rum in den Tee. »Na schön«, sagte die alte Dame, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, »ich bin Frau Flüsser, und du bist sozusagen mein Wohltäter. Die Polizei teilte mir mit, daß du Pauli heißt.« »Pauli Kroner, ja«, sagte er und räusperte sich. Er hielt den Silberkrug in der linken Hand, balancierte den Teller auf dem rechten Knie und hatte das Gefühl, das eins von beiden oder sogar beides jeden Moment hinunterfallen würde. »Du hast schnell und mutig reagiert, als dieser Strolch mich berauben wollte, deshalb finde ich, daß du eine Belohnung verdient hast. Wußtest du, daß mein Schwiegersohn Otto der stellvertretende Direktor von Wertheim ist?« Pauli nickte. »Ich habe mit ihm gesprochen. Als Belohnung darfst du dir irgend etwas mit einem vernünftigen Preis aus dem Kaufhaus aussuchen. Hast du irgendeine Idee? Irgendeinen Wunsch?« Er überlegte einen Moment lang. »Haben sie Erdkugeln?« »Wie bitte? Bitte, sprich etwas lauter. Ich höre nicht so gut.« »Erdkugeln. Einen kleinen Globus. Ich sehe mir gerne fremde Länder an und stelle mir vor, wie es dort sein mag.« »Ein Globus«, sagte die Frau. »Das ist eine sehr ungewöhnliche Bitte, aber ich denke, die kann dir erfüllt werden. Ich rufe Otto heute vormittag an. Wohin sollen wir ihn schicken?« »In die Müllerstraße.« Zögernd nannte er die Hausnummer. »Ist das dein Zuhause?« »Im Augenblick ja. Ich wohne dort bei meiner Tante Charlotte.« »Wünschst du dir, eines Tages woanders zu wohnen?« »Ja, das ist mein allergrößter Wunsch.« »Und wo soll das sein?« »Das weiß ich nicht.« »Keine Vorstellung?« »Mein Onkel wohnt in Chicago, vielleicht dort. Deshalb wünsche ich mir einen Globus. Er zeigt mir alle möglichen Orte.« Frau Flüsser strahlte. »Amerika, das ist ein guter Ort. Ich würde ernsthaft darüber nachdenken, wenn ich du wäre. Mein Bruder Felix wohnt in St. Louis, meine Nichte Waltraud auch. Viele Deutsche wohnen in St. Louis. Ich würde sogar selbst dort hinziehen, wenn ich nicht so alt wäre und nicht genau wüßte, daß ich hierher gehöre.« Sie warf einen Blick auf ihre goldene Uhr, deren Zifferblatt auf dem
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Kopf stand, da sie am Ende einer goldenen Kette vor ihrem großen, schlaffen Busen hing. »Ich sorge dafür, daß du schnellstens deinen Globus bekommst, damit du deine Suche fortsetzen kannst.« Güte lag in ihrem faltigen Gesicht. »Ich bin sehr dankbar für deinen Mut und deine Hilfe. Du darfst mir einen Kuß geben, wenn du möchtest.« Er erhob sich und küßte sie auf die Wange. Dabei wünschte er sich, sie wäre seine richtige Großmutter. »Auf Wiedersehen, Pauli Kroner.« »Auf Wiedersehen, Frau Flüsser.« »Wenn deine richtige Heimat nicht Berlin ist, dann wünsche ich dir, daß du deine Heimat bald findest, wo immer sie sein mag.« »Vielen Dank, ich auch.« »Glaub mir, wenn du sie gefunden hast, wirst du es sofort wissen. Irgendein Zeichen wird es dir mitteilen. Vielleicht geschieht etwas Unerwartetes, wer weiß? Als ich neun Jahre alt war, arbeitete mein Vater als Chorleiter in Luchow. Er wurde als Assistent an eine hiesige Kirche berufen. An dem Tag, an dem wir in Berlin ankamen, zogen wunderschöne Wolkenbilder am Himmel vorüber. Ich sah eine Wolke, die die Form einer Harfe hatte. Mein Vater konnte ganz hervorragend Harfe spielen. Ich liebte Harfenmusik. Als ich die Wolke erblickte, wußte ich, daß Berlin die Stadt war, wohin ich gehörte und wo ich für den Rest meiner Tage leben würde. Das war mein Zeichen. Und eines Tages wird es auch für dich so ein Zeichen geben.« Sie warf ihm eine Kußhand zu. Er lächelte und straffte sich. Dann verließ er das Haus und sah die Dame nie wieder. Als er nach der Arbeit an diesem Tag nach Hause kam, konnte er es kaum abwarten, Tante Lotte von seiner Belohnung zu erzählen. »Ein Globus?« Sie blinzelte ihn durch den Rauch ihrer starken französischen Zigaretten an. »Was für eine alberne, dumme Bitte! Du solltest doch Geld verlangen. In deinem Zimmer gibt es genug Landkarten und Postkarten, um einen ganzen Palast zu tapezieren. Was hast du damit vor? Willst du vielleicht Professor der Geographie werden? Das kann ich mir kaum vorstellen.« Sie schlurfte davon und ging an den Schrank, in dem sie ihre Schnapsflasche aufbewahrte. Frau Flüsser hielt ihr Versprechen. Ein Lieferwagen von Wertheim brachte den Globus in einem Geschenkkarton, der mit silbernem Zierband versehen war. Es war ein wunderschöner kleiner Holzglobus, mit hellen
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Emaillefarben bemalt. Die Weltkugel lag auf einem vierbeinigen Ständer aus lackiertem Holz. Er vernichtete daraufhin seine Landkarte aus Papier und schaffte auf seinem Regal Platz. Abends nahm er den Globus von seinem Ständer und hielt ihn so, daß er jede Einzelheit darauf erkennen konnte. Er drehte und berührte ihn an verschiedenen Stellen, versuchte, sich jede Region in seiner Phantasie auszumalen. Mehr und mehr wurde sein Blick von Amerika angezogen, mit den grünen Prärien, blauen Seen und braunen Bergen. Immer wieder wanderte sein Finger zum Ende eines schmalen blauen Sees, wo Chicago lag; die Heimatstadt seines Onkels. Überall in der Stadt, an Kiosken und Wänden, tauchten Plakate auf. PREMIERE AM 24. AUGUST DIE ORIGINALE UND EINZIGARTIGE SHOW DER WILDE WESTEN VON BUFFALO BILL »Gehst du hin?« wollte Tonio von Pauli wissen. Tonio hatte von der Sonderschule erzählt, die er in ein paar Wochen besuchen würde, und war nun erfreut über die Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Sein armer Kopf sah viel größer und geschwollener aus, als Pauli ihn in Erinnerung hatte. »Nein, dafür habe ich kein Geld«, sagte Pauli. Sie saßen an einem Tisch in der Konditorei Henkel. »Papa hat versprochen, mit mir hinzugehen. Vielleicht bezahlt er auch für dich, so daß du mitgehen kannst.« »Nein, das wäre ein Almosen, und Almosen nehme ich nicht an. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Ich werde die Cowboys und Indianer schon noch zu sehen bekommen, darauf kannst du dich verlassen.« Am Ankunftstag der Wildwesttruppe wachte er schon um fünf Uhr auf. Fünf Minuten später war er angezogen. Er stopfte sich eine Wollmütze in die Tasche, raffte seine Malutensilien zusammen und schlich auf Zehenspitzen an Tante Lottes geschlossener Zimmertür vorbei. Reynard war wieder in der Stadt. Erst um ein Uhr nachts war in der Kellerwohnung Ruhe eingekehrt. Er stürmte die Treppe hinauf. Kalter Nebel ließ die Dachfirste der vier-
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und fünfstöckigen Häuser verschwimmen, die die Müllerstraße säumten. Er rannte weiter in die Wöhlertstraße und steuerte dann auf den Rangierund Güterbahnhof zu, der sich östlich der Pflugstraße erstreckte. Obgleich ihn noch einige Blocks von der Gleisanlage trennten, hörte er das Rattern der Waggons und das Zischen der Dampflokomotiven. Er überquerte ein mit Unkraut überwuchertes Stück Land vor dem Bahngelände. Auf dem ersten Gleis verließ gerade ein unendlich langer Güterzug den Bahnhof und versperrte ihm den Weg. Er entdeckte einen offenen Waggon, klemmte das Zeichenpapier hinter seinen Hosengürtel und rannte ein Stück neben dem Waggon her. Dann sprang er ab und schwang ein Bein in die Türöffnung. Mit beiden Händen packte er die Türkante und war innerhalb von Sekunden im Waggon. Er schob die Tür auf der anderen Seite auf, sprang hinaus und landete unsanft auf dem Schotterbett. Er raffte sich auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Bis auf einen kleinen Riß in einem Hosenbein waren sie unversehrt. Es gab immer eine Möglichkeit, ein Hindernis zu überwinden, man mußte nur danach suchen. Er überquerte die nächsten beiden Gleise. Zu seiner Enttäuschung sah er, daß der Sonderzug bereits da war. Doch er mußte eben erst eingefahren sein, da das Ausladen noch nicht begonnen hatte. Der Zug war lang, achtzehn Waggons und die Lokomotive. Mehrere Wagen waren mit großen bunten Bildern verziert: Trapper, die Colts abfeuerten, Indianer, die wildes Kriegsgeschrei ausstießen und ihre Tomahawks schwangen, eine Postkutsche, die vor rothäutigen Verfolgern davonjagte – und dann war da natürlich auch ein Porträt vom Star der Show, der grüßend seinen weißen Sombrero schwenkte, während sein prachtvoller Hengst sich aufbäumte. Es war eine prächtige Heldendarstellung – Roß, Codys Hut und Barttracht leuchteten strahlendweiß im Sonnenlicht des Bahngeländes. Pauli wartete, bis eine kleine Borsig-Rangierlok vorbeigedampft war, dann wagte er sich auf das nächste Gleis und überquerte es. Er war trotz allem nicht zu spät gekommen. Transportarbeiter in karierten Hemden begannen soeben, Stahlplatten zwischen den Waggons des Spezialzuges auszulegen, während andere eine breite Stahlrampe am Ende des letzten Waggons herunterklappten. Pauli vergaß die Müllerstraße, Tante Lotte, den armen Tonio – einfach alles. Bald herrschte rund um den Zug ein lebhaftes Treiben. Die Arbeiter schoben die Türen der Viehwaggons auf und zogen Abdeckplanen von Fahrzeugen herunter, die auf Niederbordwaggons festgezurrt waren. Der Zug war nach einem genauen Plan zusammengestellt. In einem
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Viehwaggon am Ende befanden sich Zugpferde, die als erste über die Stahlrampe geführt wurden. Als nächstes kamen die Niederbordwaggons mit den Wagen, dann folgten in Richtung Lokomotive die restlichen Viehwaggons, deren Passagiere Pauli sehen und riechen konnte: Reitpferde, Maultiere, drei zottige Bisons und Isham, der Schimmel von Oberst Cody. Ganz vorne im Zug befanden sich Personenwagen mit Türen an den Wagenenden, nicht an der Seite, und der fremdartigen Aufschrift PULLMAN. Die Arbeiter brüllten und fluchten auf englisch, was Pauli dank seiner gelegentlichen Unterhaltungen mit Männern wie Reynard bruchstückhaft verstand. Er achtete darauf, den Arbeitern nicht im Weg zu sein, während er gaffend am Zug entlangstolperte. Beinahe stieß er dabei mit einem braunhäutigen Mann mit langen schwarzen Zöpfen zusammen. Ein Indianer! Bekleidet mit einen Anzug, einem Hemd mit steifem Kragen und einem hohen Seidenhut. Mutig nickte Pauli zum Gruß. Der Indianer machte ein finsteres Gesicht und hob eine Hand. Pauli grinste und machte die Geste nach. Der Indianer lachte schallend und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Er blieb für eine Weile neben einem Passagierwagen mit der Aufschrift BUFFALO BILL’S WILD WEST & CONGRESS OF ROUGH RIDERS – GRAND EUROPEAN TOUR stehen. Ein hochgewachsener Mann mit zerzaustem weißem Haar stolperte aus dem Wagen und die Trittleiter hinunter. Oberst Cody! Der Weltberühmte! Pauli erkannte ihn auf Anhieb. Pauli machte einen Schritt zurück. Es wäre nicht nötig gewesen. Der Oberst beachtete ihn gar nicht. Cody trug alte Stiefel, eine fleckige Hose und ein Unterhemd. Hosenträger hingen auf seine Oberschenkel herab. Er schwenkte eine Whiskeyflasche, während er zum Zugende stapfte. Dabei fluchte er und brüllte Befehle. Pauli war enttäuscht von der schäbigen Erscheinung des Obersts und von seinem ungehobelten Benehmen. Eine etwas sanftere, gesittetere Gruppe erschien einen Moment später: eine zierliche Dame, die noch etwas verschlafen wirkte und einen Pudel an einer Leine mit sich führte. Das war Fräulein Anne Oakley, die berühmte Scharfschützin. Er kannte sie von den Plakaten. Arbeiter hängten den letzten Waggon ab, der nun leer war, während andere Helfer die Rampe zum nächsten Waggon schleppten. Eine Rangierlok rollte rückwärts heran, wurde an den Waggon angekoppelt und zog ihn weg. Pauli kam das alles wunderbar gekonnt und durchdacht vor. Aber Oberst Cody paßte es offenbar gar nicht. Er hob die Whiskeyflasche hoch und brüllte etwas. Auch wenn Pauli die Worte im einzelnen nicht verstand, begriff er, daß Cody die Arbeiter zur Eile antrieb.
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Sie spannten neben den Niederbordwaggon und den ersten Pferdewagen ein Gespann. Die Tiere begannen zu ziehen, während die Arbeiter den Wagen vom Waggon die Rampe hinunter lenkten. Die Männer führten das Gespann und den Wagen ein Stück zur Seite, damit ein zweites Pferdegespann das zweite Fahrzeug, die leuchtend bunte DeadwoodPostkutsche, abladen konnten. Pauli hatte im Hotel einen Prospekt gefunden und kannte daher sämtliche Szenen der Show. Die Rettung der DeadwoodPostkutsche war die berühmteste. Er konnte sich noch immer keine Eintrittskarte zu dem Showgelände leisten, das kurz vorher an der Ecke Augsburgerstraße und Ku’damm abgesperrt worden war, aber in seiner Phantasie hatte er sich das Geschehen viele Male ausgemalt – den aufregenden Angriff der Indianer und die anschließende Rettung durch die Kavallerie. Während weiter abgeladen wurde, ging Pauli zu einigen geschlossenen Güterwagen hinüber, die auf dem benachbarten Gleis standen. Er drückte die Schiebetür eines Wagens auf und setzte sich auf die Ladefläche. Er hatte die Absicht, etwas zu zeichnen. Sein Blick kehrte zu dem auffälligen Porträt von Buffalo Bill zurück. Das würde er versuchen. Er begann seine Skizze mit einem dunkelblauen Stift. Plötzlich tauchte zwischen seinem und dem nächsten Waggon eine Gestalt auf. Es war ein Mann; er blieb dort stehen und starrte Pauli an. In seinen dunklen Augen schien ein verzehrendes Feuer zu lodern. Für einen furchtbaren Moment glaubte Pauli, daß er dem Tod persönlich in die Augen schaute. Der Mann war hochgewachsen und sah unterernährt aus. Er besaß ein langes, schmales Gesicht und große weiße Zähne. Seine Haut hatte die Farbe von Haferschleim. Wahrscheinlich mied er die Sonne. Er war mindestens zehn Jahre älter als Pauli, etwa Mitte zwanzig. Er trug eine billige vergoldete Metallbrille mit runden Gläsern, die nicht größer als Pfennigstücke waren. Seine Kleidung war dunkel und schäbig – ein schmuddeliger Hemdkragen und eine speckig glänzende Krawatte, ein wadenlanger Staubmantel und eine Melone, die schon bessere Tage gesehen hatte. Über dem rechten Schuh trug er eine graue Gamasche, eine weiße über dem linken. Ein Zigarettenstummel glimmte in seiner rechten Hand, die vom Nikotin fleckig war. Trotz seiner offensichtlichen Armut trat der Mann ziemlich großspurig auf, als er auf Pauli zuging und dabei kurze, heftige Züge an seiner Zigarette machte. In seinen intensiv glühenden Augen lag ein anklagender Ausdruck, als wäre Pauli ein zwielichtiges Subjekt. Mit überheblicher Lässigkeit lehnte der Mann sich neben Pauli gegen
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den Güterwagen. Er warf einen Blick auf die Zeichnung von Cody und hatte dafür nur ein spöttisches Grinsen übrig. »Das ist ja furchtbar«, sagte er. Pauli reckte das Kinn vor. »Ach, sind Sie Kunstkritiker?« »Nein, Journalist. Aber schlechte Kunst erkenne ich auf den ersten Blick, genauso wie ich schlechten Käse am Geruch erkenne.« Der Mann sprach Deutsch mit einem fremdartigen Akzent. Pauli war überzeugt, daß der Mann log. »Für welche Zeitung arbeiten Sie denn?« »Für jede, die meine Artikel kauft. Ich bin unabhängig tätig. Es gibt dafür eine interessante Bezeichnung, die ich vergangene Woche in Zürich aufgeschnappt habe. Freischaffend. Ich reise, ich schreibe, ich beobachte, ich sage voraus –« Der junge Mann zuckte die Achseln. »Manchmal sind Prophezeiungen nicht sehr beliebt, vor allem dann nicht, wenn der Prophet etwas anderes als süße Träume zu verkünden hat. Einige der Propheten des Alten Testaments wurden für ihre Vorhersagen umgebracht. Oft genug muß ich mich schnellstens aus dem Staub machen. Ich dachte, daß ich hier vielleicht eine gute Geschichte finden kann.« »Sie sind Ausländer –« »Was du nicht sagst«, erwiderte der Mann mit einem weiteren spöttischen Grinsen. Aber er schien ihn nur hänseln zu wollen, weil es ihm Spaß machte. »Ich heiße Mikhail Rhukov. Zumindest in Rußland. In diesem Land würde der Name ›Michael‹ lauten, glaube ich.« Er streckte sich, suchte sich eine bequemere Haltung an der Güterwagenwand und holte eine zweite Zigarette hervor, die er am Stummel der ersten anzündete. »Erstaunliche Leute, diese Amerikaner. Ich glaube, denen wird mal die ganze Welt gehören. Ich wünschte, sie würden ein wenig von ihrer Demokratie in mein Heimatland exportieren. Eine aufregende Zeit, in der wir leben, meinst du nicht auch? Alte Regierungen, alte Gewohnheiten, alte Ordnungen gehen in Blut und Flammen unter. Die Anarchie breitet sich aus. Die roten Fahnen des Sozialismus wehen überall. Zaren und Könige zittern um ihr Leben, Proletarier formieren sich und marschieren vorwärts – faszinierend.« »Von all dem habe ich noch nichts gehört«, erwiderte Pauli in einem Tonfall, der feindselig klingen sollte. Rhukov musterte ihn eindringlich. »Laß mal, ich hab’s eigentlich ganz freundlich gemeint.« »Ach, so nennen Sie das?« Rhukov lachte. »Du bist ein ganz schön frecher Bengel. Das gefällt mir.«
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»Na schön, dann können Sie mich ja jetzt in Ruhe lassen.« Pauli hatte keine Angst mehr, fühlte sich nur noch gestört. Unglücklicherweise schien er einen neuen Freund oder zumindest einen neuen kurzfristigen Begleiter gefunden zu haben, ob es ihm paßte oder nicht. Rhukov holte ein billiges Notizbuch aus seiner Manteltasche und schrieb etwas mit einem Bleistift hinein. Pauli sprang von dem Güterwagen herunter und ging zum Zug hinüber. Der Russe folgte ihm. Pauli wünschte sich im stillen, der unangenehme Bursche fände jemand anderen, mit dem er sich anfreunden könnte. Vom Klang deutsch sprechender Männerstimmen überrascht, wandte Pauli sich nach rechts. Zu seiner Verblüffung entdeckte er eine Gruppe von sechs Heeresoffizieren, die unweit der Stahlrampe standen. Vier von ihnen befanden sich schon in vorgerücktem Alter. Sie trugen rote Generalsstreifen an ihren feldgrauen Uniformhosen. Die ebenfalls feldgrauen Röcke wiesen rote Epauletten und Paspelierungen auf. Die beiden jungen Leutnants trugen graue Hosen und dunkelblaue Röcke, ein Zeichen, daß sie zu einem bestimmten Regiment der Armee gehörten. Pauli konnte die Kragenspiegel nicht sofort erkennen. Er schob sich näher heran, steckte die Hände in die Taschen und bemühte sich, nicht aufzufallen. Bis auf einen schrieben alle Offiziere eifrig etwas in kleine ledergebundene Notizbücher oder verglichen miteinander die Zeit auf ihren Taschenuhren. Aus der Nähe identifizierte Pauli die Insignien auf den Uniformen der Leutnants. Sie gehörten zur jüngsten und modernsten Einheit innerhalb des Heeres, dem Ersten Eisenbahn-Regiment. Beide Leutnants trugen die klassische Pickelhaube, den offiziellen Helm des gesamten Heeres. »Ich habe schon einiges von diesen Leuten gehört«, sagte Rhukov zu Pauli. »Sie folgen Herrn Cody quer durch Deutschland. Sie studieren seine Methoden. Ein ziemlich überheblicher Verein, nicht wahr?« Pauli dachte, daß der Russe schon recht dreist war, sich über die Arroganz anderer zu mokieren, wo er doch selbst mindestens die gleiche Überheblichkeit an den Tag legte. Überdies waren deutsche Offiziere, vor allem die preußischen, stets hochnäsig, denn sie waren wegen ihrer absoluten Zuverlässigkeit und unbedingten Effizienz im gesamten Vaterland hoch angesehen und überall in Europa gefürchtet. Der ranghöchste Offizier, ein strammer Brigadegeneral, betrachtete den Eisenbahnzug durch ein Monokel. »Ich habe schon Berichte über diesen Vorgang gelesen, hatte aber bisher nicht die Gelegenheit, ihn genau zu beobachten. Sie sind wirklich sehr schnell unterwegs.« »Und wie Sie sehen, Herr General, verläßt alles den Zug in der
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entsprechenden Reihenfolge für ihre Parade«, sagte ein Major mit nach vorne eingesunkenen Schultern. »Sie richten sich nach einem schriftlich genau festgelegten Plan für das Be- und Entladen. Ich habe ihn gesehen. Darin sind auch die kleinsten Gegenstände aufgeführt bis hin zu den persönlichen Gepäckstücken der Darsteller. Es wird genau angegeben, wo alles aufgehängt oder abgelegt wird. Es ist wirklich mustergültig.« »Es überrascht mich, daß Amerikaner derart klar denken können. Sehr eindrucksvoll.« »Vielleicht ist Büffel Bill Deutscher«, sagte der Major. Die Offiziere lachten, aber erst, nachdem der Brigadegeneral zu lachen begonnen hatte. Einer der jungen Leutnants vom Eisenbahn-Regiment klopfte auf sein Notizbuch. »Sie liegen jetzt achtundzwanzig Minuten hinter ihrem Zeitplan.« Pauli lehnte sich an einen Signalmast neben dem Gleis und betrachtete den Mann eingehend. Er war etwa mittelgroß, schlank, hielt sich sehr gerade und schien körperlich bestens in Form zu sein. Gewiß machte er jeden Tag Gymnastik- und Kraftübungen. Pauli fiel ein gewisser Kontrast in seiner Erscheinung auf. Die Gesichtszüge des Leutnants waren nicht sonderlich prägnant, sein Kinn war nicht übermäßig spitz, seine Nase durchschnittlich und die Wangen übersät mit hellen Sommersprossen. Seine Augen dagegen waren eindrucksvoll. Graue Augen, groß, kalt und hart. Das Lächeln, das ständig um die Lippen des jungen Offiziers zu spielen schien und einen angenehmen Ausdruck auf seinem Gesicht hinterließ, erreichte niemals seine eisigen, stechenden Augen. Der junge Offizier klemmte das Notizbuch hinter seinen Gürtel, holte ein flaches goldenes Etui hervor und hielt es einladend seinen Vorgesetzten hin. Der Brigadegeneral und der Major nahmen sich Zigaretten. Als der Leutnant sich halb umdrehte, um dem Brigadegeneral mit einem Streichholz Feuer zu geben, entdeckte Pauli eine hakenförmige Narbe auf seiner linken Wange. Wahrscheinlich hatte er sie sich in einer der Burschenschaften in Heidelberg geholt. Sie waren dafür berüchtigt, daß sie von ihren Mitgliedern regelmäßig Degenduelle forderten. Eine Narbe war ein Zeichen von Mut, sozusagen eine Ehrenmedaille. »Achtundzwanzig Minuten, hmm«, murmelte der Brigadegeneral und blies Rauch aus. »Das ist nicht gerade überwältigend.« Der Major hob die Schultern. »Wir haben die Ankunft nicht mitbekommen. Vielleicht hatte der Zug Verspätung.« »Der Zug ist, aus Braunschweig kommend, nur sechseinhalb Minuten später als vorgesehen eingelaufen«, sagte der Leutnant. »Ich habe mich sicherheitshalber bei mehreren Weichenstellern erkundigt.«
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»Das dürfte der Artillerie auf der Fahrt zur Front nicht passieren«, stellte der Brigadegeneral fest. »Leutnant von Rike, haken Sie mal nach! Wenn möglich, versuchen Sie herauszubekommen, weshalb sie fast zweiundzwanzig Minuten verloren haben.« Der Leutnant salutierte zackig, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Pauli trat einen Schritt zur Seite, aber nicht schnell genug. Der Offizier hatte seine Augen auf den Zug gerichtet und sah Pauli erst, als er mit ihm zusammenprallte. »Verzeihung, mein Herr«, stotterte Pauli. Dem Leutnant stieg die Röte in die Wangen. Seine Hände und seine Kleidung rochen genauso streng nach Tabak wie Rhukovs Sachen. Er packte Pauli am Kragen und schleuderte ihn auf den Schotter. Ein scharfkantiger Stein riß Paulis Wange auf, daß sie zu bluten begann. »Paß in Zukunft besser auf, du kleiner Schwachkopf!« Wütend wollte Pauli aufspringen. Ehe er hochkam, mischte Rhukov sich ein. »Das war doch wohl nicht nötig. Der Junge hat Sie nicht absichtlich behindert.« Der Leutnant musterte Rhukov von Kopf bis Fuß. »Wir brauchen keine weisen Ratschläge von irgendwelchen verkommenen Fremden.« So seltsam er auch erschien, so bewies Rhukov doch erheblichen Mut. Er rührte sich nicht vom Fleck. »Sie haben wohl eine Lektion in anständigem Benehmen nötig, fürchte ich. Eine Entschuldigung bei dem Jungen wäre angebracht.« »Scheiß auf die Entschuldigung! Bald kommt der Tag, an dem wir mit Leuten wie Ihnen kurzen Prozeß machen. Und jetzt Platz da!« Er stieß Rhukov zur Seite und marschierte vorbei. Der Journalist streckte eine nikotinverfärbte Hand aus, um Pauli beim Aufstehen zu helfen. Die anderen Offiziere warfen ihnen drohende Blicke zu. Rhukov grinste spöttisch und wandte ihnen den Rücken zu. »Vielen Dank«, sagte Pauli und versuchte seine zerzausten Haare zu glätten. »Nichts zu danken.« »Wissen Sie, was er mit diesem Tag meinte? Es klang so wichtig.« »Der Tag? Er ist wichtig. Es ist der Tag, von dem viele deiner Landsleute schon lange träumen. Es ist der Tag in der Zukunft, an dem sie sich ihr Eigentum zurückholen. An dem sie alle Feinde bestrafen. Und soviel fremdes Gebiet erobern, wie sie wollen und wie ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Komm, gehen wir lieber.« Rhukov führte ihn weg, in sichere Entfernung von den Offizieren. Dabei redete er weiter. »Was für ein Haufen von albernen Fatzken! Unvorstellbar,
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was in ihren Köpfen vorgeht. Unbesiegbare teutonische Ritter in preußischen Burgen, wo sie schwarze Falken für die Jagd züchten. Während Kaiser Barbarossa in seinem Berg schlummert, bereit, aufzuwachen und die Führung zu übernehmen, sobald Deutschland einen Retter braucht. Scheiße! Das Problem ist, daß sie tatsächlich daran glauben. Ich fürchte, sogar der Kaiser und das Heer sind davon überzeugt. Ihr Deutschen seid ein Volk, das im Morast der Mythen versinkt. Im Mythos von Überlegenheit, in den Mythen vom Ruhm des Krieges und des Heldentods. Von Wagners Wassernymphen, seinem magischen Goldschatz und seinen edlen Helden ganz zu schweigen, die mit den eigenen Schwestern schlafen. Entschuldige, aber ich hoffe, du bist nicht zu jung für solche Worte.« »Ich habe derartiges schon des öfteren gehört.« Pauli entschied, daß dieser Bursche, so heruntergekommen er auch wirkte, doch einiges auf dem Kasten hatte. Er wußte auf jeden Fall viel über die Deutschen und Deutschland. Zumindest hatte es den Anschein. Er schien sich außerdem sehr gerne reden zu hören. Rhukov zündete seine nächste Zigarette an. »Merk dir meine Worte! Die deutschen Mythen werden eines Tages Deutschland vernichten – wenn sie nicht noch vorher den Rest der Welt zerstören. Natürlich können wir mit einer Gnadenfrist rechnen, denn sie fangen mit ihrer Revanche sicherlich bei den Franzosen an. Ich beziehe mich dabei vorwiegend auf das deutsche Oberkommando, weißt du. Auf die Generäle und ihre wichtigsten Verbündeten, den Adel. Du bist natürlich ausgenommen. Du bist zwar ein schlechter Künstler, aber ansonsten scheinst du ganz in Ordnung zu sein.« »Vielen Dank.« Paulis Sarkasmus amüsierte Rhukov. Er lächelte verkniffen. »Du bist ein ganz schön zäher kleiner Teufel. Wo wohnst du?« »Keine Ahnung«, schnappte Pauli. »Ich will nicht darüber reden.« Zum erstenmal wußte Rhukov nicht, was er erwidern sollte. Pauli gefiel das. Leutnant von Rike kam zurück, marschierte an ihnen vorbei und streifte sie mit einem zornigen Blick. »Daß sie sich verspätet haben, war nicht ihre Schuld«, meldete er seinen Vorgesetzten. »Dafür ist der Bahnhofsvorsteher verantwortlich. Er hat irgendwelche Instruktionen falsch verstanden und die Rangierlok nicht rechtzeitig bereitgestellt.« Rhukov steckte sein Notizbuch weg. »Ich habe genug gesehen. Damit bekomme ich ein oder zwei Seiten zusammen. Lebewohl, mein Freund.« Er streckte eine Hand aus, und Pauli ergriff sie und drückte sie. »Wir sehen uns sicher noch«, sagte Rhukov. Er schlenderte zum Anfang des Zuges, und seine Schritte knirschten auf dem Schotterbett zwischen den Gleisen. Er tippte gegen seine Hutkrempe, als er an Fräulein Anne Oakley
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vorbeiging. Ein seltsamer Bursche. Einige seiner Prophezeiungen für die Zukunft waren beängstigend. Der Betrieb am Zug lenkte Pauli für ein paar Sekunden ab. Als er sich wieder umdrehte, war Rhukov zwischen den Gleisen verschwunden, als wäre er nicht mehr als eine Rauchwolke im Sturm. Es war gespenstisch. Was für ein seltsamer Mann. Noch vor wenigen Augenblicken, als sie zum erstenmal zusammentrafen, hatte Pauli sich abgestoßen gefühlt. Nun tat es ihm leid, daß Rhukov verschwunden war. Er hatte das äußerst seltsame Gefühl, daß sie eines Tages wieder zusammentreffen würden. Pauli kehrte zu seinem Sitzplatz im offenen Güterwagen zurück, aber er zeichnete nicht weiter. Der Brigadegeneral und seine Männer beobachteten weiterhin den Wildwest-Zug. Sämtliche Showwagen waren mittlerweile abgeladen und in Reih und Glied aufgestellt worden. Nun wurden die Pferde, Esel, Büffel, das Rotwild und die Elche aus ihren Transportern geholt, an deren Enden sich jeweils Türen befanden. Der Morgen war schon fortgeschritten. Blaßgelbes Sonnenlicht ergoß sich über die qualmenden Schornsteine der häßlichen Mietskasernen in der Nähe. Oberst Cody war verschwunden, aber Fräulein Oakley führte ihren Pudel spazieren und wurde von einem Mann in einer mit Fransen besetzten Jacke begleitet. Pauli erkannte ihn. Es war Fräulein Oakleys Ehemann, Butler, der Kunstschütze. Mehrere Indianer standen herum und hielten ein Schwätzchen. Sie alle trugen gewöhnliche Jeanshosen. Zwei waren sogar mit normalen Anzugwesten bekleidet. Das war sehr enttäuschend. Dann gab es plötzlich eine weitere Ablenkung. Eine Gruppe von vier elegant gekleideten Touristen, zwei Männer und zwei Frauen, erschien. Sie unterhielten sich angeregt und machten sich gegenseitig auf bestimmte interessante Dinge in der Umgebung des Zuges aufmerksam. Einer der Männer trug einen kleinen schwarzen Kasten. Pauli sprang von dem Güterwagen herunter, um sich der Gruppe zu nähern. »Engländer«, sagte der Brigadegeneral. »Nein, Herr General. Mit Verlaub – das sind Amerikaner.« Der Major sagte noch etwas anderes, und die Männer reagierten mit belustigtem Grinsen. Die Besucher waren sorgfältig angezogen. Der Mann mit dem schwarzen Kasten trug einen hohen Hut und einen langen Mantel mit Samtkragen. Der zweite Mann hatte sich für eine sportliche Jacke und Knickerbocker, beide mit dunkelbraunen Karos auf hellbraunem Grund, und für weiße Leinengamaschen entschieden. Eine der Frauen wirkte sehr schlicht, aber die andere errang sofort Paulis Bewunderung. Sie trug ein
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rotes Kleid und einen dazu passenden Hut mit einem ausgestopften grauen Vogel als Verzierung. Ihr Kleidersaum war grau von Schotterstaub, und der sportlich gekleidete Mann ging in die Knie, um ihn abzuklopfen. Der Mann mit hohem Hut beugte sich derweil über seinen schwarzen Kasten, den er auf den Indianer im Seidenhut richtete. Der Indianer schob wie Napoleon die linke Hand unter das Revers und hob die rechte Hand. Der Begleiter Fräulein Oakleys näherte sich dem Photographen. Butler stellte eine Frage. Pauli glaubte hören zu können, wie Butler das Wort Amerikaner aussprach. Der Besucher nickte heftig und stellte sich vor. Sein Name lautete Jasper oder Jaster. Eher Jaster, entschied Pauli. Er hörte auch den Namen eines Ortes, der wie Syracuse, New York klang. Oberst Butler und die Touristen schüttelten einander die Hände. Der Kunstschütze interessierte sich für den schwarzen Kasten. Pauli hörte die Worte George Eastman Kamera. Jaster nickte zu Butlers Bemerkung. »Eine Kodak.« Kodak war ein seltsames Wort, aber Pauli hatte es schon mal gehört, und zwar von Herrn Trautwein im Hotel. Der hatte damals von seiner Kodakkamera aus Amerika gesprochen. Das neue Wort mit seinem harten Klang ließ sich leicht merken. Jasters Frau drängte ihren Mann, Butler die Kamera zu zeigen, und er reichte sie dem Kunstschützen. Butler untersuchte sie, dann stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. Er wog sie in der Hand, um ihr geringes Gewicht zu demonstrieren. Jaster nahm die Kamera wieder an sich, um Butler vorzuführen, wie einfach es war, damit zu photographieren. Weil Jaster seine Erklärungen mit übertriebenen Gesten unterstrich, glaubte Pauli, alles verstehen zu können. Man drückte einfach auf einen Knopf an dem schwarzen Kasten, um ein Bild zu erzeugen. Es war eine aufregende Vorstellung. Jaster äußerte den Wunsch, Butler und dessen Frau zu photographieren. Der Kunstschütze fühlte sich geschmeichelt. Er winkte Fräulein Oakley zu. Sie kam herüber und zerrte den Pudel an der Leine hinter sich her. Jasters Frau gesellte sich zu den Showleuten, dann entschuldigten die Butlers sich und gingen weg. Die Touristen spazierten an der langen Prozession von Tieren und Wagen entlang, vorbei an gähnenden Cowboys mit riesigen Sombreros und bunten Halstüchern, an zwölf Männern in den blauen Uniformen der Vereinigten Staaten, an vier Kosaken mit Fellstiefeln und ebensolchen Mützen oder an Männern, die solche sehr gut verkörperten. Die Indianer erschienen wieder in Hemden und Beinkleidern aus Tierhaut. Ihre Gesichter hatten sie mit zahlreichen bunten Farben geschminkt. Die
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Federn ihres imposanten Kriegskopfschmucks flatterten in der leichten Brise. Pauli folgte den Touristen. Er war völlig außer sich vor Aufregung, daß er die Buffalo-Bill-Truppe und eine echte Kodakkamera zu sehen bekam. Er wußte nicht, wie eine Kamera funktionierte, aber er begriff, was sie leistete. Sie erzeugte diese atemberaubenden Bilder von anderen Leuten, anderen Orten, die seine Zimmerwände zierten. Eine Kamera holte die ganze Welt in die Wohnungen von völlig durchschnittlichen Menschen, so wie er und Tante Lotte es waren. Herr und Frau Jaster und deren Freunde nahmen Paul für einen kurzen Moment die Sicht auf die prächtige Deadwood-Postkutsche, vor die mittlerweile sechs schnaubende Pferde gespannt waren. Pauli rief sich in Erinnerung, daß er um halb sieben im Kaiserhof sein mußte. Aber wie sollte er an Abfalleimer und schmutzige Fußböden denken, nachdem es ihm vergönnt war, derart phantastische Dinge mit eigenen Augen zu sehen? Jasters Frau wünschte sich ein Photo von den deutschen Offizieren. Jaster blieb etwa fünf Meter von ihnen entfernt stehen, und sie bemerkten den Amerikaner plötzlich. Der Brigadegeneral vollführte eine heftige, abwehrende Geste. »Heh, Sie da!« rief er auf deutsch. »Unterlassen Sie das! Keine Photos von deutschen Offizieren im Dienst!« »Was sagt er?« erkundigte sich der sportlich gekleidete Mann. Jaster ließ die Kamera sinken, aber seine Frau stieß ihn mit einem behandschuhten Finger an. Sie wollte nicht, daß er so schnell nachgab. Die Offiziere schienen verärgert zu sein. Pauli konnte nicht verstehen, weshalb sie etwas dagegen hatten, photographiert zu werden, es sei denn, es war ihre übliche Arroganz, die sich hier ausdrückte. Die finsteren Mienen und drohenden Blicke schienen Herrn Jaster nicht zu beeindrucken, der sich in seinen Vorbereitungen für das Photo nicht stören ließ. »Jemand soll ihn davon abhalten«, befahl der Brigadegeneral. Leutnant von Rike verstaute sein Notizbuch in einer Tasche. »Erteilen Sie ihm gleichzeitig eine Lektion.« Der Leutnant machte ein paar schnelle Schritte und riß Jaster brutal die Kodakkamera aus der Hand. Frau Jaster stieß einen erschreckten Schrei aus. Ihr Ehemann versuchte, nach der Kamera zu greifen. Von Rike wich spielerisch nach links aus, brachte Jaster aus dem Gleichgewicht, trat zurück und öffnete die Kamera. Entgeistert verfolgte Pauli, wie der Leutnant eine lange Papierschlange mit dunkler Beschichtung auf einer Seite herausriß. Dann schleuderte von Rike die Kamera auf den Schotter und trampelte darauf herum. Frau Jaster kreischte und jammerte.
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Jaster raste vor Zorn. Obgleich er zwanzig Jahre älter war als der Leutnant, ballte er die Fäuste und führte, ohne zu zögern, mit der Rechten einen Schwinger aus. Von Rike wurde von seinen Kameraden begeistert angefeuert, als er ganz einfach durch einen Schritt nach rückwärts auswich. Als Jaster ein zweites Mal ausholte, schlug von Rike ihm den Hut vom Kopf und erwischte Jasters Stirn mit der flachen Hand. Der Treffer saß und brachte den Touristen ins Wanken. Er sank auf das rechte Knie. Der Leutnant kehrte zu seinen Kameraden zurück und nahm seinen Platz wieder ein. Er hatte seine Pflicht getan. Der Brigadegeneral bedachte ihn weder mit einem besonderen Lob noch mit einer wohlwollenden Geste. Dafür machte der Major eine Bemerkung. »Saubere Arbeit«, murmelte er. »Vielen Dank, Herr Major. Die beste Medizin gegen Eigensinn ist die, welche Seine Majestät zu verschreiben pflegt. Die eiserne Faust.« Der Brigadegeneral lachte leise, dann deutete er auf die Amerikaner und befahl ihnen, sich zu entfernen. Herr Jaster schimpfte und protestierte, während seine Freunde ihm vom Erdboden hochhalfen. Er wollte den Kampf wieder aufnehmen, aber sie hielten ihn zurück. Wenig später entfernten sich die vier Touristen und verschwanden um die Ecke eines Weichenstellerhäuschens. Pauli nahm erneut seinen Platz in der offenen Güterwagentür ein. Die Offiziere klappten ihre Notizbücher zu, und auch sie schlenderten davon und waren bald hinter dem Wildwest-Zug verschwunden. Die jüngeren Offiziere folgten ihren Vorgesetzten in respektvoller Entfernung. Pauli dankte dem Himmel, daß er nicht Soldat zu sein brauchte. Er hatte wenig Lust, Befehle von Hitzköpfen entgegenzunehmen und ausführen zu müssen, die fremdes Eigentum zerstörten und andere Leute ohne Hemmungen schlecht behandelten. Oberst Cody tauchte aus seinem Wagen auf. Er hatte sich umgezogen und trug nun kniehohe Stiefel, eine Whipcordhose, eine mit Fransen besetzte Büffellederjacke, die mit indianischem Flecht- und Federschmuck verziert war. Hinzu kamen ein flatterndes Halstuch und ein Sombrero. Er bestieg seinen Hengst Isham und trabte, weitere Befehle brüllend, an der startbereiten Paradeformation auf und ab. Er schien ungehalten zu sein. Paulis Interesse für die Wildwest-Show nahm merklich ab. Dafür konzentrierte er sich nun auf ein ganz bestimmtes Objekt, das er nicht anzusehen wagte aus Sorge, daß jemand anderer es bemerken und ihm zuvorkommen könnte. Die Kamera. Zertrümmert, völlig zerstört. Aber eine echte Kamera. Und sie lag verlassen auf dem Schotterbett… Mit dem Geräusch knallender Peitschen und quietschender Achsen verließ die Prozession das Gelände des Güterbahnhofs und begab sich zur
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Morgenparade auf die Allee Unter den Linden. Paulis Mund war so trocken wie die Asche in einem offenen Kamin. Sich wachsam umblickend, stieg er langsam von dem Güterwagen herunter, rannte dann zu dem KameraWrack, hob es auf und jagte davon. Er wußte, daß die Kamera nicht mehr in Ordnung war, dennoch war sie ein seltener, wertvoller Schatz. Er ahnte, daß er zu spät zur Arbeit kommen würde. Er rannte fast den ganzen Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Er wollte schnellstens zum Kaiserhof und seinen Schatz Herrn Trautwein zeigen. Es war vier Uhr, ehe er Gelegenheit hatte, sich aus der Küche zu der Kammer hinter dem Pult des Hausdieners zu schleichen. Herr Trautwein geriet ins Schwärmen, als er die Kamera sah. »Ja, das ist eine echte Eastman-Schnappschußkamera, eine Kodak Nummer Eins, genauso wie meine. Ist dir klar, was für ein Wunderwerk sie ist? Sie wiegt weniger als ein Kilogramm und macht einhundert runde Photos auf eine Papierfilmrolle, die in die Kamera eingelegt wird, ehe man sie kauft. Wenn die Rolle verbraucht ist, schickst du die Kamera nach Amerika in die Fabrik – ich habe das schon zweimal getan! –, und sie entwickeln die Bilder, legen eine neue Filmrolle ein und schicken alles zurück. Eastman hat dafür einen Werbespruch: ›Sie drücken nur aufs Knöpfchen, alles andere machen wir!‹ Das stimmt genau. Die Photographie ist die neue Kunst der neuen Zeit. Es ist zu schade, daß du keine Kodak mitgebracht hast, die noch funktioniert.« »Vielleicht schaffe ich das eines Tages«, sagte Pauli. Er war ganz angetan von dem Werbespruch, den Trautwein zitiert hatte. In seinem Kopf hatte sich ein plötzlicher und phantastischer Sprung von »Sie drücken nur aufs Knöpfchen« zu allen Ansichtspostkarten an seiner Wand und von dort zu seinen ständigen und enttäuschenden Zeichenversuchen vollzogen. Das Photographieren könnte die Lösung sein. Es bot die Möglichkeit, ein Stück von der Welt einzufangen, auch wenn man kein Talent, sondern nur einen kräftigen Finger für den Auslöser hatte. Er verließ das Hotel an diesem Abend um halb neun. Vergessen waren für einen Moment Tante Lottes seltsame Launen und Gewohnheiten sowie der Eindruck, daß sie ihn los sein wollte und sich nichts mehr aus ihm machte. Seine Begeisterung erfüllte ihn und verdrängte alles andere. Er traf seine Tante im Morgenrock an. Wie ein verschrecktes Kind saß sie im Salon und hielt ein leeres Bierglas in der Hand. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. »Tante Lotte, was ist los?«
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»Nichts, mein Liebling. Alles ist in Ordnung.« Sie wandte ihr Gesicht ab. »Ich sehe doch, daß überhaupt nichts in Ordnung ist.« Er zog sich einen alten Fußschemel heran und setzte sich. »Du mußt es mir erzählen. Was ist so schlimm?« Sie schlug die Hände vor die Augen. »Herr Reynard.« »Hat er dir etwas getan?« »Nein, er hat mich nicht angerührt, er hat nur – o Pauli!« Sie weinte und fuhr ihm mit der Hand zärtlich durch die Haare. »Wie soll ich es dir erklären? Es ist so schlimm.« Er legte seine Hände auf ihre Knie und spürte, wie sie zitterte. »Es ist schon gut.« Schließlich beruhigte seine Tante sich wieder. »Pauli, kennst du die Bedeutung des Wortes ›Schwindsucht‹?« »Ich habe das Wort schon mal in der Zeitung gelesen. Es ist eine Art Krankheit.« »Ja, ein furchtbares Leiden, das die Lungen befällt. Die Krankheit zerstört einen. Ich habe diese Krankheit. Ich weiß es schon seit über einem Jahr. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich es dir sagen soll, aber jetzt muß ich es tun, denn ich will nicht, daß du dich auch noch ansteckst. Du darfst nicht in dieser Wohnung bleiben, bis sie das reinste Pestloch ist. Wegen meiner Krankheit verschlimmern sich auch verschiedene andere Dinge.« Sie ging zu einem Biedermeierschrank, dessen Kirschfurnier hell leuchtete. Der Schrank war ihr bestes Möbelstück. Sie hatte ihn auf einem Möbelbasar gekauft. Sie fand eine Packung französische Zigaretten und zündete eine an. »Heute abend, nach dem Essen, wollte Herr Reynard mich wieder umarmen … ist dieser Ausdruck anständig genug? Ich hatte aber einen meiner Anfälle, den bisher schlimmsten. Dabei habe ich ins Bett gespuckt und alles verschmutzt. Herr Reynard war wütend. Er fluchte nur und rannte dann hinaus, ohne mir eine einzige Mark zu geben.« Sie beugte sich vor. »Er sagte, er werde nicht mehr zu mir kommen. Er sagte, ich gehörte in ein Krankenhaus. Er sagte, er werde meinen Namen in den Hotels und Cafés verbreiten, wo sich die Handlungsreisenden immer treffen. Schon bald wird mich kein Mann mehr besuchen wollen. Du siehst also –« Sie zog an ihrer Zigarette. »Wir müssen uns für dich etwas anderes überlegen.« Im Zimmer, im ganzen Keller war es völlig still. Pauli spürte, daß etwas
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Grundlegendes geschehen würde. »Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß du nach Aalen zu deinem Onkel Gerhard zurückkehrst. Er ist ein engstirniger, dummer Mann. Eher schicke ich dich hinaus auf die Straße. Ich denke an etwas ganz anderes, Pauli.« Sie streichelte seine Wange. »Du mußt nach Amerika gehen.« »Nach Amerika?!« »Ja, wieso nicht? Es ist ein Land mit unzähligen Möglichkeiten. Zu Tausenden sind Angehörige unseres Volkes dorthin gezogen, und jede Woche machen sich noch mehr Menschen auf den Weg. Vergiß nicht, daß in Chicago ein Verwandter lebt, nämlich mein Bruder Josef, der Bierbrauer. Er ist wohlhabend und einflußreich. Ich will ihm noch heute schreiben, und ich bete zu Gott, daß er den Brief nicht wegwirft und ihn aufmerksam liest. Weißt du, ich habe zu meiner Familie nie eine besonders innige Beziehung gehabt.« Den Grund dafür verstand er sehr wohl. Wahrscheinlich war die Familie sogar froh darüber. Möglich, daß sie über die Affären mit ihren diversen Herren Bescheid wußte … Er war aufgeregt. Das Haus seines Onkels könnte genau das Zuhause sein, nach dem er sich sehnte. Andererseits konnte er nicht so einfach die Krankheit seiner Tante übergehen. »Ich kann doch nicht von dir weggehen, wenn du dich so schlecht fühlst –« »Natürlich kannst du das. Du bist fast erwachsen, du bist klug und stark, außerdem kannst du die Reise ganz allein unternehmen. Dein Onkel hat es auch geschafft. Ist denn die Vorstellung, in Amerika zu leben, für dich so furchtbar?« »O nein, ich habe schon immer den Wunsch gehabt, dieses Land einmal zu sehen.« »Es soll kein Besuch sein. Ich stelle mir eher vor, daß du dort lebst. Für immer. Könntest du das?« »Ich glaube schon. Ich würde schon alles versuchen, um dort glücklich zu werden. Um meinem Onkel Freude zu machen –« »Du mußt die Reise unternehmen. Es gibt keine andere Wahl. Ich werde Josef schreiben, und wir werden sofort damit anfangen, jeden Pfennig für deine Schiffspassage zu sparen. Ich habe mich bereits in Hamburg nach dem Preis erkundigt. Ungefähr hundertfünf Mark für eine Überfahrt auf dem Zwischendeck eines anständigen Schiffs. Das sind rund fünfundzwanzig amerikanische Dollars.« »Hundertfünf Deutsche Mark! Das ist ein Vermögen, Tante Lotte!«
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»Ja, für Leute wie uns schon. Es wird einige Zeit dauern, bis wir gespart haben, was wir brauchen. Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr.« »Ich werde fleißig arbeiten, um den Fahrpreis zusammenzubekommen«, versprach Pauli. »Ich mache Überstunden, sooft ich kann.« »Dann haben wir das Geld vielleicht schon viel früher zusammen, als wir annehmen. Ganz gleich, wie lange es dauert, wir werden auf jeden Fall die Zeit nutzen. Ich bringe dir alles Englisch bei, das ich kann.« »Was ist mit Amerikanisch? Kannst du mir das ebenfalls beibringen?« Lotte lachte herzlich. »O Pauli! Die Sprache der Amerikaner ist Englisch. Naja, nicht ganz, sie ist lässiger. Es gibt mehr Witze. Mehr Slang. Es ist wie Englisch mit einer Prise Pfeffer.« »Dann ist es also beschlossene Sache?« »Ja, Pauli. Die Entscheidung ist gefallen. Amerika wird schön sein, wunderschön. Du wirst sehen.« Er schloß die Augen und erschauerte, als ein Bild in seinem Kopf entstand. Der Hafen von New York; die Freiheitsstatue mit ihrer Fackel. Sie schien ihm ein Zeichen zu geben, schien ihm und nur ihm zu winken. Die Antwort auf ihren Brief traf im Spätherbst ein. Sie war in säuberlicher Handschrift verfaßt, in gutem Deutsch und auf schwerem cremefarbenem Papier mit einem elegant gestalteten Schriftzug auf dem Kopf des Briefbogens. JOS. CROWN, MICHIGAN AVENUE, CHICAGO, USA. Darüber befand sich eine geprägte kleine Goldkrone. Liebste Schwester! Wie schön, daß ich wieder mal etwas von Dir höre. Ich hoffe, mit Deiner Gesundheit steht es zum besten. Uns geht es gut, und es wird ständig besser. Was deine Anfrage betrifft, so kann ich Dir nur mitteilen, ja, ich begrüße die Idee, daß Pauli zu uns kommt, wenn es nicht länger ratsam ist, daß er bei Dir wohnt. Bitte schick ihn herüber, sobald es geht. Du hast geschrieben, es wäre wahrscheinlich im Frühling oder Sommer des nächsten Jahres soweit, und wir teilen Deine Hoffnung. Wenn er hier eintrifft, werden Ilsa und ich und unsere Kinder ihn in Amerika willkommen heißen. Wir werden ihm helfen, ihm alles an Wissen vermitteln, was er braucht, um in einem fremden, neuen Land heimisch zu werden. Ich bin überzeugt, daß er von Amerika nicht enttäuscht sein wird, und ich bin auch sicher, daß sein neues Zuhause ihm gefallen wird. In brüderlicher Liebe, Joseph
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An einem Frühlingstag im darauffolgenden Jahr, 1892, fuhr Pauli mit der Pferdebahn durch den westlichen Vorort Charlottenburg bis zur Endhaltestelle. Von dort wanderte er an der Spree entlang, bis er fast in Spandau war. Er hörte die Stimmen aus dem Sonderlager, ehe er es sah. Mehrere schlichte Holzhäuser waren rings um eine große Wiese angeordnet, auf der einige Gestalten schleppend im Sonnenschein auf und ab gingen. Andere saßen teilnahmslos auf weiß gestrichenen Holzstühlen. Paulis Stimmung verdüsterte sich beim Anblick so vieler trauriger, hilfloser Jungen und Mädchen. Einige von ihnen sahen wirklich schlimm aus, hatten schlaffe Münder, leere Augen oder abnorm geschwollene Köpfe. Im Sonnenschein unweit einer der Holzbaracken entdeckte Pauli seinen alten Gefährten Tonio. Er war leichenblaß, und sein bemitleidenswerter Kopf wirkte viel größer, als Pauli ihn in Erinnerung hatte. Tonio saß zurückgelehnt in einem der schweren Liegestühle. Er hob den Kopf nicht, sondern drehte ihn nur zur Seite, als er den Besucher herankommen hörte. Er lächelte. »Hallo, Pauli.« »Hallo, Tonio. Wie geht es dir?« »Ach, ganz gut. Es ist schön, daß du den weiten Weg hier heraus gekommen bist.« »Ich glaube, das ist mein letzter Besuch. Ich breche bald auf. Nach Amerika, zu meinem Onkel Joseph, um für immer dort zu bleiben.« »Ja, ich weiß. Mein Vater hat es mir erzählt, als er am Sonntag hier war. Es ist eine wundervolle Chance für dich.« Pauli reichte ihm eine Papiertüte. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« »Was denn?« Tonio versuchte sich aufzurichten, schaffte es aber nicht und sank wieder zurück. Aus der Tüte holte er ein verdrehtes Gebilde aus Brot, das mit Salzkristallen bestreut war. »Brezeln. Mein Lieblingsgebäck.« Er biß ein Stück ab und kaute. Speichel rann glänzend aus seinem Mundwinkel. »Tonio, ist dieser Ort hier – ich meine – wie fühlst du dich? Mir kommt es ziemlich grausam vor, Kinder hierher zu bringen und sie zu verstecken.« »Oh, die Schwestern behandeln uns sehr gut. Die Ärzte sind freundlich. Sie erzählen uns, daß wir für die Gesellschaft etwas Gutes tun – daß es wichtig ist, daß jeder entsprechend seinen Fähigkeiten lebt, damit die anderen nicht behindert werden. Das ist die neue deutsche Art.« Das mochte durchaus der Fall sein, aber Pauli gefiel das nicht. Wenn das die Art und Weise war, wie Deutsche andere Deutsche behandelten, dann war es nichts für ihn, und er war froh, daß er all das hinter sich lassen
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würde. Tonios schlechte Behandlung erinnerte ihn seltsamerweise an Rhukovs Bemerkungen über das deutsche Heer und dessen Freude am Krieg. Fünf Minuten später verabschiedete er sich und umarmte Tonio, der bitterlich weinte. Pauli hatte es eilig, wollte dieses traurige Lager mitten im sonnendurchfluteten Tannenwald so schnell wie möglich hinter sich lassen. In seinem kleinen Zimmer nahm Pauli die Postkarten, die Photos und die anderen Erinnerungsstücke von den Wänden. Er legte sie säuberlich in den alten Kleiderschrank, der nun leer war bis auf den Karton, in dem sich das Spielzeugdorf befand. Vier Dinge behielt er zurück. Das eine war die Papierfahne der Revolution – rot, gold und schwarz. Das zweite war der Globus von Wertheim, das dritte die defekte Kamera. Obgleich sie völlig nutzlos war, schien es ihm wichtig, sie mitzunehmen. Das letzte Stück war für ihn ein ganz besonderer Talisman geworden. Es war die Stereoskopkarte von der Freiheitsstatue vor dem Schiffsbug. Schon bald würde er das Standbild in natura vor sich sehen. Sorgfältig packte er die Karte, die Papierfahne, den Globus und die defekte Kodak in seine Reisetasche, die Tante Lotte gebraucht gekauft hatte. Er legte sie nacheinander auf ein paar Kleidungsstücke, die er um ein englisches Sprachlehrbuch gewickelt hatte, das er in den vergangenen Monaten intensiv studiert hatte. Es trug den Titel Englisch für Reisende. Als er im Begriff war, das kleine Zimmer für immer zu verlassen, wandte er sich um. Er öffnete noch einmal den Kleiderschrank und holte die Andenkenkarte hervor, auf der Kaiser Wilhelm II. mit Ihrer Majestät seiner Frau und ihren Kindern posierte. Er dachte einige Sekunden lang nach, dann faßte er einen Entschluß. Er riß die Karte mitten durch und warf die beiden Hälften auf das Bett. Es kam ihm vor wie ein besonders dreister, mutiger Akt. Die richtige Geste für jemanden, der aufbrach in eine neue Heimat, in ein neues Zuhause, endlich. Dann sagte er etwas in holprigem Englisch. Es war eine Übung und vielleicht sogar eine Art Gebet. »America. Chicago. Hello, uncle Joseph. I am your nephew Pauli.« 4 CHARLOTTE In den Dampfschwaden und im Gewimmel des Bahnhofs Zoo verabschiedeten sie sich voneinander.
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Wie jung und stark er aussah! So voller Hoffnung und Entschlossenheit, als er so dastand mit leuchtenden Augen und seiner wie immer etwas unordentlichen Kleidung. Die Dritter-Klasse-Fahrkarte für die Eisenbahnfahrt nach Hamburg schaute aus seiner Brusttasche heraus. Eine andere Tasche wurde von dem Apfel, den sie ihm mitgegeben hatte, und von ein paar Bonbons ausgeheult. Obwohl er sich die braunen Haare gekämmt hatte, waren sie wieder völlig zerzaust. Er sah schrecklich jung aus! Er hatte keine Ahnung von der Not und der Schlechtigkeit, die die Welt für ihn bereithielt. Lotte hatte auch nicht die Absicht, ihm davon zu erzählen. Dennoch hätte er vielleicht mehr Glück als sie, da ihr reicher Bruder in Chicago sich um ihn kümmern würde und er in ein Land kam, das nicht von völlig veralteten Ideen beherrscht war. Nun, da Pauli im Begriff war, in die Ferne zu entschwinden, floß sie geradezu über vor Liebe zu ihm. Sie hatte ihn mindestens genauso lieb wie ihre eigene Tochter Christine. Trotz ihrer vielen Unzulänglichkeiten hatte sie es irgendwie geschafft, verantwortungsvoll für den Jungen zu sorgen. Das tröstete sie und befreite sie wenigstens teilweise von der Schuld, die sie darüber empfand, bei ihrem eigenen Kind versagt zu haben. Sie hatte vor Sorge um Pauli in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan. Sie hatte viel von schlechten Männern gehört, die sich diesseits und jenseits des Ozeans mit Vorliebe an ahnungslose Einwanderer heranmachten. Außerdem gab es Gerüchte, daß in Hamburg die Pocken und die Cholera ausgebrochen wären. Die Schmerzen in ihrer Brust waren an diesem Morgen kaum zu ertragen. Sie hatte ihren ganzen Willen aufbieten müssen, um aus dem Bett aufzustehen, ihre sparsame Morgentoilette vorzunehmen, die Haare mit Henna zu waschen, das sie sich kaum leisten konnte, sich dann ihr bestes Kleid anzuziehen, ein Tuchkostüm mit Seidengürtel, und einen Hut mit Spitzenschleier und künstlichen Rosen, sehr französisch, aber mindestens seit zehn Jahren aus der Mode. Aus irgendeinem rätselhaften, kaum erklärbaren Impuls heraus hatte sie ihre Kommodenschubladen durchwühlt, bis sie den Rosenkranz aus der Zeit ihrer Ehe fand, und ihn in ihre Handtasche gesteckt. Schließlich schlüpfte sie in ein Cape aus grünem Loden. Das schwere Gewebe, das dem Regen so gut widerstand, schien eine melancholische Stimmung heraufzubeschwören. Pauli fragte sie, weshalb sie das Cape trüge, wo das Wetter doch recht warm sei. Sie gebot ihm in ziemlich scharfem Ton, lieber zu schweigen. Mit erhobener Stimme, um den Bahnhofslärm zu übertönen, sagte sie: »Ich möchte, daß es dir in deiner neuen Heimat gut ergeht, Pauli. In dir
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stecken alle guten Eigenschaften der Deutschen. Wir sind ein edles und altes Volk, mußt du wissen. Sehr geschickt, sehr klug und sehr fleißig. Aber wir lieben auch das Leben. Wir singen und wandern gerne, wir komponieren wundervolle Musik und schreiben bedeutende Literatur.« Trotz ihrer Schmerzen, ihrer grauen Wangen, die keine noch so dicke Schicht Rouge verbergen konnte, fühlte sie sich ungewöhnlich sentimental und versöhnlich. »Aber du wirst Amerikaner, und du mußt ein guter Amerikaner sein und darfst niemals vergessen, daß du dein altes Heimatland gegen ein neues eingetauscht hast. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, um Berlin zu verlassen. Ehrlich gesagt, traue ich dieser Militärbande nicht. Nach meinem Dafürhalten verfolgt sie gefährliche Ideen. Ich glaube nicht, daß es in Amerika so kriegslüsterne Leute gibt, aber wenn dem so ist, dann nimm dich in acht. Vor allem paß auf dein Geld und auf den Brief auf, den dein Onkel Josef geschickt hat.« Zugbegleiter stießen in ihre Trillerpfeifen und schlossen die Waggontüren. Der eigentliche Abschied fand schnell und flüchtig statt. Es war nicht mehr als eine kurze Umarmung und ein hastiges Lebewohl. Sie brachte ihn zu dem Dritter-Klasse-Wagen, wo er zwischen einer Nonne und einem ärmlich aussehenden kleinen Mann Platz fand, der vielleicht Beamter war. Unter lautem Glockengebimmel, dem Knirschen stählerner Räder, dem zischenden Entweichen dichter Dampfwolken zog die Lokomotive den Zug aus dem Bahnhof und entführte ihr Pauli für immer. Als Charlotte das imposante Bahnhofsgebäude verließ, stellte sie fest, daß es zu regnen begonnen hatte. Es war ein warmer Sommerregen. Sie warf ihren Brief in einen Kasten, der mit dem gelben Horn der Post gekennzeichnet war. Es war ein Brief an ihre Tochter Christine, die sie weggegeben hatte. »Zu ihrem Besten« – das war die Lüge, die sie sich immer erzählt hatte. So war es ihr leichter gefallen, Christine als Hausmädchen zu verdingen, zu verschwinden und in Ruhe ein eigenes Leben zu leben. Sie hatte seit Jahren keine Verbindung mehr mit Christine. Jetzt wurde es Zeit. Die einzige Adresse, die sie hatte, war der Haushalt in Ulm. Sie hoffte, daß dort ihre neue Adresse bekannt war, falls ihre Tochter umgezogen sein sollte. Sie spazierte Unter den Linden einher, genoß die Stille unter den regennassen Bäumen. In einem Café, für das sie sich wegen der verhältnismäßig günstigen Preise auf der Speisekarte an der Tür entschied, gab sie ihr letztes Geld aus. Ihr Imbiß bestand aus Wurst, Schwarzbrot, hartgekochten Eiern, einem Glas köstlichen Moselweins sowie drei Gläsern
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Weißbier. Sie brauchte heute abend Alkohol, um mutig zu sein. Während das Tageslicht der Abenddämmerung Platz machte, ging sie weiter zum Schloßplatz und betrachtete dort eingehend die Statue des Großen Kurfürsten. Sie schlenderte zur Spreebrücke. Der Abend senkte sich auf Berlin herab, dämpfte den Lärm ein wenig, milderte die Häßlichkeit. Der Regen fiel nun in Schauern. Sie empfand ihn sogar als durchaus angenehm. Lotte lehnte sich gegen das Brückengeländer und blickte hinab auf den verregneten Fluß. Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser, blinkten einladend. Sie schob die Hand in die Handtasche und fand den Rosenkranz. Die Berührung der Perlen war beruhigend. Stumm bat sie um Vergebung für das, was sie zu tun beabsichtigte. Ihr Glaube an Gott war nicht etwa schlagartig zurückgekehrt, aber es war immer gut, auf jede Karte zu setzen für den Fall, daß sich eine davon am Ende als Trumpf entpuppte. Sie dachte an den Zug, der durch die Nacht in Richtung Hamburg stampfte. Dem Himmel sei Dank, daß ihr Bruder Josef in Chicago wohlwollend auf den Vorschlag reagiert hatte, den sie ihm in ihrem Brief unterbreitet hatte. So ganz überraschend war es nicht; Josef war immer sehr großzügig gewesen, außerdem war er klug und reich. Was diesen Mistkerl Gerhard in Aalen betraf, der sollte in der Hölle schmoren, falls es diesen Ort überhaupt gab. Sie freute sich darüber, daß sie Pauli auf einen Weg gebracht hatte, der ihm ein besseres Leben verhieß. Er war jung, klug und gab nicht so schnell auf. Vielleicht fand er tatsächlich ein besseres Zuhause als das traurige und schäbige Heim, das sie ihm geboten hatte. Und dann würde sein Leben wirklich zu einem glücklichen Ende führen. Was sie selbst betraf – nun, mit dem Wein und dem Bier im Magen fühlte sie sich gar nicht so übel. Tatsächlich war sie innerlich ruhig und gelassen, während sie an dem gußeisernen Geländer stand und auf die Fluten der Spree hinabblickte. Sie nahm den Rosenkranz aus der Handtasche und hielt ihn ganz fest. Dann holte sie tief Luft, erkannte glücklich wie ein Kind, daß die Spree ihre Freundin war, sie willkommen hieß und in ihr die Antworten auf alle Fragen ihres Lebens zu finden waren. »Viel Glück, Pauli«, flüsterte sie in die Nacht.
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Ich schritt hinab zum Meeresstrand, Vertraute mich den Wogen an, Mich hielten keine starken Bande, Ich wollte mich retten, mit Kraft voran. Amerika heißt mich willkommen! Im fernen Land die neue Heimat sei. 1855 Gedicht von Jacob Groß, einem deutschen Einwanderer Amerikas
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5 PAULI »Tausche Ihr deutsches Geld in Dollars um. Zum besten Wechselkurs! Du brauchst amerikanische Dollars auf dem Schiff, mein Junge. Also, was ist?« Pauli blickte von seinem englischen Sprachlehrbuch hoch. Er war müde, nervös und fühlte sich unwohl. Seit dem frühen Morgen saß er auf der Packkiste inmitten von sechs- oder siebenhundert weiteren Reisenden. Die Sonne warf den mächtigen Schatten des Dampfers wie ein schwarzes Leichentuch auf den Pier. Pauli hoffte, daß dies kein schlimmes Omen war. Der Wind, der die Elbe herauf ins Hafenbecken wehte, war heiß und feucht. Es war ein Tag, der eher in den August als in den Spätfrühling gepaßt hätte. Der Fluß stank unglaublich nach Fäulnis. Pauli hatte menschliche Exkremente vorbeitreiben sehen. Wie alle anderen auf dem Pier war er voller Unruhe, weil völlig unplanmäßig noch niemand an Bord hatte gehen dürfen. Er machte sich Sorgen wegen zahlreicher Gerüchte über ansteckende Krankheiten, die in der Stadt wüten sollten. Drei Tage und zwei Nächte hatte er in den verdreckten Auswandererbaracken der Schiffahrtslinie verbringen müssen. Es war kein Gerücht, sondern Tatsache, daß in Rußland die Cholera ausgebrochen war. Pauli war einer der letzten deutschen Emigranten gewesen, die mit einem planmäßigen Eisenbahnzug angekommen waren. Mittlerweile wurden sie mit hermetisch verschlossenen und plombierten Zügen nach Hamburg gebracht. Ringsum auf dem langen Pier saßen oder lagen die Passagiere für das Zwischendeck, oder sie wanderten umher. Es herrschte eine bedrückende Enge wie zuvor schon in den Baracken, und auch an Bord des Schiffs würde es nicht anders sein. Amerika lockte nicht nur Deutsche an, sondern auch Österreicher und Rumänen, Russen und Polen, darunter viele Juden. Die hoffnungsvollen Reisenden boten einen schäbigen Anblick. Sie unterhielten sich in verschiedenen seltsamen und unverständlichen Sprachen, von der eine fast wie Deutsch klang. Pauli nahm an, daß es Jiddisch war. Ihren gesamten irdischen Besitz hatten sie in Rucksäcken und alten Koffern, Weidenkörben und Kopfkissenbezügen, die mit dicken Stricken umwickelt waren, verstaut. Einige sahen durchaus umgänglich aus, andere machten einen unangenehmen Eindruck. Zu letzteren gehörten zwei junge Deutsche, groß und blond, die sich lautstark unterhielten, die Frauen dreist musterten, wobei sie sich gegenseitig anstießen, so daß sie an junge balgende Hunde erinnerten. Der Mann, der Pauli angesprochen hatte, beugte sich zu ihm hinüber. »Na, komm schon, wieviel willst du umtauschen?« Der Mann wirkte durchaus zuverlässig, bis man seinen schmuddeligen
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Hemdkragen und die abgestoßenen Ärmelkanten seines Jacketts bemerkte. Pauli erinnerte sich an die Schalter unter einem großen Schild in der tristen und zugigen Buchungshalle der Schiffahrtsgesellschaft. WECHSELBANK UND PASSAGENBUCHUNGEN. Dieser Mann war kein Bankier. »Nichts«, erwiderte Pauli. »Auf dem Schiff kann man nur mit Deutscher Mark bezahlen. Ich habe mich erkundigt.« »Bist ein schlaues Bürschchen!« rief jemand in der Nähe ihm zu. »Wenn du ihm dein Geld gibst, siehst du es garantiert nie wieder!« Ein anderer lachte. Der Mann spuckte auf den Pier und entfernte sich schnell. Plötzlich empfand Pauli furchtbares Heimweh. Er wäre am liebsten aufgesprungen und zum Hauptbahnhof gerannt, um seinen närrischen Traum von Amerika aufzugeben. Vor seinem geistigen Auge erschien sein Zimmer in der Müllerstraße. In der Erinnerung wirkte es gar nicht mehr so übel. Zumindest war es dort warm und heimelig – Stopp! Das ist doch Blödsinn! Er wünschte, er könnte den scharfen antiseptischen Geruch seiner Kleider loswerden. Die Schiffahrtslinie achtete streng auf die Einhaltung der medizinischen Quarantäne für Zwischendeckpassagiere. Nach einer flüchtigen Untersuchung an seinem Ankunftstag waren er und alle anderen mit einer streng riechenden Flüssigkeit besprüht worden: Haare, Achselhöhlen, Schamgegend – überall. Danach hatte man sie gesammelt zu den Baracken der Schiffahrtslinie geführt, wo sie in hermetisch abgeriegelten Einheitsräumen auf dem Fußboden schlafen mußten. Abgesehen davon, daß er unangenehm roch, war er völlig ausgehungert. Seit dem Aufstehen hatte er nichts als einen Apfel gegessen; das Kerngehäuse steckte noch in seiner Tasche, er hatte es vergessen. Die Verpflegung in den Baracken bestand aus Tee und Brot zum Frühstück, Tee, Brot und einer fast ungenießbaren Wurst zu Mittag, und abends wieder aus Tee und Brot. Die Auswanderer mußten für jede Mahlzeit bezahlen. Pauli aß daher nur einmal am Tag. Er freute sich schon auf die regelmäßigen Mahlzeiten an Bord. Die Verpflegung sollte laut Werbung hervorragend und reichlich sein. Er versuchte, seine Studien wieder aufzunehmen. Es war nicht leicht. Englisch war eine verdammt schwere Sprache. Auch wenn viele Wörter dem entsprechenden deutschen Begriff stark ähnelten, gab es im Englischen zu viele Wörter, die ausgesprochen gleich klangen, jedoch unterschiedlich geschrieben wurden. Es war schrecklich verwirrend. Es gab keine Entsprechung für das »Du«, die vertrauliche Anrede, die Freunden oder Verwandten vorbehalten war. Am seltsamsten war jedoch,
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daß die englische Grammatik das Verb irgendwo in die Mitte eines Satzes verlegte und nicht ans Ende, wohin ein Verb normalerweise gehörte. Wie sollte er das jemals lernen, geschweige denn selbst sprechen? Seufzend klappte er das Buch zu. Er lernte nicht schnell genug. Dafür prägte er sich andere Lektionen ein, sehr unangenehme Lektionen. Als er aus dem Zug gestiegen war, hatte er erwartet, daß die Hamburger ihren Landsleuten, die aufbrachen, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, freundlich und bereitwillig helfen würden. Das war ein Irrtum. Die Hamburger täuschten die Freundlichkeit nur vor, während sie ständig nach neuen Möglichkeiten suchten, die Reisenden zu betrügen und zu übervorteilen. Einen solchen Zeitgenossen lernte Pauli auf dem Barackenvorplatz kennen – einen schmierigen »Neuländer«, einen Verbindungsmann für die Neue Welt. Diese Kerle seien ungemein redegewandt, war er in seinem Zug von einem anderen Passagier gewarnt worden. Ein Neuländer betätigte sich als Agent für eine Schiffahrtslinie oder für einen Unternehmer in Übersee. Die meisten dieser Männer hatten sich niemals in Amerika aufgehalten. Der Neuländer drückte Pauli eine bunte Broschüre in die Hand. Das Titelbild zeigte ein unbeholfenes Gemälde von der Freiheitsstatue, die aussah, als bestünde sie aus Gold, was ihr zu einer funkelnden Aura verhalf. Dahinter hatte der Künstler hohe Gebäude angeordnet, die allesamt von riesigen Diamanten gekrönt wurden. »Hast du schon eine Passage gebucht, junger Freund?« »Ja.« »Und wartet schon ein Arbeitsplatz auf dich? Wenn nicht, kann ich dir in Baltimore etwas anbieten –« Der Neuländer biß wütend die Zähne zusammen, als er Paulis amüsierte Reaktion sah. »Was zum Teufel ist daran so lustig?« »Dies hier.« Pauli wedelte mit der Broschüre. »Sie halten mich wohl für einen dummen Bauern, oder? Hören Sie, ich komme aus Berlin.« »Na und?« »Diese Statue ist gar nicht aus Gold. Ich zeig’s Ihnen. Ich hab’ nämlich ein Bild von der richtigen Freiheitsstatue.« Er begann danach zu suchen, aber der Neuländer erklärte ihm unwirsch, daß er sonstwas mit dem Bild tun könne. Er riß ihm die Broschüre aus der Hand und trollte sich. Pauli stand auf dem Pier und seufzte in Anbetracht der Erinnerung. Es wimmelte nur so von Dieben – allesamt Deutsche, die Deutsche bestahlen. Er hatte von seinen Landsleuten und der Welt Besseres erwartet.
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Seit über vierzig Jahren gab es in Deutschland eine Auswanderungsbewegung. Sie hatte Familien auseinandergerissen, in verschiedenen Landstrichen einen wirtschaftlichen Niedergang ausgelöst und war schon mehrmals Thema hitziger politischer Diskussionen gewesen. Tante Lotte hatte Pauli erzählt, daß bereits Hunderttausende weggegangen waren, darunter auch sein Onkel, und daß der Strom der Auswanderer nicht abreißen wollte. Wenn er sich auf dem Pier umsah und das Gedränge der Auswanderungswilligen betrachtete, glaubte er ihr aufs Wort. Die Reise nach Amerika nahm nicht immer ein glückliches Ende. Diese sehr deprimierende Information hatte er von einem Reisenden, der in der Buchungshalle neben ihm auf der Bank gesessen hatte. Paulis Zug war vor einer halben Stunde angekommen, und er war direkt in die Halle weitergegangen, um sich in die Passagierliste eintragen und seine Buchungsunterlagen abstempeln zu lassen. Dann hatte er sich hingesetzt, um die Dokumente eingehend zu studieren. Der Mann neben ihm gab einen traurigen Seufzer von sich. Da er sich nach der langen Reise in einer Schar von Fremden ziemlich einsam fühlte, sprach Pauli seinen Nachbarn an. »Reisen Sie auch nach Amerika, mein Herr?« »Ich komme gerade aus Amerika. Mein Bruder sollte mich hier abholen, um mir das Geld für die Eisenbahnfahrkarte zu bringen. Ich kehre nach Wuppertal zurück.« Der Reisende war ein alter Mann. Nicht unbedingt alt an Jahren, sondern dem Aussehen nach. Sein Gesicht war von Sorgenfalten durchfurcht, die Augen blickten traurig. »Willst du rüber?« fragte er. Pauli antwortete mit einem bekräftigenden Nicken. »Und ob.« »Tausende unternehmen die Reise, aber Hunderte kommen wieder zurück. So etwas erzählen sie einem nicht, oder? Ich habe zwölf Jahre in St. Louis gewohnt. Ich habe jede Sekunde gehaßt. Ich bin gelernter Bäcker. Aber es gibt jede Menge Bäcker in Amerika. Zu viele. Ich habe kaum genug verdient, um mich selbst über Wasser zu halten. An Ostern wurde mein Laden überfallen und ausgeraubt. Schon damals wäre ich beinahe nach Hause zurückgekehrt. Ich fand es drüben einfach entsetzlich.« »Es tut mir leid, daß Sie so schlechte Erfahrungen gemacht haben, mein Herr, aber es heißt auch, daß es im großen und ganzen ein wunderbares Land ist.« »O nein, überhaupt nicht. Die Menschen dort sind nicht so wie du und ich, sie kommen aus allen möglichen Ländern. Sie werfen ihre Traditionen zu schnell über Bord. In Amerika wird alles niedergerissen – Häuser, die gerade zehn Jahre alt sind, ganze Wohnviertel müssen neuen breiten
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Straßen weichen. Und genauso räumen sie jeden aus dem Weg, der neue oder unerwünschte Ideen verbreitet. Nach deiner Ankunft denkst du eine ganze Weile, daß alles herrlich ist. Aber dann siehst du plötzlich den Schmutz und die Not – du erkennst die Wahrheit hinter dem Trugbild, das du dir selbst geschaffen hast und das sich der Rest der ganzen Herde Gutgläubiger und Hoffender ständig vorgaukelt. An deiner Stelle würde ich mir diese Erfahrung ersparen und zusehen, daß ich meine Buchung rückgängig mache und mir mein Geld zurückgeben lasse.« »Das geht nicht. Meine Verwandten erwarten mich in Chicago. Dort werde ich wohnen.« »Na ja, in ein paar Jahren bist du sicher wieder hier. Verlaß dich drauf!« Pauli entschuldigte sich und entfernte sich schnell. Er wünschte, er hätte den Bäcker aus Wuppertal nicht angesprochen. Der Tag ging zu Neige. Die Geräusche des Hafens – die Nebelhörner der großen Schiffe, das Kreischen der Dampfpfeifen, der Schlepper und Lastkähne, das klare Läuten der Schiffsglocken – erschienen von Sekunde zu Sekunde weniger erregend. Eine Glocke erklang nun von der Schiffsmitte her. Die Menschen stießen laute Rufe aus und wiesen in diese Richtung. Pauli sprang auf die Packkiste und reckte den Hals. Tatsächlich, an der Gangway für die Kabinenpassagiere war das Absperrseil aus Samt entfernt worden. Elegant gekleidete Damen und Herren mit ihren Familien gingen unter lebhaftem Winken und Gelächter an Bord. Die Gangway der Kabinenklasse war mit einer grüngestreiften Markise überdacht und mit Teppich ausgelegt. Die Gangway zum Zwischendeck, die immer noch in Höhe des Bugs am Schiffsrumpf befestigt war, besaß kein Dach, war schmal und wirkte nicht besonders vertrauenerweckend. Die Einstiegluke im Rumpf war geöffnet, aber niemand konnte an Bord gelangen, weil die Gangway nicht ausgeklappt und auf den Pier heruntergelassen war. Pauli setzte sich wieder hin. Unter seiner Jacke und dem Hemd scheuerte ihm ein Leinengürtel den Bauch auf. Tante Lotti hatte den Gürtel für ihn genäht. Darin steckten der Brief seines Onkels und seine letzten achtzehn Mark. Um sich etwas aufzumuntern, suchte er in dem Gürtel nach dem Brief seines Onkels und las die ermutigenden Sätze, die er eigentlich schon auswendig kannte, als zwei sonnengebräunte Matrosen in der Einstiegsluke erschienen. Auf Anweisung eines hochgewachsenen, hageren Mannes mit goldbetreßter Mütze und dunkelblauer Uniform lösten die Matrosen die Leinen und klappten die Gangway zur Seite. Einer der Männer lief darauf
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entlang, bis sie sich auf den Pier hinabsenkte. Rings um Pauli sprangen alle Leute auf und stießen laute Rufe aus, während sie sich nach vorn drängten, um die ersten zu sein. Pauli wurde mit dem Brief in der Hand überrascht. Er hatte kaum Zeit, ihn an seine Brust zu drücken, als er auch schon von der Menge mitgerissen wurde. »Nicht so schnell, langsam, treten Sie zurück!« Das war die Stimme des hageren Stewards, der hinter einem ausgefransten Strick stand, der die Gangway absperrte. Ärgerlich rief jemand: »Hören Sie, wann können wir endlich an Bord?« »Wenn ich es gestatte.« Ausländer gestikulierten wild mit den Armen und schrien auf den Steward ein, bemüht, ihm zu erklären, daß sie ihn nicht verstanden hätten. Verächtlich wandte er ihnen den Rücken zu und warf einen Blick auf seine Ladelisten. »Julius – Margarete – ich bitte euch zum letztenmal, fahrt nicht!« Das kam von dem älteren Mann direkt hinter Pauli. Der Junge wandte sich um und sah, wie der Mann ein junges Paar anflehte. Schläfenlocken baumelten unter seinem schwarzen Hut hervor. »Kommt mit mir zurück nach Hause! Ihr werdet die Fahrt nicht überleben. Ihr habt doch die Geschichten über diese Schiffe gehört. Dunkelheit, schlechte Luft, Pestilenz, kein koscheres Essen – sehr wenige überstehen diese Reise heil.« Noch immer den Brief in der Hand haltend, blickte Pauli über die Schulter des jungen Mannes dem Juden in die funkelnden Augen. Noch einmal wandte sich der alte Mann beschwörend an die jungen Leute und auch an Pauli. »Es ist euer sicherer Tod!« Pauli fröstelte und wurde wieder nach vorn gestoßen. Als der Steward endlich das Seil löste und auf den Pier trat, strömten die Passagiere schnell an Bord. Pauli bemühte sich noch immer, den Brief in seinem Geldgürtel zu verstauen, als er an den Fuß der Gangway geschoben wurde. »Nachname?« »Kroner.« Der Steward hakte seinen Namen auf der Liste ab. Er bemerkte, wie Pauli an seiner Taille herumnestelte. Er sah den Geldgürtel. »Beweg dich und sieh zu, daß du aufs Schiff kommst«, sagte er mit einer ruckartigen Kopfbewegung. Pauli machte einen schnellen Schritt vorwärts, klammerte eine Hand ums Geländer, während er mit der anderen sein Hemd in die Hose stopfte. Ein schlechter Anfang. Nur wenige überstehen diese Reise heil… Pauli kämpfte sich die schwankende Gangway hoch zur Einstiegsluke, die ihm wie ein unergründlicher Schlund erschien.
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Das Schiff hieß MS Rheinland. Es bot dreihundertfünfundzwanzig Passagieren in den Kabinen und höchstens neunhundert Personen im Zwischendeck Platz. Die MS Rheinland gehörte der Flying Stag Linie. Auf Fahnen, Wimpeln, sogar auf den Hemden der Besatzung konnte man ihr Symbol, einen geflügelten Hirsch in vollem Flug, erkennen. Das Zwischendeck lag tief im Schiffsbauch, und zwar im Vorderteil, wo die Ankerkette und die Schrauben einen furchtbaren Lärm erzeugten. Beaufsichtigt wurde es von dem Steward und zwei jungen Männern, die eher an Strauchdiebe und Wegelagerer erinnerten als an die Besatzungsmitglieder einer internationalen Dampfschiffahrtsgesellschaft. Die Auswanderer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt – Ehepaare mit Kindern und alle anderen. Die Quartiere für beide Gruppen sahen gleich aus: große Frachträume mit jeweils nur wenigen Bullaugen, die sich nicht öffnen ließen. In den Frachträumen standen stählerne Bettgestelle, jeweils fünf übereinander in Dreierreihen. Auf jedem Gestell lagen eine dünne, strohgefüllte Matratze und eine fadenscheinige Decke. Pauli beeilte sich, ein, wie er meinte, möglichst günstig gelegenes Bett zu besetzen – in der untersten Etage und am Ende einer Reihe. Sehr bald schon mußte er erkennen, daß es keinen Deut besser war als alle anderen, denn in keiner der Kojen konnte man sich aufsetzen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Die Fußböden im Zwischendeck waren allesamt mit weißer Farbe frisch gestrichen und die Räume ausgeräuchert worden, aber es dauerte nicht lange, bis die Böden vom Papierabfall und den Apfelsinenschalen der orientierungslosen Passagiere bedeckt waren und der strenge Geruch verschwitzter und schmutziger Körper die Luft erfüllte. Die Schiffahrtslinie pries ihre »wohlschmeckende und nahrhafte« Verpflegung an, aber auch hier sah die Wirklichkeit erheblich anders aus. Noch ehe das Schiff an diesem Abend aus dem Hafen geschleppt wurde, erklangen Gongs, und die Passagiere begaben sich fast im Laufschritt zu langen, auf Böcken aufgestellten Tischen im »Salon« des Zwischendecks. Ihre »wohlschmeckende« Mahlzeit bestand aus lauwarmer Kartoffelsuppe, Servierplatten mit Hering in einer fragwürdigen Essigsauce und altem Schwarzbrot. Pauli vertilgte seine Ration schneller und gründlicher als gewöhnlich. Der Steward ging zwischen den Tischen umher, rieb sich feierlich die Hände und erkundigte sich, ob alles wunschgemäß sei. Er stellte sich den Reisenden als Herr Proviantmeister Blechmann vor. Einer der frechen blonden Brüder sprach ihn an. »Wo bleibt das Bier? Sie haben uns Bier versprochen, daran kann ich mich noch verdammt gut erinnern.« »Das könnt ihr haben«, erwiderte der Proviantmeister und rieb dabei
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Daumen und Zeigefinger in einer unmißverständlichen Geste gegeneinander. »Auch Wein und Trinkwasser, gegen Bezahlung natürlich.« Pauli entschied, daß er lieber weiter Durst litt und sich später den Mund auf der Herrentoilette ausspülen würde. Als er dann diese enge Einrichtung aufsuchte, mußte er von dem Gestank der Stahlbecken würgen, in die man, soweit er es erkennen konnte, stehenderweise urinierte und sitzend sein großes Geschäft verrichtete. Vier stählerne Waschbecken mit Wasserkränen waren an der Wand gegenüber den Toiletten angebracht. Er drehte einen Hahn auf und ließ Wasser in seine gewölbte Hand laufen. Den ersten Mundvoll spuckte er sofort wieder aus. Das Wasser war salzig. Am Fuß der schmalen Eisentreppe fand er den Proviantmeister. »Hören Sie, wo gibt es Trinkwasser?« »Das kannst du kaufen. Komm ruhig zu mir, wenn du etwas willst. Du kannst es dir doch leisten, oder?« Seine hagere Hand sank herab zu Paulis Taille und tätschelte die versteckte Wölbung des Geldgürtels. Pauli wich zurück und flüchtete. Das Gelächter des Proviantmeisters hallte durch den stinkenden Gang und verfolgte ihn. Die Rheinland legte um Mitternacht ab. Pauli erwachte vom Hupen der Schlepper, dem Schlagen und Rasseln der Taue und der Ankerkette sowie von den entsetzten, in vielen Sprachen erklingenden Rufen seiner Mitpassagiere. Der Mann im benachbarten Bett schlug sich mit den Fäusten vor die Brust und jammerte in einer Sprache, die Pauli als Russisch zu erkennen glaubte. Direkt über ihm schluchzte eine Frau wie eine Trauernde auf einem Begräbnis. Diese Klagen verbanden sich mit anderen zu einem Potpourri der Angst, das sein Fortissimo erreichte, als das Schiff sich vibrierend in Bewegung setzte. Im Zwischendeck herrschte totale Dunkelheit, was die Beunruhigung nur noch vergrößerte. Die wenigen Lichtflecken stammten von schwachen Glühbirnen, die wie einsame Sterne in einem kahlen schwarzen Raum funkelten. Einem Raum, in dem es wieder entsetzlich stank. Jemand hatte sich von seinen Blähungen Erleichterung verschafft. Pauli zog seine Reisetasche zu sich hoch aufs Bett, legte seinen Kopf darauf, deckte sich zu und versuchte zu schlafen. Er blieb stundenlang wach. Das Tageslicht und die Ausfahrt aus der Elbmündung brachte allen Abwechslung. Man unternahm einen Ausflug hinauf zur kleinen Freiluftplattform des Zwischendecks am Bug des Schiffs. Alle Passagiere des Zwischendecks dort unterzubringen glich dem Versuch, die gesamte
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Bevölkerung Berlins auf einem Dorfplatz zu versammeln. Trotz der großen Menschenmenge gelang es Pauli dank seiner Gewandtheit, sich einen Platz an der Reling zu sichern. Er lehnte sich dagegen, spürte den Wind und füllte seine Lungen mit frischer, sauberer Luft. Andere Passagiere spielten auf dem Deck Karten, lasen oder blickten voller Sorge zum Horizont. Eine Familie probte die Ankunft in Amerika. Der Vater übernahm dabei die Rolle eines Einwanderungsbeamten, der den Kindern in barschem Ton Fragen stellte, sie knuffte, hin und her schubste und dann ihre Augen derart grob untersuchte, daß das jüngste Mädchen zu weinen begann. In Hamburg hatte Pauli schon von dem gefürchteten Arzt, dem »Augenmann«, gehört, der scharenweise Neuankömmlinge zurückschickte. Die amerikanischen Behörden waren in Gesundheitsfragen überaus streng. Viele Frauen vom Zwischendeck trugen bunte Kopftücher oder Schürzen. Sie bildeten damit einen scharfen Kontrast zu der eleganten, aber farblich ziemlich eintönigen Kleidung der Kabinenpassagiere, die sich zwei Decks höher knapp unterhalb der Kommandobrücke an der vorderen Reling drängten. Von dort aus betrachteten sie neugierig die Auswanderer, machten herablassende Bemerkungen über sie und warfen ihnen die Reste ihres Frühstücks, manchmal sogar ein paar Pfennige hinunter. Diese Schätze lösten ein hektisches Gerangel aus. Die beiden blonden Brüder stießen andere beiseite, um sich zu sichern, was sie haben wollten. Sie waren Deutsche von der Sorte, die Pauli nicht leiden konnte. Überdies gefiel es ihm überhaupt nicht, daß man von oben auf ihn herabsah, und das sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Schon bald fesselte eine andere Familie seine Aufmerksamkeit. Sie bestand aus einer kleinwüchsigen, korpulenten Frau, der Mutter, zwei fast ebenso kräftigen Töchtern und einem Jungen, der ein oder zwei Jahre jünger als Pauli zu sein schien. Der Junge war sehr dünn, fast zerbrechlich, hatte bleiche Haut, leuchtendblaue Augen, lächelte gern und oft, und seine borstigen schwarzen Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Er besaß eine alte Ziehharmonika, auf der er mit beachtlichem Geschick flotte Melodien spielte. Seine Lebhaftigkeit und seine gute Laune unterschieden ihn gründlich von seiner Mutter und den Schwestern, die ständig trübsinnig wirkten. Pauli versuchte, sich dem Jungen zu nähern, in der Hoffnung, mit ihm ein Gespräch beginnen zu können. Er hörte dabei, daß die Schwestern sich in einer fremden Sprache unterhielten, und gab seinen Versuch auf.
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In der folgenden Nacht gerieten sie auf dem offenen Atlantik in einen Sturm, und das Zwischendeck verwandelte sich in eine Hölle. Bereits nach einem einzigen Tag hatte sich der schwache Räuchergeruch aus dem düsteren Frachtraum verflüchtigt und dem Gestank körperlicher Ausscheidungen Platz gemacht. Er drang aus den offenen Türen der Waschräume und Toiletten, entstand aber auch an anderen Stellen, denn diejenigen, denen schlecht wurde, nahmen auf ihre Umgebung keine Rücksicht und erleichterten sich in Nischen, unter den Treppen oder gleich in ihren Betten. Die Rheinland schlingerte und bebte heftig. Paulis Magen schien auf und nieder zu steigen und preßte saure Verdauungssäfte in seine Speiseröhre. Selbst als er flach auf dem Rücken in seinem Bett lag, war er völlig benommen. Der Mann in dem Bett auf der anderen Seite des Gangs weinte. Andere flehten um Hilfe oder schickten laute Stoßgebete zum Himmel, als der Sturm sich verschlimmerte. Donnerschläge hallten im mächtigen Schiffsrumpf wider wie das Geläute einer stählernen Glocke. »Hilfe, helft mir, ich sterbe«, heulte eine Frau auf deutsch in einem der Betten über Pauli. Pauli zauderte nicht lange. »Warten Sie, ich komme!« antwortete er. Er griff nach der Bettkante über sich und zog sich hoch, um aus seiner Koje zu steigen. Sein Kopf ragte hinaus in den Gang, als die Frau sich übergab. Erbrochenes ergoß sich auf Pauli, der nun selbst heftig zu würgen begann. Als er endlich auf unsicheren Füßen in dem glitschigen Gang stand, seufzte die Frau, nun gehe es ihr schon besser. Pauli fühlte sich sterbenselend. Würgend und sich ebenfalls erbrechend, rannte er zum Waschraum. Im Schein einer trüben Glühbirne drehte er einen Wasserkran auf und wusch sich das Gröbste mit Salzwasser ab. »Wenn du und deine Freunde halbwegs anständig schlafen wollen, solltet ihr die Schweinerei da drin entfernen. Wollt ihr ein paar Lappen? Es sind genug vorhanden.« Die Stimme gehörte Blechmann, der im Türrahmen stand, nur mit seiner Uniformhose und einem Unterhemd bekleidet. »Ist das denn nicht Ihre Aufgabe, sauberzumachen, Herr Proviantmeister?« »Aber nicht vor morgen früh, du Schlauberger.« »Na schön, wieviel?« »Sagen wir, eine Mark?« Pauli hatte wenig Lust, mit dem Mann Geschäfte zu machen und diesen Wucherpreis zu bezahlen. Aber er wollte auch nicht in Erbrochenem
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schlafen. Er trennte sich daher von einer Mark und erhielt zwei Handtücher, klein und schon ziemlich verschlissen. Damit reinigte er seine Koje und den Fußboden davor. In dieser stürmischen Nacht zwang er sich dazu, sich entweder die Stereoskopkarte, Buffalo Bill oder den Brief seines Onkels mit der kleinen goldenen Krone im Briefkopf so deutlich wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Es war der verzweifelte Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, daß das, was ihn erwartete, all diese Qualen wert war. Am nächsten Tag besserte sich das Wetter, und das Meer beruhigte sich. Einige Passagiere wollten die winzigen Bullaugen öffnen, um den Frachtraum zu lüften, mußten aber feststellen, daß die Fenster hermetisch verschlossen waren. »Das ist eine Vorschrift der Schiffahrtslinie«, erklärte der Proviantmeister knapp, als er darauf angesprochen wurde. Pauli entdeckte, daß er inzwischen schon richtige Seemannsbeine hatte, die es ihm gestatteten, jeden verfügbaren Moment draußen an Deck zu verbringen. Er pflegte keinen Kontakt mit seinen Mitreisenden, vorwiegend, weil er zu schüchtern war. Im Verlauf des Vormittags ließ sich ein dicker Mann, vermutlich ein Ungar, neben ihm nieder. In schlechtem Deutsch lud er Pauli zum Kartenspielen ein. Dabei stellte er sich mit leiser Stimme vor und blies Pauli Knoblauchdämpfe ins Gesicht. Die Hand des Mannes schien wie zufällig auf Paulis Oberschenkel herabzusinken. Pauli sprang auf. »Nein, danke, ich spiele nicht!« rief er und rannte davon. Danach nahm er stets die defekte Kodakkamera mit an Deck und tat so, als photographiere er die Ankerketten, die Rettungsboote, die Kommandobrücke – alles, was sich photographieren ließ. Er war noch nie so einsam gewesen. Er wünschte sich, er könne mit jemandem reden, aber es war gefährlich. Ein Passagier, dessen Bett sich an einem anderen Gang befand, weckte seine Neugier. Es war ein älterer Mann, hager, aber mit betont gerader, straffer Haltung. Silbergraues Haar und ein buschiger, gepflegter Schnurrbart verliehen ihm eine würdevolle Erscheinung. Seine Kleidung war etwas seltsam. Er trug eine dunkelblaue Hose mit weißem Seitenstreifen sowie einen schmutzigroten Mantel in Uniformstil und mit dunkelblauen Schnüren und Biesen an den Ärmeln, den Schultern und auf der Brust. Der Mantel war zerschlissen und schmuddelig, aber der alte Knabe trug ihn mit Würde. Pauli konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Regiment solche Uniformfarben wählen würde, so stolz und traditionsbewußt es auch immer sein mochte. Der alte Herr pflegte eine kleine Holzkiste mit an Deck zu bringen. Er
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stellte sie immer besonders behutsam ab und wischte mit einem großen Taschentuch darüber, ehe er darauf Platz nahm. Wenn er nicht aufs Meer hinausblickte, spuckte er auf seine rissigen Stiefel und säuberte sie mit dem Daumen. Am Ende war Paulis Einsamkeit größer als seine Angst. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, mein Herr, aber ich habe beobachtet, daß Sie diese Kiste jeden Tag säubern. Sie sind so ordentlich, daß Sie Deutscher sein könnten.« Der alte Herr lachte belustigt. »Meine Mutter ist Deutsche. Woher kommst du denn?« »Aus Berlin. Ich heiße Pauli Kroner.« »Berlin, sagst du. Sehr schön dort. Ich habe neun Jahre im Kaiserhof gearbeitet. Draußen auf der Straße – habe Taxis gerufen, beim Gepäck geholfen, wichtige Gäste begrüßt –« »Das gibt es doch gar nicht!« rief Pauli aus. »Ich war im selben Hotel in der Küche beschäftigt. Und wir sind uns niemals begegnet!« »Na ja, du hättest nicht immer hinten bleiben sollen. Außerdem liegt das schon zehn Jahre zurück.« Sie mußten beide lachen. So lernte Pauli den alten Valter kennen, Schlesier von Geburt und Hotelportier von Beruf, was seinen bunten Aufzug erklärte. Valter hatte in einigen der vornehmsten Häuser gearbeitet, in Paris, Brüssel, Warschau, Madrid. Er erklärte voller Stolz, er beherrsche neun Fremdsprachen. Er sei unterwegs zu seinem zweiten Sohn, der in einer Kleinstadt im amerikanischen Staat Pennsylvanien wohne. Das Wetter änderte sich wieder. Gegen vier Uhr nachmittags erschien weit voraus eine Nebelbank, die die Rheinland um sechs Uhr völlig einhüllte. Die ganze Nacht hindurch drang ein lautes Tuten aus dem mächtigen Nebelhorn, ein trostloses und erschreckendes Geräusch. Pauli betete im stillen, daß bald vor ihnen die amerikanische Küste auftauchen möge. Doch bis dahin würde es noch mindestens eine Woche dauern. Am Vormittag hob der Nebel sich allmählich. Pauli ging nach unten ins Zwischendeck, um sich das Gesicht mit kaltem Salzwasser zu waschen. Er bemerkte den hageren Herrn Blechmann, wie er durch den Schlafsaal schlenderte und dabei mit seinen seltsamen Glubschaugen Gepäckstücke und Koffer aufmerksam inspizierte. Pauli wich zurück und entfernte sich, ehe Blechmann ihn entdeckte. Er stieg die Eisentreppe hinauf und machte einen deutlichen Schimmer strahlenden Sonnenscheins über den dahinjagenden Wolken aus. Valter war nirgendwo zu sehen. Pauli erkannte in den verschiedenen Menschengruppen einige Mitreisende, unter ihnen auch die beiden blonden Brüder und die beiden jungen Frauen von sechzehn oder achtzehn Jahren,
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die zu dem Jungen mit der Ziehharmonika gehörten. Heute befand er sich nicht bei ihnen. Die Schwestern waren so stämmig wie Bierfässer. Die ältere hatte ein feistes Gesicht und einen dunklen flaumigen Damenbart. Die andere war beinahe hübsch zu nennen. Sie hatte einen schönen Busen und gefühlvolle Augen. Die Mädchen waren ins Kartenspiel vertieft. Es war die hübschere der beiden, die die Aufmerksamkeit der blonden Brüder erregte. Pauli wurde unruhig, als er beobachtete, wie sie sich gegenseitig anstießen und vertraulich grinsten. Der dickere der beiden zog sich die Fischermütze verwegen in die Stirn und kam herübergeschlendert. Indem er so tat, als photographiere er mit seiner defekten Kamera, konnte Pauli die Ereignisse beobachten, ohne aufzufallen. Der blonde junge Mann beugte sich hinab, um der hübscheren der beiden Schwestern etwas ins Ohr zu flüstern. Sie sprang auf, wobei die Spielkarten von ihrem Schoß rutschten und aufs Deck flatterten. Der junge Mann lachte schallend und drückte mit dem Handrücken gegen den in ein Korsett eingeschnürten Busen des Mädchens. Ihre Schwester war zu verängstigt, um sich auch nur zu rühren. Pauli wollte sich nicht einmischen. Im Vergleich zu den blonden Brüdern war er nichts weiter als ein halbwüchsiger Bengel. Aber alle anderen an Deck – so wenige auch nur heraufgekommen waren – schauten geflissentlich weg. Fast gegen seinen Willen ging Pauli los, wobei seine Hände trotz der kühlen Seeluft heftig zu schwitzen begannen. »– normalerweise mag ich kein koscheres Fleisch, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen«, hörte Pauli den blonden Kerl verkünden. Dem Akzent nach war er Bayer. »Komm schon, Judenkind, stell dich nicht so an! Ich bin ein anständiger Kerl. Heiße Franz. Das dort ist mein Bruder Heinrich. Wir sind die Messer-Jungs.« Die andere Schwester reagierte nun auch. Sie begann mit den Armen zu gestikulieren und redete in ihrer Muttersprache drauflos. Der zweite Bruder war weniger freundlich. »Hör auf mit deinem Jiddisch!« »Das ist Polnisch, Heinz«, sagte Franz. »Jedenfalls klingt es für mich so.« Pauli ging um die Gruppe herum und baute sich rechts von Franz auf. Er hob die Kodak ans Auge, wobei er sie zum größten Teil mit seinen Händen bedeckte. Die beiden jungen Männer sollten nicht bemerken, daß sie defekt war. »He, was treibst du da, du kleine Rotznase?« rief Heinrich. »Ich mache ein paar Photos – für den Kapitän.« Die Messer-Brüder musterten die Kamera mit einem Ausdruck der Überraschung und Besorgnis. »Ist das einer von diesen Bilderkästen?«
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»Ja, und auf den Bildern ist zu sehen, wie Sie die beiden Mädchen belästigen.« Der Bluff war völlig verrückt. Zwischendeckpassagiere bekamen den Kapitän eigentlich niemals persönlich zu Gesicht. Erst recht sprachen sie nicht mit ihm. Aber diese beiden Bayern waren strohdumm. »Hörst du seinen Akzent?« fragte Heinrich seinen Bruder. »Das ist einer von diesen eingebildeten Berlinern.« Die Berliner sahen im allgemeinen auf die Bayern herab. Sie hielten sie für dumme Bauern, die wegen der Einwirkung des südlichen Klimas zur Faulheit neigten. »Außerdem mischt dieser Rotzlöffel sich in etwas ein, was ihn überhaupt nichts angeht. Einen Augenblick, ihr Hübschen, ich bin gleich zurück.« Franz Messer drehte sich um und streckte seine großen, fleischigen Hände nach Pauli aus. Pauli sah den Schmutz unter den Fingernägeln. Er wußte, daß er sich mit seinem mutigen Eintreten für die Schwestern mindestens eine Tracht Prügel eingehandelt hatte. »Ich denke, meine Herren, das reicht jetzt.« Die strenge Stimme klang militärisch knapp. Pauli atmete erleichtert auf, als der alte Valter hinter ihn trat. Valter hielt Franz die Holzkiste unter die Nase. »Wenn ihr für einen Moment damit aufhören könnt, Frauen zu belästigen und euch mit Kindern anzulegen, bin ich gerne bereit, eure Kampfeslust zu dämpfen. Dann holen wir nämlich den Proviantmeister, damit er euch für den Rest unserer Reise einschließt.« Mit mörderischen Blicken fixierten die beiden Messers den alten Mann. Sie bemerkten ein paar andere Passagiere, die den Vorfall beobachteten, dann entdeckten sie Blechmann, der mit verschränkten Armen neben einer Luke stand. Franz zog seinen Bruder am Arm hinter sich her. »Komm schon, Heinz, wir klären diese Angelegenheit später.« Er funkelte Pauli wütend an. »Vor allem mit dir, du kleine Ratte!« Er stürmte davon, seinen Bruder im Schlepptau. Die beiden jungen Frauen stürzten sich auf Pauli, umarmten ihn und redeten wild auf Polnisch auf ihn ein. Valter konnte dolmetschen. »Diese beiden jungen Damen sind die Wolinski-Schwestern. Dies ist Mira« – die hübschere der beiden jungen Frauen, auf die die Messers es abgesehen hatten, nickte nervös mit dem Kopf –, »und das ist Renata. Sie wollen sich herzlich bei dir bedanken.« Dann hörte er wieder den Worten der aufgeregten Mädchen zu. »Ihre Mutter, Slova Wolinski, wird sich ebenfalls bei dir bedanken wollen, aber sie fühlt sich im Augenblick nicht sehr wohl und liegt in ihrer Koje. Auch ihr Bruder will dir seinen Dank aussprechen. Sie kommen aus der Nähe von Lodz in Polen und wollen nach Amerika.«
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»Nun, was ich getan habe, war doch selbstverständlich«, sagte Pauli bescheiden. Aber er war sich auch darüber im klaren, daß er sich nach diesem Auftritt vorsehen mußte. Für den Rest der Reise brauchte er wohl auch hinten Augen. Den Messers wäre jede Schlechtigkeit zuzutrauen. Diese neue Bekanntschaft hatte aber auch ihre guten Seiten. Pauli brauchte sich nun nicht mehr völlig einsam zu fühlen. Er lernte auch den Jungen mit der Ziehharmonika, Herschel Wolinski, kennen. Vom ersten Moment ihres Zusammentreffens an waren die drei unzertrennlich: Pauli, der polnische Junge, der ein Jahr jünger war, und der ehemalige Hotelportier, der ihnen amüsiert zuhörte und ihre aufgeregte Unterhaltung übersetzte. »Ich liebe Amerika. Ich habe es noch nie gesehen, aber ich liebe es«, verkündete Herschel. Der Zusammenstoß mit den Messers lag zwei Tage zurück, und es war ein strahlend sonniger Vormittag mit einer milden nördlichen Brise. »Du ahnst ja gar nicht, wie lange und mühevoll wir diese Reise geplant und vorbereitet haben. Es geht den Armen in Polen schon schlecht genug, noch schlechter geht es jedoch den Juden.« »Werdet ihr verfolgt?« wollte Pauli wissen. Herschels erste Antwort war ein gleichgültiges Achselzucken. »Wir sind daran gewöhnt. Nach zehntausend Jahren oder noch ein paar mehr gewöhnt man sich daran, sagt der Rabbi immer.« Herschel schien ein sonniges Gemüt und eine Menge Energie und Zuversicht zu haben. Ständig machte er andere auf irgendwelche Dinge aufmerksam, seinen leuchtendblauen Augen entging nichts, und er konnte sich kaum eine Sekunde ruhig halten, als sprudele er über vor Lebensfreude und gespannter Erregung. Allein sein Anblick reizte zu einem belustigten Lachen. Seine widerspenstigen schwarzen Haare schienen gleichzeitig in sechs Richtungen zu wachsen. Pauli war von allen Wolinskis fasziniert, denn er hatte bisher noch keine Juden persönlich kennengelernt. Natürlich bekam er von Slova, der Mutter, nicht viel zu sehen, weil sie seit Hamburg unter der schlechten Luft und der nahezu ungenießbaren Verpflegung litt. »Sie weint Tag und Nacht«, erzählte Herschel betrübt. »Sie sagt, wir seien furchtbare Narren, weil wir völlig ohne Papiere aufgebrochen und nach Hamburg gewandert sind.« »Ihr seid den ganzen Weg zu Fuß gegangen?« »Wir und noch über ein Dutzend anderer. Tausende machen es so in Polen und in Rußland. Amerika ist eben wunderbar. Und das wissen sie.« Herschel griff nach seiner Ziehharmonika und stimmte eine lebhafte Melodie an, die wie ein Marsch klang. Valter lehnte sich an die Reling. Sein
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silbernes Haar flatterte im Wind. Während er dolmetschte, stopfte er eine geschwungene Pfeife. »Das ist ein amerikanisches Lied aus dem großen Bürgerkrieg«, erklärte Herschel. »Ein Vetter von mir war längere Zeit in Amerika. Als Uhrmacher in einer kleinen Stadt namens Buffalo.« Er sprach es Boffla aus. »Er hat uns ‘87 besucht, ein Jahr, bevor er starb. Er hat mir das Lied beigebracht. Die Soldaten haben es während des Kriegs gesungen, als sie die farbigen Sklaven befreiten. Der Titel lautet Marching Through Georgia.« Seine Aussprache der Worte klang überaus seltsam. Pauli lauschte der Musik, atmete die Salzluft ein, gab sich dem Auf und Ab des Schiffs hin, das er nun als angenehm und beruhigend empfand. Im Augenblick fühlte er sich rundum wohl. Als Herschel das Lied beendet hatte, fragte er: »Ist es dir schwergefallen, Deutschland zu verlassen?« »Nicht sehr. Ich liebe mein Vaterland immer noch, aber ich hatte eigentlich kein richtiges Zuhause. Ich kann es kaum erwarten, nach Amerika zu kommen.« Herschel warf einen Blick zum tiefblauen Himmel. »Ich auch.« »Dort ist alles besser.« »Ganz gewiß«, sagte Herschel. Er begann eine traurige kleine Melodie zu spielen, vermutlich ein Wiegenlied. »Das habe ich mir selbst ausgedacht.« »Es ist sehr hübsch.« Ein weiteres Achselzucken. »Ich denke mir ständig Melodien aus. Eines Tages, wenn ich nicht soviel über alles mögliche nachdenken muß, würde ich sie gerne aufschreiben.« Er spielte leise weiter. »Du hast von Amerika geredet. Du wirst dort arbeiten müssen, wie wir alle.« »Natürlich.« »Das Hotelfach ist gar nicht übel«, warf Valter ein, wobei Tabaksqualm aus seinem Mund drang. »Vorne am Eingang vielleicht, aber nicht in den hinteren Räumen, in denen ich gearbeitet habe«, erwiderte Pauli. »Ich finde bestimmt etwas Interessantes –« Spontan hielt er die defekte Kamera hoch. »Etwas Neues und Technisches vielleicht. Wie zum Beispiel Photographieren.« »Kann man denn damit Geld verdienen?« erkundigte Herschel sich. Pauli blinzelte. »Das weiß ich nicht.« »Nun, ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, gestand Herschel, »aber was es auch ist, es wird sicherlich etwas Aufregendes sein. Ich möchte in jeder Hinsicht Amerikaner werden. Dazu gehört auch, daß ich mir einen neuen Namen suche.«
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»Daran habe ich auch schon gedacht. Mein Onkel hat es genauso gemacht. Er wurde als Josef Kroner geboren und heißt jetzt Joseph Crown. Moment, ich zeige es dir.« Er legte die Kamera beiseite, zog sein Hemd hoch und knöpfte den Geldgürtel aus Leinenstoff auf. Er faltete den Brief mit der geprägten goldenen Krone auseinander. Herschel betastete die Prägung beinahe andächtig. »Dein Onkel muß sehr reich sein.« »Das ist er wohl, denke ich.« Das Feuer in Herschels Augen schien abrupt zu erlöschen. »Dann hast du also einen Gönner in Amerika.« »Einen Bürgen, ja. Onkel Joseph. Er war Soldat in dem Krieg, von dem du gerade gesprochen hast. Er hat mitgeholfen, die Neger zu befreien. Vielleicht hat er sogar dein Marschlied gesungen.« Herschel nickte. »Wir haben keinen Bürgen. Es heißt, daß es hilfreich ist, einen zu haben, wenn die Behörden sich mit dir beschäftigen. Mama sagte, wir sollten lieber zu Hause bleiben, weil wir keinen hätten. Ich habe auf sie eingeredet, bis sie ihre Meinung geändert hat. Jetzt wäre sie froh, sie hätte es nicht getan.« Valter zog so geräuschvoll an seiner Pfeife, daß man es über dem Rauschen der Wellen hören konnte. Er legte eine Hand auf Paulis Arm. »Ich würde an deiner Stelle den Brief lieber wegstecken. Nein, dreh dich nicht um.« »Was ist denn los?« flüsterte Pauli. »Der verdammte Proviantmeister schaut herüber. Ich fürchte, er hat deinen Geldgürtel gesehen.« Pauli schloß den letzten Knopf und zog sein Hemd wieder nach unten. »Ach, darüber weiß er schon seit Hamburg Bescheid.« »Ja, aber er hängt mit jemand anderem zusammen, und ich glaube, sie unterhalten sich darüber.« »Und mit wem?« »Mit diesem Franz. Hieß er nicht so?« Pauli erstarrte innerlich, aber er rührte sich nicht. Herschel sah fast eine ganze Minute hin, tat dabei so, als blicke er über Paulis Schulter in die Sonne. Dann entspannte er sich. »In Ordnung, sie sind weg. Unterhalten wir uns noch ein wenig über Amerika.«
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6 HERSCHEL Sie waren schon seit fünf Tagen unterwegs. Die Überfahrt sollte acht bis zehn Tage dauern, je nachdem, welche Verhältnisse auf dem Ozean herrschten. Pauli erzählte seinem neuen Freund Herschel viel von Amerika. Er schien eine Menge über das Land, aber auch über Indianer und Cowboys zu wissen. Wenn er über diese Bewohner sprach, gefiel er sich darin, mit seinem Finger eine Pistole vorzutäuschen und »peng peng« zu rufen. Zum Ärger der anderen Passagiere lieferten Herschel und er sich dann schon bald mit lautem Gelächter ein Kugelgefecht. Eine Schönwetterperiode setzte ein. Man konnte sich auf der dicht bevölkerten Plattform des Zwischendecks kaum bewegen. Herschel nahm immer seine Ziehharmonika mit, wenn er sich in den Sonnenschein setzte. Er spielte für Pauli Melodien aus seiner Heimat. Irgendwann legte Valter dann seine Pfeife beiseite, stemmte die Fäuste in die Hüften und begann zu tanzen, sogar sehr lebhaft für einen Großvater. Andere folgten seinem Beispiel. Elegant gekleidete Männer und Frauen erschienen über ihnen an der Reling, um ihnen zuzusehen, sich über sie zu unterhalten und ihnen zu applaudieren. Herschel spielte fröhliche Weisen. Musik erfüllte seine Seele. Unglücklicherweise aber auch eine übermächtige Unzufriedenheit mit den allgemeinen Lebensumständen. Deshalb hatte er auch trotz seiner Jugend seine verwirrte Mutter und seine leicht zu beeinflussenden älteren Schwestern bestürmt und sie schließlich überzeugt, daß Amerika ihre einzige und aussichtsreichste Chance sei. Damals, in den Tagen seiner Kindheit – Herschel betrachtete sich mit seinen vierzehn Jahren bereits als erwachsen –, hatte er auf seine innere unzufriedene Stimme gehört, die ihm klargemacht hatte, daß er, um erfolgreich zu sein – ja, sogar um des nackten Überlebens willen –, der Enge des Schtetls entfliehen müsse. Das Schtetl lag nicht weit südwestlich von Lodz. Wie ähnliche Ansiedlungen der Juden war es ein armseliger, dicht bevölkerter Ort, dessen kleine Holzhäuser wie wahllos hingeworfen an vielfach gewundenen, schlammigen Straßen standen. Herschels mittlerweile verstorbener Vater hatte auf dem Markt eine Verkaufsbude betrieben, eine von vielen. Er war ein trübsinniger Mann mit hängenden Schultern, dem jeglicher auch noch so vager Drang fehlte, den man brauchte, um die Welt zu beherrschen. Aber er kannte sich mit Teppichen aus, die er aus Lodz geliefert bekam. Da man übers Jahr nicht sehr viele Teppiche verkaufen konnte, hängte er außerdem an einer Leine im hinteren Teil seiner Bude Arbeitshemden auf. Und die verkauften sich
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sehr gut. Eine von Herschels frühesten Erinnerungen war die an seinen Vater, wie der mit einem Kunden handelte inmitten von Ständen und Buden, in denen alles verkauft wurde: von Zwiebeln bis hin zu Kartoffeln, von Fisch bis hin zu rohem Fleisch, aus dem Blut auf stinkende Hackblöcke tropfte. Herschel hatte angefangen, die Armseligkeit um sich herum zu hassen. Er hatte keine Lust, sein Leben damit zu verbringen, Teppiche oder Heringe, Schuhe oder Kalbsschnitzel zu verhökern. Auch andere Einflüsse machten sich bei ihm bemerkbar. Als Herschel sechs Jahre alt war, wickelte Papa ihn in einen Gebetsschal und brachte ihn zu seinem ersten Tag in der Religionsschule. Der melamed, der ihn unterrichten sollte, hob ihn hoch und setzte ihn auf eine Bank wie eine Statue, die zum Verkauf feilgeboten wurde. Dann sprach der Lehrer einen formellen Segen über den neuen Tora-Schüler. Er wies auf den wundervollen Nutzen hin, wenn der Junge die mizweß lernte, die Gebote, alle sechshundertdreizehn, die ein frommer Jude zu beachten habe. Herschel war entsetzt. Sechshundertdreizehn Gebote? Niemals! Aber er hätte sich vielleicht sogar in sein Schicksal gefügt, wäre sein Vater nicht vorzeitig gestorben und hätte seine Familie nicht sechs Monate vor diesem Ereignis in Warschau einen Besuch gemacht. Sie waren gegen den Willen Slovas nach Warschau gefahren, um Onkel Moritz zu besuchen, den angeblich mißratenen Bruder von Herschels Vater. Als junger Mann war Onkel Moritz aus dem Schtetl weggelaufen, um ausgerechnet Schauspieler zu werden. Er hatte bei einer der berühmtesten Truppen von Europa angefangen, an der Bühne des Herzogs von SachsenMeiningen. Slova Wolinski hatte gejammert, die Schauspielerei sei ein gottloses Gewerbe. In der Tat war Onkel Moritz zum Christentum übergetreten, um seine Chancen in diesem Beruf zu verbessern. Inzwischen war er praktizierender Katholik und Vater von vierzehn Kindern und genoß als Tragöde einen hervorragenden Ruf. In Herschels Erinnerung hatte sich der Anblick von Onkel Moritz eingeprägt, wie er mit geschwärztem Gesicht im Licht altmodischer Kalklampen deklamierend auf und ab schritt und den Mohren Othello darstellte. Nach der Vorstellung empfing Onkel Moritz die Wolinskis hinter der Bühne, ein faszinierender, exotischer Ort der Schatten mit halbbekleideten Frauen, die nach Puder dufteten und sehr viel lachten. Onkel Moritz nahm die Verwandtschaft mit nach Hause zu seiner resoluten gojischen – nichtjüdischen – Ehefrau und den ausgelassenen Kindern in der ElfZimmer-Wohnung. Dort ergab sich schließlich für Herschel die Gelegenheit, mit seinem berühmten Verwandten über die Reise nach Amerika zu reden.
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»Ich würde sagen, daß es ein guter Gedanke ist, also tut es«, riet Onkel Moritz, hob den Jungen hoch und setzte ihn auf sein Knie. »Weshalb es gut ist, wirst du erst verstehen, wenn du älter bist, aber soviel kann ich dir jetzt schon sagen: In Polen herrscht eine Krankheit, und nicht nur dort, sondern in ganz Europa. Ich würde es sogar eine Seuche nennen. Der Jude ist schuld. Fallen die Börsenkurse? ›Die Juden haben sie manipuliert.‹ Wird unser Militär besiegt? ›Die Juden haben seine geheimen Pläne verraten.‹ Der Jude hat dies getan, er hat das getan. Er ist an allem schuld. Und warum? Ein paar Gründe kenne ich. Der Jude ist überall, der Jude ist schlau und intelligent, der Jude ist sehr oft überaus erfolgreich – selbst wenn er ab und zu dem Papst die Hand küssen muß«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. »Deshalb ist es eine durchaus willkommene Krankheit. Wenn du weiterhin Jude bleiben möchtest, dann sieh zu, daß du fliehst. In Amerika gibt es diese Krankheit sicher nicht.« In diesem Augenblick traf Herschel seine Entscheidung. Allerdings war alles leichter gesagt als getan. Herschel begann mit seiner Überzeugungsarbeit bei Slova, sofort nachdem Papa in seinem Laden tot umgefallen war, wobei sich ein Blutschwall aus seinem Mund auf einen Stapel neuer Teppiche ergossen hatte. Wahrscheinlich wäre es Herschel niemals gelungen, seine Mutter zu überreden, hätte er sich nicht der Unterstützung Miras und Renatas versichert und außerdem Onkel Moritz geschrieben, der ihnen genug Geld für die Reise schickte, damit sie vor der asiatischen Cholera die Flucht ergreifen konnten. Sie war schon vorher an einigen Stellen in Europa ausgebrochen, und Onkel Moritz hatte sie gewarnt und ihnen mitgeteilt, daß die Seuche aus einem geheimnisvollen Land namens Afghanistan in Rußland eingedrungen sei. Sie sei bereits von Kiew bis nach Moskau vorgedrungen, und im Sommer – die Cholera sei gerade in den heißen Monaten besonders gefährlich – werde sie, wie Onkel Moritz prophezeite, nach Westen wandern. Die Krankheit führte schnell zum Tod. Die Suppe ißt man noch als Gesunder, doch beim Nachtisch ist man bereits tot, schrieb Onkel Moritz. Fahrt los! Sofort! Nur meine Karriere und meine zahlreichen Verpflichtungen hindern mich daran mitzukommen. Herschel begab sich nach Lodz und ertrug dort lange Wartezeiten in zugigen Amtsfluren und die Unfreundlichkeiten der Bürokraten. Er verbrachte sogar eine Nacht, nur mit Zeitungspapier zugedeckt, in einer von Ratten bevölkerten Gasse, nur um sich die für die Reise notwendigen Papiere zu beschaffen. Am Ende hatte er sie zusammen. Die Familie brach mit achtzehn anderen Leuten aus der Gegend auf. Sie waren
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übereingekommen, den weiten Weg aus Gründen der Sicherheit gemeinsam zu Fuß zurückzulegen. So wanderten sie durch Sonnenschein und Regen über staubige Straßen und Feldwege, die sich in Schlammseen verwandelt hatten. Sie kämpften gegen Erschöpfung, Ungeziefer, Hunger, überquerten eisige Flüsse, stemmten sich gegen staubige Windböen, gerieten sogar in einen heftigen Hagelsturm und mußten sich einige Male vor Rudeln streunender Hunde in Sicherheit bringen. Als sie sich der Grenze zu Ostpreußen näherten, warnte ein Bauer sie vor Militärpatrouillen, womit sie überhaupt nicht gerechnet hatten. Wegen der Choleraepidemie hatte Preußen die Grenzen geschlossen. Zwei Tage lang diskutierten sie über diese neue Schwierigkeit und versanken in tiefe Niedergeschlagenheit. Herschel war einer von nur drei Leuten, die dafür plädierten, weiterzuziehen – und auf ein Wunder zu hoffen. Es erschien in Gestalt zweier Schmuggler, die in ihrem Lager auftauchten. Für eine astronomische Summe pro Kopf boten die Schmuggler ihnen an, sie über die Grenze zu führen. Sie kannten Schleichwege vorbei an den zahlreichen Wachtposten auf beiden Seiten der Grenze. Man versicherte ihnen, die Schiffahrtsgesellschaften interessierten sich kaum für die Herkunft eines Auswanderers, so lange er nur nach Bremen oder Hamburg kam und die Passage bezahlen konnte. In der Nacht brachten die beiden Schmuggler sie im Licht des Vollmondes zur Furt eines Flusses mit starker Strömung und gaben ihnen eine Warnung mit auf den Weg: »Hier ist es am einfachsten, aber an der Straße dort drüben befindet sich ein polnischer Wachtposten. Die polnische Armee arbeitet mit den Preußen zusammen, denn die Epidemie bedeutet für alle eine Gefahr. Also seid leise.« Sekunden später, gerade als die Schmuggler sie in das kalte, schäumende Wasser trieben, hörten sie, daß jemand aus der Richtung des polnischen Grenzpostens schnell herangeritten kam. »Beeil dich, Mama!« rief Herschel, der bis zu den Knien im Wasser stand und im Licht des Vollmonds deutlich zu sehen war. Er umklammerte Slovas Ellbogen, um sie zu stützen und weiterzuziehen. Sie stolperte, kippte zur Seite und stürzte ins Wasser, ehe Herschel sie auffangen konnte. »Stehenbleiben!« ertönte die barsche Stimme des unsichtbaren Reiters. Ein lauter Knall folgte. Die Pistolenkugel rührte die glatte, mondbeschienene Wasseroberfläche in Tausende von Quecksilbertröpfchen auf. Triefnaß und nach Luft ringend, brach Slova Wolinski in Tränen aus. Andere schrien oder flehten um Gnade. Und Herschel, so klein und schwach er auch war, stellte fest, daß die Angst ihm unglaubliche Kräfte
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verlieh. Er packte seine Mutter unter den Armen und zog sie hoch, dann stieß er sie vor sich her zum anderen Ufer, während weitere Kugeln ins silbrige Wasser einschlugen. Alle Auswanderungswilligen überquerten den Fluß unversehrt. Naß und frierend drängten sie sich zusammen. Der Reiter verfolgte sie nicht mehr. Angeführt von den Schmugglern, schlichen sie durch einen dichten Wald und mieden so das erste Wachhäuschen auf der deutschen Seite. Nicht lange, und die Schmuggler verschwanden, und sie mußten sich ihren Weg selbst suchen. Es war genauso schwierig wie vorher, vielleicht sogar noch mühsamer, denn nun waren sie geschwächt durch ihre Angst und die Entbehrungen des bisherigen Marsches. Als sie einige Tage später in Hamburg eintrafen, hörten die Beschwernisse der Familie dennoch nicht auf. Man mußte in den Quarantänebaracken der Schiffahrtsgesellschaft auf den Piers ständig wachsam und auf der Hut sein. Herschel wurde vor betrügerischen Buchungsagenten, Gepäckleuten und unverschämten Ärzten gewarnt, die versuchten, die jungen Frauen zu verführen, die sie gerade untersuchten. Er hielt sich ständig in Miras und Renatas Nähe auf, so daß es ihnen schon unangenehm wurde, aber er begegnete niemandem, der auch nur im entferntesten gefährlich erschien, abgesehen von einem kräftigen Gepäckträger, der Jiddisch sprach und Herschel Prügel androhte, als er das Angebot des Mannes ablehnte, ihm zu helfen. Nun lag Europa mit seiner Mühsal hinter ihnen, und auf sie wartete nur noch die langwierige Prozedur der Einreise nach Amerika. Herschel lauschte im Zwischendeck aufmerksam den Gesprächen und hörte viele Unterhaltungen über die Gefahren der Einreiseformalitäten im Hafen von New York. Die Behördenvertreter konnten sehr launisch reagieren, indem sie einen abwiesen, weil sie müde waren oder weil ihnen die Mütze auf dem Kopf des jeweiligen Einwanderers nicht gefiel. Dann waren da die medizinischen Gutachter, die Gerüchten zufolge unglaublich scharfe Augen hatten, denen nicht die geringste Krankheit oder medizinische Bedenklichkeit entging. Der berüchtigte »Augenmann« war am meisten gefürchtet. Er untersuchte auf Granulose, die weit verbreitet war. Herschel dachte sich verschiedene Möglichkeiten aus, wie er den Behördenvertretern gegenübertreten oder wie er sie überlisten könnte. Er war zuversichtlich, daß es ihm gelänge. Sein Selbstvertrauen verflüchtigte sich jedoch schlagartig, als Blechmann verkündete, daß sie »Long Island« schon in achtundvierzig Stunden sehen müßten. Jetzt gab es kein Zurück
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mehr. Er bemerkte, daß sein neuer Freund ebenfalls ein besorgtes Gesicht machte. Genauso wie Herschel konnte Pauli es kaum erwarten, endlich in Amerika zu sein. Bald, sehr bald schon fiele die Entscheidung, ob sie dort leben könnten oder nicht.
7 PAULI Wahrend die Rheinland der amerikanischen Küste entgegenstampfte, bemerkte Pauli, daß die Messer-Brüder ihn sehr aufmerksam beobachteten. Es kam vor, daß er im Speisesaal von seinem Teller hochsah und einen der beiden dabei ertappte, wie er ihn fixierte. Tagsüber drückten sie sich auf Deck stets in seiner Nähe herum. Er wußte, daß ihr Interesse vorwiegend seinem Geldgürtel galt, von dem dieser verdammte Proviantmeister ihnen sicherlich erzählt hatte. Pauli wußte nicht, was er tun sollte, außer darauf zu achten, sich stets in Gesellschaft anderer Leute aufzuhalten. Gleichzeitig schlief er immer schlechter, weil er krank wurde. Schlimme Krämpfe wüteten in seinem Bauch, und er hatte Verdauungsbeschwerden. Er war streitsüchtig und schlechtgelaunt. Eine ähnliche Stimmung beobachtete er auch bei anderen Mitreisenden; sie brüllten einander manchmal völlig grundlos an. Sie vergaßen die einfachsten Formen der Höflichkeit und kämpften rücksichtslos um ihre Plätze an den Speisetischen und vor den Waschbecken. Immer wieder brachen Schlägereien unter den Männern aus. Pauli erkannte, daß sie völlig erschöpft und niedergeschlagen in Amerika eintreffen würden und auf keinen Fall in der richtigen Verfassung wären, um die mühsame Einreiseprozedur zu überstehen. Am Tag vor der vorausberechneten Ankunft kam starker Wind auf, und das Schiff kämpfte sich durch schwere See. Pauli bekam zum Abendessen nichts hinunter. Statt dessen ging er widerstrebend zum Tisch des Proviantmeisters in der Nähe des Eingangs zum Speisesaal und erstand eine kleine Blechkanne warmen Biers. Der Gestank und die mit Tabakrauch geschwängerte Luft des Speisesaals löste Übelkeit bei ihm aus. Sollte er es wagen, allein nach oben an Deck zu gehen? Blechmann schrieb wieder irgend etwas in sein Rechnungsbuch und achtete nicht auf ihn. Aus den Augenwinkeln hielt Pauli Ausschau nach den Messer-Brüdern. Sie saßen auf ihren Stammplätzen und unterhielten sich wie immer in aufdringlicher Lautstärke. Sie waren offenbar die einzigen Passagiere, die einigermaßen guter Laune waren. Pauli entschied, es zu riskieren. Er verließ unauffällig den Speisesaal.
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Er holte die defekte Kamera aus seinem Bett und ging mit ihr und der Kanne Bier hinauf an Deck. Zu seiner Erleichterung lag es völlig verlassen da. Der Wind klärte seinen Kopf und vertrieb eine leichte Benommenheit. Das Schiff schlingerte und stampfte, während es sich unter einem wolkenlosen Himmel voll funkelnder Sterne durch hohe Brecher arbeitete. Die Decks der reichen Passagiere über ihm wirkten wie leuchtende Paläste und schienen mit ihren zahllosen Glühbirnen das dunkle Zwischendeck zu verspotten. Auswanderer, die eine teurere Passage gebucht hatten, brauchten sich, wie Valter erklärt hatte, in New York nicht dem strengen Einreiseritual zu unterziehen. Nur die Passagiere vom Zwischendeck wurden eingehend überprüft. »Amerika will nämlich keine armen Leute, die vielleicht irgendwann dem Staat auf der Tasche liegen.« Pauli setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Stahlwandung des Rumpfs und blickte zwischen den Stangen der Reling hinaus aufs Meer. Er trank von seinem warmen Bier. Es beruhigte seinen Magen. Er fühlte sich fast wieder richtig wohl. Er hantierte mit seiner Kodakkamera herum, stellte sich vor, Photograph zu sein, der dafür bezahlt wurde, das Gefunkel der Sterne über dem Schiff festzuhalten. Er betätigte den Auslöser für imaginäre Schnappschüsse, als er plötzlich ein leises Klirren, gefolgt von Schritten hörte. Er zuckte zusammen und blickte sich wachsam um. Zwei stämmige Gestalten waren als schwarze Schemen vor dem nächtlichen Himmel zu erkennen. »Da ist er ja, Heinz. Er hat sich vor uns versteckt.« »Gut, daß Blechmann uns gesagt hat, wo wir ihn finden können.« Heinrich Messer trat gegen Paulis ausgestreckten Fuß. »Hallo, du kleiner Scheißkerl. Hast wohl geglaubt, du kannst uns aus dem Weg gehen, oder?« Pauli kam schnellstens auf die Füße, aber die Brüder versperrten ihm sofort den Fluchtweg. Pauli wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Reling stieß. Franz grinste ihn an. »Blechmann hat uns erzählt, du hättest Bier bei ihm gekauft.« »Da ist es ja«, sagte Heinrich und hob die Kanne hoch. Er trank den Rest. »Mein Gott, hatte ich einen Durst.« Er schleuderte die Kanne über Bord. »Er meinte, du hättest mit Geld aus deinem Gürtel bezahlt, den du dauernd trägst. Kannst du uns nicht ein paar Mark leihen? Wir könnten es gut gebrauchen. New York soll ein teures Pflaster sein.« »Ich habe kein Geld mehr.« Paulis Gesicht lief rot an, als er diese Lüge hervorstieß. Franz grinste. »Tatsächlich? Du hast doch nichts dagegen, wenn wir das
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nachprüfen, nicht wahr?« »Franz, sieh doch mal, er hat auch diesen Bilderkasten bei sich.« »So ein Ding habe ich noch nie aus der Nähe gesehen. Gib mal her!« forderte Franz. Pauli verbarg die Kamera unter dem rechten Arm. Franz trat ihm gegen das Schienbein. Pauli atmete zischend aus, schwankte, und Franz entriß ihm die Kamera. Pauli wollte sie sich zurückholen, sprang den Bayern an. Der lachte nur und tänzelte zurück. »Achtung, Heinz! Fang auf!« Die Brüder warfen die Kamera hin und her, lachten Pauli aus, der auf Zehenspitzen über das schwankende Deck stolperte und sich nach der umherfliegenden Kodak streckte. »Vielleicht geben wir sie dir wieder zurück, wenn du uns dein Geld überläßt«, sagte Heinrich und hielt die Kamera über seinen Kopf. Pauli war von ohnmächtiger Wut erfüllt. »Ihr Dreckschweine!« schrie er und boxte Heinrich in den Magen. Der war auf einen solchen entschlossenen Angriff nicht vorbereitet. Die Kodak entglitt seiner Hand und segelte über Bord, wo sie in den Wellen versank. Pauli konnte es nicht fassen. Mit weit aufgerissenem Mund starrte er ins Meer. Ein rasender Zorn loderte in ihm hoch. Er umklammerte die Reling, entschlossen, auf die Männer loszustürmen, ohne sich daran zu stören, wie groß und kräftig sie waren. Ein wuchtiger Treffer von hinten ließ ihn mit dem Kinn auf das Holz der oberen Relingstange krachen. Er biß sich auf die Zunge und spuckte Blut. »Dreckschwein hast du mich genannt? Na warte!« Heinrich trat ihn voller Wucht ins Gesäß. »Komm schon, Franz, er schreit nach Prügel.« »Die hat er auch verdient, unser Judenfreund!« »Ihr seid Schweine!« kreischte Pauli, taumelte auf die beiden Männer zu und hob die Fäuste. Franz trat ihm erneut gegen das Schienbein, dann griff er Pauli zwischen die Beine und drückte brutal zu. Pauli stieß einen quiekenden Schrei aus. Franz lachte rauh. Heinrich ballte die Fäuste und hämmerte sie in Paulis Rippen. Der Junge flog quer über das Deck. Franz kniete sich auf seinen Rücken, riß ihm das Hemd aus der Hose. »Da ist ja, was wir suchen.« Er hakte seine Hand unter den Gürtel und zog ruckartig daran. Die Schnur, mit der der Gürtel um die Taille befestigt war, zerriß. Der rauhe Leinenstoff des Gürtels scheuerte heiß über Paulis Haut, als Franz ihn wegzerrte. »Nehmt das Geld«, stöhnte Pauli. »Aber laßt mir den Brief von meinem Bürgen, ich brauche ihn dringend für –« Franz Messer stand auf und hielt triumphierend den Gürtel hoch. Er trat
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seitlich gegen Paulis Kopf. Tränen schossen dem Jungen in die Augen. Die Messer-Brüder lachten spöttisch und entfernten sich. Kurz darauf hörte Pauli, wie eine Luke zugeschlagen wurde. Er blieb reglos auf den kalten Eisenplatten des Zwischendecks liegen, während das Schiff sich auf seiner Fahrt nach Amerika durch die tosende See wühlte. Als der nächste Tag verdämmerte, war von der Rheinland aus ein kleines Schiff zu sehen, das sich als das Feuerschiff von Ambrose entpuppte. Die Rheinland hatte gegenüber ihrem Fahrplan einen Vorsprung herausgefahren, daher dauerte es bis zum nächsten Morgen, ehe der Lotse an Bord kam. Alle Passagiere des Zwischendecks, die sich kräftig genug fühlten, kamen heraus, drängten an die Reling und schauten aufgeregt zu den vereinzelten Lichtpunkten in der Ferne. Mit besorgten und zugleich aufgeregten Stimmen wiederholten sie ständig nur ein Wort: »Amerika! Amerika! Amerika!« Pauli hörte die Rufe, während er noch unter Deck war. Ein Mann kam vorbei, um zwei Freunde aus dem Schmutz der Toilette herauszuholen. Nach den Tagen der Überfahrt stank alles nach menschlichen Ausscheidungen. Jeder Zentimeter Fußboden, jede Wand, jeder Spiegel und jedes Waschbecken war klebrig von Erbrochenem. »Man kann Amerika sehen!« rief der Mann seinen Freunden zu. Alle rannten hinaus und ließen einen Passagier zurück – Pauli. Mörderische Krämpfe schüttelten ihn und sorgten dafür, daß er sich nicht von der Toilette erheben konnte. Er schloß die Augen, fror und schwitzte zugleich. Die Krämpfe ließen nicht nach. Er hatte kein Geld mehr. Der Brief von Onkel Joseph war verschwunden. Er war krank. Die Amerikaner schickten jeden Kranken gleich nach der Ankunft wieder zurück. Und morgen schon sollten sie eintreffen … Pauli schleppte sich bei Tagesanbruch an Deck. Regenwolken, die ein heftiger Nordwind vor sich hertrieb, verhüllten zeitweise den Horizont. In der Ferne ertönte Donnergrollen. Die Rheinland fuhr in einem breiten Kanal zwischen einer Insel an Backbord und einer größeren, nur schwach zu erkennenden Landmasse an Steuerbord. Möwen machten Jagd auf Abfall, der vom Heck ins Meer geschüttet wurde. Trotz des Donners und der gelegentlichen Regenschauer herrschte auf Deck ein dichtes Gedränge. Fast jeder der graugesichtigen Passagiere war
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von Erschöpfung, wenn nicht gar Krankheit gezeichnet. Dennoch wollten alle einen ersten Blick auf ihr Reiseziel werfen. Offenbar hielten sie es für unbedingt notwendig, ihre gesamte Habe zu dieser Gelegenheit mitzubringen. Dadurch wurde es auf der kleinen, schlüpfrigen Plattform noch beengter. Pauli schaffte es auf der Backbordseite, sich neben Valter zu drängeln. Der alte Herr hatte seine Portiersuniform abgebürstet und sich die Haare gekämmt, die nun vom Regen glänzten. Er las aus einem kleinen deutschsprachigen Reiseführer vor. »Man nennt dieses Stück hier die Narrows, eine Art Meerenge. Es gibt hier fast genauso viele Schiffe wie in Hamburg.« Es stimmte. Frachter mit den Flaggen Englands, der Niederlande, zahlreicher skandinavischer Länder und in den Farben von Paulis Heimat steuerten den Hafen hinter den tiefhängenden Regenwolken an oder verließen ihn gerade. Pauli wischte sich den Regen aus den Augen und sah, direkt voraus, eine Ansammlung hoher Gebäude, die ein Viertel des Horizonts ausfüllte. »New York!« rief jemand. Applaus brandete auf. Eine ältere Frau sank auf ihren mit einem Strick verschnürten Koffer nieder und begann haltlos zu weinen. Pauli war noch immer benommen und fühlte sich ausgebrannt und furchtbar schwach. Er kämpfte dagegen an. Er mußte wachsam bleiben, mußte sich einen Plan zurechtlegen. Schlimmer, als ohne Geld dazustehen, war die Tatsache, daß er nun keinen Beweis mehr für die Bürgschaft seines Onkels in Chicago besaß. Wenn die Behörden ihm nun die Einreise verweigerten? Wenn er diesen langen, mühsamen Weg für nichts und wieder nichts zurückgelegt hatte … Er würde es nicht dazu kommen lassen. So schwach und krank er sich auch fühlte, er würde sich schon irgendwie durchwinden. Plötzlich zupfte Valter an seinem Ärmel. »Sieh doch, Pauli! So sieht es immer auf den Ansichtskarten aus!« Und dann vergaß Pauli alles andere und nahm nur noch den Anblick des riesigen Standbildes in sich auf, das vor ihm aus dem Wasser zu steigen schien. In all seinen Träumen hatte er es sich nicht so groß und mächtig vorgestellt. Es berührte den Himmel, schien langsam, majestätisch auf ihn zuzutreiben. Die tiefhängenden Wolken verbargen die Insel, auf der es stand, aber er konnte einen Teil seines Sockels sehen, eine riesige, mit Stufen versehene Betonpyramide und darüber ein Podest aus Granit. Auch Valter war wie verzaubert und las eifrig weiter aus seinem Buch vor.
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»›Das ist Bedloe’s Island, eine alte Armeefestung. Vor sechs Jahren wurde die Freiheitsstatue hier aufgerichtet. Sie ist das größte Standbild der Welt und etwa einhundert Meter hoch. Damit ist sie zehnmal größer als der David von Michelangelo und fast dreimal größer als die Große Sphinx von Gizeh.‹« Pauli erbebte innerlich, während er sie betrachtete. Ihr Mantel und ihr Gesicht, ihre Fackel und die Krone waren rötlich braun und regennaß. »›Sie wurde von dem Bildhauer Bartholdi geschaffen, aber das Skelett im Inneren ist eine Konstruktion des berühmten Ingenieurs Eiffel‹«, las Valter atemlos weiter. »›Ihre Krone besteht aus sieben Strahlen, die die sieben Meere und sieben Kontinente symbolisieren sollen. Auf der Tafel steht in römischen Ziffern das Datum, an dem Amerika seine Unabhängigkeit errang. Der 4. Juli 1776.‹« Sie befand sich jetzt genau vor dem Bug, und Pauli wollte weinen und irgend etwas schreien und diese wunderbare Frau umarmen, deren strenges, aber auch freundliches Gesicht bereits wieder über sie hinwegschaute, über das Heck der Rheinland hinaus auf den weiten Ozean, wo sie nach weiteren Neuankömmlingen Ausschau hielt. Der Wind peitschte den Regen wie einen Schleier über ihre Krone, wehte ihn in ihre Augen. Aber sie schien stärker zu sein als die Naturgewalten, die an ihr rüttelten, stark genug, jedem Sturm zu trotzen … In seiner Begeisterung drehte Pauli sich einmal um die eigene Achse, um zu beobachten, wie die Statue langsam nach achtern wanderte. Valter blickte in sein kleines Buch. »›Zu ihren Füßen befinden sich zerbrochene Ketten. Sie schreitet voraus, hat die Fessel der Tyrannei abgeschüttelt.‹ Wir können das von hier aus nicht erkennen. Erstens befinden wir uns auf der falschen Seite, und zweitens ist unser Standort zu niedrig.« Das mächtige Standbild trieb, umwogt von Regenschwaden und Dunstwolken, allmählich von dannen. »Germania ist unsere Mutter – Columbia unsere Braut«, sagte Valter. »Das habe ich oft in Hamburg gehört. Germania unsere Mutter – Columbia unsere Braut. Du wächst auf und verläßt deine Familie, um zu heiraten. Du schaust immer zurück, aber du kannst niemals zurückkehren.« Regen rann von Paulis Augenbrauen herab über Nase und Kinn. Er wischte sich die Augen. Ein Kloß saß in seinem Hals. Germania unsere Mutter – Columbia unsere Braut. Er würde das nicht vergessen und auch nicht alles andere, was er bisher erlebt hatte. Hier, in diesem neuen Land, würde er ein Zuhause und seine Berufung finden. Motorengeknatter weckte die Neugier der Versammelten. Eine schlanke Barkasse mit amtlichen Hoheitszeichen kam längsseits. Von der Rheinland
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wurde mittschiffs eine Gangway herabgelassen, die von drei uniformierten Männern benutzt wurde. »Das sind die Vertreter der Einwanderungsbehörde«, erklärte Valter. »Für uns?« »Nein, für die Passagiere über uns. Wir müssen dorthin.« Er deutete nach vorn, wo eine Lücke in den Wolken den Blick auf eine weitere kleine Insel freigab, die von einem großen dunkelbraunen Holzbau beherrscht wurde. Das Gebäude war zwei Stockwerke hoch, besaß ein Spitzdach aus blauem Schiefer und vier spitze Türme an den Ecken. »Das sieht ja aus wie ein Sanatorium oder ein Hotel«, stellte Pauli fest. »Von außen vielleicht.« Valter blätterte in seinem kleinen Buch. »Es wurde als Ersatz für die ältere Wache, Castle Garden, gebaut. Es ist erst seit Januar in Betrieb. Es heißt Ellis. Ellis Island.« Im Laufe des Vormittags dampfte die Rheinland den Hudson-Fluß hinauf, vorbei an einem unglaublichen Gewimmel von Holz- und Klinkerbauten, die die City von New York darstellten. Der Wind vertrieb schließlich alle Regenwolken, sorgte für vereinzelte Flecken blauen Himmels und eine kühle, trockene Brise, schließlich sogar für strahlenden Sonnenschein. Mit Hilfe von Schleppern machte die Rheinland an einem der langen hölzernen Piers fest. Eine deutsche Musikkapelle, Männer in Tirolerhüten, weißen Hemden und Lederhosen, spielte eine Willkommensmelodie. Blechmann erschien. Er hatte seine Uniform mit dem Emblem der Schifffahrtslinie auf der Brust – dem fliegenden Hirschen – ordentlich zugeknöpft. In der Hand hielt er eine große Flüstertüte. »Alle mal herhören!« rief er. »Während die regulären Passagiere von Bord gehen, dürfen sich alle anderen Reisenden auf dem Pier aufhalten. Sie müssen jedoch innerhalb des mit Seilen abgesperrten Bereichs bleiben. Bitte nicht drängeln oder schieben. Nehmen Sie all Ihre Habseligkeiten mit, weil Sie nicht mehr auf das Schiff zurückkehren werden.« Eine Frau meldete sich zu Wort. »Ist der Pier schon Amerika?« »Ja, Sie betreten zum erstenmal den Boden eines neuen Landes. Und wer weiß? Vielleicht auch zum letztenmal.« »Was für ein gemeiner Kerl«, schimpfte Valter bei der plötzlich einsetzenden Hektik. Reisende luden sich ihre Reisetaschen und Bündel auf und strebten zu den Treppen an Bug und Steuerbord. Valter und Pauli gingen gemeinsam die Zwischendeckgangway hinunter. In dem Augenblick, als Valter den Pier betrat, blieb er breitbeinig stehen und zog Pauli vor sich, um ihn zu beschützen. Menschen drängten rechts und links vorbei. Valter hielt sein Gesicht in den Sonnenschein.
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»Wenn du genau aufpaßt, Pauli, spürst du es unter deinen Sohlen. Koste es aus, und erinnere dich stets daran. Mittwoch, der 1. Juni 1892. Der wichtigste Tag in deinem Leben. Vergiß ihn nie!« »Das werde ich nicht. Wie könnte ich auch.« Andere drängten von hinten nach und murrten. Sie gingen weiter. Der Holzpier war noch naß vom Regen. Vierschrötige Polizisten mit langen Schlagstöcken trieben sie auf ein abgesperrtes Gelände. Weitere Polizisten bewachten den Bereich. In Paulis Nähe drängten die jungen Wolinskis sich um ihre Mutter, die in einem fort weinte und dabei hin und her schwankte, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Herschel schickte seinem neuen Freund einen verzweifelten Blick. Pauli kam sich vor, als habe er mit all dem nichts zu tun, als sei er unendlich weit davon entfernt. Er fand es erregend, auf amerikanischem Territorium zu stehen, hatte jedoch gleichzeitig schreckliche Angst, weil er immer noch nicht wußte, wie er an den Behördenvertretern vorbeigelangen sollte. Dann, als ihn totale Hoffnungslosigkeit zu überwältigen drohte, dachte er an etwas entwaffnend Einfaches. Er griff in seine Reisetasche und holte sein Englisch für Reisende hervor. Er blätterte darin herum, suchte sich mühsam Worte zusammen, um Sätze zu konstruieren, die er halblaut wiederholte und auswendig zu lernen begann. »Was sagst du?« fragte Valter, während er seine Pfeife stopfte. »Ich überlege, was ich den Beamten sagen werde.« Pauli wiederholte die Sätze. Valter deutete mit der Pfeife auf den Fluß. »Nun, du wirst ihnen bald gegenüberstehen. Dort kommt das Schiff, um uns nach Ellis Island zu bringen.« Eine kleine Hafenfähre und fünf offene Barkassen sollten alle Zwischendeckpassagiere aufnehmen. Weiteres Gedränge entstand, als die Fähre am Ende des Piers anlegte. »In einer Reihe aufstellen, nicht rennen!« brüllte ein Polizist, jedoch nahezu vergeblich. Pauli und Valter standen in der Schlange ziemlich weit hinten unweit der Wolinskis. Schon bald war die Fähre voll. Männer schlossen die Hecktore und machten die Leinen los. Sobald die Fähre auf den Fluß hinausfuhr, legte die erste Barkasse am Schiff an. Allmählich gewannen die Sonnenstrahlen an Kraft, und es wurde merklich wärmer. Die Schlange rückte langsam vorwärts. Die Neuankömmlinge schwitzten und fühlten sich in ihren schweren Kleidern unbehaglich. Es wurde über Hunger geklagt. Zum Frühstück hatte es nur
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alte, zähe Brötchen gegeben. Leise und immer wieder spulte Pauli seine ersten englischen Sätze herunter. Am Anfang der Schlange kontrollierten Beamte die Einwanderer nacheinander und benutzten dabei Bescheinigungen, die von der Schiffsleitung ausgestellt worden waren. Jede Bescheinigung trug eine Nummer. Die einzelnen Reihen waren ebenfalls numeriert. Die Beamten suchten die Namen auf den Listen, hakten sie ab und gaben jedem Reisenden einen Papierstreifen. Dann redeten sie auf englisch auf sie ein, bis die Ankömmlinge begriffen, daß sie die Papierstreifen irgendwo gut sichtbar an ihren Kleidern befestigen sollten. Paulis Streifen trug die Aufschrift 8-11. Bescheinigung Nummer acht, Reihe elf. Die Barke legte an einem freien Platz vor dem Hauptgebäude an. Die leere Fähre fuhr an ihnen vorbei in den Hauptkanal. Sobald an Steuerbord eine Gangway herabgelassen wurde, begann wieder ein wildes Drängeln und Schieben. Pauli und Valter wurden auf die Eingangstüren zugeschoben, angetrieben von uniformierten Beamten, die riefen: »Weitergehen bis in die Gepäckhalle, dalli, dalli!« Hinter Pauli bemerkte eine Frau: »Sie sehen aus wie Polizisten.« In Europa bedeutete Polizei Terror; sie war der Feind, ein lautes Klopfen an der Tür mitten in der Nacht. Durch die Dunkelheit kurzzeitig verwirrt und ohne jede Orientierung, fand Pauli sich in einer riesigen, düsteren Halle wieder, in deren Mitte eine breite Treppe nach oben führte. In der Halle roch es nach frischer Farbe und ebenso nach frischem Bauholz. Andere Beamte winkten mit numerierten Karten und brüllten: »Bescheinigung zwei, hierher, und bitte zügig!« oder »Bescheinigung elf ist hier! Sie können Ihr Gepäck stehenlassen.« Ein Mann hinter Pauli war damit nicht einverstanden. »Ich lasse doch meine Habseligkeiten nicht zurück, damit Diebe sich bedienen können. Ich nehme alles mit.« Aber Pauli und Valter wagten es und deponierten ihr Gepäck in einem abgesperrten Bezirk, über dem eine Papptafel mit einer großen »8« darauf hing. Die Beamten brüllten weiter. »Sammeln Sie sich am Fuß der Treppe. Und bleiben Sie bei Ihrer Gruppe!« Die Gepäckhalle füllte sich schnell mit dem Geruch schmutziger Körper und Kleidung. Pauli murmelte immer noch seine englischen Sätze vor sich hin. Die Gruppen schoben sich schrittweise die Treppe hinauf. Valter hielt sich links neben Pauli, die Wolinskis gehörten zur Gruppe vor ihnen. Dann hörte Pauli von oben ein ganz neues Geräusch. Es war ein Summen und Brummen von Hunderten von Stimmen. Sonnenlicht fiel in Streifen durch die hohen Bogenfenster in den oberen Teil des Treppenschachtes. Valter zog heftig an Paulis Arm, um ihn auf einige Amerikaner aufmerksam zu machen, die militärisch aussehende
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Mützen und blaue Uniformen mit Epauletten trugen. Sie standen hinter den Geländern am Kopf der Treppe und betrachteten die Menschenmenge. »Das sind Inspektoren«, flüsterte Valter, als meinte er die Polizei oder etwas noch Schlimmeres. Pauli hatte sich noch niemals in einem derart großen und lärmerfüllten Raum aufgehalten. Gruppenweise wurden sie zwischen hüfthohen Eisengeländern hindurchgetrieben, die fast die gesamte Grundfläche der Halle einnahmen und eher an Laufgassen für Vieh erinnerten. An den Gassen stand jeweils ein uniformierter Inspektor und unterzog die Einwanderer nacheinander einer genauen Kontrolle. Vor Pauli ging eine Mutter mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Der Inspektor sprach sie mit müder, unwirscher Stimme an. »Wie alt ist das Kind?« Sie schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß sie den Mann nicht verstanden hatte. Ein junger Dolmetscher hinter dem Arzt wiederholte die Frage. Die Frau antwortete auf deutsch. »Er ist im letzten Monat zwei geworden, Euer Exzellenz.« »Ich bin keine Exzellenz«, übersetzte der Dolmetscher die Antwort des Beamten. »Ich bin beim öffentlichen Gesundheitsdienst der Vereinigten Staaten. Stellen Sie den Jungen hin. Jedes Kind, das zwei Jahre oder älter ist, muß allein laufen können.« Erneute Übersetzung. Zitternd stellte die Frau ihren Sohn auf die Füße. Der Junge steckte einen Daumen in den Mund und rührte sich nicht. Seine Mutter versetzte ihm einen heftigen Stoß. Tränen glitzerten in seinen Augen, und dann wackelte er an dem Kontrolleur vorbei, der schon die nächste Person heranwinkte. Pauli beobachtete den Inspektor aufmerksam. Er hatte ein Stück Kreide in der Hand. Wenn ihm irgend etwas nicht gefiel, schrieb er einen großen Buchstaben auf die Kleidung des jeweiligen Auswanderers. F, H, X – Pauli hatte keine Ahnung, was die Buchstaben bedeuteten. Sein Herz schlug wie wild, als er an die Reihe kam. »Name?« »Pauli Kroner. Nummer 8-11.« Vor Aufregung verhaspelte er sich bei seinem englischen Satz. »I work – yes, I – ich bin – I – good worker.« »Was meint er?« Valter, der das Englische etwas fließender beherrschte, half und erklärte, daß Pauli fleißig arbeiten wolle. »Immer mit der Ruhe. Er wird nicht arbeiten oder sonst etwas tun, so lange wir ihn nicht passieren lassen. Du bist etwas blaß, mein Junge. Warst du krank?«
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»Krank?« wiederholte Pauli, nachdem der Dolmetscher die Frage übersetzt hatte. »Ja, Sir – dort.« Er legte eine Hand auf seinen Leib. »Aber – « Schweiß trat auf seine Stirn. Er suchte nach den richtigen englischen Worten, wagte aber nicht, sein Buch hervorzuholen. »Nur wenig. Jetzt alles in Ordnung.« Der Inspektor schien ihn eine Ewigkeit lang zu betrachten. »Du siehst gar nicht in Ordnung aus. Aber du bist noch jung. Ich denke, du wirst es schon schaffen.« Ein weiterer eindringlicher Blick. Dann winkte er mit der Kreide. »Weitergehen.« Die Worte waren Pauli völlig fremd, aber er begriff ihre Bedeutung. Er eilte an dem Inspektor vorbei und hatte plötzlich ein ganz neues Verständnis von der Rolle, die Zufall und Glück bei diesem Prozeß spielten. Alle Ärzte und Inspektoren wirkten müde und ungehalten, als sei ihre Arbeitszeit viel zu lang und ihre Aufgabe zu schwierig. Sie konnten im Grunde jeden unter irgendeinem Vorwand zurückschicken, was die Chancen für die Auswanderer erheblich verschlechterte. Pauli fühlte sich schwach und mutlos, aber er schwor sich, daß er diese Prozedur überstehen würde. Er machte einen Schritt vorwärts. Doch dann sträubten sich seine Haare, als er eine vertraute Stimme aufschreien hörte. Entsetzt blickte er hinüber zur Nebengasse und sah, wie die Witwe Wolinski laut jammernd in die Arme ihrer Töchter sank.
8 HERSCHEL Die Wolinskis waren bis zur Station des dritten Inspektors vorgedrungen. Es war der berüchtigte »Augenmann«. Er stand mit einem Helfer neben einem Tisch, auf dem sich seine Mütze, ein Behälter mit einem scharf riechenden Desinfektionsmittel und ein Stapel Handtücher befanden. Mit Erleichterung sah Herschel, daß der Inspektor nicht sehr alt war und dank seiner Körperfülle ziemlich gemütlich wirkte. Sein Gesicht war so rosig und freundlich wie das eines Weihnachtsengels. Seine kleinen blauen Augen funkelten, als er Slova Wolinski mit einer Handbewegung bedeutete, sie möge etwas näher kommen. Er ließ sich von seinem Helfer ein angefeuchtetes Handtuch reichen und reinigte damit sanft Slova Wolinskis linkes Auge, dann ihr rechtes. Danach nahm er ein kleines hakenförmiges Instrument von einem Tablett. Damit hob er Slovas linkes Augenlid an. »Aha«, sagte er nicht sehr erfreut. Mittlerweile liefen dicke Tränen über Slovas Gesicht. Der Inspektor untersuchte ihr rechtes Auge auf ähnliche Art und Weise. »Da auch.« Er
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legte den Haken beiseite und ergriff die Hände der Witwe. »Meine liebe Frau« – sein Helfer übersetzte ins Polnische – »Ihre beiden Augen zeigen die typischen Symptome der Granulose. Es ist eine altersbedingte Augenkrankheit, die bei Leuten, die hier ankommen, ziemlich häufig auftritt. Ich fürchte, Sie müssen sich in Quarantäne begeben, und Ihre Angehörigen ebenfalls, es sei denn Sie sind bereit, sich zu trennen.« Ja, ja, wir trennen uns, dachte Herschel, während es in seinen Ohren rauschte und der Boden unter ihm zu schwanken schien. Er bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Slova weinte schon für sie beide laut genug. »Nein, Sir«, sagte er, »wir haben uns gelobt zusammenzubleiben.« Der Helfer übersetzte. Dabei mußte er seine Stimme erheben, denn Slova jammerte immer lauter. Die Umgebung, die vielen Fremden, dann die schreckliche Untersuchung – es war für sie alles zuviel. »Entweder wir kommen alle nach Amerika, oder wir kehren gemeinsam um – das haben wir uns geschworen.« Traurig zuckte der Inspektor die Achseln. »Dann dort entlang«, sagte er und deutete auf eine andere Laufgasse. 9 PAULI Pauli passierte den »Augenmann« ohne Schwierigkeiten. Er ging zwischen den Eisengeländern weiter bis zum Ende einer Menschenschlange. Rechts und links davon hatten sich weitere Schlangen gebildet. Alle führten zu den Inspektoren, die an einer Reihe von langen Tischen, die die gesamte Seite der Halle einnahmen, die abschließenden Befragungen durchführten. Der Anblick dieser Tische bewirkte, daß Paulis Magen sich krampfartig zusammenzog. Als spürte er seine plötzlich aufkeimende Furcht, legte Valter eine Hand auf Paulis Schulter. Der Junge schloß die Augen und wiederholte in Gedanken noch einmal seine sorgfältig konstruierten englischen Sätze. Passagier für Passagier schrumpfte die Schlange vor ihm. Und dann war er an der Reihe. Der Inspektor hatte glattes dunkles Haar, das aussah wie ein nasses Otterfell, und eine von feinen roten Äderchen durchsetzte Nase, insgesamt das häßlichste, abstoßendste Gesicht, das Pauli je gesehen hatte. Der Mann winkte ihm. »Du, Bursche. Tritt vor!« »Bescheinigung 8, Reihe 11«, sagte der Dolmetscher. Der Inspektor knurrte und fuhr mit einem mit Tinte beschmierten Finger über die Seite
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eines dicken Hauptbuchs. »Name?« »Kroner, Sir. Pauli Kroner.« Mit einem kratzigen Federhalter trug der Inspektor etwas in das Hauptbuch ein. »Alter?« Der zweite Mann übersetzte ins Deutsche. Pauli antwortete: »Vierzehn Jahre. Aber ich werde am Fünfzehnten dieses Monats schon fünfzehn.« Der Inspektor schrieb wieder. »Reist du mit jemandem zusammen?« Pauli schüttelte den Kopf. »Kannst du englisch lesen oder schreiben?« Pauli sprudelte seine einstudierten Sätze hervor: »Yes, thank you! America wonderful country!« Der Dolmetscher lachte nicht unfreundlich. Dann stellte er eine Frage: »Wo in der alten Heimat hast du deine Reise begonnen?« »In Berlin, Sir. Aber meine Familie stammt aus Schwaben.« »Das habe ich schon wegen deiner roten Haare vermutet. Feine Leute, die Schwaben. Ich stamme selbst aus dieser Region. Ich bin vor achtzehn Jahren herübergekommen.« Trotz seiner durchaus freundlichen Worte blieb die Miene des Inspektors völlig ausdruckslos, als er Pauli musterte. »Wer hat deine Überfahrt bezahlt?« »Meine Tante in Deutschland. Aber ich habe gearbeitet, um einen Teil zu verdienen.« Und auf englisch: »Ich will hier fleißig arbeiten – guter Arbeiter.« Während er seine Augen zu Schlitzen zusammenzog, fragte der Inspektor: »Hast du hier schon eine Arbeitsstelle?« Valter hatte ihn auf diese Frage vorbereitet. Wenn man sie mit »ja« beantwortete, wurde man zurückgeschickt, weil man möglicherweise einem Amerikaner die Arbeit wegnahm. Pauli schüttelte daher den Kopf. »Nein, Sir, aber ich hoffe, irgendwann eine Arbeitsstelle zu finden. Ich glaube, mein Onkel wird mir dabei helfen.« »Lebt dein Onkel hier?« »Nein, er wohnt in Chicago.« »Aber er bürgt für dich?« »Ja, Sir.« »Hast du irgend etwas, um das zu beweisen?« »Ich besaß einen Brief von ihm in Deutschland, aber zwei böse Männer auf dem Schiff haben ihn gestohlen.« Der Inspektor betrachtete Pauli lange. Dann, ohne eine sichtbare Gefühlsregung, sagte er: »Mein Junge, es gibt da ein Problem.« »Ja, Sir?« In Paulis Ohren war plötzlich wieder ein Rauschen.
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Schmerzwellen fuhren wie Messer durch seine Eingeweide. »Die derzeit gültigen Einwanderungsgesetze der Vereinigten Staaten verbieten die Einreise von Kindern unter sechzehn Jahren ohne Begleitung Erwachsener. Dein Onkel hätte dich persönlich abholen sollen. Dann hätten wir nämlich kein Problem.« »Ganz gewiß hat er angenommen – äh –«, Pauli errötete, suchte krampfhaft nach Worten. »Der Brief –« Der Dolmetscher übersetzte. »Ja, danke, ich glaube, er hatte angenommen, der Brief reiche aus.« »Das würde er auch. Wenn du ihn hättest.« »Sir, er konnte nicht herkommen. Er ist ein vielbeschäftigter und sehr reicher Mann, mein Onkel –« »Das glaube ich gerne, aber Gesetz ist Gesetz. Du wirst in Gewahrsam genommen, und dein Fall wird von einer Sonderprüfungskomission begutachtet.« »Was ist das?« Paulis Zuversicht schwand angesichts dieser schlechten Nachricht und der Flut fremder, unverständlicher Worte. »Drei Beamte, die sich mit Fällen wie deinem befassen. Du mußt hier auf der Insel bleiben, bis deine Verhandlung stattfindet.« »Darf ich dann nach Chicago weiterreisen?« Der Dolmetscher wandte den Blick ab. Der Inspektor räusperte sich. »Um ganz ehrlich zu sein, wahrscheinlich nicht, es sei denn, du kannst überzeugende Argumente vorbringen. Du darfst dir von niemandem helfen lassen. Keine Anwälte, keine Verwandten, keine Freunde – niemand.« Pauli verlor fast jeglichen Mut. Aber er ließ sich nichts anmerken, straffte sich und ballte die Fäuste. »Sir, ich hatte einen Beweis dafür, daß meine Verwandten mich erwarten. Er wurde gestohlen.« Sein Mund verzog sich. »Ich hätte bei der Angabe meines Alters lügen sollen.« Nach einem kurzen Moment sackten seine Schultern herab. »Nein, ich bin kein guter Lügner.« Der häßliche Inspektor dachte nach. Dann drehte er sich zu seinem Assistenten um. »Mr. Steiner, ich möchte in diesem Fall keinen Fehler machen. Meinen Sie nicht, daß der junge Mann aussieht, als sei er schon sechzehn? Auf mich macht er jedenfalls diesen Eindruck.« »Sir, auch mir tut es leid für ihn. Aber er hat bereits angegeben –« »Sechzehn.« Der Inspektor strich die vorherige Altersangabe im Hauptbuch durch und trug eine neue ein. Dann nahm er eine farbige Papptafel aus einer Zigarrenkiste und reichte sie Pauli. Dieser drehte sie hin und her und konnte die englische Beschriftung nicht entziffern. »Sir – was ist das?«
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»Dein vorläufiger Ausweis, daß du ordnungsgemäß aufgenommen wurdest«, erklärte der Dolmetscher und lächelte. »Willkommen in Amerika«, sagte der häßliche Inspektor. »Bis Chicago ist es noch ein weiter Weg. Paß gut auf dich auf.« Er wartete, bis er sah, daß auch Valter seinen Ausweis erhielt, und rannte dann hinüber zur Wartezone, wo die Wolinski-Kinder sich um ihre erschöpfte und verzweifelte Mutter bemühten. Herschel gab sich Mühe, seine Niedergeschlagenheit zu überspielen, als er zum Geländer kam, das die zurückgewiesenen Auswanderer von allen anderen trennte. »Goodbye, goodbye«, sagte Pauli und winkte mit seinem Ausweis. Dieses englische Wort verstand Herschel. Tränen traten in seine blauen Augen, während er Paulis Hand ergriff und drückte. Valter kam heran und blieb schweigend bei den Jungen stehen. Herschel redete polnisch, und Valter übersetzte. »Lebewohl, du warst wirklich ein guter Freund. Ich werde mit Mama und meinen Schwestern zurückkehren, aber ich schwöre dir, daß ich nicht aufgeben werde. Sie können mich noch tausendmal nach Polen zurückschicken, ich werde es immer wieder aufs neue versuchen. Eines Tages begegnen wir uns wieder in diesem Land. Ich werde irgendwann Amerikaner sein – darauf kannst du dich verlassen!« Er beugte sich über das Geländer und umarmte Pauli. Dann schüttelte er Valter die Hand. »Auch Ihnen sage ich Lebewohl, mein Herr.« »Sagen Sie ihm, er soll auf sich aufpassen«, bat Pauli seinen deutschen Bekannten. Herschel lächelte. »Aber ganz gewiß. Du aber auch.« Er hob die Hand und richtete den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf auf Pauli. »Peng, peng.« Herschel kehrte zu seiner Mutter und seinen Schwestern zurück. Pauli und Valter entfernten sich. Nach ein paar Schritten drehte Pauli sich um. Er stand in einem breiten Streifen Sonne, der durch eines der Bogenfenster fiel und in dem Staubpartikel tanzten. Das vielsprachige Geplapper, die gelegentlichen schmerzlichen Ausrufe, wenn jemandem die Einreise verwehrt wurde, die lauten Stimmen der Inspektoren erschienen nicht mehr so bedrohlich. Trotz des herrschenden Durcheinanders wohnte der weitläufigen Registrierungshalle eine erhabene, beinahe kirchenhafte Schönheit inne. Pauli winkte. Herschel winkte zurück. Pauli holte tief Luft und ging, den Einreiseausweis krampfhaft festhaltend, mit Valter auf eine Doppeltür zu, die in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen als Ausgang markiert war. Eine Nervenprobe war überstanden. Nun begann die nächste.
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»Hör mal zu«, sagte Valter zu Pauli, als sie durch die Tür gegangen waren. »Dem Inspektor gefiel mein Name nicht. Vielleicht hatte er ihn aber auch nicht richtig verstanden, als ich ihn nannte. Jedenfalls heiße ich jetzt Walters.« Er zeigte Pauli ein Papier, auf dem der Name in Blockbuchstaben aufgeschrieben war. »Siehst du? Mr. Walters. So hat er ihn auch in sein Buch eingetragen.« »Gefällt er Ihnen?« Valter lächelte versonnen. »Na ja, ich weiß noch nicht. Ich glaube, ich sollte mich damit anfreunden, denn er ist offiziell.« Im Korridor des oberen Stockwerks fanden sie mehrere Büros. Vor dem größten verkündete ein Schild GAMBIA VALUTAWECHSELGESCHAEFT – BUREAU DE CHANGE. Sie gingen daran vorbei. Pauli hatte nichts mehr, was er hätte umtauschen können. Auf ihrem Weg sahen sie auch die Post- und Telegraphenräume. Ein kleinerer Raum weckte Paulis Interesse. Das Schild an der Tür trug eine zweisprachige Aufschrift: DEUTSCHE GESELLSCHAFT German Aid Society Jedermann willkommen! »Ich würde gerne mal dort hineingehen«, sagte Pauli. »Na schön«, erwiderte Valter. »Ich warte unten in der Gepäckhalle auf dich.« In dem Büro wurde Pauli von einer Frau begrüßt, die eine weite weiße Bluse mit langen Ärmeln und eine Brille trug. Auf deutsch erkundigte sie sich nach seinem Namen. Er nannte ihn. Sie fragte ihn nach seinem Ziel. Er wollte sie mit seinen Englischkenntnissen beeindrucken. »I am – äh – zu, äh to – Chicago going.« Immer noch auf deutsch erwiderte sie: »Sehr schön, aber Sie dürfen das Verb nicht ans Ende stellen. Es heißt richtig I am going to Chicago.« »Ja, ich weiß, es ist schwer«, murmelte er und wurde schamrot. »Sie werden es bald lernen«, sagte sie freundlich. Sie reichte ihm eine Fahrkarte. »Damit kommen Sie mit der Pendelbarkasse zum Hauptbahnhof von New Jersey nördlich von hier. Es ist nicht sehr weit. Sie müssen ihn von der Fähre aus gesehen haben.« Pauli nickte. »Dieses Büro spendiert jedem deutschen Neuankömmling eine Fahrkarte plus einen Dollar.« Sie drückte ihm die große, schwere Münze in die Hand. Er hielt sie fest, als hinge sein Leben davon ab, und fühlte sich schon etwas sicherer.
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»Bis Chicago haben Sie einen weiten Weg vor sich, Herr Kroner. Mehrere hundert Meilen. Es ist nicht ganz ungefährlich. Zuerst einmal halten Sie sich von allen Fremden fern. Wenn einer Sie ansprechen oder sonstwie belästigen sollte, gehen Sie sofort weg. Zweitens, falls Sie Wertsachen besitzen, dann verstecken Sie sie gut. Unter keinen Umständen lassen Sie sich mit Arbeitsvermittlern ein, die Ihnen eine Stelle in weit entfernten Städten versprechen. Die meisten sind Betrüger, und wenn sie tatsächlich irgendeine Arbeit vermitteln können, dann nur zu Hungerlöhnen.« Pauli hörte solche Dinge nur ungern. Er wollte sich die euphorische Stimmung, in die ihn seine erfolgreiche Ankunft versetzt hatte, um keinen Preis verderben lassen. »Sie werden feststellen, daß die Amerikaner im großen und ganzen wunderbare Menschen sind«, fuhr die Frau fort. »Aber die Eigenart des amerikanischen Systems gestattet den Bürgern sehr viele Freiheiten, wenn es ums Geldverdienen geht. Deshalb greifen einige Leute zu unehrlichen Methoden.« »Ich werde daran denken.« »Dann auf Wiedersehen, Herr Kroner. Und viel Glück!« Die Frau erhob sich und drückte ihm mit ernster Miene die Hand, als sei er im Begriff, eine Reise nach China oder in noch fernere Gefilde anzutreten. Pauli traf den alten Valter in der Gepäckhalle, unweit des Eisenbahnschalters, wo geschäftige Agenten Fahrkarten in alle Regionen des Landes verkauften. Valter holte ein anderes Stück Papier hervor. »Mein Sohn Willi kommt aus Pennsylvanien hierher, um mich in einer Pension in New York abzuholen. Hier ist die Adresse. Howstone Street, ich glaube, so wird es ausgesprochen. Komm mit! Du kannst meinen Sohn kennenlernen und ihn fragen, wie du am besten nach Chicago gelangst.« Pauli ließ sich das durch den Kopf gehen und entschied dann, daß er keine Zeit verlieren und sofort nach Chicago aufbrechen wollte. Er hatte sich zwar noch keinen Plan zurechtgelegt, aber ihm würde sicherlich bald etwas einfallen. »Nein, Herr Valter, vielen Dank. Ich fahre lieber gleich nach New Jersey.« »Aber du hast kein Geld.« »Ich habe diese Fahrkarte für die Fähre. Dann habe ich den Dollar von der Deutschen Gesellschaft. Wenn ich den ausgegeben habe, werde ich mir Arbeit suchen.« Er grinste und erprobte sein Englisch: »I am a good
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worker.« Sie umarmten einander zum Abschied und trennten sich. Die Sonne brannte auf die offene Barkasse herab. Es war ein heißer Tag. Die kleine Dampfmaschine des Bootes stampfte laut. Pauli saß ein Stück von den anderen acht Passagieren entfernt und beobachtete, wie die Eisenbahnschuppen des Zentralbahnhofs von New Jersey in Sicht kamen. Der Bahnhofstand auf einem Stück Land, das in den Fluß hineinragte. Dahinter boten heruntergekommene Wohn- und baufällige Geschäftshäuser einen häßlichen Anblick, der die anderen Passagiere einzuschüchtern schien; sie sagten nur wenig. Für Pauli war der Anblick aufregend, zauberhaft – makellos. Er erinnerte sich an den Bäcker aus Wuppertal, der eine solche Reaktion vorausgesagt und warnend hinzugefügt hatte, daß sie sehr schnell verginge. Lächerlich. Ihm würde das ganz bestimmt nicht passieren. Er erinnerte sich an etwas, das Herschel gesagt hatte. »Ich möchte in jeder Hinsicht ein richtiger Amerikaner werden.« Ja, genau. Das hieß, daß er seinen deutschen Namen ablegen und sich einen neuen suchen mußte. Ihm gefiel die Vorstellung, sich verschiedene Möglichkeiten zu überlegen, alle zu verwerfen, bis eine einzige übrig blieb, die alle überstrahlte und genau die richtige wäre. Die Suche würde ihm die lange, aber durchaus informative Reise nach Chicago noch vergnüglicher machen. Die Barkasse stieß gegen den Pier, den sie angesteuert hatte. Öllachen auf dem Wasser spiegelten weiße Wolken wider, die am Himmel dahintrieben. Pauli war überwältigt vor Glückseligkeit, und als er auf dem Pier stand, konnte er nicht an sich halten. Er ließ seine Reisetasche fallen und drehte sich um. Ja, er konnte sie noch immer sehen, rostrot und wunderschön im Sonnenschein, in dem das Wasser des Hafenbeckens funkelte. Stolz und mutig stand sie da, blickte hinaus auf die See und wartete auf das nächste Schiff … Sie hatte ihn ohne Vorbehalte willkommen geheißen. Pauli breitete die Arme aus und begann wie ein aufgeregter Storch herumzutanzen. Die anderen Auswanderer starrten ihn verblüfft an. »Amerika!« rief er. »Amerika! Amerika!« »Verdammtes Greenhorn«, schimpfte einer der beiden Matrosen, die die Barkasse am Pier festmachten. »Sie sind alle gleich.« Der andere Matrose nickte. »Er wird schon noch bekehrt.«
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Eine Zeitlang wanderte Pauli durch das Hafenviertel und besichtigte alles. Er bemühte sich, nicht auf seinen hungrigen Magen zu achten, der sich durch Knurren bemerkbar machte. Die Tageshitze nahm ständig zu, und die Luft wurde stickig. Im Schatten eines Lagerhauses setzte er sich auf seine Reisetasche, um eine Rast einzulegen. Kühler war es dort nicht. Er mußte sich beruhigen, mußte Ordnung in seine Gedanken bringen. An erster Stelle stand für ihn die Notwendigkeit, nach Chicago zu gelangen. Das mußte er irgendwie schaffen, ehe der Herbst mit schlechtem Wetter einsetzte und das Reisen erschwerte. Er ordnete seine Probleme und deren Lösungen in logischer Folge. Erstens: Wie sollte er reisen? Das war einfach. Sicherlich gab es Güterzüge, die kreuz und quer durch Amerika rollten. Wie man damit vom Fleck kam, wußte er recht gut. Das hatte er in Berlin gelernt. Er kannte jedoch die Strecke nicht. Daher mußte er sich irgendwie eine Landkarte beschaffen. Ihm kam der Gedanke, daß es wie in Deutschland sicherlich öffentliche Bibliotheken gab, wo er sich erkundigen konnte. Schön, nun zum dritten Problem. Auch wenn die Fahrt mit Güterzügen gratis war, brauchte er Geld, um sich etwas zu essen zu besorgen, und er hatte nur einen einzigen amerikanischen Dollar zur Verfügung. Damit käme er nicht sehr weit. Er brauchte also eine Arbeit, vielleicht nur für ein paar Wochen, um etwas Bargeld zusammenzusparen. Aber wo konnte er sich nach einer solchen Arbeit erkundigen? Auch diesmal fand er nach konzentriertem Nachdenken eine Antwort. Es gab in Amerika bereits viele Deutsche, also gewiß auch in dieser Stadt. Deutsche konnte man immer dort antreffen, wo es auch Bier gab. Daher machte Pauli sich auf die Suche nach einem Biergarten in Jersey City. Am späten Nachmittag entdeckte er einen. Er war nicht sehr groß, aber einigermaßen gut besucht, und lag in einer Nebenstraße. In der feuchten Hitze, die ihm viel drückender vorkam, als er sie jemals in seiner Heimat erlebt hatte, ging er durch den Garten vor dem Restaurant und hielt Ausschau nach dem Inhaber. Etwa ein Drittel der Tische war besetzt. Die Gäste hatten von der Hitze gerötete Gesichter und schwitzten. Wegen seiner einladenden Gemütlichkeit hätte es ein Biergarten mitten in Berlin sein können. Ein Kellner zeigte ihm den Wirt, der auf einem Hocker hinter der Registrierkasse saß. Pauli ging auf ihn zu und sprach ihn stockend auf englisch an. »Sir? Haben Sie Arbeit?« »Nein.« Der Mann massierte sein ausgeprägtes Kinn. »Aber Geizig da drüben, er sucht einen Laufburschen. Seine Hilfskraft hat vergangenen
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Freitag gekündigt.« Pauli wurde von der verwirrenden Wortflut geradezu erschlagen. Der Wirt erkannte seine Ratlosigkeit und wiederholte alles auf deutsch. »Kommst du vom Schiff?« fragte er. »Jawohl. Ich bin gerade angekommen.« Der Mann schenkte ihm ein väterliches Lächeln und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Du bist bestimmt hungrig. Jedenfalls siehst du hungrig aus.« Er drehte sich auf dem Hocker um und winkte nach hinten. »Otto, dieser Landsmann braucht einen Teller Sauerkraut und ein großes Bier. Setz dich da hinten an den freien Tisch, mein Freund. Das Essen geht auf Kosten des Hauses. Du solltest lieber mit vollem Magen auf Arbeitssuche gehen. Ach ja, ehe du fragst, geh schnell in die Küche, und wasch dir Gesicht und Hände. Geizig legt besonderen Wert auf Reinlichkeit. Du brauchst dich aber nicht zu beeilen. Geizig ist noch eine Weile hier. Er geht selten vor sieben Uhr in seinen Laden.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Pauli etwas benommen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Der Geruch von Würstchen und Brot und Bier, der die feuchtschwüle Luft erfüllte, ließ ihn beinahe ohnmächtig werden. Amerika gefiel ihm von Stunde zu Stunde besser. Geizig wog etwa zweieinhalb Zentner. Sein Kopf war groß und rund wie ein Kohlkopf. Seine Ohren standen auffällig ab. Er reagierte mit betonter Freundlichkeit, doch Pauli sah in den kleinen, lauernden hellblauen Augen keine Güte. Er trat an Geizigs Tisch heran und fragte in mühsamem Englisch nach einer freien Arbeitsstelle. »Sprich deutsch, Englisch ist etwas für Barbaren«, bemerkte Geizig mit beißendem Spott. Fünf leere Bierkrüge standen vor ihm. Außerdem lag auf dem Tisch ein kleines Notizbuch voller Zahlen, in dem er blätterte, wenn er nicht gerade trank. »Wie heißt du?« Pauli beantwortete seine Frage. Dann wollte Geizig noch einige andere Dinge wissen. »Also, wir brauchen jemanden, der das schmutzige Geschirr und die leeren Gläser wegräumt. Außerdem muß er die Räume sauber halten – was weißt du von meinem Betrieb?« Pauli mußte gestehen, daß er überhaupt nichts darüber wußte. »Es ist ein Freizeitclub für Deutsche. Für Neuankömmlinge, wie du einer bist – allerdings sind meine Gäste etwas älter. Der Club ist ziemlich klein, gemütlich, nicht so laut wie dieser Laden hier. Abends servieren wir kleine Gerichte, dazu gibt es Bier, Wein und Kaffee. Ich bin außerdem meinen Gästen bei ihrer Korrespondenz behilflich und besorge auch schon mal Eisenbahnfahrkarten und so weiter. Es ist recht praktisch. Ich kann dir
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dreißig – äh, zwanzig Cents am Tag zahlen. Außerdem bekommst du bei mir zu essen, und du kannst in einem Schuppen hinter dem Clubgebäude schlafen.« »Das klingt annehmbar, Sir.« »Nicht so hastig. Bist du auch bereit, eine Schürze zu tragen?« Pauli nickte. »Außerdem mußt du deine äußere Erscheinung erheblich aufmöbeln. Du siehst ja furchtbar aus.« Er griff nach dem nächsten vollen Bierkrug. Seine Finger waren dick, fleischig und erinnerten an kleine weiße Würstchen. »Warte draußen auf mich, ich komme gleich zu dir.« Der Name des Clubs lautete Die goldene Tür. Geizig erklärte Pauli, er habe den Namen aus einem Gedicht, das zu Ehren der Freiheitsstatue im Hafen geschrieben worden war. Er erzählte es mit einem spöttischen Unterton. Pauli war enttäuscht, als er den Club endlich zu Gesicht bekam. Es waren lediglich zwei stickige Räume mit angrenzender Küche im zweiten Stock eines mietshausähnlichen Gebäudes, auf dessen Rückseite sich eine schmale Gasse befand. Die Nebelhörner der Schiffe auf dem Fluß waren in den Räumen des Clubs zu hören. Nur einer davon verfügte über ein Fenster, der erste, der direkt hinter dem Eingang lag. Die Außentreppe, die zum Club hinaufführte, war wacklig und hatte mehrere brüchige Stufen. Die Außentür war verwittert und ihr Anstrich, der früher einmal gelb gewesen sein mochte, zu einem schmutzigen Senfgelb verblaßt. Eine Art Dachboden im obersten Stockwerk des Gebäudes diente als Schlafsaal mit wackligen Betten, wo Neuankömmlinge gegen eine Gebühr unterkommen konnten, bis sie sich eine feste Bleibe gesucht hatten oder wußten, wie sie ihre Weiterreise bewerkstelligen konnten. Der Schuppen, in dem Pauli wohnen sollte, stand auf einem kleinen, mit Abfall übersäten Hof auf der anderen Seite der Gasse. Aber Pauli durfte nicht wählerisch sein. Er würde einen Monat hier bleiben, nicht länger, seinen Verdienst in Empfang nehmen und einen Zug nach Chicago besteigen. In seiner Freizeit würde er seine Fahrtroute ausarbeiten. Zu Paulis Überraschung herrschte in der Goldenen Tür zwar kein übermäßiger, dafür aber ein ständiger Betrieb. Die meisten Gäste waren junge Deutsche in den Zwanzigern und ledig; weibliche Gäste gab es nicht. Offenbar bot der Club etwas, wonach bei den Einwanderern eine große Nachfrage bestand. Alle redeten deutsch, Gäste wie auch Angestellte. Das wurde von Geizig gefordert. Der Club beschäftigte auch zwei Bardamen, die Getränke und Essen
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servierten. Letzteres wurde von Geizigs grauhaariger, wortkarger Frau ziemlich lieblos zubereitet. Pauli bemerkte sehr bald, daß am Ende des Abends gewöhnlich eine oder sogar beide Bardamen mit einem Kunden verschwanden. Das Abschiedsritual sah immer gleich aus: Geizig reichte der Frau einen Schlüssel, während der Gast dem Wirt ein paar Geldscheine auf die Theke legte. Eine der Bardamen, Magda, hatte ein pockennarbiges und verbittertes Gesicht, war aber immer sehr entgegenkommend; sie war weitaus freundlicher als die andere, die Waltraud hieß. Pauli faßte sich ein Herz, um ersterer eine Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte. »Wofür ist der Schlüssel, Magda?« »Für ein verriegeltes Zimmer im oberen Stockwerk. Aber sei nicht so neugierig.« Auf diese Art und Weise erfuhr er, daß Die Goldene Tür doch kein so unschuldiger Freizeitclub war, wie er es zu sein vorgab. Paulis Arbeitszeit begann erst gegen Mittag. Seine erste Aufgabe bestand darin, den Abfall einzusammeln, die Clubräume auszufegen und die Tische abzuwischen. Er hatte Dienst, bis der Club schloß, manchmal wurde es halb drei Uhr morgens. Wenn Frau Geizig nicht gerade kochte und ihr Mann ihr lange genug zuredete, hämmerte sie auf einem ramponierten Klavier im fensterlosen Raum deutsche Lieder herunter. Die Gäste sangen gelegentlich mit trunkener Inbrunst mit, aber Frau Geizigs Gesicht blieb verkniffen und mißgelaunt, während ihre Hände auf die Tasten einschlugen. Andere Vorgänge im Club beunruhigten Pauli. Viermal erlebte er, wie ein Gast plötzlich von Unwohlsein befallen wurde und zusammenzubrechen drohte. Diese Gäste begleitete Geizig persönlich über die Treppe nach unten auf die Straße. Keiner der vier hatte besonders viel getrunken, soweit Pauli es hatte verfolgen können. Weshalb ihnen schlecht geworden war, blieb ihm ein Rätsel. Er sah sie nie mehr wieder im Club. Was sie an Gepäck bei sich gehabt hatten, war ebenfalls verschwunden. Die Atmosphäre in der Goldenen Tür verursachte ihm Unbehagen und weckte in ihm den Wunsch, schnellstens zu verschwinden. Und ganz besonders an dem Abend, als er einen Mann in der Gasse wüste Drohungen ausstoßen hörte. Geizig sprang auf, um das halbe Dutzend Gäste zu beruhigen. »Es ist nichts Schlimmes. Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich schon darum.« Er rannte hinaus. Pauli lugte um den Türpfosten. In der Dunkelheit am Fuß der Treppe richtete Geizig etwas silbern glänzendes auf einen bärtigen jungen Mann.
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Pauli zuckte zusammen, als er einen leichten Stoß in den Rücken bekam. »Magda!« flüsterte er. »Herr Geizig hat eine Pistole.« »Ja, komm wieder rein, das geht dich alles nichts an.« »Aber warum brüllt und flucht dieser Mann so?« »Ein Freund von mir. Er ist sehr eifersüchtig. Wenn er nüchtern ist, läßt er sich hier nicht blicken. Er hat heute abend offenbar zuviel getrunken. Komm wieder rein«, wiederholte sie mit ängstlicher Stimme. Nach ein paar Minuten verstummte die Stimme des Fremden schlagartig, und Geizig kam wieder die Treppe herauf. Die Pistole war nicht mehr zu sehen. Geizig ging direkt auf Magda zu und packte ihren Arm. »Sorg gefälligst dafür, daß dein verrückter Freund sich hier nicht mehr blicken läßt, sonst kannst du was erleben.« Magda machte sich los. »Jawohl, Sir.« Geizig sah sich mit zornfunkelnden Augen in dem von Petroleumlampen nur dürftig erleuchteten Raum um. Das Haus, dessen erster Stock leerstand, hatte noch nicht einmal einen Gasanschluß. Niemand wagte, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu dem Vorfall zu machen, am wenigstens Pauli. Sein Geburtstag verstrich. Er erzählte niemandem etwas davon. Es reichte ihm, daß seine körperliche Entwicklung merkliche Fortschritte machte. Er war ein gutes Stück gewachsen, und dank der schweren Arbeit hatten sich seine Oberarmmuskeln gut entwickelt. Wenn er nicht arbeitete, beschäftigte er sich intensiv mit seinem Sprachlehrbuch. Da er gezwungen war, sich täglich mit der neuen Fremdsprache auseinanderzusetzen, lernte er viel schneller als in Berlin oder auf dem Schiff. Er unterhielt sich mit Magda, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Er erzählte ihr von seinem Onkel und von Chicago und davon, daß er irgendwie dorthin gelangen müsse, ehe die kalte Jahreszeit mit ihren Schlechtwetterperioden einsetzte. Eines Morgens kam sie um zehn Uhr zu ihm, bekleidet mit einem zerschlissenen Mantel und einem Hut, und zeigte ihm den Weg zur Stadtbibliothek von Jersey City. Sie war in einem unscheinbaren einstöckigen Gebäude aus grauem Granit untergebracht. Dort, so erklärte Magda ihm, fände er alle Landkarten, die er brauche. Zögernd betrat er das Haus. Es herrschte ein angenehmer Geruch nach Papier und Bucheinbänden. Das Rascheln eines Rocks erklang, als die Bibliothekarin hinter ihrem großen Mahagonischreibtisch erschien. »Kann ich dir helfen, junger Mann?«
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Mit dem Sprachlehrbuch in der Hand versuchte er ihr klarzumachen, was er suchte. Landkarten von Amerika. Sie schien sehr freundlich zu sein und aufrichtig interessiert, ihm zu helfen. Sie war eine rundliche junge Frau, zehn oder fünfzehn Jahre älter als Pauli. Sie zeigte ihm einen Sitzplatz an einem der Lesetische, dann verschwand sie in einem dunklen Gang zwischen hohen Regalen. Kurz darauf brachte sie zwei voluminöse Atlanten herbei. »Ich werde dir helfen. Ich bin übrigens hier die Bibliothekarin, Miss Lou Stillwell.« Miss Stillwell nahm neben ihm Platz, und er begann in farbigen Landkarten der Vereinigten Staaten zu blättern. Miss Stillwell ergriff seine Hand und führte seinen Zeigefinger von Jersey City entlang einer möglichen Reiseroute nach Chicago, ein Wort, das mit großen Lettern auf die blaue Fläche eines langgestreckten schmalen Sees gedruckt war. Auf der Route befand sich mindestens ein Gebirgszug, und zwar in einer Provinz namens Pennsylvania. Dann kam eine weitere Provinz, Ohio, und eine dritte, Indiana – seltsame, singende Namen, aber davon fand er eine ganze Reihe in Amerika. Dies seien keine Provinzen, klärte Miss Stillwell ihn auf, sondern Staaten. In der folgenden Woche kam er an mehreren Vormittagen vorbei, um sich die Landkarten einzuprägen und seinen Träumen nachzuhängen. »Es wäre klug, wenn du deinem Onkel schreiben würdest«, riet Miss Stillwell ihm während einem seiner Besuche. »Um ihm mitzuteilen, daß du wohlbehalten angekommen bist. Weißt du seine Adresse?« »Die steht in seinem Brief. Und den habe ich verloren. Aber es war Chicago. Und da stand etwas wie Mitch-i-gun Avenue.« »Was stand da?« Sie mußte lachen. Er versuchte, den Namen etwas deutlicher auszusprechen. »Mich-i-gan. Aber die Hausnummer weiß ich nicht.« »Nur die Straße?« »Ja, mehr hat er auch nicht geschrieben.« »Das ist nicht sehr viel, mein Junge, aber keine Sorge. Du wirst sicher bald nach Chicago aufbrechen, nicht wahr?« »Ja, sehr bald. Ich spare schon jetzt dafür.« Er verriet allerdings nicht, daß er vorhatte, auf Güterzügen als blinder Passagier mitzufahren. Er würde sich schon viel früher auf den Weg nach Chicago machen, als Miss Stillwell ahnte. Er war die unfreundliche, verdorbene Atmosphäre in der Goldenen Tür leid und hatte sich entschlossen, schon am Ende der Woche aufzubrechen. Er würde seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um von Geizig den Lohn zu verlangen, den er ihm gutgeschrieben
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und zur Sicherheit zurückbehalten hatte. Mittlerweile schrieb man den 1. August, das hieß, daß er schon zwei Monate gearbeitet hatte. Demnach schuldete Geizig ihm insgesamt zwölf Dollars. »Was deinen Onkel betrifft«, sagte Miss Stillwell, »da habe ich eine Idee. Wir geben als Adresse einfach nur die Michigan Avenue in Chicago an. Vielleicht ist er dort so bekannt, daß er den Brief auch ohne Hausnummer erhält.« Es war ein einfacher Brief. Er bestand nur aus drei Sätzen in Englisch. Der erste teilte mit, daß Pauli am ersten Juni eingetroffen war. Der zweite Satz besagte, daß es ihm gut gehe. Der dritte bestand aus nur drei Worten. Erwartet mich bald. Auf Miss Stillwells Rat beendete er den Brief mit Dein Dich liebender Neffe, P. Kroner. Die Bibliothekarin versprach ihm, den Brief noch am gleichen Nachmittag zur Post zu bringen. »Vielen Dank«, sagte Pauli zu ihr. Draußen prasselte wieder ein warmer Sommerregen vom Himmel und hüllte Jersey City in eine dichte Dunstwolke ein. In der Bibliothek herrschte eine drückende Hitze. Überheizte Räume schienen in Amerika beliebt zu sein. »Vielen Dank«, sagte er noch einmal. »Ich habe aus den Landkarten eine ganze Menge erfahren. So bald werde ich wohl nicht mehr herkommen.« »Aber eines Tages sehe ich dich doch hoffentlich wieder«, erwiderte Miss Lou mit seltsam belegter Stimme. »Ich versuche es.« Am nächsten Montag wäre er wohl schon unterwegs, aber er wollte es ihr nicht erzählen und ihr damit möglicherweise weh tun. »Ja, bitte«, sagte sie. »Und verlier dies nicht.« Sie reichte ihm einen kleinen Stapel Skizzen, die sie nach den Atlanten angefertigt hatte. Sie hatte die Staaten zwischen New Jersey und dem Haus seines Onkels aufgezeichnet. In die Staaten hatte sie die Namen der größeren Städte eingetragen und den Verlauf der Eisenbahnlinie skizziert. Miss Lou Stillwell strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Du bist ein sehr netter Kerl, Pauli. Ein lieber Junge.« Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn, wobei sie ihre Zunge zwischen seine Lippen schob. Dann wich sie mit einem leisen, verschämten Aufschrei zurück und verschwand wieder in den düsteren Regalschluchten. Pauli wußte nicht, wie er dieses Verhalten zu verstehen hatte. Nachdem er einen Tag lang hin und her überlegt hatte, entschloß er sich, Magda ins Vertrauen zu ziehen und sie zu bitten, ihm diesen Vorfall zu erklären. »Nun, Pauli, zuerst mal nehme ich an, daß die Frau sich einsam fühlte.
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Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, den du wahrscheinlich noch nicht erraten hast. Du bist zwar erst fünfzehn, aber trotzdem sieht du recht gut aus. Du hast kräftige Schultern, muskulöse Arme – bist also durchaus ein attraktiver junger Mann. Die Frauen fühlen sich zu dir hingezogen. Na ja, du bist nicht unbedingt das schönste männliche Wesen, das ich je gesehen habe. Aber du bist klug, du hast gute Manieren – Eigenschaften, die man nicht bei vielen Männern findet. Daher wissen die Frauen sie zu schätzen. Außerdem hast du ein wunderbares Lachen. Du würdest sogar mir den Kopf verdrehen, wenn ich nicht so eine alte Frau wäre.« Sie sagte es in neckendem Ton und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Eines will ich dir noch sagen. Bestimmt werden sich in dich eine ganze Reihe schöner Frauen verlieben. Aber diejenige, für die du dich entscheidest und mit der du zusammenbleiben willst, wird wahrscheinlich die einzige sein, die du nicht bekommen kannst. Das Leben spielt einem manch üblen Streich, Pauli.« An diesem Samstagabend änderten seine Pläne sich abrupt. Magda kam erst spät zur Arbeit und sah abgespannt aus. Geizig brüllte sie an. Sie lief weinend in die Küche. Als die Tür zufiel, konnte Pauli gerade noch eine rote Schwellung unter ihrem linken Auge erkennen. Ob das etwa wieder ihr eifersüchtiger Freund gewesen war? Sechs Männer hielten sich im Club auf. Vier tranken und spielten Karten. Zwei weiteren Gästen war Geizig mit einem Eisenbahnfahrplan behilflich. Er beschaffte häufiger Fahrkarten für Neuankömmlinge, die keine Englischkenntnisse hatten oder die zu unbeholfen waren, um sich ihre Fahrten selbst zu organisieren. Magda hatte Pauli unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß Geizig die Leute gewöhnlich betrog, indem er auf den Fahrpreis, den er ihnen abnahm, die Hälfte aufschlug. Kurz vor neun Uhr setzte der Inhaber seinen Hut auf und verließ ohne Erklärung den Club. Gegen halb zehn, Pauli wischte gerade einen Tisch ab, blieb Waltraud, die andere Bardame, neben ihm stehen. »Was ist das für ein sonderbarer Geruch?« »Er kommt von unten«, sagte einer der Kartenspieler. Frau Geizig kam aus der Küche herausgestürzt. »Was brennt denn hier?« Magda ließ einen gefüllten Bierkrug fallen. Er zerschellte auf dem Fußboden, und das Bier spritzte nach allen Seiten. Magda wurde leichenblaß und schlug die Hände vor das mißhandelte Gesicht. »O mein Gott, er hat es wirklich getan!« Pauli riß die Augen weit auf. Meinte sie ihren eifersüchtigen Freund? Hatte er etwa das Haus angezündet? Die Gäste sprangen erschreckt von ihren Stühlen auf. Pauli roch Qualm
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und gewahrte durch das einzelne, schmuddelige Fenster einen matten, orangefarbenen Lichtschein. Er rannte zur Tür, war kurzzeitig geblendet und prallte gegen einen Stuhl. Sein Bein schmerzte. Voller Wut und Angst packte er den nächstbesten Tisch und kippte ihn um. Er konnte die Hitze durch den Fußboden spüren. Rauchschwaden stiegen aus den Fugen zwischen den Dielenbrettern auf. Er konnte das Prasseln und Knattern der Flammen in der Etage unter ihm hören. Draußen vor dem Fenster flackerte ein grelles Licht. Das baufällige Gebäude stand völlig in Flammen. Pauli riß die Tür auf. Ein Hitzeschwall trieb ihn zurück. Er klammerte sich an den Türrahmen, während er in ein Inferno aus Flammen, Funken und zusammenbrechenden Holzbalken starrte. »Gott im Himmel, die Treppe ist weg!« Er schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen, um nachzudenken. Das Holz unter seinen Handflächen war glühend heiß. Er wich zurück. Frau Geizig rang die Hände. »Wir müssen fliehen!« »Haben Sie denn nicht gehört? Die Treppe ist nicht mehr zu gebrauchen!« »Wir werden alle sterben«, jammerte Waltraud. »Gibt es keine andere Tür?« brüllte einer der Gäste Frau Geizig an. Die anderen kannten die Antwort. Schluchzend schüttelte Frau Geizig den Kopf. Alle schienen vor Furcht wie gelähmt zu sein. Dicker, erstickender Qualm drang aus der Küche, als habe das Feuer sich dort bereits durch den Fußboden gefressen. Pauli gab sich einen Ruck, schüttelte seine Benommenheit ab. Nachdem er so viele Mühen auf sich genommen hatte, um nach Amerika zu kommen, wollte er auf keinen Fall in diesem dreckigen Loch sterben. Er rannte durch den Clubraum und schrie: »Durch das Fenster, das ist der einzige Weg!« »Oh, ich kann nicht springen! Das schaffe ich nicht«, zeterte Frau Geizig. Einer der Gäste, die sich von Geizig hatten Zugverbindungen heraussuchen lassen, wußte in seiner Angst nicht mehr, was er tat. Er schlug die Frau mitten ins Gesicht. »Sei endlich still, du Schlampe!« Die Hitze und der Qualm nahmen ständig zu. Pauli wußte, daß ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Er rannte zu Magda hinüber. Rötlicher Flammenschein aus der Küche spiegelte sich in den Tränen ihres gezeichneten Gesichts wieder. »Komm schon, wir werden hier ganz bestimmt nicht sterben«, brüllte er ihr ins Ohr und zerrte so heftig an ihrem Arm, daß sie schmerzerfüllt aufstöhnte. Er drängte sie mit Gewalt zum Fenster. Flammen züngelten vom leeren
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Stockwerk unter ihnen herauf. In der Dunkelheit auf der anderen Seite der Gasse erkannte er die Gesichter der Nachbarn als runde weiße Flecken. Er schob das Fenster vollends hoch und wurde von einem Hauch sengendheißer Luft im Gesicht getroffen. Die Flammen leckten unter dem Fenster hoch, schlugen in die Öffnung. Sie würden ziemlich weit springen müssen. »Na kommt schon, Leute, das ist die einzige Chance!« rief er. »Ich bin gleich hinter dir«, sagte einer der Neuankömmlinge, Waltraud war jedoch in dem Qualm nirgendwo zu sehen, und Frau Geizig lag ohnmächtig am Boden. »Durchhalten, Magda!« »Ich kann nicht, ich habe Angst –« »Nein, du schaffst es. Red nicht so einen Unsinn!« Keuchend schob er sie weiter zur Fensterbank und schlang einen Arm um ihre nicht sehr schlanke Taille. Für einen kurzen Moment hatte er panische Angst – das Feuer würde seinen gesamten Besitz verschlingen: die Stereoskopkarte, den Globus, die Landkartenskizzen –, aber dann fiel ihm ein, daß alles in seiner Reisetasche steckte, und die stand in seiner Behausung auf der anderen Seite der Gasse. »Spring!« rief er und zog Magda mit sich hinaus in die Dunkelheit und den Rauch und die lodernden Flammen. Während sie dem Erdboden entgegenstürzten, fing sein linkes Hosenbein Feuer. Dann raste schon der Boden auf sie zu und stoppte ihren Fall mit brutaler Wucht. 10 JOE CROWN Joseph Emanuel Crown, Inhaber der Brauerei Crown von Chicago, hatte Sorgen. Mehrere Dinge beunruhigten ihn, am meisten jedoch eine Bürgerpflicht, zu der er sich auf einer eilig anberaumten Krisensitzung an diesem Freitag, dem vierzehnten Oktober, äußern sollte. Die Sitzung hatte er selbst einberufen. Man konnte Joe Crown seine innersten Ängste und Sorgen selten ansehen. Doch an diesem Vormittag, an dem er in seinem Büro arbeitete, war es der Fall. Seine Beständigkeit, Rechtschaffenheit und sein Wohlstand waren vorbildlich. Er trug einen gediegenen mittelgrauen Anzug, der von einer dunkelroten Fliege unter einem hohen Hemdkragen belebt wurde. Da der Tag noch nicht allzu warm war, verzichtete er darauf, das Jackett abzulegen. Joes Haare waren eher silberfarben als weiß. Er wusch sie täglich, um
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ihren Glanz zu erhalten. Seine Augen hinter den metallgefaßten Brillengläsern waren dunkel, ziemlich groß und wach. Schnurrbart und Backenbart verrieten sorgfältige Pflege. Er hatte um zwölf Uhr einen Termin für das allwöchentliche Trimmen. Seine Hände waren klein, aber kräftig. Er war nicht schön, aber er gebot Respekt. Drei Prinzipien bestimmten Joe Crowns Geschäftsgebaren und sein Privatleben. An erster Stelle stand die Ordnung. Ohne Ordnung, ohne Organisation, ohne vernünftige Planung regierte das Chaos. Das zweite Prinzip war Genauigkeit. Genauigkeit war beim Bierbrauen unabdingbar. Dort waren Zeitpunkt und Temperatur von entscheidender Bedeutung. Aber Genauigkeit war auch die Grundlage jedes Geschäftes, das Gewinn statt Verlust einbringen sollte. Das wichtigste Hilfsmittel zur Erlangung von Genauigkeit war die Mathematik. Joe Crown glaubte fest an die Macht korrekter Informationen und an die absolute Herrschaft von Zahlen, die diese Informationen lieferten. In Deutschland hatte er den Umgang mit Zahlen erlernt, ehe er lesen konnte. Obgleich er in den meisten Unterrichtsfächern ein mittelmäßiger Schüler gewesen war, galt er im Umgang mit Zahlen als absoluter Meister. Er konnte im Kopf mit erstaunlichem Tempo lange Zahlenkolonnen addieren oder komplizierte Berechnungen ausführen. In Cincinnati, seinem ersten Aufenthaltsort in Amerika, hatte er den Inhaber einer chinesischen Wäscherei gebeten, ihn im Gebrauch des Abakus zu unterweisen. Eines dieser altmodischen Rechengeräte konnte man in seinem Büro sehen, wo es in Reichweite auf einem niedrigen Schränkchen lag. Geld war das Maß des Erfolges, Zahlen das Maß des Geldes. Wenn er seinen Angestellten Fragen stellte, ging es häufig um Zahlen. »Wie lautet die genaue Temperatur?« »Wie viele potentielle Käufer können wir auf diesem oder jenem Markt erreichen?« »Wie viele Fässer Bier wurden in der vergangenen Woche ausgeliefert?« »Wie hoch ist der Quadratmeterpreis dieses geplanten Anbaus?« Was sein drittes Prinzip betraf, Modernität, so glaubte er, daß auch die im Geschäftsleben entscheidend war. Geschäftsleute, die behaupteten, daß die alten Methoden auch die besten seien, waren Narren, dazu verdammt, ins Hintertreffen zu geraten und zu scheitern. Joe hielt stets Ausschau nach den neuesten Methoden und Techniken, um die Produkte, den Ausstoß, die Leistungsfähigkeit und die Sauberkeit seiner Brauerei zu verbessern. Er hatte nicht gezögert, eine teure Pasteurisierungsanlage zu installieren, als er seinen ersten kleinen Brauereibetrieb in Chicago gründete. Er hatte als einer der ersten seiner Branche in Lastwagen mit Kühlaggregaten investiert. Er bestand darauf, daß in seinen Büros moderne Maschinen zum Einsatz
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kamen. Von seinem Schreibtisch aus konnte er das angenehme Rattern einer mechanischen Addiermaschine hören. Es verschmolz mit den klickenden Typen und dem hellen Geklingel der schwarzen Stahlschreibmaschine, auf der sein Bürovorsteher, Stefan Zwick, die Firmenkorrespondenz erledigte. Ursprünglich hatte Stefan sich Joes Empfehlung widersetzt, die Bedienung einer Schreibmaschine zu erlernen. »Sir, bei allem Respekt, aber da weigere ich mich. Ein Federhalter reicht mir vollauf.« »Aber, Stefan«, erwiderte Joe freundlich, doch mit Nachdruck, »ich fürchte, mir reicht er nicht, denn damit wirkt Crown altmodisch. Ich nehme jedoch Rücksicht auf Ihre Gefühle. Seien Sie so nett, und geben Sie eine Annonce auf, daß wir eine Bürokraft suchen. Wir stellen eine dieser jungen Frauen ein, die mit diesen Maschinen umgehen können. Ich glaube, man nennt sie Maschinenschreiberinnen.« Zwick erbleichte. »Eine Frau? In meinem Büro?« »Es tut mir leid, Stefan, aber Sie lassen mir keine andere Wahl, wenn Sie das Maschinenschreiben nicht lernen wollen.« Stefan Zwick lernte Maschinenschreiben. Jedes solide Haus oder Gebäude stand auf einem starken Fundament. Und auch Joe Crowns drei Prinzipien ruhten auf einem solchen Fundament: Es war die freudige Anerkennung, um nicht zu sagen Ehrfurcht, die er harter Arbeit entgegenbrachte. Für Joe Crown war das nichts Ungewöhnliches oder Besonderes. Neben anderen Gegenständen wie Werbezetteln, Wimpeln und vergilbten braunen Photographien von den alljährlichen Betriebsausflügen der Brauereibelegschaft hing auch ein kleiner Sinnspruch an der Wand, den seine Frau als bunte Stickerei ausgeführt und mit einem vergoldeten Rahmen versehen hatte. Er lautete: Ohne Fleiß kein Preis. Wenn Joe Crown an seinem Schreibtisch saß, konnte er den goldgerahmten Sinnspruch nicht sehen. Er hing ein Stück nach rechts verschoben an der Wand hinter ihm. Aber er brauchte ihn auch nicht zu sehen. Er hatte ihn so tief verinnerlicht, daß an seiner Wahrheit für ihn kein Zweifel bestand. Joe Crown war schließlich Deutscher. Joe Crowns Brauerei nahm den gesamten Block Nummer 1000 auf der Westseite der North-Larrabee-Straße ein. Sämtliche Gebäude waren aus edlen roten Ziegeln mit Granitverzierungen erbaut. Der Verwaltungstrakt glich mit seiner Front in der Larrabee-Straße einer Festung mit einem quadratischen Turm an beiden vorderen Gebäudeecken. Auf den Türmen flatterte die Flagge der Brauerei mit dem Firmensymbol, der goldenen
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Krone. An Nationalfeiertagen wurde die amerikanische Flagge gehißt. Über dem Eingang waren in wuchtigen Lettern die Worte BRAUEREI CROWN eingemeißelt. Die deutsche Schreibweise war ein Symbol der Wertschätzung und Hochachtung für die Heimat des Inhabers. Joe Crown hatte ein geräumiges Eckbüro im zweiten Stock des Hauptgebäudes. Die vorderen Fenster gingen auf die Larrabee-Straße hinaus, durch die Seitenfenster konnte man in Crowns firmeneigenen Biergarten hinunterblicken. Der Garten hatte ein kunstvoll geschmiedetes Tor zur Straße und direkt unter Joes Büro eine Tür, die in die Bierstube führte, welche den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. In der Schenke gab es Bier und Essen von mittags bis spätabends, desgleichen im Biergarten, sofern schönes Wetter herrschte. Fast alle großen Brauereien hatten derartige Einrichtungen. In einer Ecke des holzgetäfelten Büros stand die schwarz-weiß-rote Fahne Deutschlands auf einem schweren Nußbaumsockel. In der gegenüberliegenden Ecke, auf ähnliche Art und Weise arrangiert, war die amerikanische Fahne – doppelt so groß – zu sehen. Die ausgestopften Köpfe eines Elchs und eines Schwarzbären verzierten die Wände. Joe hatte sie nur gekauft, weil er fand, daß sie die angemessene Dekoration für ein Herrenzimmer waren. Er war nämlich kein Jäger. Der Morgen war noch ziemlich dunkel, und der Himmel war bedeckt. Durch die offenen Bürofenster drang ein ständiger Hintergrundlärm – die Stimmen von Arbeitern, das Klirren und Dröhnen schwerer Rohre, die umhergetragen und mit Hämmern bearbeitet wurden. Zwischen der zweiten Etage des Brauereigebäudes und der Flaschenabfüllung, die sich westlich davon auf der anderen Seite der Gasse befand, wurden neue Rohrleitungen verlegt. Kürzlich waren infolge massiven Drucks und intensiver Lobbytätigkeit durch die Großbrauereien wichtige Gesetze neu gefaßt worden. Obgleich er noch immer mit Steuermarken versehene Fässer von Hand über die Gasse transportieren ließ, setzte Crown alles daran, schnellstens Verbindungsleitungen zu installieren, um auf diese Praxis verzichten zu können. Die Umsatzsteigerungen, die sich aus der erhöhten Produktivität ergeben würden, waren sehr eindrucksvoll. An diesem Morgen stand Joe in der Mittagskonferenz eine unangenehme Aufgabe bevor. Obgleich er darauf vorbereitet war – der Schnellhefter mit den entsprechenden Unterlagen lag bereits auf seinem Schreibtisch –, freute er sich nicht gerade darauf, unangenehme Neuigkeiten bekanntzugeben. Hinzu kam, daß er familiäre Sorgen hatte. Wo war sein Neffe Pauli, der von Deutschland herüberkommen wollte? Der Junge hätte schon längst eingetroffen sein müssen. Und wenn er wirklich kam, wie würden Joes
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eigene Kinder reagieren? Wie würden sie das neue Familienmitglied behandeln? Er bemühte sich, diese Sorgen beiseite zu schieben und sich in die stets notwendige und ständig zunehmende Arbeit zu stürzen, die mit der Leitung eines erfolgreichen und stetig expandierenden Brauereibetriebs einherging. Da ihm nun doch warm geworden war, hängte er sein Jackett an einen Wandhaken und arbeitete in Hemdsärmeln, nachdem er sich Ärmelhalter bis dicht unter die Ellbogen gestreift hatte. In der Ferne war rollender Donner zu vernehmen. Er las und strich einen Artikel über technische Fortschritte bei Kühlanlagen an, die er aus Der Amerikanische Bierbrauer, der Zeitung der U.S. Brewers’ Association – der Vereinigung der Bierbrauer Amerikas –, ausgeschnitten hatte. Dann korrigierte er einen Briefentwurf an einen Immobilienhändler unten in Terre Haute. Der Makler verhandelte wegen Grundstücken in der Nähe des dortigen Güterbahnhofs. Joe hatte überall im Land in sorgfältig ausgewählten Städten Vertriebsfilialen eingerichtet und wollte nun eine solche Agentur für den Süden Indianas eröffnen. Expansion war das Gebot der Stunde, wenn man mehr sein wollte als nur ein lokal operierender Brauereibetrieb. Er zeichnete eine Bankanweisung für seine Stadionloge in der nächsten Spielsaison der Chicago White Stockings ab. Baseball war eines seiner geheimen Laster. Eine Einladung zum Beitritt in einen neuen deutschen Gesangverein lehnte er ab. Er besaß zwar einen wohltönenden Bariton und sang sehr gerne, aber er hatte keine Zeit dazu. Als nächstes las er eine Aktennotiz seines Braumeisters Fred Schildkraut über Hefekulturen. Er tauchte die Feder ins Tintenfaß und schrieb eine Bemerkung an den Rand. Dann ging er zur Tür und bat Dolph Hix hereinzukommen. Hix war Joes Verkaufsleiter und einer der drei Männer, die in Chicago und den benachbarten Staaten unterwegs waren, um den Absatz der Brauereiprodukte zu steigern. Sie taten das auf unterschiedlichste Art und Weise. Die wirksamste war vermutlich der Einsatz eines großzügigen Spesenkontos, das es erlaubte, Kunden in Saloons mit Gratiskostproben von Crown-Bier zu bewirten. Hix erschien mit dem Entwurf für eine neue Reklame, die im Telephonbuch der Stadt untergebracht werden sollte. Er und Joe brauchten fünf Minuten, um den Entwurf zu zerpflücken. Joes Forderungen waren einfach und prägnant. Er äußerte sie in einem hervorragenden Englisch, aber immer noch mit deutschem Akzent. »Die Gerstenhalme als Illustration sind überflüssig. Weg damit, oder machen Sie sie wenigstens kleiner. Dafür
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soll der Name der Brauerei viel größer sein. Wir verkaufen Crown’s, Dolph, und keine Gerste.« Sobald Hix sich verabschiedet hatte, studierte Joe einen Werbezettel für eine Vorrichtung, die ihn brennend interessierte – es war der neueste, korbähnliche Pasteurisierer für Flaschenbier. Crown stellte sowohl Flaschen- wie auch Faßbier her, und zwar jeweils mehrere verschiedene Sorten. Am besten verkaufte sich Crown’s, ein helles, leichtes, spritziges Pils. Heimatbier, nach altem Rezept gebraut und daher dunkler und mit einem höheren Alkoholgehalt, lag auf der Beliebtheitsskala an zweiter Stelle. Es wurde vor allem von älteren Deutschen bevorzugt und trug den Zusatz Qualität »Superior«. In den vergangenen zwanzig Jahren hatten die Amerikaner dem Lagerbier vor Porterbier, Ale oder anderen starken Brauereierzeugnissen, seien sie englischer oder deutscher Herkunft, den Vorzug gegeben. Joe Crown gehörte zu dem kleinen Kreis von Bierbrauern, die diese Vorliebe rechtzeitig gewittert und damit ein Vermögen verdient hatten. Zu dem Kreis gehörten die Gebrüder Schäfer in New York; Joe Schlitz, Valentin Blatz und Fred Miller in Milwaukee; Theo Hamm oben in St. Paul, Michael Diversey, jener erfolgreiche und hochgeschätzte deutsche Katholik, dessen früherer Brauereibetrieb in Chicago ein Vorbild für Joes eigenes Unternehmen gewesen war, und der wahrscheinlich kühnste und hervorragendste von allen, Adolphe Busch, der in Partnerschaft mit seinem Schwiegervater, Eberhard Anheuser, um 1850 die um ihre Existenz kämpfende Bavarian Brewery in St. Louis übernommen hatte. Von seinen Konkurrenten mochte Joe Busch am wenigsten. Er war ein ungehobelter, rücksichtsloser Mann, der selbst nur teure französische Weine trank und sein Brauereibier abfällig als »Gesöff« bezeichnete. Er war mit einer beachtlichen Summe von seinem Vater aus Kastel am Rhein nach Amerika gekommen. Er hatte nie hungern, hatte nie wirklich um seine Existenz kämpfen müssen. Sein Lebensweg entsprach kaum einem typischen Einwandererschicksal, obgleich er das sehr gerne vorgab. Trotzdem konnte man den Kontakt mit einem Mann wie Busch nicht umgehen. In vielen großen und kleineren Städten war er ein direkter Konkurrent. Das waren auch die anderen großen Bierbrauer. Und während sie einander als Konkurrenten auch hassen mochten, so empfanden sie doch auch einen stillen Stolz auf ihre Zugehörigkeit zu einem kleinen und elitären Unternehmerzirkel. Sie waren Landsleute, sie stellten Bier her – und sie trugen eine gemeinsame moralische Verpflichtung. Als Deutsche betrachteten sie Bier als ein Nahrungsmittel, als einen völlig normalen und gesunden Bestandteil des Lebens. Eher puritanisch eingestellte Amerikaner
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und Angehörige anderer Nationalitäten waren anderer Auffassung. Für sie war Bier kein Nahrungsmittel, sondern ein Produkt des Teufels. Es überhaupt zu trinken war allein schon eine Sünde, aber der Genuß am Sonntag kam einer Gotteslästerung gleich. Dieser grundlegende kulturelle Unterschied schuf für Bierbrauer ein unlösbares Problem. Gegen elf Uhr nahm Joe am Rande wahr, daß der Geräuschpegel draußen merklich sank. Es war die Zeit des zweiten Frühstücks. Die Brauereiangestellten und die Bauarbeiter saßen herum und aßen hartgekochte Eier, Butterbrote mit Schinken oder Schwarzbrot mit Wurst und tranken dazu Bier aus Bechern. Joe betrachtete die Konstruktionszeichnung der Pasteurisiervorrichtung, als in der Stille eilige Schritte auf der Treppe und anschließend im Flur zu hören waren. Nach einem aufgeregten Klopfen flog die Tür auf. »Mr. Crown, kommen Sie schnell. Benno will Emil Tagg umbringen!« Der nach Luft ringende weißhaarige Mann war sein Bürovorsteher, Stefan Zwick. Joe sprang auf und folgte Zwick nach draußen, ohne Fragen zu stellen. Benno Strauss hatte schon früher Scherereien gemacht, und Bennos Scherereien waren immer eine ernstzunehmende Sache. Streitigkeiten zwischen den Männern wurden stets von der Geschäftsleitung geschlichtet, niemals vom Braumeister. Joe eilte die Hintertreppe hinunter, vorbei an einem offenen Fenster. Der Lärm hatte wieder zugenommen. Männer feuerten die an einem Zweikampf Beteiligten lautstark an. Nachdem er aus der Tür gestürmt war, überholte Joe Stefan Zwick und überquerte die Gasse zum Vorhof des Flaschenabfüllbetriebs. Etwa zwanzig Männer hatten einen Kreis um die Streithähne gebildet. Während Joe sich hindurchdrängte, wich er dem Blick eines der Männer aus, der ihn gespannt ansah und auf seine Reaktion wartete. Benno Strauss umklammerte mit beiden Händen den Hals Emil Taggs. Tagg lag mit dem Rücken auf einem Faß, das auf einem Handkarren stand. Der Handkarren war auf dem unebenen Ziegelboden umgekippt. Tagg war der Werkmeister der Flaschenabfüllung. Die Maschinen, für die er verantwortlich war, ratterten hinter einer offenen Tür unverdrossen weiter. Obwohl Joe Crown etwa Emils Statur hatte – also viel kleiner war als Benno –, rannte er direkt auf den größeren Mann zu, legte einen Arm um Bennos Hals, was nur möglich war, weil Benno sich weit vorbeugte. »Lassen Sie ihn los, Benno. Hören Sie auf der Stelle auf!« Er ruckte und zerrte an dem Mann. Benno wurde blaß im Gesicht. Joe spürte, wie Bennos Körper schlaff
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wurde. Er ließ ihn los und trat zurück. Benno lockerte seinen Würgegriff um Emils Kehle, nachdem er ihn noch einmal heftig geschüttelt hatte. Emil beobachtete Benno wachsam und massierte sich den Hals. »Die anderen gehen sofort wieder an ihre Arbeit«, befahl Joe. Er musterte die Umstehenden mit wütenden Blicken. Die meisten trollten sich sofort, nur wenige murrten. Joe klopfte den Staub von seinen Hemdsärmeln. »Worum ging es denn diesmal?« Emil und Benno sahen einander weiterhin lauernd an. Benno Strauss war ein Riese. Mit seinen seltsamen, asiatisch geschnittenen Augen, seinem rasierten Schädel und seinem buschigen Schnurrbart erinnerte er Joe immer an einen orientalischen Flaschengeist. Er war ein »Achtundvierziger« – einer der Auswanderer, die nach der fehlgeschlagenen Revolution aus Deutschland geflohen waren. Benno nahm für sich in Anspruch, daß er im Gegensatz zu vielen anderen aktiv an den Kämpfen teilgenommen hatte. Im Alter von zehn Jahren war er Wasserträger für eine Gruppe rebellischer Studenten gewesen, die allesamt erschossen oder verhaftet worden waren. Jedenfalls schilderte er es so. Benno war der offizielle Gewerkschaftsvertreter bei Crown. Der vierundfünfzigjährige Junggeselle war doppelt so stark wie die meisten Männer mit zwanzig. Er gehörte zur National Union of Brewers, der Vereinigung der Brauereiingenieure, Heizer, Mälzer und Gewerkschaftler, die versuchte, mit ihren unmäßigen Forderungen die Industrie zu strangulieren. Tatsächlich war er das einzige Mitglied im Betrieb. Joe Crown erkannte die Gewerkschaft nicht an. »Heraus damit, ich verlange eine Erklärung. Sie sind gefragt, Benno, denn Sie haben angefangen.« Er war zornig; diese Störung ärgerte ihn. Vor allem weil der Schuldige ein fanatischer Radikaler war. Benno wischte sich das verschwitzte Gesicht mit dem Ärmel seines Kittels ab. »Der da hat mich beleidigt.« Bennos Akzent war nicht zu überhören, sein Englisch war stockend. »Womit? Was hat er gesagt?« »Etwas Schmutziges. Über meine Mutter. Ich werde es nicht wiederholen. Aber ich dulde es nicht, daß jemand so etwas zu mir sagt.« »Stimmt das, Emil?« »Ja, Mr. Crown. Aber verdammt noch mal, soll ich es mir gefallen lassen, Wenn er mich dauernd piesackt? Er hält einfach nicht den Mund. Er kam mit seinem üblichen Unsinn über einen Achtstundentag zu mir. Es ist der gleiche Blödsinn, wegen dem Spies und Parsons und die anderen Roten vom Haymarket gehängt oder ins Gefängnis gesteckt wurden. Das
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verstehen Sie doch, oder?« Joe wich der Frage aus. Tagg war ein überaus fähiger Mann, aber Joe verabscheute seine kriecherische Art. »Ist das alles?« »Nein. Er hat dann noch von der Begnadigung angefangen.« Aha, die Begnadigung. Wahrscheinlich das brennendste Thema der letzten Jahre. Gouverneur John Peter Altgeld, ein aufrechter Deutscher, aber schändlicher Liberaler, wollte die Urteile von Fielden, Neebe und Schwab, den drei noch lebenden Verschwörern vom Haymarket, umwandeln. Die anderen fünf, die verhaftet worden waren, nachdem im Jahr 1886 während einer Arbeiterdemonstration auf dem Haymarket Square eine Bombe explodiert war, waren tot. Gouverneur Altgeld hatte stets darauf hingewiesen, daß der Prozeß gegen die acht angeklagten Verschwörer, darunter drei Deutsche, ihre Schuld niemals bewiesen hatte. Tatsächlich wurde offiziell eingeräumt, daß der eigentliche Bombenleger nicht erwischt oder auch nur identifiziert worden war. Die Urteile waren mit der Begründung gefällt worden, daß die Angeklagten durch ihr Verhalten dazu beigetragen hätten, daß eine Bombe gelegt wurde, indem sie eine Demonstration veranstaltet und die Menschenmenge mit ihren radikalen Thesen aufgewiegelt hätten. Benno ließ sich durch Taggs Anschuldigung überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. »Natürlich wollen wir eine Begnadigung der Männer vom Haymarket. Wir wollen auch einen Achtstundentag hier bei Crown, keine zehneinhalb Stunden täglich. Zu diesen Punkten zu schweigen ist feige. Man muß nur Propaganda machen für –« »Diesen Vorschlag, ich weiß«, beendete Joe den Satz. »Ich habe Sie schon früher gewarnt, Benno, verbreiten Sie Ihre roten Parolen nicht während der Arbeitszeit, für die ich zahle. Und stören Sie die Arbeit nicht. Noch ein solcher Streit – ein einziger nur –, und Sie werden entlassen!« »Okay, Sir. Ich habe Sie sehr gut verstanden.« Die Worte klangen überraschend unterwürfig. Aber Joe ließ sich nicht täuschen. Er klopfte sich noch einmal den Staub von den Ärmeln, was eher unbewußt geschah, drehte sich rasch um und marschierte dann in Richtung des Verwaltungsgebäudes davon. Was soll ich nur mit ihm machen? dachte Joe. Benno würde weiter agitieren, dessen war er sich sicher. Unter ungünstigeren Umständen – zum Beispiel angesichts eines allgemeinen Arbeiterprotestes in der Stadt – wäre es überaus gefährlich, ihn im Betrieb zu haben. Aber er ist stark wie ein Ochse und kann die Arbeit von drei Männern verrichten, wenn es nötig ist. Er blieb abrupt stehen. Sein Weg wurde von einem jungen Mann
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versperrt, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Der junge Mann lächelte. Joe lief rot an. »Hast du meine Anweisungen nicht gehört? Geh an deine Arbeit.« Der junge Mann ließ die Arme herabsinken. »Klar doch, Pa. Du bist hier der Boß.« Hier. Joe Crown schob seinen Sohn beiseite und setzte mit grimmigem Gesicht seinen Weg fort. In seinem Büro dachte er weiter über Benno Strauss nach. Benno gehörte zu den Tausenden, die mit der zweiten großen Welle deutscher Einwanderer um 1880 nach Chicago gekommen waren. Er behauptete, nach der Revolution in einem halben Dutzend europäischer Länder gelebt zu haben. Daß er mehr als nur einmal im Gefängnis gesessen hätte, daß er aber auch die Polizei oft überlistet hätte und ihr entschlüpft wäre. Es war schwer zu entscheiden, welche seiner Geschichten über frühere Fluchten und Heldentaten im Kampf für sozialistisch-anarchistische Ideen reine Erfindung waren. Benno war ein Schaumschläger, ein Windbeutel, verliebt in den Klang seiner eigenen Stimme, in seine eigenen Ansichten. Wenn er auf deutsch loslegte, dann war er ein aufrüttelnder Redner, das mußte Joe ihm lassen. Benno gehörte dem Lehr- und Wehr-Verein an, der Liga militanter Arbeiter. Sie predigten die Selbstverteidigung gegen die kapitalistischen Feinde. Benno hatte eine Pistole zur Arbeit mitgenommen, bis Joe sie entdeckt und verboten hatte. Das war der erste Streitpunkt zwischen ihnen gewesen. Außerdem weigerte Benno sich, sich einbürgern zu lassen oder diesen Schritt auch nur in Erwägung zu ziehen. Joe warf ihm das insgeheim vor, obgleich ihm klar war, daß er fairerweise so etwas eigentlich nicht tun dürfte. Er beschäftigte mindestens ein Dutzend Männer, die sich genauso dagegen sträubten, und zwar entweder aus übermäßigem Stolz auf ihr Vaterland oder aus dem Gefühl heraus, daß sie eines Tages ihre Sachen packen und nach Hause zurückkehren würden, falls es ihnen nicht gelänge, in Amerika Fuß zu fassen. Benno war ein sehr guter Arbeiter, wenn er dazu aufgelegt war. Daher entschied Joe, sich einstweilen mit seinen Hetzkampagnen abzufinden in der Hoffnung, daß es nicht schlimmer würde. Wenn doch, müßte Benno den Betrieb verlassen. Joes Langmut hatte seine Grenzen. Er holte seine goldene Taschenuhr hervor und stellte fest, daß seine Hand leicht zitterte. Der Zwischenfall hatte ihn aufgeregt, vor allem die
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Begegnung mit seinem Sohn. Mit dem Fingernagel öffnete er den dünnen goldenen Uhrdeckel. Das Zifferblatt zeigte zweiundzwanzig Minuten nach elf. Sein Fahrer würde in genau acht Minuten erscheinen, um ihn zuerst zum Palmer House, dann zu seinem Club, der Union League, zu bringen, wo er mit zwei weiteren Clubmitgliedern zu der Krisensitzung verabredet war. Der eine Gesprächspartner war der Transportunternehmer Charles Yerkes, ein Mann mit schillernder Vergangenheit, der wegen Börsenschwindels in Pennsylvania im Gefängnis gesessen hatte. Der andere Mann war der ehemalige Kongreßabgeordnete aus dem Achtzehnten Distrikt im südlichen Teil des Staates, Joseph Gurney Cannon, allgemein nur Uncle Joe genannt oder manchmal Lästermaul Joe, weil er dazu neigte, seine Reden mit Schimpfworten zu würzen. Wenn er sich im Kongreß erhob, um ans Rednerpult zu treten, verließen die Frauen gewöhnlich die Galerie. Nach langer Tätigkeit in dieser Position war Cannon im Zuge des demokratischen Sieges von 1890 abgewählt worden. Joe zog sein Jackett an und setzte einen weißen Filzhomburg mit elegantem Zierband an der Krempe auf. Er ergriff seinen Spazierstock mit Goldknauf sowie den Konferenzhefter und ging nach unten in die Bierstube. Auf der vorderen Theke stand das aktuellste Sinnbild moderner Technik, eine goldglänzende Registrierkasse. Es war das neueste Modell der National Cash Register Company in Dayton mit Geldschublade, Glocke, Anzeige, die im Sichtfenster erschien, und mit einem Papierstreifen, der täglich eine genaue Liste der einzelnen Verkäufe in chronologischer Ordnung lieferte. Ein wahres Zahlenwunder! Joes Chefkellner, Mickelmeyer, kam aus der Küche. Während er auf die Kasse tippte, fragte Joe: »Und wie funktioniert sie?« »Sie ist ein Wunderwerk, Joe, einfach fabelhaft«, erwiderte Mickelmeyer. »Ich hab’ auch was Schönes von zu Hause zu melden. Peter ist für das Herbstsemester angenommen worden.« »Das ist ja prima. Wann haben Sie das erfahren?« »Gestern kam der Brief.« Mickelmeyer strahlte. »Ich hätte niemals gedacht, daß der Junge das Gymnasium schafft, geschweige denn auf eine angesehene Universität kommt.« Die Universität von Chicago war nur in den Augen der Einwohner von Chicago eine angesehene Universität; sie hatte keine nennenswerte Tradition. Sie war noch sehr neu und zum großen Teil mit Geldern erbaut worden, die John D. Rockefeller gestiftet hatte. »Vielleicht hat Peter Zeit, bei diesem neuen Trainer, Stagg, Football zu spielen.«
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»Das fände ich sehr schön«, sagte Mickelmeyer. »Seine Mutter ist allerdings dagegen.« »Frauen lassen sich auch schon mal umstimmen. Peter soll zusammen mit meinem Glückwunsch fünfzig Dollars erhalten. Kommen Sie nachher ins Büro, ich schreibe Ihnen eine Zahlungsanweisung.« »Das ist wieder mal sehr großzügig von Ihnen, Joe. Gott segne Sie.« Joe winkte ihm und ging hinaus. Mickelmeyer war ihm dankbar, aber er war nicht besonders überrascht. Wahrscheinlich erwartete er eine solche Geste von seinem Firmenchef. Genauso wie Joe war Mickelmeyer schon lange in seinem Gewerbe tätig. Bei Imbrey in Cincinnati, wo Joe seinen Beruf erlernt hatte, aßen der Inhaber und seine Männer stets gemeinsam an den Kantinentischen und nahmen gegenseitig an ihrem Leben Anteil, so wie sie auch gemeinsam die tägliche Arbeit bewältigten. Mickelmeyer hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. Das war früher üblich in Betrieben und ein Teil der Vergangenheit, den Joe zu erhalten versuchte. Die Sozialisten und Anarchisten erschwerten das, indem sie Mißtrauen und Feindseligkeit unter den Arbeitern säten. Im Biergarten fanden sich die ersten Mittagsgäste an den Tischen unter den Eichen und Ulmen ein. Die Luft war schwer und feucht, aber mit jenem besonderen Duft erfüllt, den Joe seit seiner Kindheit liebte: den Geruch von Treber und Wasser, Hefe und Hopfen, die zusammen das süße, herzhafte Brauereiaroma erzeugten. Er zählte aus Gewohnheit die noch freien Tische. Ein Tisch fiel ihm dabei auf. Er betrachtete ihn eingehend, dann winkte er einem Kellner. Es war der jüngste, der für diesen Tisch zuständig war. Joe machte ihn darauf aufmerksam, daß das Besteck sehr unordentlich aufgedeckt war. »Dieses Teil muß so liegen. Und die Gabel wird daneben gelegt.« Joe zeigte es ihm. »Gerade und exakt, wie es sich gehört. Bitte achten Sie in Zukunft darauf.« »Jawohl, Herr Crown«, sagte der Kellner verlegen auf deutsch. Er wußte, was geschähe, wenn er nicht auf den Eigentümer hörte. »Hier wird englisch gesprochen, es sei denn, der Gast beherrscht es nicht. Guten Morgen.« Er trat durch das Tor und ging zu dem Springbrunnen hinüber, der von einer ein Meter achtzig hohen Statue von Gambrinus, dem legendären flämischen König und Schutzheiligen der Bierbrauer, beherrscht wurde. König Gambrinus verdankte seinen Ruhm angeblich der Fähigkeit, bis zu Hundertfünfzig Glas Bier auf einmal trinken zu können. Wie schön es doch wäre, Gambrinus zu sein, dachte Joe. Er sah gelassen und zufrieden aus. Vielleicht nach all dem guten Bier …
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Er hörte das Rattern von Rädern und blickte auf die Uhr, als ein Gespann prächtiger Pferde mitsamt Kutsche vor dem Tor anhielt. Es war ein englischer Landauer, das Fahrzeug eines reichen Mannes. Schwarze Seitenteile, ein horizontaler Zierstreifen und Hufstiefel für die Pferde stellten einen dezenten Schmuck dar. Die Sitzpolster waren aus gefärbtem Leder, das zur Farbe des Wagens paßte. Sogar der Kutschbock war wegen seines dunkelroten Tuchs mit schwarzen Lederkanten etwas Besonderes. Auf jeder Tür befand sich eine kleine goldene Krone. Das vordere sowie das hintere Verdeck waren wegen des unsicheren Wetters aufgespannt. »Fünf Minuten Verspätung, Nick«, sagte Joe und klappte den Deckel seiner Uhr zu. »Tut mir wirklich leid, Mr. Crown«, erwiderte Nicky Speers, der stämmige und rotbäckige Kutscher der Familie. Nicky war ein Engländer mittleren Alters; britische Kutscher waren beim Geldadel Chicagos sehr gefragt. »Auf der Clark-Street-Brücke gab es einen Stau. Ich hing dort fast zwanzig Minuten lang fest und konnte nicht umdrehen.« Joe Crown signalisierte mit einem kurzen Nicken, daß er diese Entschuldigung annahm, sie aber nicht unbedingt begrüßte. Er stieg in die Kutsche, und sie fuhr unter einem wenig verheißungsvollen Himmel zügig los. Joe lehnte sich gegen die Polster und dachte an die Mittagskonferenz. Der eigentliche Anlaß dazu war die große Ausstellung, die, nur für eine einzige Saison, am 1. Mai des folgenden Jahres ihre Tore öffnen sollte. Die World’s Columbian Exposition sollte eine gigantische Darstellung von Kunst und Wirtschaft werden und anläßlich des 400. Jahrestags der Entdeckung Amerikas stattfinden. Das internationale Ereignis würde weltweit die Aufmerksamkeit auf Chicago lenken. Um alle Ausstellungsstücke aufzunehmen, wurden im Jackson Park auf der Südseite im Eiltempo riesige Pavillons fertiggestellt. Der Kongreß hatte Chicago als Ort für die Ausstellung gegenüber konkurrierenden Städten bevorzugt und verfügt, daß die neuen Gebäude »mit einer angemessenen Zeremonie« eingeweiht werden sollten. Das führte umgehend zu Komplikationen, weil das passende Datum, der 12. Oktober, ausfiel. Präsident Harrison hatte erklärt, er müsse an diesem Tag unbedingt an der Kolumbus-Parade in New York teilnehmen. Als Ersatzdatum wurde der folgende Freitag, der 21. Oktober, festgesetzt. Der Einweihung sollte eine ganze Woche voller Feierlichkeiten vorausgehen, darunter auch ein Galaball, der unter der Schirmherrschaft von Armour, Field, Pullman und General Nelson Miles stattfinden sollte.
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Eine große Parade war für den Donnerstag angesetzt. Präsident Harrison würde ihr beiwohnen. An diesem Abend würden er und andere Würdenträger zu einem Dinner geladen, das von ausgewählten Gästen arrangiert und finanziert würde. Freitag sollte dann der Höhepunkt folgen. Alle Unternehmer, mit Ausnahme der habgierigsten, würden ihre Firmen schließen, um an der Einweihungsfeier teilzunehmen. Am Vormittag war eine weitere Parade zum Ausstellungsgelände geplant, dann würde eine Einweihungszeremonie im riesigen Gebäude für Industriewesen und Freie Künste veranstaltet, für das bereits als »größtes Gebäude der Welt« Reklame gemacht wurde. Die ganze Nacht hindurch würden die Parks von Chicago von Feuerwerken erleuchtet sein. Die gesamte Woche war vom Festkomitee der Ausstellungsgesellschaft durchgeplant worden. Zu dem Komitee gehörte jede wohlhabende oder wichtige Persönlichkeit in Chicago sowie Dutzende, die diesen Status für sich in Anspruch nahmen. Joe Crowns Unterkomitee war für die Organisation des Empfangs und des Festbanketts mit dem Präsidenten am Donnerstag zuständig. Und in dieser Angelegenheit hatte Joe Crown schlechte Nachrichten zu überbringen. Er klappte seinen Schnellhefter auf, ging noch einmal die Speisenfolge durch, die in flüssiger Handschrift festgehalten worden war. Fünfunddreißig verschiedene Punkte. Austern. Eier »Florentine«. Murmeltierbraten. Kalbskoteletts. Spanische Sauce. Erdbeerkuchen. Kirschwasser. Kognak. Bier. Crown würde gratis drei Sorten Bier liefern. Andere Sponsoren waren nicht so freigebig. Deren Geiz hatte diese Krisensitzung erst notwendig gemacht. Joe klappte den Hefter zu. Er brauchte nicht schon wieder auf die traurigen Zahlen zu blicken, schließlich kannte er sie auswendig. Trotz der begrüßenswerten Aufmerksamkeit, die die Ausstellung hervorrufen, trotz der Millionen von Touristendollars, die sie einbringen würde, löste die Ausstellung gleichzeitig eine Flut von Habgier und Korruptheit aus. Selbst eine halbwegs respektable Persönlichkeit wie der Bürgermeister, Sir Carter Harrison, hatte sich begeistert für den »Fortschritt« und sich für »eine aufgeschlossene Stadt« während der Ausstellung stark gemacht. Die Unbekümmertheit des Bürgermeisters war typisch für die Stadt, aber Joe betrachtete sie auch als typisch für die Zeit allgemein. Habgier und Korruptheit hatten während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre in diesem von ihm zur neuen Heimat auserkorenen Land zugenommen, und zwar seit der Regierung von U. S. Grant, dem Kriegshelden von erklärter politischer Unschuld. Grants Berater und Spießgesellen hatten ihre Posten
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ausgenutzt, um sich auf illegale Weise zu bereichern, am schlimmsten im sogenannten Whiskey Ring, der die Regierung um Millionen an Alkoholsteuer betrog. Danach hatten Jay Gould und Jim Fisk versucht, die nationalen Goldvorräte aufzukaufen, und beinahe einen wirtschaftlichen Zusammenbruch ausgelöst. Der Tweed Ring in New York hatte Millionen aus dem Stadtsäckel abgezweigt, ehe man dem einen Riegel vorschob. Vier Anteilseigner der Union-Pacific- und der Central-Pacific-Eisenbahnen hatten ein Vermögen verdient, indem sie staatliche Subventionen für den Bau der transkontinentalen Eisenbahnstrecke einkassierten. John D. Rockefeller aus Cleveland hatte Standard Oil gegründet und die Öl-Firma rücksichtslos eingesetzt, um Konkurrenten an die Wand zu drücken. Nun stolzierte er herum und spielte die Rolle des uneigennützigen Menschenfreunds. Auf jeden dieser großen Skandale kamen tausend kleinere. Börsenschwindel, Grundstücksbetrug, Wahlfälschung, Preismanipulationen, Firmenkonzentrationen in den Händen weniger Unternehmer, die sich untereinander absprachen – all das war alltäglich. Kinder wurden illegal in Fabriken beschäftigt, die völlig verdreckt waren und höchst unsichere Arbeitsbedingungen boten. Viele dieser Kinder wurden krank oder bei Unfällen derart schwer verletzt, daß sie für den Rest ihres Lebens Krüppel blieben. In Chicago war die Mehrheit der Stimmen im Stadtrat – die berüchtigten »Grauen Wölfe« – ganz offen käuflich. Sogar die heutige Sitzung war die direkte Folge nackter Habgier. In Amerika schien es nur noch wenig Idealismus zu geben. Statt dessen herrschte fast überall nur der zynische Glaube an die Macht des Dollars. Ganz gleich, wie man zu Geld kam – ob durch Amtsmißbrauch im Rathaus oder harte Verhandlungen im Sitzungssaal –, Hauptsache, man bekam es. Die Sensationspresse steigerte ihre Auflagen mit Stories über »Raubritter« und »Kartelle«, »kriminelle Firmenbosse« und »Miethaie«, und die Meldungen wurden von der Mehrheit der anständigen Leute, die sich hilflos in ihr Schicksal ergaben, gleichmütig zur Kenntnis genommen. Unbekannte Autoren veröffentlichen Bücher, in denen sie Reformen forderten, die aber nur von wenigen gelesen wurden; vornehmlich von Frauen, Predigern und von beeinflußbaren jungen Männern wie zum Beispiel Joes ältestem Sohn. Ein paar prominente Persönlichkeiten wandten sich gegen die götzenähnliche Verehrung des Geldes und gegen die daraus folgende Korruption. Joes guter Freund Carl Schurz gehörte dazu. Unglücklicherweise waren solche Männer einsame Rufer in einer Wüste
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allgemeiner Gleichgültigkeit. Die Reichen wurden reicher, indem sie das Gesetz beugten, und die Armen verhungerten oder starben in aller Stille. Die Zierde des amerikanischen Wirtschaftssystems – die Freiheiten, die es bot – war zugleich sein Fluch, denn es stellte eine unmißverständliche Einladung für die Wölfe dar, in den Pferch einzubrechen und ungehindert zu töten und zu plündern. Reformen waren dringend nötig. Aber wo sollte man beginnen? Welche moralisch unantastbare Persönlichkeit sollte sich an ihre Spitze stellen? Joe glaubte noch immer an die grundsätzliche Richtigkeit des amerikanischen Systems. Er glaubte an die Chancen, die es jemandem bot, der bereit war, hart zu arbeiten. Er betrachtete sich selbst nicht als Heiligen oder, Gott behüte, gar als Radikalen. Aber ebensowenig hielt er sich für genauso dumm wie einige seiner Kollegen; Unternehmer, die die menschliche Seite des Geschäftemachens total mißachteten. Gus Swift und Pork Vanderhoff zum Beispiel, zwei Lagerhausbetreiber großen Stils, die ganz offen erklärten, daß es nicht ihre Schuld sei, wenn einer ihrer Arbeiter sich in ihren Betrieben verletzte oder auf Dauer zu Schaden kam, sondern einzig und allein die Schuld des Geschädigten – er habe schließlich die Risiken gekannt und akzeptiert, als er seinen Job angetreten habe. Wenn solche Pechvögel in der Gosse landeten, sahen Swift und Vanderhoff geflissentlich weg. George Pullman war kaum besser. Er hatte sein Modell von der Arbeiterstadt Pullman, zwölf Meilen südlich der City, verwirklicht. Oberflächlich betrachtet schien sie ein wunderschönes und sehr humanes Experiment zu sein. Aber er bevölkerte die Stadt mit Firmenspionen, um Arbeitskämpfe zu verhindern, und er berechnete seinen Mietern das Dreifache der normalen Kosten für Gas, Strom und Wasser. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, dachte Joe. Was die Pullmans, Swifts und Vanderhoffs nicht zur Kenntnis nahmen, war die wachsende Zahl von Bennos auf der ganzen Welt; Männer, die entschlossen zum Handeln aufriefen. Und darunter verstanden sie auch Brandstiftung, Bombenattentate und sogar Mord. Er tadelte sich selbst dafür, daß er es zugelassen hatte, derart schwarzen Gedanken nachzuhängen. Daran waren vermutlich mehrere Umstände schuld, gewiß auch der düstere Himmel und die wachsende Sorge um seinen Neffen aus Deutschland. Im Keller des Palmer House nahm Joe auf dem Wartestuhl im Friseurladen Platz. Er begrüßte zwei Bekannte – der Laden war ein allgemeiner Treffpunkt für die Wirtschaftsbosse der Stadt – und entschuldigte sich beim Inhaber Antonio dafür, daß er sich um fünf Minuten
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verspätet hatte. Antonios Lächeln und Achselzucken signalisierten, daß es nicht so schlimm sei. Mr. Crown hatte einen festen wöchentlichen Termin und gab stets großzügige Trinkgelder. Der Friseurladen im Palmer House war mit hohen verchromten Sesseln ausgerüstet. Die übrige Dekoration bestand aus zahlreichen Topfpflanzen und Dutzenden von Silberdollars, die in akkuraten Reihen in den Fußboden eingelassen waren. Wichtige Kunden hatten eigene Rasiertassen und pinsel, die in Wandregalen aufgereiht waren. Joe Crowns Tasse war mit dem bunten Bild eines lächelnden Königs verziert, der eine riesige Krone trug und gemütlich auf seinem Thron saß. Über der Darstellung stand in goldenen Lettern das Wort CROWN und darunter, ebenfalls in Gold, das Wort REX. Antonio zog das Rasiermesser am Lederriemen ab und seifte Joes Wangen oberhalb des Bartes ein. Joe genoß gewöhnlich diese Barbierbesuche, aber an diesem Vormittag war er dazu nicht in der richtigen Stimmung. Der Anblick der bunten Seifentasse weckte in ihm Erinnerungen an den Krieg, an seinen Dienst in der Unionsarmee, der einen so nachhaltigen Einfluß auf den Verlauf seines Lebens ausgeübt hatte. Während des Krieges hatte sich eine gewisse Neigung zu Sauberkeit und Ordnung zu einer alles beherrschenden Leidenschaft gesteigert, die tief in seiner deutschen Seele wurzelte und ihn für immer zum Ordnungsfanatiker machte. Die Rasiertasse. Eine ähnliche hatte es schon einmal in seinem Leben gegeben, damals, an einem tragischen Tag, als – Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Die Verhältnisse waren auch so schon bitter genug. Er lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen, während Antonio süß duftende Rasierseife auf seinen Wangen verteilte. Das stattliche, aus rotem Sandstein erbaute Clubgebäude der Union League stand an der Ecke West-Jackson-Straße und Custom-House-Straße. Die Union League war 1862 als Heimatverein gegründet worden, dessen Mitglieder sich verpflichteten, die Union zu erhalten und stets zu verteidigen. Die Union League hatte sich vor allem im Norden ausgebreitet, und nach dem Krieg waren daraus zahlreiche Gesellschaftsclubs hervorgegangen. Die beiden Mitglieder von Joes Unterkomitee erwarteten ihn bereits im geräumigen Salon. Die Männer bildeten ein extrem gegensätzliches Paar. Beide waren Mitte fünfzig. Charles Yerkes, deutscher Herkunft, war ein blasser, dunkeläugiger Mann mit einem üppigen Schnauzbart und einer löwenhaften, allmählich weiß werdenden Haarmähne. Jemand, der nichts
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von seinem Ruf eines Hais unter den Geschäftsleuten wußte, hätte ihn mit seiner gelehrtenhaften Zurückhaltung und Aura der Überlegenheit für einen Universitätsprofessor halten können – obgleich kein Professor sich seine englischen Anzüge und maßgeschneiderten Oberhemden hätte leisten können. Die äußere Erscheinung des Kongreßabgeordneten Joe Cannon war gleichfalls irreführend. Auf den ersten Blick wirkte er trottelhaft schlampig mit seinem zerknautschten Filzhut, seiner unordentlichen Kleidung und einem Kinnbart, der dringend gestutzt werden mußte. Joe Crown hatte jedoch sehr bald erkannt, daß Cannons Anzüge alles andere als billig waren, sondern daß er sie lediglich nachlässig behandelte. Cannon machte darüber oft Scherze. »Meine treue Wählerschaft unten im Vermillion County ist doch nur ein Haufen altmodischer Bauerntölpel. Wie sähe es aus, wenn ich zu ihnen käme, herausgeputzt wie ein Fatzke? Der gute alte Chester Arthur wurde ‘84 nur deshalb nicht wiedergewählt, weil er zu elegant gekleidet war. Ich sage immer, Chesters Sieg ist im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gegangen.« Cannons betont bäurisches Gebaren überspielte einen autoritären Charakter, einen wachen Geist und eine unglaubliche Willensstärke. Unter angeregtem Geplauder begaben die drei sich in den zweistöckigen Speisesaal und nahmen in einer stillen Nische an dem Tisch Platz, den Yerkes hatte reservieren lassen. Hinter einem Wandschirm auf einer kleinen Bühne klimperte ein unsichtbarer Entertainer auf einer Mandoline leise Melodien. Während einer üppigen Mahlzeit unterhielten sie sich über den bedenklichen Zustand der Nation. Ja, die Amerikaner betrachteten die monopolistischen Industrie- und Wirtschaftskartelle als geradezu unanständig, als Symbole eines von Grund auf bösen und erdrückenden Einflusses auf das menschliche Leben allgemein. Infolgedessen wären alle Geschäftsleute suspekt. Das hätte politische Auswirkungen. Im Westen und im Süden gründeten Farmer und Arbeiter eine dritte Partei, die Populisten. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Kapital und Arbeit würde immer tiefer, stiftete zunehmend Uneinigkeit. Siehe Joes Schwierigkeiten mit Benno Strauss, die er erwähnte. Yerkes führte die gewalttätigen Ausschreitungen bei Carnegie Steel in Homestead, Pennsylvania, im vergangenen Juli an. Die Nationalgarde wäre zu Hilfe gerufen worden, um einen Streik zu verhindern. Bei den Schießereien seien mehrere Männer getötet worden. War Joes Ausblick in die Zukunft reichlich trübe, so schienen Yerkes’ Erwartungen geradezu trostlos zu sein.
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»Ich besitze Tausende von Aktien von Philadelphia & Reading, und die sind praktisch wertlos. Alle Eisenbahngesellschaften stehen am Rand des Bankrotts. Letzte Woche in New York aß ich mit Belmont und Morgan zu Abend. Sie sind beide überzeugt, daß wir auf eine Katastrophe zusteuern. Sie haben versucht, Washington zu warnen. Niemand dort scheint sich dafür zu interessieren«, sagte er mit einem Seitenblick auf Cannon. Uncle Joe kratzte sich die Nase. »Ich weiß wirklich nicht, was wir tun können, Charlie. Es ist schließlich nicht Aufgabe der Regierung, einen freien Markt zu reglementieren. Aber du hast recht, daß es ziemlich trübe aussieht. Ich besitze ein paar Getreide- und Baumwollaktien. Befindet sich der Kurs heute noch in schwindelnden Höhen, kann er schon morgen schlechter sein als der Ruf einer Hure. Man braucht einen Hellseher mit Kristallkugel, um voraussagen zu können, was als nächstes passieren wird.« Er winkte dem Kellner, um noch mehr Kaffee zu bestellen. Dann wandte er sich an Joe. »Gehen deine Geschäfte gut?« »Ja, eigentlich wie immer. In schlechten Zeiten gehen die Verkäufe schon mal ein wenig zurück, aber niemals so weit, daß man sich Sorgen machen müßte. Bier ist ein billiger Balsam für die Seele.« Er meinte das durchaus ernst, aber Yerkes kicherte, als habe er einen besonders bissigen Witz gehört. Als jeder der Männer wieder eine volle Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, schlug Joe seinen Schnellhefter auf und zeigte ihnen die endgültige geänderte Speisenfolge. »Nun, Charles, bist du damit einverstanden?« Yerkes zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wenn es bis zum nächsten Donnerstag zu einem Börsenkrach kommen sollte, können wir dem Präsidenten nur noch trockenes Brot und Wasser vorsetzen.« »Uncle Joe?« »Ich denke, es ist okay. Ich mag euch beide wirklich, aber wenn ihr mich in einem C. & E. I.-Wagen von Danville über hundert Meilen schlechter Straßen, auf denen ich mir den Hintern wundgescheuert habe, hergeholt habt, nur um über eine verdammte Speisekarte zu entscheiden –« Mit dem Fuß schob er den Spucknapf unter dem Tisch ein Stück näher zu sich heran. Er beugte sich zur Seite und benutzte ihn geräuschvoll. »… dann nehmt euch in acht. Dann könnt ihr gleich euer blaues Wunder erleben, auch wenn ihr denkt, ihr hättet mich schon mal schimpfen gehört.« Er holte eine seiner billigen Zigarren hervor und zündete sie an. Joe schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt noch etwas Wichtigeres zu besprechen. Die beiden Firmen, die das Wild und die Spirituosen liefern sollen, haben willkürlich ihre Kostenvoranschläge heraufgesetzt. Jeweils um bedeutende Beträge.«
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»Ach, schick sie zur Hölle, und such neue«, sagte Cannon und winkte ab. »Das schaffen wir nicht, dazu ist die Zeit zu knapp. Ich bin verdammt wütend, aber das nützt im Augenblick überhaupt nichts. Damit wird unser Problem nicht gelöst. Auch wenn wir ausverkauft sind – was tatsächlich der Fall ist –, nehmen wir nicht genug Geld ein, um die Kosten abzudecken. Da, seht selbst.« Er zeigte ihnen das Papier mit seinen Berechnungen. »Unser Unterkomitee ist dafür verantwortlich, die Kosten für das Menü innerhalb der Budgetgrenzen zu halten. Das Festkomitee zieht uns dreien das Fell über die Ohren, wenn wir rote Zahlen machen.« Cannon ließ sich gegen die hohe Lehne seines samtgepolsterten Stuhls sinken. »Seht mich nicht so an, Jungs, ich habe nichts in der Tasche als ein bißchen Kleingeld. Was glaubt ihr denn, was ein kleiner Landanwalt verdient, wenn ein Mistbauer den anderen wegen irgendwelcher Grundstücksstreitigkeiten vor Gericht zerrt? Ich verrate es euch gern: einen Hungerlohn!« Er bückte sich wieder zur Seite, um seine Feststellung mit einer weiteren Ladung in den Spucknapf zu unterstreichen. Mit einem Gesicht, als fühle er sich bis aufs Blut ausgenutzt, seufzte Charles Yerkes und sagte: »Na schön, ich steuere genug bei, um die Mehrkosten aufzufangen. Ich nehme an, das ist sowieso der einzige Grund, weshalb ich in dieses Komitee berufen wurde.« Joe atmete erleichtert auf. »Ich hatte auf dieses Angebot gehofft. Wenn du die Hälfte des Verlustes trägst, übernehme ich die andere Hälfte.« »Abgemacht«, sagte Yerkes und wirkte schon etwas fröhlicher. »Da das nun endlich geregelt ist«, sagte Uncle Joe mit gelangweilter Miene, »ist es vielleicht möglich, daß ich, verdammt noch mal, endlich was Anständiges zu trinken bekomme!« Joe verließ den Union League Club kurz nach zwei. Sein Wagen fuhr in nördlicher Richtung zur Larrabee-Straße. Er wußte, daß er eigentlich zufrieden darüber sein sollte, daß seine raffinierte Strategie ein wesentliches Problem gelöst hatte. Statt dessen beschäftigte sein Geist sich sofort mit einer neuen Frage. Wo blieb der Junge? Es gab keine Nachricht von ihm. Er sollte lieber seiner Schwester Charlotte schreiben und sich erkundigen, nur als Vorsichtsmaßnahme. Bestimmt hatte er schon viel zu lange abgewartet. Andererseits, vielleicht machte er sich völlig unnötig Sorgen. Wie sollte der Junge sich denn melden? Wahrscheinlich konnte er kein oder nur sehr wenig Englisch. Angenommen, er tauchte eines Tages auf, wie fände er sich zurecht?
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Wäre er glücklich in Amerika, oder würde er schon bald enttäuscht wieder in die alte Heimat zurückkehren? Sollte er eine bessere Schulausbildung oder einen Arbeitsplatz bekommen? Die größte Sorge galt einem Punkt, über den er schon nachgedacht hatte. Würden seine und Ilsas Kinder bereitwillig einen Neuankömmling in die Familie aufnehmen? Im Haus der Crowns lebten drei Kinder, womit sich möglicherweise drei problematische Reaktionen auf die Ankunft eines Fremden ergeben konnten. Das älteste Kind, Joseph junior, war siebzehn Jahre alt. Er war ein zierlicher Junge mit einem feingeschnittenen, fast engelhaften Gesicht und einem wachen Verstand. Ilsa hatte ihm schon früh beigebracht, ausgiebig zu lesen. Rein äußerlich ähnelte er sehr stark seinem Vater, doch dem Temperament nach schien er alles abzulehnen, was für Joe Crown wichtig war. Er schien sich in der Rolle des Rebellen zu gefallen. Er war von nicht weniger als drei bedeutenden Schulen verwiesen worden. In seiner Verzweiflung hatte Joe ihn in der Brauerei untergebracht. Dort hatte er sich sofort mit den schlimmsten Elementen angefreundet, den radikalen Sozialisten, deren Rädelsführer Benno Strauss war. Frederica, Fritzi genannt, war elf. Im Augenblick erklärte sie noch, sie hasse alle Jungen. Sie war ein mageres Geschöpf mit wilden blonden Haaren, die sie von Ilsa geerbt haben mußte. Fritzi war sehr lebhaft, manchmal sogar geradezu aufdringlich. Ständig kämpfte sie um allgemeine Beachtung. Sie stand unter doppeltem Druck. Zum einen war sie das zweite Kind und wurde daher ständig mit dem erstgeborenen verglichen, und zum anderen war sie ein Mädchen in einer Familie – und einer Welt –, die von Männern beherrscht wurde. Joe vergötterte sie, aber sehr oft stellte sie seine Geduld auf eine harte Probe. Er lebte mit der geheimen Furcht, daß er sie wohl nie ganz verstehen würde. Carl war das jüngste Kind. Er würde im November zehn und war bereits genauso groß wie seine Schwester. Er war Ilsa wie aus dem Gesicht geschnitten, doch seine Schultern waren so breit, sein Oberkörper und seine Taille so rund und kräftig, daß er aussah, als stamme er von einem völlig anderen Elternpaar ab. Carl machte den Eindruck eines eher langsamen Denkers, bis er zu reden begann oder lächelte. Dann gewannen sein Charme und sein Lachen alle Sympathien. In häuslichen Dingen erschien er manchmal etwas unbeholfen, aber niemals beim Spiel oder beim Sport, für den er sich begeisterte. Carl war ein komplizierter kleiner Junge. Mindestens genauso ausgeprägt wie seine Begeisterung für alles Sportliche war seine Vorliebe für technische Dinge. Mit vier Jahren hatte er Joe und Ilsa mit einem plötzlich aufflammenden Interesse für Vorhängeschlösser,
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Kombinationsverriegelungen, Riegel und Schlüssel aller Art beinahe um den Verstand gebracht. Danach war in jedem Jahr ein neues und anderes Interessengebiet gefolgt. Drei Kinder, die alle voll mißtrauischer Spannung auf ein neues und ständiges Mitglied des Haushalts warteten. Sie waren nicht sehr erfreut, daß ihr Leben auf diese Art und Weise gestört würde. Sie machten daraus kein Geheimnis. Joe versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß die Kinder sich mit ihrem Vetter über kurz oder lang schon anfreunden würden, aber ganz sicher war er sich dessen nicht. 11 PAULI Vier Menschen starben in dem Feuer, das Die goldene Tür verschlang: Frau Geizig, Waltraud und die beiden Neuankömmlinge, die im Speicher im dritten Stock schliefen. Geizig war in dem Augenblick nach Hause zurückgekommen, als das Feuer gerade ausbrach, und hatte keinen Finger gerührt, um den von den Flammen Eingeschlossenen zu helfen. Der Brandstifter, Magdas eifersüchtiger Freund, wurde nicht gefaßt. Pauli hatte sich das linke Bein durch den Sprung aus dem zweiten Stock derart verstaucht, daß ihm jeder Schritt schreckliche Schmerzen bereitete. Magda hatte zwei gebrochene Rippen und zahlreiche Prellungen davongetragen. Die örtliche Polizei verhörte Pauli, hielt ihn aber nicht fest. Er war immerhin fast so etwas wie ein Held. Er erklärte den Beamten, daß Geizig ihm seinen Lohn schulde. Sie sagten, der Eigentümer, der mittlerweile im Gefängnis sitze, behaupte, kein Geld zu haben. Ein Beamter der Polizeiwache, ein Mann mit deutschem Namen, erfuhr von Paulis Schicksal und schenkte ihm fünf Dollars aus seiner eigenen Tasche. Paulis Plan, auf Güterzügen nach Chicago zu gelangen, war nun nicht durchführbar. Mit seinem lädierten Bein wagte er es nicht, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Er machte sich Sorgen, weil der Herbst vor der Tür stand. Es wurde bereits merklich kälter. Die ersten Blätter verfärbten sich, wurden braun und fielen von den Bäumen. Magda begleitete ihn zum Bahnhof. Sie half ihm dabei, eine Fahrkarte zweiter Klasse für vier Dollars zu kaufen. Für den Rest würde er sich etwas zu essen besorgen, solange es reichte. Der Mann am Fahrkartenschalter erklärte, für vier Dollars käme er bis Pittsburgh. Pauli versah eine seiner
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Landkartenskizzen mit einem Punkt und dem Buchstaben P. »Aber was willst du nach Pittsburgh tun?« wollte Magda wissen. Sie stand bei ihm, während lautes Glockengeläut ertönte, die Lokomotive zischend Dampf abließ und der Zug jeden Moment abfahren würde. »Laufen«, sagte Pauli mit weitaus mehr Zuversicht, als er tatsächlich verspürte. Der Wagen der zweiten Klasse gefiel ihm gar nicht. Er war schmutzig, die Sitzbänke waren hart, Ruß und Glutflocken wirbelten ständig durch die offenen Fenster herein, brannten in seinen Augen und setzten sich in seinen Haaren fest. Zwei Deckenlampen spendeten Licht, aber es war so trübe, daß er seine Augen anstrengen mußte, um in seinem Englisch-Lehrbuch zu lesen. Die zweite Klasse in Deutschland war viel besser. Auf jedem Bahnhof stiegen Passagiere ein und aus. Die meisten waren einfache Landleute. Fast jede Stunde saß eine andere Person neben ihm. Niemand machte sich die Mühe, ein Gespräch zu beginnen, erst recht nicht, nachdem die Fahrgäste ein paar Worte seines gebrochenen Englisch gehört hatten. Er kaufte eine kleine Tüte Lakritzrollen beim Zeitungs- und Süßwarenhändler, der durch den Zug ging. Er aß die Süßigkeiten und schaute aus dem Fenster. Er versuchte seine Laune aufzubessern, indem er aufmerksam die sich ständig verändernde Landschaft betrachtete. Das küstennahe Flachland ging in hügeliges Gelände über. Dann folgten niedrige Berge, deren Hänge dank des herbstlichen Laubs der Bäume in Flammen zu stehen schienen. In dieser Nacht wurde es empfindlich kalt, und der Eisenbahnschaffner zündete im Eisenofen am Kopfende des Waggons ein Holzfeuer an. Qualm wallte heraus, erzeugte Hustenanfälle und tränende Augen. Aber es war wenigstens warm im Wagen. Nein, es war heiß. Wie in einem Backofen. Wie seltsam, daß die Amerikaner in ihren Räumen und in öffentlichen Gebäuden solche Hitze bevorzugten. Er fragte sich, ob er sich wohl jemals daran gewöhnen würde. Es kam ihm vor wie eine Erlösung, als der qualmende, schmutzige Zug in eine langgestreckte Halle einfuhr und der laute Ruf des Schaffners ertönte: »Pittsburgh!« In Pittsburgh verbrauchte er seine restliche Barschaft für einen Beutel Äpfel, für Cracker und Bonbons. Dies schienen die geeignetsten Lebensmittel für die Straße zu sein. Er brach in Richtung Westen auf und fragte jeden nach dem Weg, der bereit war, mit ihm zu reden – Schulkinder,
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Landstreicher, Frauen, die in ihren Vorgärten Wäsche zum Trocknen aufhängten, wenn ein frischer Wind wehte. An den ersten Tagen kam er wegen seines angeschlagenen Beins nur langsam voran. Jeder Schritt war ein Kampf; oft mußte er vor Schmerzen die Zähne zusammenbeißen. Mehrmals war er gezwungen, sich am Straßenrand hinzusetzen, keuchend und schwitzend, bis die Schmerzen abflauten. Aber er ließ sich in seinem Vorhaben nicht beirren. An den Spätnachmittagen färbte der Himmel sich dunkelblau. Das Licht wurde matter, die Sonne stand jeden Tag tiefer am Himmel. Die Felder und Äcker waren für den Winter bereits abgeerntet. Sein Wollmantel erwies sich schon jetzt als zu dünn. Er schlief in Heumieten oder grub sich unter mit Rauhreif bedeckten Büschen an einem Berghang ein. Sein Vorratssack war schon bald leer, und danach aß er, wann und wo er konnte. Manchmal bettelte er bei einem Farmhaus um Wasser und Essen und wollte als Gegenleistung dafür arbeiten. Einmal mußte er Holz hacken. In einem anderen Fall schleppte er mehr als zwei Stunden lang Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse in einen Keller. In einem dritten Farmhaus verlangte man von ihm, daß er Schweine fütterte, eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung für einen Jungen, der in den Straßen von Berlin aufgewachsen war. Ab und zu fuhr er ein paar Meilen bei Farmern mit, die mit Pferdewagen unterwegs waren, oder mit fliegenden Händlern, die von einer Stadt zur nächsten reisten. Einer von ihnen, ein umherziehender Klempner, brachte ihn fast dreißig Meilen weit in den Staat West Virginia, dann spendierte er ihm eine üppige Mahlzeit aus Beefsteak, Zwiebeln und Bier, ehe er ihm für den weiteren Weg alles Gute wünschte. Gleich hinter der Grenze des Staates Ohio, im kalten Zwielicht des Abends, das vom Funkeln einiger Sterne erhellt wurde, schlich er sich in einen Obstgarten, wo noch ein paar halbvertrocknete Äpfel an den Ästen hingen. Er pflückte einen verschrumpelten braunen Apfel und biß hungrig hinein, weil er seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. »Hallo, wer da?« Die barsche Stimme überraschte ihn völlig. Ein Hund begann zu kläffen. Er hörte, wie der Farmer durch den Dunst auf ihn zurannte. Er schnappte sich seine Reisetasche und entfernte sich schnell in entgegengesetzter Richtung. Er trat in irgendeinen Tierbau und fiel zu Boden. Dabei stieß er sich die Stirn am Stamm eines Apfelbaums. Der Farmer tauchte mit einer Schrotflinte im Anschlag auf. Pauli verbrachte wegen des Diebstahls eines einzigen wertlosen Apfels sieben Tage und Nächte im Dorfgefängnis.
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Wenigstens war das Essen im Gefängnis reichlich und gut. Maisbrei, hausgemachtes Brot und Eingemachtes, wohlschmeckende Eintöpfe, würziger, starker Kaffee. Die Schwester des Gefängnisaufsehers war mit dem örtlichen Arzt verheiratet. Er kam mit seiner Ledertasche vorbei. Er sah aus wie ein Schwindsüchtiger, aber er war von behutsamer Art, und er untersuchte Paulis Bein sorgfältig. Die Haut war noch immer an einigen Stellen dunkelrot und gelb, und Pauli hatte Schwierigkeiten, sein ganzes Gewicht darauf zu verlagern. »Soweit ich es beurteilen kann, ist nichts gebrochen«, schloß der Arzt. »Ich habe eine Salbe, mit der du das Bein einreihen kannst. Du mußt trotzdem vorsichtig sein. Keine zu große Belastung! Wie weit hast du noch zu gehen?« »Bis nach Chicago.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das ist ein weiter Weg. Wie willst du den schaffen?« »Das weiß ich nicht. Aber ich werde hinkommen.« Der Arzt rümpfte die Nase. »Ehe du aufbrichst, mußt du noch einmal zu mir kommen. Meine Frau macht dann heißes Wasser. Du brauchst ein Bad. Wenn du weiterhin so riechst wie im Augenblick, wirst du bestimmt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet.« Pauli verstand nicht alles, weil der Arzt nuschelte und sehr schnell sprach. Aber er genoß das Bad in einer Zinkwanne und eine großzügige Mahlzeit, die von der resoluten Frau des Arztes zubereitet worden war. »Ich habe noch nie ein menschliches Wesen so schnell essen sehen. Ist das eine typisch deutsche Fähigkeit?« Nach dem Essen schlief Pauli selig in einem richtigen Bett und unter einer dicken Decke. Bei grauem, winterlichem Himmel brach er wieder nach Westen auf. Seine Kleider waren sauber, sein Bein roch nach der einmassierten Salbe, aber er humpelte noch immer. Auf seiner Reise begegnete er vielen seltsamen neuen Namen. Wheeling. Erie. Bucyrus. Toledo. Er prägte sich jeden Namen ein und merkte sich die Aussprache. Einfach war es nicht. Er sah Reklametafeln mit seltsamen Bildern und Aufschriften. Üppige junge Frauen in durchsichtigen Gewändern hielten gelbe Seifestücke hoch. Reizende kleine Mädchen in Nachthemden bissen in braune Kekse. Robuste Farmer mit Strohhüten auf den Köpfen hielten dem Betrachter einladend Tabakrollen hin. APPLEBAUM’S DIGESTIVE ELIXIR. FENWICK & HERMAN, MORTICIANS. HOLY GHOST TENT REVIVAL. Die Bilder
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verstand er meistens, aber die Botschaften nur selten. Dennoch war er fasziniert von der Eindringlichkeit und Unverblümtheit der Reklame; von ihren fröhlichen Farben. Auch das war etwas Neues, etwas einzigartig Amerikanisches. Er reiste zusammen mit einem fahrenden Hufschmied nach Indiana. Mittlerweile war es Dezember geworden, und das kalte Wetter hatte sich unerwartet in eine sonnige und warme Periode verwandelt. Der Schmied sagte, solches Wetter sei so spät im Jahr für den Mittleren Westen sehr ungewöhnlich. Der Schmied ließ ihn an einer Kreuzung aussteigen, winkte ihm zum Abschied und bog auf die Straße ab, die nach Norden führte. Pauli trottete noch etwa eine Meile weiter, gelangte zu einer weiteren kleinen Landgemeinde mit einer einzigen ungepflasterten Hauptstraße. Er blieb vor einem Apothekerladen stehen. Es war ein stark besuchtes, aromatisch duftendes Geschäft, in dem außerdem Pferdezaumzeug, Damenhüte, Arbeitsschuhe, Hörrohre, künstliche Gliedmaßen und Glasaugen verkauft wurden. Der Apotheker war ein schroffer Mann mittleren Alters mit einem Schnauzer. Sein rechtes Bein schien steif zu sein, als habe er wie Pauli eine Verletzung davongetragen. Pauli holte sein Sprachlehrbuch hervor und suchte darin nach Hilfe für seine Fragen. Der Apotheker hörte ernst und aufmerksam zu, dann sagte er, Chicago sei nicht mehr als zweihundert Meilen weit entfernt. »Ich rate dir, deine Reise schnellstens zu beenden; dieses Wetter hält sich nicht ewig. Jeden Tag kann es einen Schneesturm geben.« Er legte den Kopf schief, während er den Besucher eingehend musterte. »Andererseits siehst du aus, als könntest du wenigstens noch eine weitere Nacht in einem richtigen Bett vertragen.« »Das könnte ich, ja, ganz sicher.« »Wunderbar. Ich finde es gut, Gesellschaft zu haben.« Er führte Pauli zu den Räumen über dem Laden. Dort öffnete er die Tür eines geräumigen Schlafzimmers, das muffig roch. »Meine Frau und ich haben dieses Zimmer jahrelang benutzt. Sie erlag im August des vorigen Jahres einem epileptischen Anfall. Seitdem habe ich im kleinen Zimmer geschlafen. Dieses hier kann ich nicht mehr ertragen. Mach es dir nur bequem. Da hast du eins meiner Nachthemden. Zieh es an, während ich deine Kleider wasche. Ich heiße übrigens Llewellyn Rhodes.« »Pauli Kroner, Sir, ich danke Ihnen sehr.« Rhodes bereitete Pauli ein umfangreiches Abendessen. Er vergaß seinen Laden und blieb mit seiner Kaffeetasse oben in der Küche, als hungere er
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danach, mit jemandem zu reden, selbst wenn der Betreffende so viel jünger war als er. Er erzählte Pauli, daß er in seiner Freizeit ehrenamtlich als Chorleiter in der kleinen städtischen Kirche tätig sei. »Deutsche singen sehr viel«, sagte Pauli. »Sie gründen immer wieder neue Gesangvereine.« Aus melancholischen Augen schien Rhodes in weite Fernen zu blicken. »Wir haben während des Krieges viel gesungen. In der Anfangszeit sowieso. Ich diente sechsundvierzig Monate lang bei der 20. IndianaEinheit. Allesamt Freiwillige. Bauernjungs aus dem tiefsten Indiana, noch feucht hinter den Ohren. Von unserem Bürgerkrieg hast du doch schon mal gehört, oder?« »Von dem Krieg zur Befreiung der Neger? Ja.« »Es war der Krieg, um die Union zu schützen. Viele von uns haben sich selbst dafür geopfert. Verstehst du, was ich damit sage?« Er streckte sein rechtes Bein aus und zog das Hosenbein hoch. Paulis Augen weiteten sich. Rhodes hatte ein Holzbein. »Es reicht bis zum Knie. Wie alt bist du?« »Fünfzehn Jahre.« »Ich war kaum vier Jahre älter, als ich es verlor – am North-Anna-Fluß in Virginia. Ich habe deshalb niemals bittere Gefühle gehabt. Der Krieg war die einschneidendste Erfahrung meines Lebens. Die meisten Männer meines Alters, die damals gekämpft haben, denken so. Es war, als hätte man an einem Kreuzzug teilgenommen. Seitdem erschien alles andere fade und unbedeutend. Damals hatten wir alle ein Ziel. Nun lebe ich nur, um ein wenig Geld zu verdienen, mich um mein Geschäft zu kümmern und den Tag herumzubringen.« Seine Augen fixierten Pauli. »Man braucht ein solches Ziel, eine Aufgabe. Etwas, wofür man sich einsetzt, was einem wichtig ist. Geld zu wollen ist ganz in Ordnung, denn Geld ist etwas Notwendiges. Aber das reicht nicht aus. Nicht annähernd. Verstehst du mich?« Pauli nickte, obgleich er sich dessen nicht ganz sicher war. Am Morgen machte Pauli Anstalten, seine Reise fortzusetzen. Obgleich er in dieser Nacht gut geschlafen hatte, fühlte er sich ziemlich komisch. Er klapperte mit den Zähnen und schwitzte und fror abwechselnd. Der Apotheker bemerkte es und legte den Handrücken auf Paulis Stirn. »Du bist krank. Du solltest lieber noch ein oder zwei Tage hierbleiben und dich auskurieren.« »Nein, ich habe mich sowieso schon viel zu lange hier aufgehalten. Ich muß mich beeilen, nach Chicago zu kommen.« »Nun, der Zug von Pittsburgh über Fort Wayne nach Chicago fährt hier
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durch. Ich kaufe dir eine Fahrkarte für den restlichen Weg. Sag nicht nein, ich bin fest entschlossen.« So kam es, daß Llewellyn Rhodes ihn zum Bahnhof brachte, so wie Magda es getan hatte. Der Himmel war düster. Ein heftiger Wind wehte. Es war über Nacht bitterkalt geworden. Rhodes schien tieftraurig zu sein, als er ihm vom Bahnsteig aus zum Abschied zuwinkte. Amerika, dachte Pauli, während er aus dem Fenster des Zuges nach Chicago schaute. Es gibt hier Menschen, die genauso vom Schicksal geschlagen sind wie Tante Lotte. Es war eine ernüchternde Lektion. Der Personenwagen unterschied sich nur wenig von dem, in dem er nach Pittsburgh gelangt war. Nach einer Stunde rann Pauli der Schweiß übers Gesicht. Diesmal war die Ursache nicht der alte Ofen, der den Wagen heizte. Er fühlte sich schwach, versank immer wieder in einen Zustand der Benommenheit. Er wurde krank, daran bestand kein Zweifel. Er drückte sich an das Fenster und betrachtete durch das Schneegestöber, das von Minute zu Minute dichter wurde, graue Felder, Drahtzäune und kahle Bäume. Ein stürmischer Wind heulte um den Wagen, brachte die Fenster zum Klirren. Schon bald fuhr der Zug nicht schneller als zehn Meilen die Stunde, dann fünf. Draußen versank alles in einem weißen Wirbel. Ein Schneesturm tobte um den Zug. Schneewehen türmten sich auf. Der Zug stampfte, blieb stehen, ruckte vorwärts, stampfte erneut, dann hielt er ein zweites Mal. Diesmal rührte er sich nicht mehr. Der Schaffner sprang vom Wagen. Nach kurzer Zeit erschien er wieder. Seine Schultern und sein Mützenschirm waren voller Schnee. »Die Gleise sind völlig zugeweht. Wir stecken hier fest, bis ein Rettungszug mit Schneepflug kommt. Das dürfte aber nicht allzu lange dauern.« Zwölf Stunden später, es war inzwischen Mitternacht und eisig kalt, warteten sie noch immer. Das Holz für die Öfen ging zu Neige. Es gab kein Petroleum, um die Lampen aufzufüllen. Es hörte auf zu schneien, auch der Sturm legte sich, aber der Zug saß fest. Die tapfersten Reisenden begannen ihre Siebensachen zusammenzupacken und den Zug zu verlassen. »Es ist eine Dummheit, sich bei diesen Verhältnissen nach draußen zu wagen«, warnte der Zugschaffner. »Ich habe keine Lust, hier zu erfrieren«, erwiderte ein Mann. »Wie weit ist es bis Chicago?«
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»Sieben oder acht Meilen. Nach etwa drei Meilen kommt ein Vorortund Rangierbahnhof, aber –« »Ich versuche es.« Pauli holte seine Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Er ging mit. An einigen Stellen seines Weges reichte ihm der Schnee bis über die Knie. Hinter ihm erhellte eine fahle Morgendämmerung den östlichen Horizont, aber der Tag bescherte Erde und Himmel keine Wärme. Seine bloßen Hände wurden steif vor Kälte, während er sich vorwärts kämpfte. Ein gutes Stück voraus sah er ein halbes Dutzend tapferer Fahrgäste, deren Spur er folgte. Aber sie waren nicht krank, und trotz der Schneeverwehungen bauten sie ihren Vorsprung ständig aus. Sehr bald schrumpften sie zu winzigen Punkten in der Schneewüste. Der Frost des sonnenlosen Tages ließ ihn erstarren. Er stolperte weiter, stürzte mehrmals, fiel mit dem Gesicht voran in Schneewehen und wühlte sich allein mit der Kraft seiner zitternden Arme und mit Hilfe seines Willens, das Haus seines Onkels zu erreichen, wieder heraus. Er hatte es schließlich so weit geschafft, daß er einfach nicht daran dachte, sich durch Witterung, Krankheit oder irgend etwas anderes aufhalten zu lassen. Im Laufe des späten Vormittags erreichte er den kleinen Vorortbahnhof, der einsam und verlassen neben einem Rangierbahnhof stand. Von einem Zug mit Schneepflug war nichts zu sehen. Es rührte sich überhaupt nichts. Zwei Dutzend Güterwagen standen auf Nebengleisen, und in weiter Ferne kräuselte sich Rauch aus dem schlanken Schornstein eines hohen Stellwerkgebäudes. So weit schaffte er es nicht mehr. Er würde im Bahnhof Schutz suchen. Als er auf dem schneebedeckten Bahnsteig endlich vor dem Eingang stand, atmete er erleichtert auf. Er legte die Hand auf die Türklinke – abgeschlossen. Verzweifelt suchte er das ausgestorbene Bahnhofsgelände ab. Er konnte nicht hier draußen bleiben. Er würde erfrieren. Aber er war zu schwach, um noch weit laufen zu können. Wenn er wenigstens eine Stunde schlafen könnte, wäre er kräftig genug, um seinen Weg fortzusetzen. Mit tränenden Augen schleppte er sich über ein Gleis, dann über ein zweites und stolperte auf mehrere aneinandergekoppelte Güterwagen zu. Auf jedem der Waggons stand in großen und bunten Lettern BIG »V« PACKING. Wie bei den vielen anderen Schildern, die Pauli gesehen hatte, kannte er auch diesmal die Bedeutung nicht. Der erste Wagen war mit einem Vorhängeschloß gesichert. Der zweite ebenfalls. Seine von der Kälte völlig gefühllosen Hände bluteten aus
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Kratzern und Schnittwunden, während er sich mit den eisernen Schlössern abmühte. Nachdem er sein Glück bei sechs Waggons versucht hatte, war er schon geneigt aufzugeben, aber er versuchte es noch einmal. Dieses Schloß war defekt. Er zog es aus dem Schließband und schob die Seitentür auf. Stroh bedeckte den Boden des Güterwagens. Die Innenwände waren mit einer kristallinen weißen Schicht bedeckt: vereiste Kühlschlangen. Pauli hatte ähnliche Leitungen im Kaiserhof in Berlin gesehen. Er warf seine Reisetasche hinein, brachte sein rechtes Bein hoch und hangelte sich mühsam in den Waggon. Dabei rang er heftig nach Luft. Er schob die Tür zu und ließ sich in der Dunkelheit auf den Boden sinken. Er häufte sich Stroh auf die Beine und den Oberkörper. Dann klemmte er seine eisigen Hände zwischen die Oberschenkel, um sie so gut wie möglich zu wärmen. Auf der Seite liegend, fiel er in einen fiebrigen Schlaf. Er hörte den Wind. Ein leiser Laut, als stöhne jemand. Kalter Staub rieselte auf ihn herab. Er spürte ihn auf seinem Gesicht und den Lippen, tastete mit der Zunge danach und seufzte. Er drehte sich auf den Rücken und schlug benommen die Augen auf. Durch ein Loch im Dach des Güterwagens fiel Schnee. Er selbst war mit Schnee bedeckt. Er hörte draußen Männerstimmen. »Mikey, an dem hier ist das Schloß verschwunden.« »Sieh lieber nach.« Die Tür wurde aufgedrückt. Eisiger Wind drang herein. Lichtstrahlen einer Laterne wanderten mehrmals über ihn hinweg. »Alles klar, Mikey.« »Okay, dann laß uns – nein, warte mal, da vorne ist jemand. Heh, du da. Aufstehen und rauskommen! Sofort!« Der zweite Mann war unfreundlicher als der erste. Zitternd wankte Pauli zur Tür. Die beiden Eisenbahnpolizisten standen draußen vor dem Waggon. Mehr konnte er nicht erkennen, weil es so dunkel war. Die Männer trugen Laternen, die den Schnee beleuchteten und zum Funkeln brachten. »Nur ein Junge, Mikey«, stellte der erste Mann fest. »Wohl doch etwas mehr. Wie heißt du?« »Kroner. Pauli Kroner.« »Hör ihn dir an«, sagte Mikey, der Unfreundliche. »Ein Greenhorn. Kommst direkt vom Schiff, nicht wahr, Junge?« »Ja, Schiff.« Pauli nickte. »Bitte, können Sie mir sagen – wo bin ich?« »Auf dem südlichen Rangierbahnhof der Pittsburgh & Fort Wayne-
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Linie.« »Chicago?« »Ich stelle hier die Fragen«, sagte Mikey unwirsch. »Weißt du nicht, daß man in diesen Waggons nicht übernachten darf? Du kannst deswegen verhaftet werden.« »Der Schnee –«, begann Pauli. »Das tut nichts zur Sache. Es ist trotzdem verboten.« »Ich glaube nicht, daß er dich versteht, Mikey.« »Ich suche meinen Onkel«, sagte Pauli, mühsam nach jedem Wort suchend. »In Chicago. Er erwartet mich –« Wenn ich nicht vorher sterbe. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander. »Tatsächlich?« Der Unfreundliche blieb unbeeindruckt. »J-ja.« Pauli umklammerte die Türkante, um nicht wieder in den Schnee zu sinken. »Mikey, er ist krank, sieh doch mal den Schweiß auf seiner Stirn.« »Wer ist dein Onkel?« wollte der andere wissen. »Joseph – äh, Joseph Crown.« »Doch nicht der Bierbrauer?« hakte der erste, der Freundlichere, nach. »Ja, Sir, kennen Sie ihn?« »Na klar, welcher Biertrinker kennt ihn nicht? Kannst du beweisen, daß er dein Onkel ist?« »Ach, zum Teufel damit«, ergriff Mikey wieder das Wort. »Soll die Polizei sich darum kümmern, wenn er in Bridewell sitzt.« »Was ist das, bitte?« Pauli hatte eine Ahnung, daß es sich um ein Gefängnis handelte. »Das wirst du früh genug erfahren.« Pauli schwankte. Vor seinen Augen verschwamm alles. Aber er durfte nicht nachgeben, nicht so dicht vor dem Zuhause, von dem er schon so lange träumte. Wenn nötig, würde er mit diesen Männern kämpfen. Alles andere, nur nicht aufgeben – »Mikey, sei nicht so grob zu ihm«, sagte der erste nun. »Er wurde sicherlich von dem Unwetter überrascht. Lassen wir ihn laufen. Wir haben schließlich Weihnachten. Na ja, jedenfalls bald. Das wäre doch ein Grund, oder nicht?« Christmas? Weihnachten? War es schon so spät? Mikey kratzte sich am Kinn, während er sich die Bemerkung seines Partners durch den Kopf gehen ließ. »Hast du irgendeine Idee, wo dein Onkel wohnt?« Paulis Lippen waren völlig taub, als er antwortete. »In der Michigan Avenue.«
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»Das ist richtig, ich kenne das Haus, jeder kennt es«, sagte der erste Mann. »Michigan Avenue, Ostseite, an der Ecke Zwanzigste Straße. Ein großes Gebäude. Nimmt das halbe Grundstück ein. Man erkennt es sofort. An der Außenseite sind überall Kronen zu sehen.« Der Barsche reagierte nun etwas freundlicher. »Dein Onkel braut ein feines Lagerbier, das muß ich zugeben.« »Das dürfte doch Grund genug sein, ihn laufen zu lassen, Mikey.« »Können Sie –«, Pauli hustete krampfhaft, »mir den Weg sagen? Ich meine – beschreiben Sie mir den –« »Ich versteh’ schon«, unterbrach ihn der Unfreundliche. »Ich denke, das können wir.« Er stellte die Laterne in den Waggon und legte seinen langen polierten Schlagstock daneben. Er streckte eine behandschuhte Hand hoch. »Steig runter. Die Züge fahren noch nicht. Du wirst zu Fuß gehen müssen. Es ist ein ziemlich langer Marsch.« »Das schaffe ich schon«, sagte Pauli gegen alle Vernunft, getrieben von seiner Entschlossenheit und seinem Willen. Er ergriff die Hand und sprang, aber seine geschwächten Beine gaben nach, und er stürzte. Er stieß einen erstickten Schrei aus. Die Männer halfen ihm hoch. Es war Mittag, als Pauli den Güterwagen der Pittsburgh & Fort WayneLinie verließ. Ganz Chicago war noch von dem Schneesturm lahmgelegt. Am frühen Abend waren die Straßen noch immer wie ausgestorben bis auf einen gelegentlich vorbeifahrenden Polizeiwagen oder ein Pferdegespann, das sich durch die Schneeverwehungen kämpfte. Es hatte wieder ein wenig zu schneien begonnen. Pauli folgte der Wegbeschreibung, die ihm die Eisenbahnpolizisten gegeben hatten, machte auf seinen schmutzigen, schmerzenden Füßen Schritt für Schritt, wie er es schon seit Wochen tat. Sie hatten ihm den Straßennamen M-i-c-h-i-g-a-n vorbuchstabiert, bis sie überzeugt waren, daß er ihn auf einem Schild erkennen würde. Das hatte er getan, und nun stolperte er über einen Boulevard, der mit hoch aufragenden Häusern gesäumt war. Im grauen Dämmerlicht starrte er auf die Hausnummern, bewegte sich auf der Michigan Avenue in nördlicher Richtung, entzifferte die Nummern der Querstraßen, bis er die Zwanzigste fand. Dort an der Ecke stand das Haus, ein richtiges Schloß. Elektrisches Licht drang aus allen Fenstern. Das Gebäude war drei Stockwerke hoch und aus grauen Kalksteinblöcken errichtet. Es hatte ein Mansardendach und eine überdachte Kutscheneinfahrt an der Seite. Ein schmiedeeiserner Zaun umgab das gesamte Anwesen. Es nahm die Hälfte des Blocks ein, in dem es lag. Mit seinem unbedeckten Kopf, der inzwischen so weiß wie der eines
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Schneemannes war, stand Pauli da und betrachtete es staunend. Er wußte, daß es das richtige Haus war. Am schmiedeeisernen Tor an der Michigan Avenue befand sich eine Krone im Zierwerk des Torbogens. Eine Krone, die genauso aussah wie die auf dem Briefbogen seines Onkels. Pauli entdeckte weitere Kronen in den Ornamenten des Zauns. An mehreren Stellen der Hausfassade waren Kronen als Reliefs zu sehen. Das imposante Haus schüchterte ihn ein. Sollte er nicht lieber auf der Rückseite nach einem Dienstboteneingang suchen? Nein, er war schließlich in Amerika. Dieses Haus gehörte seiner Familie. Er drückte das Tor auf und bemerkte dabei an einem seiner Finger einen Farbfleck. Die Haut war aufgeplatzt. Er blutete. Er schleifte seine Reisetasche ein paar Stufen hinauf in den Schutz des überdachten Eingangs. Er griff nach einem mit Verzierungen versehenen Stahlknauf, der aus dem Schnitzwerk der Tür herausragte, und drehte ihn. Irgendwo im Haus ertönte eine Klingel. Paulis Mut sank, als er den ernsten Gesichtsausdruck des Mannes sah, der die Tür öffnete. Sein Onkel hatte ein blasses, kränkliches Pferdegesicht und mißtrauische Augen. »Wenn du zum Hinterausgang kommst, gibt der Koch dir was zu essen.« »Ich bin kein Bettler – äh, ich bin Ihr Neffe aus Deutschland.« »Wie bitte?« Der blasse Mann runzelte die Stirn. Pauli erkannte seinen Irrtum. Der Mann trug ein gestreiftes Hemd und Hosenträger sowie eine gestärkte weiße Schürze mit hohem Latz, auf dem eine eingestickte Krone zu erkennen war. »Warte mal einen Moment.« Die Tür fiel ins Schloß, aber zuvor wurde Pauli von einem warmen Hauch und einer Wolke süßen Tannendufts eingehüllt, und von einem hohen Weihnachtsbaum drang ein Funkeln und von irgendwo darüber ein strahlender Lichterglanz zu ihm. Der Wind pfiff. Paulis Beine waren wie geknickte Äste, zu schwach, um ihn noch zu tragen. Die Tür schwang wieder auf. Vor ihm stand ein Mann, der noch ernster wirkte als der Hausdiener, den Pauli fälschlicherweise für seinen Onkel gehalten hatte. Dieser Mann war ziemlich klein und drahtig, hatte glattes silbergraues Haar, einen Schnauzer und einen Vollbart. Seine Haltung war militärisch straff, die großen Augen hinter den Gläsern einer Stahlbrille blickten wachsam. Er trug Lederpantoffeln, eine graue Hose, dazu eine dunkelblaue Hausjacke aus einem glänzenden Stoff, in dem je nach Lichteinfall ein feines eingewebtes Muster zu erkennen war. Er roch angenehm nach Rasierpuder. Er flößte Pauli sofort Respekt und einen Anflug von Furcht
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ein. Aber der Willkommensgruß des Mannes war durchaus herzlich. »Komm nur herein. Komm herein, und mach schnell die Tür zu! Es ist bitterkalt draußen.« Pauli gehorchte. »Onkel Josef? Ich bin dein Neffe Pauli!« rief er aus und wechselte vor Aufregung unbewußt zurück ins Deutsche. »In diesem Haus sprechen wir gewöhnlich englisch«, erwiderte der Mann auf deutsch und wiederholte den gleichen Satz noch einmal in der Sprache seiner neuen Heimat. »Ja, Englisch.« Pauli nickte. »Ein wenig verstehe ich.« In einem anderen Zimmer erklang eine Mädchenstimme. »Wer ist da, Papa?« Dann eine männliche Stimme. Sie klang älter. »Ist es jemand für uns? Etwa Julie mit ihren Schlittschuhen?« »Geduldet euch einen Moment, ja? Ich komme gleich.« Der Mann sprach ein hervorragendes Englisch, wenn auch mit starkem Akzent. Er beugte sich vor. Dabei spiegelten sich die funkelnden Glaskugeln und das Lametta des Weihnachtsbaumes in seinen Brillengläsern. Dutzende von weißen Kerzen, die noch nicht angezündet waren, zierten die Zweige. Der Baum stand im hinteren Teil einer geräumigen Halle am Fuß einer breiten Treppe. Der Mann legte die rechte Hand auf Paulis Schulter. Ein schlichter goldener Ring glänzte an einem Finger. Die rechte Hand war nach deutscher Tradition die Hand, an der der Trauring getragen wurde. Pauli war beruhigt. »So. Du bist also mein Neffe – endlich.« »Ja, Sir. Ihr Neffe. Aus Berlin. Ich nenne mich –« Er wußte nicht, woher es kam, aber er war plötzlich da, in seinem Kopf: der perfekte Name, den er brauchte und sich wünschte. »Paul Crown.« Er schluckte. »Ist das in Ordnung?« Joseph Crown betrachtete den kranken, verdreckten Jungen. Ein Lächeln bildete sich zwischen seinem Schnurrbart und seinem glänzenden Vollbart. »Paul Crown. Ja, in Ordnung, warum nicht? Du hast etwas Altes mit etwas Neuem verbunden. Genau das tun wir auch in der Brauerei, wir mischen verschiedene Zutaten, um etwas Gutes und Neues zu schaffen.« Seine Brillengläser funkelten, als er den Kopf bewegte. »Ich bin dein Onkel Joe. Komm herein und wärm dich auf. Du siehst nicht sehr gut aus.« »Mein Brief. Ist er angekommen?« »Ein Brief? Nein. Hier entlang. Die Familie hält sich im –« Pauli stellte seine Reisetasche ab und ging auf eine offene Flügeltür zu,
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aus der helles Licht drang. Joe Crown trat beiseite, um ihn vorbeizulassen. Er hüstelte und hielt sich die Hand vor Mund und Nase, als er Paulis Geruch wahrnahm. Pauli bemerkte es nicht. Er legte den Kopf in den Nacken, konnte nur noch staunen. Die Halle, die er durchquerte, entfaltete ihre marmorne Pracht, zwei Stockwerke hoch, wie eine Kathedrale. Von der hohen Decke hing ein riesiger Kronleuchter herab, der aus Hunderten von Schnüren mit Glasperlen oder -prismen bestand, die eine große, glitzernde Kugel bildeten. Ein Dutzend elektrischer Glühbirnen, die in zwei konzentrischen Ringen über den Glasprismen angeordnet waren, ließen den Leuchter funkeln und strahlen. Onkel Joseph schob ihn sanft vorwärts. »Komm, laß uns reingehen. Hab keine Angst. Die Familie erwartet dich schon ungeduldig. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.« Mit roten Ohren und klopfendem Herzen schleppte sich Pauli auf die hohe Tür zu, aus der das Licht und die Wärme heranwogten. Die Tür zu einem neuen Leben … Von einem plötzlichen Schrecken erfüllt, hielt er noch auf der Schwelle inne. Der grelle Schein elektrischer Glühbirnen blendete seine Augen. An der Decke hing ein kleines Gegenstück des Kronleuchters in der Halle. Menschen waren in dem Raum versammelt, verschwommene Gestalten. Et brauchte einige Sekunden, um sie deutlich zu erkennen. Er sah eine Frau. Neben ihrer Rundlichkeit und der Fülle ihres rötlichbraunen Haars, das auf ihrem Kopf aufgetürmt war, fiel ihm besonders ein goldenes Funkeln an ihrer rechten Hand auf. Es war ein Trauring, der dem seines Onkels glich. Er sah drei junge Leute. Der kleinste Junge war stämmig gebaut; der ältere wirkte etwas schmaler. Er hatte eine rostbraune, gepflegte Barttracht. Alles, was er von dem Mädchen auf den ersten Blick erkennen konnte, war ihre schmächtige Erscheinung und ihr gekräuseltes Haar. Die drei starrten Pauli an. Ebenso der Hausdiener mit der Schürze. Holzscheite brannten im Kamin des Wohnzimmers. Es war kein Empfangssalon, sondern der Raum, wo sich die Familie im privaten Rahmen zu Gesprächen und Freizeitvergnügungen zu treffen pflegte. Hinter seiner Tante entdeckte Pauli den traditionellen langen Tisch, der mit roten Kerzen und grünen Zweigen dekoriert war und auf dem sich Pakete in allen Größen auftürmten, eingewickelt in goldenes, silbernes und buntes Geschenkpapier. Auf einer kleineren Anrichte stand ein Teller mit Pfefferkuchenplätzchen in der Form von Sternen und Halbmonden, Herzen und Ringen. Etwas abseits im Zimmer sah er das Adventshäuschen aus
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buntem, lackiertem Holz. Drei der vier farbigen Glasfenster waren geöffnet. In jeder Öffnung brannte eine Kerze, die jeweils das Verstreichen einer Adventswoche anzeigte. Alles war so vertraut. Am liebsten hätte er vor Freude geweint. »Seht mal her«, sagte sein Onkel. »Pauli aus Deutschland ist endlich eingetroffen. Er hat einen neuen Namen, zu dem er euch gleich etwas sagen wird. Weißt du, Pauli, deine Tante Ilsa und ich haben dich schon viel früher erwartet. Wir haben uns große Sorgen gemacht. War die Reise besonders schwierig?« »O nein«, erwiderte er. Wahrscheinlich war das ein wenig dumm, aber er wollte diesen schönen Augenblick nicht verderben. Er drückte seine Beine durch. Vor seinen Augen verschwamm schon wieder alles. »Das freut mich zu hören. Wann hat dein Schiff in New York angelegt?« »Im Juni. Am ersten.« »Und seitdem bist du unterwegs?« Pauli nickte. »Wie bist du denn gereist?« Er suchte wieder nach den richtigen Worten. »Ein Stück – äh – mit dem Zug – Eisenbahn – aber mehr noch zu Fuß. Ich bin gelaufen.« »Erstaunlich«, sagte sein Onkel. »Eine wirklich große Leistung. Kein Wunder, daß wir nichts von dir gehört haben. Wir dachten schon, es sei etwas Schlimmes passiert, ein schrecklicher Unfall zum Beispiel. Du hast sicher eine Menge durchgemacht, mein Junge. Meine Reise von Castle Garden nach Cincinnati im Jahr 1857 war dagegen vermutlich ein Kinderspiel –« »Joseph«, unterbrach ihn die rundliche Frau, »können wir nicht später darüber reden? Der Junge sieht aus, als sei er halbverhungert.« Sie kam einen Schritt näher, übernahm sanft und geschickt die Führung, ohne sich jedoch aufzudrängen. Pauli mochte sie auf Anhieb. Ilsa Crown hakte ihn unter. »Wir haben Weihnachtsstollen, ganz frisch und sogar noch warm. Sicherlich möchtest du baden und dich ausruhen.« Sie legte eine Hand auf Paulis Stirn. »Joseph, er hat Fieber!« Mit einer weiteren Geste lenkte sie Paulis Aufmerksamkeit auf ein breites Sofa mit schweren Tatzenfüßen und einem Polsterbezug aus cremefarbenem Stoff, so fein und unberührt wie frischgefallener Schnee. »Bitte, setz dich, und ruh dich aus.« Pauli konnte es nicht glauben. Das Sofa. Der Ehrenplatz der Familie. Kein Gast setzte sich jemals auf ein deutsches Sofa, ohne eigens dazu aufgefordert worden zu sein. Er machte einen schwerfälligen Schritt vorwärts. Von einer Anrichte holte seine Tante die Platte mit dem köstlich
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aussehenden Stollen. Er war so groß und schwer wie ein Brotlaib. Rosinen ragten aus dem Backwerk, und die Oberseite war mit weißem Zucker bestäubt. Er setzte an, um ihnen zu sagen, daß er nichts lieber hätte als ein Stück dieses Weihnachtsgebäcks, wollte ihnen allen seine Dankbarkeit aussprechen. Die Worte blieben in seiner Kehle stecken. Das Klingeln in seinen Ohren steigerte sich zu einem schrillen Geläut. Alles schwankte. Die Kerzen, das Feuer im Kamin, die Glühbirnen – alles erlosch schlagartig. 12 JOE CROWN Pauli sank ohnmächtig auf das große Sofa. Er rutschte herunter und hinterließ Schmutzstreifen und Blutflecken, wo seine Hand den Bezugsstoff berührte. Fritzi stieß erschreckte Schreie aus, Joe junior und Carl riefen um Hilfe. Joes Frau schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Joe Crown betrachtete das schmutzige Häuflein Elend auf dem Teppich. Etwas, das wie Brotkrumen oder Vogelfutter aussah, rieselte aus den Jackentaschen des Jungen. Geschmolzener Schnee tropfte von seinen Schuhen und besudelte Ilsas edlen Teppich mit schmutziggrauen Flecken. Durch ein Loch in einer Schuhsohle war der nackte Fuß zu sehen. Die Haut war mit einer bräunlichen Schicht bedeckt, die aussah wie eingetrocknetes Blut. Fritzi schüttelte den Kopf. »Papa, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schmutzig ist.« »Soll er tatsächlich hier wohnen?« fragte Carl. »Wenn ja, dann sollten wir ihn lieber vorher in eine Badewanne stecken«, empfahl Joe junior lachend. »Wir könnten ihn in Mamas Eau de toilette baden«, sagte Fritzi. »Dann riecht er wenigstens nicht so streng.« »Kinder.« Ilsa Crown erhob warnend den Finger. »Eure Mutter hat ganz recht, wir sollten nicht spotten«, erklärte Joe Crown. »Der Junge ist erschöpft und krank. Ein Bad, ein Bett und viel Ruhe werden ihn sicherlich wieder auf die Beine bringen. Wenn nötig auch die Fürsorge eines Arztes.« Die Reaktion der Kinder deutete darauf hin, daß der Neuankömmling nach solchen Maßnahmen sicherlich nicht willkommener wäre. Joe hatte den Eindruck, daß seine Befürchtungen sich bewahrheiteten. Der ohnmächtige Junge gab ein seltsames Geräusch von sich. Es war teils ein Pfeifen, teils ein tiefer, langer Seufzer der Erleichterung. Der Hausdiener konnte seine Verärgerung kaum verbergen. »Frau Crown, das
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Sofa ist hin. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, ich weiß nicht, ob wir das noch mal sauber bekommen.« »Es ist doch nur ein Möbelstück, Manfred«, erwiderte Ilsa. »Richtig, und der Junge gehört zur Familie«, schloß ihr Mann sich an. Er war zutiefst bestürzt über den Zustand des neuen Familienmitglieds, die Umstände seiner Ankunft und die allgemeine Reaktion darauf. Während Joe Crown seinen Neffen nachdenklich betrachtete, vergaß er seine eigene Anordnung, die Sprache betreffend, und wechselte unbewußt vom Englischen ins Deutsche. »Großer Gott, was für ein Einstand!«
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Das nächste Mal berichte ich Dir von Chicago. Diese junge Stadt ist das größte Wunder Amerikas, wenn nicht gar der ganzen Welt. 1854 Carl Schurz, kurz nach seiner Einwanderung in einem Brief an seine Frau
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13 PAUL Raum und Licht. Licht und Raum. Noch nie hatte Pauli so viel von beidem gesehen. Sein Zimmer war unglaublich. Es hätte Teil eines Palastes sein können. Es lag im zweiten Stock des dreistöckigen, monumentalen Hauses. Man sah von dort hinaus auf den Hof und die Gärten, die sich nach Norden bis zur Neunzehnten Straße erstreckten. Es war fünfmal, nein zehnmal größer als der Keller in Berlin. Tante Ilsa sagte, Carl, das jüngste der Kinder, sei darin aufgewachsen, bis er alt genug war, um eins der normalen Schlafzimmer zu beziehen. Tante Ilsa erzählte ihm all das, während sie auf der Kante seines breiten – riesigen! – Pfostenbettes saß. Ihr Englisch hatte einen viel stärkeren Akzent als das seines Onkels. Sie war eine stämmige Frau mit rundem Gesicht und blauen Augen. Sie handelte zielstrebig und mit stiller Autorität, so daß er sehr schnell erkannte, daß sie nicht annähernd so sanft und nachgiebig war, wie sie sich gab. Sie machte ihm durch eine Bemerkung, eine Berührung, einen Blick klar, daß sie ihn mochte. Er empfand plötzlich eine überschwengliche Zuneigung für sie. Und er hatte das Gefühl, sie bereits eine Ewigkeit zu kennen. Raum und Licht waren Symbole des Wunders, das ihm widerfahren war. Raum, Licht und eine richtige Familie. Als er das erste Mal in dem Pfostenbett erwachte, war er mit einem Federbett von unglaublicher Weichheit bedeckt. Das saubere, gestärkte Laken unter ihm duftete kräftig nach Waschmittel. Während er unentwegt die verschwenderische Möblierung des Zimmers bewunderte und die gemusterte Tapete an den Wänden, die Grünpflanzen, die beiden hohen Fenster mit den teuren Spitzenvorhängen betrachtete, führte Onkel Joe einen rundlichen Mann mit Kinnbart herein. In der Hand trug er eine schwarze Tasche. Onkel Joe stellte ihn als den Hausarzt der Familie, Dr. Plattweiler, vor. »Wie fühlst du dich, mein Junge? Du heißt doch Paul, nicht wahr?« »Ja, Sir.« Paul. Es klang so seltsam. Aber das war es nicht. Es gehörte jetzt wie selbstverständlich zu ihm. Er würde nun von jedem Paul genannt werden. Von diesem Augenblick an würde er auch an sich selbst nur als Paul denken, niemals mehr als Pauli. Dr. Plattweiler forderte Paul auf, das knielange Flanellnachthemd
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auszuziehen, das jemand ihm übergestreift hatte, nachdem er zusammengebrochen war. (»Wir haben alle deine Kleider verbrannt, es war das einzige, was man damit noch tun konnte«, erzählte Tante Ilsa ihm später.) Dr. Plattweiler drückte und tastete und blickte Paul fünf Minuten lang in Nase und Rachen, dann wandte er sich an Onkel Joe und Tante Ilsa. »Ich kann nichts Ernstes bei ihm feststellen. Er leidet an Erschöpfung, Unterernährung und an einer schweren Grippe. Ich verordne ihm zuerst einmal Bettruhe, zweitens reichlich kräftige Nahrung. Ich lasse vom Apotheker einige Medikamente gegen die verschiedenen Symptome vorbeischicken.« Dr. Plattweiler reckte einen Finger hoch. »Die Anweisungen sind buchstabengetreu zu befolgen!« »Was sonst?« erwiderte Onkel Joe sehr ernst. Wenige Minuten nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte, machte Paul eine weitere wundervolle Entdeckung. Im Winkel links neben ihm stand ein Eckregal, in das sein Globus, die Papierflagge und die Stereoskopkarte paßten. Aber wo waren seine Schätze? Erschrocken stützte er sich auf die Ellbogen. Er sah sich aufgeregt im Zimmer um. Dann sank er mit einem erleichterten Seufzer zurück. Sein alter Seesack lag auf dem Teppich, halb hinter einem Waschständer mit Marmorplatte versteckt. Paul entspannte sich und betrachtete versonnen die Reflexe der Wintersonne, die durch die beiden hohen Fenster schien. Er konnte sein Glück nicht fassen. Am dritten Tag, als er aus seinem Bett aufstehen durfte, um das separate Badezimmer am Ende des Korridors aufzusuchen, anstatt weiterhin den emaillierten Nachttopf zu benutzen, war er überwältigt von der Größe und Pracht des Hauses. Vierundzwanzig Zimmer verteilten sich auf drei Stockwerke – Tante Ilsa hatte ihm das so genau erzählt –, und im Keller gab es noch einen großen Vorratsraum und einen Arbeitsbereich. Die Räumlichkeiten der Familie befanden sich im zweiten Stockwerk. Eine schmale Hintertreppe direkt hinter dem großen Badezimmer führte zu den Zimmern hinauf, in denen einige Hausangestellte wohnten. Alles war modern eingerichtet, von der Porzellantoilette mit der Spülkette bis hin zur strahlend hellen elektrischen Beleuchtung. Decken- und Wandlampen in den Zimmern und Korridoren sowie große Leuchter überall erhellten nach Betätigung eines kleinen Schalters jeden Winkel. Auf Grund der Jahreszeit war das Haus erfüllt von herrlichen und verführerischen Düften. Die frisch geschnittenen Tannenzweige, die überall hingen, holten den kräftigen Geruch dichter Tannenwälder ins Haus. Sogar
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durch seine geschlossene Zimmertür konnte Paul das rauchige Talgaroma der Weihnachtskerzen und den würzigen Duft frischgebackenen Brotes und anderen Gebäcks wahrnehmen. Er war beinahe berauscht vor Glückseligkeit. Er lag sechs Tage lang im Bett, ständig umsorgt von seiner Tante und einer kleinen, stämmigen Frau mit einem blassen Gesicht voller Sommersprossen und einem fröhlichen Wesen. Sie hatte sich als Helga Blenkers vorgestellt. Sie war das Hausmädchen. Ihr Mann, Manfred, war der Chef des Personals und für die Hausdiener verantwortlich. Paul vermutete, daß er der unfreundliche Mann war, der bei seinem Eintreffen die Tür geöffnet hatte. Wegen dieses Vorfalls hatte Paul längst entschieden, daß er Manfred nicht mochte. Aber Mrs. Blenkers war nett. Sie brachte ihm Tabletts voller bester deutscher Speisen. Dicke Scheiben selbstgebackenen Pumpernickels und das leichtere Schwarzbrot. Weißbrotstangen, innen warm und weich und außen mit einer goldbraunen Kruste, die mit Kümmel bestreut war. Es gab Schweinebraten und Kalbsbraten – immer mit Knödeln –, und vor jedem Mittag- und Abendessen gab es heiße Hühnersuppe. Zum Nachtisch bekam er entweder Kompott oder ein Stück von Tante Ilsas köstlichen Torten. Vom zweiten Tag seiner Bettruhe an bekam er abwechselnd Besuch von den verschiedenen Familienmitgliedern. Er hatte sie, nachdem er vor dem Sturm ins Haus geflüchtet war, nicht gerade sehr genau wahrgenommen. Durch die Besuche lernte er sie allmählich kennen. Onkel Joes erster Besuch fand gegen neun Uhr nach dem Abendessen statt, in deutschen Haushalten selten vor acht Uhr eingenommen wurde, Pauls Onkel erschien am Bett in Rock und Krawatte. Er roch nach Talkumpuder und schien seine Bewegungen sehr genau zu steuern. Paul bemerkte es, als sein Onkel einen Sessel in einen Lichtfleck rechts von seinem Bett schob. Er kontrollierte die Position des Stuhls einige Sekunden lang und korrigierte sie ein wenig, ehe er sich setzte. »Wie fühlst du dich, Paul?« »Mir geht es gut, Onkel«, antwortete er und hatte immer noch Mühe mit jedem englischen Wort. »Und wie geht es dir?« »Bestens. Wir haben heute einige Zahlen zusammengerechnet, und wir werden wohl unser bestes Jahr verbuchen können. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird die Brauerei Crown am Einunddreißigsten dieses Monats sechshunderttausend Faß Bier hergestellt und vertrieben haben. Das ist für uns ein Rekord. Ich bin sehr stolz darauf.« »Ja, Sir«, sagte Paul und wußte nicht, was er sonst noch erwidern sollte. Trotz seiner eher kleinen Gestalt war Pauls Onkel ein äußerst
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beeindruckender Mann. Paul wünschte sich, daß sein Onkel ihn achten und gern haben würde. »Bekommst du genug zu essen?« »O ja.« »Wir wollen, daß du hier glücklich bist. Du sollst dich in Chicago wohlfühlen. Ich zweifle nicht daran, daß das der Fall sein wird. Du findest in dieser Stadt sehr viele Landsleute. Bei der letzten Volkszählung gab es in Chicago einhundertsechzigtausend Menschen, die in Deutschland geboren wurden. Das ist ein Anteil von fünfzehn Prozent an der Gesamtbevölkerung von über einer Million und neunundneunzigtausend Menschen.« Paul murmelte etwas und bemühte sich, beeindruckt dreinzublicken. »Erzähl mir von meiner Schwester Lotte. Wie ging es ihr, als du abgereist bist?« Ein Warnsignal ertönte in seinem Kopf. Er durfte nichts von den Herren erzählen, es würde seinen Onkel nur verletzen. »Sie hat viel gearbeitet –, ja, viel gearbeitet, aber es ging ihr nicht gut.« »Die Tuberkulose«, sagte Onkel Joe und sah einen Augenblick lang sehr traurig aus. »Ich muß ihr unbedingt schreiben. Es war dein Glück, daß du aus Deutschland weggegangen bist. Kurz nach deiner Abreise ist in Hamburg eine Choleraepidemie ausgebrochen. Tausende sind daran gestorben.« Paul erschauerte. »Wie schrecklich! Das wußte ich nicht.« »Erzähl mir ein wenig von deiner Reise, ja? Welche Schwierigkeiten hattest du denn? Es war sicher nicht so einfach, du hast so lange gebraucht –« Paul nickte. Er begann mit der Beschreibung der Goldenen Tür, bagatellisierte aber seine heldenhafte Rettung Magdas. Er schilderte einige der anderen Vorfälle: seine Inhaftierung wegen Diebstahls eines Apfels; die Güte und Freundlichkeit von Llewellyn Rhodes; den Schneesturm, der den Zug gestoppt hatte. »Und du bist den ganzen Weg von dort zu Fuß gegangen? So krank wie du warst?« »Ja, wirklich, Sir. Ich war eben sehr – eifrig –« Er sucht krampfhaft nach dem richtigen englischen Wort, verstummte hilflos. »Entschlossen«, sagte sein Onkel sanft und überhaupt nicht überheblich oder ungeduldig. »Ja, entschlossen. Danke. Ich wußte, daß ich schon viel zu lange unterwegs war.« Sein Onkel stand auf. »Das ist sehr beeindruckend, Paul. Ganz erstaunlich. Das zeugt von Charakter.«
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Onkel Joe beugte sich vor und tätschelte seinen Arm. »Ruh dich jetzt aus. Ich hoffe wirklich, daß du bald wieder auf den Beinen bist. Du sollst schließlich deine Cousins kennenlernen. Ich bin sicher, daß du sie mögen wirst.« »Oh, ganz gewiß.« »Ich möchte, daß sie dich kennenlernen und dich gern haben.« »Ich auch«, sagte Paul, inständig hoffend, der Wunsch möge sich erfüllen. Fritzi machte Paul einen Besuch und kam danach mindestens zweimal täglich zu ihm. Sie hatte eine ziemlich lange Nase, und ihr Busen war noch nicht entwickelt. Bis zu ihrem zwölften Geburtstag würde nicht einmal mehr ein Monat verstreichen. Sie hatte dunkelbraune Augen wie ihr Vater und eine störrische blonde Mähne. Fritzi war lebhaft und freundlich. Genauso wie Tante Ilsa saß sie auf seiner Bettkante, wippte auf und nieder, während sie ihn mit Fragen eindeckte. Fragen über Deutschland, über die Atlantiküberquerung und Chicago – das er noch nicht einmal gesehen hatte, da es sich hinter einem doppelten Schleier aus Schneetreiben und Fieberträumen verbarg. Er hatte Schwierigkeiten, die Fragen zu verstehen und auf englisch zu beantworten. Er wußte, daß er wie ein Trottel wirkte, aber es schien ihr nichts auszumachen. »Ich mache gerne andere Leute nach, ich möchte nämlich Schauspielerin werden«, erzählte sie ihm bei ihrem vierten Besuch. »Kannst du erraten, wer das ist?« Sie sprang vom Bett herab, stemmte die Fäuste in die Hüften und zog ein langes Gesicht. Indem sie ihrer Stimme einen tiefen Klang verlieh, sagte sie: »Paß gut auf, mein Junge, wage niemals, in diesem Haus zu lachen.« Paul lachte. »Das ist der Mann, der die Tür aufgemacht hat, als ich hierher kam.« »Ja«, rief Fritzi und klatschte begeistert in die Hände. »Es ist Manfred, Helgas Mann. Woher wußtest du das? Hast du ihn hier oben gesehen? Hat er dich besucht?« »Nein, ich habe sein Gesicht nur am ersten Abend gesehen. Einmal war genug.« »Donnerwetter, hast du gute Augen. Mein Bruder Joe nennt ihn den ›Traurigen Dänen‹. Ich weiß nicht, weshalb Papa ihn behält, er ist so knurrig. Und streng. Nimm dich lieber vor ihm in acht; wenn du ihn wütend machst, dann zahlt er es dir immer irgendwie heim.« »Ich mache ihn schon nicht wütend.«
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»Ich gehe jetzt lieber. Bitte, werd bald gesund, es ist fast Weihnachten und du sollst herunterkommen und mit uns die Ferien verbringen.« Sie stand auf, zupfte verlegen an ihrer Schürze herum. »Wir freuen uns sehr daß du da bist, Vetter Paul.« Sie kam ohne Vorwarnung ganz nahe heran und drückte einen Kuß auf seine Wange. Mit hochrotem Gesicht rannte sie hinaus. Er sank stirnrunzelnd auf sein Kopfkissen zurück. Etwas Unerwartetes war geschehen. Er wollte, daß seine Kusine und die Vettern ihn gern hatten, aber Fritzi war noch ein Kind, ein Mädchen – und für Mädchen interessierte er sich bisher sowieso kaum. Wann hatte er dazu auch schon Gelegenheit gehabt? Was ihm wirklich am Herzen lag, war, Freundschaft mit seinen Vettern zu schließen, speziell mit Joseph junior, der zwei Jahre älter war – ein riesiger, bedeutsamer Unterschied für Jugendliche. In Pauls Augen war Joe ein Erwachsener, eigentlich schon ein echter Mann. Er war alt genug, um sich einen Bart stehen zu lassen. Er kannte sich in der Welt aus; er arbeitete sechs Tage pro Woche in der Brauerei. Er war derjenige, dessen Freundschaft und Achtung Paul sich am meisten ersehnte. Er dachte wieder an Kusine Fritzi. Er hoffte, daß der bewundernde Glanz, den er in ihren Augen entdeckt hatte, nicht ein neues Problem darstellte. Auch Carl kam mit den besten Wünschen für Pauls Gesundheit vorbei und mit einer Frage. »Möchtest du mal meinen Baseball sehen?« »Ja, ja.« »Gut«, sagte Carl und zeigte den Ball her, der dicke rote Nähte besaß. »Es ist ein offiziell zugelassener Ball, mit dem in der Liga gespielt wird. Ich habe ihn aus Mr. Spaldings Laden in der Stadt. Sie nennen Mr. Spalding auch A.G. Er war einer der größten Werfer. Der Ball kostet einen ganzen Dollar. Und das ist mein Fanghandschuh, aus Hirschleder.« Carl schmetterte den Ball in den seltsamen rechten Handschuh, dessen einzelne Finger so dick wie Würste waren. Er war ein stämmiger dunkelhaariger Junge, dessen hellbraune Augen denen seiner Schwester glichen. Seine Gesichtszüge und sein Körperbau erinnerten an seine Mutter. »Spielst du mal Baseball mit mir?« »Du mußt mir das Spiel vorher beibringen. Ich habe schon davon gehört, aber ich kenne die Regeln nicht.« »Ich zeige es dir«, erklärte Carl und nickte begeistert. »Im Frühling geht Papa vielleicht mit uns zu den Spielen der Chicago White Stockings. Wir
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alle lieben die White Stockings. Papa hat früher immer Joe mitgenommen, aber Joe will nicht mehr mit.« »Ich komme mit.« »Gut!« rief Carl und sprang so heftig vom Bett, daß seine Schulter gegen das Eckregal stieß und es umkippte. »O weh!« Hastig stellte er das Regal wieder auf und sammelte Pauls verstreute Schätze ein. »Ich glaube nicht, daß er etwas abbekommen hat«, sagte er, während er Paul den Globus und seinen Ständer zur Begutachtung reichte. »Es tut mir leid.« »Nein, ist schon gut.« Paul erkannte, daß Carl ein kleiner Junge war, der über einen kräftigen Körper und überschüssige Energie verfügte. Das war vermutlich keine glückliche Kombination. Endlich, am dritten Tag von Pauls Krankheit, erschien Vetter Joe. Abgesehen von der Farbe seiner Augen, ähnelte Joseph Crown jun. seinem Vater. Sie waren hellblau, heller noch und leuchtender als die von Tante Ilsa. Er hatte schmale Hüften, kurze Beine und einen schlanken Oberkörper. Er sah zart, aber nicht schwach aus. Seine Barttracht ließ ihn viel älter als siebzehn erscheinen. Er war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Er trug Schuhe mit dicken Sohlen, eine dunkle Cordhose, ein verwaschenes Arbeitshemd, das am Kragen feucht war, als habe er sich soeben den Hals gewaschen. Joe junior war sehr freundlich, aber trotzdem reserviert. Als er sich nach Pauls Wohlbefinden erkundigte, nannte er ihn »alter Junge« – was für Paul genau wie das Gegenteil klang. Sein Vetter setzte sich nicht aufs Bett, sondern in den Sessel, so wie Onkel Joe es getan hatte. »Du arbeitest also in der Brauerei«, begann Paul. »Ja. An vorderster Front, könnte man sagen.« »Wie bitte?« »An der Front des Klassenkampfs. Dem Krieg zwischen Kapital und Arbeit. Im Augenblick ist es nur ein Krieg der Worte, aber er war früher blutig und wird sicher wieder blutig werden. Die Ausbeuter werden eben nicht klug. Sie denken nun mal nicht um.« Wie nüchtern und ernst er war. Und Paul hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete. Joe junior erkannte das und sagte: »Es ist nicht so schwer zu verstehen, Vetter. Mein Pa ist Kapitalist. Oder hast du das nicht schon auf den ersten Blick erkannt?« Seine Handbewegung umriß die Möbel, das Zimmer, das Haus. »Er ist nicht so schlimm wie einige andere, aber er gehört trotzdem zu dieser Klasse. Er wollte immer, daß ich auch dazugehöre, eines Tages in der Direktion sitze. Aber der Teufel soll mich
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holen, wenn das geschehen sollte.« Er zeigte Paul seine Handflächen. »Ich arbeite mit meinen Händen und mit meinem Rücken. Ich schwitze genauso wie all die anderen Burschen in der Brauerei. Wie 99 Prozent der gesamten menschlichen Rasse. Wir schwitzen und sterben, damit das andere Prozent reich und immer reicher wird.« Immer noch verwirrt und unsicher, was er darauf erwidern sollte, beschloß Paul, überhaupt nichts zu sagen. Joe junior musterte ihn mit seinen strahlendblauen Augen. »Nun, da du hier angekommen bist, was gedenkst du zu tun?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, dein Vater wird es mir schon sagen.« »Darin ist er gut, im Herumkommandieren von anderen Menschen.« Eine kurze Pause entstand. »Soll ich dich lieber ›Kid‹ nennen? Das ist jemand, der noch sehr jung ist. Wie alt bist du überhaupt?« »Fünfzehn.« »Noch ein Baby.« Eine tiefe Röte stieg in Pauls Gesicht. Joe grinste. »Na komm schon, ich will dich nur ein wenig ärgern. Hast du eine Freundin in der Heimat?« Paul schüttelte den Kopf. Vetter Joe schob den Sessel etwas näher ans Bett. »Nun, ich habe ein Mädchen. Das hübscheste Ding, das man sich vorstellen kann. Du würdest nicht glauben, daß sie eine Bohunk ist.« Noch immer oder schon wieder verwirrt, murmelte Paul: »Eine was?« »So nennen sie hier die Böhmen, Bohunks.« »Ach ja, Böhmen.« Er machte sich wahrscheinlich schrecklich lächerlich. »Wie heißt sie denn?« »Roza Jablonec. Roza mit z. Sie haßt den Namen. Sie will ihn eines Tages ändern, wenn sie eine berühmte Sängerin ist. Ich nenne sie Rosie, das macht ihr nicht soviel aus. Ich hab’ sie an einem Sonntag während eines Arbeiterpicknicks kennengelernt, das Benno – nun, vergessen wir das.« Er schaute über die Schulter zur geschlossenen Tür und senkte die Stimme. »Rosie ist eine ganz heiße Nummer. Titten bis hier.« Er wölbte seine Hände fast fünfzehn Zentimeter vor seiner Brust. Pauls Augen weiteten sich. »Tatsächlich?« »Vielleicht finden wir auch für dich so ein Girl«, sagte Vetter Joe und stand auf. »Für das erste Mal, wenn du weißt, was ich meine.« »O ja.« Joe junior bedachte ihn mit einem weiteren dieser langen, prüfenden Blicke, dann lachte er verhalten in seinen gepflegten Bart. »Bis bald, Vetter. Werd gesund.« Er ging hinaus und ließ Paul wegen der angedeuteten Feindschaft zwischen Joe und seinem Vater verwirrt zurück. Er wünschte sich
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sehnlichst, daß sein Vetter ihn mochte und als einen Freund akzeptierte. Er wünschte sich auch, daß Onkel Joe ihn gern hatte. Er wollte auf keinen Fall zwischen die Fronten eines Familienkriegs geraten. Zwei Tage später erklärte Dr. Plattweiler ihn für gesund. »Gerade noch rechtzeitig, was? Am nächsten Sonntag ist Weihnachten. Frohes Fest!« Tante Ilsa brachte Kleider und Unterwäsche und ein Paar Schuhe herein. Die Kleider hatten immer noch die Falten aus dem Geschäft, die Schuhe waren eng und steif, aber alles war sauber und wunderbar neu. Nach all dem Schlaf und den Riesenportionen Essen fühlte er sich wieder kräftig. Er brannte darauf, sein Zimmer zu verlassen, sich nach unten zu den anderen zu gesellen, seine Umgebung allmählich zu erforschen, in dem Haus wirklich zu leben. Am Abend legte er die Hand auf den Treppenpfosten des Flures im zweiten Stock und blickte lange hinunter in die Vorhalle. Sein Onkel war zu Hause. Aus dem Speisezimmer drangen Stimmen und das Klappern des Geschirrs zu ihm herauf. Beklommenheit überfiel ihn. Nun geh schon, hab keine Angst, das ist doch, was du gewollt hast. Das ist dein Zuhause. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das jetzt schon glauben konnte. Sich langsam von Stufe zu Stufe vortastend, ohne das Geländer loszulassen, stieg er die breite Treppe hinunter. Er zögerte ein zweites Mal beim Anblick des riesigen und duftenden Baums, der geschmückt war mit unzähligen weißen Kerzen, die noch nicht brannten, wie der Brauch es vorschrieb. Die verzierten Schiebetüren eines Zimmers zu seiner Linken – im vorderen Teil des Hauses gelegen – waren fest geschlossen. Verriegelt, vermutete er. So pflegten die Deutschen bis zum großen Festtag ihre Geschenke vor der Familie zu verbergen. Stimmengemurmel und köstliche Düfte drangen aus den Türen des Eßzimmers, die einen Spalt weit offenstanden. Er überwand ein weiteres halbes Dutzend Stufen und blieb ein drittes Mal stehen. Dann schluckte er krampfhaft, holte tief Luft, legte die Hände an die Türen und schob sie auf. Tante Ilsa sprang von der langen Tafel auf. »Da ist Pauli ja!« »Komm rein, wir essen schon«, rief Carl und winkte ihm mit der Gabel zu. Fritzi ließ sich auf ihrem Stuhl mit einem langen Seufzer nach hinten sinken. Die verschränkten Arme von Vetter Joe und sein fragendes Grinsen verwirrten ihn etwas, aber Onkel Joe schob einen Stuhl zurecht, kam um den Tisch gerannt und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Endlich, Paul, herzlich willkommen! Setz dich. Und iß etwas.« Pauls Anspannung löste sich schlagartig, und mit einer inneren Freude,
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die an Verzückung grenzte, grinste er und ging zu dem freien Stuhl. Er wußte, daß alles in bester Ordnung war. In der darauffolgenden Woche machte er eine ganze Menge neuer Erfahrungen, darunter zu seiner Beruhigung auch die, daß, obgleich er sich in Amerika befand, Weihnachten im Haus seiner Verwandten noch immer eine sehr deutsche Angelegenheit war. Der traditionelle Mistelzweig wurde aufgehängt, auch wenn die Deutschen nicht mehr an seine mystische Kraft glaubten, die angeblich böse Geister, Unglück und Krankheiten abwehren sollte. Jeden Abend nach dem Essen versammelte sich die Familie um das kleine Harmonium im Musikzimmer. Tante Ilsa spielte, und Onkel Joe dirigierte den Gesang. Er hatte eine schöne Stimme und erzählte Paul, daß er sicherlich einem der deutschen Gesangvereine in der Stadt beigetreten wäre, wenn ihn dies nicht soviel Zeit kosten würde. Alle sangen O Tannenbaum und Stille Nacht, heilige Nacht und andere beliebte Weihnachtslieder. Das heißt, alle außer Joe junior, der sich verabschiedete, was seinen Vater ganz offensichtlich ärgerte. Onkel Joe verkündete, daß die Brauerei am Montag, den 26. Dezember, geschlossen bliebe. Tante Ilsa traf bereits in der Küche Vorbereitungen für das große Weihnachtsfestmahl, dessen Hauptgang traditionell aus Fisch bestand. Joe junior und Onkel Joe gingen jeden Tag zur Arbeit, und Carl und Fritzi würden noch bis Freitag in der Schule sein, daher war Paul sich selbst überlassen. So hatte er Gelegenheit, sich das Haus anzusehen, das Hauspersonal kennenzulernen und sich mit den täglichen Abläufen vertraut zu machen. Der Alltag unterschied sich nicht wesentlich von dem eines typischen Haushalts in seinem Vaterland. Das Frühstück war üppig und bestand aus Brötchen, ungesalzener Butter und Marmelade, aus Platten mit kaltem Fleisch, Käse und verschiedenen Wurstsorten. Dazu gab es Kaffee, Tee oder Kakao, alles in separaten Kannen auf einer Anrichte bereitgestellt. Außerdem einen Krug mit kalter Milch. All das wurde schon bei Tagesanbruch von Louise, der Köchin, vorbereitet. Die Familienmitglieder kamen und gingen, aßen schnell oder langsam, wie es ihnen gerade gefiel. Es gab keine feste Frühstückszeit. Die gewöhnlich umfangreichste Mahlzeit des Tages, das Mittagessen, wurde nicht serviert, es sei denn Onkel Joe schaffte es, von seiner Arbeit nach Hause zu kommen. Das geschah in der ersten Woche, in der Paul wieder auf den Beinen war, nur einmal, und bei dieser Gelegenheit saßen sie nur zu dritt am Tisch – Paul, seine Tante und sein Onkel. Dennoch bereitete Louise
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stets eine vollständige Mahlzeit vor: Ochsenschwanzsuppe, gefolgt von einer Schüssel Knödel als Zwischengang vor dem Hauptgericht, das an diesem Tag aus Schweinebraten, Kartoffeln und drei verschiedenen Gemüsen bestand. Dazu konnte man sich reichlich mit Brot und Butter bedienen. Onkel Joe bekam außerdem ein ganz spezielles Fischgericht, nämlich Heringsröllchen, die mit Gurken und Zwiebeln in Essig eingelegt waren. Er verriet Paul, daß er Hering besonders gerne aß, und außerdem Berge von Schlagsahne auf seinem Stück Torte, die den Nachtisch bildete. Seinen Kaffee trank er ebenfalls mit Schlagsahne, die sich langsam verflüssigte. Das Eßzimmer war geräumig. Es war sonnig und genauso in Nußbaum getäfelt wie alle anderen Räume des Hauses. Der Eßtisch war sehr lang, die Möbel waren massiv und reich verziert. Ein großes Gemälde in goldenem Rahmen beherrschte die Wand über der Anrichte. Es zeigte eine Landschaft mit einem schneebedeckten Gipfel über einer sonnigen Wiese. Paul hatte den Eindruck, als hätte er dieses Motiv schon einmal gesehen. »Das ist das Yosemite Valley in Kalifornien«, erwiderte Onkel Joe auf seine Frage. Daraufhin erinnerte Paul sich an ein Postkartenphoto vom gleichen majestätischen Gipfel. »Ich habe es gekauft, weil der Künstler, Bierstadt, Deutscher ist. Ich bin mir nicht so sicher, ob er ein erstklassiges Talent ist.« »Oh, ich denke schon«, sagte Tante Ilsa. »Der Mann kann außerordentlich gut malen.« Onkel Joe schien sich über diesen Widerspruch überhaupt nicht zu ärgern, wie viele Ehemänner in der alten Heimat es sicherlich getan hätten. Die Mahlzeit verlief in angenehmer Atmosphäre bis zu dem Augenblick, als Onkel Joe seine Serviette zusammenfaltete und sagte: »Ich wollte schon länger mit dir über eine wichtige Angelegenheit sprechen, Paul. Nach Neujahr werden wir einige Pläne für dich schmieden. Wie sieht es mit deiner Schulbildung aus?« »Ich bin vor drei Jahren von der Schule abgegangen. Ich mußte arbeiten«, antwortete Paul, von einer plötzlichen Anspannung befallen. Onkel Joes Blick schien bis in sein Innerstes zu dringen. »Haben die Behörden das erlaubt?« »Sir, ich habe nicht gefragt. Tante Lotte, sie und ich, wir brauchten Geld. Es war damals eine sehr schwierige Zeit.« Niemals würde er ihm von Tante Lottes Herren erzählen. Kein Sterbenswörtchen. »Na schön, wie dem auch sei«, sagte Onkel Joe nach einigen Sekunden. »Wir müssen trotzdem über diese Angelegenheit reden. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen – schon gar nicht deine Zukunft.«
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In dieser Woche wurde Paul außerdem offiziell dem Hauspersonal vorgestellt. An der Spitze der kleinen Schar stand der mürrische Diener, den Paul irrtümlich für seinen Onkel gehalten hatte. Es war der, den Fritzi nachgeäfft hatte und den Joe junior den Traurigen Dänen nannte. Er sagte nichts, nachdem Tante Ilsa Paul vorgestellt hatte, sondern reichte ihm nur eine kalte, rauhe Hand. Manfred bewegte sich nur schweigend durch das Haus. Er bewohnte es weniger, als daß er darin herumgeisterte. Wenn er redete, dann meistens nur, um einen Befehl zu geben. Er verhielt sich den Kindern gegenüber immer sehr herrisch. Paul stellte sehr bald fest, daß Fritzi sorgfältig darauf achtete, ihm nicht zu widersprechen, und daß Carl ganz offensichtlich Angst vor ihm hatte. Obgleich Tante Ilsa in der Küche das Regiment führte und auch sehr viel kochte, wie es Ehefrauen immer taten, beschäftigten die Crowns eine Köchin, eine kleine verwitwete Frau, deren vollständiger Name Louise Volzenheim lautete. Sie wohnte ebenso wie Herr und Frau Blenkers im dritten Stock. Der Gärtner Pietro de Julio – Pete – stammte aus der italienischen Schweiz. Er wohnte irgendwo in der Stadt. Nicky Speers, der Stallknecht und Kutscher, war Engländer. Er wohnte über dem Stall des Anwesens an der Neunzehnten Straße, die parallel zur Michigan Avenue verlief. Paul fühlte sich von all den neuen Worten, Vorstellungen und Erfahrungen, die auf ihn einstürmten, völlig überwältigt. Manchmal, wenn er versuchte, eine Frage zu stellen und bei Tisch Konversation zu machen, hatte er das Gefühl, sich mit Chinesisch herumzuschlagen und nicht mit einer Sprache, die er gelernt hatte. Carl machte es noch schlimmer, indem er einen völlig unverständlichen Slang benutzte. Ein »toller« Baseballspieler war für ihn »swell«. Und wenn man erregt war, dann rief man »Gee!« Aber wenn man enttäuscht war, ließ man die Schultern hängen und sagte ebenfalls »Gee«. Dies war die farbige Sprache, von der Tante Lotte erzählt hatte. Paul mußte auf Gesichter und Gesten achten, um alles zu verstehen. Manchmal war er richtig mutlos, aber er weigerte sich zu kapitulieren. Eines Tages würde er genauso gut englisch sprechen wie die anderen. Da es so viel zu sehen und zu lernen gab, verstrich die erste Woche wie im Fluge. Der Samstag bescherte dem Haushalt eine ganz besondere und deutlich spürbare Aufregung. Onkel Joe kam schon früh nach Hause, um halb vier. Desgleichen Joe junior, der zur Abwechslung mal einen fröhlichen Eindruck machte.
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Gegen vier Uhr bat Carl Paul, doch zum Spielen mit nach draußen zu kommen. Paul schlüpfte in einen Mantel, den Tante Ilsa ihm gegeben hatte, und folgte seinem Vetter hinaus auf den Hof. Carl reichte ihm den Baseball. »Wirf mal«, sagte er, kauerte sich hin und hob seinen Fanghandschuh hoch. Paul warf den Ball von unten so fest er konnte. Er landete klatschend in Carls Handschuh. Der Junge zuckte nicht mit der Wimper. »Mit gestrecktem Arm«, sagte Carl. »Etwa so.« Er machte es vor. Paul versuchte es und hatte nach ein paar Würfen den Bogen heraus. »Und jetzt wirf, so fest du kannst.« Paul ließ seinen Arm wie eine Windmühle kreisen, so wie Carl es getan hatte, und schleuderte den Ball nun mit höherer Geschwindigkeit. Er klatschte lauter als zuvor in den Handschuh, aber Carl schwankte noch nicht einmal, als er den Aufprall abfing. »Wirf noch fester.« Joe junior schlenderte auf einem Pfad von der Gartenanlage herbei. Sie bestand aus Buschwerk, Kieswegen, Steinbänken und einem kleinen Teichbecken, das jetzt, im Winter, leer war. Alles war so angeordnet, daß die Blicke der Besucher zum Ende des Gartens an der Michigan Avenue gelenkt wurden. Dort stand die große Statue eines betenden Engels, von Büschen eingerahmt, die dahinter im Halbkreis angepflanzt waren. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und die Flügel ausgebreitet. In das Podest war das Wort FRIEDE eingemeißelt. Joes prächtiger Bart bauschte sich im eisigen Wind. »Es gibt keinen Ball, den mein kleiner Bruder nicht fangen kann. Paß auf, ich zeig’s dir.« Er streckte eine Hand aus. Paul gab ihm den Ball und trat zurück. Joe junior nahm seine ganze Kraft zusammen. Er schleuderte den Ball mit unglaublicher Wucht. Diesmal blinzelte Carl, aber er wich keinen Deut zurück. Joe warf immer wieder, und Carl fing jeden Ball. Er lief zu seinem Bruder und schlang die Arme um dessen Taille. »Du brauchst nur den Ball zu werfen, und schon liebt er dich«, sagte Joe über Carls Kopf hinweg. Dabei strich er seinem Bruder liebevoll durchs Haar. Carl lehnte sich zurück, um Joe ins Gesicht zu sehen. »Joe, wir gehen doch im Frühling mal zu den White Stockings, oder?« Joes Lächeln verflog. »Nein, ich glaube nicht, Kid. Sie sind nicht mehr das alte Team, seit Billy Sunday das Außenfeld aufgab, um Prediger zu werden. Die Dinge ändern sich nun mal.« Mit einem letzten Blick auf das imposante Haus entfernte er sich. »Bis später, Paul«, sagte er über die Schulter. »Bis später«, sagte Paul etwas zu eifrig. Joe vergrub die Hände in den Hosentaschen und ließ sich nicht herab,
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ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Um sechs Uhr begann es leicht zu schneien. Feierlich versammelten Familie und Hauspersonal sich vor dem Weihnachtsbaum. Tante Ilsa erschien mit einer einzelnen Kerze in einem Messinghalter. Manfred stellte eine Trittleiter auf. Onkel Joe, förmlich in Rock und Krawatte, hielt einen brennenden Holzspan an das Wachslicht, stieg auf die Leiter und entzündete die erste weiße Kerze und nach und nach die anderen. Schon bald erstrahlte der ganze Baum. Die Lichter befanden sich in speziellen Klemmhaltern, die sie von den Zweigen fernhielten. Und ganz in der Nähe standen Eimer mit Sand und Wasser für den Notfall bereit. Die Kerzen, weiß als Symbol für die Unschuld des Christkindes, wurden niemals vor diesem ganz besonderen Heiligen Abend angezündet. Paul war die Zeremonie vertraut, aber er und Tante Lotte hatten sich immer nur einen kleinen, armseligen Baum mit wenigen Kerzen leisten können. Zwei Jahre hintereinander hatten sie sogar überhaupt keinen Weihnachtsbaum gehabt. Paul war erfüllt von Begeisterung und Freude, von dem Gefühl, wirklich und wahrhaftig dorthin zu gehören. Dieses Gefühl vertiefte sich noch, als Tante Ilsa, die neben ihm stand, ihn an sich drückte. Sie zogen gemeinsam ins Eßzimmer zum Festmahl mit Karpfen und einem Dutzend Vorspeisen und Beilagen. Joe junior und Paul tranken Crown-Lagerbier aus prachtvoll verzierten Krügen mit silbernen Deckeln und Henkeln. Sogar Carl und Fritzi bekamen je ein kleines Glas. Tante Ilsa trank Punsch. Onkel Joe nahm eine doppelte Portion Schlagsahne in seinen Kaffee. Zweimal ertappte Paul Fritzi dabei, wie sie ihn mit verträumten Augen ansah. Jeder war fröhlich und zum Reden aufgelegt bis auf Joe junior, der nur wenig sagte. Nach dem Essen sangen sie eine halbe Stunde lang, begleitet vom Harmonium. Dann erschienen alle Hausangestellten wieder und folgten der Familie zur Tür des Empfangssalons. Feierlich holte Onkel Joe einen Messingschlüssel hervor und schloß auf. Er griff an die Wand und schaltete die Beleuchtung an. Fritzi stieß einen Seufzer aus, und Carl hüpfte auf und nieder beim Anblick der Geschenke, die überall gestapelt waren. Die Bediensteten erhielten kleine Geschenke und Geld von den Crowns. Paul war überrascht und tief gerührt, als Tante Ilsa ihm mehrere Päckchen gab – Fritzi und Carl waren schon eifrig damit beschäftigt, die bunte Verpackung ihrer Geschenke aufzureißen. Pauls Geschenke bestanden aus drei Oberhemden, einer Schiefertafel in glattem Holzrahmen, einem Rasierapparat mit seinem Namen auf einer kleinen Messingplatte – »Du bist jetzt alt genug dafür«, sagte Onkel Joe – und, was am schönsten war, einer
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goldenen Taschenuhr. »Joey, was hast du denn bekommen?« rief Fritzi hinter einem bunt bemalten Marionettentheater. »Hauptsächlich Kleidung. Was meinst du, soll ich sie den armen Leuten geben, die heute da draußen sitzen und hungern müssen?« Onkel Joe sah seinen Sohn scharf an. Joe junior erwiderte den Blick. Stummer Protest sprach aus seinen hellblauen Augen. Paul zog nervös seine Uhr auf. Am Samstag nach Weihnachten war Silvester – der Namenstag des heiligen Silvester und Vorabend des neuen Jahres 1893. Genauso wie Weihnachten war auch Silvester teils ein religiöser, teils ein weltlicher Feiertag. Die Crowns, selbst Protestanten, feierten ihn ausgiebig. Es gab wieder ein großes Festessen am Abend und spezielle Köstlichkeiten aus der Küche – Marzipan in allerlei verschiedenen Formen und Glücksschweinchen aus Schokolade. Carl kam spät von Ballspielen mit Nicky Speers nach Hause. »Carl«, sagte Onkel Joe, »wenn du von draußen hereinkommst, denk daran, deine Schuhe zu säubern. Deine Mutter möchte nicht, daß der Schmutz auf die guten Teppiche getragen wird.« Carl murmelte etwas vor sich hin. Sanft, aber eindringlich fügte Onkel Joe hinzu: »Bring das bitte in der Küche in Ordnung.« Carl ging hinaus. Einen Moment später sagte Onkel Joe: »Da ich gerade über korrektes Benehmen spreche, muß ich dir etwas sagen, Fritzi. Und dir, Paul.« Paul verging sofort der Appetit. Tante Ilsa musterte ihren Mann stirnrunzelnd, unterbrach ihn jedoch nicht. Onkel Joe fuhr fort. »Fritzi, ich habe gestern verfolgt, wie du der Köchin eine deiner Parodien vorgespielt hast. Ich suchte gerade etwas in der Speisekammer. Ich glaube, du wußtest gar nicht, daß ich in der Nähe war. Du hast ein wunderbares Talent zur Schauspielerei. Ich habe Mr. Carnet, den Briefträger, sofort wiedererkannt.« Fritzi kicherte und errötete. »Seine Schultern waren herabgesunken, die Augen schielten. Du hast ihn genau getroffen. Ich muß dir jedoch erklären, daß er nur deshalb so gebeugt geht, weil er jeden Tag fünfeinhalb Meilen laufen muß und weil er kein junger Mann mehr ist. Was seine Augen betrifft – es ist grausam, sich über die Gebrechen eines Menschen lustig zu machen. Er kann nichts dafür, daß es so ist, deshalb lenke nicht die Aufmerksamkeit darauf, es gehört sich nicht.«
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Fritzi machte ein niedergeschlagenes Gesicht. Offenbar liebte sie ihren Vater sehr und haßte es, sein Mißfallen erregt zu haben. Sein spontanes warmes Lächeln nahm seinen Bemerkungen ein wenig die Spitze. Er drehte sich auf seinem Stuhl halb um. »Und nun zu dir, Paul –« »Sir!« rief der wie ein Rekrut, der seinem Unteroffizier Meldung machen soll. »Bitte, stopfe dein Hemd in die Hose, und fahr dir mal mit dem Kamm durch die Haare, ehe du an den Tisch kommst. Ordentliche Manieren fördern ordentliche Gedanken.« »Ich werde daran denken, Onkel Joseph«, sagte Paul und verrenkte sich, um den heraushängenden Hemdzipfel zu verstecken. Onkel Joe lächelte auch ihn an. Dann sagte er zu seinem ältesten Sohn: »Joe, ich möchte dir wegen deines gepflegten Bartes ein Kompliment machen. Du bist noch ziemlich jung dafür – die meisten Bärte, die man sieht, gehören Veteranen der Unionstruppen und sind fast so eine Art Ehrenzeichen für alte Soldaten –« Paul konnte Joe juniors Gesichtsausdruck und das, was in seinem Vetter vorging, nicht deuten. »Dein Bart sieht immer sehr ordentlich aus, was ich nicht erwartet habe, als du dir die ersten Stoppeln hast stehenlassen.« »Ich geb’ mir Mühe, Paps«, sagte Joe junior. »Ich weiß ja, was dir gefällt und was nicht.« Paul fragte sich, weshalb Joe sich bei seinem Vater nicht für das Kompliment bedankte. Onkel Joe nickte und aß weiter. Tante Ilsa schien den goldenen Rand ihres Tellers zu untersuchen. Und da Paul das Essen mundete, vergaß er dieses Intermezzo bald. Um Mitternacht rannten alle die hohe Veranda hinunter und durch das Tor hinaus auf die Michigan Avenue. Sie waren in Mäntel, Schals und Handschuhe gehüllt, hatten Glocken aus dem Haus mitgenommen, lärmten und riefen den Nachbarn fröhliche Wünsche zu, und Carl ließ ganze Ketten von Krachern und Böllern auf der Straße explodieren. Überall in der Stadt wurde in ähnlicher Weise gefeiert, mit Kirchengeläut, Kanonenschlägen, Gewehr- und Pistolenschüssen. Carl reichte Paul ein brennendes Stück Zunder, das er an eine Zündschnur hielt. Beide Jungen brachten sich durch einen Sprung in Sicherheit und hielten sich die Ohren zu. Die Kracher gingen los wie die Gewehre eines ganzen Infanterieregiments. Fritzi schrie, rannte zu Paul, sprang hoch und küßte ihn auf die Wange. Dann rannte sie schnell wieder weg. Er sah, wie Tante Ilsa die Arme verschränkte und lächelte. Alles war vollkommen.
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Bis zum nächsten Morgen, als Joe junior zum Frühstück erschien und so verändert war, daß Paul ihn auf den ersten Blick gar nicht erkannte. Paul und Onkel Joe aßen bereits. Onkel Joe saß im Oberhemd am Tisch und leerte eine Tasse Tee. »Ein frohes neues Jahr, mein Junge, ich –« Er verstummte und starrte seinen Sohn an. Joe junior hatte sich von seiner Barttracht getrennt. »Warum hast du das getan?« »Weil ich beim Aufwachen beschlossen habe, daß ich ihn leid bin.« »Ist das der Grund? Oder weil ich dir ein Kompliment gemacht habe? Hol dir etwas zu essen, und setz dich. Wir müssen darüber reden.« »Nein, ich glaube nicht, Papa. Ich habe keinen Appetit. Ich muß mich beeilen, ich werde abgeholt.« Während er hinausging, rief Onkel Joe: »Wo willst du hin?« »Nach Pullman, Rosie besuchen.« »Wann kommst du wieder zurück?« »Das weiß ich nicht.« Er verschwand. Einen Moment später hörte Paul, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Plötzlich blickte Onkel Joe Paul an. Er war ein völlig anderer Mensch. Bleich. Seine Hand zitterte deutlich. Als er seine Teetasse hochnahm, schlug er sie klirrend gegen die Untertasse. Etwas Tee schwappte über. Paul senkte den Blick. Ein Familienstreit, genau das, was er befürchtet hatte. Unvermittelt tat sich ein feiner Riß auf in dem glatten, glänzenden Gefüge des Familienlebens im Hause Crown. Wie schnell er dies hatte entdecken müssen! 14 ILSA Früh am Montag, dem zweiten Tag des neuen Jahres 1893, saß Ilsa am Ende des langen Eßtisches und hatte ihre übliche Kollektion Chicagoer Zeitungen, sowohl in englischer wie auch in deutscher Sprache, vor sich ausgebreitet. Zu ihrer Überraschung hörte sie die Schritte ihres Mannes draußen in der Halle. Sie hatte angenommen, daß er längst in der Brauerei war. Joe junior hatte bereits das Haus verlassen, ebenso die jüngeren Kinder. Die Ferien waren zu Ende, die Schule hatte wieder begonnen. Joe Crown kam mit federnden Schritten herein, gab seiner Frau einen Kuß auf die Wange, dann setzte er sich auf seinen Platz am Kopfende des Tisches. Er war fertig angezogen. Seine dunklen braunen Augen blickten müde, bläuliche Schatten lagen darunter.
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Joe brach ein Brötchen durch und häufte mit einem kleinen Silberlöffel Marmelade darauf. Ilsa musterte ihn aufmerksam. »Du bist heute morgen spät dran, nicht wahr?« »Ja, ich wollte mit dir über unseren Neffen sprechen. Wo ist er?« »Draußen, bei Pete. Die Sonne hat gestern den Rasen sehr gut abgetrocknet. Pete und Paul harken das abgestorbene Gras zusammen. Gestern habe ich Pauli Feuerholz hereinholen lassen. Er ist sehr willig. Und er erledigt jede Arbeit mit Eifer.« Joe Crown blickte auf, nachdem er sich eine Tasse Tee eingeschenkt hatte. »Ich glaube, der Junge möchte gerne Paul genannt werden.« Ilsa lächelte. »Na ja, anscheinend kann ich mich nicht an den Namen gewöhnen. Seit er hier hereinmarschiert ist, von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und auf meinem Teppich ohnmächtig wurde, ist er Pauli für mich. Was wolltest du mit mir besprechen?« »Zuerst einmal das Thema Hauslehrer.« »Wir waren uns doch schon einig, daß das eine gute Idee ist.« »Na schön, ich habe Zwick angewiesen, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Nun zum allgemeinen Wohl des Jungen – es scheint, als habe er von sich selbst keine allzu hohe Meinung. Ich spüre das. Dazu äußert er sich nämlich nicht. Er braucht eine Tätigkeit, ein Handwerk. Anständige Arbeit in irgendeinem Bereich, wo er seine Erfolge sehen kann und wo sie auch von anderen anerkannt werden.« Ilsa seufzte. »Nicht die Brauerei, Joe. Noch nicht. Er braucht eine Schulausbildung. Und zwar in einer öffentlichen Schule, nicht durch einen Hauslehrer.« Ihr Mann sagte nichts. »Joe?« »Ist schon gut. Eine Schulausbildung. Ich wollte schließlich deine Meinung hören.« Er sah sie an, aber nicht mit Wärme. »Du verwirfst eine Arbeit in der Brauerei reichlich schnell, Ilsa.« »Nein, nein, überhaupt nicht. Aber zuerst braucht er –« »Nach all diesen Jahren«, unterbrach er sie, »ist meine Arbeit also noch immer ein Streitpunkt.« »Du kennst den Grund. Papa –« »Erspar mir das«, sagte er mit untypischer Knappheit. Es ärgerte sie. »Da ist auch noch die Frage des guten Rufs, über die wir schon häufig diskutiert haben. Du kannst dem nicht ausweichen, Joe. Viele, viele Leute haben eine ganz bestimmte Meinung von einem Bierbrauer. Sie sehen ihn als jemand, der sein Geld damit verdient, daß er die Trunkenheit fördert.«
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Joe Crown begann mit einem großen, polierten Eberzahn herumzuspielen, der an seiner Uhrkette hing. »Ich fördere nicht die Trunkenheit, Ilsa. Ich produziere und verkaufe ein gesundes, nahrhaftes Getränk. Ein traditionelles Getränk. So gut für den Menschen wie Käse oder Fleisch oder Milch. Ich durfte den ersten Schluck kosten, als ich sechs oder sieben war. Seitdem trinke ich in Maßen und erfreue mich stets bester Gesundheit. Ich bin es einfach leid, hören zu müssen, wie die Industrie ständig beschuldigt wird, Müßiggang, Verbrechen, sexuelle Freizügigkeit, die Auflösung der Familie zu unterstützen. Und mir wird vorgeworfen, daß wir unser Produkt panschen, daß wir es mit ›Verunreinigungen und Giften‹ verderben – die natürlich niemals genau benannt werden. Wir werden ständig mit den Whiskeybrennern in einen Topf geworfen – eine weitere Beleidigung. Überdies betreibe ich eine anständige, ehrliche Brauerei. Ich verweigere meinen Männern das übliche Privileg, sich frei zu bedienen, und entweder sie akzeptieren das, oder sie arbeiten nicht mehr für mich. Wenn jemand trotzdem ein paar Schlucke während der Arbeit trinkt, dann kann ich nichts dafür.« »Du beschäftigst drei Werbeagenten.« »Verdammt noch mal, Frau, Dolph Hix und seine Männer sind Vertreter, sie sollen verkaufen!« »Vertreter, ein schöner Titel. Aber Dolph und die anderen haben ständig eine Menge Geld in der Tasche, das du ihnen gibst. Dieses Geld geben sie in Saloons aus, indem sie rundenweise Crown-Bier für das ganze Lokal spendieren.« Er schob die Teetasse zurück. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Das ist eine fruchtlose Diskussion. Jedesmal, wenn wir darauf zu sprechen kommen, enden wir in der gleichen Sackgasse.« »Das stimmt, aber ich kann nicht für meine Empfindungen und meine Meinung zu –« »Entschuldige, Ilsa, aber ich habe mich bereits verspätet. Sorge bitte dafür, daß Paul in der Schule angemeldet wird. Ich komme heute mittag nicht zum Essen nach Hause. Mach’s gut.« Er blieb nicht an ihrem Tischende stehen, um ihr einen zweiten Kuß zu geben, wie er es sonst immer tat, wenn er zur Arbeit aufbrach. Er verließ den Raum mit betrübter Miene. Ilsa hörte, wie die Hintertür des Hauses laut ins Schloß fiel. Sie war verärgert und traurig zugleich. Sie wollte Joe wirklich nicht erzürnen oder in seinem Stolz verletzen. Aber sie hatte ihre eigenen Ansichten und Überzeugungen. Mit zwanzig Jahren hätte sie diese als
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bescheidenes deutsches Mädchen in Cincinnati sicherlich gut verborgen. Aber die Zeiten waren vorbei. Ilsa war sich fast sicher, daß ihr Mann wieder im Begriff war, in einer seiner düsteren Phasen zu versinken. Mindestens zweimal im Jahr zog es ihn in den Süden. Er sagte, er wolle sich eine bestimmte Stadt ansehen, um dort vielleicht eine Brauereifiliale zu eröffnen oder sich über den Zustand gewisser Anlagen, die ihm im Staat South Carolina gehörten, zu informieren. Gewöhnlich unternahm er diese Reisen nach einer Phase verstärkter Arbeitsbelastung oder nach irgendwelchen geschäftlichen Rückschlägen. Diese Reisen schienen ihn zu beruhigen und ihm zu helfen, seine Gedanken neu zu ordnen. Wenn er wieder daheim war, erzählte er manchmal stundenlang, wo er gewesen war und was er getan hatte. Nach anderen Reisen hingegen sagte er gar nichts, erwähnte nicht einmal seinen Aufenthaltsort. Ilsa mißtraute ihrem Mann nicht und stellte sich auch nicht vor, daß er irgendwo eine Geliebte hatte. Doch sein Schweigen beunruhigte sie, denn sie fühlte, daß es auf einer Verfinsterung des Geistes beruhte, von der er nie ganz frei war. Mit Pessimismus, dessen Wiege der dunkle und kalte Norden Europas war, rechnete man als Deutscher und machte sogar seine Scherze darüber. Doch Joes Unbehagen ging tiefer. Es war eine Seite seiner Natur, die Ilsa ratlos machte; ein Teil seiner Seele, den er vor ihr verbarg, eine Mauer, die er aufgerichtet hatte und die sie niemals überwinden konnte. Ilsa Crown liebte ihren Mann vorbehaltlos. Sie kannte und tolerierte all seine Charaktereigenschaften, die guten wie die schlechten. Auch seine Stimmungen. Seinen brennenden Ehrgeiz. Joseph Crown war ein Mann, der nach Erfolg strebte. Sein Tatendrang versetzte sie in die Lage, in einer luxuriösen Umgebung zu leben und Kinder großzuziehen. Aber er hatte auch eine unangenehme Seite. Joe strebte auch danach, die Welt nach seinem Willen zu ordnen. In Anbetracht der Wechselfälle des Lebens, der Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur, führte das sehr häufig zu Konflikten. Bei der frohen Stimmung während der Feiertage fiel es leicht, die Konflikte innerhalb der Familie zu vergessen oder zu verdrängen. Aber diese Zeit war nun vorüber, nur das Dreikönigsfest stand noch bevor. Pauli hatte Ablenkung, etwas Neues und gute Laune in den Haushalt gebracht, aber auch das würde nicht lange anhalten. Sie und Joe hatten sich schon wieder über das Thema Alkohol gestritten wie schon sehr oft zuvor. In der Küche hing ein Sinnspruch in deutscher Sprache. Die Tafel hatte Ilsas Mutter gehört. Der Spruch lautete: Zufriedenheit ist des Hauses Glück.
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Ilsa saß an diesem Morgen ungewöhnlich lange am Frühstückstisch und fragte sich, ob die Zufriedenheit ihres Hauses in den kommenden Monaten wohl noch mehr gestört werden würde. Ilsa Crown war vier Jahre jünger als ihr Ehemann. Sie war im Jahr 1846 in Bayern als Ilse Schlottendorf zur Welt gekommen. Ihre Eltern waren Bauern, die nur dieses eine Kind hatten. Sie war in einer Umgebung aufgewachsen, die sie liebte, in einem typischen Bauernhaus, einem stabilen Holzbau, wo Mensch und Vieh unter einem roten Ziegeldach zusammenlebten. Ihr Zimmer befand sich direkt über dem Stall, und das Schlaflied ihrer Kindheit war das unentwegte Muhen der Milchkühe gewesen. Eine ihrer schönsten Erinnerungen war die an die Familie, wenn sie sich an einem Winterabend in der Küche des Bauernhauses versammelte, um in der Wärme des großen Steinofens mit seinen geometrisch gemusterten Kacheln die Abendmahlzeit einzunehmen. Aus diesem Raum stammte die kleine Tafel in der Küche mit dem Sprichwort über die Zufriedenheit. In Bayern hatte sie stets bei der Arbeit geholfen und war dadurch stark und zäh geworden. Sie hatte immer einen scharfen Verstand und so etwas wie geistige Unabhängigkeit bewiesen. Aber sie rebellierte nicht, sie war ein respektvolles, konventionelles Mädchen. Wenn ihre Mutter ausging und einen Hut aufsetzte, der sie als Hausfrau auswies, trug Ilsa einen Kranz, das Zeichen der jungen, unverheirateten Frau. Ihre liebste Zeit im Jahr war Ostern. Nach den heftigen Schneefällen des Winters und der nüchternen Phase der Fastenzeit bescherte Ostern den Menschen den Frühling und das Freudenfeuer im Dorf, bei dem die Strohpuppe, die Judas darstellte, verbrannt wurde. Außerdem konnte man in dieser Zeit den unvergeßlichen Anblick strohumflochtener Wagenräder genießen, die in der Abenddämmerung in Brand gesetzt und von den Berggipfeln zu Tal gerollt wurden. Gelegentlich träumte sie noch immer von den Osterrädern, die durch die Dunkelheit rumpelten und einen Funkenregen versprühten. Mehrere Jahre mit schlechter Witterung und dürftigen Ernten sowie das Talent ihres Vaters zur Mißwirtschaft hatten die Familie in Bayern fast in den Ruin getrieben. Der Hof wurde für viel weniger verkauft, als er wert war. Das Geld reichte gerade noch für Eisenbahnfahrkarten nach Bremen und die Schiffspassage nach New York. Die Schlottendorfs unternahmen die Überfahrt im Jahr 1856, als Ilsa gerade zehn Jahre alt war. Sie kamen durch Castle Garden und reisten, auf Anraten eines Freundes in ihrer Heimat, direkt weiter nach Cincinnati. Die Stadt auf den Bergen
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oberhalb des Ohio-Flusses war eine von dreien, in denen Deutsche der ersten großen Einwanderungswelle gegen Mitte des Jahrhunderts sich in großer Zahl niederließen. Die anderen beiden Städte waren Milwaukee und St. Louis. In Cincinnati amerikanisierte Ilse auch ihren Namen, indem sie aus dem e ein a machte. Jemand empfahl ihr den Namen Elsa, aber sie schrieb ihn mehrmals auf, und das Schriftbild gefiel ihr nicht. Die Schlottendorfs mieteten ein kleines Haus im fünften Bezirk, in der Nähe des Kanals, wo es ein großes deutsches Viertel namens Over-theRhine gab. Als Joseph Kroner ein Jahr später in Cincinnati eintraf, nahm er sich ein billiges Zimmer in einem anderen Teil der Stadt. Trotz der neu aufkeimenden Hoffnung und seiner Begeisterung für visionäre Ideen scheiterte Ilsas Vater ein weiteres Mal. Zusammen mit zwei Partnern kaufte er ein großes Grundstück in Hanglage am Fluß unweit der Stadt. Da dieser Teil Amerikas den Weinanbaugebieten in Deutschland sehr ähnlich war, waren die Partner überzeugt, sie könnten Schößlinge vom Rhein und von der Mosel importieren und nach ein paar Jahren einen einträglichen Weinberg besitzen. Aber das Klima stimmte nicht, die warme Saison für das Wachstum der Trauben war zu kurz, und die Winter dauerten zu lang. Das noch im Aufbau befindliche Unternehmen ging sehr schnell ein, und mit ihm starb die letzte Hoffnung ihres Vaters. Was in den Monaten nach dem Scheitern des Weinanbaus geschah, hinterließ bei ihr schreckliche Spuren. Ilsa lernte ihren zukünftigen Ehemann erst in dem stürmischen, ereignisreichen Sommer des Jahres 1861 kennen. Die Union führte gegen den rebellischen Süden Krieg, junge Männer schrieben sich ein, junge Mädchen wie Ilsa waren aufgeregt beim Anblick so vieler Uniformen, und in Cincinnati brodelte es, da es unterschiedliche politische Zugehörigkeiten gab, obwohl die Stadt sich offiziell auf die Seite des Nordens stellte. Die Stadt war ein wichtiger Sammelpunkt für entlaufene schwarze Sklaven, die mit der Underground Railroad in den Norden nach Kanada in die Freiheit flohen. Sie war außerdem mit vielen Sympathisanten der Sezession bevölkert, von denen viele mit ehemaligen Sklavenhaltern des zerrissenen, blutigen Staates Kentucky auf der anderen Flußseite verwandt waren. Die »Männer von ‘48«, die sich in Amerika niederließen, waren nahezu unerschütterlich in ihrer Treue zur Union. Sie haßten die Sklaverei und all jene, die sie praktizierten. Ihre Frauen teilten diesen Haß. Ilsas Mutter arbeitete als freiwillige Krankenschwester für Quäker, die bei der Underground Railroad mitarbeiteten. Der Haushalt der Schlottendorfs enthielt eine kleine Bibliothek mit Literatur, die für die Abschaffung der Sklaverei plädierte, darunter auch Mrs. Stowes berühmten Roman sowie die
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Schriften von Frederick Douglass und William Lloyd Garrison. Die Teilnahme an Demonstrationen gegen die Sklaverei gehörte ebenfalls zu den Tätigkeiten, die diese Verfechter der Freiheit auf sich nahmen. So kam es, daß Ilsa Schlottendorf an einem schwülen Abend im August 1861 ihre zwanzigjährige Kusine zweiten Grades, Mary Schimmel, zu einer Abolitionistenversammlung in der Halle des Odd Fellows Lodge begleitete. Mehrere weiße Redner wandten sich nacheinander an die Versammlung und vermengten Argumente gegen die Sklaverei mit emotionalen Erklärungen zur Notwendigkeit des Krieges, der das System für immer und ewig vernichten sollte. Der letzte Redner des Abends war ein in Alabama geborener Farbiger mit wolligem grauem Haar namens Turk, dessen Vorfahren aus Dahome stammten. Er erzählte vom Verkauf seiner Ehefrau und seiner beiden kleinen Kinder durch seinen finanziell in Bedrängnis geratenen weißen Besitzer. Dann beschrieb er, was geschehen war, als er gegen die erzwungene Trennung der Familie protestiert hatte. Turk streifte sein Hemd ab und trat nach vorn zu der Reihe qualmender Petroleumlampen auf die Plattform. Als er sich umdrehte, schrie das Publikum unisono auf. Die junge Ilsa fiel beim Anblick der kreuz und quer verlaufenden Narben auf Turks Rücken beinahe in Ohnmacht. Am Ende von Turks Vorstellung forderte die Menge brüllend das Blut der Rebellen. Jedermann verließ die Halle mit der festen Entschlossenheit im Herzen, den Krieg zu unterstützen, obgleich es damals sehr unwahrscheinlich schien, daß der Sieg der Union leicht und ohne große Verluste zu erringen wäre. Ilsa und Mary wurden von anderen Versammlungsteilnehmern umhergestoßen, während sie durch die Tür nach draußen drängten. Eine schwüle Dunkelheit erwartete sie, erfüllt vom Dunst, der über dem Fluß aufstieg und sogar die Sterne verschleierte. Wo haben wir unser Pferd angebunden? fragte Ilsa sich. Eine Freifläche, nahezu stockdunkel, erstreckte sich neben der Holzhalle von der Vorderseite bis zur Hinterfront an der nächsten Straße. Wegen der großen Besuchermenge hatten die Mädchen ihren Wagen am hintersten Ende des Platzes abstellen müssen. Teilnehmer der Versammlung beeilten sich, den Ort zu verlassen; sie fuhren in ihren Kutschen schnellstens davon. Ilsa fächerte sich frische Luft zu, während sie durch die Staubwolken irrten, die von den davonrollenden Wagen hochgewirbelt wurden. Plötzlich umfaßte sie den Arm ihrer Kusine. »Mary, sieh doch, da ist unser Wagen. Was machen die Männer denn da?« Zwei Männer, als Silhouetten vor den Laternen eines Grogausschanks deutlich zu erkennen, hatten sich offensichtlich völlig willkürlich einen
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Einspänner ausgesucht und hieben mit Messern auf die Zugriemen des Pferdes ein. Das befreite Tier stürmte auf die Straße und galoppierte davon. »He, hallo, was fällt Ihnen ein?« rief Ilsa und rannte los. Ihre ziemlich rundliche Kusine keuchte hinterdrein. Ilsa war viel zu wütend, um Angst zu empfinden. »Verschwindet! Das ist unser Eigentum!« schimpfte sie und stürzte sich auf den Mann, der ihr am nächsten stand. »Autsch, du deutsches Luder«, brüllte der Mann und rammte ihr den Ellbogen in die Brust. Angeschlagen wankte Ilsa zurück und prallte gegen Mary. »Komm, nehmen wir uns diese Niggerfreundinnen vor, Jud.« »O mein Gott, o mein Gott«, jammerte Mary auf deutsch. Entsetzt sah Ilsa sich auf dem verlassenen Platz um. Immer noch fuhren Leute weg, wobei die Räder ihrer Fuhrwerke dichte Staubwolken aufwirbelten. Der Staub behinderte die Sicht. Ilsa und ihre Kusine waren völlig allein, niemand nahm von ihnen Notiz … »Schnapp sie dir, Tom«, sagte Jud. Der andere Mann sprang mit einem Satz hinter Ilsa und hielt sie fest. »Ihr Rebellenmonster!« schrie Ilsa und schlug und trat wild um sich. Der Mann, der sie festhielt, riß sie herum. »Laß das, verdammt noch mal!« Er schlug ihr mit der blanken Hand ins Gesicht. Um sie drehte sich alles, der Staub, die trüben Lampen des Ausschanks, die verschwommenen Sterne am Himmel. Ilsa stolperte und stürzte mit einem Knie auf einen Grashaufen. Plötzlich hörte sie, wie der Mann namens Tom etwas brüllte: »Herrgott, paß auf!« In schwerfälligem Englisch rief jemand: »Laßt sofort die Frauen in Ruhe! Was seid ihr nur für ein Gesindel!« Ilsa erkannte, wie eine kleine, zierliche Gestalt die Pferdepeitsche aus der Halterung des Wagens riß. Er zog die Peitschenschnur mitten durch Toms Gesicht. Tom heulte auf. Der Fremde schlug weiter auf ihn ein. »Verschwindet von hier, verdammtes Pack! Und zwar dalli, ehe ich euch beide umbringe!« Die Rebellen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie humpelten vom Platz und verschwanden die furchige Straße hinunter. Der Fremde klopfte sich den Staub von seinem schweren schwarzen Mantel und strich sich durch das Haar. Er war noch jung, klein und drahtig. Seine Haltung verlieh ihm Autorität. Er stieg über den Grashaufen, über den Ilsa gestolpert war, und streckte ihr seine Hand entgegen. Als sie sie ergriff, spürte sie seine Kraft. Mit seiner Hilfe stand sie auf. Auf deutsch erkundigte er sich: »Ist alles in Ordnung?« »Ja. Aber meine Kusine – was ist mit ihr?« Der Fremde kniete sich hin, beugte sich über Mary, die in der Nähe des
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Einspänners mit geschlossenen Augen auf der Erde lag. »Sie ist nur in Ohnmacht gefallen, glaube ich. Dies ist eine schreckliche Geschichte. Freunde haben mich gewarnt, daß sich vor der Halle Gesindel aus dem Süden herumtreibt, aber ich hatte keine Ahnung, daß sie sich so schändlich aufführen würden.« Er begann, mit der einen Hand Marys Wange zu tätscheln und mit der anderen ihr Handgelenk zu massieren. Plötzlich hob er den Kopf. »Oh, entschuldigen Sie, ich bin sehr unhöflich. Ich habe völlig vergessen, mich vorzustellen.« Ilsa lachte schüchtern. »Nun – unter diesen Umständen –« Mary Schimmel stöhnte und richtete sich auf. Der Fremde trat einen Schritt zurück und blickte Ilsa an. Im Licht der Kneipenlampen sah Ilsa sein junges, markantes Gesicht zum erstenmal deutlicher. »Ich heiße Josef Kroner«, sagte er und verbeugte sich. Das war der Moment, so erzählte Ilsa später, als sie sich in ihn verliebte. Falls es nicht so gewesen sein sollte, erschien es doch in der Erinnerung so und ging damit in die Familiengeschichte ein. Josef Kroner, neunzehn Jahre alt, arbeitete in Imbrey’s Brewery, einer von mehreren Brauereien, die alle in deutschem Besitz standen und alle in Cincinnati angesiedelt waren. Er war gerade seit vier Monaten bei Imbrey’s beschäftigt, nachdem er vorher eine untergeordnete Stelle bei Rugeldorfer Ice innegehabt hatte, einer Firma, die an zahlreiche Privathaushalte und Firmen, darunter auch Imbrey’s, Eis lieferte. Sobald der Ohio-Fluß zufror, erzählte Josef Ilsa in der Zeit, in der sie sich kennenlernten, war die gesamte Belegschaft von Rugeldorfer damit beschäftigt, mit Quersägen Eis zu bergen. Sie arbeiteten sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag, bei Schnee, Hagel oder Minustemperaturen; die Saison war kurz, und die Nachfrage war groß. Lagerbier wurde immer beliebter, aber ehe Lager verkauft werden konnte, mußte man es in kühlen Kellern oder Höhlen altern oder ruhen lassen. Dazu war Eis nötig, und das tonnenweise. Die meisten Brauereien hatten keine Eisfabriken. Imbrey’s hatte den jungen Josef eigens dafür eingestellt, eine Eisfabrik auf dem Brauereigelände zu entwerfen, sie zu bauen und anschließend auch zu betreiben. Obwohl Imbrey’s eine gute alte Firma war, zuverlässig, wenn auch nicht gerade hervorragend, wurde Josefs Zukunft dort in dem Augenblick völlig unsicher, als der Krieg ausbrach. Die gesamte Gemeinde Over-the-Rhine war plötzlich von patriotischem Feuer beseelt. Nachdem Josef und Ilsa sich trafen, eröffnete er ihr als erstes, daß auch in ihm dieses Feuer brenne und
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daß er mit Tausenden von Deutschen, von denen viele noch nicht einmal die englische Sprache beherrschten, losmarschieren und für sein neues Heimatland kämpfen wolle. Er habe sich bereits zur Truppe gemeldet, und zwar bei Oberst W. H. H. Taylor und seiner 5. Kavallerie aus Freiwilligen, der 5th Ohio Volunteer Cavalry. Er habe in der Eisfabrik viel mit Pferden zu tun und damit schon mehr Erfahrung, als die meisten Kavallerierekruten bieten könnten. Er würde sich Anfang September im Camp Dick Corwin, das in der Nähe von Cincinnati läge, zum Dienst melden. Als sie das hörte, war Ilsa begeistert, aber auch merkwürdig traurig. Diese seltsam gemischte Reaktion machte ihr zum erstenmal bewußt, daß sie diesen braunäugigen jungen Mann, der sich immer so betont gerade hielt, sehr gern hatte. Josef machte Ilsa erst nach dem Krieg einen Heiratsantrag. Mittlerweile hatte er den Namen Joe Crown angenommen. Er war ein erfahrener Veteran, nachdem er mit der Kavallerie der Generäle Sherman und Kilpatrick bis nach Savannah und durch North und South Carolina geritten war. Er war zweimal verwundet worden, aber er redete nur wenig über seine Kriegserlebnisse und wich Ilsas direkten Fragen danach aus. Er schien ins Grübeln zu kommen, wann immer die Rede darauf kam. Ilsa entschied, daß dies wohl ein Geheimnis war, das sie niemals vollständig ergründen würde. Joe formulierte seinen Heiratsantrag sehr einfach. »Würdest du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden, Ilsa?« Ihre Antwort kam von Herzen. »Ich weiß nicht.« Er reagierte verblüfft, danach verletzt. »Du sagst, du liebst mich. Du hast es mehrmals gesagt.« »Ich liebe dich, ja. Aber dein Gewerbe liebe ich nicht.« Da lag das Problem. Sofort nach seiner nach Rückkehr nach Cincinnati hatte er ihr von seinem ehrgeizigen Plan erzählt. Er wollte Imbrey’s bald verlassen, sich auf eigene Füße stellen und eine eigene Brauerei aufbauen. Er wollte sein Leben in die Hand nehmen, sein Glück versuchen. »Weißt du, ich möchte nicht mit jemandem Zusammensein, der etwas mit einer Brauerei oder einer Brennerei zu tun hat«, fügte sie hinzu. »Moment mal!« rief er. »Das sind völlig unterschiedliche Bereiche. Bier ist gut. Bier ist deutsch, Brauer sind anständige, aufrechte Leute.« Er erinnerte sie daran, daß es die deutschen Brauer Amerikas waren, die bei der Finanzierung des Krieges mitgeholfen hatten, indem sie 1862 den Internal Revenue Act unterstützten, ein Gesetz, das jedes verkaufte Faß Bier mit einer Steuer von einem Dollar belegte. »Das weiß ich«, sagte sie. »Aber ich habe bestimmte Erinnerungen, Joe.
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Erinnerungen an meinen armen Vater.« »Dein Vater ist tot. Du hast mir nie viel von ihm erzählt, aber du hast erwähnt, er sei gestorben, während ich im Krieg war.« »Papa ist schuld daran, daß Mama eine verbrauchte Frau ist. Mehr als fünf Jahre lang hat sie sechs Tage pro Woche in der Bäckerei Kammel gearbeitet. Sie mußte für unseren Lebensunterhalt sorgen, weil Vater es nicht konnte. Er war ein Trinker. Du hast ihn nur ein- oder zweimal gesehen, ehe du in den Krieg gezogen bist. Deshalb hast du wahrscheinlich nie Verdacht geschöpft.« Joe sagte nichts. Vielleicht hatte er doch einen Verdacht gehabt. Sie wollte es nicht wissen. »Er trank ständig«, sagte sie. »Mama dachte, sein Trinken sei der Grund dafür gewesen, daß es mit dem Bauernhof nicht richtig klappte. Hier in Amerika wurde es noch schlimmer. Nachdem auch die Pläne mit seinem Weinberg fehlschlugen, trank er nur noch, und zwar alles, was er finden konnte, Wein, Whiskey – sogar Gärungsalkohol. Für eine Weile versuchten seine Freunde zu helfen, indem sie für ihn Arbeit suchten, aber er schaffte es nicht einmal, den einfachsten Job zu behalten. An dem Abend, als die Stadt den Sieg über den Süden bei Gettysburg feierte, betrank er sich wieder, stürzte in den Kanal und ertrank. Du begreifst also, weshalb ich nicht viel übrig habe für jemanden, der anderen Menschen zu einem solchen Schicksal verhilft.« Ilsa Schlottendorf heiratete Joe Crown trotzdem, weil ihre unendliche Liebe stärker war als ihre deutlich undeutsche Einstellung gegenüber Bier. Viele Jahre lang, als junge Frau und junge Mutter, erfüllte sie die allgemeinen Erwartungen und äußerte zu den Geschäften ihres Mannes niemals Einwände oder Kritik. In der letzten Zeit hatte sich das geändert. In der letzten Zeit änderten sich viele Dinge für die Crowns. Als Ilsa sich beruhigt hatte und das Eßzimmer verließ, suchte sie den größten Raum im ersten Stock auf; ihr persönliches Reich. Die Küche. In vieler Hinsicht waren Ilsa Crowns Charakter und Interessen ungewöhnlich für eine Person mit ihrem Hintergrund und ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ihre Beziehung zur Küche hingegen entsprach sehr deutlich der Tradition. Lange vor ihrer Ehe mit Joe hatte sie erkannt, daß eine perfekte Küche das Aushängeschild eines anständigen deutschen Haushalts war, und als Ehefrau widmete sie Stunden und Jahre dem Bemühen, eine solche Küche zu schaffen und zu erhalten. Die Arbeit – und sogar die Küche als solche – spendete ihr Trost und munterte sie auf, wenn sie Sorgen hatte.
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Ilsa und Louise, eine kleine graue Frau, die an eine Maus erinnerte, nickten einander zu und murmelten eine Begrüßung. Louise bereitete gerade einen leichten Teig zur Herstellung von Nudeln vor. Joe aß sehr gerne Fadennudeln, in Butter gebraten. Ilsa würde sich ab jetzt um den Teig kümmern, und Louise würde nichts dagegen haben. Mehr noch, sie erwartete es sogar. Eine deutsch-amerikanische Hausfrau kochte sehr viele Mahlzeiten für ihre Familie selbst, auch wenn sie eine vollständige Mannschaft in ihrer Küche beschäftigte. Ilsas Küche war mit einem riesigen alten, auf Löwenklauen stehenden Monstrum von Holzherd ausgerüstet, aber ansonsten war sie sehr luftig und modern eingerichtet. Kupferpfannen aller Größen baumelten sauber aufgereiht an Deckenhaken. Holz- und Stahlutensilien – Löffel, Messer, Fleischbeile, Fleischsägen – hingen ähnlich geordnet an den Wänden, wo man sie ohne Schwierigkeiten erreichen konnte. In der Aufteilung und im Betreiben ihrer Küche bewies die Hausfrau aus der Alten Welt ihre Haupttugend, die Tüchtigkeit. Louise legte ein schweres Teigbrett neben den Fleischklotz auf den Arbeitstisch. Dann kippte sie den Teig aus einer Schüssel auf das Brett. Ilsa holte einen Mehlkasten. Nachdem sie die Knöpfe der Spitzenmanschetten ihres Kleides aufgeknöpft und die Manschetten bis über die Ellbogen hochgeschoben hatte, streute sie eine sorgfältig bemessene Handvoll Mehl auf das Brett und machte sich daran, es nach und nach in den Teig hineinzukneten. Louise hob den Deckel von einem Topf auf dem Herd. Der Geruch einer leise vor sich hinköchelnden Hühnerbrühe reicherte die schon sehr appetitlichen Düfte in Küche und angrenzender Speisekammer noch mehr an, wo Ilsa jemanden rumoren hörte. »Wer ist da drin, Louise?« »Der Botenjunge von Frankel. Er ist neu. Ich gab ihm einen Kaffee, weil er darum gebeten hat.« Dann flüsterte Louise hinter vorgehaltener Hand: »Er war ziemlich aufdringlich. Ich wette, Frankel wird ihn nicht sehr lange behalten.« Ilsa spürte, daß der Teig etwas fester wurde. Aber er war noch nicht fest genug. Sie bereitete den Teig nicht nach Rezept oder nach der Uhr, sondern allein nach Erfahrung und Instinkt. Sie hatte ihrer Mutter das erste Mal bei der Zubereitung von Nudeln geholfen, als sie vier Jahre alt war. Das rhythmische Kneten und Ziehen des Teigs besserte nach und nach ihre Laune. Vor sich hin pfeifend, tauchte der Botenjunge des Metzgers aus der Speisekammer auf, eine hochgewachsene, schlaksige Erscheinung von
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vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahren. Seine Haut war sehr weiß, die dunkelbraunen Augen zeigten einen lebhaften und stechenden Blick. Er trug eine schwarze Hose, eine schwarze Weste, ein weißes Hemd, dessen Ärmel rote Flecken von den verschiedenen Produkten in Frankels Fleischmarkt aufwiesen. Er stellte seine leere Kaffeetasse auf einen Stuhl und tippte an seine Stoffmütze. Seine schwarzen Haare waren sorgfältig zu einer öligen Tolle über die hohe Stirn gekämmt. Er sagte zu Louise: »Vielen Dank für den Kaffee, er war prima. Meine Mutter hat auch immer köstlichen Kaffee zubereitet. Den besten.« Louise warf ihrer Herrin einen vielsagenden Blick zu. Zu dem Botenjungen sagte sie: »Hast du das Fleisch an den Platz getan, den ich dir gezeigt habe?« »Gleich in die Eiskiste. Das ist wirklich eine große Speisekammer. Wir hatten zu Hause auch eine, wenn auch um die Hälfte größer, würde ich meinen, ‘n Morgen, Ma’am«, sagte er zu Ilsa, die ihn anlächelte und ihm zunickte, obgleich seine Augen ihr nicht gefielen. Sie tasteten sich durch die Küche, sprangen vom Kupfertopf zu einer Silberkelle, als begutachteten sie beides aus irgendeinem unbekannten Grund. »Wie lautet dein Name, junger Mann?« »Daws. Jimmy Daws.« »Louise erzählte mir, du seist ganz neu bei Abraham Frankel?« »Ja, ich hab’ vor zwei Wochen dort angefangen.« »Mr. Frankel ist ein anständiger Mann. Gefällt dir das Metzgerhandwerk?« »Ich denke schon«, sagte der Botenjunge mit einem Achselzucken, dessen träge Gleichgültigkeit ihr unangenehm auffiel. »Es ist immerhin besser, als auf der Straße Zeitungen zu verkaufen oder Schuhe zu putzen. All das habe ich schon getan und verdammt – hm, sogar viel mehr.« »Willst du denn Metzger werden?« »Das weiß ich noch nicht. Ich habe Angst, daß ich dann an Langeweile sterbe. Aber man muß schließlich von irgendwas leben, nicht wahr? Nun, guten Morgen die Damen, ich muß weiter. Noch mal danke, Herzchen.« Er ging hinaus. Die kleine Louise Volzenheim schäumte vor Wut. »Herzchen, was soll das denn heißen? Herzchen! Ein unverschämter Bengel. Solche wie der sind mir schon öfter begegnet, erzählen einem immer, in welcher Beziehung sie besser dran sind. Gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall.« Sie flüsterte schon wieder, obgleich niemand mehr da war, der hätte mithören können. »Frankel wird ihn sicher nicht behalten. Er sagte, der Junge sei ein Drückeberger.« Stirnrunzelnd blickte Ilsa auf die massive Tür zur Hintertreppe. »Ich
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mag ihn auch nicht. Ich kann nicht mal sagen, weshalb. Irgendwie kommt er mir … verdächtig vor.« Fritzi zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie, kurz nachdem sie von der Schule hereingestürmt war, atemlos zu Ilsa in den Empfangssalon gelaufen kam und ihr um den Hals fiel. »Mama, ich muß dir eine Frage stellen. Unbedingt!« Ilsa lächelte; Fritzi liebte das Spiel, Schauspieler und Schauspielerinnen. Oft redete sie nicht einmal, sondern deklamierte. »Dann frag, bitte«, sagte Ilsa mit einem Kopfnicken. »Ich habe mich mit Gertrude Emmerling in der Schule unterhalten. Wir diskutierten, und ich wurde wütend, denn Gerti sagte, die Ehe zwischen Vettern und Kusinen ersten Grades sei unpassend.« »Ersten …?« Ilsa verstummte, als ihr die Bedeutung der Frage klar wurde. Sofort unterdrückte sie auch nur den Anflug eines Lächelns. »Beschäftigt dich das so sehr, Fritzi?« »Nun –« Fritzi wand sich unbehaglich. »Ein wenig. Es ist mir einfach eingefallen, es ist nur eine Frage, Mama.« Ilsa ergriff die Hände ihrer Tochter. »Ich muß dir leider sagen, daß Gertrude Emmerling recht hat. Eine Ehe zwischen Vettern und Kusinen ersten Grades wird als anstößig empfunden. Vielfach ist eine solche Verbindung sogar gesetzlich verboten. Was die Gesetze hier in Illinois sagen, weiß ich nicht –« Sie umarmte ihre Tochter. »Aber mach dir keine Sorgen, es dauert noch ein paar Jahre, ehe du ernsthaft über die Ehe und ähnliche Dinge nachdenken mußt.« »Ich hab’ doch nur gefragt«, rief Fritzi und stürmte hinaus. Ilsa lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Fritzi war also niedergeschlagen, enttäuscht. Ilsa konnte das verstehen. Sie hatte ähnliche Schulmädchenschwärmereien durchlitten. Fritzi würde darüber hinwegkommen.
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15 JOE CROWN Joe ärgerte sich über seinen Streit mit Ilsa. Es dauerte bis zum späten Vormittag, daß er sich soweit beruhigt hatte, um Yerkes anzurufen, was ihm sogar unter idealen Umständen unangenehm war. Sie mußten noch über einen weiteren feierlichen Empfang sprechen, für dessen Gestaltung ihr Komitee ausersehen worden war. Der Empfang sollte im Union League Club am Montag, den 1. Mai stattfinden – am Eröffnungstag der Ausstellung. Auch der Präsident nähme daran teil. Die Infantin von Spanien wurde erwartet, zusammen mit einem direkten Nachkommen von Christopher Columbus. Diese Feier würde noch größer und prächtiger werden als die feierliche Einweihung im vorangegangenen Herbst. Joe hatte bereits beschlossen, die Brauerei am Eröffnungstag zu schließen. Viele Unternehmen in Chicago planten das gleiche. Das Gespräch mit Yerkes dauerte zehn Minuten. Die Verbindung war sehr schlecht. Es knisterte, und ständig war ein seltsames Pfeifen in der Leitung zu hören. Diese modernen Einrichtungen waren alles andere als vollkommen. Joe empfand nach wie vor wenig Sympathien für Yerkes. Der Mann war ein regelrechter Bandit und dachte nur an seinen persönlichen Vorteil. Seiner Bürgerpflicht kam er nur in sehr berechnender Weise nach, was er offenbarte, indem er fragte: »Ist sich eigentlich eine der Zeitungen darüber im klaren, wieviel Arbeit wir in die ganze Angelegenheit hineinstecken?« »Du meinst, ob unsere Namen erwähnt wurden? Nicht daß ich wüßte.« Joe fügte gar nicht erst hinzu, daß er niemals in die Zeitung sah, um seinen Namen im Lokalteil zu suchen. »Macht das denn einen Unterschied?« »Aber natürlich. Wenn wir all diese Mühe auf uns nehmen, gebührt uns doch einiges an Anerkennung. Warum setzt du dich nicht mit irgend jemand in Verbindung? Vielleicht mit diesem Klatschreporter Gene Field von den Daily News.« »Wenn es für dich so wichtig ist, Charles, warum tust du es nicht selbst? Ich habe alle Hände voll zu tun.« Dabei schlug er einen etwas schärferen Ton an, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. »Na schön, Joe. Wenn du das so siehst, werde ich mich mal darum kümmern.« Nach einem Klicken und einem weiteren gespenstischen Pfeifton war die Verbindung unterbrochen. Joe hängte den Hörer ein und trat von dem großen Holzkasten an der Wand zurück. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er verärgert. Und dieses Gefühl erinnerte ihn wieder an seine Diskussion mit Ilsa.
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Er verstand ihre Abneigung gegen die Brauerei, aber er ärgerte sich darüber. Sie reagierte – was recht menschlich war – rein gefühlsmäßig, aber in seinen Augen war ihre Ablehnung völlig unbegründet. Er meinte durchaus ernst, was er ihr gesagt hatte. Er führte den Betrieb auf ehrenhafte und aufrichtige Art und Weise. Er hatte sich niemals irgendwelcher hinterlistiger Praktiken bedient, wie sie in der Industrie üblich waren, etwa in Form von Preisabsprachen zwischen ein paar Herstellern, die sich in aller Heimlichkeit trafen. Oder in Form gezielter Preismanipulationen in einer bestimmten Stadt oder Region, um Konkurrenten aus dem Geschäft zu drängen. Er gestattete seinen Angestellten nicht, sich frei mit Bier zu bedienen, und sah auch nicht darüber hinweg – wie er seiner Frau klargemacht hatte. Er lieferte sein Bier nicht an Etablissements, in denen Prostitution getrieben wurde oder in denen Prostituierte offen ihrem Gewerbe nachgehen konnten. Er beschäftigte keine Kinder. Einige seiner Kollegen waren der Auffassung, daß ihm auf diese Art und Weise eine Menge guter Geschäfte entgingen. »Na schön«, pflegte er auf entsprechende Bemerkungen zu erwidern, »ich will eben um diesen Preis keine Geschäfte machen.« Und das reichte Ilsa noch immer nicht – wegen ihres Vaters und ihrer radikalen Freundinnen Miss Frances Willard von der Women’s Christian Temperance Union und Miss Jane Addams von der Hull-House-Stiftung und anderen. Joe Crown war stolz auf die Unabhängigkeit und die Intelligenz seiner Frau. Er wünschte sich nur, daß diese Unabhängigkeit und all die aufregenden Ideen der neuen Zeit – Sozialismus und Anarchismus, freie Liebe, Frauenrechte, um nur ein paar der schlimmsten aufzuzählen – sie nicht so mitgerissen hätten. Modern zu sein war für einen Mann durchaus in Ordnung. Aber nicht für eine Ehefrau. Am Nachmittag schloß er die Tür seines Büros, um sich besser auf einen Brief an Lotte konzentrieren zu können. Er schrieb ihn in schwarzer Tinte auf schwerem Büttenpapier mit einer goldenen Krone als Prägedruck am oberen Rand. Seine Handschrift war eher klein und sehr ordentlich. Meine liebe Schwester, es tut mir leid, daß ich Dir nicht schon eher geschrieben habe. Ich möchte Dir auf diesem Weg mitteilen, daß unser Neffe wohlbehalten eingetroffen ist. Er nennt sich jetzt Paul Crown, was mir sehr gefällt. Sei versichert, daß ich mich angemessen um ihn kümmern werde.
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Er überlegte für einen Moment, ehe er die nächsten Zeilen schrieb, und dabei runzelte er unbewußt die Stirn. Wir werden dafür sorgen, daß er weiter zur Schule geht. Ich hoffe, daß Du dich bester Gesundheit erfreust, daß Dein Weihnachtsfest harmonisch verlief und das neue Jahr viel Glück für Dich bereithält. Ich schreibe Dir ausführlicher, sobald ich dazu ausreichend Zeit finde. Einstweilen schicken ich und die ganze Familie Dir unsere lieben Wünsche und Grüße. Dein Dich liebender Bruder – Er tauchte seinen Federhalter erneut in die Tinte und setzte schwungvoll ein großes »J« ans Ende des Briefs. Im Vorzimmer zog er eine farbige Ansichtspostkarte aus einem Ständer, der zwei oder drei Dutzend davon enthielt. Alle Karten zeigten das gleiche Motiv: eine Darstellung der Fassade der Brauerei Crown, auf deren Ecktürmen die amerikanische Flagge wehte. Joe hatte eine Menge für die Arbeit des Werbezeichners und für den Druck bezahlt. Er war stolz auf die Karte, die er als nützliche Werbung betrachtete. Schließlich herrschte gerade eine große Nachfrage nach solchen Objekten, da sich das Sammeln von Bildpostkarten zunehmender Beliebtheit erfreute. Sogar Paul hatte eine der Karten an die schon jetzt überfüllte Merktafel in seinem Zimmer geheftet. Joe legte die Karte zu dem Brief, schrieb die Adresse auf den Briefumschlag und bat Zwick, ihn per Schiffspost abzuschicken. Während Joe an diesem Abend nach Hause fuhr und sich in seiner Kutsche entspannte, dachte er über Pauls Anwesenheit in der Familie nach. Einige seiner schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Der Junge war bereitwillig aufgenommen worden. Carl bewunderte ihn ganz eindeutig, zweifellos weil Paul älter war. Joe hätte jedoch niemals im Traum daran gedacht, daß Fritzi für ihren Vetter romantische Gefühle entwickeln würde. Der einzige dunkle Punkt war Joe juniors Reaktion auf Paul. Nicht gerade Ablehnung, aber Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar betonte Zurückhaltung. Paul litt sicherlich darunter. Joe junior stand Paul altersmäßig am nächsten, und Paul sah zu ihm auf, so wie Carl zu Paul aufschaute. Joe Crown verstand die Gründe für das Verhalten seines ältesten Sohnes nicht, es sei denn es war eine weitere Demonstration seiner Rebellion gegen die elterliche Autorität. Ach, wer konnte schon die Verhaltensweisen eines jungen Mannes
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erklären oder analysieren, der von jemandem wie Benno Strauss beeinflußt wurde? Daß Joe senior im Alter seines Sohnes genauso eigensinnig gewesen war und sich gegen die Einwände der Ängstlichen und Neidischen auf den Weg nach Amerika gemacht hatte, stand nicht länger zur Diskussion. Ich muß mit Joe reden, entschied er. Er mußte etwas gegen dessen stumme Ablehnung Pauls unternehmen. An diesem Abend klopfte er nach dem Essen an Joe juniors Zimmertür. Eine unwirsche Stimme forderte ihn knapp auf einzutreten. Joe junior hatte die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Bett ausgestreckt. Ein Buch lag auf seinem Bauch. Er klappte es zu und behielt den Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten. Zu seinem Mißfallen sah Joe, welches Buch es war. Fortschritt und Armut von Henry George. Dieses verrückte Traktat! Henry George war ein ganz Radikaler, der den privaten Besitz von Land genauso verdammte wie jene, die aus einem solchen Besitz Gewinn schlugen. Er würde sie am liebsten mit einer hohen, drückenden Steuer belegen. Henry George und seine Ideen waren das reinste Gift. »Hallo, Pa«, begrüßte ihn sein Sohn. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.« »Ja?« Das alte respektvolle Sir, daß ihm seit seiner Kindheit eingetrichtert worden war, gehörte nicht mehr zu Joe juniors Vokabular. Unbewußt hob Joe eine Hand an die Weste. Daumen und Zeigefinger griffen nach dem Eberzahn, der an der goldenen Uhrkette hing. »Ich möchte, daß du auch ein wenig von deiner Zeit mit deinem Vetter verbringst. Daß du etwas freundlicher zu ihm bist.« Joe junior seufzte. »Pa, ich arbeite sechs Tage in der Woche, erinnerst du dich? Wenn ich nach Hause komme, bin ich so müde, daß ich kaum die Augen offenhalten kann. Wie übrigens jeder andere, der in der Brauerei arbeitet«, fügte er bedeutsam hinzu. Joe Crowns Zeigefinger und Daumen glitten auf dem glänzenden Zahn hin und her. »Du bist aber nicht zu müde, um irgendwelchen radikalen Unsinn zu lesen, wie ich sehe. Du könntest mit Paul sonntags etwas unternehmen.« Joe juniors Augen schienen kälter, eisig zu werden. »Der Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich Rosie sehen kann.« »Trotzdem möchte ich, daß du zu Paul etwas freundlicher bist. Er ist ein liebenswerter Junge –« »Ja, er ist schon in Ordnung«, sagte Joe junior mit einem gleichgültigen Achselzucken. »Wenn auch noch ein bißchen jung.« »Sobald es wieder wärmer wird, möchte ich, daß du ihm die Stadt zeigst. Spiel ein wenig den Reiseführer, zeig ihm die interessanten Plätze. Ich
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verlange nicht viel von dir, Joe, aber das ist eine ganz besondere Bitte.« Sie sahen einander in die Augen, fixierten sich, als wollten sie die Willensstärke des anderen prüfen. Joe junior errötete. Er wandte den Blick als erster ab. »Okay, Pa. Ich werd’ tun, was ich kann.« »Danke, Joe. Gute Nacht.« Er machte schnell kehrt, weil er abtreten wollte, solange er sich noch als Sieger fühlen konnte. Während er die Tür schloß, schreckte die gedämpfte Stimme seines Sohnes ihn auf. »Durchaus möglich, daß dir nicht gefällt, was ich ihm zeige.« Einen Fluch murmelnd, schritt Joe Crown durch den Korridor nach unten. Der Streit am Frühstückstisch kam nicht zur Sprache, als er und Ilsa zu Bett gingen. Joe faßte unter der Decke nach ihrer Hand. Sie schmiegte sich in der Dunkelheit an ihn und duftete nach einer der Cremes, die sie für die Nacht immer in ihrem Gesicht verteilte. Sie hauchte ihm einen Kuß auf das Kinn und streichelte es zärtlich. »Wegen Pauls Anmeldung in der Schule –« »Ich rede am Wochenende mit ihm. Ich ziehe bereits Erkundigungen ein.« »Danke, Joe.« Sie küßte ihn wieder. Wenige Augenblicke später fiel sie in den Schlaf, und er hörte das sanfte Geräusch ihres Atems. Er war hellwach. Das Haus knirschte und knackte in der eisigen Kälte der Januarnacht. Er dachte an Paul. An seine Schwierigkeiten auf dem Schiff; an das tragische Feuer in New Jersey; an seinen gefährlichen Marsch nach Chicago. Automatisch verglich er diese Erlebnisse mit seiner eigenen Auswanderung als Josef Kroner. Er hatte Not, Hunger und gelegentlich sogar Ablehnung und Feindschaft erlebt. Aber während seiner langen Reise von Aalen nach Cincinnati im Jahr 1857 hatte er niemals Gewalt erfahren. Bestimmte Abschnitte waren sogar sehr schön und vergnüglich verlaufen. Er erinnerte sich noch an die erste Etappe, die Fahrt auf einem Kohlenkahn den Rhein hinunter. Er hatte dem Kapitän ein paar Pfennige bezahlt und ansonsten für seinen Lebensunterhalt gearbeitet. Er war im Frühsommer unterwegs gewesen. In einigen Nächten hatte er an Deck gelegen und zu den tausendfach funkelnden Sternen am Himmel emporgeschaut. Er hatte eine Sternschnuppe mit langem Flammenschweif beobachtet, ein phantastischer Anblick. Er verließ Bremen auf einem Schiff der Norddeutschen-LloydSchifffahrtsgesellschaft. Die Unterbringung im Zwischendeck war
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spartanisch, aber weder gefährlich noch ungesund. Die Verpflegung war einfach, aber reichlich gewesen, und der sommerliche Ozean hatte sich bis zum Ziel von seiner ruhigen Seite gezeigt. In New York City ging er an einem Ort namens Castle Garden an Land, einem riesigen, schuppenähnlichen Gebäude mit spitz zulaufendem Dach, das in einem hübschen Park an der Spitze der Halbinsel Manhattan stand. Jemand sagte, der Park trüge den Namen Battery. Es dauerte nur dreieinhalb Stunden, bis der junge Josef von den unfreundlichen und nörgelnden Behördenvertretern als Einwanderer anerkannt und von den Ärzten untersucht worden war. Er wußte, daß sehr viele Deutsche sich an und um eine Durchgangsstraße namens Bowery angesiedelt hatten. Diese fand er ohne Schwierigkeiten, ehe es dunkel wurde. In einem deutschen Restaurant trank er Bier und aß ein paar Wurstbrote, danach erkundigte er sich nach Arbeit. Es gelang ihm mit einigem Verhandlungsgeschick, sich eine vorübergehende Stelle bei dem Eigentümer zu verschaffen. Er half bei der Reparatur des Dachs, denn er brauchte Geld für die Weiterfahrt zu einer der von Deutschen bewohnten Städte im Landesinnern. Noch immer unter dem Namen Josef Kroner, schloß er die Dachreparatur nach zwei Monaten ab. Danach suchte er sich woanders Arbeit. Die Kommunikation war nicht sehr schwierig. Viele Leute in New York beherrschten seine Sprache. Er hatte sich bereits ein kleines Buch über englische Grammatik besorgt und lernte fleißig. Er fand eine Anstellung als Helfer im großen und düsteren BoweryTheater. Die Schauspiele, die er verfolgte, während er im hinteren Teil des Zuschauerraums stand, hatten im wesentlichen Schlägereien, Messerstechereien, Schießereien und versuchte Vergewaltigungen der jeweiligen Heldin zum Inhalt. Das Publikum im Parkett auf den harten Bänken ohne Lehnen schwatzte, lachte und beschimpfte sich gegenseitig. Die Zuschauer weiter oben auf den billigen Galerieplätzen waren nicht besser. Straßenlümmel, Prostituierte und ganze Familienclans bewarfen all die Schauspieler, die ihnen entweder gefielen oder die sie ablehnten, mit Münzen oder Apfelsinenschalen. Nach diesen Erfahrungen entwickelte Josef Kroner sehr frühzeitig eine Abneigung gegen das amerikanische Theater. Sobald er genug Geld gespart hätte, wollte er eine billige Fahrkarte nach St. Louis kaufen, einem Mekka für Deutsche, die soeben in Amerika gelandet waren. Der Kassierer des Theaters hatte zufälligerweise einen Bruder in Cincinnati, der eine Eisfabrik leitete. Er konnte Josef gut leiden und gab ihm daher einen Empfehlungsbrief mit. »Vergiß St. Louis«, sagte
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er. »Cincinnati ist um einiges schöner. Auch dort leben viele von unseren Leuten.« Es war schon seltsam, wie der Zufall manchmal Menschen auf einen ganz anderen Weg als den ursprünglich geplanten schicken konnte. Hätte er den Kassierer im Bowery-Theater nicht kennengelernt, hätte er sich wahrscheinlich in St. Louis niedergelassen. Und in diesem Fall hätte er wohl niemals als Lehrling in einer Brauerei angefangen, nie von einer eigenen Brauerei geträumt und sich auch nie in das Abenteuer gestürzt, von überwiegend zusammengeborgtem Geld einen solchen Betrieb in Chicago zu eröffnen. Er hätte niemals Ilsa kennengelernt, hätte weder die Gesichter seiner eigenen geliebten Kinder gesehen, seinem Neffen Unterkunft und eine Chance geboten, noch sich selbst als reichen, oft aber auch sorgenvollen Menschen in einer neuen Heimat wiedergefunden … Es war angenehm, über all das nachzudenken, während man in einer kalten Winternacht in einem warmen Bett lag. Joseph Crown war von seiner Kindheit als Josef Kroner geprägt. Seine frühesten Erinnerungen an Aalen waren sehr angenehm. Der Geruch von Hefe, Bier, frisch gebackenem Brot. Das lebhafte Geplapper der bunten und weltgewandten Gästeschar, die die zehn Zimmer des Hotel Kroner bewohnten – das im Hinterhaus sogar über eine kleine Brauerei verfügte. Als Junge spielte Josef häufig auf der gepflasterten Radgasse vor dem Hotel, oder er streunte mit anderen Jungen aus der Stadt durch die umliegenden Berge. Er zeigte hervorragende Leistungen in den verschiedenen Schulfächern, hatte aber für die strenge Routine der Schule an sich nicht sehr viel übrig. Sein Vater Thomas war ein fleißiger Mann, der sich stets über irgend etwas ärgerte. Er machte sich Gedanken über Politik, über den unbarmherzigen Adel, der das Land beherrschte, über das Schicksal Deutschlands. Seine Mutter Gertrud war eine praktische Person. Sie beaufsichtigte den Hotelbetrieb und führte die Bücher. Sie war besonders geschickt im Umgang mit Zahlen, eine Fähigkeit, die Josef von ihr geerbt hatte. Die Bedeutung der Revolution von 1848 verstand er erst viele Jahre später. Er wußte nur, daß die Familie eine schlimme Zeit durchmachte, denn sein Vater schloß sich sofort den Rebellen an, und sein älterer Bruder Alfred wurde des Nachts von Soldaten gefangengenommen und ins Gefängnis gesteckt. Alfred war neun Jahre alt, Josef sieben. Josef hatte Glück gehabt, daß man ihn nicht auch verhaftet hatte. Gertrud hatte ihn in
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einem Kleiderschrank versteckt. Alfred war erwischt worden, während er in der kleinen Halle Staub wischte. Als Alfred nach Hause zurückkehrte, war er völlig verändert. Er war geschlagen und mißbraucht worden. Er konnte nie wieder normal gehen. Weihnachten 1849 gehörte zu der schlimmsten Zeit in Josefs Leben. Thomas Kroner wurde in Stuttgart gehängt und dann zur Beerdigung nach Aalen überführt. Am ersten Abend, als der geschlossene Sarg im Haus in der mit schwarzen Tüchern verhangenen Hotelhalle aufgestellt war, kam Josef zitternd herein. Er begriff, daß sein Vater in der billigen, rohen Holzkiste lag. Er warf sich auf den Sarg, schlug mit den Fäusten darauf ein, schrie seinen Haß und seine Trauer hinaus, bis er vom protestantischen Geistlichen der Familie weggezerrt wurde. Der Pastor schaffte Josef hinauf in sein Zimmer, während Gertrud, vom Kummer überwältigt, tatenlos zusah, unfähig einzugreifen. Der Pastor stieß Josef in sein Zimmer, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Josef schrie und trommelte gegen die Tür. Ein paar Minuten später hörte er draußen ein Scharren. Es war Alfred mit seinem bandagierten, verkrüppelten Fuß. Alfred flüsterte ihm durch die Tür etwas zu, versuchte ihn zu trösten. Vergeblich. Josef schrie erneut, lauter noch als vorher. Schließlich wurde der Schlüssel zum zweiten Mal herumgedreht, der Pastor kam mit einer Schüssel kalten Wassers herein und schüttete es dem jammernden Jungen über den Kopf. Josef wurde durch diese Dusche wieder in die Normalität zurückgeholt. Er rannte aus dem Zimmer hinaus nach unten und sank schluchzend seiner Mutter in die Arme. Er hatte sich noch nie so verrückt benommen. Er sollte es auch nie wieder tun. Nachdem Thomas Kroner zur ewigen Ruhe gebettet war, brachen für die Brauerei und das Hotel schwere Zeiten an. Es gab einfach zuviel Arbeit. Und Josefs Mutter war eine gebrochene Frau. Zuerst wurde 1851 die Brauerei geschlossen. Das Hotel wurde vernachlässigt, bekam einen zunehmend schlechten Ruf. Die Stammgäste blieben aus. Als Gertrud 1853 an einem Herzinfarkt starb, organisierten Freunde der Familie den Verkauf des Betriebs. Es wurde nur ein sehr niedriger Preis erlöst, der kaum ausreichte, um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen. Josef zog zu einer Familie ihrer Glaubensgemeinschaft, das gleiche taten auch sein Bruder und seine Schwester. So lebten sie mehrere Jahre lang, wanderten von einer Familie zur anderen wie Pakete, die niemand haben wollte. 1855, enttäuscht von Deutschland, von der Grausamkeit seiner
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Regierenden, der Hoffnungslosigkeit des Lebens dort, begann Josef aufmerksam zuzuhören, wenn jemand von Amerika erzählte, und fing an zu sparen. 1857, mit fünfzehn Jahren, verließ er Aalen für immer. Seine Schwester Charlotte war erst zehn, als er sich verabschiedete. Gerhard war kaum neun Jahre alt und bereits ein unangenehmer Junge, wahrscheinlich weil er nie einen richtigen Vater gehabt hatte. Später berichtete Gerhard in einigen Hetzbriefen an Josef, daß ihre Schwester in Berlin die Geliebte irgendeines Mannes sei, wenn nicht sogar eine richtige Hure. Josef, der sich mittlerweile Joseph Crown nannte, entschied, all dem keinen Glauben zu schenken. Er stellte niemals Nachforschungen an. Er hörte jedoch auf, Gerhard zu schreiben. Er schickte nicht einmal mehr Weihnachtsgrüße, was, nach Ilsas Meinung, unchristlich war. Am Ende der ersten Januarwoche 1893 fielen in Chicago fast vierzig Zentimeter Schnee. Am Sonntag – bei eisiger Kälte türmten sich noch immer Schneehaufen in den Straßen – holte Joe die ganze Familie nach draußen. Alle waren da außer Joe junior, der bereits zum Lincoln Park gegangen war, um dort mit seinen Freunden Schlittschuh zu laufen. Seine Freundin sei unpäßlich, hatte er beim Frühstück verkündet. Ilsa und die Kinder zogen sich ihre dicksten Mäntel, Ohrenschützer, Handschuhe und Stiefel an. Joe begnügte sich mit einem langen roten Schal, den er sich über Rock und Weste mehrmals um den Hals schlang. Seine Lederhandschuhe steckte er in die Taschen, weil sie seine Hände zu unbeholfen machten. Er nahm auch seine Kodakkamera mit. »Stellt euch bitte in einer Reihe auf! Ich möchte euch vor den Schneehaufen photographieren.« »Joe, die Sonne ist so hell«, sagte Ilsa. »Ich kann kaum was sehen. Kann man denn auf dem Bild nachher mehr als nur ein weißes Leuchten erkennen?« »Keine Ahnung, das ist für mich auch ganz neu. Wir werden es ja feststellen.« Joes Finger waren taub vor Kälte, als sie den schwarzen Kasten mit der rauhen Oberfläche hielten. Als er die Augen zusammenkniff, um den Ausschnitt für sein Bild zu bestimmen, bemerkte er Pauls Gesicht. Die Augen des Jungen fixierten die Kamera. Das einzige Wort, das seinen Zustand richtig beschreiben konnte, war »gebannt«. Fritzi streckte Carl die Zunge heraus, dann kicherte sie und zupfte an Pauls Ärmel, um ihm etwas zu sagen. Er achtete nicht darauf. Nachdem sie wieder ins Haus zurückgekehrt waren, um in der Küche heißen Kakao zu trinken, sagte Joe: »Paul, komm doch mal bitte in mein
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Arbeitszimmer. Ich wollte schon die ganze Woche mit dir reden. Das ist jetzt ein günstiger Moment.« Joe Crowns Arbeitszimmer war ein kleiner Raum im ersten Stock der Villa. Dorthin zog er sich abends oder am Sonntag nach der Kirche und nach dem Abendessen zurück, erledigte irgendwelche Brauereiangelegenheiten, die er sich nach Hause mitgenommen hatte, oder beschäftigte sich mit Dingen, die die Familie betrafen – Fragen der Disziplin, irgendwelche Ratschläge, was immer gerade von Bedeutung war. »Schließ bitte die Tür, Paul, und setz dich.« Paul zog sich einen Sessel an den Schreibtisch heran. Joe legte die kastenförmige schwarze Kodakkamera auf einige Papiere. Winterlicher Sonnenschein flutete in den Raum. Er schien Paul zu blenden, so daß er blinzelte. Ehe Joe sich soweit gesammelt hatte, um zur Sache zu kommen, machte Paul schon den Mund auf. »Onkel Joe, wieviel hat das da gekostet?« Er deutete auf die Kamera. Joe sah den Jungen verblüfft an. »Wieso? Wünschst du dir so etwas?« »Sehr sogar, später mal, ja.« Pauls Englisch war noch sehr unbeholfen und hatte einen starken Akzent. Es klang stockend und wurde häufig von Pausen unterbrochen. Joe nahm die Kamera in die Hand. »Eastman bietet mittlerweile mehrere Modelle an. Dieses hier kostet genau acht Dollars und zwanzig Cents. Ein Sonderangebot. Und nun –« »Ich habe noch eine andere Frage, Onkel. Gibt es jemand, der mit Photographien Geld verdient?« Joe überlegte. »Vielleicht die Drucker, die Postkarten herstellen oder Bilder für Stereoskope in den Saloons.« »Ich meine – ob jemand Geld verdient –, indem er nur auf den Knopf drückt?« »Ach so. Indem er Bilder aufnimmt. Nein, das glaube ich nicht. Anständig leben kann man davon sowieso nicht. Ich habe in der Stadt einige Porträtstudios gesehen. Ziemlich schäbige Läden.« Paul runzelte die Stirn. »Schäbig. Armselig.« Jetzt verstand er. Paul lächelte, nickte. »Es ist eine bemerkenswerte Erfindung, aber ich glaube kaum, daß es jemals mehr sein wird als eine Kuriosität. Überleg doch mal, wie viele Bilder von seiner Familie oder von der Chinesischen Mauer kann jemand schon haben wollen?« Er legte die Kamera beiseite und bemerkte dabei den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Neffen. »Paul, ich muß mit dir über zwei Dinge reden, die beide mit deiner Erziehung und Ausbildung zu tun haben. Ich habe mit einem Mann
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gesprochen, der dich in Englisch unterweisen kann, und mit einem anderen unterhalte ich mich am nächsten Dienstag. Dann werde ich meine Entscheidung treffen. Wenn du hier im Haus Unterricht erhältst, ist es sicher für dich eine große Hilfe.« »Vielen Dank, Onkel.« »Deine Tante und ich haben uns ausführlich über dein Wohlergehen unterhalten. Wir denken – sie denkt –, daß du eine öffentliche Schule besuchen sollst. Zwar ist dein Englisch alles andere als perfekt – mißversteh mich bitte nicht, du hast in der verhältnismäßig kurzen Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht –, aber ich bin überzeugt, daß du die Sprache gut genug beherrschst, um einem Schulunterricht folgen zu können, wenn auch in einer etwas niedrigeren Klasse als deinem Alter eigentlich entspricht. Der Hauslehrer wird sicherlich auch von großem Nutzen sein. Daher werden wir dich so bald wie möglich auf eine Schule schicken.« »In dieselbe wie die von Fritzi und Carl?« »Nein, in eine andere, am anderen Ende der Stadt. Ich habe mich von einem Freund, George Hesselmeyer, beraten lassen. Er sitzt im Schulausschuß von Chicago. Dem Ausschuß gehören mehrere deutsche Mitglieder an. Hesselmeyer empfahl diese spezielle Schule wegen ihrer hervorragenden Lehrerschaft.« »Was für eine Schule ist es denn?« »Eine Volksschule. Aber du kommst gleich in die höchste Klasse. Dort triffst du noch andere Jungen und Mädchen, die – ist etwas nicht in Ordnung?« Pauls Handflächen lagen auf den Knien seiner Knickerbocker. Er drückte sie so fest zusammen, daß die Knöchel weiß wurden. »Sir, ich bin nicht gut im Lernen. Ich weiß nicht warum, aber es ist so.« »Magst du keine Schularbeit?« »Ehrlich gesagt, Sir – nein. Die Bücher – sie sind so langweilig. Die Lehrer auch. Ich möchte Dinge über Amerika lernen. Aber ganz frei. Direkt in der Stadt. Indem ich herumlaufe, mich umschaue –« »So wie du Lust und Laune hast, nicht wahr?« Sonnenschein lag auf der rechten Gesichtshälfte Joe Crowns, ließ sie hell und weiß werden, bis sie an weißen Marmor erinnerte. Er lächelte nicht mehr. Er verlieh seiner Stimme etwas mehr Kraft, hatte Mühe, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ich fürchte, wenn du in dieser Welt alles nur nach Lust und Laune tust, wirst du es nicht sehr weit bringen, Paul. Du mußt richtig ausgebildet werden.« »Ich bringe mir alles selbst bei, Sir. Lerne ganz allein –« Joe unterbrach ihn in scharfem Ton. »Kennst du das alte Sprichwort
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nicht?« Er sagte es auf deutsch. »Wer sich selbst lehrt, der hat einen Narren zum Schulmeister.« Er wartete. »Hast du dazu noch etwas zu sagen?« »Ja, Sir. Mein Vetter, Joe, er arbeitet in Ihrer Brauerei. Könnte ich das nicht auch?« Mittlerweile lag in Pauls Stimme ein Ausdruck der Verzweiflung. »In einem oder zwei Jahren, wenn wir sehen, wie du vorankommst, dann ist das vielleicht möglich. Ich will nicht zu streng sein, Paul, aber du lebst in meinem Haus, ich bin für dich verantwortlich, deshalb treffe ich die Entscheidung, Du wirst angemeldet.« Paul ließ den Kopf sinken. »Ja, Sir«, sagte er leise. Er war am Boden zerstört. Seine Miene war die eines zum Tode Verurteilten. Joe Crown verspürte plötzlich eine innere Unruhe. Ilsa hatte sich geirrt, er war nicht dafür geeignet. Aber er konnte seine eigene Autorität nicht untergraben, indem er irgend etwas von seinen Entscheidungen zurücknahm oder gar nachgab. Mann und Frau mußten geeint auftreten, eine gemeinsame Front bilden. »Es wird schon gehen«, sagte Joe, nun etwas freundlicher. »Bald wirst du dich in der Schule wie zu Hause fühlen.« Paul nickte düster. »Danke, Paul, das ist im Augenblick alles.« Paul erhob sich, schob den Sessel an seinen Platz zurück und ging lautlos hinaus. Joe Crown legte eine Hand auf die Kodakkamera und dachte nach. Der Junge war klug. Hunderte von Menschen hatten sich selbst das nötige Wissen angeeignet. Auch er hatte es geschafft. Er hätte Ilsa widersprechen sollen. Er hatte das sichere Gefühl, daß diese Angelegenheit kein gutes Ende nehmen würde. 16 PAUL Schon der Gedanke an Schule war Paul verhaßt. Aber er war seiner Tante und seinem Onkel zutiefst dankbar für die Fürsorge und die Liebe, die sie ihm gegenüber bewiesen, und wollte nicht undankbar erscheinen. Er hatte vor Onkel Joe kapituliert. Er würde sich alle Mühe geben, aber er hatte wenig Hoffnung auf Erfolg. Zum Beispiel war Paul im Gegensatz zu seinem Onkel, der die Mathematik als edle und wichtige Wissenschaft betrachtete, im Umgang mit Zahlen nicht sehr geschickt. Zahlen interessierten ihn nicht, würden es auch niemals. Ja, die Aussicht, eine Schule zu besuchen, war wirklich furchtbar.
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Jeden Tag lernte Paul seine Vettern besser kennen. Carls Lieblingssportarten waren Baseball, Ringen und ein anderes ihm fremdes Spiel namens Football. Es waren Sportarten, bei denen Carl seine Kräfte mit anderen Jungen messen konnte. Das gefiel ihm. Immer wieder wollte er mit Paul Ringkämpfe austragen an verbotenen Orten im Haus, zum Beispiel im Wohnzimmer. Ab und zu gab Paul ihm nach. Er war größer als Carl und stärker, aber es war niemals ein einseitiger Wettstreit. In Carls rundlichem Körper steckten erstaunliche Kräfte. Joe junior hatte wenig Interesse an Gesellschaft und derartigen Wettbewerben, er war eher ein Einzelgänger. Er bevorzugte Aktivitäten, die er allein ausüben konnte, sprach vom Schwimmen im Michigan-See; es reizte ihn, sich weit in den See hinauszuwagen, gegen riesige Wellen und gefährliche Strömungen anzukämpfen. Er lief gerne Schlittschuh und ging fast jeden Sonntag im Winter, wenn er seine Freundin in Pullman nicht besuchen konnte, in den Lincoln-Park. Schlittschuhlaufen war in Deutschland sehr beliebt, aber Paul hatte es nie gelernt. Tante Lotte sagte immer, sie könnten es sich nicht leisten, ihr Geld für Schlittschuhe zu vergeuden. Paul wünschte sich, daß Joe ihn an einem Sonntagnachmittag einmal mitnehmen würde, aber das tat er nicht. Wahrscheinlich betrachtete sein älterer Vetter ihn als einen kleinen dummen Jungen. Fritzi war viel offener als die beiden Vettern; sie äußerte ihre Gefühle zu allem bereitwillig. Sie seufzte ständig, sank oft in einer gespielten Ohnmacht auf irgendwelche Sitzmöbel und legte theatralisch das Handgelenk gegen die Stirn. Tante Ilsa amüsierte sich darüber. Paul hielt dieses Benehmen für albern. Fritzi verschlang Romane und Bücher über Träume und deren Bedeutung. Ihre wahre Leidenschaft war jedoch die Bühne, das Theater. Schauspieler, Schauspielerinnen, die Welt der Kulissen und der Schminke und der Illusion. Fritzi sagte, daß sie mit ihrer Mutter, und manchmal auch mit ihrem Vater, das Theater besuchte, ihr Vater dafür aber nicht sehr viel übrig habe. Fritzi verfolgte Paul auf Schritt und Tritt. Ob er sich nicht ihre Sammlung von Theaterprogrammen ansehen wolle? Oder ihre neueste Pantomime? Ob sie ihm den göttlichen Edwin Booth darstellen solle? Oder den atemberaubend attraktiven James O’Neill, den Star der Bühnenproduktion Der Graf von Monte Christo? Wie wäre es dann mit der polnischen Schauspielerin Helena Modjeska oder der grandiosen Eleonora Düse? Paul hatte noch nie etwas von einem dieser Schauspieler gehört. Er äußerte das auch, aber das störte Fritzi nicht im geringsten.
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Außerdem hatte sie eine seltsame Art, ihn am Abendbrottisch in Verlegenheit zu bringen. Wenn er irgendeine völlig harmlose, nebensächliche Bemerkung machte und dabei auch noch lächelte, warf Fritzi sich nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals, als sei er die geistreichste Persönlichkeit weit und breit. Nein, es war mehr als ein Lachen. Es war ein Aufschrei, ein begeistertes Kreischen. Tante Ilsa seufzte nur, und Onkel Joe hob die silbergrauen Augenbrauen, während Joe junior lediglich murmelte: »Oh, werd endlich erwachsen.« Während Paul darauf wartete, weitere Neuigkeiten über seinen Hauslehrer zu erfahren, offenbarte Carl eine andere Seite seiner Persönlichkeit. An einem ungewöhnlich warmen Nachmittag sprach er Paul an, der gerade im unteren Stockwerk des Stalls mit Fensterputzen beschäftigt war. »Hallo, Paul.« »Hallo.« Diese englische Begrüßung kam ihm mittlerweile sehr leicht über die Lippen. »Was macht deine Uhr?« »Meine Uhr? Die ist in Ordnung. Sie geht ganz genau.« »Möchtest du mal meine Uhr sehen?« »Ja, klar.« »Papa und Mama haben sie mir vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt.« Carl holte sie aus seiner Hosentasche. Das vergoldete Gehäuse glänzte im Sonnenschein. »Sie ist mir im vergangenen Sommer in den Michigan-See gefallen. Papa weiß nichts davon. Sie ging nicht mehr, deshalb habe ich sie repariert. Ich nehme gern Dinge auseinander und setze sie wieder zusammen. Willst du mal sehen?« Paul nickte. Carl holte ein kleines Taschenmesser hervor. Er schob die Spitze der Klinge unter den Rand des fest aufsitzenden Uhrdeckels. Er hebelte mit dem Messer herum, aber der Deckel öffnete sich nicht. Wahrend er sich vor Konzentration auf die Unterlippe biß, verstärkte er seine Bemühungen. Plötzlich sprang der Deckel ab. Eine Feder flog heraus. Reflexartig streckte Paul sich und griff danach. Er fing die Feder auf, trat jedoch beinahe in einen Wassereimer. Als er Carl die Feder reichte, sagte Carl: »Du bist aber flink. Du solltest wirklich Baseball spielen.« Carl stocherte mit dem Messer im Innenleben der Uhr herum. Ein winziges, messingfarbenes Teil fiel ins trockene Gras. Beide Jungen knieten sich auf den Boden und begannen zu suchen. Nach einigen Minuten fand Carl das Teil. Er setzte es wieder in die Uhr ein und schloß den Deckel mit
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einem etwas ratlosen Blick. »Ich glaube, ich muß es mir noch einmal ansehen.« Paul sagte nichts dazu. Carl verstaute Uhr und Messer in der Hosentasche. Von der hinteren Veranda rief Tante Ilsa, er solle hereinkommen und seine Hausaufgaben machen. Carl ging ein paar Schritte, blieb dann stehen und drehte sich um. »Ich mag dich, Paul.« Er rannte ins Haus. Aha, dachte Paul, außer sich vor Freude. Das sind schon zwei. Bleibt nur noch einer. Ende Januar saß Paul an einem Nachmittag in der Küche und trank eine Tasse heißen Kakao, die Louise für ihn zubereitet hatte. Tante Ilsa vermischte gerade Roggenmehl, ein wenig Wasser und ein paar Stücke alten Pumpernickels miteinander, um ihren Grundteig für einen neuen Vorrat Schwarzbrot vorzubereiten. Sie hielt in ihrer Arbeit inne, um Paul nach seinen Hobbys zu fragen. Er verstand kein Wort. »Etwas, das du besonders gerne zum Vergnügen tust.« Er sagte, er sammle sehr gerne Postkarten mit Photos von fernen Orten. »Aha, Ansichtskarten. Davon gibt es in Amerika sehr viele. Ich glaube, du brauchst irgend etwas, um sie in deinem Zimmer aufhängen zu können, oder?« Sie gab Carl den Auftrag, mit ihm im Keller nachzuschauen, ob sie nicht ein glattes Holzbrett finden konnten. Nicky Speers trieb eine Dose graue Farbe und einen Pinsel auf. Helga Blenkers war Paul dabei behilflich, das frisch gestrichene Brett mittels Haken und Draht in seinem Zimmer aufzuhängen. Es wirkte ziemlich wuchtig, aber Tante Ilsa meinte, es sehe hübsch aus. Mit einigen Nadeln, die sie ihm gab, heftete er vorsichtig die Stereoskopkarte an das Brett. Aus ihrer Schürzentasche holte Tante Ilsa dann eine nagelneue Ansichtspostkarte hervor, auf der hohe Wellen zu sehen waren, die ans Ufer des Michigan-Sees brandeten. Paul befestigte auch diese Karte. Ilsa betrachtete den hölzernen Globus und den Ständer. Sie drehte den Ständer um und entdeckte den Namen des deutschen Herstellers. »Paul, ich habe noch einen anderen Vorschlag für dich. Dir ist sicherlich klar, daß du schon ein weitgereister Junge bist. Vielleicht solltest du diese Reisen hier aufzeichnen. Mit einem winzigen Punkt für jeden wichtigen Ort, den du schon besucht hast.« Er war begeistert. Also wurde aus dem Keller eine weitere, kleinere Farbdose geholt sowie ein sehr feiner Pinsel. Während seine Tante ihm
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zusah, setzte er einen winzigen Tupfer dunkelroter Farbe auf Berlin, dann einen Tupfer auf Hamburg, einen dritten auf New York und einen vierten auf Chicago. »Das sieht aber gut aus«, stellte Tante Ilsa fest, »es mindert die Schönheit des Globus überhaupt nicht. Im Laufe deines Lebens wirst du sicherlich noch viele andere Plätze und faszinierende Orte sehen. Da bin ich mir ganz sicher.« Sie umarmte ihn. Angesichts dieses neuen Beweises von Zuneigung schmolz er geradezu hin. Für Tante Ilsa – und auch für Onkel Joe – würde er die Schule ertragen, obgleich er genau wußte, daß es die reinste Hölle würde. Eines Tages kam Mr. W.E. Mars – Winston Elphinstone Mars –, geboren in Genesee Depot, Wisconsin, durch den hohen Schnee gestapft, bekleidet mit einem langen, fadenscheinigen Mantel mit Pelzkragen und einem weichen braunen Hut mit herabhängender Krempe. Er war der Hauslehrer. Mr. Mars war in den Dreißigern und so bleich wie frischgefallener Schnee. Er trug sein tintenschwarzes Haar mit einem Mittelscheitel und verschönte seine schäbige Kleidung mit seltsamen Verzierungen. Zum Beispiel mit einem kunstvoll gerafften Ziertuch aus feuerroter Seide; oder mit einer großen Sonnenblume, die aus bunten Stoffstreifen genäht war. In der Tasche trug er ein dünnes Büchlein von einem Mr. Wilde, den er offensichtlich verehrte. Paul hatte noch nie von diesem Mann gehört. Mr. Mars war eingestellt worden, um Paul jeden Nachmittag von drei bis sechs Uhr in seinem Zimmer zu unterrichten. Der Hauslehrer war ein sanfter, geduldiger Mann, und Paul mochte ihn auf Anhieb. Mr. Mars brachte seinem Schüler das Lesen bei, indem er ihm ein Buch mit dem Titel McGuffey’s Fifth Eclectic Reader gab. Die teuflischen Vertracktheiten der englischen Grammatik lehrte er mit Hilfe von Kreide und Schiefertafel. Das Lesebuch enthielt Auszüge aus Reden und Schriften bekannter Redner, Politiker, Philosophen und Dichter. Mr. Mars’ Lehrmethode bestand darin, daß er stundenlang geduldig zuhörte, während Paul langsam und mühsam vorlas, und jede falsche Aussprache behutsam verbesserte. Der Hauslehrer erklärte schwierige Wörter, aber er verlangte nicht, daß Paul irgend etwas auswendig lernte. »Wenn du anfängst, die Schule zu besuchen – wahrscheinlich im Februar, wenn das zweite Semester beginnt –, wirst du genauso vorlesen müssen. Das ist die übliche Methode. Aber du wirst auch lange Wortlisten auswendig lernen müssen. Ich versuche, etwas fortschrittlicher zu sein.« Am Mittwoch der letzten Januarwoche fand Paul den Mut, Mr. Mars in ein persönliches Gespräch zu verwickeln, um zu erfahren, ob die
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Hauslehrertätigkeit seine einzige Beschäftigung war. »O nein, ich habe schon vieles gemacht, obgleich ich denke, daß ich als Pädagoge am besten bin. Vor längerer Zeit entschied ich, daß der Zweck meines Daseins auf dieser Erde darin besteht, die schönen Dinge des Lebens zu erproben. Beruf, Essen, die Notwendigkeit, sich jeden Morgen zu waschen und anzuziehen – alles das dient nur dazu, Erhabenes zu erreichen.« Verblüfft sagte Paul: »Ich glaube, ich lese noch etwas.« Wahrend Mr. Mars an diesem Abend seinen Mantel und seinen Hut in der unteren Halle anzog, lauschte Paul auf dem oberen Treppenabsatz. Der Hauslehrer unterhielt sich mit Joe junior und redete von einem »neuen Zeitalter des Wahren und Schönen«. »Zum Teufel damit«, sagte Joe junior herausfordernd. »Das einzige Zeitalter, das wir erleben werden, ist ein neues Zeitalter der Revolution der Massen.« »Das ist ein häßlicher Gedanke, junger Mann. Nur schöne Gedanken machen auch das Leben schön.« Joe junior widersprach ihm, indem er ein weiteres, noch unverschämteres Wort murmelte. Mr. Mars war offensichtlich beleidigt, verließ das Haus und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Joe klopfte sich vergnügt auf die Schenkel und lachte schallend. Wie forsch sein Vetter doch war, dachte Paul und legte seine Wange gegen das polierte Treppengeländer. Am gleichen Abend rief Onkel Joe Paul wieder in sein Arbeitszimmer. Er kam herein und blieb vor dem Sessel seines Onkels stehen, nervös wie immer, wenn er sich in diesem Zimmer aufhielt. »Was deine Schulausbildung angeht, so habe ich eine weitere Entscheidung getroffen, Paul. Ich will es dir erklären. Lange bevor deine Tante und ich nach Chicago kamen, haben die Deutschen hervorragende Privatschulen zur Ausbildung ihrer Kinder gegründet. Diese Schulen gibt es noch immer, und sie stehen in hohem Ansehen. Sie sind in den meisten Punkten fraglos besser als die öffentlichen Schulen. Trotzdem betrachte ich sie als elitär, das heißt, sie sind nur für wenige Leute zugänglich.« Paul nickte. »Eine öffentliche Schule ist viel demokratischer. Diese Familie hat sich aus freiem Willen entschieden, amerikanisch zu sein, deshalb besucht Fritzi eine öffentliche Schule. Carl ebenfalls. Joseph junior besuchte eine solche, ehe wir ihn in eine Privatschule stecken mußten. Übrigens mit dem gleichen Mangel an Erfolg.«
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Er schwieg einen Moment lang mit geschürzten Lippen. Seine Hand sank herab, ließ den Eberzahn los, den die Finger gerieben hatten. »Die öffentlichen Schulen in Chicago – ich darf wohl sagen im ganzen Land – bedürfen einer dringenden Neuorganisation. Sie lehren so gut wie keine Naturwissenschaften, ein Mangel, der in dieser Ära der Industrie und der Erfindungen geradezu kriminell ist. Es gibt dort keine Leibeserziehung oder Sport. Trotzdem – und darin stimmt deine Tante mir zu – kommt für dich nur eine öffentliche Schule in Frage.« Paul wartete. »Heute telephonierte ich mit dem Leiter der Schule, die du besuchen wirst. Er hat viel Verständnis für deine Situation als Neuankömmling. Er wird dafür sorgen, daß du eine besondere Betreuung erfährst und in die richtige Klasse kommst. Am nächsten Montag bringe ich dich mit unserer Kutsche zur Schule – hab keine Angst, ich gehe nur bis zum Büro mit, um die notwendigen Papiere zu unterschreiben. Danach benutzt du für den Hinund Rückweg die Straßenbahn.« Onkel Joe schwieg einen Moment. »Hast du dazu etwas zu sagen?« Ein tiefer Unwille regte sich in Paul. Ihm kam es so vor, als hätte sein Onkel ihm gerade die Wahl zwischen dem Galgen und einem Erschießungskommando angeboten. Er faßte sich ein Herz, nahm eine betont gerade Haltung an und blickte seinem Onkel in die Augen. »Ich möchte eigentlich nicht dorthin gehen, Sir. Ich würde viel lieber arbeiten.« »Das weiß ich. Aber die Sache ist entschieden. Gute Nacht, Paul.« Er hatte sich längst wieder seinem Schreibtisch zugewandt, als Paul an der Tür war. Am Samstagabend wurde Chicago wieder von einem Schneesturm heimgesucht. Er zog ziemlich schnell weiter und ließ ungefähr zwanzig Zentimeter Schnee auf den Gehsteigen rund um die Crown-Villa zurück. Nach dem Kirchgang am Sonntagmorgen – an dem Joe junior offenbar mit elterlicher Billigung nicht teilzunehmen brauchte – zogen Paul, Carl und Joe junior sich warm an und begannen die Gehsteige freizuschaufeln. Nach ein paar Minuten hielt Joe junior inne, stützte sich auf seine Schaufel und sagte zu Paul: »Morgen ist dein großer Tag, nicht wahr?« Joes Augen funkelten im Sonnenschein. Sein Lächeln war voller Spott. »Erzähl mir ja nicht, daß du ganz wild darauf bist.« »Nein, nein, ich hasse es.« Pauls Atem bildete eine dicke weiße Wolke, als er sprach. »Mir ging es genauso. Und ich bin wieder rausgekommen. Du kannst es
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auch schaffen.« »Ich wüßte nicht wie.« »Indem du dich einfach weigerst.« Paul kaute auf seiner Unterlippe, die von der Kälte rauh und rissig war. »Das kann ich nicht. Ich habe gesagt, daß ich hingehe.« »So ein Mist. Es hat nichts mit der realen Welt zu tun. Mit der rauhen Wirklichkeit. Was die Lehrer einem erzählen, ist keinen Cent wert. Aber ich habe ein paar Freunde in der Brauerei, die dir eine Menge beibringen können.« Er sah zum Haus hinüber, kniff die Augen zusammen, als er ins grelle Sonnenlicht sah, das von den Fenstern reflektiert wurde. »Eine Menge. Wenn du dir vornimmst, aus der Schule rauszukommen, dann schaffst du es auch. Lerne nicht. Stell dich dumm an, wenn du etwas gefragt wirst. Mach ein wenig Ärger – denk dir irgendwelche Streiche aus. Die Lehrer müssen dich hassen. Auf diese Art und Weise bin ich aus drei Schulen rausgekommen. Du müßtest es auch schaffen, denn du scheinst nicht dumm zu sein.« Paul studierte das Gesicht seines Vetters. Soweit er erkennen konnte, meinte Joe junior das Kompliment durchaus ernst. Paul begriff plötzlich, daß sein Vetter ihn zu seinem Verbündeten machen wollte – vielleicht sogar zum Freund. Nichts hätte ihn glücklicher machen können, wenn da nicht der Preis gewesen wäre, den er dafür zahlen müßte. »Joe – deine Mutter, dein Vater –, sie waren so gütig zu mir. Wenn ich wirklich täte, was du mir geraten hast, wären sie sehr enttäuscht. Sie wären zornig auf mich. So etwas könnte ich ihnen nicht antun.« »Ach, so ist das!« Joe juniors Gesicht verzog sich ärgerlich. »Sie haben dich eingewickelt.« »Eingewickelt? Wie meinst du das? Ich versteh’ dich nicht.« »Vergiß es«, sagte Joe und entfernte sich. Er suchte sich ein Stück Gehsteig, das noch von Schnee bedeckt war, und begann mit schnellen, wütenden Bewegungen zu schaufeln. Nach dem Abendessen am Sonntag erhob Tante Ilsa sich lächelnd von ihrem Platz. »Wir haben eine Überraschung für dich, Pauli.« Sie holte einen großen Teller aus der Küche, auf dem eine Zuckertüte lag. Es war ein aus Blätterteig geformtes Horn, das mit Bonbons, Keksen und Nüssen gefüllt war, die vom Teller herunterzupurzeln drohten. Tante Ilsa stellte den Teller vor ihm auf den Tisch. »Bestimmt kommst du dir dafür viel zu alt vor. Aber es ist ein uralter Brauch, am ersten Schultag eine Zuckertüte zu schenken. Wenn du morgen nachmittag nach deinem ersten Schulunterricht heimkommst, darfst du alles essen, was auf
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dem Teller ist.« Onkel Joe lächelte. Tritzi rief: »Hurra!« Carl strahlte begeistert. »Darf ich auch etwas von den Sachen haben?« Joe junior verschränkte die Arme und lehnte sich schweigend zurück. Paul war fast zu Tränen gerührt. Wie könnte er sich nur gegen Leute auflehnen, die so gütig zu ihm waren? Der Montagmorgen war grau wie der Tod. Ein eisiger, feuchter Tag. Ein paar Schneeflocken schwebten herab. Die Kutsche hielt vor dem zweistöckigen Schulgebäude. Es war riesig, abweisend, ein häßlicher Kasten aus Klinker und Granit. Ein Gefängnis, außer daß die Gitterstäbe vor den erleuchteten Fenstern fehlten. Wenig später stiegen Paul und sein Onkel die abgetretene Holztreppe hinauf. Man hatte sie gebeten, eine Stunde nach Beginn des normalen Unterrichts ins Sekretariat zu kommen. Nach der letzten Treppenstufe drehte Paul sich um und schaute hinunter auf den Landauer, die dampfenden Nüstern der Kutschpferde, die triste, verlassene Straße, die tausend Verlockungen bereitzuhalten schien … Das Gesicht seines Onkels schob sich davor. Die dunklen Augen hinter den Gläsern in dem stählernen Brillengestell schüchterten Paul ein. »Bitte, geh hinein«, sagte Onkel Joe ungeduldig. Der Direktor, Mr. Relph, schüttelte Paul die Hand und sagte zu Onkel Joe, daß dem neuen Schüler, der sich gewiß noch nicht in Amerika eingelebt habe, jede Hilfe zuteil werden solle. Daher sei er der Klasse zugeteilt worden, die von einer der besten Lehrerinnen der Schule, Mrs. Petigru, unterrichtet werde. Onkel Joe nickte zufrieden. Das klinge vielversprechend. Er wünschte Paul viel Glück und verabschiedete sich von ihm. Paul folgte dem Direktor durch einen muffigen, düsteren Flur zu einer Holztür mit einem kleinen Glasfenster. Voller Entsetzen sah Paul die Schüler, die in dem Raum saßen. Vielen sahen aus, als seien sie mindestens ein Jahr jünger als er, und viele waren kleiner, richtige Kinder noch. Der Schulleiter öffnete die Tür, ging mit ihm hinein. »Mrs. Petigru, das ist Ihr neuer Schüler, Paul Crown.« Nach dieser kurzen Vorstellung ging der Direktor wieder hinaus. Paul blieb abwartend neben dem Lehrerpult stehen. Ein Dutzend Köpfe wandte sich ihm zu. Ein Dutzend Augenpaare musterte ihn eingehend. Der Raum war der reinste Backofen. Mit Eisblumen an den Fenstern. Wie war das möglich? »Dein Platz ist in der zweiten Reihe. In der letzten Bank. Dort.« Mrs. Petigru deutete auf den Platz. Sie war eine unattraktive, langweilig
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aussehende Frau mit großem Busen, grauen Haaren, die zu einem Knoten frisiert waren, und mit einem Mund in Form eines Schlitzes. Ihre Stimme klang wie Peitschenschläge. Sie zeigte mit einer von Kreidestaub weißen Hand nach unten. Erschrocken gewahrte Paul, wie schmelzender Schneematsch um seine Schuhe eine kleine Pfütze bildete. »Wenn du morgen zum Unterricht erscheinst, dann vergiß nicht, deine Füße abzuputzen, ehe du hereinkommst. Und kämm dir die Haare. Du siehst unmöglich aus.« »Entschuldigung, ich habe mich gekämmt, ehe ich –« »Keine Widerworte, junger Mann. Wenn du Widerworte gibst, bekommen wir beide bestimmt Streit.« Ihr Lächeln war frostig. »Das ist Regel Nummer Eins. Regel Nummer Zwei: Ich erwarte von meinen Schülern ein ordentliches Aussehen. Du scheinst beide Regeln nicht zu kennen. Aber du wirst sie in meiner Klasse kennenlernen und beachten. Für heute setz dich still hin. Rede nicht, ehe du dazu aufgefordert wirst. Komm nach dem Unterricht zu mir, damit wir die Bücher für dich aussuchen. Das ist alles.« »Ja, Ma’am«, sagte er, so wie Carl es oft zu seiner Mutter sagte. Der Tag verstrich wie in einem trüben Nebel. Im Speisesaal sprachen einige Schüler aus seiner Klasse ihn an, aber keiner setzte sich zu ihm. Er hatte einen Tisch und eine ganze Bank für sich allein, während ihn hundert Augen anzustarren schienen. Er schlang schnell zwei Würstchen hinunter und holte dann ein hartgekochtes Ei aus einem Beutel, den Tante Ilsa persönlich gepackt hatte. Sie hatte auch einen kleinen Salzstreuer aus Glas hineingelegt. Paul aß hartgekochte Eier gerne mit Salz. Er hatte das Ei zum Mund geführt und wollte gerade hineinbeißen, als jemand in sein linkes Ohr kniff, daß er vor Schmerz aufstöhnte. In nächster Nähe hörte er schadenfrohes Kichern. Er konnte nur das hagere Gesicht von Mrs. Petigru sehen, die sich von hinten an ihn herangeschlichen und sein Ohr gepackt hatte. »Sieh dir diese Schweinerei an! Überall Salz auf dem Fußboden.« Sie beugte sich vor. Sie roch nach Mottenkugeln, genauso wie die Kleider- und Wäscheschränke von Tante Ilsa. Sie schlug den Salzstreuer heftig auf den Tisch. »Nimm dies heute nachmittag wieder mit nach Hause, und bring es nie wieder her.« Sie verschränkte die Arme und musterte mit scharfem Blick ihre Schüler am nächsten Tisch. Sie beugten schnell die Köpfe über ihre Butterbrotbeutel und Teller. »Ich will ganz offen zu dir sein, Paul«, fuhr die Lehrerin fort. »Ich
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wollte dich nicht in meiner Klasse haben. Ich habe dagegen protestiert und wurde überstimmt. Ich will dir auch verraten, weshalb ich dich nicht haben wollte. Erstens bist du zu alt. Zweitens ist dein Onkel Bierbrauer und Deutscher. Ich betrachte das als eine teuflische Kombination. Ich bin eine religiöse, gottesfürchtige Frau. Mein Mann Samuel ist Laienprediger. Wir mögen keine gottlosen Deutschen, die den Sabbat mit Ausschweifung und Alkohol schänden.« Paul ertrug das nicht. Er reckte das Kinn vor. Wut loderte in seinen Augen. »Mrs. Petigru – auch Deutsche gehen am Sonntag in die Kirche. Erst danach gönnen sie sich ein kleines Glas –« »Ich habe dir doch deutlich klargemacht, du sollst keine Widerworte geben.« Wieder dieses kalte Lächeln. »Ich hatte schon einige Schüler, die versucht haben, sich gegen mich aufzulehnen. Sie haben stets verloren.«
17 JOE CROWN Es blieb nicht aus, daß Joe Crown während der ersten Schulwochen seines Neffen zur Kenntnis nahm, daß der Junge bedrückt war und viel weniger lachte. Jeden Tag nach dem Abendessen entschuldigte er sich und verschwand in seinem Zimmer, wahrscheinlich um zu lernen. Mehrmals fragte Joe den Jungen, wie er zurechtkomme. Die Antwort lautete stets gleich. »Prima, Onkel Joe.« Joe kamen sehr bald Zweifel. Und wenn er in Pauls Augen schaute, sah er etwas, das vorher nicht dagewesen war. Einen Blick, der ihn an einen geprügelten Hund erinnerte. Erschüttert dachte er: Ich hatte eine schlimme Vorahnung. Ob sie sich schon bewahrheitet hat? Der April brach an und schenkte der Stadt Wärme und Sonnenschein. Es war ein Vorgeschmack auf den Sommer. Auf Joes Geheiß kam Mr. Mars nun an zwei Tagen in der Woche ins Haus. Die offensichtliche Intelligenz und Hingabe an seine Aufgabe hatten Joes anfängliche Abneigung gegen Mars’ aufdringlich weibisches Auftreten weggewischt. Dennoch kam es Joe so vor, als ob diese zusätzliche Unterweisung überhaupt nichts änderte. Überall in Chicago reinigten und wässerten Arbeitertrupps der Stadtverwaltung die Hauptstraßen regelmäßig, um alles für die Eröffnung der Ausstellung am 1. Mai vorzubereiten. Die Fassaden alter Häuser wurden renoviert; in den Parks wurden die Rasenflächen ausgebessert und junge Bäume angepflanzt. Eine festliche Stimmung schien alles zu
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überlagern. Aber die Geschäftswelt wußte, daß dunkle Wolken am Horizont aufzogen. Immer mehr Banken gerieten in Schwierigkeiten und kündigten eine mögliche Schließung an. Die Aktienkurse fielen rapide. Schon jetzt wurden die Straßen von Hunderten arbeitsloser Männer bevölkert. Obgleich diese Entwicklung Joe beunruhigte, war davon im Haushalt der Crowns wenig zu spüren. Ilsa war stets gutgelaunt und geschäftig und freute sich schon auf den Eröffnungstag. Eines Morgens erschien Joe am Frühstückstisch und sah, daß sie wie üblich in ihre Zeitungen vertieft war. Nachdem sie einander mit einem Kuß begrüßt hatten, setzte er sich und fragte: »Was hast du heute vor, meine Liebe?« Sie lächelte ihn schelmisch an. »Soll ich dir das wirklich verraten? In welcher Laune bist du gerade?« »Meine Laune ist gut genug, um alles zu ertragen. Es sieht so aus, als würde es heute ein besonders schöner Tag.« »Ich werde mit Ellen und Jane zu Mittag essen.« Ellen Starr und Jane Addams waren ihre Freundinnen aus der Hull-House-Stiftung. »Am Nachmittag besuchen wir einen Vortrag über Prostitution und Doppelmoral.« »Ich verstehe.« Er wollte sich nicht über sie ärgern, aber er tat es. Er sah keinen Sinn darin, daß Frauen Unruhe erzeugten, indem sie sich mit radikalen oder unangenehmen Themen befaßten. »Übrigens –« Sie griff nach einer Zeitung. »Ich habe im Inter-Ocean gelesen, daß Stead nach Chicago kommt.« Joe schaute auf seine Taschenuhr und schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein. »Mr. Stead, der englische Journalist und Neuerer.« »Ich weiß, wer er ist. Stead, der Unruhestifter.« »Vielleicht kann er in Chicago etwas Gutes bewirken, Joe. Du weißt, daß es eine der schlimmsten Städte der Welt ist. Glücksspiel, Raub, Mord – « Sie klopfte mit dem Finger auf eine andere Zeitung. »Erst gestern nacht wurde eine junge Frau in der State-Straße erstochen. Keine Handtasche, kein Ausweis, nichts, womit man sie identifizieren kann – und vom Mörder nicht die geringste Spur. Ist es da ein Wunder, daß wir die Stadt mit der höchsten Verhaftungsrate der Nation sind? Chicago ist durch und durch verdorben. Die Ratsherren – wie nennen sie sie noch?« »Die grauen Wölfe«, murmelte er. »Ja, richtig – also, sie haben praktisch öffentlich verkündet, was es kostet, ihre Stimmen zu kaufen oder einen städtischen Auftrag einzuheimsen. Stead könnte da wirklich Abhilfe schaffen.« »Ich kann schon jetzt voraussagen, was er als erstes tun wird. Zunächst einmal gegen die Saloons wettern. Jeder selbsternannte Retter der
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Menschheit hat diesen Punkt in seinem Programm. Die sogenannten Reformatoren sind hinter jeder Brauerei in der Stadt her und verlangen deren Schließung. Offen gesagt, sähe ich es lieber, wenn du dich von Miss Addams und Miss Starr und vor allem von dieser Furie Francis Willard fernhalten würdest.« »Joe, Mrs. Willard ist eine feine, moralische Person. Die Women’s Christian Temperance Union predigt das Maßhalten, und es ist doch nichts Schlechtes daran –« »O doch, das ist es! Zuerst heißt es Maßhalten und dann Verbieten. Diese beiden Begriffe wurden schon früher in dieser Reihenfolge geschrien.« »Ich lasse nicht zu, daß du Dinge über diese Organisation äußerst, die einfach nicht wahr sind. Sie ist in vielen sozialen Bereichen tätig, und zwar in wichtigen. Kinderarbeit. Die Betreuung unglücklicher junger Frauen, die auf der Straße ihrem Gewerbe nachgehen – ich bin stolz darauf, für diese Bemühungen Geld zu spenden.« »Geld, das mit dem Verkauf von Bier verdient wurde, vergiß das bitte nicht.« »Vielleicht können meine Aktivitäten ein wenig von diesem Makel abwaschen.« Joe warf die Serviette neben seinen Teller auf den Tisch. »Verdammt noch mal, Frau, das ist unerhört!« Zerknirscht rutschte Ilsa um den Tisch herum und schlang ihm die Arme um den Hals. »Du hast recht, es tut mir leid. Ich will nur nicht, daß du mich einfach übergehst. Ich habe meine eigene Meinung. Aber ich habe natürlich kein Recht, so gemein zu sein. Verzeihst du mir?« »Aber immer.« Besänftigt gab er ihr einen Kuß auf die Wange. Während der Kutschfahrt zur Brauerei verzichtete Joe darauf, einige Fachartikel zu überfliegen, die er aus verschiedenen Zeitungen herausgerissen hatte. Statt dessen dachte er über Ilsas ständige Abneigung gegen sein Gewerbe nach. Sie stand damit nicht allein. Und ihre Einstellung dazu war durchaus menschlich und angesichts dessen, was mit ihrem Vater passiert war, vollauf zu verstehen. Dennoch ärgerte er sich darüber. Um so mehr, als der Aufstieg zu seinem augenblicklichen Erfolg lang und schwierig und manchmal sogar ausgesprochen gefährlich gewesen war. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was er für den Erfolg alles hatte auf sich nehmen müssen? Um die Brauerei aufzubauen, hatte er zum Beispiel weitaus mehr getan, als sich mit Herstellungsfragen, mit Preislisten für
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Grundstoffe, mit Verkaufszahlen, Bauplänen, Markenzeichen und Lohnlisten herumzuschlagen. In den Anfangsjahren hatte er manchmal monatelang jeden Tag bis zur totalen körperlichen Erschöpfung gearbeitet. Und das Brauereigewerbe konnte wirklich gefährlich sein. Im Leben etwas Bedeutendes zu erreichen war natürlich nicht ohne Risiko. Jemand, der Ehrgeiz und Courage besaß, ließ sich durch so etwas nicht aufhalten. Ein richtiger Mann stellte sich den Gefahren, den Regeln des Zufalls. Wenn er das nicht tat, erreichte er nichts. Die im Brauereigewerbe tätigen Männer erkrankten gewöhnlich an Rheuma und wurden dadurch nicht selten zu Krüppeln, denn sie arbeiteten jahrelang bei Feuchtigkeit und Kälte. Während der ersten Monate, die die Flaschenabfüllanlage der CrownBrauerei in Betrieb war, versuchten Joe und sein Betriebsleiter eines Morgens ein Problem mit der Anlage zu lösen, als plötzlich ein Arbeiter auf ein Anzeigeinstrument sah und aufgeregt meldete, der Druck steige viel zu schnell. »Alles abschalten!« brüllte Joe gegen den Lärm der Förderbänder an. In diesem Moment platzte die erste Flasche, zehn weitere explodierten, dann wieder zehn. Glassplitter schossen durch die Luft. Joe befand sich in nächster Nähe des Bereichs, wo die Flasche zerbarsten. Hätte er damals seine Brille nicht getragen, wäre er am Ende blind gewesen. Beide Brillengläser waren nachher mehrfach gesprungen, und sein entblößtes Gesicht war mit Wunden übersät. Der Betriebsleiter kniete auf dem Boden, preßte eine Hand auf das linke Auge. Blut sickerte zwischen den Fingern hindurch. Wochen später kehrte der Betriebsleiter an seinen Arbeitsplatz zurück. Er hatte ein Glasauge, das vom echten nicht zu unterscheiden war. Joe bezahlte alles. Manchmal entstanden die Gefahren nicht aus Unfällen, sondern sie waren die Folge von menschlichem Versagen, menschlicher Habgier. Als die Pasteurisierung und Kühlung den Transport und Versand von Flaschenund Faßbier über lange Strecken ermöglichte, entwickelte Joe einen Plan, sein Produkt auch dort anzubieten, wo zahlreiche Deutsche lebten, aber nur wenige Brauereien existierten. South Carolina und Texas waren für ihn von besonderem Interesse. Kurz nachdem er seine dritte Verkaufsagentur in Texas eröffnet hatte, zeigte ihm in Austin ein Saloonbesitzer die Preisliste eines Konkurrenten. Joe erkannte sofort, daß die Zahlen einfach lächerlich waren. Niemand konnte Faßbier so billig verkaufen. Der Eigentümer ging auf Joes Fragen gar nicht erst ein, sondern bestand darauf, daß er den gleichen Preis
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verlangte, wenn er wolle, daß sein Betrieb auch weiterhin Crown’s ausschenken solle. Joe bat darum, sich die Preisliste noch einmal ansehen zu dürfen. Er studierte sie schweigend. Dann sagte er, er wolle sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, und fragte, ob er die Liste haben könne. Der Eigentümer hatte nichts dagegen. Auf der Straße betrachtete Joe im hellen, staubigen Sonnenschein seinen Daumen. Er war mit Druckerschwärze beschmiert. Er stellte Nachforschungen an und verteilte Trinkgelder in den örtlichen Druckereien. Niemand half ihm weiter. Am Ende fand er einen Drucker in einer schmuddeligen kleinen Werkstatt in einer Gasse. Der Mann war offensichtlich auf der Jagd nach Aufträgen. Joe setzte ihm mit peinlichen Fragen zu. Schließlich gab der Drucker zu, daß er die Preisliste in der vorangegangenen Woche für den Saloonbesitzer gedruckt habe. Er gestand es nur, weil Joe ihm noch einmal die Hälfte dessen versprochen hatte, was er für den Auftrag ursprünglich bekommen hatte. Demnach war Joes Verdacht richtig gewesen. Die Preisliste stammte gar nicht von einer konkurrierenden Brauerei. Er brachte die Liste am nächsten Tag in den Saloon zurück und sagte zu dem Inhaber, er solle sie sich wer weiß wohin stecken. Der Mann stieß lauthals Drohungen aus. »Sie können von Glück reden, daß ich nicht zur Polizei gehe«, sagte Joe und ging hinaus. An diesem Abend feuerte jemand drei Kugeln durch die dünne Tür seines Hotelzimmers. Glücklicherweise saß Joe in diesem Moment auf der Toilette hinter einer Tür am Ende des Korridors und zollte den in der Stadt üblichen, scharf gewürzten Speisen seinen Tribut. Von diesem Vorfall hatte er Ilsa niemals etwas erzählt. Nur fünf Jahre zuvor war er nach St. Louis gefahren, um Adolphus Busch einen Besuch abzustatten. Er wollte bei Buschs Tochterfirma, der St. Louis Refrigerator Car Company, sechs Kühlfahrzeuge kaufen. Busch war etwa fünfzig Jahre alt, knapp zehn Zentimeter kleiner als sein Gast und ziemlich rundlich. Er hatte langes, welliges Haar und trug einen Schnauzer und einen Kinnbart, was ihm eine distinguierte Ausstrahlung verlieh. Er empfing Joe in einem feudal eingerichteten Büro in seiner Villa, die allgemein als Number One Busch Place bekannt war. Anfangs war Busch sehr freundlich. Er erkannte in Joe einen cleveren und aggressiven Konkurrenten. Er sagte, natürlich müsse er froh sein, Kühlwagen zu einem Freundschaftspreis verkaufen zu können. Dann klingelte er nach seinem Butler, der mit einem Silbertablett hereinkam, auf dem wunderschöne Weinkelche und eine Flasche von Mr. Buschs edlem französischen Wein standen.
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Joe trank aus Höflichkeit ein Glas. Dabei machte Busch wie selbstverständlich den Vorschlag, sich in den Regionen, in denen sie in direkter Konkurrenz zueinander standen, für ein Faß Bier auf einen festen Preis zu einigen. Joe lehnte höflich ab. Busch fragte ihn noch zweimal, jedesmal in ungehaltenerem Ton. Seine seltsam verhangenen Augen verloren jeden Ausdruck vorgetäuschter Freundlichkeit. Nach Joes dritter Ablehnung sprang Busch so heftig auf, daß er das Silbertablett vom Tisch stieß. Die Flasche zerschellte, der edle Wein war verschüttet. »Sie Hurensohn, ich mache Sie fertig, Sie und all die anderen scheinheiligen Kerle, die zu dumm sind, sich mit mir zusammenzutun. Verschwinden Sie von hier, verdammt noch mal, auf der Stelle! Sofort!« Seitdem hatte Joe Buschs Feindseligkeiten besonders zu spüren bekommen. Busch unterbot seinen Konkurrenten in bestimmten Bezirken wiederholt mit niedrigen Preisen, die garantiert Verlust brachten. Joes Reaktion war stets die gleiche. Er senkte seine eigenen Preise ein wenig und sprach persönlich mit seinen Abnehmern. Er beruhigte sie und bat sie durchzuhalten, bis der Preiskampf beendet sei. Busch war es stets schnell leid, sein Bier mit Verlust zu verkaufen, und die Preise stiegen wieder. Aber Joe war niemals so naiv anzunehmen, daß der König von St. Louis ihm verziehen hatte oder es jemals tun würde. Auch unversöhnliche Konkurrenten gehörten zu den Risiken des Geschäfts. Obgleich Joe und Ilsa schon viele Jahre zusammenlebten, begriff sie nicht in vollem Ausmaß, welchen Preis er für das Glück und die Zufriedenheit seiner Familie bezahlen mußte. Einen hohen Preis … »Mr. Crown? Wir sind da.« Nicky Speers stand am Bordstein und hielt die Kutschtür auf. Joe sah den Springbrunnen mit der Gambrinus-Statue. »Entschuldigung«, sagte er und schreckte aus seinen Gedanken hoch. Der Ordner mit den Zeitungsartikeln rutschte ihm vom Schoß. Während er die Blätter einsammelte, wurde ihm bewußt, daß der Alkohol das einzige Thema war, über das er sich mit seiner Frau noch nie hatte einigen können. Über hundertmal hatten sie ihre Differenzen beschönigt oder darüber hinweggesehen. Es war das einzige Thema, das einen Keil zwischen sie treiben konnte und alles bedrohte, was sie gemeinsam aufgebaut hatten. Er stieg aus der Kutsche und nahm von der frühlingshaften Aprilsonne und der milden Luft nichts mehr wahr. Ilsa hatte recht, er mußte unbedingt weg. Er spürte, daß sich wieder mal eine seiner düsteren Stimmungen ankündigte.
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Aber er konnte dem Thema nicht entfliehen. Es war ständig da, eine Geschwulst, die unaufhaltsam weiter wucherte, ein Krebsgeschwür, das in ihm verborgen war. Es war kein gutes Omen. Aber er versuchte auch diesen Gedanken zu verdrängen.
18 PAUL Die Schule war eine Qual. Eine ständige Stumpfsinnigkeit erzeugende Wiederholung von Auswendiglernen und Aufsagen. Die täglichen Unterrichtsfächer bestanden aus Lesen und Literatur, Grammatik und Rechtschreibung, Mathematik und ersten Ausflügen in die Naturwissenschaften. Mrs. Petigru zitierte am liebsten aus dem wissenschaftlichen Text Unsere Körper und wie wir leben, auf dessen Titelseite der Hinweis zu lesen war: VON BEVOLLMÄCHTIGTEN DER WOMEN’S CHRISTIAN TEMPERANCE UNION ÜBERARBEITET UND GENEHMIGT. Paul kam es so vor, als bestünde das Buch mindestens zur Hälfte aus heftigen Attacken auf die schädlichen Wirkungen von Tabak und Alkohol. Zeichnen wurde an zwei Tagen in der Woche unterrichtet. Dann galt es, Illustrationen aus Büchern auf eine Schiefertafel zu kopieren. Mrs. Petigru stellte sich besonders gerne neben Paul auf, betrachtete das Durcheinander aus weißen Linien und weißen Wischflecken. »Hoffnungslos, absolut hoffnungslos«, murmelte sie dabei. Pauls mathematische Übungen wurden ständig getadelt. Mrs. Petigru schrieb Bemerkungen auf all seine Arbeiten, kritisierte seine Bleistiftflecken, die schlechte Handschrift, die allgemein unzureichende Qualität seiner Arbeit. Sie maßregelte Paul fast jeden Tag wegen seiner äußeren Erscheinung. Sie befahl ihm, das Hemd in die Hose zu stopfen, sich die Schuhe zuzubinden, sich auf der Toilette die Haare zu kämmen. »Du bist ein schlampiger Junge. Das habe ich gleich bemerkt, als ich dich das erste Mal sah. Und ich wußte sofort über deine Fähigkeiten Bescheid. Unordentliche Erscheinung – unordentlicher Geist.« Er hatte sich mit der englischen Sprache abgemüht, indem er morgens und nachmittags in der Straßenbahn einen Buffalo Bill-Roman las. Mrs. Petigru entdeckte das Heft auf seiner Schulbank, nahm es weg, tadelte ihn, weil er minderwertige Literatur in die Schule mitbrachte, und warf es in den Papierkorb. Und alles nur, weil sein Onkel ein deutscher Bierbrauer war.
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Die Leseübungen ähnelten denen, die Mars mit ihm abhielt. Schüler wurden nach vorne gerufen, um eine Passage aus McGuffey’s Lesebuch – allerdings einer Ausgabe für eine höhere Klasse – vorzulesen. An einem Tag war es eine Passage aus Hamlet, die von Wörtern wimmelte, die er unmöglich aussprechen konnte. (»Hat man bei dir in Deutschland schon mal etwas von Shakespeare gehört, Paul?«) Oder es war ein sehr rhythmisches, unheimliches Gedicht mit dem Titel Der Rabe. (»Sprich lauter, Paul. Oder hast du deine Stimme verloren?«) Er kam wieder an die Reihe mit einer Rede des berühmten amerikanischen Patrioten Patrick Henry vor einer Versammlung von Abgeordneten von Virginia. »Der Krieg ist un-ver-m …« »Unvermeidbar«, sagte Mrs. Petigru mit einem tiefen, resignierenden Seufzer. Ein schadenfroher Schüler namens Maury Flügel kicherte. Paul kämpfte sich Silbe um Silbe weiter. »… unvermeidbar – und er soll ruhig kommen. Ich wiederhole, Sir, er soll ruhig kommen. Es ist völlig sinnlos, das zu beschö …« »Beschönigen. Achte auf die Betonung. Wann begreifst du es endlich, Paul? Wir alle hoffen, daß es nicht mehr lange dauert.« Die ganze Klasse lachte schallend. Mrs. Elsie Petigru war seine Feindin. Aber er kannte die Gepflogenheiten in amerikanischen Schulen nicht und hatte daher keine Ahnung, was er dagegen unternehmen konnte. Sollte er Onkel Joe davon erzählen? Nein, er wollte nicht, daß sein Onkel bereits so frühzeitig zu der Überzeugung gelangte, er gerate schon jetzt ins Hintertreffen und sei nicht fähig, die Erwartungen der Familie zu erfüllen. Eines Morgens, nach der Pause, näherte sich ihm voller Scheu ein Junge aus der Klasse und fragte ihn, ob er mit ihm Murmeln spielen wolle. Paul stieß beinahe einen Freudenschrei aus. Er sagte jedoch, er besitze überhaupt keine Murmeln. Der Junge winkte ab. Er habe genug für beide. Damit war eine Art Bund besiegelt. Der Junge hieß Leo Rapoport. Er war ziemlich klein, hatte ein rundes Gesicht, schwarze Augen und eine lustige Knollennase. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Paul, aber er wirkte mehr wie ein alter Mann als wie ein Dreizehnjähriger. Paul stellte fest, daß Leo allzeit fröhlich und umgänglich gestimmt war. Dennoch war er seltsamerweise ebenfalls ein Außenseiter. Eines Tages erklärte er im Speisesaal, weshalb das so war: »Mein Vater ist Unitarier, aber er wurde als Jude geboren. Mama ist
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r.k.« »Was?« »Römisch-katholisch. Eine Fischfresserin. Eine Papistin.« Leo nahm das Ganze philosophisch. »Eine ziemlich schlimme Kombination, ein Unitarier und eine Katholikin. Es bedeutet, daß man doppelt so schlimm verprügelt wird und doppelt so oft. Da ist nicht viel dran zu ändern.« »Erzähl mir mehr von deiner Mutter und deinem Vater«, sagte »So reich wie dein Onkel sind sie ganz sicher nicht. Mama ist tro; eine richtig feine Lady. Sie gibt Klavierstunden.« »Und was macht dein Vater?« »Er ist Vertreter«, antwortete Leo. »Pa bereist neun Staaten. Er verkauft Damenkorsetts. Heißes Zeug.« Leo verdrehte die Augen. »Vielleicht kann ich mal ein paar Bilder mitbringen.« »Ja sicher, warum nicht?« Leo gab ihm außerdem einen wertvollen Rat. »Bring die alte Petigru niemals in Wut. Wenn das passiert, dann holt sie ihr Lineal aus der untersten Schublade. Es ist so lang – und so dick. Sie schlägt dir damit auf die Hände. Im vergangenen Oktober machte Dora Gustavson eine Mutprobe. Sie ging in die Jungentoilette und zog die Hose herunter. Jemand verpetzte sie, ich glaube, es war Maury Flügel. Petigru holte das Lineal heraus. Dora konnte eine Woche lang nicht am Schönschreibunterricht teilnehmen.« Als die Tage wieder länger wurden, beeilte Paul sich an den Samstagen mit der Ausführung der Arbeiten, die Tante Ilsa ihm auftrug. Dann setzte er sich mit ihrer Erlaubnis in eine Straßenbahn, um die Stadt kennenzulernen. Manchmal begleitete Leo ihn. Leo war in Chicago geboren. Tatsächlich hatte er die Stadt niemals verlassen, außer im Sommer zu einem Strandpicknick in Indiana. Leo wußte eine Menge über die Stadt. Wenn er etwas nicht wußte, dann sprang Onkel Joe ein. Von ihnen und aus seinen eigenen genauen Beobachtungen bezog Paul gründliche Kenntnisse über die Geschichte und den Charakter der riesigen Großstadt. Che-cau-go war ein alter Name, erfuhr er. Niemand wußte genau, was es bedeutet, vielleicht »wilde Zwiebel« oder auch »schlimmer Gestank«. Im Laufe der Jahre, als ein Dorf um die erste Handelsstation in der Prärie neben dem See entstand und aus dem Dorf eine Stadt wurde, danach eine große City, folgten eine Reihe angemessenerer Namen. Da war zum Beispiel der Name Slab Town, Bretterstadt, wegen der zahlreichen Holzbauten, dann Garden City, Gartenstadt, dank der Vorliebe der ersten Bewohner, große Grundstücke für ihre Häuser abzustecken und darauf
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Bäume, hübsche Ziersträucher und Blumen anzupflanzen. Dann kam Porkopolis, Schweinopolis, auf Grund der Fleischverarbeitung, und schließlich Gem of the Prairie, Kleinod der Prärie, ein Name, der keiner weiteren Erläuterung bedarf. Aber trotz ihrer Modernität lag es noch keine ganze Generation zurück, daß die Indianer die Straßen bevölkert hatten. Bei dem Gedanken, dort zu stehen, wo einst Rothäute gelebt hatten, verspürte Paul einen Schauer. Fast eine Million Menschen bevölkerten nun Chicago. Es gab keinerlei Anzeichen, daß das Wachstum aufhörte oder sich auch nur verlangsamte. Und es gab nicht einmal mehr eine Spur von dem großen Feuer, das 1871 das Geschäftsviertel heimgesucht hatte. Es hatte vier Quadratmeilen vernichtet, über zweihundert Millionen Dollars Schaden verursacht, mehr als einhunderttausend Menschen aus ihren Heimen vertrieben, zweihundertfünfzig getötet und gewiß ungezählte Opfer in verkohlten Baracken und niedergebrannten Häusern hinterlassen. Wenn Onkel Joe und viele andere Bewohner Chicagos von der Vergangenheit sprachen, gaben sie den Zeitpunkt mit »vor dem großen Feuer« und »nach dem großen Feuer« an. Chicago hatte fast unmittelbar nach dem Feuer mit dem Wiederaufbau begonnen. Mittlerweile standen überall Gebäude in einem fortschrittlichen neuen Baustil. Eine Eisenbahn, deren Schienenstränge hoch über der Straße geführt wurden, verband den Süden und den Westen der Stadt miteinander. Außerdem gab es Pläne, sie bis ins Stadtzentrum verkehren zu lassen. Dieses Stadtzentrum war ein Gewimmel von Pferdekarren, Transportwagen, Straßenbahnen, Kutschen und Fußgängern, die alle hektisch durcheinanderhasteten. Man fand nirgendwo ausreichend Schutz vor der Sonne, denn in den geschäftigen Straßen gab es nur Telegraphenund Telephondrähte, die magere Schatten warfen. Aber es gab gut besuchte Theater und riesige Kaufhäuser wie Field’s und Elstree’s. Außerdem gab es prachtvolle Hotels, wie zum Beispiel Mr. Potter Palmers berühmtes achtstöckiges Palmer House in der State-Straße, das zweimal vernichtet und jedesmal noch prächtiger wiederaufgebaut worden war. Chicago verfügte über einige Sehenswürdigkeiten. Da waren einmal die alten Attraktionen wie der Wasserturm nördlich des Flusses, den das Feuer verschont hatte; und neue wie das zehnstöckige Auditorium Building – in dem das Symphonieorchester auftrat – an der Ecke Michigan und Congress Avenue. Die Stadt hatte auch zahlreiche solide Wohnbezirke – Viertel, in denen Iren und Böhmen, Polen und Skandinavier zusammenlebten. Auf der Nordseite der Stadt gab es auch ein Viertel, in dem die Deutschen den
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größten Bevölkerungsanteil bildeten. Dorthin waren auch die Crowns gezogen, nachdem sie aus Cincinnati in die Stadt gekommen waren. Es gab auch Elendsviertel und verrufene Gegenden, die von kriminellen Elementen bevölkert wurden. Einer der schlimmsten Bezirke war Levee, der sich zwischen der Zweiundzwanzigsten und der Dearborn-Straße lag. Paul hielt sich von diesen Gegenden fern. Es gab auch Viertel mit den Villen der Neureichen – in einer so jungen Stadt fand man nicht viel ererbten Reichtum –, und in einer solchen Gegend, an der unteren Michigan Avenue, wohnten auch die Crowns. Die renommierteste Adresse war jedoch die Prairie Avenue in der Nähe der Achtzehnten Straße. Dort residierten die Pullmans, die Fields, die Armours. Tante Ilsa erzählte Paul, daß einige Anwohner der Prairie Avenue Potter Palmer einen Verräter nannten, weil er weggezogen war und sich sein Schloß am North Lake Shore Drive gebaut hatte. Chicago war ein Dorado der Werbung. Tausend Saloons zeigten das universelle Emblem, einen schäumenden Bierkrug. Einige dieser Schilder wiesen auch das Markenzeichen und den Namen der Crowns auf. Paul konnte Leo darüber aufklären, daß sein Onkel diese Werbetafeln kostenlos zur Verfügung stellte, wenn der jeweilige Betrieb ausschließlich Produkte der Brauerei ausschenkte. Zu jeder Stunde erklang in Chicagos Straßen ein heiserer Chor von fliegenden Händlern. Männer mit Handkarren boten Kurzwaren oder Obst feil, kleine Mädchen verkauften Zündhölzer, kleine Jungen riefen Zeitungen aus. Ältere Mädchen boten aus Blechschüsseln heiße Maiskolben an, und vielleicht, so deutete Leo an, verkauften sie sogar sich selbst. Männer, die sechs Mäntel und einen schwankenden Stapel von zehn und mehr Hüten auf dem Kopf trugen, machten auf ihr Angebot an gebrauchter Kleidung aufmerksam. Dazwischen mischte sich das Kreischen und Sirren der Scherenschleifmaschinen, begleitet von einem Feuerwerk sprühender Funken. Dann wieder hörte man die hellen Stimmen der Zeitungsjungen, die ein Extrablatt ankündigten. Das alles wurde untermalt vom Geschrei der Lumpen- und Altglassammler und dem Knarren ihrer Wagen. Kein Stadtteil, noch nicht einmal die Michigan und die Prairie Avenue, war frei von Straßenhändlern. Es gab aber auch stumme Geschäftemacher, leichenblasse Gestalten, die grellbunte Plakattafeln vor Bauch und Rücken trugen und mit müden Schritten von Block zu Block schlurften. Sandwichmänner nannte Vetter Carl sie, als einer von ihnen einmal an ihrem Haus vorbeikam. Beim Abendessen unterhielt die Familie sich über diese Sandwichmänner. Onkel Joe sagte, sie seien sozusagen die niedrigste Stufe des Straßenhandels, sie
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seien der Abschaum. Joe junior nannte sie jedoch »die Unterdrückten« und warf seinem Vater einen bedeutungsvollen Blick zu. Chicago lag unter einer Dunstglocke aus Kohlenqualm, vermischt mit dem Geruch von rohem Fleisch und den Ausdünstungen des fauligen Treibguts im Fluß, die durch den Gestank menschlicher und tierischer Ausscheidungen nur noch unerträglicher wurden. Chicago war gleichbedeutend mit Lärm, Schmutz, Armut, grellen Lichtern, sprühender Lebenskraft und lauernden Gefahren. Die Stadt erinnerte ihn lebhaft an Berlin, und trotz der Schrecken der Schule verliebte er sich in sie. Leo Rapoport besaß einen Hund, den er Flash nannte. Es war eine braune Promenadenmischung mit struppigem kurzhaarigem Fell. Manchmal wartete Flash auf Leo, wenn die Glocke den Schulschluß verkündete, und manchmal folgte er ihm morgens auch zur Schule. Eines Tages im April saß Paul wieder auf der Zementmauer, auf der er Leo mittlerweile jeden Tag erwartete. Er sah Leo auf dem Gehsteig herbeieilen, während Flash ihm schwanzwedelnd folgte. »Ich weiß nicht, was mit ihm heute nicht stimmt, Paul, er stellt sich furchtbar an. Vielleicht ist es der Frühling. Lauf nach Hause, Flash. Flash, marsch!« Flash ignorierte den Befehl. Zögernd gingen Paul und Leo auf das Schulgebäude zu. Irgendwie gelang es Leo nicht, die Tür schnell genug zu schließen, und Flash schlüpfte hinein. Er rannte über die Holztreppe in den ersten Stock hinauf, wobei seine Pfoten auf dem abgewetzten, gelblich braunen Holz klickende Geräusche erzeugten. Schüler, die zu ihren Klassenräumen eilten, lachten und machten sich gegenseitig auf den ungewöhnlichen Besucher aufmerksam. »Flash, lauf sofort nach Hause!« rief Leo und beschrieb eine dramatische Geste in Richtung Treppe. Aber Flashs Verspieltheit amüsierte ihn. Der Hund duckte sich und sprang dann an ihm hoch, wobei er sich um ein drohendes Knurren bemühte. Leo begann zu lachen. Er deutete weiterhin zur Tür und verlangte, daß der Hund das Haus verließ, unternahm aber keinen Versuch, ihn einzufangen. Schon bald krümmten Leo und Paul sich vor Lachen über die spaßige Ablenkung. »In Gottes Namen, was geht hier vor? Wessen Tier ist das?« wollte Mrs. Petigru wissen. Flash kläffte. Sie trat nach ihm. Paul bemerkte eine Veränderung in Flashs Knurren. Diesmal war es eindeutig drohend. Flash duckte sich. Mrs. Petigru versuchte erneut, ihn zu treten. Flash
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knurrte, schnappte und schlug seine Zähne in den Saum ihres Rocks. Ein lautes Ratschen ertönte, als der Stoff zerriß. »Oh, seht euch das an! Nein!« kreischte Mrs. Petigru. Leo sank gegen die Wand, hielt sich an Paul fest und lachte hemmungslos. Mrs. Petigrus Gesicht verzerrte sich. Sie packte Leos Ohr, zog und drehte daran. Leos Lachen erstarb, und er stieß einen schmerzerfüllten Heulton aus. »Du frecher kleiner Bastard, ist das dein Hund? Sofort holt jemand den Direktor her!« Völlig verwandelt fletschte Flash die Zähne und knurrte laut, während er Mrs. Petigru lauernd umkreiste. Paul versuchte, sich zu sammeln und sein Lachen zu unterdrücken. Er gab ein letztes mattes Kichern von sich. »Du – du bist genauso schlimm!« schimpfte Mrs. Petigru. Ihre Hand schoß zu Pauls Ohr. »Meine Geduld mit dir ist erschöpft.« Sie packte zu und drehte schmerzhaft. »Und zwar endgültig!« Paul hörte sein Todesurteil in ihrer Stimme. Ihre Beziehung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Mr. Relph und ein männliches Mitglied des Lehrerkollegiums schafften es schließlich, Flash in eine Ecke zu treiben und ihn die Treppe hinunter und aus dem Schulgebäude zu scheuchen. Leo rannte neben ihm her und lockte. »Bist ein guter Hund, Flash, brav. Geh jetzt.« Dabei zitterte seine Stimme ahnungsvoll. Der Direktor telephonierte an diesem Nachmittag mit Leos Mutter und Pauls Onkel. Nach der Schule äußerte Mr. Mars Mitgefühl und Verständnis für Pauls verzwickte Lage, konnte ihm aber keinen Rat geben außer: »Sag die Wahrheit, das ist wohl der ehrenhafteste Weg.« Onkel Joe kam nicht um die übliche Uhrzeit nach Hause. Dadurch verlängerte sich Pauls Leidenszeit. Schließlich, gegen zwanzig nach neun, kam Onkel Joe ins Haus gestürmt, entschuldigte sich bei Tante Ilsa mit Problemen in der Brauerei. Er machte ein grimmiges Gesicht. »Wir haben dir das Abendessen warmgehalten, Joe.« »Zuerst soll Paul zu mir ins Arbeitszimmer kommen.« Sobald die beiden allein waren, erging die schlichte Aufforderung seines Onkels: »Erzähl, was passiert ist.« Paul gab sich große Mühe. Er sagte, Flash sei der Hund seines Freundes und daß er ungehorsam gewesen und mit ihnen ins Schulgebäude gelaufen sei. Danach hätten die beiden Jungen sich vor Lachen kaum halten können. »Ich weiß, daß dieses Verhalten nicht richtig war. Es tut mir auch sehr leid.« »Ist das alles, was du zu deiner Verteidigung vorbringen kannst? Daß es
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dir leid tut?« Onkel Joe musterte ihn mit finsterer Miene. »Ich bin von dir zutiefst enttäuscht, Paul.« Paul haßte das Gefühl, die Erwartungen dieses starken Mannes nicht erfüllt zu haben, der zu ihm so gütig gewesen war. Er durfte seine Schuld nicht durch totales Schweigen untermauern. »Sir, darf ich noch etwas dazu bemerken?« Onkel Joes Antwort bestand aus einem knappen Kopfnicken. »Ich denke nicht, daß das Ganze so schlimm war. Es war eigentlich ganz harmlos, außer daß Flash ihr Kleid zerrissen hat. Mrs. Petigru ist keine nette Frau. Sie –« Er schluckte. »Sie mag ja eine gute Lehrerin sein, aber freundlich ist sie wirklich nicht. Sie mag keine Deutschen. Und sie hat etwas gegen Bier.« Onkel Joe ließ sich in seinem Sessel erstaunt nach hinten sinken. »Sie mag auch mich nicht«, fuhr Paul fort. »Sie hat mich bestraft, indem sie derart heftig an meinem Ohr riß, daß ich schon annahm, es würde bluten. Das ist die Wahrheit, Onkel.« »Nun, sogar der Direktor sagt, daß deine Lehrerin sehr streng auf Disziplin achtet. Strenge ist in Ordnung, Grausamkeit nicht.« Onkel Joe musterte ihn mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, wer das Sagen hatte. »Dieses Mal bringen wir die Sache in Ordnung. Ich sehe durchaus, daß der Vorfall auch eine spaßige Seite hat.« Er hob warnend einen Finger. »Aber du hättest dich nicht auflehnen dürfen – hättest nicht die Lehrerin auslachen dürfen. Tu das nie wieder. Du lebst jetzt in Amerika. Hier laufen die Dinge ein wenig anders. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns anzupassen. Aber laß uns jetzt zu Abend essen.« Onkel Joe verließ das Zimmer als erster. Paul folgte ihm und verspürte keinen richtigen Hunger mehr. Er hatte trotz allem seinen Onkel enttäuscht. Am Samstagmorgen, zwei Wochen vor dem großen Eröffnungstag der Ausstellung, trieb ein Klopfen an der Tür Paul schon um sechs Uhr früh aus dem Bett. Er stolperte zur Tür und sah zu seiner Überraschung Joe junior bereits vollständig angezogen vor sich. Sein Vetter schloß die Tür hinter sich und lehnte sich mit einem freundlichen Lächeln dagegen. »Wollte dir nur sagen, daß ich toll finde, wie du es deiner Lehrerin gegeben hast.« Paul errötete. »Dankeschön.« »Hast sie ganz schön fertiggemacht, was?« »Das will ich meinen. Ganz sicher.« Er freute sich über das Interesse und das Lob seines Vetters.
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»Was hast du heute nachmittag vor?« »Pete hat draußen irgendwelche Arbeiten für mich. Ich weiß nicht, wieviel es ist.« »Sag ihm, du könntest heute nicht. Du würdest morgen kommen. Die Brauerei schließt wegen Lagerinventur schon gegen Mittag. Wir treffen uns dort, dann zeige ich dir was. Ecken in Chicago, die du alleine niemals finden würdest.« Er zwinkerte. Paul war sprachlos. Mit einer väterlich wirkenden Geste verschränkte Joe die Arme vor der Brust. »Nun, alter Junge, wie wär’s? Kommst du mit?« »Natürlich. Klar.« »Prima.« Joe junior schlüpfte durch die Tür hinaus und entfernte sich eilig durch den Korridor. Paul traf seinen Vetter dabei an, wie er auf der Laderampe der Brauerei Säcke mit Hopfen aufeinanderstapelte. Es war ein milder, klarer Frühlingsnachmittag. Eine angenehm warme, leichte Brise wehte aus Süden. Unglücklicherweise brachten solche Winde immer den Gestank der Abwässer und des Abfalls vom Chicago-Fluß mit. Paul konnte sogar die Rinder, Schweine und Schafe in den Union Stock Yards riechen, die meilenweit entfernt waren. »Bin gleich fertig«, sagte Joe junior, während er sich den letzten Sack auf die Schulter packte. Er trug ihn ins Lagerhaus und kam zurück. »Da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.« Er rief etwas in die dunkle Lagerhalle. Wenig später kam ein stämmiger, kahlköpfiger Mann heraus. Er war mit seinen breiten Schultern, der glänzenden Glatze und den funkelnden Augen eine sehr beeindruckende, wenn nicht gar furchteinflößende Erscheinung. »Benno, ich möchte dir meinen Vetter Paul Crown vorstellen. Paul, das ist Benno Strauss.« Pauls Gesicht wurde ganz heiß. Der berüchtigte Benno! Er hatte Onkel Joe beim Abendbrot über ihn schimpfen hören. Benno Strauss war der Anführer der sozialistisch-anarchistischen Gruppierung in der Brauerei. Benno schüttelte Paul die Hand. Paul hatte schon einen festen Händedruck, aber Bennos war um vieles kräftiger. Benno nickte und wandte sich an Joe: »Ist er das?« Sein Englisch war kehlig und rauh. »Ja, das ist er.« Benno musterte Paul mit einem langen, prüfenden Blick. Er war nicht gerade freundlich. Schließlich nickte er. »Okay.« Paul war verwirrt. Die Vettern gingen zur Treppe, die von der Rampe
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herunterführte. Benno sagte: »Bekommst du draußen in Pullman genug, Joey?« Joe grinste. »Reichlich.« Endlich lächelte Benno. Er hatte große, unregelmäßige weiße Zähne. Paul fühlte sich unwillkürlich an einen Tiger erinnert, den er einmal im Berliner Zoo gesehen hatte. »Ich bin heute nachmittag mit zwei jungen Damen verabredet. Huren, aber sauber. Ich dachte, daß du vielleicht mitkommen willst. Was mich betrifft, ich sehe nur allzugern, daß die Arbeiter das bekommen, was sie brauchen.« »Danke, aber ich hab’ schon was anderes vor«, sagte Joe junior. »Komm jetzt, Paul.« Benno kratzte sich zwischen den Beinen. Er sah Paul an und lächelte nicht mehr. »Bring ihm bei, was er wissen muß«, sagte er zu Joe junior, während sie sich entfernten. Paul hatte nie damit gerechnet, einen Ort aufzusuchen, der so einsam und trist war wie ein Friedhof, aber genau dorthin führte Joe junior ihn, nachdem sie in einem Saloon in der Clark-Straße ein paar Gläser Bier getrunken und die Gratismahlzeit verzehrt hatten. Danach gingen sie zur Harrison-Straße, weiter zur Desplaines Avenue und traten durch ein Tor. »Wie heißt dieser Ort?« fragte Paul, während sie über den gewundenen Weg zwischen den marmornen Grabsteinen entlangschritten. »German Waldheim Cemetery. Die eleganten, renommierten Friedhöfe wollten nicht so viele deutsche Auswanderer aufnehmen, daher wurde dieser Friedhof angelegt. Was ich dir zeigen will, befindet sich dort drüben, hinter der Kapelle.« Er spazierte über das junge Frühlingsgras, umrundete die cremefarbene Kapelle und gelangte zu einem kunstvollen Denkmal von beachtlicher Größe. Eine männliche Gestalt – ein Arbeiter, wie Paul vermutete – war dort in einer Haltung zu sehen, die auf seinen Tod hindeutete, während eine Frau in einem Mantel und mit Kapuze hinter sich griff, um ihm einen Kranz auf die Stirn zu legen; gleichzeitig schien die Frau sich trotzig aufzurichten. Eine Jahreszahl, 1887, war in das Denkmal eingraviert, und im Sockel war eine Inschrift zu sehen. DER TAG WIRD KOMMEN, AN DEM UNSER SCHWEIGEN LAUTER SEIN WIRD ALS DIE STIMMEN, DIE IHR HEUTE NOCH ERSTICKT.
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Zahlreiche Blumensträuße lagen vor dem Denkmal. Einige waren verwelkt, andere sahen noch frisch aus. Joe junior verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete die Skulpturen mit einem beschwörenden, beinahe entrückten Gesichtsausdruck. Der Sonnenschein, der durch das junge Laub der Bäume drang, zauberte ein Muster aus Licht und Schatten auf sein Gesicht. »Paul, du mußt mir etwas versprechen. Wenn wir wieder zu Hause sind, darfst du diesen Ort niemals erwähnen.« »Natürlich, aber weshalb nicht?« »Weil Papa uns beide dann umbringen würde.« »Weshalb sind wir dann hergekommen?« Joe ballte eine Faust und schlug sie gegen die flache Hand. »Weil jemand es dir zeigen, dich aufklären muß. Genauso wie Benno es gesagt hat.« Ein blaues Feuer brannte in seinen Augen. »Das ist das Haymarket Memorial. Die Frau mit dem Kranz ist die Gerechtigkeit. Die den Märtyrern niemals zuteil wurde, außer an diesem Ort.« »Aber was ist Haymarket? Welche Märtyrer meinst du?« Joe junior deutete auf den treppenartigen Sockel des Denkmals. »Setz dich.« »Der Haymarket« – so erzählte Joe junior – »ist ein großer öffentlicher Platz nördlich von hier an der Randolph-Straße zwischen der Desplaines Avenue und der Halsted-Straße. Die Randolph verbreitert sich dort, und so wurde dieser Ort schon immer von den Bauern als Markt genutzt, auf dem sie ihr Obst und ihr Gemüse feilboten. Auf dem Haymarket geschah das schreckliche Verbrechen. In Chicago brodelten schon seit Jahren immer wieder Arbeiterunruhen. Dann, im Februar des Jahres 1886, kam es zur Explosion. Die Männer in der McCormick-Mähmaschinenfabrik legten die Arbeit nieder. Alles, was sie verlangten, war eine angemessene Bezahlung und ein Achtstundentag. McCormick wünschte seine Arbeiter zur Hölle und stellte neue Kräfte, Streikbrecher, ein. Arbeiter anderer Firmen reagierten ebenfalls, sogar bei Pullman hatten einige den Mut zu streiken. Einige Wochen lang nahm jedermann an, daß die Firmenbosse nachgeben, sich mit dem Achtstundentag einverstanden erklären und damit die Unruhen beendeten würden. Benno gibt zu, daß er damals den Teilnehmern der Protestversammlungen prophezeite, daß spätestens am 1. Mai, dem großen Feiertag der Arbeiter, an dem die roten Fahnen wehten – rot für das Blut der Unterdrückten –, der Achtstundentag Gesetz wäre.
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Du mußt verstehen, daß ich von all dem noch nichts mitbekam, weil ich damals noch ein kleines Kind war. Ich habe die ganze Geschichte von Benno gehört. Er arbeitete damals bei McCormick. Er gehörte zu den Streikenden. Der 1. Mai brach an, und der Streik war noch immer im Gange. Die Anführer riefen zu einer Kundgebung in der Black Road unweit der McCormick-Fabrik auf. Vier- oder fünftausend Menschen erschienen. Nach drei Monaten ohne Arbeit, ohne Bezahlung, ohne Lebensmittel für sich und ihre Familien waren sie ziemlich wütend. Die Redner heizten wie üblich die Stimmung noch weiter an. Benno redete ebenfalls an diesem Nachmittag. Er rechnete nicht damit, daß die Ereignisse außer Kontrolle gerieten. Die Redner sollten die Arbeiter nur in Stimmung bringen, damit sie nicht klein beigaben. Dann erklang bei McCormick die Glocke, die das Schichtende verkündete. Die Fabriktore öffneten sich, und eine Schar von Streikbrechern quoll heraus. Die Streikenden gerieten in Rage. Sie rannten los und belagerten die Fabrik. Sie trieben die Streikbrecher zurück und zwangen die Wachmannschaften der Fabrik an die Gewehrschränke. Die Polizei erschien in Wagen und zu Pferde. Trotzdem wollte die Menschenmenge sich nicht auflösen. Benno und einige andere stachelten sie zu einem weiteren Sturm auf das Fabriktor an. Die Arbeiter prügelten auf die Tore ein und schrien nach dem Blut der Streikbrecher. Die Wachmannschaften eröffneten das Feuer durch Schießscharten in den Mauern. Die Polizei riegelte nach hinten alles ab. Sechs Streikende wurden erschossen. Die Versammlung löste sich auf, und alle suchten das Weite. Die Demonstration war beendet. August Spies war der Herausgeber der Arbeiterzeitung. Die meisten Streikenden, eigentlich sogar die meisten Arbeiter in Chicago, waren Deutsche und sind es immer noch. Sie lasen Zeitungen und hörten sich Reden in ihrer eigenen Sprache an. Am Tag nach der McCormick-Demonstration ließ Spies Flugblätter drucken und schrieb einen Leitartikel. Die Botschaft bei beiden war die gleiche: »Greift zu den Waffen! Beschützt euch selbst!« Eine Protestversammlung wurde für Dienstagabend, den 4. Mai, auf dem Haymarket-Platz einberufen. Bei Anbruch der Dämmerung kamen die Leute zusammen. Der Himmel war dunkel, voller Wolken. Es donnerte in der Ferne, als wüßte Gott genau, was geschehen würde, und als wolle er alle darauf einstimmen. Schon bald drängten sich etwa tausend Menschen auf dem Platz. Einen Block entfernt, in der Polizeiwache der Desplaines Avenue, schnallten sich Polizisten kompanieweise Pistolen um und polierten ihre extralangen Schlagstöcke aus hartem Hickoryholz.
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Ehe die Versammlung begann, mußte die Menschenmenge den Platz räumen. Sie drängte nach Norden in die Desplaines Avenue, um für die Redner eine Plattform zu suchen. Alles, was sie fanden, war ein leerer Materialwagen. August Spies kletterte auf die offene Ladefläche und redete unter einem Himmel, der jeden Moment seine Schleusen zu öffnen drohte. Blitze zuckten und flackerten, erzählte Benno, der sich in der Nähe des Wagens aufhielt. Als nächster ergriff Albert Parsons das Wort. Ein guter Mann, Sohn eines Generals, der im Krieg auf der Seite der Rebellen gekämpft hatte. Dann folgte Sam Fielden, ein Engländer, Methodist, der als Mitstreiter galt. Bürgermeister Harrison stand am Rand der Menge. Der alte Carter hatte wirklich Mut. Wie sich später herausstellte, urteilte er, daß es keine Probleme geben würde. Er sah keine Gefahr und damit keine Notwendigkeit für die Polizei, einzugreifen und gegen die Zuhörer vorzugehen. Er ging zum Reviergebäude und brachte das so vor. Ein Polizeioffizier, Inspektor John Bonfield, war jedoch entgegengesetzter Meinung. Er haßte die Gewerkschaften. Und er übernahm das Kommando. Er befahl seinen Männern, sich aufzustellen. Sie bildeten eine Kolonne und marschierten mit gezogenen Schlagstöcken und Revolvern die Desplaines Avenue hinauf. Sie stießen auf die Menge, kesselten die Menschen allmählich ein. Regen strömte vom Himmel. Aber noch passierte nichts. Ein Polizeioffizier befahl der Versammlung lauthals, sich aufzulösen. Vom Wagen rief Fielden herab, das täten sie nicht, die Demonstration verlaufe friedlich und verstieße gegen keinerlei Gesetz. Lautes Gebrüll erhob sich, und in demselben Augenblick schleuderte jemand eine Bombe mit brennender Lunte über die Köpfe der Menge hinweg. Bis heute weiß niemand, wer sie geworfen hat oder woher sie kam. Die Bombe explodierte in der Polizeikolonne. Sieben Beamte kamen ums Leben, sechzehn wurden verletzt. Die Polizei ging in Kampfaufstellung, nahm Schußposition ein und rückte mit gezückten Schlagstöcken vor. Der Regen rauschte vom Himmel. Gott ließ einen Blitz nach dem anderen aufflammen, berichtete Benno, und die Polizisten zeigten keine Gnade. Die Demonstration war nach fünf Minuten beendet. Diese Bombe war ein Verbrechen, das will ich gar nicht leugnen. Aber was folgte, war ein weit schlimmeres Verbrechen. Am nächsten Tag wurden Albert Spies und sein stellvertretender Chefredakteur, Schwab, verhaftet. Parsons ergab sich. Fielden wurde verhaftet sowie vier weitere Verdächtige – ein Zimmermann, ein Drucker, ein Fassadenmaler und ein Gewerkschaftsangehöriger der Bierkutscher, wie
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Benno später einer wurde. Die Gerichtsverhandlung war der reinste Zirkus. Die Polizei konnte nicht einen einzigen Beweis dafür vorlegen, daß einer der acht Männer die Bombe geworfen, sie hergestellt oder auch nur berührt hatte oder von ihr wußte. Sie waren schuldig, weil sie auf dem Haymarket-Platz und auch schon vorher Reden gehalten hatten. Sie hatten den Bombenleger erst auf den Gedanken gebracht. Sie hatten ihn angestiftet – ihn zu seinem Verbrechen getrieben. Dafür forderte Staatsanwalt Mills die Todesstrafe. Jeder Angeklagte gab noch eine abschließende Erklärung ab. Parsons pries die Gerechtigkeit und Fairneß von Bomben und Dynamit. Er sagte, beides seien Gleichmacher. Er erklärte außerdem, daß die Jury bedroht, ja sogar bestochen worden sei. Es nutzte nichts, die Entscheidungen waren bereits gefallen, den acht war in den Zeitungen schon längst der Prozeß gemacht worden. Nach dem Schuldspruch verurteilte Richter Gray sieben von ihnen zum Tod durch den Strang. Neebe, der Angehörige der Biertransportergewerkschaft, erhielt fünfzehn Jahre Zuchthaus. Die Räder der Justiz mahlten langsam, aber am Ende, im November ‘87, wurde Spies gehenkt. Sie hängten auch Parsons. Und Fischer, den Drucker, und Engle, den Fassadenmaler. Louie Ling, der Mann aus der Schreinergewerkschaft, kam ihnen zuvor. Jemand schmuggelte eine Dynamitkapsel in seine Gefängniszelle, ehe sie ihn hängen konnten. Er steckte sie in den Mund, biß darauf und sprengte sich den Kopf weg. Übrig blieben zwei Verurteilte, Schwab und Sam Fielden. Dem Gouverneur reichte es. Er wandelte ihre Todesurteile um. In der Stadt herrschte noch immer große Angst. Geschäftsleute räumten die Waffenläden leer. Eine Gruppe reicher Persönlichkeiten schenkte der amerikanischen Regierung im Uferbereich des Sees zweihundertvierzig Hektar Land als Gegenleistung für die Zusage, daß die Regierung Soldaten auf dem Gelände stationierte, um die Plutokraten vor Bombenattentätern zu schützen. Auf diese Weise entstand Fort Sheridan. In den letzten sechs Jahren hat sich nicht viel verändert. Mrs. Parsons, die Witwe, versucht eine öffentliche Diskussion über den Prozeß und dessen Ungerechtigkeit in Gang zu setzen. Jedesmal, wenn eine Versammlung mit Mrs. Parsons angekündigt wird, wird sie von der Polizei verhaftet, sobald sie das Podium betreten will. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Die Plutokraten können die Wahrheit über sich und über das, was sie getan haben, nicht ertragen. John P. Altgeld hat den Prozeß stets für eine Farce gehalten und die anschließenden Hinrichtungen für einen Skandal. Er möchte die beiden Männer, die noch im Gefängnis sitzen, begnadigen. Deshalb würden viele
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Leute ihn am liebsten lynchen, so wie sie Parsons und die anderen gelyncht haben. Mein eigener Vater verabscheut den Gedanken an eine Begnadigung für diese beiden Männer. Dabei ändern selbst Begnadigungen nichts mehr. Es ist zu spät. Eine alte Rechnung muß beglichen werden.« »Und du hast geglaubt, wir hätten das Recht auf freie Rede?« Joe vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und stand mit leicht gespreizten Beinen vor Paul. Es war eine Haltung der Macht, der Autorität. »Es gibt auch noch ein anderes Haymarket-Denkmal auf dem Platz selbst. Die Bronzestatue eines aufrechten Chicagoer Polizisten mit erhobener Hand. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dir das zeige. Das mußt du dir schon allein ansehen. Gehen wir.« Mit grimmigem Gesicht machte Joe junior kehrt. Er ging mit schnellen Schritten zum Hauptweg, eilte durch das Wechselspiel von Licht und Schatten. Paul rannte ihm nach. Draußen vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor packte Joe junior Paul bei den Schultern. »Denk daran, kein Sterbenswörtchen! Kann ich mich darauf verlassen, daß du dichthältst?« »Klar, Joe.« »Über alles, was du siehst und was ich dir erzähle?« »Ja, ganz bestimmt. Aber ich verstehe immer noch nicht –« »Weil der ehrenwerte Mr. Joseph Crown ein verdammter Kapitalist ist, deshalb.« »Ist das so schlimm?« »Schlimm?« Joe junior lachte schallend. »Alles, woran Pa glaubt – alles Wichtige –, ist falsch. Zum Beispiel gibt es in der Brauerei keine Gewerkschaft. Gewerkschaften verteidigen die Rechte der Arbeiter, aber Pa ist strikt dagegen.« Paul schwieg. Er wollte das zarte Band der aufkeimenden Kameradschaft zwischen seinem Vetter und ihm nicht gefährden. Dennoch war er verwirrt und sogar ein wenig verärgert über Joes Feindseligkeit gegenüber Onkel Joe. Er entschied, daß er sich dazu äußern mußte. »Joe, du bist sehr klug, ich bin es nicht. Aber ich würde doch meinen, wenn dein Vater auch an die falschen Dinge glaubt, so haben sie ihm doch sicherlich zu einem schönen Haus und euch zu einem angenehmen Leben verhelfen.« »Hör mal, Kleiner, was du in der Michigan Avenue siehst, ist reine Fassade. Es ist ein Luxus, der mit dem Schweiß armer Malocher verdient wurde, die ihr ganzes Leben in Dreck und Armut verbringen, damit Leute wie Pa elegante Anzüge tragen und in dicken Villen residieren können.«
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»Ja, arme Menschen kenne ich und auch arme Stadtviertel. Ich habe in Berlin selbst in so einem gewohnt. Aber –« »Ich spreche von hier, mitten in Chicago.« Joe zog ihn am Arm hinter sich her. »Ich zeig’s dir.« Sie begaben sich in eine Gegend, die Joe junior den Neunzehnten Bezirk nannte, ebenfalls auf der West Side. Es war ein Viertel mit engen, dicht bevölkerten Straßen, kleinen armseligen Läden, baufälligen Baracken, jede mit einer Holzkiste für Ofenasche und Abfall vor der Tür. Die Hinterhöfe dieser Baracken waren winzig. Halbnackte Kinder spielten dort im Dreck. Die Gehsteige bestanden aus wurmstichigen Bohlengängen, die stellenweise durchgebrochen waren. Die Nebenstraßen waren ungepflastert und nicht mehr als getrocknete Schlammwege. In einer dieser Straßen entdeckte Paul Handkarren, hörte Geschrei von Straßenhändlern und schrille Stimmen schimpfender Hausfrauen. Pferdemist, Hundedreck und faulender Müll machten die Luft unerträglich. Er hatte bereits in Berlin Elendsviertel kennengelernt, aber das hier war viel schlimmer. »Arbeitende Menschen«, sagte Joe und deutete auf offene Fenster, in denen zerrissene Vorhänge flatterten. »Und dann gezwungen, so zu leben. Jedes System, das so etwas zuläßt, ist verdorben und dem Untergang geweiht – o mein Gott!« »Was ist los? Was hast du?« Joe war schlagartig bleich geworden und wich einen Schritt zurück. »Hymies«, flüsterte Joe und deutete zur nächsten Straßenecke. Paul zählte fünf kräftige Jungen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Sie trugen Baseballschläger und Flaschen. »Wie hast du sie genannt?« »Die Hymies. Das ist eine Bande. Eine der schlimmsten. Die alten Straßenhändler in dieser Gegend werden dauernd verprügelt und ausgeraubt, weil sie Juden sind, deshalb knöpft die Bande sich jeden vor, der ihr über den Weg läuft. Aus Rache. Laß uns lieber umkehren, ehe sie uns entdecken – o Herr Jesus. Zu spät! Lauf!« Er wirbelte herum und rannte los. Paul folgte ihm, während hinter ihm wilde Schreie ertönten. Paul riskierte einen kurzen Blick nach hinten. Die Jungen jagten ihnen nach. Einer, dunkelhaarig und offenbar der Anführer, prallte mit einem alten Mann auf der Straße zusammen, stieß ihn zu Boden. Keiner der Jungen kümmerte sich um ihn. Joe überquerte dicht vor einem Eiswagen die Straße. Das Pferd bäumte sich auf und wieherte. Der Kutscher schlug mit der Peitsche darauf ein und beschimpfte die Vettern. Mit rudernden Armen sah Paul sich ein zweites Mal um. Der Bandenführer grinste. Er wußte, daß sie ihre Opfer einholen
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würden. »Da, dort entlang!« Joe junior riß ihn in eine enge Gasse mit Holzhütten auf der linken Seite. Rechts befand sich ein Bretterzaun. Er stöhnte auf, als er sah, daß ein Handkarren den Durchgang der Gasse zur Parallelstraße versperrte. Paul entdeckte etwas anderes und bremste abrupt. »Joe, da, das Faß! Roll es rüber!« »Warum, zum Teufel –« »Nun mach schon! Dann steig hinauf!« Sie bugsierten das alte Holzfaß unter die weit hinabreichende Dachrinne eines verlassenen Schuppens mit Giebeldach. Joe kletterte auf das Faß, dann weiter aufs Dach. Paul hielt sich dicht hinter ihm. Er schob seinen Vetter höher und über den Dachfirst auf die andere, der Gasse abgewandte Dachhälfte. Dort blieben sie liegen und preßten die Gesichter auf Schindeln aus dicker Dachpappe. Die Bande drang johlend und lachend in die Gasse ein. Plötzlich gab Joe junior einen erstickten Entsetzenslaut von sich. Er begann zu rutschen. Paul reckte die linke Hand über den Giebel und packte Joe mit der Rechten. Joe rutschte ein Stück abwärts, bis seine Beine über die Regenrinne hinaushingen. Paul biß die Zähne zusammen. Er schwitzte und kämpfte gegen den Schmerz in seinem Arm und seiner Schulter an. Die Bande auf der anderen Seite der Gasse wurde ärgerlich. »Was geht hier vor? Wo sind die Kerle, verdammt noch mal?« »Ich rutsche«, flüsterte Joe. Sein Gewicht drohte sie beide vom Dach zu ziehen. »Halte durch«, erwiderte Paul flüsternd. »Wenn wir abstürzen, dann hören sie uns, und das ist das Ende.« »Aber –« »Sei still!« »Die müssen schnell wie der Wind gewesen sein, die kleinen Mistkerle«, rief einer aus der Bande. »Kommt schon, wir suchen sie. Wenn wir die erwischen, machen wir sie fertig!« Paul konnte seinen Vetter nicht länger halten. Er ließ ihn los, Joe rutschte vom Dach und landete unter lautem Getöse auf einem Stapel ausrangierter Hühnerkäfige. Paul zog sich bis zum First hoch und beobachtete, wie die Bande am Ende der Gasse den Karren umkippte und den hilflosen Mann, dem er gehörte, anrempelte und zu Boden schleuderte. Dann rannte sie weiter und verschwand außer Sicht. Zitternd und völlig außer Atem kletterte Paul über den Dachfirst, rutschte vom Dach herunter und landete in der Gasse. Joe junior tauchte
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hinter einer Ecke des Schuppens auf. Er zupfte sich Hühnerfedern aus den Haaren. »Du hast uns gerettet«, sagte er anerkennend. »Ich gebe ehrlich zu, daß ich nicht schnell genug bin, um mit solchen Situationen fertig zu werden.« »Joe, entschuldige, ich glaube, wir sollten aufhören zu reden und schnellstens von hier verschwinden.« »Stimmt. Kein schlechter Gedanke.« Sie verließen die Gasse auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren. Paul zitterte noch immer, wenn er daran dachte, wie knapp sie entkommen waren. Aber er hatte sich damit etwas errungen, was er sich sehnlichst gewünscht hatte: Joe juniors Anerkennung, den Beginn einer Freundschaft. Sie fuhren mit einer Pferdetram in die Innenstadt. Als sie sich auf den harten Korbsitzen entspannten und die warme Frühlingsluft genossen, die durch das Fenster hereinwehte, riskierte Paul eine weitere wichtige Frage. »Magst du deinen Vater wirklich nicht? Bist du nicht stolz auf ihn? Er hat es in Amerika doch zu etwas gebracht.« Joe junior stützte die Ellbogen auf die Fensterbank. Die Schatten der Telephonmasten huschten über sein Gesicht. »Natürlich hat er es zu etwas gebracht – nach Meinung seiner reichen Kollegen.« »Aber, Joe, er kam allein hier herüber, dann hat er für die Sklaven und Abraham Lincoln gekämpft. Tante Lotte hat es mir erzählt.« Joe wandte sich zu seinem Vetter um und sah ihn beschwörend an. »Joe Crown ist das, was man einen Ausbeuter nennt. Er beutet die Arbeiterklasse aus. Er bedient sich ihrer zu seinem eigenen Vorteil. Zur Hölle, er würde sogar mich für den Rest meines Lebens ausbeuten, wenn ich es zuließe. Er würde mich mit Schlips und Kragen in der Brauerei vergraben. Meinst du, ich will so sein wie er? Diesen verdammten Laden leiten, wenn er nicht mehr ist? Nein, Sir. Niemals.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Fensterbank. Nachdem sie den Westarm des Flusses überquert hatten, verließen sie den ratternden Wagen. An der Kreuzung von Adams- und LaSalle-Straße zeigte Joe junior ihm ein ungewöhnliches neunstöckiges Gebäude. Es war die Hauptverwaltung der Home Insurance Company, einer Versicherungsgesellschaft. »Dies ist ein ganz schön erstaunliches Bauwerk. Es wurde vor fünf oder sechs Jahren errichtet – als erstes seiner Art. Im Innern befindet sich ein Skelett aus Stahlträgern. Dieses trägt den größten Teil der Last. Das heißt, daß die Außenmauern nicht sehr dick sein müssen. Ein derart konstruiertes
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Gebäude kann leicht zwanzig bis sogar dreißig Stockwerke hoch sein. Man nennt es Wolkenkratzer.« »Das Wort habe ich schon in Berlin gehört. Diese Häuser kommen aus Chicago?« »Genau!« »Wer hat dieses erstaunliche Gebäude bezahlt? Deine Plutokraten?« Joe lachte und schlug Paul auf die Schulter. »Ein Punkt für dich, Kleiner. Weißt du, ich glaube, ich kann Chicago lieben, aber trotzdem die Blutsauger und Parasiten hassen, die hier leben.« Sie schlenderten durch das Menschengewimmel und wärmten sich im Sonnenschein. Paul dachte über seinen Vetter und Onkel Joe nach. Er hatte das seltsame Gefühl, daß Joe junior vielleicht nicht die ganze Wahrheit erzählte. Vielleicht bewunderte er seinen Vater – oder hatte es früher einmal getan – und wollte es jetzt nicht mehr zugeben. Was für eine Ursache mochte dieser schreckliche Bruch haben? Waren tatsächlich nur die bösen Kapitalisten und die Plutokraten schuld? »Mist«, sagte Joe und blieb abrupt stehen. »Mein Schnürsenkel ist gerissen.« Er sah die Straße hinunter. »Ich kann mir ja bei Elstree ein neues Paar kaufen.« Er ging mit Paul in ein elegantes vierstöckiges Gebäude an der Ecke Adams- und State-Straße. Er kaufte Schnürsenkel am Kurzwarenstand und gab seine fünf Cents einer hochgewachsenen Frau, die die beiden Jungen mißtrauisch musterte. Mit ihrer staubigen Kleidung und ihrem kräftigen Schweißgeruch wirkten sie kaum wie der typische Kunde eines solchen eleganten, hell erleuchteten Tempels. Die Angestellte gab einem Angehörigen der Hausaufsicht ein Zeichen, damit er Paul und Joe bis zum Ausgang in der State-Straße folgte. »Elstree hat hier angefangen. Es ist eine Chicagoer Familie.« Joe junior sprach erheblich lauter als vorher, um das Glockengeläut der Pferdetram und den allgemeinen Straßenlärm zu übertönen. »Jetzt sitzen sie auch in New York, in San Francisco und ich weiß nicht wo sonst noch. Im vergangenen Jahr gab es einen Riesenskandal, als der Laden Damenmäntel verkaufte und zwei Kundinnen starben. Es stellte sich heraus, daß die Mäntel aus einer Werkstatt von Ausbeutern stammten, die mit Pocken infiziert war. Natürlich hat niemand die Elstrees zur Rechenschaft gezogen. Das meine ich, wenn ich von der Ausbeutung armer Menschen rede.« »Ja, ich verstehe. Woher weißt du all diese Dinge?« »Ach, bestimmte Leute halten die Augen offen, keine Sorge.« Joe sah auf eine Uhr im Schaufenster eines Juweliers. »He, es ist schon halb fünf. Komm, wir fahren mit einer Straßenbahn runter zur Fünfzehnten
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Straße und gehen zu Fuß rüber zur Prairie. Nach dem, was wir an diesem Nachmittag erlebt und gesehen haben, würde ich meinen, daß wir einen Blick in den Himmel verdienen.« »Was meinst du damit?« »Etwas ganz Besonderes. Ich stelle dich jemandem vor.« Paul fragte, wen er meinte, aber sein Vetter rannte bereits über die Straße und entging um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem Fahrrad mit riesig großem Vorderrad. Der Fahrer auf seinem hohen Sattel wich dem Jungen aus und fuhr beinahe zwei Fußgänger über den Haufen. In der stillen und schattigen Prairie Avenue, in einem Viertel, wo die Häuser noch größer und feudaler waren als das der Crowns, blieb Joe neben einem Feuerhydranten unweit der Ecke Fünfzehnte Straße stehen. »Unsere Gegend ist ganz okay, aber die hier ist richtig schick. Auch wenn der alte Palmer zum North Lake Shore Drive umgezogen ist, gibt es hier noch immer genügend Millionäre.« Er deutete auf die Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Diese Hütte gehört Mr. Mason Putnam Vanderhoff III. Pork Vanderhoff, dem Fleischkönig. Wir warten nicht auf ihn, sondern auf seine Tochter. Sie heißt Juliette. Jeden Samstag, wenn das Wetter warm genug ist, spielt sie Rasentennis.« »Ich dachte, dein Mädchen heißt Rosie.« »Stimmt auch. Julie ist eine Freundin. Sie ist außerdem das schönste Geschöpf, das du je erblickt hast.« »Und du triffst dich hier draußen mit ihr?« »Gezwungenermaßen. Der alte Pork haßt Fremde und Pa ganz besonders. Ich weiß nicht genau weshalb. Mrs. Vanderhoff sitzt in irgendeinem Frauenkomitee, das mit der Ausstellung zu tun hat. Sie hat Mama daraus ferngehalten. Sie will nichts mit Mama zu tun haben.« »Woher kennst du dann das Mädchen?« »Ich hab’ Julie im vergangenen Winter kennengelernt, auf dem Eislaufplatz im Lincoln Park. Wir – Moment mal.« Er versteckte sich hinter dem Stamm einer Sykomore, der kaum dick genug war, um eine Zaunlatte zu verbergen. Von Norden kam ein kleiner, glänzend schwarzer Wagen die Prairie Avenue herunter. Er hatte kein Verdeck und war vorne tief heruntergezogen, um den Einstieg zu erleichtern. Gelenkt wurde er von einer jungen Frau in einem eleganten Tennisdreß aus weißem Leinen mit roten Streifen und Puffärmeln. Auf ihrem Kopf trug sie eine schnittige, leuchtendrote Flanellmütze. Während sich das schicke kleine Fahrzeug näherte, kam eine Windbö auf und schlug den Rock hoch, so daß Paul einen Blick auf schwarze
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Strümpfe über auffallenden Leinenschuhen erhaschen konnte. Er sah auch den Tennisschläger neben ihr auf dem Sitz. Joe sprang hinter der Sykomore hervor, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Julie! Hier drüben.« Das Mädchen lenkte das Pony zur anderen Straßenseite und zog die Zügel, um anzuhalten. Dabei wirbelte sie eine Staubwolke auf. »Hallo, Joe Crown, das ist aber eine nette Überraschung.« Sie lächelte ihn strahlend an. Paul hoffte, daß er sie nicht zu auffällig anstarrte. Er hatte sich noch niemals in der Nähe einer derart reichen Person aufgehalten. In Berlin war Tennis ein Spiel, das nur von einer kleinen Elite ausgeübt wurde. Er vermutete, daß das für Amerika ebenfalls zutraf. »Ich war gerade in der Gegend«, erklärte sein Vetter. »Ich dachte, ich sag’ mal kurz hallo. Kommst du im nächsten Winter wieder zum Schlittschuhlaufen?« »Natürlich, du auch?« »Das lasse ich mir auf gar keinen Fall entgehen. Wie war dein Tennis heute?« »Ganz gut, aber nach zwei Sätzen war ich schon müde. Mama sagt, das sei bei einem Mädchen durchaus zu erwarten, aber ich wünschte, es wäre nicht so.« Nun sah sie Paul an, der sich im Hintergrund hielt und vom Aussehen des Mädchens wie verzaubert war. Miss Vanderhoff war ungefähr in seinem Alter. Sie war recht zierlich gebaut, hatte eine feine weiße Haut und große, leuchtende graue Augen. Ihr tiefschwarzes Haar unter der roten Mütze war kräftig und glänzte. Sie hatte ebenmäßige Zähne, und, was noch wichtiger war, ihr Lächeln war natürlich und voller Wärme. Joe junior bemerkte die Blicke, die zwischen den beiden hin und her gingen. »Oh, entschuldige.« Er vollführte eine kleine Verbeugung, über die sie lachen mußte. »Madam, darf ich Ihnen meinen Vetter vorstellen – Paul Crown? Paul, Miss Juliette Vanderhoff. Paul lebt seit Weihnachten bei uns. Er kommt aus Deutschland. Ich denke, das macht ihn zum Grünschnabel.« Ein kurze Pause trat ein. »Er ist in Ordnung.« »Guten Tag, Paul. Wie geht es dir?« Das Mädchen streckte ihm die Hand entgegen. Er spürte die Berührung ihrer kühlen Finger wie einen elektrischen Schlag. Dann hatte er Mühe, eine Antwort zu formulieren. »Sehr gut, danke.« Seine Stimme quakte wie ein Frosch. Wie peinlich. Sie schien es nicht zu bemerken. »Hast du vor, in Amerika zu bleiben?« »Ganz gewiß, es soll meine neue Heimat werden.« Er war sich seines Akzents bewußt: schwerfällig, fremdartig. Wahrscheinlich fand sie ihn
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komisch. »Dann herzlich willkommen«, sagte sie. »Läufst du auch Schlittschuh?« »O ja. Ich habe aber keine Schlittschuhe mitgebracht« – in Wirklichkeit hatte er noch nie welche besessen –, »aber in Berlin bin ich oft gelaufen, und das ganz gut.« Er wollte eigentlich nicht lügen und so dick auftragen, aber ihre Schönheit verwirrte ihn völlig. »Dann sehen wir uns sicherlich im Lincoln Park, wenn die Teiche im nächsten Winter zufrieren –« »Miss Vanderhoff! Ihre Mutter fragt nach Ihnen.« Der laute Ruf ließ sie zusammenzucken. Ein Hausdiener in Livree stand in der Tür der Vanderhoff-Villa. Seufzend wandte Julie sich zu Joe junior um. »Mama hat dich wahrscheinlich erkannt.« Und zu Paul gewandt, fuhr sie fort: »Ihr Salon im ersten Stock geht zur Straße hinaus. Ich muß gehen.« Julie lenkte das Pony wieder auf die Straße. »Schön, dich kennengelernt zu haben, Paul. Bis zum Winter, Joe.« Sie winkte. »Bis zum Winter«, erwiderte er und hob ebenfalls die Hand. Sie mochte zwar nur eine Freundin sein, aber Paul sah den bewundernden Ausdruck in den Augen seines Vetters. Joe knuffte ihm in die Seite. »Habe ich dir nicht versprochen, daß wir einen Blick in den Himmel tun?« »Du hast recht, sie ist wunderschön.« »Aber total unerreichbar, also komm nur nicht auf dumme Gedanken, Kleiner.« Sein Vetter stieß ihm erneut in die Seite. Dennoch schien in seiner Stimme ein Anflug von Enttäuschung mitzuschwingen. Während sie durch die Prairie Avenue nach Süden spazierten, stellte Paul fest, daß sein Mund völlig ausgetrocknet war und sein Herz noch immer heftig klopfte. Etwas Überraschendes und Unglaubliches war dort im Schatten der Sykomore passiert. Er hatte sich verliebt. »Ich kann geradezu hören, wie es in deinem Kopf arbeitet«, sagte Joe junior. »Was beschäftigt dich?« »Ich denke über einen Job nach. Ich wünschte, ich hätte einen Job anstatt einen Platz in der Schule. Dann könnte ich Geld sparen. Und von dem Geld würde ich mir dann Schlittschuhe kaufen.« Joes Augenbrauen ruckten hoch. Sein Mund verzog sich. Ehe er etwas sagen konnte, platzte Paul heraus: »Wenn du mich auslachst, bekommst du Prügel.«
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Joe junior legte einen Arm um Pauls Schultern und drückte ihn brüderlich an sich. »Ich lache ganz bestimmt nicht. Ich weiß, wie so etwas ist. Unglücklicherweise interessiert sie sich überhaupt nicht für mich, außer als harmlosen Freund. Vielleicht hast du mehr Glück.« An diesem Abend im Bett kam Paul ein schlimmer Gedanke. Nun, da sich zwischen ihm und seinem Vetter eine Freundschaft zu entwickeln schien, hatte er seiner Meinung nach eine unsichtbare Grenze überschritten. Er hatte Partei ergriffen. Gegen Onkel Joe. Und wenn schon. Schließlich hatte Onkel Joe ihn zum Besuch dieser Schule verurteilt. Sein Vetter behandelte ihn beinahe wie jemand Gleichwertigen. Das war der große Unterschied.
19 JOE CROWN An einem Nachmittag, eine Woche vor Eröffnung der Ausstellung, erschien ein gewisser Oskar Hexhammer in Joes Büro. Joe kannte ihn hauptsächlich vom Hörensagen, obgleich sie einander schon einmal vorgestellt worden waren, und zwar durch einen gemeinsamen Bekannten in den exklusiven Räumen des Germania Club in der North-Clark-Straße, bei dem alle drei Männer Mitglied waren. Hexhammer war um die Dreißig, schlank und bis auf das dichte schwarze Haar, das wie kleine Flügel über den Ohren von seinem Kopf abstand, bereits kahl. Er trug eine Brille und legte eine Haltung absoluter Autorität an den Tag. Er war vor weniger als zehn Jahren in Chicago angekommen und hatte schon bald die Position eines Führers der konservativsten deutschen Bewegung inne. Offenbar hatte er eine bedeutende Erbschaft nach Amerika mitgebracht, mit der er die Deutsche Zeitung von Chicago gegründet hatte, eines der zahlreichen deutschsprachigen Nachrichtenblätter der Stadt. Er war Herausgeber und Chefredakteur zugleich. Joe hatte diese Zeitung nicht abonniert. Er fand sie engstirnig, einseitig und langweilig. Sie schien hauptsächlich dank städtischer Anzeigen zu überleben, welche die Stadtverwaltung immer in deutscher und englischer Sprache in Auftrag gab. Die Verbreitung der Zeitung kam auch nicht im entferntesten an Hermann Kohlsaats Abendpost oder an Anton Hesings Illinoiser Staatszeitung heran, ein Blatt, das Joe regelmäßig las. Als die Staatszeitung gegründet wurde, plädierte sie leidenschaftlich für die
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Abschaffung der Sklaverei und vertrat die Auffassungen, mit denen Joe übereinstimmte. Zur Frage des Achtstundentags vertrat sie die Meinung, daß Arbeiter mit zehn Stunden Arbeit »glücklicher« seien, weil sie ansonsten zwei weitere Stunden in Untätigkeit verbringen müßten, was am Ende zu Familienstreitigkeiten und sogar zu Verbrechen führen könnte. Obgleich Joe ungehalten auf Hexhammers lästiges Ersuchen reagierte, ihn ohne vorherige Terminabsprache sprechen zu wollen, begrüßte er den Mann mit Händedruck und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. »Wie geht es Ihnen, Herr Crown?« Das Deutsch des Besuchers hatte einen deutlich hörbaren Akzent. Berlin. Und zwar das snobistische Berlin. »Ich rede lieber englisch, Mr. Hexhammer. Was kann ich für Sie tun? Ich hoffe, Sie fassen sich kurz, denn wir haben hier immer sehr viel zu erledigen.« »Ich denke, daß Sie fünfzehn Minuten zum Nutzen der deutschen Kultur erübrigen können.« Joe witterte sogleich eine Bitte um finanzielle Unterstützung. Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander, so daß sie teilweise sein Gesicht verbargen. »Bitte, äußern Sie sich etwas genauer.« Hexhammer polierte seine Brille mit einem gestärkten Taschentuch. »Aber gerne. Sicherlich sind Sie mit mir darin einig, daß die Menschen in unserem Vaterland, wo Sie und ich geboren wurden, ein weitaus zivilisierteres, angenehmeres Leben führen als hier in Amerika.« Joe stöhnte innerlich auf. Schon wieder so ein Verfechter der Auffassung, daß alles Deutsche überlegen sei! »Nicht unbedingt«, sagte er. »Ich erinnere mich mit großer Zuneigung an meine Heimat, aber ich ziehe dieses Land vor. Ich liebe seine Demokratie, seine Energie, sogar seine Gewöhnlichkeit. Mir gefällt, daß es nicht der Vergangenheit verhaftet ist, sondern stets in die Zukunft blickt. Ich liebe die Grundidee, daß alle Menschen am gleichen Punkt starten und nur die eigenen Fähigkeiten und ihr Ehrgeiz bestimmt, wie weit sie kommen können. Ich liebe es, daß Amerika grundsätzlich jeden willkommen heißt. Erst vor kurzem, im Dezember, kam mein Neffe –« Hexhammer unterbrach ihn. »Ihnen gefällt die Vorstellung, sich mit Böhmen und Polen gemein zu machen? Sogar mit den dreckigen Iren – mit allem Abschaum der Erde?« Joe lachte. »Mir wurde gesagt, Sie seien ein verkappter Aristokrat. Das trifft tatsächlich zu.« Hexhammer fand das gar nicht amüsant. »Ihnen könnte man genau den gleichen Vorwurf machen, Sir. Sie haben schließlich entschieden, daß ein Haus auf der Nordseite, also unter Ihresgleichen, nicht exklusiv genug ist.
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Deshalb sind Sie zur Michigan Avenue gezogen.« »Wo ich wohne und weshalb, ist allein meine Sache. Zu Ihrer Information – unser erstes Haus war einfach zu klein. Meine Adresse drückt in keiner Weise eine Minderung meiner Hochachtung vor meinem Geburtsland, meinem Volk und dessen Traditionen aus.« Joe blieb nach außenhin völlig ruhig. Aber er ärgerte sich über den Hinweis darauf, daß andere Schlechtes von ihm dachten, weil er von der vorwiegend von Deutschen bewohnten North Side vor fünf Jahren weggezogen war. Sein guter Ruf war für Joe sehr wichtig. »Um es noch genauer zu erklären, Mr. Hexhammer – unsere Familie gehört der Lutheranischen St.-Pauls-Kirche an der Ecke von Superior und Franklin Avenue an – was Ihnen, wie ich annehme, durchaus bekannt ist.« »Natürlich.« »Es ist die älteste lutheranische Kirche in der Stadt. Sie läßt sich bis 1848 zurückverfolgen. Deutsche haben sie aufgebaut, und unter den Gläubigen befinden sich vorwiegend Deutsche. In der Sonntagsschule wird immer noch auf deutsch unterrichtet. Außerdem spenden meine Frau und ich regelmäßig für das Krankenhaus des Alexianerordens, das von Mönchen aus Aachen gegründet wurde, und für das German Hospital an der Lincoln Avenue. Als ich das erste Mal finanziell in der Lage war, wohltätige Bemühungen zu unterstützen, gab ich alles, was ich entbehren konnte, dem Schwabenverein, um dem Verein dabei zu helfen, das Schiller-Denkmal im Lincoln Park aufzustellen. Beweist das genug Hochachtung für mein deutsches Erbe, Mr. Hexhammer?« »Sicherlich, gewiß.« »Worum geht es denn dann noch?« Der Besucher räusperte sich. »Kennen Sie die Vereinigung der PanGermanischen Liga in unserer Heimat?« »Ich weiß wenig darüber. Es ist doch eine Gruppierung von Superpatrioten, nicht wahr?« »So schlimm nun auch wieder nicht. Obgleich es sich um eine Bürgervereinigung handelt, ist die Liga ein notwendiger und überaus wichtiger Arm unserer Regierung.« »Meine Regierung sitzt in Washington. Aber fahren Sie fort.« Joe griff an seine Weste. Seine Finger begannen den Eberzahn zu reiben. »Die Liga hat ganz spezielle Ziele. Sie unterstützt eine höhere Bereitschaft zum Armeedienst, eine umfangreichere und stärkere Marine, die weltweit operieren kann, außerdem die Ausweitung der Kolonien in Übersee und natürlich Aufrüstung im Hinblick auf unsere Todfeinde Frankreich und das Britische Reich.«
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Joe schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum der Kaiser England so leidenschaftlich haßt, wo doch seine eigene Großmutter, Königin Victoria, dort regiert. Ich war schockiert, als er verlauten ließ, daß das englische Blut in seinen Adern für seinen verkrüppelten Arm verantwortlich sei.« »Meiner Meinung nach eine völlig richtige und angemessene Aussage. Um aber auf die Liga zurückzukommen – es ist eines ihrer anderen Ziele, das mich hierher führt. Die deutsche Diaspora hat sich über die ganze Welt ausgebreitet. Wo immer Deutsche sich niederlassen, bemüht die Liga sich, unsere Sprache und Kultur zu erhalten und zu fördern.« »Zurück zur deutschen Überlegenheit, ist es das?« Der Besucher erkannte den Sarkasmus nicht oder wollte ihn nicht erkennen. »Aus gutem Grund, Sir. Wir sind schließlich das Volk Beethovens. Das Volk Wagners und Goethes.« Hexhammer beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich stehe in enger Verbindung mit der Direktion der Liga in Übersee. In engster Verbindung sogar.« Was für ein aufgeblasener Esel, dachte Joe. Soll ich jetzt etwa auf die Knie sinken und vor Ehrfurcht erstarren? »Mr. Hexhammer, ehe wir dieses Gespräch fortsetzen, möchte ich, daß Sie mir eine Frage beantworten. Wenn die Kultur des Vaterlandes der amerikanischen so haushoch überlegen ist, weshalb sind Sie dann hier und nicht drüben?« »Ich dachte, das hätte ich längst klargemacht, mein Freund. Als Deutsche ist es unsere Pflicht, den politischen und gesellschaftlichen Kurs des Landes zu beeinflussen, in dem wir leben. Damit müssen wir schon bei den Kindern anfangen. Deshalb unterstützt die Liga die Gründung eines völlig neuen Turnvereins, der den Namen ›Kaiser-Wilhelm-Turnverein von Chicago‹ tragen soll.« Die letzten Worte sanken zu einem unverständlichen Gemurmel herab. Joe Crown betrachtete seinen Besucher mit skeptischem Blick. Hexhammer sammelte sich. »Sie glauben doch an die Lehren Friedrich Jahns, oder nicht? Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?« Anfang des Jahrhunderts hatte Jahn in Deutschland eine Bewegung gegründet, die sich der körperlichen Ertüchtigung verschrieb. Danach gründeten Einwanderer überall in Amerika typisch deutsche Turnvereine. »In der Tat. Ich habe meine Kinder immer dazu angehalten, sich ausgiebig körperlich zu betätigen und Sport zu treiben, um gesund zu bleiben.« »Sind sie zur Zeit Mitglieder in einem ordentlichen Verein?« »Nein. Sie waren in einem Verein, als sie noch kleiner waren.«
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»Dann empfehle ich Ihnen, sie in unserem neuen Club anzumelden. Mit einem Gründungsbeitrag von mindestens eintausend Dollars. Ihre Kinder kommen auf diese Art und Weise in eine Elitevereinigung zur Propagierung deutscher Werte durch körperliches Training.« »Mr. Hexhammer«, sagte Joe, »es paßt mir überhaupt nicht, wenn jemand zu mir kommt und mir erklärt, daß ich mein Geld hierfür oder dafür ausgeben soll. Überdies, wenn ich mich entschließe, etwas zu spenden, dann bestimme ich allein den Betrag.« »Aber es ist Ihre Pflicht als Deut –« »Bitte erinnern Sie mich nicht an meine Pflicht. Die kenne ich selbst. Und zu meinem Pflichten gehört ganz sicher nicht, ausgerechnet diesen übertriebenen deutschen Patriotismus zu unterstützen.« Hexhammer zuckte in seinem Sessel zusammen. Er hatte vorher seine grauen Handschuhe abgestreift und auf seinen Schoß gelegt. Jetzt begann er, sie heftig zu zerknautschen. »Das ist eine sehr seltsame Haltung für jemanden, der vorgibt, sein Geburtsland zu lieben. Diese Einstellung ist vor allem bei einem Geschäftsmann verwirrend, der – und das darf ich wohl behaupten, oder? – sich auf das Wohlwollen deutscher Menschen verläßt.« Er hielt inne, während seine Worte wirkten. »In dieser Stadt, Sir, machen gewisse Neuigkeiten sehr schnell die Runde. Ich möchte nicht, daß Ihr Ruf Schaden erleidet. Oder daß Ihre Bierverkäufe zurückgehen.« Joe Crown erhob sich. Er kam langsam um den Schreibtisch herum und blieb vor Hexhammer stehen. »Ich betrachtete dieses Gespräch als beendet. Verlassen Sie mein Büro!« Hexhammer wand sich aus seinem Sessel und drängte sich an Joe vorbei. Mit unsicheren Seitenschritten ging er zur Tür. Dabei wrang er noch immer seine Handschuhe. »Ich glaube, das bereuen Sie noch. Sie sind kein guter Deutscher.« »Sie mögen recht haben. Ich bin schließlich ein amerikanischer Bürger. Und jetzt raus, bitte.« Hexhammer schlug die Tür zu. Joe ließ sich in seinen Sessel sinken. Er hatte genau das Richtige getan, aber er war sich völlig darüber im klaren, daß der junge Verleger unter den Ultrakonservativen in Chicago einen gewissen Einfluß hatte. Die Drohung hinsichtlich der Bierverkäufe machte ihm wegen eines wichtigen Punktes Sorgen. Er betrachtete sich als persönlich verantwortlich für das Wohlergehen jeder Person auf seiner Lohnliste. Und das Wohlergehen hing vom Erfolg der Brauerei von Woche zu Woche und von Monat zu Monat ab.
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Nun, er würde niemals jemanden wegen sinkender Verkäufe entlassen. Das hatte er schon vor langer Zeit entschieden. Eher würde er selbst pleite gehen. Er war noch nicht einmal besonders edel. Ein anständiger Mensch betrieb seine Geschäfte nun mal so. Er befürchtete, daß er mit Hexhammer noch nicht fertig war, genauer ausgedrückt, daß Hexhammer noch nicht mit ihm fertig war. Während er einen Stapel Briefe unterschrieb, die Zwick an diesem Morgen bereits auf der Maschine geschrieben hatte, versuchte er den Vorfall aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. 20 PAUL An dem großen Tag weckte ein fernes Donnergrollen Paul schon vor dem Morgengrauen. Er wollte wieder einschlafen. Er drehte sich auf die linke Seite. Er zwang sich zu gähnen. Er warf sich auf die rechte Seite. Sinnlos. Seine Gedanken kreisten um die Ausstellung. Ein ganzer Tag ohne Mrs. Petigru! In den eisernen Heizungsrohren, die sich durch das Haus schlängelten, hörte er ein Klappern und Klirren, eine ferne, geisterhafte Stimme. Obgleich es noch dunkel war, war Louise längst in der Küche. Tante Ilsa ebenfalls. Die Tante hatte verkündet, daß um halb sieben gefrühstückt würde. Manfred hatte etwas gegen diese Änderung des alltäglichen Zeitplans und hatte sich hinter Tante Ilsas Rücken in der Küche entsprechend geäußert. Manfred verabscheute alles, was er nicht selbst geplant und genehmigt hatte. Jemand klopfte. Paul sprang aus dem Bett, stolperte durch die Dunkelheit und flüsterte: »Wer ist da?« »Fritzi. Bist du wach?« »Nein, ich schlafe noch. Merkst du das denn nicht?« Fritzi kicherte. »Was willst du?« »Mach die Tür auf. Bitte.« Seufzend drehte er den Türknauf. Ein Geruch, der an irgendwelche Früchte erinnerte, drang in seine Nase. Er konnte Fritzis Gesicht nicht erkennen, sah nur die Silhouette ihrer langen Locken und des fußlangen Nachthemds vor dem matten Lichtschimmer am Ende des Korridors. »Ich wollte dich nicht wecken, Paul.« Er brummte etwas Unverständliches. »Ich bin so aufgeregt. Ich kann nicht schlafen.« »Ich bin auch aufgewacht«, gestand er. »Was interessiert dich denn auf der Ausstellung am meisten?«
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»Alles.« »Ich möchte das Porträt von Ellen Terry sehen.« »Wer ist das denn?« »Paul, wo hast du nur die ganze Zeit gelebt? Ellen Terry ist eine der besten Schauspielerinnen der Welt.« »Aha.« Ein längeres Schweigen trat ein. Fritzi rieb mit den nackten Zehen über den weichen Teppich auf dem Korridor. »Na ja, ich glaube, ich gehe mich jetzt lieber kämmen oder so.« »Ja, tu das ruhig.« »Wir sehen uns dann beim Frühstück.« Er war völlig unvorbereitet, als sie vorschnellte und ihm einen Kuß auf die Wange drückte. Danach wirbelte sie herum und rannte mit fliegender Mähne in ihr Zimmer. Verblüfft und etwas benommen, schloß Paul die Tür und lehnte sich in der Dunkelheit gegen die Wand. Er legte die Finger auf die Stelle, die Fritzis Lippen berührt hatten. Seine Finger ertasteten etwas Klebriges. Er roch daran. Daher kam also der Geruch. Es war irgendeine süßliche Nachtcreme, die sie zur Pflege ihrer Haut verwendete. Das mit Kusine Fritzi ging einfach zu weit. Sie war nett, lebhaft und klug, obgleich es immer wieder vorkam, daß sie einem mit ihrem Geplapper und ihrem Schauspielern furchtbar auf die Nerven ging. Offensichtlich sah sie in ihm mehr als nur einen Verwandten. Sie hatte irgendwelche romantischen Anwandlungen. Er hatte das schon länger vermutet, es sich selbst gegenüber aber niemals eingestehen wollen. Der Kuß veränderte alles. Er durfte sie nicht ermutigen, nicht einmal andeutungsweise. Vettern und Kusinen durften keine Verbindung eingehen, und außerdem hatte er jemand ganz anderen im Sinn. Eine ältere. Von ihren entzückenden Augen, ihrem wundervollem Haar und ihrer bezaubernden Figur hatte er mehr als nur einmal geträumt. Er mußte dies Fritzi auf eine Art klarmachen, die sie überzeugte, aber nicht verletzte. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Aber nicht heute. Heute wurde gefeiert. Die einzige Person im Haus, der nicht danach zumute war, war Joe junior. Er äußerte sich stets ablehnend über die Ausstellung. Wie würde er sich bei den Eröffnungsfeierlichkeiten verhalten? Paul knipste das elektrische Licht an und begann, sich zu waschen und anzuziehen, als der Himmel über dem Michigan-See graute. Es war der 1. Mai 1893. Außer Vetter Joe fanden sich alle zum Frühstück ein. Onkel Joe saß auf
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seinem angestammten Platz, allerdings mußte er schon früh zu einem zweiten, wichtigeren Frühstück mit verschiedenen Würdenträgern in seinem Club aufbrechen. Er hatte nur einen Teller mit einem kleinen Stück Hering und eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich stehen. Onkel Joe sah eindrucksvoll aus in einem Gehrock mit Satinaufschlägen, einem dunkelrot und schwarz gestreiften Schal und einer grauschwarz gestreiften Hose. Als Tante Ilsa einen Teller mit Würstchen hereinbrachte, erkundigte er sich: »Darf ich erfahren, wo Joe junior bleibt?« »Er hat schreckliche Magenschmerzen. Er hat darum gebeten, heute dem Frühstück fernzubleiben, und ich war einverstanden.« »Na schön, soll er zu Hause bleiben. Wir können auf die Gesellschaft eines Spielverderbers durchaus verzichten. Wenn er die Ausstellung später besuchen will, dann kann er den Eintritt selbst bezahlen.« Donner grollte. Onkel Joe schaute stirnrunzelnd zum dunklen Himmel, der durch das Fenster neben ihm zu sehen war. »Hoffentlich fällt unser Freiluftprogramm nicht ins Wasser. Zumindest Präsident Cleveland ist bereits in der Stadt. Wir haben nämlich einen neuen Präsidenten, Paul. Er wurde im vergangenen November gewählt.« »Ich habe auf meiner Reise hierher sein Bild gesehen, glaube ich. Es gab viele Plakate.« Tante Ilsa und Louise liefen herum und präsentierten Platten mit Bergen von Essen. »Eßt, Kinder, wir haben einen langen Tag vor uns.« Manfred schritt zweimal durch das Eßzimmer, wobei das Mißfallen in seinen streng blickenden Augen deutlich zu sehen war. Mitten während der Mahlzeit entschuldigte Carl sich, um die Toilette aufzusuchen. Er kam zurückgerannt und prallte mit Manfred zusammen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Master Carl, dann achten Sie bitte darauf, wohin Sie laufen.« Onkel Joe räusperte sich. Es war ein sanfter, aber deutlicher Hinweis, daß Manfreds Tonfall zu streng war. Manfred errötete. Paul sagte: »Es war nicht seine Schuld, Mr. Blenkers, er kann schließlich nicht um die Ecke schauen.« »Oh, ich verstehe, danke für die Aufklärung, Master Paul.« Manfred starrte Paul eindringlich an, dann stolzierte er hinaus. Paul brauchte sich diesen letzten Vorfall nicht zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, daß Manfred eine tiefe Abneigung gegen ihn hegte. Wahrscheinlich hatte er allein durch seine Ankunft und seine Existenz die von Manfred geschaffene Haushaltsordnung empfindlich gestört. Der Diener würde wohl niemals sein Freund sein, aber das machte Paul nichts aus. Für ihn gehörte Manfred zu derselben Sorte Menschen wie seine
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Lehrerin Mrs. Petigru. Ein heftiges Gewitter brach los, als Onkel Joe, der sich einen hohen Seidenzylinder aufgesetzt hatte, zu seinem Frühstücksempfang aufbrach. Der Regen trommelte auf das Dach und lief in Bächen an den Fensterscheiben hinunter. Für eine Weile konnte man nicht einmal mehr die Michigan Avenue erkennen. Fritzi fing an zu weinen und klagte, daß nun alles verdorben sei. Kurz nach dem Frühstück, während das Unwetter noch tobte, klopfte Paul leise an Joe juniors Tür. »Komm rein.« Zu seiner Verblüffung saß Vetter Joe im Nachthemd in seinem Bett. Er hatte ein Buch in der Hand und sah völlig gesund aus. »Joe, es tut mir leid, daß dir schlecht ist.« »Ich hab’ nur Leibschmerzen.« »Kannst du wirklich nicht mitkommen?« »Ich will nicht. Mama versteht das. Geh ruhig. Ich weiß ja, daß du alles sehen willst. Mir gefällt schon allein die Vorstellung nicht, zwischen diesen reichen Leuten eingepfercht zu sein. Du kannst mir ja morgen erzählen, wie es war.« »Ja, das tue ich bestimmt«, versprach Paul erleichtert. »Mach bitte die Tür hinter dir zu. Danke.« Joe junior war längst wieder in sein Buch vertieft. Fast wie durch ein Wunder ließ der Regen nach, die Gewitterwolken trieben weiter, und die Sonne kam heraus, so daß von den regennassen Straßen Dampf aufstieg. Als Nicky Speers die Familie gegen halb zehn zur Ausstellung kutschierte, herrschte schönes Wetter. Auf dem gesamten Weg zum Ausstellungsgelände beschwerte Fritzi sich, daß ihr Korsett drücke. Sie und Tante Ilsa hielten sich beim Gehen ein wenig vornübergebeugt, woran ihre sehr stramm geschnürte Kleidung schuld war. Erst am Vorabend hatte Fritzi diesen Gang, den sie »den Känguruh-Diener« nannte, nachgeahmt. Die Straßen zum Jackson-Park waren mit Kutschen, Wagen, Pferdetaxis und Fußgängern verstopft. Onkel Joe erwartete die Familie am Haupteingang und winkte ihnen zu, sie sollten sich beeilen. Von allen Seiten hin und her gestoßen, folgten sie ihm. Paul konnte es sich kaum verkneifen, die Gebäude anzugaffen, die prachtvoll und blendendweiß im Sonnenschein standen. Sie saßen auf gesonderten, aber nicht sehr bequemen Plätzen. Die harten Bänke waren am Fuß einer breiten Treppe an der Ostseite des
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Verwaltungsgebäudes aufgestellt worden. Eine reich geschmückte Plattform auf der Tribüne bot Platz für ein vollständiges Orchester, einen großen Chor und für alle Würdenträger, die Onkel Joe leise aufzählte. Der Präsident der Vereinigten Staaten, Grover Cleveland, der Vizepräsident Adlai Stevenson aus Illinois, Bürgermeister Harrison, Gouverneur Altgeld sowie drei Ehrengäste aus Spanien – der Herzog von Veragua, ein direkter Nachfahr von Columbus, seine Gattin und eine Frau, die Joe als Infanta Eulalia, die Tochter des Königs, identifizierte. Die Eröffnungsfeierlichkeiten begannen um Viertel nach elf. Das Orchester spielte eine Wagner-Ouvertüre. Darauf folgten Gebete, Chorgesang und mehrere langatmige Reden, bei denen Paul, Carl und Fritzi unruhig auf ihren Plätzen herumrutschten. Nach Osten zu, in Richtung See, drängten sich Tausende auf den Promenaden zu beiden Seiten des funkelnden Grand Basin. Onkel Joe sagte, daß an diesem Tag zwischen dreihundert- und fünfhunderttausend Besucher erwartet würden. Alle erhoben sich, um dem Präsidenten zu applaudieren, nachdem er begrüßt worden war. Mr. Cleveland war ein stämmiger, energischer Mann mit kräftiger Stimme, aber Paul achtete kaum auf das, was der Politiker zu sagen hatte. Seine Rede war lang, seine Sätze kompliziert, und außerdem wurde Paul ständig von den unglaublichen Sehenswürdigkeiten ringsum abgelenkt. Da waren weiße Gebäude von großer Schönheit und Symmetrie; breite Prachtstraßen; Seen und Teiche, die das Sonnenlicht reflektierten; Statuen und Plastiken jeder Art. Gegen halb eins beendete der Präsident seine Ausführungen. Stürmischer Applaus erklang – wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Auf beiden Seiten des Grand Basin und in den dazwischenliegenden Prachtstraßen wurde die Menschenmenge schnell wieder still. Onkel Joe beugte sich gespannt vor. »Paßt auf, gleich ist es soweit.« Präsident Cleveland streckte die Hand nach dem vergoldeten Schalter vor ihm aus. Seine Stimme hallte über die Köpfe der Besucher hinweg. »Genauso wie durch eine einzige Geste die Maschinen, die diese umfangreiche Ausstellung mit Leben erfüllen, in Gang gesetzt werden, so sollen im gleichen Augenblick unsere Hoffnungen und Bemühungen Kräfte wecken, die in künftigen Zeiten das Wohlergehen, die Würde und die Freiheit der Menschheit unterstützen.« Er betätigte den Schalter. Der Dirigent gab mit seinem Taktstock den Einsatz. Während die ersten Töne erklangen und der große Chor seinen Gesang anstimmte, stiegen aus den Brunnen überall auf dem Ausstellungsgelände schäumende Wassersäulen hoch, entfalteten Fahnenmasten auf wundersame Weise
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Flaggen von Amerika, Spanien und anderen Nationen, fielen von jedem Dachfirst Wimpel und bunte Bänder herab. Gleichzeitig enthüllte sich eine riesige Statue der Republik, die sich auf einem Podest am östlichen Ende des Grand Basin erhob. Glocken schlugen und Dampfpfeifen ertönten von einer Flotte elektrisch betriebener Seefähren, die eigens gebaut worden waren, um die Besucher über die Wasserwege des Ausstellungsgeländes zu transportieren. Kanonen eines Hochseeschiffs, das in einiger Entfernung vom Seeufer vor Anker lag, schossen Salut. Von einem weißen Säulengang hinter dem Standbild der Republik stiegen zweihundert weiße Tauben aus ihren Käfigen gen Himmel auf. Tante Ilsa stieß Paul an. »Kennst du diese Musik, Pauli? Es ist das Halleluja. Der Komponist, Mr. Händel, war ein Deutscher wie wir. Aus Sachsen. Ist es nicht ergreifend?« Er mußte ihr recht geben. Während Flaggen, Springbrunnen und Wimpel die offizielle Eröffnung der Ausstellung verkündeten, überdeckte der Beifall der Massen die Musik Händels. Fritzi klammerte sich an Pauls Arm, hüpfte auf ihrem Platz auf und nieder und schluchzte tief bewegt. Onkel Joe legte einen Arm um seine Frau, während er sich mit einem großen Taschentuch verstohlen die Augen wischte. Tante Ilsa sah mit ihrem schicken kleinen Hut – schwarzer Filz mit blauen und schwarzen Straußenfedern – sehr hübsch aus. Sie hielt einen Sonnenschirm fest zusammengerollt in der Hand – Fritzi trug einen kleineren – und hatte ihr Gesicht mit Reispuder und Rouge dezent geschminkt. Ihr Kleid war an der Taille gerafft und besaß eine kleine Rüschenschleppe. Das Rascheln ihrer Unterröcke gefiel Paul. Carl sah sich mit großen Augen um und war genauso überwältigt wie sein Vetter. Die Jungen trugen kleinere Versionen von Onkel Joes elegantem Anzug, eigens für diesen Anlaß erstanden. Paul war noch nie so elegant gekleidet gewesen, obgleich er den engen, gestärkten Hemdkragen nicht sehr bequem fand. So sehr der ihn auch störte, so vermutete er doch, daß er nicht halb so schlimm litt wie die Frauen wegen bestimmter Kleidungsstücke. Händels Chorgesang endete. Das Orchester stimmte America an. Nachdem er in sein Programmheft geschaut hatte, sagte Onkel Joe: »Das ist der Schluß. Nun, Paul, was hältst du davon? Beeindruckend, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Versuch doch mal, deinem Vetter diesen Eindruck zu vermitteln.« »Papa, können wir endlich gehen?« fragte Fritzi. Sie hüpfte auf den Stufen zur Tribüne. Tante Ilsa ergriff ihre Hand. »Sei vorsichtig, damit du nicht hinfällst.« »O Mama, ich kann nicht stillstehen, ich bin viel zu aufgeregt. Ich will
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endlich das Porträt von Ellen Terry als Lady Macbeth sehen. Wo hängt es?« »Ich muß unbedingt in die Brauereiausstellung«, sagte Onkel Joe. »Vierundzwanzig meiner Konkurrenten zeigen dort ihre Produkte. Ich möchte mich vergewissern, ob Crown’s neben ihnen bestehen kann. Ich gehe jetzt hin, und wir treffen uns in einer halben Stunde. Vielleicht sollten wir danach mal den deutschen Pavillon aufsuchen. Ich habe das schmiedeeiserne Tor gesehen, als es in der letzten Woche montiert wurde. Es ist wirklich sehenswert.« »Nein, gehen wir lieber zur Krupp-Kanone«, sagte Carl. Tante Ilsa meldete einen weiteren Wunsch an. »An der Hauptstraße befindet sich sogar ein deutsches Modelldorf.« »Ja, zur Hauptstraße«, sagte Carl und hüpfte nun herum wie seine Schwester. »Ich möchte mal mit dem Rad fahren. Dürfen wir das, Papa?« In der Schule hatten alle nur von dem riesigen Rad mit den Gondeln gesprochen. Paul konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, mit einem solchen Ding bis zu den Wolken emporzusteigen. »Paul, gibt es etwas, was du besonders gerne sehen möchtest?« erkundigte Onkel Joe sich, während sie sich ihren Weg zum Ende der Sitzreihen bahnten. »Vielleicht Sandow, den Kraftmenschen? Er ist auch ein guter Deutscher.« »Nun, Sir, am liebsten würde ich zur Buffalo-Bill-Show gehen.« Codys Lager war direkt vor dem Ausstellungsgelände aufgeschlagen worden. Die Show fand täglich statt, bis die Ausstellung im Herbst die Tore schloß. »Das ist eine gute Idee. Carl erzählte, du hättest sie dir in Berlin ansehen wollen und hättest es damals nicht gekonnt. Ich kaufe Eintrittskarten für einen späteren Termin im Sommer. Das wäre doch eine gute Idee. Wir könnten dann deinen erfolgreichen Abschluß des Schuljahres feiern.« »Vielen Dank«, sagte Paul mit gequältem Gesichtsausdruck. »Jetzt kommt endlich. Wir müssen uns noch darauf einigen, wo wir uns nachher treffen.« Auf dem Ausstellungsgelände herrschte dichtes Gedränge. Man kam nur langsam vorwärts. Die Crowns bewunderten das große Standbild von Christopher Columbus. Er reckte sein Schwert in den Himmel, während hinter ihm die Flagge seines Heimatlandes flatterte. Eine elegant gekleidete, aber kränklich aussehende Frau kam auf sie zu. Tante Ilsa lächelte und sagte: »Guten Tag, Nell.« Die Frau wandte den Blick ab und ging grußlos vorbei. Fritzi zupfte ihre Mutter am Ärmel. »Mama, wer war das?« »Mrs. Vanderhoff.«
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»Warum redet sie nicht mit dir?« »Ich weiß es nicht, aber es ist nicht das erste Mal. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.« Vanderhoff? Etwa eine Verwandte des netten Mädchens von der Prairie Avenue? Ob es auch da war? Vielleicht sah er es. Warum um alles in der Welt wollte jemand Tante Ilsa, die netteste aller Frauen, vor den Kopf stoßen? Tante Ilsa blieb vor einem ungewöhnlichen Gebäude stehen. Es hatte einen bühnenhaften Eingang aus Rundbögen, die von goldenem Laub umrankt wurden. Geradezu atemberaubend, dachte Paul. »Das ist der Transport-Pavillon, Kinder«, sagte Ilsa nach einem Blick in den Ausstellungsführer. »Mr. Sullivan hat ihn entworfen.« »Wer ist das?« fragte Carl gleichgültig. »Louis Sullivan ist ein Chicagoer Architekt. Er und sein Partner, Mr. Adler, sind sehr fortschrittlich. Einige bezeichnen Mr. Sullivan sogar als Genie.« Onkel Joe stieß wieder zu ihnen, nachdem er sich in der BrauereiAusstellung umgesehen hatte. »Unsere Präsentation ist in Ordnung. Freds Zeichnungen von den verschiedenen Schritten des Bierbrauens sind einfach, aber wirkungsvoll. Ich bin zufrieden.« Diese Stimmung schien bei ihm vorzuherrschen, während sie ihren Weg fortsetzten. »Ist diese Ausstellung nicht ein herrlicher Erfolg? Bevor der Kongreß Chicago vor allen anderen Städten den Zuschlag gab, erklärten alle Skeptiker, wir würden es nicht schaffen. Wir könnten niemals eine Ausstellung diesen Umfangs auf die Beine stellen, noch dazu termingerecht. Aber wir haben es ihnen bewiesen!« Sie bogen in eine andere Straße ein. In der Ferne gewahrte Paul das riesige Rad, das sich langsam drehte, das »Ferris-Rad«, benannt nach seinem Erfinder. Winzige Gestalten saßen in den Holzgondeln am äußeren Ring des Rads. Onkel Joe wandte sich an seine Frau. »Du hast bisher noch keinen Wunsch geäußert, Ilsa. Was möchtest du denn am liebsten sehen?« »Den Frauen-Pavillon.« »Tut mir leid, den mußt du wohl alleine aufsuchen. Ich habe niemals die Notwendigkeit gesehen, dem weiblichen Geschlecht ein besonderes Denkmal zu setzen, und ich sehe sie auch jetzt nicht.« »Natürlich nicht. Aber du mußt wissen, Joe, daß ich die Absicht habe, am Frauenkongreß teilzunehmen, wenn er in der Kunsthalle tagt. Ich werde so viele Sitzungen besuchen, wie es mir meine Zeit erlaubt.« »Na schön, aber bitte steig nicht auf die Barrikaden. Dort herrscht schon
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jetzt ein zu großes Gedränge von Roten und Freidenkern und diesen sogenannten neuen Frauen. Sollen wir abstimmen? Wohin zuerst?« Er klopfte auf die Brusttasche seines Gehrocks. »Ich habe einige Freikarten, die uns den kostenlosen Besuch der meisten Ausstellungen gestatten.« »Auch für das Ferris-Rad?« rief Carl. »Nein, für das nicht, fürchte ich. Es heißt, das Riesenrad werde wohl die meisten Besucher anziehen.« Sie einigten sich auf die Krupp-Kanone, die in einem eigenen Pavillon der Firma Krupp in der Nähe des Seeufers gezeigt wurde. Sogar Paul hatte schon von diesem renommierten deutschen Unternehmen aus Essen gehört. Der Pavillon glich einer preußischen Festung in Miniatur, mitsamt Wehrmauern und Wehrtürmen. Die Kanone war über sechsundzwanzig Meter lang. Eines ihrer Geschosse wog über eine Tonne. Sie konnte über sechzehn Meilen weit schießen, erklärte der Krupp-Ingenieur, der für Fragen bereitstand. Carl war aufgeregt und beeindruckt. Er stellte eine Frage nach der anderen. Onkel Joe schien diese Präsentation zu beunruhigen. Beim Hinausgehen sagte er: »Ob das heutzutage der einzige Stolz Deutschlands ist? Kriegswaffen? Läßt unser Vaterland hier vielleicht seine Muskeln spielen wie irgend so ein Rowdy von der Straße? Wenn ja, was hat das Ganze zu bedeuten? Gewiß nichts Erfreuliches.« Als nächstes besuchten sie den Kunstpavillon, wo das Porträt der Schauspielerin Ellen Terry hing. Es war von einem Mr. Sargent gemalt worden. Fritzi stand wie verzaubert fünf Minuten lang davor, faltete die Hände und seufzte wiederholt, während Onkel Joe seine goldene Taschenuhr zuklappte und sagte: »Es wird Zeit, weiterzugehen.« Sie spazierten zum Midway Plaisance, einer breiten, von Osten nach Westen verlaufenden Prachtstraße, die eine Meile lang zwischen der Neunundfünfzigsten und der Sechzigsten Straße durch den Nordteil des Geländes führte. Dort lagen alle Vergnügungseinrichtungen. Sie bewunderten das Blarney Castle aus Irland, wanderten dann durch die engen Gassen und winzigen Tore der Straßen von Kairo, die von Frauen in Schleiern und dunkelhäutigen Männern in langen Gewändern und mit roten Fezen auf den Köpfen bevölkert wurden. Es war ein exotisches, leicht verrucht wirkendes Ambiente, das Tante Ilsa überhaupt nicht gefiel. Sie lächelte auch nicht, als Onkel Joe sich dazu äußerte: »Wenn du in den Frauen-Pavillon gehst, sehe ich mir vielleicht eine Vorstellung dieser Tänzerin Little Egypt an. Die Männer in der Brauerei reden ständig von ihrer danse du ventre.«
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Carl flüsterte Paul zu: »Das bedeutet, daß sie mit ihrem Bauch tanzt, habe ich in der Schule gehört.« Sie nahmen im deutschen Dorf ein frühes Abendessen ein, um sich dann am Riesenrad in die Schlange der Wartenden einzureihen. Sie saßen unter bunten Laternen an einem Tisch im Freien. Eine Wasserburg warf ihren mächtigen Schatten auf sie, die Nachbildung einer Festung aus dem 15. Jahrhundert. Eine deutsche Kapelle spielte bekannte Lieder, während die Familie Nudelsuppe und Huhn mit Spargel aß. Sie warteten fast eine Stunde, bis sie das Riesenrad zu einer Fahrt besteigen konnten. Eigentlich waren es zwei Räder, zwischen denen sechsunddreißig Gondeln befestigt waren. In der Dunkelheit dieser Frühlingsnacht verliehen die farbigen Lichter des Midway Plaisance und der Ausstellung dem Himmel einen hellen Schein. Schließlich kamen sie an die Reihe. Zusammen mit anderen Fahrgästen bestiegen sie eine vierzig Personen fassende Gondel mit großen Glasfenstern und bequemen Drehsesseln. Fritzi stieß einen Schrei aus, als das Rad sich ruckend in Bewegung setzte und die Gondel hochstieg, schwankte und dann wieder stillstand, während die Gondel darunter beladen wurde. »Ich habe gelesen, daß das Rad einen Durchmesser von über sechsundsiebzig Metern hat«, ließ Carl verlauten. »Hinzu kommen noch viereinhalb Meter für das Gerüst mit der Aufhängung, also für die Basis«, sagte sein Vater. »Fünfzig Cents sind ganz schön teuer für eine so kurze Fahrt«, stellte Fritzi fest. »Ach, seid doch still, und seht euch lieber um«, sagte Tante Ilsa. »Habt ihr schon einmal so was Schönes gesehen?« Sie beugte sich in ihrem Sessel vor und drückte mit einer behandschuhten Hand gegen die Glasscheibe. Ein grandioses, funkelndes Lichtermeer breitete sich unter ihnen aus und erstreckte sich mehr als eine Meile weit nach Süden. Tante Ilsa gab einen fröhlichen Laut von sich, halb Lachen, halb Glucksen, und drückte Pauls Hand. »Pauli, ist so etwas möglich? Kann es einen prächtigeren Anblick geben?« »Nein, niemals«, flüsterte er, während die Gondel in die Höhe fuhr und schaukelte. Sein Gesicht war überflutet vom bunten Licht der magisch blinkenden Lampen. Das Panorama unter ihm war ein Symbol für die grenzenlosen Wunder des neuen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das gerade seine höchste Blüte erlebte.
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In Amerika. Erschöpft wie sie waren, redeten sie nur wenig, als Nicky Speers sie gegen elf Uhr zur Michigan Avenue zurückfuhr. Paul schaute nach, ob unter Joe juniors Tür Licht durchschien, sah aber nichts. Dann eben morgen. Er verschlief und stand spät auf. Er hatte ja wieder Schule! Er rannte nach unten und fand kaum Zeit, sich ein Brötchen in den Mund zu stopfen und es mit Milch hinunterzuspülen. Joe junior hatte das Haus bereits verlassen, um mit der Straßenbahn zur Brauerei zu fahren. Onkel Joe weigerte sich, seinen Sohn in seinem Landauer mitzunehmen, weil er befürchtete, daß dadurch der Eindruck von Bevorzugung entstehen könnte. Erst gegen Viertel nach neun Uhr abends traf Paul seinen Vetter in seinem Zimmer an. »Dann erzähl mal. Wie hat es dir gefallen?« »Joe, werd nicht wütend, aber ich fand es ganz toll.« »Tatsächlich?« Sein Vetter musterte ihn eindringlich. Pauls Magen verkrampfte sich. Plötzlich grinste Joe. »Zum Teufel, ich habe nichts anderes erwartet. Ich hatte damit gerechnet, daß du überwältigt bist. Es ist doch eine Riesenshow. Allein die vielen einfallsreichen Namen dafür. Das Neue Jerusalem, Die Weiße Stadt. Sicherlich fandest du die Gebäude wunderschön, dabei ist es nur weiße Farbe auf billigem Gips. Diese Ausstellung hat auch noch eine Kehrseite, Paul. Das solltest du wissen.« »Eine Kehrseite?« »Vielleicht überlasse ich es Benno, dir davon zu erzählen.« Pauls Hände waren schweißnaß vor Aufregung. »Wann?« »Manchmal finden sonntags Arbeitertreffen mit Picknick draußen auf dem Land statt. Ich könnte dich irgendwann mal dorthin mitnehmen. Du darfst aber Mama und Papa nichts davon erzählen, okay? Auch nicht Fritzi und Carl.« Pauls Herzschlag beschleunigte sich. Sein Vetter zog ihn ins Vertrauen, ließ ihn an einem gefährlichen Geheimnis teilhaben. Wie ein echter Freund. Er reckte die rechte Hand hoch. »Ich werde schweigen wie ein Grab! Ehrenwort!« Paul rannte in sein Zimmer, warf sich auf sein Bett. Er war wie im siebten Himmel. Aber nur für kurze Zeit. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke. Das Geheimnis, das Vertrauen bereitete ihm bereits Sorgen. Indem er Joe junior die Zusage gemacht hatte, ihn zu begleiten, wann immer er den Vorschlag machte, und es dann geheimzuhalten, hatte er mit
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seinem Vetter eine Art Pakt geschlossen. Einen Pakt, der weitaus schwerer wog als reine Freundschaft zwischen Jungen, die miteinander verwandt waren. Daraus konnten Probleme erwachsen. Das ahnte er tief in seinem Innersten. Er verbrachte eine schlaflose Nacht voller Sorgen und Gewissensbissen gegenüber seiner Tante und seinem Onkel. Das Ende des Schuljahres rückte näher. Paul versagte. Versagte bei jeder Prüfung; versagte bei seinen Übungen in Schönschreibschrift ebenso wie bei denen an der Tafel. Mrs. Petigru machte sich ein Vergnügen daraus, der Klasse seine schlechten Zensuren zu verkünden. Nach Unterrichtsschluß teilte ihm Mrs. Petigru mit, daß sie ihn sitzenlassen werde. »Entschuldigung, ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Ich weigere mich, dich in die nächste Klasse zu versetzen. Deine Leistungen sind in keiner Weise zufriedenstellend. Ich behalte dich hier, und du wirst das ganze Jahr wiederholen. Vielleicht bleiben im zweiten Jahr ein paar Brocken Wissen in deinem deutschen Dickschädel hängen.« Er taumelte hinaus. Noch ein weiteres Jahr bei Mrs. Petigru? Niemals. Eher würde er sich von einem Wolkenkratzer stürzen. Oder Gift schlucken. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Sein Geist war völlig leer. Und er schämte sich zu sehr seiner mißlichen Lage, um Onkel Joe oder seinem Hauslehrer davon zu erzählen. Im Haus ging Fritzi jedem mit ihrer Imitation Ellen Terrys auf die Nerven. Sie hatte sich aus goldenem Papier eine Krone gebastelt und sich von ihrer Mutter eine Stola ausgeborgt, um die kimonoähnlichen Ärmel von Miss Terrys Kleid nachzumachen. Immer wieder stießen Paul und die anderen in irgendeiner Ecke oder mitten auf der Treppe plötzlich auf Fritzi, die, eingehüllt in die Stola, die Krone mit beiden Händen über dem Kopf haltend, posierte und mit einem entrückten Ausdruck zum Himmel schaute. Carl schnaubte abfällig und nannte sie verrückt. Sie drohte ihm mit Prügel, was ihn aber nur noch mehr anstachelte. »Verrückt, verrückt, verrückt«, sang er und tänzelte um sie herum. Onkel Joe fand sie schließlich, wie sie sich über den Teppich wälzten, sich gegenseitig schlugen und an den Haaren zogen. Er gab Carl eine Ohrfeige und befahl Fritzi, ihre Posen endlich zu unterlassen. Fritzi rannte schluchzend auf ihr Zimmer, was Onkel Joe noch ungehaltener machte. Tatsächlich schien er in letzter Zeit mißgelaunt und reizbar zu sein. Als Fritzi mit rotgeweinten Augen zum Abendessen erschien, hielt er ihr eine Gardinenpredigt, »Hör auf zu schniefen. Ich bin diesen Theaterquatsch im Haus endgültig leid. Ich gehe nicht ins deutsche Theater, das ist mir zu altmodisch. Aber
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gelegentlich sehe ich mir gern ein englisches Schauspiel an, das wißt ihr auch. Ich habe jedoch wenig für die Leute übrig, die in solchen Darbietungen mitwirken. Die Bühne ist ein übel beleumundetes, gottloses Gewerbe. Jeder Mann und jede Frau, die dumm genug sind, sich dem zu verschreiben, verdienen es, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Und das ist auch bei den meisten der Fall. Und jetzt reich mir mal einer das Kartoffelpüree herüber.« Nach diesem Abend schien am Abendbrottisch ein ganz neuer Ernst zu herrschen. Onkel Joe wirkte bedrückt, unterhielt sich leise mit Tante Ilsa über den »Goldkurs« und »Aktien« und andere geheimnisvolle Dinge. Eines Abends, als er seine Neugier nicht mehr zügeln konnte, fragte Paul höflich, ob es irgendeinen besonderen Grund für derart ausgedehnte Gespräche über finanzielle Angelegenheiten gebe. Die gebe es tatsächlich, erwiderte Onkel Joe und erklärte, daß die Preise seit dem 5. Mai bei vielen Firmen drastisch gefallen seien. »Europäische Investoren ziehen Millionen von Dollars aus amerikanischen Banken ab. Illinois Trust ist in Schwierigkeiten, die Chemical National ebenfalls. Ich fürchte, das ist der Anfang der prophezeiten Panik.« Joe junior zuckte die Achseln. »Was hast du erwartet, Pa? Das System ist korrupt.« Tante Ilsa verzog gequält das Gesicht. Onkel Joe hatte Mühe, gelassen zu reagieren. »Vielen Dank für deine Aufklärung. Wir legen sicherlich viel Wert auf deine Weisheit und Erfahrung als Wirtschaftsfachmann.« Joe junior biß die Zähne zusammen und errötete. Er attackierte verbissen sein Essen mit der Gabel. Dennoch beschäftigte Onkel Joe sich nicht so ausgiebig mit der allgemeinen wirtschaftlichen Panikreaktion, daß er sein Interesse an anderen Dingen verloren hätte. Er nahm an einem Sonntagnachmittag Carl und Paul zu einem Baseballspiel zwischen den Chicago White Stockings und den Providence Grays mit. Er lenkte den Landauer selbst. Ihr Ziel war der Congress-Park draußen an der Congress Avenue in Loomis. Paul saß neben seinem Onkel auf der Kutschbank. Carl vertrieb sich hinten die Zeit, indem er ständig ein Lied mit dem Titel Slide, Kelly, Slide sang. »Ich wünschte, Joe wäre mitgekommen«, sagte Paul. Onkel Joe achtete mit ausdruckslosem Gesicht auf den Straßenverkehr. »Du weißt, daß er heute arbeitet. Auch wenn das nicht viel heißen muß. Früher hat er mich sehr gerne zu den Spielen begleitet. Jetzt nicht mehr.« Der Congress-Park war eine wunderschöne Anlage. Auf der einen Seite
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gab es eine Radrennbahn, und auf der anderen befanden sich Tennisplätze. Eine hohe Ziegelmauer umgab das Spielfeld. Onkel Joe erzählte, das Stadion biete zehntausend Zuschauern Platz, aber es war an diesem Nachmittag nur halb gefüllt. Sie gingen durch ein Drehkreuz und stiegen zu Onkel Joes überdachter Privatloge hinauf. Sie verfügte über vier bequeme Sessel und war durch Vorhänge, die bereits aufgezogen und festgebunden waren, vor der Witterung geschützt. Beide Teams befanden sich auf dem Feld und spielten sich ein. Die Spielfläche leuchtete sattgrün, und ein würziger Duft von frisch gemähtem Rasen drang bis zu ihrer Loge herauf. Ein paar wie gemalt aussehende Wolken standen am tiefblauen Himmel. Auf den Tribünen boten fliegende Händler Bier, heiße Würstchen und geröstete Erdnüsse an. »Das ist Crown-Bier«, erklärte Onkel Joe stolz. »Ich kenne Bill Hulbert, den Kohlenhändler und Präsidenten des Clubs. Das hat sich als hilfreich bei der Entscheidung über den Bierlieferanten erwiesen.« Er lächelte. »Ich kenne die Spielregeln nicht, Onkel.« »Dann will ich mal versuchen, sie dir zu erklären. Ich begeistere mich schon seit vielen Jahren für Baseball. Während des Kriegs spielten die Soldaten in den Lagern sehr oft. Ich habe auch gespielt, wenn auch nicht besonders gut. Damals, ‘69, sah ich die erste professionelle Mannschaft, die Cincinnati Red Stockings, für nur einen Nickel Eintritt. Wenn ich an einem so schönen Tag wie heute hier oben sitzen kann, bin ich wunschlos glücklich. Ich gebe zu, daß da in mir eine Stimme ist, die mir vorwurfsvoll zuraunt, Joe, eigentlich solltest du arbeiten. Das ist eben mein deutsches Erbe. Zu jedem Lächeln gehört ein wenig schlechtes Gewissen. Und viele schaffen noch nicht einmal dieses Lächeln.« Aber ihm gelang es. Carl sang wieder Slide, Kelly, Slide. »Carl, nach dem fünften Mal geht mir dieses Lied allmählich auf die Nerven. Also hör auf.« Dann wandte er sich wieder an Paul. »Mike Kelly war einer der besten Spieler, den die White Stockings je hatten. Er spielte dort unten im Rechtsfeld. Er hat ‘84, ‘85 und ‘86 in der Liga die meisten Homeruns geschafft, das heißt, er hat das Ziel erreicht. King Kelly wurde er von allen genannt. Außerhalb des Spielfelds war er ein Tunichtgut, ein Säufer. Aber von seiner sportlichen Leistung mußte man einfach begeistert sein. Jetzt paß auf, sie nehmen ihre Positionen ein.« Er deutete auf den Manager der White Stockings, Cap Anson. »Er hat mal auf dem ersten Base gespielt. Er kennt das Spiel aus dem Effeff, aber ich mag ihn nicht. Er haßt Farbige. Es gab einmal einen hervorragenden farbigen Spieler in der Liga, Fleet Walker bei Toledo. Anson weigerte sich deshalb, die White Stockings gegen Toledo antreten zu lassen. Damit war
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Walker draußen.« Bald gab ein Mann in Hemdärmeln, der Schiedsrichter, das Zeichen zum Spielbeginn. Onkel Joe erklärte geduldig die einzelnen Spielzüge, und Paul begriff sehr schnell und konnte bald dem Geschehen folgen. Providence lag bald mit drei Runs zu einem in Führung. Das scheuchte einen farbigen Jungen von der Reservebank hoch. Paul hatte ihn bisher noch nicht bemerkt. Der schwarze Junge trug ein Trikot der White Stockings. Er rannte zum Schlagmal und tanzte dort wie wild herum. Die Zuschauer applaudierten und feuerten ihn an. »Das ist Clarence, das Maskottchen der Mannschaft«, sagte Onkel Joe. »Anson läßt ihn mit dieser Tanznummer bei jedem Spiel auftreten.« Carl sagte: »Anson nennt ihn seinen Glücksnigger.« »Carl, ich will nicht, daß du dieses Wort benutzt!« Mehrere Spieler von Chicago drängten sich um Clarence. Der Junge stand still da, während die weißen Spieler ihm mit den Knöcheln durchs krause Haar fuhren. »Das soll Glück bringen«, sagte Onkel Joe. »Sie mißhandeln den Jungen geradezu, machen sich über ihn lustig, weil er ein Neger ist. Das war Ansons Idee. Haben wir dafür dreißig Jahre lang gekämpft und geblutet?« Sein Gesicht hatte sich gerötet. Als Onkel Joe beim siebten Durchgang – Inning genannt – die Loge verließ, um ein paar Erfrischungen zu besorgen, lag Providence immer noch in Führung. Carl stellte einen Fuß auf das Geländer der Loge, was er nicht tun durfte, wenn Onkel Joe neben ihm saß. »Sie brauchen Billy Sunday. Er war Auswechselspieler fürs Außenfeld. Der schnellste Spieler, den man je sah. Er rannte wie ein gehetztes Reh.« »Hat er aufgehört?« »Jawohl. Gott bestimmte ihn zum Prediger, und Pa sagt, er sei dem Ruf gefolgt. Ich für meinen Teil wünschte mir, er hätte sich vorher die Ohren verstopft.« Onkel Joe kam mit einigen glatten, blassen Würstchen zurück, wie Paul sie noch nie gesehen hatte. Jede steckte in einem weichen Brötchen. »Das ist was Neues. Sie heißen Frankfurter. Du errätst sicherlich, woher sie kommen. Koste mal eins. Und hier ist auch noch eine Tüte Erdnüsse.« Nach der ersten Hälfte des neunten Inning brachte ein überraschender Homerun der Heimmannschaft auch die Läufer auf dem zweiten und dritten Base nach Hause. Die Zuschauer jubelten, als der Werfer den letzten Schläger in der zweiten Inninghälfte ausschaltete und damit das Spiel beendete. Onkel Joe lehnte sich über das Logengeländer, klatschte und rief: »Hurra! Gutgemacht!«
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Im Westen ging bereits die Sonne unter. Die Spieler der White Stockings tanzten auf dem Rasen umher, umarmten sich gegenseitig und warfen bereits lange Schatten. Paul war vollgestopft mit Knabbereien, genoß die Zuneigung seines Onkels und war selig, mit Carl zusammenzusein. Es war ein herrlicher Nachmittag. Als er schläfrig in der Kutsche saß, fühlte er sich wundervoll. Diese Euphorie hielt an, bis sie vom Stall in die Küche gingen. Louise stand mit gesenktem Kopf vor dem Kochherd. Sie begrüßte sie nicht. Tante Ilsa holte etwas aus der Schürzentasche. Ihr Gesicht war ernst. »Das ist heute angekommen, Joe. Es ist dein Brief an Charlotte.« Onkel Joe nahm den schmuddeligen und zerknautschten Briefumschlag entgegen. Auf der Vorderseite stand in roter Stempelschrift ein einziges Wort. VERSTORBEN. »Verstorben? Wie ist das möglich? Was ist passiert?« Mit gequälter Miene wandte er sich zu Ilsa um. »Was soll das heißen?« »Ich glaube, das werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich war es die Krankheit, von der Pauli erzählt hat.« Auch Paul war erschüttert. Er hatte einen dicken Kloß im Hals, der ihm das Atmen schwer machte. Onkel Joe riß sich den Strohhut vom Kopf und schlug damit gegen seinen Oberschenkel. Dabei knickte die Krempe um. Der Brief entglitt seiner Hand. Tränen rannen über sein Gesicht. Ilsa schlang die Arme um ihn. Niemand redete. Onkel Joe ging mit ihnen ein zweites Mal in die Ausstellung – auch diesmal ohne Joe junior. Sie begannen mit einer Nachmittagsvorstellung von Eugen Sandow, dem weltberühmten Kraftmenschen. Danach begab Onkel Joe sich hinter die Bühne, um einen jungen Mann zu begrüßen. Es war Florenz Ziegfeld, der Sohn von Dr. Ziegfeld, dem Gründer und Direktor des Chicago Musical College. Der junge Florenz hatte die meisten Musikkapellen engagiert, die während der Ausstellung auftraten. Er war außerdem der amerikanische Manager Eugen Sandows. Onkel Joe schien jeden Chicagoer Deutschen zu kennen, der von Bedeutung war oder Großes geleistet hatte. Am Abend besuchten sie ein Konzert von Mr. Theodor Thomas und seinem Chicagoer Orchester. »Er stammt ursprünglich aus Cincinnati«, erklärte Onkel Joe. Auf dem Programm stand Musik des deutschen Komponisten Richard Wagner. Tante Ilsa sagte, Wagner sei ein Genie und ein Gewinn für alle Deutschen. Aber die langsame, schwere Musik war für Paul eine Qual. Viel besser gefiel ihm die Musik, die sie von einer Freiluftbühne kurz
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vor dem Feuerwerk zu hören bekamen. Liesegang’s Chicago Band und deren Gastdirigent, Mr. Sousa, spielten flotte Militärmärsche, darunter auch Marching Through Georgia, den Herschel Wolinski schon auf dem Schiff gespielt hatte. Der arme Herschel, wo mochte er wohl gerade sein? Paul glaubte nicht so recht daran, daß sie sich noch einmal wiedersehen würden. An einem Donnerstagabend Ende Mai packte Onkel Joe eine Reisetasche und nahm einen Abendzug nach Süden. Durch einen glücklichen Zufall fand am folgenden Sonntag ein Arbeiterpicknick statt. Es war ein politischkultureller Tag, wie Joe junior es nannte. Er fragte höflich seine Mutter, ob er und Paul gemeinsam eine kleine Wanderung über Land machen dürften. Tante Ilsa riet ihnen, vorsichtig zu sein und vor Einbruch der Dunkelheit heimzukommen. Ihr Ziel war ein Ort namens Ogden’s Grove außerhalb der Stadtgrenzen. »Warum treffen sie an einem so abgelegenen Ort zusammen?« fragte Paul, während sie mit einem ratternden Pferdewagen die erste Etappe ihres Ausflugs bewältigten. »Damit die Puritaner sich nicht wegen des sonntäglichen Biertrinkens aufregen und die Chicagoer Polizei niemanden zum Spionieren vorbeischickt. Auch wenn du dir keine einzige Rede anhörst, hier sind wichtige Dinge im Gange. Bei einem dieser Treffen habe ich im vergangenen Jahr mein Mädchen, Rosie, kennengelernt.« »Du weißt sehr viel über die Sozialisten. Woher hast du das alles?« »Ganz bestimmt nicht aus der Schule. Ich höre Benno und seinen Freunden zu. Ich habe alles darüber gelesen, was ich finden konnte: Karl Marx, einen Franzosen namens Proudhon und Bakunin. Er ist ein Russe und hat als erster verkündet, daß die alte Ordnung durch eine Revolution weggefegt werden muß. Ich habe außerdem viele Artikel von Prinz Kropotkin gelesen, einem Vertreter des russischen Adels. Er lebt jetzt in London wie ein ganz gewöhnlicher Bürger. Selbst in der Übersetzung ist dieses fremde Zeug ziemlich schwere Kost. Sehr viel verstehe ich davon nicht. Deshalb lese ich auch dies hier.« Er holte unter seinem Hemd eine Zeitung in deutscher Sprache hervor: Die Fackel. »Es ist eine spezielle Sonntagsausgabe der Chicagoer Arbeiterzeitung. Wenn Pa mich damit erwischt, zieht er mir die Haut in Streifen ab.« »Warum liest du sie dann? Um ihn zu ärgern?« Joe junior straffte sich. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. »Das ist eine dumme Frage. Ich lese die Zeitung und bin mit diesen Leuten zusammen, weil Pa und solche Männer wie er einem großen Irrtum unterliegen. Ihre Vorstellungen sind völlig falsch. Sie unterdrücken damit
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die Armen.« »Aber töten würdest du sie nicht, oder?« Der Pferdewagen verlangsamte seine ohnehin schon gemütliche Fahrt, weil er sich dem Endpunkt der Reise näherte. Joe junior stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und betrachtete die verstreut liegenden kleinen Häuser, an denen sie vorbeirollten. »Du stellst aber verdammt viele Fragen.« »Ich will eben lernen.« Joe wirbelte herum und fixierte ihn beschwörend. »Damit du dich für die richtige Seite entscheiden kannst, nicht wahr?« Paul ging auf die Anspielung nicht ein. »Um zu lernen«, wiederholte er. Sein Vetter erforschte sein Gesicht, als suche er nach Anzeichen für Wahrheit oder Lüge. Plötzlich wich alle Anspannung aus ihm, er entspannte sich, legte einen Arm um Pauls Schultern und drückte ihn. »In Ordnung, das ist ganz okay. Achte nur darauf, daß du stets die richtigen Leute fragst.« Als die asphaltierte Straße endete, stiegen sie aus dem Wagen. Vor ihnen erstreckte sich ein staubiger, sonniger Weg mit zwei Furchen, der stellenweise von hohen alten Bäumen beschattet wurde. Auf einem Feld zu seiner Linken sah Paul Kühe weiden. Außerdem stand dort eine Scheune, die dringend eines frischen Farbanstrichs bedurfte. Sie wanderten etwa eine Meile weit, dann hörte Paul Musik. Es war eine Blaskapelle. Eine Tuba und zwei oder drei kleinere Trompeten. Sie gelangten zu einem windschiefen Holzbogen mit einem verwitterten Schild, ODGEN’S GROVE, der Eingang zum Wäldchen. Ein Stück weiter entdeckte Paul zwischen den Bäumen lange Tische mit kleinen Zelten aus Gazestoff über den Speisen als Schutz vor Fliegen. Leute wanderten umher, einige tanzten sogar im Gras, Kinder spielten in Flecken aus Licht und Schatten Fangen. Im Wäldchen machte Joe junior Paul so schnell mit den Anwesenden bekannt, daß er keine Zeit fand, sich Namen und Gesichter einzuprägen. Einige Dinge fielen ihm jedoch auf. Im allgemeinen waren die Familien nicht besonders gut gekleidet. Sehr viele Kleidungsstücke waren geflickt. Einige Männer wirkten dank ihrer wilden Bärte und langen Haare geradezu unheimlich. Einer von ihnen erinnerte Paul an den russischen Journalisten Rhukov. Er war überrascht über die große Zahl von Kindern und Jugendlichen und über die Vielfalt der Nationalitäten, die sich eingefunden hatten. Da waren nicht nur Deutsche, sondern auch Schweden, Böhmen und sogar zwei Engländer.
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Überall im Wald waren rote Fahnen mit ihren Stangen ins Erdreich gerammt worden. »Rot für das Blut der Unterdrückten«, sagte Joe junior. »Rot für die Internationale und für jeden, der im Namen der guten Sache gestorben ist.« Er fischte zwei saure Gurken aus einem Topf und verschloß diesen wieder mit dem Deckel. »Da hast du etwas, damit du nicht verhungerst. Komm, wir suchen Benno.« Sie fanden ihn auf der anderen Seite des Gehölzes, wo er mit einem halben Dutzend Männer diskutierte. Benno entdeckte sie, brach die Unterhaltung ab und kam grinsend zu ihnen herüber. Seine Zähne wirkten unter dem geschwungenen Schnurrbart riesig groß. »Hallo, sieh an! Der Schüler. Schön, dich wiederzusehen. Wie macht er sich, Joey?« Joe hob eine Hand. »Immer langsam.« »Du heißt Paul, nicht wahr? Der Neffe vom alten Joe?« Paul bejahte das. Benno kratzte sich an der Nase. »Und wie lange bist du schon im Lande?« »Seit Weihnachten, länger nicht.« »Dafür sprichst du die Sprache schon ganz gut. Meinst du nicht auch, Joey?« Joe junior nickte lächelnd. »Sehr gut sogar.« »Meine Tante in Berlin hat mir vor meiner Überfahrt ein bißchen was beigebracht.« »So etwas Ähnliches habe ich mir fast gedacht.« Im Sonnenschein glänzten Schweißtropfen auf Bennos kahlem Schädel. »Na schön, hol dir ein Glas Bier, Kleiner, es ist gratis. Gleich werden ein paar Reden gehalten. Sehr interessant, also hör gut zu. Bis später.« Benno kehrte zu seinen Freunden zurück, die Paul ausnahmslos mißtrauisch musterten. »Ne, er ist wirklich okay. Ich kenne ihn«, beruhigte Benno sie. Paul und Joe bedienten sich reichlich von den Würstchen, vom selbstgebackenen Brot und vom Bier aus einem unbeschrifteten Faß. Es war ein dunkles, bitteres Gebräu, ganz gewiß kein Crown-Bier. Wer hatte die Speisen und die Getränke bezahlt? »Wir haben unter den Reichen einige Gönner«, erzählte Joe. »Du wirst sie niemals bei solchen Anlässen wie diesem hier antreffen, aber sie zeigen ihre Mitarbeit auf andere Art und Weise.« Benno und ein paar andere Männer schoben Holzkisten zusammen und bauten eine provisorische Plattform. Drei Redner wandten sich an die Leute, die in einem weiten Halbkreis im Gras saßen oder lagen. Der erste Redner, ein Pole, hatte einen derart starken Akzent, daß Paul ihn kaum verstehen konnte. Der zweite, vorgestellt als Mr. Parkin-Lloyd, »einer unserer führenden sozialistischen Genossen aus England«, versuchte, einige Theorien des Autors Karl Marx, den Joe junior kurz vorher erwähnt
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hatte, zu erklären und auf die realen Verhältnisse anzuwenden. Paul wußte nichts von diesem Marx und fand den Engländer einfach langweilig. Benno betrat als letzter Redner das Podium. Er begann mit einer Verurteilung der Ausstellung. »Sie haben diesen Zirkus nur veranstaltet, um der Welt zu zeigen, was Kapitalisten aus dem Schweiß der Arbeiter machen können. Glaubt ihr etwa, sie feiern damit die wunderbare amerikanische Demokratie? Okay, dann verratet mir doch mal eines – wie viele Neger waren am Eröffnungstag eingeladen, neben dem Präsidenten auf der Tribüne zu sitzen? Kein einziger nämlich! Wie viele Farbige waren an der Planung der Ausstellung beteiligt? Nicht ein einziger! Sie sind zwar freie Menschen, aber die weiße Oligarchie hat sie einfach ausgesperrt. Und noch was: Im Jackson-Park haben sie ein Gebäude errichtet, ich hab’ darüber gelesen. Ich selbst würde es mir niemals ansehen, außer vielleicht um es anzuspucken. Der gesamte Eingang ist vergoldet. Ja! Nur zur Zierde! Reinstes Gold, mit dem man Hunderte satt bekäme und bekleiden könnte! Dieses Gebäude und die ganze übrige Ausstellung kosten Millionen. Und dank der Panik, die die reichen Bankiers ausgelöst haben, verlieren von Tag zu Tag mehr Menschen ihre Arbeit. Es ist eine verdammte Schande!« Er verlangte ein »offenes Bekenntnis zu unserem Anliegen«, um eine allgemeine »Solidarität« zu demonstrieren. Er nannte Bomben und Pistolen »die besten Freunde, die wir haben«. Er rief nach »Vergeltung« und forderte den »gewalttätigen Sturz des Systems« und, wobei es Paul eiskalt über den Rücken lief, »die Köpfe der Plutokraten«. »Sie haben uns jahrelang das Blut ausgepreßt, okay, jetzt holen wir uns ihres!« Er reckte die Arme hoch. »Und zwar auf den Straßen Chicagos!« Er ließ die Arme wieder heruntersinken. »Genossen, ich danke euch!« Benno erhielt den lautesten Applaus des Tages. Er sprang von den Kisten herunter und verblüffte Paul, indem er direkt auf ihn zusteuerte. »Okay, was denkst du? Hast du die Botschaft verstanden?« »Ich habe sie gehört, Herr Strauss. Ich weiß aber nicht, ob sie mir so gut gefällt.« Bennos Gesicht verfinsterte sich, doch Paul beharrte auf seinem Standpunkt. Dieser Mann predigte den Haß gegen Pauls Familie. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, ob ich mich mit der Vorstellung anfreunden kann, auf den Straßen Blut zu vergießen.« »Wie sonst sollen wir denn gewinnen?« Joe junior kam hinzu. »He, Joey, tu mal was. Dein Freund ist noch nicht ganz überzeugt.« Bennos mächtige Faust krachte auf Pauls Schulter. »Du mußt dir schon darüber klar sein, Kleiner. Du kannst nicht herumlaufen und heute so und
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morgen so reden. Du mußt dich entscheiden. Früher oder später muß im Klassenkampf sowieso jeder seine Position beziehen.« »Mich gegen meinen Onkel stellen, meinen Sie das?« Benno fixierte ihn mit stechenden Blicken. »Ja, genau.« »Sie mögen meinen Onkel nicht sehr, oder?« Bennos erste Reaktion war ein Achselzucken. »Ob ich ihn mag oder nicht, hat damit nichts zu tun. Die Wahrheit ist, daß ich nicht annehme, daß Joe Crown tief in seinem Innersten ein schlechter Mensch ist. Er würde seiner Mutter nicht die letzte Brotkrume stehlen. Aber er kümmert sich mehr um sein Kapital als um die Rechte von uns Arbeitern. Außerdem ist er stur wie die meisten Deutschen. Eine schlimme Kombination.« Benno ballte seine massige Faust vor Pauls Nase. »Deshalb steht er zu einigen Dingen felsenfest. Wir haben eine nationale Gewerkschaft. Ein nationales Programm –« »Das Pa hundertprozentig ablehnt«, warf Joe ein. »Richtig, stimmt. Das könnte Ärger geben. Zwei- oder dreimal war es beinahe soweit. Was ich damit sagen will, Junge – du kannst nicht einfach unbeteiligt am Rande stehen und zusehen. Dort findest du nur eine Sorte Mensch, die Feiglinge.« Seine Hand umklammerte Pauls Schulter. Die dicken, kräftigen Finger taten ihm weh. »Du mußt dich für eine Seite entscheiden. Wenn du heute schon nichts anderes lernst, dann merk dir wenigstens das.« 21 JOE CROWN Er sah die rote Lehmstraße sich nach Süden winden. Er hörte das Klirren von Ausrüstungsgegenständen, das Knarren von Zaumzeug. Die Marschkolonne bewegte sich mit seltsam verträumter Eleganz durch den heißen Vormittag. Joe erkannte den hölzernen Wegweiser, der neben der Straße im Erdreich steckte. Er war roh zugehauen, geformt wie ein Pfeil und deutete voraus. HÖLLE FÜNF MEILEN KOMMT NUR, YANKEES! Und er hörte Hauptmann Ehrlich, der die Patrouille anführte, lachen und schwatzen, als befände er sich auf einer fröhlichen Landpartie.
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Er hörte auch die Warnung des alten Negers ganz deutlich: »Das Schild da hinten hat ganz recht. Ein Stück weiter lauern schlimme Leute.« »Vielen Dank, Erasmus, aber wir haben den Befehl, vorzurücken. Doch wir werden die Augen offenhalten.« Hören Sie auf ihn, Ehrlich. Ich weiß, was kommt. Gehen Sie nicht weiter! »Nein! Nicht…« »Sir? Ist alles in Ordnung?« »Äh? Was ist?« »Sie haben ganz laut geschrien.« Er war in Schweiß gebadet, lag frierend in der Dunkelheit. Er wußte nicht, wo er war. Dann spürte er den harten Polstersitz unter seinen Beinen. Hörte das Rattern des Expreßzugs, der in Richtung Cincinnati donnerte. Sah die Lichter eines einsamen Farmhauses draußen am Fenster vorbeihuschen. Der Bahnschaffner war eine schwarze Masse vor der matten Laterne, die über der Abteiltür pendelte. »Ich habe geschrien? Tut mir leid. Hab’ wohl schlecht geträumt.« Der Schaffner brummte etwas und ging weiter. Joe lehnte seine Stirn gegen die Glasscheibe und begriff zu seiner Erleichterung, daß er in einem Zug nach Süden saß. Er war wach und befand sich nicht mehr in dem allzu vertrauten Traum auf der Straße ins nördliche Mississippi. Ein Traum, der ihn schon seit Jahren peinigte und einfach nicht mehr loslassen wollte. Joe Crown besaß ein großes Aktienpaket einer Textilfabrik in Millington, einer kleinen Stadt in den Sandbergen von South Carolina, die früher unter dem Namen Company Shops bekannt war, als dort noch Wartungsarbeiten der Eisenbahn durchgeführt wurden. Er besaß außerdem einen Wintersitz in South Carolina. Er war von beachtlichem Umfang und lag an einer unbefestigten Straße, etwa zwölf Meilen westlich der Atlantikküste und einen Stundenritt südlich von Charleston. Irgendein Glücksritter aus dem Norden hatte das Haus nach dem Krieg dort gebaut und ihm den Namen Royalton verliehen. Als Joe das Anwesen erwarb, taufte er es in Chimneys um. Er hatte während des gesamten Krieges bei der Kavallerie der Union gedient, war bis hinunter nach Savannah und wieder hinauf nach Carolina geritten, wo General Judson Kilpatrick und seine Reiter ganze Landstriche in Schutt und Asche legten. »Ich habe ihn Chimneys genannt«, sagte Joe über seinen Wintersitz, »weil wir in diesem wunderschönen Bundesstaat kaum mehr als ein paar
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Schornsteine – Chimneys – stehengelassen haben, als wir hindurchzogen.« Er war froh, daß er wieder zu einer seiner Geschäftsreisen aufbrechen und die Hektik Chicagos hinter sich lassen konnte, wo die Zeitungen voll waren von Meldungen über den Zusammenbruch solider Firmen und sinkender Aktienkurse. Wenn er ganz ehrlich war, dann war er außerdem froh, der Situation in seinem eigenen Haushalt entfliehen zu können. Paul lebte sich immer besser ein, hatte in der Schule Erfolg, zumindest erzählte er nichts Gegenteiliges. Carl hatte sich mit ihm angefreundet, und Fritzi hatte ihr Herz an ihn verloren. Aber Joe junior schien immer kälter zu werden. Er lehnte alles, was für Joe von Bedeutung war, entschieden ab, jetzt offenbar noch leidenschaftlicher als je zuvor. Es schien, als sei Joe allein auf Grund seiner Existenz für seinen ältesten Sohn ein rotes Tuch. Er war überzeugt, daß daran nur der Einfluß dieses verdammten Benno schuld war. Hinzu kam die allgemeine Verarmung, die das Land im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs heimsuchte. In der letzten Zeitung, die er vor seiner Abreise gelesen hatte, stand ein langer, bitterer Artikel über »eine wachsende Selbstmordrate unter den Armen des Landes«. Gegen seinen Willen verglich Joe immer wieder seinen Neffen mit Joe junior. Stets hatte er dabei ein schlechtes Gewissen, denn der Vergleich fiel immer zuungunsten seines eigenen Sohnes aus. Als er ganz allein in dem allmählich immer dunkleren Eisenbahnabteil saß, wanderten seine Gedanken zurück zu einem heftigen, wütenden Streit zwei Jahre zuvor. Zu dem Streit, der die unüberbrückbare Kluft zwischen Vater und Sohn aufgerissen zu haben schien. Selbst jetzt schreckte er vor der Erinnerung zurück, vor den heftigen Worten, den Anschuldigungen – allesamt ausgesprochen, als Joe junior mit dem Entlassungsschreiben seiner dritten Schule, einer teuren Privatakademie, nach Hause zurückkehrte. Für Schüler aus dem CrownHaushalt galten hohe Maßstäbe. Man setzte große Erwartungen in sie. Joe junior hatte sie nicht erfüllen können und später, als er sich darüber klar war, ganz offen mißachtet, indem er es geradezu darauf anlegte, ein Versager zu sein. Der Brief, den er nach Hause mitbrachte, setzte die Lunte schließlich in Brand. Die Explosion folgte nach fünfzehn Minuten scharfer Diskussion hinter geschlossenen Türen in seinem stickigen Arbeitszimmer. Joe Crown hatte damals etwas sehr Ungewöhnliches getan. Er hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Er hatte auf ein spöttisches Grinsen, auf irgendeine heftige Erwiderung seines Sohnes reagiert und ihm ins Gesicht geschlagen. Und zwar so heftig, daß die weißen Flecken seiner Finger wie
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Wundmale noch fünfzehn bis zwanzig Sekunden danach sichtbar gewesen waren … Von Scham und einem bohrenden Schuldgefühl erfüllt, hatte er eine Entschuldigung geflüstert. Nicht für die heftigen Vorwürfe wegen Joe juniors Versagen, sondern für den Schlag. Ein anständiger und verantwortungsvoller Vater schlug nicht aus Zorn. Die Entschuldigung schien nichts zu bewirken. Joe juniors Augen waren hart und kalt. Seit diesem Tag war zwischen ihnen nichts mehr so, wie es früher einmal gewesen war. Der Zug kam in der hügeligen Stadt an, die er 1871 verlassen hatte, als er mit seiner Frau gerade zwei Jahre verheiratet war. In vielen eindringlichen Gesprächen hatte er Ilsa überzeugen können, daß es klug für ihn sei, die Stelle bei Imbrey in Cincinnati zu kündigen. Die alten Bierbrauereien befanden sich allesamt in Familienbesitz, wodurch ein Neuling nur sehr wenige Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Und das Feuer von 1871 in Chicago wirbelte die gesamte Geschäftswelt der Stadt völlig durcheinander. Joe witterte eine günstige Gelegenheit. Seit 1871 waren sie jeweils nur für kurze Aufenthalte nach Cincinnati zurückgekehrt, vorwiegend um Ilsas Verwandte zu besuchen, die fast alle schon älter waren. Joe Crown liebte die alte Stadt am Ohio. Er liebte die wunderschöne Roeblingbrücke, die die Stadt nun mit Kentucky verband. Aber Cincinnati würde und könnte niemals eine ernsthafte Konkurrenz für den ungehobelten, gigantischen Moloch am Michigan-See sein. Dort war sein Zuhause. Er hatte etwa zwei Stunden Zeit, bis der Anschlußzug nach Columbia und Charleston abfuhr. Er beschloß, bis dahin einen Spaziergang zu machen. Die Kriegserinnerungen überfielen ihn wieder mit aller Gewalt, wie sie es gelegentlich ohne nennenswerte oder vollkommen ohne Vorwarnung taten. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm vielleicht helfen, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Draußen hatte es gerade zu regnen begonnen. Joe stolperte beinahe über einen schätzungsweise zwanzigjährigen Mann, der mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzend an einer Säule lehnte und seine Mütze aufhielt. Joes Gesicht wurde zornrot beim Anblick der schmutzigblauen Uniformjacke des Bettlers. Sie gehörte zur Infanterieuniform der Union. An der linken Seite waren drei Orden angeheftet, billige Blechabzeichen, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Medaillen und Orden hatten, die er kannte. Wahrscheinlich hatte der junge Mann sie in einem Kramladen gekauft.
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»Sie sind viel zu jung, um diese Jacke zu tragen.« »Sie gehörte meinem Onkel«, winselte der Bettler. Er war einer dieser geistigen Krüppel, die sich einfach weigerten, sich aufzuraffen und sich selbst zu helfen. Soweit Joe es beurteilen konnte, war der Bursche völlig normal und gesund. »42. Ohio-Infanterie, Brigadier James A. Garfield –« »Sie entehren diese Uniform, wenn Sie darin betteln. Ziehen Sie die Jacke aus, ich kaufe sie Ihnen ab.« »Was zum Teufel –« »Da haben Sie fünf Dollars.« Joe warf die Scheine in die offene Mütze. »Und jetzt ziehen Sie sie aus, und geben Sie sie her, ehe ich meinen Stock benutze.« Der Bettler stopfte das Geld in seine Hosentasche. Er kam schwankend und schimpfend auf die Füße. »So ein Verrückter. Verdammter Dutchman.« Aber er streifte das Kleidungsstück hastig ab. Joe rollte es zusammen und klemmte es sich unter den Arm. In einem Saloon dem Bahnhof gegenüber bestellte er sich ein Imbrey’s Lager. Er blies ein wenig von dem Schaum hinunter, er kostete es und schnalzte mit der Zunge. »Noch immer so gut wie früher«, sagte er zu dem Barkeeper. Zusammen mit einem Dollarschein reichte er dem Mann die Uniformjacke über die Theke. »Vernichten Sie das für mich, bitte. Stellen Sie keine Fragen, verbrennen Sie es nur.« Joe stand betont gerade an der Bar, hatte einen Schuh mit grauer Gamasche auf die Messingstange gestellt und ließ sich von den düsteren Erinnerungen, dem Hauch jenes unglaublichen heiligen Krieges vor dreißig Jahren, wieder einholen und völlig in Besitz nehmen. Es war ein Phänomen, das er niemandem erklären konnte. Ilsa nicht und erst recht nicht seinen Kindern. Nur jemand, der im Krieg gekämpft hatte, konnte es verstehen. Eine düstere Stimmung senkte sich auf ihn herab. Obgleich er die Folgen kannte, war er völlig machtlos, sich dagegen zu wehren. Er verabscheute Verzögerungen, haßte alle Veränderungen des Gewohnten. Aber dies hier, so wie ähnliche Situationen in der Vergangenheit, war unausweichlich. Er kehrte durch den Regen zum Bahnhof zurück, holte seine Reisetasche aus der Gepäckaufbewahrung und tauschte seine Fahrkarte nach South Carolina gegen eine andere um, die ihn nach Tennessee bringen würde.
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22 PAUL An einem Samstagvormittag Anfang Juni besuchte Paul die Ausstellung ganz allein. Die Schule dauerte noch eine Woche. An deren Ende, so vermutete er, würde Mrs. Petigru seiner Tante und seinem Onkel einen Brief schicken, um darin mitzuteilen, daß er noch bleiben müsse. Bisher hatte er so getan, als sei alles in Ordnung. Er hatte noch nicht einmal Vetter Joe von seinen Schwierigkeiten erzählt. Onkel Joe bereiste noch immer den Süden. Er hatte Tante Ilsa telegraphiert, daß es bis zu seiner Rückkehr durchaus noch zwei Wochen dauern könne. In der Textilfabrik seien irgendwelche Vergrößerungen geplant. Er müsse noch mit Architekten und Baufirmen verhandeln. Paul bat seine Tante um Erlaubnis, die Ausstellung besuchen zu dürfen, denn er hatte sich mit den kleinen Geldbeträgen, die er von ihr für die Arbeiten erhielt, die er im Haus ausführte, einen Dollar und fünfzig Cents zusammengespart. Eine Woche lang hatte er hin und her überlegt, ehe er sich zum Besuch der Ausstellung entschloß. Er hatte Juliette Vanderhoff nicht vergessen. Bis zum Winter mußte er Schlittschuhe haben. Carl war an einem Tag nach der Schule mit ihm in A. G. Spaldings Kaufhaus gegangen. Schlittschuhe waren während des Sommers nicht im Angebot, aber ein hilfsbereiter Verkäufer erklärte, ein Paar gute Rennschuhe – mit stahlverstärkter Fersen- und Vorderplatte, polierten vernickelten Kufen und Riemen aus rotbraunem Leder – kosteten zwei Dollars und fünfundzwanzig Cents. Paul war sicher, daß er bis zum ersten Frost soviel würde verdienen können. Daher wollte er sich noch einmal in der Ausstellung umsehen, so lange sich dazu die Gelegenheit bot. Er fuhr mit einer dicht besetzten gelb-roten Straßenbahn zum Eingang in der Siebenundfünfzigsten Straße und ging von dort zu Fuß ein paar Blocks nach Süden bis zum Lager der Buffalo-Bill-Show. Eine Weile stand er davor und strich mit der Hand über das rauhe Holz des Bretterzauns. Er konnte den Lärm der Vormittagsvorstellung hören. Das Knarren der Wagenräder, das Trappeln der Hufe, das Kriegsgeschrei der Indianer und das Knallen der Revolver – und anschließend das Klatschen, Pfeifen und Trampeln der Zuschauer. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Er fragte sich, ob er selbst die Show jemals sehen würde. Eiligen Schrittes begab er sich zu den Schaltern am Eingang in der Dreiundsechzigsten Straße, kaufte sich eine Eintrittskarte und ging durch das Drehkreuz. Er betrat ohne besonderen Plan die herrlichen weißen Gebäude und ließ ganz einfach eine Ausstellung und eine Sehenswürdigkeit
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nach der anderen auf sich einwirken. Im Pavillon für Ackerbau und Viehzucht stand er staunend vor einem Käse, der 998 Kilogramm wiegen sollte. Im Bergbau-Pavillon besichtigte er den größten Goldklumpen, den man je gefunden hatte. Laut Schild wog er 344,78 Unzen. Joe junior hatte ihm angedeutet, daß zwischen den Hunderten von langweiligen Bildern und Skulpturen im riesigen Kunstpavillon und seinen beiden Anbauten auch ein paar schärfere Sachen hingen. Daher war diese Abteilung sein nächstes Ziel. In den zahlreichen Räumen waren die Wände vom Fußboden bis zur Decke mit gerahmten Ölgemälden vollgehängt. Und Joe junior hatte recht. Es waren auch Nackte zu sehen. Stehende und liegende, große und kleine Nackte, die von vorne oder von hinten gezeigt wurden; große Brüste mit rosigen Warzen waren zur Schau gestellt und üppige Hinterteile. Auf jedem Bild wurde der intimste Bereich durch eine Hand des Modells, durch einen Vorhang oder durch ein paar Weinblätter verhüllt. Pauls Gesicht lief rot an, und er bekam beim Anblick dieser Bilder eine Erektion. Vor den aufregendsten Darstellungen blieb er länger stehen und betrachtete sie eindringlich, bis er sich jeweils zur Gestalt das Gesicht von Miss Juliette Vanderhoff vorstellen konnte. Die Saalwächter beobachteten ihn mißbilligend – in den Galerien waren keine anderen Jugendlichen ohne Erwachsenenbegleitung zu sehen –, und eine ältere Frau, die gerade vorbeiging, während er wieder einmal seine Phantasie spielen ließ, murmelte etwas von »verdorbener Jugend«. Während er das Gebäude verließ, entschied er, daß er sich etwas zu essen und ein Glas Bier leisten wolle, und schlug die Richtung zur Hauptstraße ein. Er widerstand den exotischen Verlockungen des Persischen Kaffeehauses, des Chinesischen Teegartens, der Französischen Apfelweinpresse und entschied sich statt dessen für ein Café ohne irgendwelche nationalen Eigenheiten, das am westlichen Ende des Ausstellungsgeländes lag. Er nahm an einem kleinen Tisch für zwei Personen unter einem bunt gestreiften Sonnenschirm Platz, direkt neben einem niedrigen Lattenzaun, der den Cafégarten von der Straße abtrennte. Die Sonne brannte bereits und durchdrang mit hartem weißem Licht die staubige Luft. Paul saß im Schatten und betrachtete zwischen den Bissen in seine Wurst die vorbeieilenden Menschenscharen. In seinem Kopf begann es schmerzhaft zu pochen. Er rieb sich die Augen, blinzelte mehrmals. Als er die Augen wieder öffnete, erschrak er. Ein Mann stand auf der anderen Zaunseite direkt neben seinem Tisch. Ein Mann, dessen Silhouette von einem Lichtkranz umgeben war. Ein Mann, der wie aus dem Nichts erschienen war.
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»Ist das denn zu fassen? Der Junge aus Berlin. Hast du endlich Kunstunterricht genommen?« Er sprach deutsch. Sein Haar war länger als vorher und hing ihm über die Schultern wie die Haare der Heiligen auf den Kirchengemälden. Alles andere hatte sich nicht verändert, war genauso wie vorher. Die lange, bleiche, verhungerte Erscheinung. Der schäbige Hut, das schmierige Halstuch, der lange Mantel. Die Zigarette nah am Mund, von gelben Fingern gehalten. Woher war er gekommen? Aus der Erde? Vom Himmel? Paul erinnerte sich, daß er seine Augen bei ihrer ersten Begegnung für die des Todes gehalten hatte. »Was treiben Sie denn hier, Mr –?« »Rhukov.« »Ich erinnere mich.« »Gestattest du mir, daß ich dir die gleiche Frage stelle?« Rhukov stieg über den Zaun, zog sich vom Nachbartisch einen Stuhl heran und setzte sich. »Herr Ober, ein Bier!« Nach diesen englischen Worten fiel Rhukov wieder ins Deutsche zurück. »Du hast Berlin verlassen. Was hat dich von dort vertrieben, das allgemeine Säbelrasseln? Der abschreckende Gedanke an eine Einberufung? Oder hat Buffalo Bill dich weggelockt? Hast du davon geträumt, dein Leben als Cowboy zu verbringen?« Rhukov zog an seiner Zigarette und wartete. Paul schob seinen Teller beiseite. »Mein Onkel wohnt hier. Er ist Bierbrauer. Ich habe schon immer die Absicht gehabt, nach Amerika auszuwandern.« Das war wohl ein wenig geflunkert, oder? Aber Rhukov machte ihn nervös, vermittelte ihm das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, obgleich er diesen seltsamen jungen Mann auf eine unerklärliche Weise gern hatte. Der Ober brachte Rhukovs Bier in einem Glas mit dem Wappen der Pabst-Brauerei darauf. Er erhielt dafür ein Trinkgeld von drei Cents. »Wann bist du rübergekommen?« Paul nannte das Datum und lieferte eine Schilderung der Begleitumstände. »Von Hamburg aus, sagst du? Und du bist nicht krank geworden? Du hast aber einen guten Schutzengel, mein Freund. Dort herrschte eine Epidemie.« »Davon habe ich gehört.« »Acht- bis zehntausend mußten sterben, bis die Herbstkälte einsetzte und die Seuche gestoppt hat. Die Politiker in Hamburg haben eine Zeitlang
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versucht, die Epidemie zu ignorieren. Alles zu vertuschen. Hier ist alles in Ordnung, erklärten sie, während sie an Bergen von Leichen vorbeigingen, denen es noch im Tode vorne und hinten rauslief.« Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Na ja, was ist von denen, die an den Hebeln der Macht sitzen, schon anderes zu erwarten? Politiker, Minister, Prinzen – sie sind doch alle gleich! Ein Rudel Schakale. Schweine am Trog der Öffentlichkeit. Sie lügen, rauben und schlagen sogar ihre eigenen Mütter tot, um im Amt oder auf dem Thron zu bleiben. Du wirst dich noch daran gewöhnen, wenn du älter bist. Entweder das, oder du steigst auf einen Stuhl und erhängst dich.« Er schüttelte zwei Zigaretten aus einer zerknautschten Pappschachtel. Paul nahm eine. Rhukov riß ein Streichholz an und gab ihnen beiden Feuer. Paul machte einen Zug und krümmte sich hustend. »Du magst sie gar nicht«, stellte Rhukov fest. »Stimmt. Aber ich wollte höflich sein.« »Das ist Quatsch.« Er nahm ihm die Zigarette weg und schnippte sie über den Zaun auf die Straße. »Rhukovs Regel Nummer Eins: Tu nichts, was dir zuwider ist. Damit verkürzt du nur dein Leben.« Er legte den Kopf in den Nacken und trank den Rest seines Biers. »Ober. Noch eins.« »Für mich auch«, sagte Paul, obgleich die Hitze und der Staub und dieses überraschende Wiedersehen ihn ein wenig benommen machten. Rhukov bezahlte beide Biere und wischte Pauls Protest mit einer Handbewegung weg. »Gefällt dir Amerika?« »Bis auf die Schule ja.« »Schule! Was bringen sie dir denn bei?« »Nichts, was ich eigentlich wissen will. Ich bin sehr schlecht.« »Aber ansonsten glücklich.« »Sehr glücklich sogar.« »Ich frag’ dich in fünf Jahren noch mal.« »Sie haben aber noch nicht meine Frage beantwortet, Herr Rhukov. Was tun Sie hier?« »Das gleiche wie früher. Ich versuche, ein paar interessante Geschichten aufzuschnappen.« »Sie müssen Ihren Job sehr lieben.« »Oh, und wie! Das freie und prachtvolle Leben des allgegenwärtigen Journalisten! Bettflöhe und Kopfläuse. In billigen Absteigen übernachten. Mit älteren Huren schlafen, weil sie einem nicht soviel berechnen. Oder man riskiert es, von einem eifersüchtigen Ehemann eine Kugel auf den Pelz gebrannt zu bekommen. Allerdings esse ich ausgiebig und regelmäßig. Wirklich. Ich rasiere mich und streife dann durch die Hotels. Irgendein
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Festessen findet immer statt. Kriegsveteranen, Enthaltsamkeitsvereine, die Vertreter der Elektromotorenbranche, Naturheiler, Geistliche, die anständig gewordene Huren vorstellen. Es bleibt immer genug übrig, das darauf wartet, weggeworfen zu werden. Ich weiß, wie man mit den Hotelpagen reden muß. Ich bin mit der Unterklasse per Du. Und jetzt bin ich hier und versuche einen Blick in die Zukunft zu werfen. Das kann man ausgiebig. Und sie ist gar nicht so schön, wie manche vorzugeben versuchen. Hast du schon die Kanone von Krupp gesehen?« »Ja.« »Unheimlich, was? Wie steht es denn mit der Ausstellung aus meinem eigenen geliebten Land?« Paul schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wie kannst du dir das entgehen lassen? Mütterchen Rußland ist hier sehr gut vertreten. Sie stellt eine der größten Abteilungen. Trink dein Glas leer, wir sehen es uns an!« Sie gingen zum Russischen Pavillon. Er befand sich neben mehreren anderen im riesigen Gebäude für Handwerk und Freie Künste. Rhukov führte Paul zu einem Arrangement wunderschöner Bronzeminiaturen von Tieren und Bauerngestalten. »Sehen sie nicht glücklich aus, diese kostbaren kleinen Dinger? Du kannst sie nicht riechen, du spürst nichts von ihrer Not, wenn die Ernte verdorben ist, du siehst keinen Rücken, der von Jahren der mühsamen Arbeit gebeugt ist. Die Leibeigenen fristen ihr Dasein in totaler Armut, ihre Kinder verhungern, und Zar Alexander hat verfügt, daß jeder Rubel, den dieser romantische Mist kostet – jedes russische Ausstellungsstück in diesem Zirkus –, direkt aus dem Reichsschatz bezahlt werden soll. Ist in seinem armseligen Hirn vielleicht jemals der Gedanke entstanden, daß er dasselbe Geld zur Unterstützung seines Volkes ausgeben könnte? Niemals. Nun, die Uhr für den Zaren und andere Herrscher seiner Art läuft allmählich ab. Es gibt Männer, die jetzt schon handfeste Pläne schmieden und Bomben bauen. Die Welt, wie sie ist, treibt ihrem Untergang entgegen, mein junger Berliner Freund. Die Geburt der neuen Welt wird blutig sein. Du wirst es in zehn Jahren erleben. Oder sogar früher.« Paul dachte an Benno Strauss. Trotz der Hitze fror er plötzlich. Rhukov hatte es eilig, den Pavillon zu verlassen. »Ich kann diese Verlogenheit nicht sehr lange ertragen. Ich brauche jetzt etwas anderes, um das zu vergessen. Etwas, das mir ein wenig Menschlichkeit vermittelt. Einen Funken Erleuchtung – ein wenig Fortschritt nur. Hast du schon das Haus der Elektrizität gesehen?« »Noch nicht.«
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Er zog Paul am Arm hinter sich her. »Das werden wir sofort ändern.« Im Haus der Elektrizität am südlichen Ende der Lagune standen sie vor Edisons Turm des Lichts, einer fast achtzig Fuß hohen Säule, die mit elektrischen Glühbirnen aller Größen und Farben bestückt war. Sie blinkten in ständig wechselnden Mustern und Rhythmen. »Das ist wirklich wunderbar, nicht wahr? Vor ein paar Jahren hatte ich noch keine Ahnung von solchen Erfindungen. Ich erkannte einfach nicht den Charakter, die Großartigkeit dessen, was wie eine Lokomotive in voller Fahrt auf uns zurast. In meinem ersten Jahr, als ich versuchte, meinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen, hatte ich ein Erlebnis, das mir die Augen öffnete. Es passierte in Wien, in einem großen Vergnügungspark, dem Prater. Schon mal davon gehört? Für ein paar Groschen verkauften sie dort Elektrizität. Man bezahlte und faßte zwei Griffe an, die einem einen Stoß von dieser neuen Elektrizität gaben. Ich spürte eine unglaubliche Kraft in meine Hände eindringen und durch meine Arme und den ganzen Körper rasen. Augenblicklich wußte ich, daß die Zukunft begonnen hatte, daß man ihr nicht entfliehen konnte. Neue Ideen stürmten auf uns ein, die Wissenschaft zog uns den sicher geglaubten Boden unter den Füßen weg, alles brach zusammen, wurde umgeworfen, neu geordnet – es war wie die Apokalypse, und diesmal noch nicht einmal eine politische. Sie ist hier, mein Junge – hier auf dieser Ausstellung, und du mußt dir nur die Mühe machen, sie zu suchen. Findest du nicht auch, daß dieser Turm grandios ist? Ich sehe, er beeindruckt dich, und deshalb will ich dir etwas zeigen, was du sicher nicht für möglich hältst. Komm mal mit in den Seitengang dort.« In der schmalen Nebenstraße herrschte Dämmerlicht. In kleinen Buden waren einige nicht besonders interessante Dinge zu besichtigen. Rhukov deutete auf ein Schild auf der linken Seite. DAS SENSATIONELLE TACHYSKOP Sehen Sie Bilder, die sich tatsächlich BEWEGEN! Bilder, die sich bewegten? Wie war das möglich? Die Bude selbst sah nicht besonders einladend aus. Vor ein paar eintönig grauen Vorhängen und zwischen Topfpalmen, die ihre Blätter hängen ließen, stand ein großer rechteckiger Kasten mit einer Holzstufe davor. Er hatte etwa Pauls Höhe. Ein Metallteil, das in etwa aussah wie das Okular eines Stereoskops, war in Augenhöhe an der leicht schräg geneigten Vorderwand befestigt. Daneben befand sich ein Münzschlitz. Paul war
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gespannt, was es kosten würde. Er hatte nur noch ein paar Cents übrig. Hin- und hergerissen zwischen Skepsis und Neugier, folgte er Rhukov in die Bude. Zwei Männer standen an einem Tisch in der Ecke und unterhielten sich. Sie kamen herüber, um die Besucher zu begrüßen. »Da ist ja schon wieder der Journalist«, sagte der dickere der beiden. »Guten Tag, Sir.« Rhukov sprach nun langsamer und ziemlich undeutlich englisch. »Auch Ihnen einen guten Tag. Mein Freund hier –« Paul versuchte möglichst erwachsen und interessiert auszusehen. »Er will nicht glauben, was draußen auf Ihrem Schild steht.« Der Mann lachte verhalten. »Ein kleiner Skeptiker, was? Von der Sorte haben wir schon viele hier gehabt. Weißt du, Kleiner, dieser Gentleman dort ist Mr. Ottmar Anschütz, der Eigentümer und Konstrukteur des Tachyskops. Eine Demonstration dieses Geräts ist den bescheidenen Preis von einem Dime allemal wert.« »Und was für Bilder kann man sehen?« »Mein Junge«, sagte der Erfinder, ein Deutscher, »hast du schon die Tiere in Hagenbecks Zoo an der Hauptstraße gesehen?« »Nein, Sir.« »Dort tritt ein Elefant namens Bebe auf. In meinem Tachyskop bewegt Bebe sich genauso realistisch wie in freier Wildbahn. Die Bilder in dieser Maschine wurden im Tiergarten aufgenommen.« »In Berlin? Ich komme aus Berlin.« »Das habe ich wegen deines Akzents schon vermutet.« Anschütz holte eine Münze aus einer Tasche seiner karierten Weste. »Dann komm mal her. Ich werde dem jungen Skeptiker eine Vorführung spendieren.« Paul stieg auf die Holzstufe und blickte in den Sichtschacht. Er sah nur Dunkelheit. Neben ihm sagte der andere Mann, der dicke Amerikaner: »Mr. Edison sollte seine eigene Maschine, das Kinetoskop, ebenfalls hier ausstellen. Es funktioniert so ähnlich, aber sie haben es nicht rechtzeitig fertig bekommen.« »Paß gut auf«, sagte Anschütz. Die Münze rutschte in den Schlitz. Im Kasten surrte und klickte ein Mechanimus. Ein plötzlich aufflammendes, grelles weißes Licht blendete Paul für einen Moment. Er hielt sich am Kasten fest, denn er wäre vor Schreck beinahe von der Holzstufe gefallen. Im Sichtschacht sah er ein grobkörniges Bild von einem Elefanten mit einem lustigen Ballettröckchen um den Leib, der schwerfällig auf einer Grasfläche umhertanzte, die durchaus im Tiergarten sein mochte, was er aber nicht erkennen konnte. Das Tier bewegte sich tatsächlich!
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Paul wagte kaum zu atmen. Die Bewegungen wirkten abgehackt, ruckartig, als würden sie durch das flackernde Licht in kurzen Zeitabständen unterbrochen. Auf jeden Fall war es verblüffend, weitaus phantastischer als die leblosen Photographien, die er in seinem Zimmer in der Müllerstraße aufgehängt hatte. Dies war ein Moment, wie Rhukov ihn im Prater erlebt hatte. Licht, das aus einem Sichtschacht drang wie die blendenden Blitze der Offenbarung, ein Blitz nach dem anderen, immer wieder … Sekunden später, völlig durcheinander, trat er von dem Tachyskop zurück. »Meine Herren – Herr Rhukov –, das ist das Erstaunlichste, Unglaublichste – Moment mal … Wo ist er denn?« Die beiden anderen Männer schauten sich um, Anschütz verzog das Gesicht und zuckte die Achseln. Der Amerikaner sagte: »Gerade hat er noch dort gestanden. Ich sah seine Gestalt als Schatten vor dem EdisonTurm. Ich drehte mich um, sagte etwas zu Herrn Anschütz – es hat nicht länger als ein, zwei Sekunden gedauert –, und als ich wieder hinsah –« Wie eine Spieluhr, die abgelaufen war, wurde seine Stimme leiser, »da war er plötzlich weg.« Paul roch den Qualm der starken Zigarette und glaubte auch, eine blaue Rauchfahne zu sehen, die sich in Luft auflöste. In Berlin war Rhukov auf die gleiche gespenstische Art verschwunden. Aber dieses Phänomen wurde von dem Wunder des Tachyskops bei weitem übertroffen. Anschütz ging hinaus, um ein junges Ehepaar anzusprechen, das unschlüssig vor der Bude stand. Wahrscheinlich überlegten sie genauso wie Paul, ob sie für so etwas ihr Geld ausgeben sollten. Paul wandte sich an den Amerikaner. »Wissen Sie alles über diese Maschine?« »Ich weiß ein wenig darüber. Ich habe nämlich selbst ein Studio für Photographie.« »Wie funktioniert diese Maschine?« »Nun, eigentlich siehst du überhaupt keine Bilder, die sich tatsächlich bewegen, sondern nur einzelne Standphotos, die eine Illusion von Bewegung erzeugen, wenn sie in schneller Folge gezeigt werden. In dem Kasten befindet sich eine drehbare Trommel. Die Bilder von Bebe sind in entsprechender Reihenfolge auf die Trommel geklebt. Die Lichtblitze werden vom Leuchtgas in zwei Geissler-Röhren erzeugt. Das verstärkt den Effekt.« »Ich habe noch nie etwas so Lebensnahes gesehen. Es ist überwältigend. Wundervoll.« »Wie schön für dich! Ich wußte gleich, als ich dich zum erstenmal sah, daß du ein schlauer Bursche bist.«
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Ein seltsamer kleiner Mann. Er trug einen völlig unauffälligen Anzug und eine Kordel als Krawatte und reichte Paul nur bis zur Schulter. Er hatte einen Kugelbauch und einen graumelierten Schnurrbart, der so buschig und widerspenstig war, daß er fast den ganzen Mund verbarg. Seine Haare mußten dringend geschnitten werden. Die übergroßen Augen steckten hinter dicken runden Brillengläsern. Seine Haut hatte die bleiche Farbe eines Molchs oder irgendeines anderen in ständiger Dunkelheit lebenden Getiers. Er war nicht furchteinflößend oder bedrohlich, wie der verschwundene Rhukov ihm manchmal vorkam. Er war einfach nur – seltsam. Bis auf die Augen. Die Brille vergrößerte sie, was sie noch auffälliger machte. Sie wirkten so, als könnten sie einem in den Kopf blicken, als könnten sie einem ins Gehirn dringen und es in einer Weise bearbeiten, daß man nachher alles glaubte, was dieser Mann einem erzählte. Wie von Rhukovs Augen ging eine besondere Kraft von ihnen aus. »Aber, Sir, meinen Sie, daß diese bewegten Bilder irgendwann einmal mehr sein werden als – äh –« »Eine weitere Erfindung?« »Ja, eine Erfindung. Ich glaube, das ist es, was ich meine.« »Natürlich glaube ich das. Sie werden irgendwann einmal der Unterhaltung dienen. Der Unterhaltung und der Erziehung, und das in einem Ausmaß, das du dir noch gar nicht vorstellen kannst. Eines Tages wird man bewegte Bilder in großen Sälen auf riesigen Schirmen zeigen, zum Vergnügen und zur Belehrung der Menschen. Solche Bilder sprechen eine universelle Sprache. Sie werden um die ganze Welt gehen, sie erobern. Es wird noch ein paar Jahre dauern. Zur Zeit bemühen einige Erfinder sich, eine bessere Projektionsmaschine zu entwickeln. Aber eines Tages wird es soweit sein, glaub mir. Es wird genauso sicher kommen wie das nächste Jahrhundert. Das sagt Rooney.« »Rooney?« »Wexford Rooney. Da ist meine Visitenkarte.« Er wühlte in seinen Taschen. In der dritten fand er schließlich das Gesuchte. »Das ist gegenwärtig die Adresse meines Studios. North-Clark-Straße. Komm einfach vorbei, falls du jemals eine Kamera brauchst oder irgendeinen Rat. Oder wenn du einfach nur ein Schwätzchen halten willst. Ich habe während der letzten Unannehmlichkeiten im ganzen Land meine Photos gemacht.« Paul sah ihn verständnislos an. »Ich meine den Bürgerkrieg. Seitdem bin ich im Geschäft. Komm ruhig mal vorbei.« »Ganz bestimmt, das verspreche ich. Ich habe noch eine Woche Schule, dann komme ich bestimmt.«
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»Prima, ganz prima. Es kann nie genug aufgeschlossene Interessenten geben. Neun Zehntel der Menschheit bestehen aus ungläubigen Thomasen. Alles Dummköpfe.« Er warf Paul eine weitere Münze zu. »Sieh dir Bebe noch mal auf meine Kosten an.« Er trat zurück, hakte die Daumen in die Armlöcher seiner Weste und verzog zufrieden das Gesicht. Paul beugte sich über das Tachyskop mit den weißen Lichtblitzen, die sich in seine Augen, seine Knochen, seine Seele einbrannten und dieses Wunder für immer zu einem festen Bestandteil seines Bewußtseins machten. Wahrend der Heimfahrt mit der Straßenbahn klopfte Paul mindestens ein dutzendmal auf seine Hemdtasche, um sich zu vergewissern, daß er Rooneys Visitenkarte nicht verloren hatte. Er hatte immer angenommen, daß das Standphoto, wie er es von der verlorenen Kodakkamera und seinen Ansichtspostkarten kannte, das größte aller Wunder des neuen Zeitalters sei. Er irrte sich, er hatte etwas gesehen, das dem noch um mindestens tausend Meilen weit voraus war. Er war in einer euphorischen Stimmung, als er um halb sechs in die Küche stürmte und beinahe Louise, die Köchin, umrannte. »Gott im Himmel, was ist denn in dich gefahren?« »Ist Tante Ilsa da?« »Nein, sie ist mit Fritzi und Carl ausgegangen.« »Und Joe junior?« »Der ist oben.« Er war außer Atem, als er an die Zimmertür seines Vetters klopfte. Joe junior hatte gerade gebadet. Er trug leichte Sommerunterwäsche, hellgrau, die er bis zur Hüfte aufgeknöpft und heruntergestreift hatte. Das Haar klebte naß an seinem Kopf. Er trocknete gerade seine muskulöse Brust ab. »Weshalb bist du denn so verdammt aufgeregt?« »Joe, ich muß dir unbedingt erzählen, was ich in der Ausstellung gesehen habe.« Joe junior kratzte sich im Schritt und ließ sich auf die Bettkante sinken. »Little Egypt.« »Nein, nein – eine Maschine! Eine wundervolle Maschine!« Er setzte sich neben seinen Vetter und suchte krampfhaft nach den richtigen englischen Worten, um das Wunder zu beschreiben. »Ich könnte es lernen, solche Bilder herzustellen, Joe. Ich wollte schon immer zeichnen, aber dazu habe ich kein Talent. Diese Kunst hingegen könnte ich erlernen, denn dazu sind Maschinen nötig.« »Wenn es so toll ist, wie kommt es dann, daß niemand darüber redet?
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Ich habe noch nie etwas davon gehört.« »Aber –« »Welche Bedeutung, welche Auswirkung hat das Ganze? Inwiefern trägt es dazu bei, die Last zu mindern, die der einfache Arbeiter tragen muß?« Stumme Wut loderte in Paul hoch. Konnte sein Vetter denn von nichts anderem reden als von armen, unterdrückten Menschen? Joe legte Paul eine Hand auf die Schulter und gab ihm, begleitet von einem weisen Lächeln, einen altklugen Rat. »Ich würde an deiner Stelle nicht länger darüber nachdenken. Ruf mich, wenn das Abendessen auf dem Tisch steht, ja? Ich brauche noch ein kleines Schläfchen.« Paul verzieh seinem Vetter sehr schnell. Hatte Rooney nicht gesagt, die Welt sei voller Ungläubiger? Es war so einfach, zu spotten. An diesem Abend saß er auf seinem Bett. Sein Blick wanderte zwischen dem Brett mit den Ansichtspostkarten und der Visitenkarte in seiner Hand hin und her. Es war eine unansehnliche Karte. Alt, fleckig, an den Ecken umgeknickt. Die Druckerschwärze war verschmiert. Dennoch kam sie ihm vor wie der Zauberschlüssel zu einer magischen Tür. Auf der anderen Seite dieser Tür konnte er, wenn er Rooney Glauben schenken durfte, alles übers Photographieren und über das Herstellen von solchen Bildern lernen. Und dann vielleicht auch über Bilder, die sich bewegten. Eine Woche noch, bis die Schule vorüber war, dann hätte er genügend freie Zeit, dann könnte er hingehen. Der Gedanke, in Mrs. Petigrus Klasse bleiben zu müssen, beherrschte ihn nicht länger. Er heftete die Visitenkarte sorgfältig an sein Brett und betrachtete sie sehnsüchtig. Eine Woche. Ob er eine so lange Wartezeit überhaupt durchstehen könnte? Am Montagmorgen erzählte er Leo Rapoport vor Schulbeginn von seiner aufregenden Entdeckung. Genauso wie Vetter Joe war Leo kaum beeindruckt. Er nannte die Erfindung sogar »bekloppt«. Das, so erklärte er, sei das gleiche wie verrückt. Leo wollte über etwas ganz anderes reden. »Setz dich«, flüsterte er. Paul hockte sich auf die niedrige Zementmauer am Rand des Schulhofs. Nach wachsamen Blicken in beide Richtungen öffnete Leo seinen ramponierten Schulranzen aus braunem Segeltuch. Er holte einen Stapel zusammengefalteter Papierbögen heraus, die bedruckt waren. »Mein alter Herr hat endlich die Verkaufslisten vom vergangenen Jahr weggeworfen. Sieh dir das Zeug mal an, ja? Zeig es nur nicht überall
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herum. Ich passe auf.« Aufpassen? Weshalb? Paul faltete die Bögen auseinander und blätterte die Seiten schnell durch, die allesamt ähnlich aussahen. Über einem Textteil mit Informationen über Ausführung und Preise wurden drei Viertel jeder Seite von der Zeichnung einer wunderschönen Frau eingenommen, die ein Produkt aus Mr. Rapoports Angebot trug. Jedes Mädchen war unglaublich üppig dargestellt mit riesigen, schwellenden Brüsten, verführerisch aufgeworfenen Lippen sowie einer leicht vorgebeugten Körperhaltung, die einen tiefen Einblick in den Ausschnitt gestattete. Da waren Blätter mit schlichten, unverzierten Korsetts oder eleganten französischen Korsetts mit Seidenstickereien; mit leichten Sommerkorsetts mit vier Haken und mit Korsetts, die an den Oberschenkeln besonders hoch ausgeschnitten waren, um möglichst viel Fleisch zu entblößen. Die schwülsten Bilder zeigten den Fuß der jeweiligen Frau auf einem Stuhl oder einem Hocker und gewährten einen Blick auf die als tabu geltende Innenseite des Oberschenkels. »Das sind die Prospekte für die Vertreter, die für die Kaufhäuser ordern, nicht für die Ladies, die das Zeug tragen«, erklärte Leo. Plötzlich umklammerte er Pauls Arm. »Paß auf, da kommt Maury Flügel. Versteck die Listen, schnell. Wenn er sie sieht, dann verpetzt er uns.« Paul stopfte die zusammengefalteten Blätter in die linke Tasche seiner leinenen Schuljacke und schob sie tief hinein, ohne nach unten zu schauen. Maury erschien einen Augenblick später. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand er da und sagte: »Ich hab’ gesehen, wie ihr beiden etwas gelesen habt. Etwa ein schlimmes Buch? Komm schon, Leo, sei ein Freund, laß mal sehen.« »Du bist kein Freund, du bist eine alte Petze«, erwiderte Leo und schubste ihn aus dem Weg. Er ging aufs Schultor zu, dicht gefolgt von Paul. Während sie sich dem Tor näherten, kontrollierte dieser seine linke Tasche. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, daß eine Ecke der zusammengefalteten Verkaufslisten deutlich sichtbar herausgerutscht war. Sein Herz schlug wie wild. Er wagte nicht, sie zu berühren, ehe er im Schulgebäude und vor Maurys neugierigen Blicken geschützt war. In der Garderobe faltete er die Jackenhälften nach innen, überzeugte sich, daß die Listen nicht zu sehen waren, und hängte das Kleidungsstück am letzten Haken der Reihe auf. Kurz vor der großen Pause rief Mrs. Petigru Paul zu sich ans Lehrerpult, um ihm mitzuteilen, daß der Brief an seine Tante und seinen Onkel am Donnerstag geschrieben sei und daß er ihn nach Hause mitnehmen solle. Sie riefe noch am gleichen Tag an, um sicherzugehen, daß er ihn auch
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abgegeben hätte. Die Pausenglocke erklang. Schüler drängten sich in die Garderobe, um sich etwas Warmes anzuziehen. Der Himmel war bedeckt, und es wehte ein kräftiger Wind. Paul wollte ebenfalls die Garderobe aufsuchen. »Bleib stehen, junger Mann, noch habe ich dich nicht entlassen.« Das Klassenzimmer war völlig leer, als sie ihm schließlich knapp zunickte. »Jetzt darfst du gehen.« Er rannte in die Garderobe. Jemand hatte sich an seiner Jacke zu schaffen gemacht. Er schob die Hand in die Tasche mit den Verkaufslisten. Sie war leer. Auf dem Schulhof nahm er Leo beiseite. Er erzählte ihm von der Katastrophe. Sie kannten den Übeltäter. Sie konnten nichts tun, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen und dabei zu riskieren, erwischt zu werden, wenn einer der Lehrer sie trennte. Als sie nach der Pause zurückkamen, saß Mrs. Petigru an ihrem Pult. Rote Flecken glühten auf ihren weißen Wangen. Ihre Augen suchten das Klassenzimmer ab, blieben an Paul hängen. Er hatte seine Lehrerin schon des öfteren wütend erlebt, aber noch nie war sie so außer sich gewesen wie in diesem Moment. Mit leiser, leicht vibrierender Stimme wendete Mrs. Petigru sich an die Klasse. »Gegen Ende der Pause fand ich etwas auf meinem Pult. Etwas, das nicht für junge Menschen bestimmt ist. Etwas Schmutziges, Verdorbenes und Obszönes.« Ihre linke Hand sank zu einer Schublade herab, öffnete sie. Sie legte die zusammengefalteten Verkaufslisten auf die Schreibunterlage und bedeckte sie schnell mit der rechten Hand, wobei sie die Finger spreizte. Schweiß sammelte sich in Pauls Kragen. Mrs. Petigru schloß die Schublade wieder. Das Geräusch war so laut wie ein Pistolenschuß. Ihre zornfunkelnden Augen richteten sich wieder auf ihn. »Paul Crown, komm mal her.« Maury Flügel kicherte, aber alle anderen waren starr vor Angst. Sie spürten den außerordentlichen Zorn der Lehrerin. Paul ging nach vorne, blieb neben dem Lehrerpult stehen und hielt sich dabei so gerade wie möglich. Zwischen den gespreizten Fingern Mrs. Petigrus konnte er erkennen, daß jemand auf die Rückseite des oberen Bestellformulars in Blockbuchstaben PAUL C. geschrieben hatte. Mrs. Petigru musterte ihn eindringlich. »Wem gehört das, Paul?« Er gab sich Mühe, seine Stimme laut und kräftig klingen zu lassen. »Ich sehe meinen Namen darauf. Also gehören die Blätter mir.«
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»Woher hast du sie?« Er konnte nicht sagen Von Leo. Er konnte auch nicht antworten Aus dem Haus meines Onkels. Also nahm er Zuflucht zu einer Antwort, die sie sicherlich glauben würde. »Ich habe sie von einem Mann in einem Biergarten gekauft.« »Schon wieder eine Kostprobe dieser einmaligen deutschen Moral, nicht wahr? Was ist los mit dir? Was für ein Mensch bist du? So etwas kann man nur verbrennen. Und genau das werde ich auch damit tun. Ich habe mir größte Mühe mit dir gegeben, Paul. Ich habe an dich appelliert, habe gekämpft, dir bewußt geholfen. Und wie dankst du mir diese Mühe? Indem du die Verderbnis der Bierhallen in meine Klasse trägst.« Mit jedem Wort wurde sie lauter. Speichel sprühte von ihren Lippen. »Du bist ein Tunichtgut. Und was noch schlimmer ist, du bist auch noch dumm dazu. Ein deutscher Dickschädel, nicht imstande, irgend etwas zu lernen.« Etwas in ihm bäumte sich auf. Er platzte heraus: »Ich könnte eine ganze Menge lernen, wenn es mir nur gefiele.« »Ach, tatsächlich?« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was zum Beispiel? Faulenzen? Dich mit Bier zu betrinken? Dich mit solchem Schmutz zu amüsieren?« »Das ist nicht fair, ich habe mich niemals –« »Sei still! Tritt einen Schritt vom Pult zurück. Leg beide Hände darauf.« Hinter sich hörte Paul, wie ein Mädchen einen erstickten Seufzer ausstieß. »Oh!« Paul schluckte, trat zurück. Er beugte sich vor, legte seine Handflächen auf die Schreibunterlage. Im Klassenzimmer scharrte jemand vor Aufregung mit den Füßen. »Mrs. Petigru, diese Bilder gehören mir. Ich habe sie mitgebracht.« »Setz dich, Leopold Rapoport. Ich habe etwas gegen Lügner. Du kannst einen Frevel nicht mit einem zweiten wiedergutmachen. Paul, spreiz die Finger.« Er gehorchte. Mrs. Petigru zog die mittlere Schublade auf und holte ihr langes, dickes Lineal heraus.
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23 JOE CROWN Der Zug brachte ihn von Cincinnati bis tief ins westliche Tennessee. In Henderson Station stieg er aus seinem Wagen, eine straffe, zierliche Gestalt in einem weißen Anzug und mit dunklem Halstuch. Die Blicke, die ihm auf dem Bahnhof herumlungernde Gestalten zuwarfen, unterschieden sich nicht von denen, die jeder elegant gekleidete Fremde in jeder Kleinstadt auf sich lenken würde. Dennoch hatte er Angst, daß seine Schuld in seinem Gesicht zu sehen war wie ein Geburtsmal. Er mietete einen Pferdewagen, verstaute seine Reisetasche unter dem Sitz und schlug den Weg zum Fluß in südöstlicher Richtung ein, wo Pittsburgh Landing und Shiloh Church lagen. Es war eine schöne Landschaft, genauso wie er sie in Erinnerung hatte. Felder und Wiesen, hin und wieder eine Farm, umgeben von dichten Wäldern. Zerbrechliche Holzbrücken überspannten Bäche und Gräben an den Feldwegen. Er erinnerte sich auch daran, was vor dreißig Jahren am Vorabend der Schlacht geschehen war, als er gerade zwanzig war … Kurz nach Tagesanbruch, am Morgen des 6. April 1862, ruhte die Unionsarmee noch und bereitete sich auf das Frühstück vor. Niemand rechnete mit feindseligen Handlungen, am wenigsten General Grant, der irgendwo auf dem Tennessee-Fluß in einem Kanonenboot unterwegs war. Nach seiner triumphalen Eroberung von Fort Henry und Fort Donaldson rückte die Armee langsam nach Süden auf Corinth vor, einen strategischen Eisenbahnknotenpunkt im nördlichen Mississippi. Die Armee war noch sehr unerfahren, und das zeigte sich deutlich. Die Zäune wurden nur unzureichend in Ordnung gehalten, Kavalleriepatrouillen nur unregelmäßig durchgeführt. Verachtung für den Feind führte zu einer aus Trägheit geborenen Selbstüberschätzung. Daher wurden sie an diesem friedlichen Sonntag völlig überrumpelt, als die jungen Soldaten der jungen Konföderierten-Armee heulend und tobend aus den Wäldern im Süden hervorgestürmt kamen. Die 5. Ohio-Kavallerie wurde an diesem Morgen mobilisiert. Sie sollte versuchen, einen Überfall zu vereiteln. Joe erinnerte sich genau an die ängstlichen Jungengesichter – er vermutete, daß seins nicht viel anders ausgesehen hatte –, während die 5. Ohio sich um die Infanterie der Union verteilte, mit ihren Pferden über Zäune setzte und zu schießen versuchte, während die Granaten der Rebellen unter lautem Getöse einschlugen und braune Erde hochschleuderten … In seinem gemieteten Einspänner traf Joe spät am Nachmittag auf dem unkrautüberwucherten und verlassenen Schlachtfeld ein. Bei
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Sonnenuntergang fand er auch das vertraute Eichenwäldchen, wo die 5. Ohio sich den Rebellen entgegengestellt hatte, um die Unionsinfanterie an jenem fernen Sonntagnachmittag davor zu bewahren, an der rechten Flanke angegriffen zu werden. Joe war hinter Major Ricker im linken Flügel des Regiments geritten. Er erinnerte sich noch gut an den rasenden Angriff, an den Qualm, der so dicht war, daß man den Feind vor sich kaum sehen konnte, allein gelassen mit einem Kameraden neben sich. Als Joe im kühlen Schatten einer mächtigen Eiche stand, die immer noch Spuren der Schlacht trug, schluckte er und spürte, wie seine Augen feucht wurden, als er sich voller Stolz an all die jungen Stimmen erinnerte, die während des Angriffs ihre tapfere Entschlossenheit hinausgebrüllt hatten. Die älteren Offiziere hatten das Gebrüll angestimmt, das jeden noch so lauten Rebellenschrei übertönte, den er später hörte … Ein orangefarbenes Feuer wie im Herzen eines Stahlofens erhellte den westlichen Himmel. Joe Crown lehnte sich gegen den vernarbten Eichenstamm, spürte eine leichte Benommenheit und genoß die Kühlung, als der Wind sanft über sein verschwitztes Gesicht strich. Wie jung sie doch gewesen waren an jenem wunderschönen Sonntag, dem eine weitere Regennacht folgte. Wie mutig und heldenhaft beide Armeen doch gekämpft hatten! Bis sie zum allerersten Mal Hunderte und Aberhunderte toter Männer – von Kugeln durchlöchert, mit abgetrennten Gliedmaßen – sahen und um Mitternacht im strömenden Regen die Schreie der Amputierten in den Sanitätszelten hörten … Im Unwetter jener Nacht hatte Joe am Rand ihres Lagers Wache geschoben. Bei einem grellen Blitz erkannte er eine Gestalt, die mit einem Rucksack auf dem Rücken zwischen den Bäumen über den Erdboden davonkroch. Joe holte sofort seinen Revolver unter dem Gummiponcho hervor. »Halt! Halt, oder ich schieße!« Der Soldat erstarrte mitten in der Bewegung. »Kommen Sie her! Hände hoch!« kommandierte Joe. Das glucksende Geräusch der Schuhe des Mannes auf dem nassen Untergrund übertönte das Rauschen des Regens. Joe spürte den Mann neben sich. Hörte seinen heftigen Atem. Ein weiterer Blitz zuckte auf, riß das Gesicht des Flüchtlings aus der Dunkelheit. »Soldat Linzee!« Joe sah das Gesicht des Jungen in seiner Erinnerung, naß von Tränen und vom Regen … Hans Linzee war achtzehn, ein Stellmacherlehrling aus Hamilton, Ohio; ein guter Soldat. Er sprach englisch mit Akzent. Er war ein schüchterner, empfindsamer Junge und wegen seiner bemerkenswerten künstlerischen
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Begabung ein besonderer Liebling Joes. Linzee hatte einen Farbkasten und Pinsel in seinem Gepäck. Er malte wundervolle Aquarelle von Landschaften, Armeecamps, rastenden Soldaten. Linzee hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich. Joe wollte ihn ermutigen, nach dem Krieg etwas anderes zu anzufangen, als das Stellmacherhandwerk auszuüben. Er sollte lieber etwas für die weitere Ausbildung seines erstaunlichen Talents tun. »Linzee, was treiben Sie denn hier?« Joe verstaute den Revolver wieder unter seinem Poncho. Es bestand keine Gefahr. »Wollten Sie weglaufen?« Niedergeschlagen nickte Linzee. »Ja, Sir.« »Das kann ich nicht zulassen. Und zwar nicht wegen der Vorschriften, die interessieren mich nicht, sondern allein um Ihretwillen. Wenn Sie jetzt verschwinden, dann wäre Ihr ganzes Leben verpfuscht. Sie würden sich selbst hassen. Eher würde ich Sie wegen Fahnenflucht niederschießen.« Joe zupfte sanft am Ärmel des Jungen. »Kommen Sie, dort unter dem Baum stehen wir etwas geschützter.« Der Regen rauschte auch dort herab, aber nicht so heftig. Joe hockte sich hin. »Und jetzt, Hans, erzählen Sie mir mal, weshalb Sie weglaufen wollten.« »Ich war im Wald, verrichtete meine Notdurft«, sagte Linzee mit matter Stimme. »Dort stolperte ich über eine Leiche ohne Kopf. Und da waren auch Hausschweine, sie rissen Fleischstücke aus dem Halsstumpf – o Sir, Sir, es war – es ist furchtbar – schrecklich. Ich hasse diesen Krieg.« »Aus gutem Grund. Aber Sie haben sich bisher doch nicht davon beeindrucken lassen. Das dürfen Sie jetzt auch nicht. Sie sind einer meiner besten Soldaten.« »Vielen Dank, aber ich kann nicht mehr. Wird es morgen zum Kampf kommen?« »Ja, ganz gewiß. General Grant und General Sherman werden sich nicht mit einer Niederlage abfinden.« Linzee brach in Tränen aus. »Mein Gott, Herr Leutnant – ich habe Angst. Soviel Angst.« Joe nahm den Jungen wie ein Kind in die Arme und beruhigte ihn. Er war genau zwei Jahre älter als Hans Linzee. »Die haben wir alle. Jeder Mann in dieser Armee hat Angst. Wenn er sie nicht hätte, wäre er verrückt. Ruhen Sie sich jetzt aus. Reißen Sie sich zusammen. Heute nacht brauchen Sie sich vor nichts zu fürchten.« Er fuhr fort, den Jungen zu trösten, während der Regen sie beide bis auf die Haut durchnäßte. Der Konföderiertengeneral Albert Sidney Johnston fiel in Shiloh
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während der Schlacht am Sonntag. Tausende andere fielen ebenfalls. Fast fünfundzwanzigtausend Männer insgesamt, auf beiden Seiten. Zehnmal so viele wie bei der ersten Schlacht am Bull-Run-Fluß ums Leben gekommen waren. Joes Prophezeiung der Regennacht traf ein. Das Unentschieden von Sonntag und die Beinahe-Niederlage verwandelte sich am Montag in einen echten Sieg der Union. Die Konföderierten unter Beauregard zogen sich nach Corinth zurück. Es geschah nach Pittsburgh Landing, daß Joe Crown den Krieg zu hassen begann, und zwar genauso leidenschaftlich, wie er ihn vorher verteidigt hatte. Er haßte den Schmutz und das Durcheinander. Die Zufälligkeit von Leid und Tod. Die brutale Hand des Schicksals. Er haßte die Art und Weise, wie er anständige, ehrenhafte junge Männer wie Hans Linzee zu winselnden Feiglingen machte. Alles in seiner Natur bäumte sich gegen diese so offensichtlich sinnlose Unordnung auf, die die meiste Zeit herrschte. Er konnte seine Zuversicht und seinen Mut nur aufrechterhalten, indem er an das große Anliegen dachte. An die Union. An das Ende der Sklaverei. Aber es fiel ihm sehr schwer. Ein paar Tage später kam Linzee zu ihm. Offensichtlich hatte er wieder frischen Mut gefaßt. »Herr Leutnant, ich danke Ihnen, daß Sie mich neulich in der Nacht vor mir selbst und vor der Schande beschützt haben. Ich werde Ihnen dafür etwas ganz Besonderes schenken.« Joe lächelte und winkte ab und sagte, das sei nicht nötig. »O doch, das ist es ganz bestimmt«, erwiderte Linzee. Also antwortete Joe, er sei einverstanden. Und dann, in Mississippi, stand er plötzlich auf einer gewundenen roten Lehmstraße. Mai 1862. Unter der Führung von General Halleck, »Old Brains«, wie er genannt wurde, zog die Unionsarmee vom Eisenbahnknotenpunkt Corinth nach Süden. Die dort eingeschlossenen Kommandeure von General Beauregard, die Generäle Van Dorn und Bragg, hatten die Stadt Ende Mai verlassen. Die Hufe der Pferde wirbelten ziegelroten Staub in dichten Wolken von der gewundenen Straße hoch. Vorkommandos der 5. Ohio suchten nach feindlichen Hinterhalten, nach versprengten Feinden. Zweimal schon war es zu Schießereien mit berittenen Rebellen gekommen. Der Tag war schwül und still. Leutnant Joe Crowns dunkelblaue Uniformjacke war unerträglich warm. Er roch seinen eigenen ungewaschenen Körper, als er den Kopf beugte, um niedrig hängenden
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Büscheln Spanischen Mooses auszuweichen. Der Anführer der Patrouille, sein befehlshabender Offizier, Hauptmann Frank Ehrlich, lachte und schwatzte, als befände er sich auf einem Picknick. Ehrlich betrieb im Zivilleben einen Eisenwarenladen in Lebanon an der Straße nach Cincinnati. Er hatte nur die Grundschule besucht. Nach Joes Auffassung war er für das Kommando nicht qualifiziert. Er war zu wenig organisiert und – für einen Deutschen – ungewöhnlich faul. Aber Ehrlich hatte einen Bruder, der bei den Justizbehörden von Ohio arbeitete. In der 5. Ohio gab es eine ganze Menge hoher Positionen, die deren Inhaber Beziehungen zu verdanken hatten. Bei den gemeinen Soldaten sah es jedoch nicht viel besser aus. Nur wenige Soldaten hatten nützliche Erfahrungen mit Pferden. Die meisten waren Stadtleute – Kaufleute, Schullehrer, Büroangestellte – und im Unterschied zu den Kavalleristen aus dem Süden überhaupt nicht für den Dienst im Sattel ausgebildet. An der Spitze der Vorhut, steif und schwerfällig in seinem McClellanSattel sitzend, verschwand Hauptmann Ehrlich nach und nach außer Sicht, als er in eine Senke ritt, durch die sich ein Bach schlängelte. Joe sah ihn auf der anderen Seite wieder hochkommen und neben einem Holzzeichen anhalten, das roh zugeschnitten war und aussah wie ein Pfeil. HÖLLE FÜNF MEILEN KOMMT NUR, YANKEES! Die dichten Wälder schienen an diesem heißen Vormittag friedlich dazuliegen. Aber das Schild brachte die Gespräche der Männer zum Verstummen, und alle warfen nervöse Blicke in das düstere Dickicht zwischen den Bäumen. Nach einer Viertelmeile verlief die Straße wieder in ebenem Gelände. Hauptmann Ehrlich deutete nach links. Joe trieb sein Pferd an, um zu ihm aufzuschließen. Ein alter Neger war hinter einem grünen Busch aufgetaucht. Revolver wurden gezückt. Hauptmann Ehrlich hob die Hand. »Nicht schießen, er ist unbewaffnet.« Der schwarze Mann preßte seinen alten Strohhut gegen die Brust seines geflickten und verblichenen Arbeitshemdes. »Ist schon gut, Cap’n, es besteht keine Gefahr. Ich bin Erasmus, ein Freund. Das Schild da hinten hat ganz recht. Es stimmt, was drauf steht. Ein Stück weiter lauern ganz schlimme Leute.« »Soldaten?«
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»Ein paar. Hauptsächlich alte Männer und Jungs aus der Gegend hier. Aber sie sind ganz wild darauf, ein paar von euch Yankees umzubringen. Sie haben eine Menge Gewehre. Zieht nicht weiter, kehrt lieber um. Es wird schlimm für euch, wenn die Nacht hereinbricht.« Frank Ehrlich machte ein ernstes, furchtloses Gesicht, als er entgegnete: »Vielen Dank, Erasmus, aber wir haben den Befehl vorzurücken. Doch wir werden die Augen offenhalten.« Ehrlich hob wieder die Hand und gab dem Trupp das Zeichen, weiterzuziehen. Joe Crown ritt an dem alten Neger mit den traurigen Augen vorbei, der seinen Strohhut an die Brust drückte. Eine schreckliche Vorahnung befiel ihn. Sie kampierten an diesem Abend ein Stück abseits der Straße an einem Bach, wo die Männer in der Dunkelheit badeten. Ein Kochfeuer wurde entfacht, aber die Offiziere warnten die Männer, sich nur dann in seine Nähe zu wagen, wenn es absolut notwendig sei. Joe dachte, sie hätten lieber überhaupt kein Feuer anzünden sollen, aber die Männer waren seit sechsunddreißig Stunden ohne eine warme Mahlzeit, und Hauptmann Ehrlich hatte auf einem Feuer bestanden. Joe hielt sich in sicherer Entfernung von den Flammen und kaute auf einem Stück Pökelfleisch. Die einzigen Laute waren das Plätschern des Bachs, die Rufe der Nachtvögel, das Planschen der Badenden. Dennoch fühlte er sich unbehaglich. Er beobachtete den dunklen Wald jenseits der Wachtposten. Ob dort unsichtbare Rebellen umherschlichen? »Sir?« Joe blickte auf. Es war Linzee. »Das ist das Geschenk, das ich Ihnen versprochen habe«, sagte er und lächelte stolz. Joe sah zu seiner Verblüffung eine weiße Rasiertasse aus Porzellan. »Wo um alles in der Welt haben Sie die denn her?« »Aus dem Laden gestern. Der Inhaber wollte die Tasse keinem Yankee verkaufen. Ich zeigte ihm mein Gewehr. Daraufhin bat er mich, sie doch anzunehmen, umsonst.« Mit einer eleganten Bewegung seiner linken Hand drehte Linzee die Tasse und zeigte ihre bemalte Seite. Joe lachte überrascht und erfreut. Einige Männer, die sich in der Nähe im Gras ausgestreckt hatten, wandten die Köpfe. Im Feuerschein war ein gemalter König zu sehen, dick und fröhlich. Er war in einen roten Mantel gehüllt, saß auf einem goldenen Thron und trug eine mit Juwelen besetzte Krone, die fast genauso groß wie sein Kopf war. In wundervollen Buchstaben war das Wort CROWN über der Gestalt aufgemalt. Darunter stand das Wort Rex. »Hans, ich bin geradezu überwältigt. Das war wirklich nicht nötig, aber
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ich danke Ihnen. Ich werde die Tasse immer voller Stolz benutzen.« Einer seiner Feldwebel richtete sich halb auf und rief: »He, Leutnant, können wir auch mal sehen?« Joe nickte Linzee zu, der sich zu den anderen umdrehte. »Zu dunkel, geh mal etwas näher ans Feuer.« Joe lauschte. Er glaubte, leise Geräusche zu hören, die mit dem Plätschern des Bachs verschmolzen. »Nein, ich glaube, Sie sollten nicht –« Während er noch redete, machte Linzee zwei Schritte auf das Feuer zu. Er stand im hellen Lichtschein und grinste selig. Die Kugel schlug in seinen Hinterkopf, sprengte seine Stirn und die Augen weg und besprühte Joe mit einem Blutregen. Linzee kippte seitlich ins Feuer. Sein Blut zischte, als es in die Glut spritzte. Die Männer rannten vom Feuer weg. Weitere Schüsse fielen. Hauptmann Ehrlich brüllte etwas, übernahm das Kommando. Joe zitterte. Er hielt etwas fest. Verblüfft starrte er auf die Rasiertasse, die Linzee beim Sturz offensichtlich aus der Hand geschleudert worden war. Joe erinnerte sich nicht, sie aufgefangen zu haben. »Übernehmen Sie«, rief Hauptmann Ehrlich, sprang zum Feuer und trat in die Glut, um sie zu verteilen und zu löschen. »Hauptmann!« brüllte Joe. »Gehen Sie da weg, ehe Sie –« Wieder feuerten Gewehre aus der Dunkelheit. Frank Ehrlich zuckte wie eine Marionette, an deren Schnüren brutal gerissen wurde. Seine Augen wurden im Tod stumpf, während seine Beine nachgaben und sein Körper unweit des Feuers dumpf auf den Boden sackte. Joe zog sich schnellstens zurück, riß sein Holster auf und zückte den Revolver. Ein harter Schlag traf seinen linken Arm. Als er nach unten schaute, sah er seinen wollenen Ärmel glänzen. Die Schmerzen setzten ein, als er begriff, daß er von einer Kugel getroffen worden war. Er hob den Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Dann rief er seinen Männern zu, sie sollten auf den Teil des Waldes zielen, wo die Rebellen sich versteckt hielten. Bald schon glichen die Kugeln der Unionstruppen einem Bienenschwarm, der durch die Nacht summte. Nach fünf Minuten rief Joe: »Feuer einstellen!« Er spürte, daß ihn leichte Benommenheit befiel. Sein linker Arm hing kraftlos an seiner Seite herab. Blut strömte über seinen Handrücken und tropfte von den Fingerspitzen auf den Sandboden. Er trat auf etwas, das unter seiner Stiefelsohle knirschte und zerbrach. Es war ein Stück Porzellan. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, die Tasse fallen gelassen zu
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haben. Die Scherben lagen verstreut neben Hans Linzees Leiche. »Leutnant, hören Sie! Sie fliehen …« Er hörte den Galopp der Pferde, die sich nach Süden entfernten. Joe steckte den heißen Revolver hinter den Gürtel, nahm sich zusammen und zog Linzee erst die Uniformjacke aus, dann das Unterhemd. Es war blutig, aber es würde seinen Zweck als Druckverband erfüllen. Er rief nach Hilfe. Einer seiner Soldaten riß das Unterhemd in Streifen, knotete sie fest zusammen und verband Joes Wunde. Dann wies Joe seine Männer an, Baumäste abzubrechen und als Fackeln zu benutzen. Er war überzeugt, daß die Gefahr einstweilen gebannt war. Wie in einem Nebel ging er im Lager umher und besah sich den Schaden. Ehrlich tot. Linzee tot. Vier Männer verwundet, zwei davon schwer. Er blieb für einen Moment stehen und blickte auf Linzees nackten Oberkörper; auf die bleiche, weiche Brust ohne Haare. Linzees Hand berührte fast eine Scherbe der zerschellten Rasiertasse. Joe mußte sich abwenden. Er schleppte sich hinunter zum Bachufer, und dort, hinter einem Busch, weinte er. Falls jemand ihn sah, respektierte er seine Trauer. Nach fünf Minuten richtete er sich wieder auf, immer noch schwach und voller Bitterkeit, aber wieder fähig zu funktionieren, weil es sein mußte. Er kletterte mit zitternden Beinen die Uferböschung hoch. Sein Kopf brummte. Genauso wie Linzee hätte er am liebsten seinen Dienst quittiert. Das kam nicht in Frage. Ehrlich war tot, jetzt hatte Joe das Kommando. Es gab Verwundete, er mußte schnellstens ein Feldlazarett finden. Er schritt über den verwüsteten Lagerplatz, gab seinen Leuten den Befehl zum Aufräumen und half ihnen, die Toten zu begraben und den Verwundeten Bahren aus Baumästen zu bauen. Ehe sie im Morgengrauen den Lagerplatz verließen, sammelte er die Scherben der Rasiertasse ein und verstaute sie in seiner Satteltasche. Dann führte er den Rückzug nach Norden über die Straße, wobei er seinen schmerzhaft pochenden Arm krampfhaft gegen seine Seite drückte. Seitdem war er nicht mehr der gleiche Mensch wie zuvor. Ein Feldarzt wollte den verletzten Arm amputieren, aber Joe weigerte sich, es zuzulassen. Er schlug dem Chirurgen mit der rechten Faust eine Flasche mit Betäubungswhiskey aus der Hand, als der Arzt sich über den hölzernen Operationstisch beugte. Seine Vorgesetzten belobigten ihn, beförderten ihn zum Hauptmann und setzten ihn offiziell auf Ehrlichs Posten. Er nahm seinen Dienst wieder auf,
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während er seinen linken Arm noch in einer Schlinge tragen mußte. Ein Jahr später wurde er zum Major ernannt und dann in Georgia, sechs Monate vor Kriegsende, zum Oberst. Auf rätselhafte Art, die er selbst nicht verstand, schwand durch die Verwundung, durch das ausgeflossene Blut, der letzte Rest seines Deutschtums aus ihm. Der Bürgerkrieg zur Erhaltung und Rettung der Union machte ihn endgültig zum Amerikaner. Der Krieg beeinflußte sein Leben auch noch auf andere Art und Weise. Er steigerte seine Vorliebe für Ordnung zu einer Besessenheit, die ihn völlig beherrschte. Ordnung. Er hatte nunmehr ein intensives Bedürfnis, sein Leben und alles, was damit in Berührung kam, einem rationalen Muster zu unterwerfen. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, aber noch nie mit einem solchen Verständnis, mit einer solchen Einsicht wie auf dem dunklen Schlachtfeld. Ordnung war sein Ziel und seine Überzeugung: die Mächte der Ordnung, der Vernunft, der Zivilisation gegen die allgegenwärtigen, bedrohlichen Mächte des Zufalls, der Anarchie, des Chaos. Ordnung war die Ursache für seinen ständigen Kampf gegen Benno Strauss. Sie war die Ursache seiner Streitigkeiten zu Hause. Joe junior trieb willentlich oder versehentlich ins Chaos. Er erkannte das mit einer Klarheit, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Vielleicht konnte er seinen Kampf jetzt, da er zu mehr Verständnis gelangt war, wirkungsvoller führen. Gott sei Dank war sein Neffe nicht so wie sein Junge. Joe bezweifelte seine Fähigkeit, einen erfolgreichen Zweifrontenkrieg führen zu können. Er zwang sich, aus seinen Grübeleien aufzutauchen, und nahm die späte Uhrzeit zur Kenntnis. Er zog sacht an den Zügeln, die auf dem Rücken des alten Gauls lagen. Die ledernen Riemen, an denen der Wagen im Fahrgestell aufgehängt war, knarrten, und die Hinterachse quietschte, während er den düsteren Schatten des Kampfplatzes verließ. Auf dem Rückweg zu seinem Gasthaus kam er an dem kleinen Versammlungshaus von Shiloh vorbei. Die weißen Balken leuchteten unschuldig durch die Abenddämmerung. Daß eine Kirche Gottes einem Schlachtfeld seinen Namen verlieh … war das nicht erstaunlich? Um das Versammlungshaus wucherte dichtes Unkraut. Der Wind fuhr hindurch, erzeugte einen raschelnden Flüsterlaut, der an gefallene Soldaten erinnerte, die mit dem letzten Atemzug ein Lebewohl seufzen. Joe Crown trieb das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, als er den Wagen in der hereinbrechenden Nacht über die furchige Straße lenkte. Er blickte nicht mehr zurück. Ein paar Tage später trat er morgens aus dem State Hotel in Columbia, South Carolina. Es war ein schöner Junitag, der 27. Ein farbiger Junge
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verkaufte ihm eine Zeitung. Joe stellte sich an den Bordstein und überflog die Schlagzeilen. Am Vortag hatte der Aktienmarkt den tiefsten Stand seit Monaten erreicht. Alle in der Saloonbar, die wohlhabenden Einwohner von Columbia, hatten am Vorabend darüber diskutiert. Sämtliche Zeitungen hatten von einem »Crash« gesprochen. Wieviel schlimmer konnte die Lage denn noch werden? Viel schlimmer. Er entdeckte die kleinere Überschrift einer Meldung aus Springfield, Illinois. ALTGELD UNTERZEICHNET BEGNADIGUNG Drei Haymarket-Verschwörer ab sofort frei »Ein schlimmes Unrecht wird wiedergutgemacht«, verkündet der Gouverneur von Illinois. Joes Fluch ließ den Zeitungsjungen erschrocken zusammenzucken. »Sir? Haben Sie noch einen Wunsch?« »Ich sagte nur ›verdammt noch mal‹, verdammt noch mal eine verteufelte Geschichte.« Er schleuderte die Zeitung in die Gosse. Es kam noch mehr auf ihn zu. Als er die Geschäfte dieses Tages abgeschlossen hatte und in sein Hotel zurückkehrte, griff der Angestellte an der Rezeption in ein Brieffach und reichte ihm eine telegraphische Nachricht. Sein Blick suchte zuerst die Unterschrift. Ilsa hatte ein Telegramm geschickt, das sehr kurz war. BITTE KOMM NACH HAUSE. PAULI VON SCHULE GEFLOGEN.
24 PAUL Onkel Joe betrat am Donnerstag, dem 29. Juni, um halb sechs das Haus. Er reichte Manfred seine Reisetasche und wand sich aus seinem verdreckten Mantel, während er ohne ein Wort die Treppe hinaufstieg. »Er badet«, sagte Tante Ilsa zu Paul ein paar Minuten später in der Küche. »Du sollst um Viertel nach sechs in sein Arbeitszimmer kommen.« Paul beobachtete nervös die Großvateruhr in der Diele und klopfte in dem Augenblick an, als der Uhrzeiger sich bewegte. Als Onkel Joe ihn
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hereinrief, sah er zu seiner Überraschung und Erleichterung Tante Ilsa am Ende des Schreibtisches unweit des offenen Fensters sitzen. Ein leichter Wind bauschte die Vorhänge. Drei Wände des Raums bestanden aus Regalen, die vom Boden bis hinauf zur Decke mit hübsch gebundenen Büchern gefüllt waren. Die Hälfte der Bände waren in Deutsch. Onkel Joe hatte sich ein frisches Hemd ohne Halstuch angezogen. Er deutete auf den freien Stuhl vor ihm. »Setz dich. Erzähl deine Geschichte.« Paul tat es, wobei er weder seine eigene Handlungsweise verniedlichte noch Mrs. Petigrus Grausamkeit ausschmückte. Er wandte während seines kurzen Berichts kein einziges Mal den Blick ab und schaute seinem Onkel dauernd in die Augen. Sein Herz klopfte wie wild, sein Magen schmerzte, aber nach außen hin wirkte er ruhig und gefaßt. Es kostete ihn eine ungeheure Mühe. Am Ende nahm Onkel Joe seine Brille ab und ließ sie zwischen den Fingern über die Sessellehne baumeln. Tante Ilsa zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit Stirn und Oberlippe ab. »Ich glaube dir, Paul«, sagte sein Onkel. »Deine Worte klingen, als entsprächen sie der Wahrheit. Außerdem widerspricht das, was du erzählt hast, grundsätzlich nicht den Ereignissen, wie sie im Brief des Direktors beschrieben wurden.« Er klopfte auf den Brief, der hinter ihm auf dem Schreibtisch lag. Paul hatte ihn bisher noch nicht gesehen. »Er gibt auch zu, daß Mrs. Petigru dich strenger bestraft hat, als es angemessen war. Laß mal deine Hände sehen.« Paul hielt sie hoch. Blasse rote Flecken und Streifen zogen sich über die Finger und die Handrücken bis zu den Gelenken. Sie hatte ihm so hart auf die Hände geschlagen, daß er noch drei Tage danach die Finger nur unter großen Schmerzen krümmen konnte. »Kannst du deine Finger wieder ungehindert bewegen?« »O ja.« Er bog und streckte sie. »Es geht wieder.« Er schickte Tante Ilsa einen dankbaren Blick. Sie hatte Dr. Plattweiler angerufen, damit er ihm eine Salbe verschrieb, die sehr geholfen hatte. »Gut. Bedauerlicherweise schließt der Direktor seinen Brief mit der Feststellung, daß er die Autorität seiner Lehrer unterstützen muß. Du kannst daher diese Schule nicht wieder besuchen. Du hast mich gewarnt, daß du nicht zum Lernen und Studieren geeignet bist, und es scheint, als hättest du damit recht. Vielleicht war es falsch, dich so schnell ins amerikanische System hineinzustoßen. Auf jeden Fall haben deine Tante und ich uns ausführlich über dich unterhalten und uns auf den nächsten Schritt geeinigt.
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Ich werde morgen Mr. Mars entlassen, indem ich ihm einen Monatslohn extra zahle, und am Montag trittst du deine Arbeitsstelle in der Brauerei an.« Paul war sprachlos. Onkel Joe sagte: »Wenn du uns jetzt alleine lassen würdest, Ilsa, dann kann ich mit Paul noch über die Einzelheiten sprechen.« Sie nickte zustimmend und hauchte Paul einen Kuß zu, während sie an ihm vorbeiging. Die Tür wurde aufgeschoben und schloß sich wieder. Pauls Herz schlug noch immer heftig. Ein paar Wochen nach seiner Ankunft war die Aussicht, in der Brauerei zu arbeiten, durchaus reizvoll gewesen. Nun gab es etwas weitaus Interessanteres, das ihn verlockte. Wie sollte er es seinem Onkel beibringen? »Nun, da deine Tante nicht mehr da ist, kann ich etwas freier reden.« Onkel Joe griff nach dem Brief des Direktors. »Diese Affäre macht mich wirklich traurig. Nicht die Anschuldigung, du habest obszöne Dinge in die Schule mitgebracht. Das klingt einfach lächerlich angesichts deiner Beschreibung der Zeichnungen und ihrer Herkunft aus der Tasche eines Handelsvertreters. Es ist durchaus bewundernswert, daß du versucht hast, deinen Freund zu schützen. Aber ansonsten finde ich an dem, was du getan hast, nichts weiter bewundernswert. Ich hatte allerhand Hoffnungen in dich gesetzt, Paul. Wirklich große Hoffnungen. Jetzt muß ich feststellen, daß du schon seit Wochen, Monaten völlig versagt hast. Du hast nie darüber gesprochen. Du hast mir immer nur gesagt, alles sei in bester Ordnung.« »Ich wollte dich nicht enttäuschen, Onkel.« »Was denkst du denn, was du damit getan hast?« Er warf den Brief auf den Tisch. »Ich kann nicht verstehen, wie du so schlechte Zensuren bekommen konntest. Deutsche sind gute Denker. Wenigstens hättest du in Mathematik bestehen können, denn Deutsche können auch immer gut mit Zahlen umgehen –« Seine Stimme zitterte, was für ihn völlig untypisch war. Paul begriff, daß sein Onkel sich über die Maßen aufregte. Er wartete angespannt, während sein Onkel seine Brille mit einem Taschentuch putzte. Das schien ihn zu beruhigen. Seine normale Gesichtsfarbe kehrte wieder zurück. »Die Brauerei –«, begann er. »Sir, darf ich Sie bitte unterbrechen?« »Was ist denn?« Seinem Onkel gefiel das nicht. »In der Ausstellung habe ich etwas Phantastisches gesehen. Eine Maschine, die Bilder zeigt, welche sich anscheinend bewegen.« Er beschrieb den tanzenden Elefanten. »Wann genau war das?« »Am letzten Samstag. Ich war alleine dort. Oh, Tante Ilsa hat es mir
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erlaubt –« »Ich habe von diesem Apparat gehört, aber ich habe ihn noch nicht gesehen. Fahre fort.« »An dem – hmm – Marktstand –« »In der Bude.« »Ja, richtig, danke. Also in der Bude habe ich einen Gentleman kennengelernt, der ein Studio für Photographie betreibt. Er weiß, wie die bewegten Bilder hergestellt werden. Sein Name lautet Mr. Rooney.« Paul holte die wertvolle Visitenkarte aus seiner Hemdtasche. Sein Onkel inspizierte sie mit einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck. »Ich sagte, ich sei interessiert an der Sache. Ich würde gerne lernen, wie man solche Bilder herstellt. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Er sagte, er werde es mir beibringen. Könnte ich ihn nicht nach einem Job fragen? Eines Tages –« Pauls Gesicht glühte erregt. »Eines Tages lerne ich vielleicht, Bilder für die Maschine zu produzieren, die ich gesehen habe.« Onkel Joe gab ihm die Visitenkarte zurück. »Ich bin durchaus dafür, sinnvolle Erfindungen kennenzulernen und auch einzusetzen, aber bei der, die du mir gerade beschrieben hast, erkenne ich keinen sinnvollen Nutzen. Was ist schon an Bildern von einem tanzenden Elefanten wichtig und gut? Ich habe mich gar nicht erst bemüht, mir diese Maschine anzusehen, weil sie nur ein Spielzeug ist. Ein Kuriosum. Und das willst du zu deinem Beruf machen? Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber dieser Vorschlag ist überaus lächerlich.« In dem Bemühen, seine Wut zu unterdrücken, stemmte Paul die Fäuste auf die Knie seiner Knickerbocker, bis die Knöchel schneeweiß waren. »Na schön, Onkel, ich rede nicht mehr von der Maschine. Aber Mr. Rooneys Studio ist ein richtiges Geschäft. Ich denke, er macht alle möglichen Arten von Photos.« »Nach meiner Einschätzung ist das Ganze ein ziemlich armseliges Gewerbe. Und in diesen Zeiten auch sehr risikoreich. Leute, die arbeitslos sind, vergeuden kein Geld für Photos. Aber sie kaufen sich ein paar Gläser Bier – danach fühlen sie sich besser.« »Onkel, ich bitte dich, ich flehe dich an, laß mich wenigstens diesen Gentleman besuchen und ihn fragen, ob er mich einstellt.« »Nein.« »Ich protestiere!« »Du protestierst? Du bist überhaupt nicht in der Position, um zu protestieren, junger Mann. Du hast dieser Familie Schande gemacht. Am nächsten Montag fängst du bei Crown zu arbeiten an. Deine Arbeitszeit geht von sechs Uhr morgens bis halb fünf Uhr nachmittags, sechs Tage die
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Woche. Am Sonntag wird nicht gearbeitet. Ich zahle gute Anfangslöhne. Zehneinviertel Dollars in der Woche. Das ist ein ganzer Dollar mehr, als meine Konkurrenten anbieten. Bestimmte Männer in meiner Belegschaft übersehen diese Tatsache gerne, aber es stimmt. Außerdem bezahle ich keine guten Löhne, weil jemand mich dazu nötigt, sondern weil es den Fleiß und die Loyalität fördert. Da du bei uns wohnst, brauchst du nichts für Verpflegung oder Miete abzugeben. Du kannst alles sparen, was du verdienst. Ein großer Vorteil.« Nach dieser Feststellung lehnte Onkel Joe sich in seinem Sessel zurück. Paul war wütend. Er fühlte sich zurückgewiesen, beiseite geschoben wie ein unartiges Kind, das keine Ahnung hat. »Montag, Punkt sechs. Und jetzt entschuldige mich, ich muß mich noch mit ein paar Rechnungen und einigen Briefen beschäftigen, ehe es Abendbrot gibt.« Er wandte sich um und beugte sich über den Schreibtisch, ehe Paul die Schiebetüren erreicht hatte. 25 JOE CROWN Am ersten Tag, als er sich wieder in die Brauerei begab, sah Joe eine große Anzahl Männer auf den Straßen herumlungern. Männer mit ausgezehrten Gesichtern versammelten sich an den Straßenecken, die noch vor der Wirtschaftskrise stets völlig leer gewesen waren. Er wandte sich vom Kutschenfenster ab und überflog schnell die Titelseiten mehrerer Zeitungen. Die Begnadigung gehörte noch immer zu den beherrschenden Themen, und ein großer Teil der Nation war über die Freilassung von Fielden, Neebe und Schwab der gleichen Meinung wie er. Ein Pfarrer in New Jersey verkündete von seiner Kanzel: »Illinois gerät durch die drei As – Altgeld, Ausländer, Anarchisten – in Verruf.« Nur die liberalen Presseorgane lobten die Entscheidung des Gouverneurs. Altgeld war politisch am Ende, soviel war schon mal sicher. Es war die angemessene Strafe für jemanden, der rechtmäßig verurteilten Terroristen die Freiheit schenken wollte. Ein wichtigeres Thema als die Begnadigung war die Wirtschaftslage. Die Aktienkurse hatten sich nicht im mindesten erholt. Ständig schlossen bislang solide Firmen ihre Tore. Die Zeitungen waren voll von Andeutungen, daß große Eisenbahngesellschaften, die nationalen wirtschaftlichen Gradmesser, in Konkurs zu gehen drohten.
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Infolge des Zusammenbruchs spaltete der Bimetallismus – die unbegrenzte Ausgabe von Silber- und Goldwährung – die Nation in zwei Lager. Seit zwanzig Jahren setzten die Silberproduzenten des Westens sich für einen größeren Absatz ihrer Produkte ein und forderten einen von der Regierung garantierten und überwachten Markt. Die Farmer des Westens wünschten mehr Dollars für weitere Kredite, mehr Dollars, als auf Grund des derzeitigen Rückgangs der weltweiten Goldförderung zur Verfügung standen. Der Goldvorrat der amerikanischen Regierung schmolz dahin. Investoren aus Übersee äußerten seit kurzem großes Unbehagen darüber, daß ihnen Kredite möglicherweise mit Silber zurückgezahlt würden. Sie wollten eine Goldgarantie als Sicherheit der von ihnen gewährten Gelder. An dem Tag, als der Aktienmarkt zusammenbrach, hatte die Regierung Indiens die Herstellung von Silbergeld schlagartig eingestellt und damit nicht nur eine deutliche Botschaft geschickt – sondern auch den Finanzzentren der Vereinigten Staaten einen Schock bereitet. Trotz des allgemeinen Krisengeredes blieb Joe ein standhafter Verfechter der goldgestützten Währung. Er betrachtete die Silberbarone aus dem Westen als eine Bande selbstsüchtiger Barbaren, die die Absicht hatten, die Wirtschaft endgültig zu vernichten. Sobald er sein Büro betreten hatte, meldete Stefan Zwick sich bei ihm. »Sir, ich überbringe nur sehr ungern schlechte Nachrichten. Die Verkäufe und Lieferungen sind in der vergangenen Woche gegenüber der Vorwoche um acht Prozent zurückgegangen.« »Die Zahlen, bitte.« »Ja, ich habe sie gerade zusammengestellt.« Zwick reichte Joe mehrere beschriebene Hauptbuchblätter. Er rekapitulierte die darauf festgehaltenen Angaben aus dem Gedächtnis. »Letzte Woche zehntausendsechshundertvierzig Faß gegenüber elftausendfünfhundertdreiundachtzig in der Woche davor. Ein Rückgang von neunhundertdreiundvierzig Faß, der sich auch in einem entsprechenden Rückgang bei Einzelverkäufen und Nachbestellungen ausdrückt.« »Gibt es dafür eine Erklärung?« »Ich fürchte, daran ist Oskar Hexhammer schuld. Er hat in der Deutschen Zeitung einen scharfen Leitartikel abgedruckt.« »Sie wissen, daß ich dieses Blättchen nicht lese. Was stand denn in dem Artikel?« »Eine ganze Menge deutscher Überlegenheitsquatsch. Aber Hexhammer nannte Sie beim Namen als einen gebürtigen Deutschen, der sich weigert, den neuen Turnverein oder auch nur deutsche Kultur zu unterstützen.« »Was für eine unverschämte Lüge.«
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»Nichtsdestotrotz glaube ich, daß uns diese Aussage geschadet hat.« »Gibt es irgendwelche typischen Anzeichen bei unseren Umsatzrückgängen, die diese Auffassung bestätigen?« »Aber ja. Die Verluste konzentrieren sich ausschließlich auf Chicago. Und zwar bei Familienbetrieben. Bei den Biergärten in deutschen Wohnvierteln. Die Umsätze in anderen Gegenden sind stabil.« Joe schüttelte den Kopf. »Was macht man mit einem derart schädlichen Narren wie Hexhammer? Außer zu hoffen, daß er bald wieder von der Bildfläche verschwindet.« »Ich fürchte, sein Einfluß bei den alten Bierkonsumenten wird erhalten bleiben.« »Nun, machen Sie sich keine Sorgen, das ist allein meine Sache. Lassen Sie die Zahlen hier. Ich rede mit Dolph Hix. Mal sehen, was wir tun können, um die Werbung in den Kneipen anzukurbeln und die Verluste aufzufangen. Wir werden diese Krise schon überstehen. Wie ich immer wieder sage, ist ein Glas Bier in schlechten Zeiten wie diesen die richtige Medizin gegen Sorgen und Trübsinn.« Aber es war ein schlechter Tagesanfang. Im Laufe des Vormittags stieg die Temperatur bis auf über dreißig Grad. Kurz vor elf platzte ein Rohr im Brauhaus und verursachte einen sechsstündigen Produktionsstopp und den Verlust des gesamten Inhalts der Kupferkessel. Während des Nachmittags versuchte Joe seine Arbeit in einem Durcheinander fortzusetzen, das von zwei unbeholfenen Männern verursacht wurde, als sie die Wandtäfelung seines Büros herunterrissen und Löcher in die Büromauer stemmten, um eine Telegraphenleitung und einen Telegraphen zu installieren. Er sollte eine schnellere Verbindung zu derzeitigen und zukünftigen Verkaufsagenturen herstellen. Die Hämmerei, der Staub, die Schimpfworte und die ständigen Klagen der beiden, die offenbar nicht damit zufrieden schienen, eine anständige Arbeit zu haben, ärgerten ihn und lenkten ihn ab. Als er wenig später in die Brauerei hinunterging und Benno begegnete, konnte er seine Wut nicht mehr im Zaum halten. »Nun, Benno, jetzt haben Sie ja, was Sie immer wollten. Ihre Märtyrer sind frei.« Bis zur Taille nackt, wuchtete Benno gerade ein Faß auf einen Handkarren. Sein Oberkörper glänzte von Schweiß. Er fixierte das Faß noch mit einem Fuß. »Sie waren niemals schuldig, Mr. Crown.« Ein Schweißtropfen fiel von Joes Stirn auf seine Nasenspitze. Sein
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Oberhemd fühlte sich an wie ein Gummianzug, der ihm auf der Haut klebte. »Dann, so denke ich, können Sie ja zufrieden sein.« »Nun, Sir – mit allem Respekt, das sind wir noch nicht. Wir müssen noch das durchsetzen, was die Gewerkschaft von Crown und den anderen Brauereien fordert.« »Was ihr bei Crown zur Zeit bekommt, ist alles, was ihr haben könnt. Ich behandle meine Männer anständig. Besser als die meisten.« »Sir, das gebe ich zu. Aber wir haben immer noch bestimmte Forderungen –« »Aber nicht solange ich Sie bezahle. Gehen Sie wieder an die Arbeit.« Ein Lächeln – halb bedauernd, halb anerkennend – huschte über Bennos Gesicht. »Sie sind ein harter Brocken, Mr. Crown. Unbeugsam wie ein Fels. Das ist bewundernswert bei einem Mann, und ich habe davor allen Respekt. Aber wir werden auch Sie in die Knie zwingen.« »Aus dem Weg!« Joe stieß den Mann gegen die Ziegelmauer. Er stürmte davon und ließ Benno in einem Zustand der Verblüffung zurück, die sich schnell in Wut verwandelte. Ilsa kniete vor dem Bett und sprach ihr Abendgebet. Joe lag stocksteif in seinem Bett und strich sich mit einer Hand nervös über den Bauch. Alle Fenster des Schlafzimmers – keine amerikanischen Schiebefenster, sondern gute europäische, die man weit aufklappen konnte – waren geöffnet, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Aber kein Wind regte sich. Die gestärkten Spitzenvorhänge hingen schlaff herab. Die Sterne am Himmel funkelten durch die dunstige Luft. Ilsa schlüpfte ins Bett und drehte sich auf die Seite, um ihren Mann zu betrachten. Sie trug trotz der Hitze auch jetzt ihr langes Flanellnachthemd. Der Saum berührte seine Hand. »Du bist heute sehr still, Joe.« »Mir geht vieles durch den Kopf.« »Was meinst du, wie Pauli in der Brauerei zurechtkommt?« »Er heißt Paul. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Er hat sich selbst entschieden, sich Paul zu nennen.« »Für mich wird er immer Pauli bleiben. Pauli ist ein deutscher Name, er ist ein deutscher Junge. Ich kann nicht anders von ihm denken. Der kleine Pauli aus Berlin, der auf meinem Perserteppich ohnmächtig zusammengesunken ist.« Joe schenkte es sich, dieses Thema weiterzuverfolgen. »Er hat es ganz gut aufgenommen, als ich ihm erklärte, er sei ein mutiger Kerl. Er ist
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intelligent und schnell, seine Schwierigkeiten tun dem keinen Abbruch. Er sollte eigentlich durchaus erfolgreich sein, wenn er sich von den Unruhestiftern fernhält.« Er kaute für einen Moment auf seiner Unterlippe. »In dieser Hinsicht muß ich ein Geständnis machen. Heute nachmittag habe ich bei Benno Strauss die Geduld verloren. Es ging um die Begnadigung der Haymarket-Mörder. Ich habe Benno tätlich angegriffen und ihn weggestoßen.« Auf der Michigan Avenue fuhr eine Pferdekutsche vorbei. Es war ein einsames Geräusch in der drückenden Nacht. »Ich wußte doch, daß es einen Grund für dein Schweigen geben muß. Es tut mir leid, daß das passiert ist.« »Mir auch. Ich habe es schon in dem Moment bedauert, als ich mich hinreißen ließ. Unglücklicherweise ein wenig zu spät.« »Wird es deswegen Schwierigkeiten geben?« »Schwer zu sagen. Im Augenblick herrschen schlimme Zeiten. Stefan erzählte mir, daß unten im Levee die Stadträte ihre arbeitslosen Sympathisanten mit Gratismahlzeiten in den Saloons durchfüttern. Und zwar Hunderte. Ein Vertrauensmann erzählte mir heute nachmittag am Telephon, daß George Pullman Sparmaßnahmen geplant hat. Lohnkürzungen, vielleicht sogar Entlassungen. Pullman ist ein wichtiger Arbeitgeber der Stadt. Diese Maßnahmen werden erhebliche Auswirkungen haben. Hungrige Menschen sind verzweifelte Menschen. Ihre Unzufriedenheit kann ansteckend sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Manchmal frage ich mich, wie viele Belastungen das System noch ertragen kann.« »Oder diese Familie«, sagte Ilsa. Er suchte ihre Hand, fand sie und drückte sie. Als Ilsa längst eingeschlafen war, lag er noch lange wach und starrte in die Dunkelheit.
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26 JOE JUNIOR Als Joe junior am Freitagabend die Brauerei verließ, begann er zu niesen. Er hoffte, daß dies nicht die Vorboten einer Krankheit waren. Am Sonntag wollte er wieder nach Pullman hinausfahren, und er fieberte diesem Besuch entgegen. Rosie war immer heiß auf Sex, aber seit kurzem hatten sie verstärkt mit widrigen Umständen zu kämpfen. Erst in der vergangenen Woche hatten sie nur Händchen halten, einander ein wenig streicheln und Zungenküsse austauschen können. Sie hatte ihre Tage gehabt. Am Sonntag davor waren ihre Eltern den ganzen Nachmittag zu Hause geblieben, so daß sie keine Minute allein waren. So etwas machte ihn mürrisch und hinterließ ein quälendes Begehren. Wilde Träume schufen da nur wenig Erleichterung. Sein Vater hatte stets Einwände gegen seine Fahrten nach Pullman. Joe Crown mochte Rosie nicht, obgleich er sie noch nie persönlich kennengelernt hatte. Er verabscheute sie, weil sie eine bohunk war, wie viele Deutsche die Menschen aus Böhmen verächtlich nannten. Er hatte Rosie niemals laut kritisiert – das hätte ihn als Snob abgestempelt –, aber er drückte seine Meinung mit Blicken und gezielten Fragen aus, wann immer Joe von ihr sprach. Natürlich war sein Vater gegen alles, was er tat. Das galt auch umgekehrt. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sie einander früher sehr nahe gestanden hatten. Er erinnerte sich daran, daß Pa mit Paul und Carl zum Spiel der White Stockings gegangen war. Eigentlich wäre er gern mitgegangen. Sicher, er arbeitete in der Brauerei, aber er hätte sich freinehmen können, wenn Pa ihn gefragt hätte. An jenem Tag war er wieder einmal wütend auf seinen Vater und eifersüchtig auf Paul gewesen. Joes Zorn war deshalb besonders heftig, weil Pa ihn oft zu solchen Spielen mitgenommen hatte, als er noch klein war. Damals spielten die White Stockings noch im Lake-Front-Park an der Randolph-Straße am Michigan-See. Man konnte von der Tribüne aus das blaue Wasser und die Schaumkronen sehen. Joe junior konnte sich noch gut daran erinnern, wie er und sein Vater der Chicagoer Mannschaft zugejubelt hatten. Alles änderte sich, nachdem er von der letzten Schule geflogen war, der Bayerischen Akademie, einer guten, langweiligen deutschen Schule auf der Nordseite. Als Pa den Brief erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß Joe junior wegen schlechten Benehmens die Akademie verlassen müsse, hatten Vater und Sohn ihren heftigsten Streit. Pa machte Joe lautstark Vorwürfe, während dieser sich nur entschuldigen konnte und in ohnmächtiger Wut
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zuhören mußte. An diesem Tag hatte sein Vater ihn – zum erstenmal – ins Gesicht geschlagen. Seitdem war alles schiefgegangen, von seiner Begegnung mit Rosie einmal abgesehen; allerdings war er sich nicht einmal sicher, ob die Beziehung von Dauer sein würde. In der Brauerei machte er sich insgeheim Sorgen wegen der zunehmend feindseligen Stimmung. Benno heizte die allgemeine Unruhe mit Erklärungen und Drohungen ständig weiter an, die um so unverschämter wurden, als die Verhältnisse im Land sich verschlechterten. Joe schlug sich meistens auf Bennos Seite, aber er fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem Benno seine Einstellung auf die Probe stellen würde, indem er verlangte, Joe solle sich an irgendeiner gewaltsamen Aktion beteiligen. An einer »Demonstration für die Sache«. All seine Ängste und sein Unmut schienen auf die ein oder andere Weise mit seinem Vater in Verbindung zu stehen. Aber in seltenen stillen Momenten konnte er sich auch eingestehen, daß der Zorn nur etwas anderes überdeckte, was wie ein Stein im tiefen Brunnen seines Herzens verborgen war, ein Stein der Traurigkeit wegen Pa, ein Stein des Verlustes, den er niemals ans Licht holen würde, damit niemand ihn sehen konnte. Nicht einmal Mama. All das ging ihm an diesem Freitagnachmittag durch den Kopf. Er bog im dunstig gelben Licht des Sommertags um die Ecke Michigan Avenue und Neunzehnte Straße. Sein Hemd war von Schweiß durchtränkt und stank. Den ganzen Tag hatte er Fässer geschleppt und gerollt. Ein alter Pullover lag über seiner Schulter. Bei Tagesanbruch, als er sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, war es noch kühl und feucht gewesen. Paul würde am Montag das Haus um die gleiche Uhrzeit verlassen. Insgeheim freute Joe junior sich darüber, daß Paul in der Schule gescheitert war und nun in der Brauerei anfing. Das würde sie einander näherbringen. Auf dem Hof spielte Carl mit zwei Jungen, deren Haut schokoladenbraun war, Football. Sie gehörten zu dem Kleiderhändler, der einmal in der Woche mit seinem Wagen durch das Viertel fuhr und ausrangierte Kleidungsstücke einsammelte, manchmal sogar ein paar Cents dafür zahlte, wenn sie besonders elegant und gut erhalten waren. Joe sah den Pferdewagen des Mannes in der Gasse hinter dem Stall stehen. Er winkte Carl und den farbigen Jungen zu und ging durch den Garten, wo er seine Schwester antraf. In der Nähe eines steinernen Engels tanzte und wiegte Fritzi sich zu einer Musik, die nur sie hören konnte. Ihre Augen waren geschlossen. Sie trug noch immer das schwarze Stoffarmband, das sie übergestreift hatte, als eines ihrer Idole, Edwin Booth, gestorben war. Er bemerkte an Fritzis Nase einen langen Kratzer, der am Vortag noch nicht
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dagewesen war. Sie hörte das Scharren seiner Schuhe auf den Pflastersteinen des Weges, unterbrach ihren Tanz und rannte auf ihn zu. Er bückte sich, damit sie ihm einen Kuß auf die Wange geben konnte. Fritzi verzog das Gesicht. »Pfui. Du mußt baden.« »Das tue ich auch. Wenn ich mich ein wenig ausgeruht habe.« Er ließ sich auf das Ende einer Steinbank sinken und nieste. »Bist du etwa krank, Joey? Es gibt nichts Schlimmeres als eine Sommergrippe.« »Mit geht’s gut.« Er putzte sich die Nase mit seinem Taschentuch. »Woher hast du den Kratzer?« »Aus der Schule. Molly Helfrich hat gesagt, du seist ein Roter. Ich hab’ sie dafür an den Haaren gezogen, und sie hat mich geschlagen. Aber ich hab’ gewonnen.« Er lachte. »Bist du ein Roter, Joey?« »Ich denke schon. Ich würde sagen, ich bin ein Sozialist, aber kein Anarchist.« »Weshalb bist du das? Weil Papa das nicht recht ist?« »Klar, ich kann doch nicht dulden, daß Pa mir sagt, was ich denken soll, oder?« Obgleich er lächelte, meinte er es ernst. Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, sagte Fritzi: »Ist Paul ein Roter?« »Noch nicht.« »Magst du ihn?« »Ja, ich hab’ ihn gern.« »Seid ihr Busenfreunde?« »Freunde«, verbesserte er sie. »Mehr nicht.« »Mama hat Paul sehr viel geholfen. Sie hat sich ständig um ihn gekümmert.« »So etwas war zu erwarten. Er muß sich noch immer hier einleben.« »Ich glaube, das macht mir nichts aus. Nicht sehr viel jedenfalls. Wenn es jemand anderer wäre, würde ich mich ganz schön ärgern.« Er lachte wieder und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Ach, die Liebe!« »Joey Crown, wenn du das noch mal sagst, wenn du noch mal über mich lachst, dann bringe ich dich um! Ganz bestimmt!« »Aber, aber, ich lache doch gar nicht. Ich bin dein lieber Bruder.« Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie gingen gemeinsam zum Haus. Kurz nachdem Joe gebadet und sich abgetrocknet hatte, hörte er irgendwo im Haus das Telephon klingeln. Er ging nach unten und traf seine
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Mutter, die soeben aus dem Arbeitszimmer seines Vaters gekommen war. Mamas Gesicht war sorgenvoll und lächelte nicht. »Heute wird etwas später zu Abend gegessen. Dein Vater hat gerade angerufen. Er ist im Bezirksgefängnis. Die Polizei hat heute nachmittag Benno Strauss verhaftet.« »Benno.« Er überlegte. »Ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Ich hatte angenommen, daß er irgendwelche Lieferfahrten macht.« »Ich weiß nicht, weshalb er im Gefängnis ist. Das hat dein Vater nicht erwähnt. Er ist sehr wütend.« Die Familie fand sich erst gegen Viertel nach neun am Abendbrottisch ein. Papa war zehn Minuten vorher nach Hause gekommen, hatte mit den Türen geschlagen und war ungewöhnlich laut nach oben gegangen. »Ich werde euch erklären, weshalb ich so spät hier bin«, sagte er zornig, während er sich Kartoffelbrei auf den Teller lud. »Benno Strauss hat gegen Mittag seinen Arbeitsplatz ohne Erlaubnis verlassen. Er ging runter in die Stadt zur Seepromenade. Dort haben er und vierzig andere Männer einen Protestmarsch mit Spruchbändern abgehalten. Offenbar forderten sie neue Arbeitsstellen. Die meisten Teilnehmer waren arbeitslos. Die Polizei hat versucht, sie zu zerstreuen –« »Wahrscheinlich damit die Touristen nicht sehen, was wirklich in Chicago los ist«, sagte Joe junior murmelnd zu Paul. »Die Demonstranten haben Gegenwehr geleistet und sitzen jetzt alle hinter Gittern. Bennos Kaution hat mich fünfunddreißig Dollars gekostet. Das Cook-Gefängnis ist ein schlimmer Ort. Ich hoffe, daß ich nie mehr dorthin muß.« »Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Mama. »Benno ist doch gar nicht arbeitslos. Er hat einen guten Job.« »Den er offenbar überhaupt nicht schätzt.« Er spießte mit der Gabel ein Stück von Mamas Schmorbraten auf, der wegen seiner Verspätung nun trocken und zäh war. »Ich glaube, er ist aus reiner Sympathie mitmarschiert. Die meisten der Verhafteten gehören irgendeiner verdammten Gewerkschaft an, entschuldigt meine Ausdrucksweise.« Mama schüttelte den Kopf. »Wenn ich bedenke, wie du zu Benno stehst, wundere ich mich, daß du ihm überhaupt geholfen hast.« »Das ist eben mein Prinzip. Ich mußte einem Angestellten beistehen. Von mir aus hätte Benno Strauss dort bis zum Jüngsten Tag schmoren können. Aber er ist ein Arbeiter Joe Crowns – deshalb mußte ihm geholfen werden.« Er nahm einen weiteren Happen Fleisch. »Paß gut auf, Paul.
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Wenn du deine Arbeitsstelle antrittst, dann halte dich tunlichst von Strauss fern.« Joe junior sah seinen Vater gerne in diesem Zustand der Unruhe. Das geschah nur selten. Er zwinkerte seinem Vetter zu. »Ach, es gibt sicherlich schlechtere Lehrer als Benno. Ich glaube, so einen hattest du in der Schule.« Sein Vater führte die Gabel gerade zum Mund. Auf halbem Weg hielt er inne und ließ sie auf den Teller fallen. Ein lautes Klirren ertönte. »Behalte deine Kommentare gefälligst für dich, junger Mann. Du weißt nur sehr wenig, denn du hast für die Schule ja nicht viel übrig. Alles, was du weißt, wurde dir von einer Bande sozialistischer Unruhestifter beigebracht.« »Nun, ich mache Benno keinen Vorwurf, daß er demonstriert hat. Ich unterstütze jeden, der keine Arbeit hat, weil Männer wie –« »Welches Recht hast du dazu? Wer bist du, das zu entscheiden? Du führst ein angenehmes Leben, du weißt nicht, was Hunger, Not, Verzweiflung bedeuten –« »Ach, jetzt geht es schon wieder los«, sagte Joe junior geringschätzig und drehte sich leicht in Pauls Richtung. »Gleich kommt die Geschichte von dem tapferen und fleißigen Auswandererjungen.« Mama sprang auf. »Das gehört sich nicht, junger Mann. Das ist unerträglich. Du solltest dich schämen. Geh sofort auf dein Zimmer!« Mit offenem Mund starrte er sie an. Sich gegen Papa aufzulehnen war die eine Sache, aber Mama zu widersprechen war etwas ganz anderes. Daß er sie so wütend und am ganzen Körper zittern sah, machte ihn zutiefst betroffen. »Joseph.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich sagte ›Geh!‹ Gehorche lieber!« Er warf seine Serviette auf den Tisch und verließ das Zimmer, wobei er niemanden ansah. Eine halbe Stunde später saß er noch immer auf seiner Bettkante. Er war in einem furchtbaren Gemütszustand. Ein leises Klopfen ließ ihn zusammenzucken. Mama trat ein, ehe er reagieren konnte. »Joey, es tut mir leid, daß ich dir gegenüber die Stimme erhoben habe. Unseligerweise hast du mich provoziert.« Er wandte den Kopf ab. »Bitte, sieh mir in die Augen! Warum macht es dir soviel Spaß, dich mit deinem Vater zu streiten? Er ist kein böser Kapitalist, sondern er ist ein Mann mit starkem Charakter, der hart gearbeitet hat, um im Leben Erfolg zu haben.« Irgendwie fiel ihm darauf keine zusammenhängende Erwiderung ein.
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Mamas Röcke raschelten leise. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Stirn. Ihre Finger waren weich und warm. »Liebling, rede doch. Was ist los?« Er sprang vom Bett auf, entzog sich ihr. Er rammte die Hände in die Hosentaschen und schaute aus dem Fenster auf die Lichter der Villen auf der anderen Seite der Michigan Avenue. »Er will jeden kontrollieren. Er will auch mich unter Kontrolle haben. Aber er hat Deutschland verlassen, weil er selbst nicht kontrolliert werden wollte, nicht durch Armut, nicht durch ein verdorbenes System, das immer schlimmer wurde –« Er wirbelte herum, fixierte seine Mutter. »All das hat er einmal gesagt, Mama, ich habe es selbst gehört. Er kam her, um seinen eigenen Weg zu gehen. Er war frei, unabhängig, niemand stieß ihn herum – « »Unsinn. Er hatte auf seinem Weg viele Chefs. Chefs in der Eisfabrik, Chefs bei Imbrey’s. Und in der Armee hatte er sogar Scharen von Vorgesetzten.« »Aber er wußte immer, wohin er wollte, und er machte seinen Weg, er hat sich von niemandem in eine andere Richtung drängen lassen. Ich will lediglich die gleiche Chance. Verstehst du nicht?« Verdammt… ihm kamen die Tränen. Tränen eines schwachen kleinen Jungen, die er nicht zurückhalten konnte. Mama kam wieder zu ihm. »Ich verstehe, aber ich habe eine sehr wichtige Frage. Sie ist wichtiger als deine Erwartungen und Wünsche, Joey. Liebst du deinen Vater?« »Welchen Unterschied macht das?« »Bitte schrei nicht.« »Na schön, aber ich werde diesen verdammten Laden nicht übernehmen, was er ja am liebsten sähe. Ich bin der Älteste – er erwartet es von mir.« »O nein, Joey. Vielleicht hat er das mal erwartet. Oder er hat es zumindest gehofft. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht mehr –« »Es ist auch egal, ich würde es sowieso niemals tun.« Die Tränen flossen weiter. Was für eine Schande! Er schlug sich mit der Faust gegen das Bein. »Er kann mir nicht vorschreiben, was ich tun soll!« Mama nahm das mit ihrer üblichen Gelassenheit zur Kenntnis und sagte leise: »Aber das ist seine Natur, Joey. Jeden zu lenken und zu leiten, jeden Bereich seines Lebens zu organisieren, auch unseres Lebens. Wenn das ein Fehler ist, dann müssen wir uns damit abfinden.« »Ich nicht. Niemals.« Sie machte einen tiefen Atemzug, als resignierte sie. Sie atmete wieder aus, und ihr Busen senkte sich.
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»Na schön, du hast gesagt, was du denkst. Und jetzt bin ich an der Reihe. Es macht keinen Unterschied, was du empfindest, er ist dein Vater. Solange du unter seinem Dach lebst, hat er Anspruch auf deinen Respekt. Du wirst dich bei ihm entschuldigen.« Sie ging zur Tür. Die Glühbirnen zauberten einen seltsamen Reflex in ihre Augen und ließen sie kalt glänzen wie Diamanten. Sie zog die Tür auf. »Du wirst es sofort tun. Er ist unten in seinem Arbeitszimmer. Und wartet auf dich.« Im unteren Stockwerk waren die meisten Lampen gelöscht. Im Haus herrschte eine Stimmung wie in einem Mausoleum, und die großen Schatten der Kronleuchter und der Möbel verstärkten den Eindruck noch. Mit trockener, zugeschnürter Kehle ging er zur Schiebetür des Arbeitszimmers. Er klopfte leise an. »Papa?« »Komm herein.« Vaters Stimme klang ausdruckslos, abweisend. Er schob die Schiebetüren auf. Papa saß am Schreibtisch und drehte sich zu ihm um. Er hielt einen Federhalter in der Hand. Die üblichen Papiere und Schriftstücke waren ordentlich vor ihm aufgestapelt. Er mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen, um seinem Vater in die Augen zu blicken. »Ich entschuldige mich für meine Worte und mein Verhalten während des Abendessens.« »Angenommen, danke«, erwiderte sein Vater mit einem knappen Kopfnicken. »Auch ich bedaure, was ich gesagt habe. Es war ein schwerer Tag. Bennos Verhaftung hat mich sehr aufgeregt.« Joe junior verspürte den Wunsch, den Teppich zu überqueren, seinem Vater um den Hals zu fallen, ihn an sich zu drücken und ihm zu sagen, das verstehe er. Für einen winzigen Moment zögerte er, und dann – ob es zu viele Erinnerungen, zu viele Zurückweisungen in der Vergangenheit, zu viele Befehle waren – zerstörte irgend etwas diesen Impuls. Er kam sich seltsam vor, wie er so dastand. Papa spürte es. Den Federhalter in der Hand, machte er eine kleine Geste, versuchte zu lächeln. Es war ein gequältes, müdes Lächeln. »Du darfst jetzt zu Bett gehen, mein Sohn. Ich habe noch sehr viel zu arbeiten.« »Ja, gute Nacht, Papa.« Schnell machte er kehrt und schloß die Türen hinter sich. Er lehnte sich in der Dunkelheit dagegen, erschöpft; er erschauerte. Irgend etwas hatte sich heute verändert. Heute hatte er seiner Mutter seine tiefe Wut gestanden und hatte festgestellt, daß sie ihn nicht
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besänftigen konnte. Das machte ihm angst. Niemals mehr würde es so sein wie damals, als er und sein Vater zu den Baseballspielen gegangen waren, denn seine Wut saß tief, und sie ließ sich nicht vertreiben. Vielleicht hatten sie alle das an diesem Abend zum erstenmal klar erkannt. Während er die dunkle Treppe hinaufstieg, kam die Wut zurück. Er hatte sich entschuldigt, weil Mama es gewünscht hatte. Das war der einzige Grund. Paul würde am Montag in der Brauerei anfangen. Das war eine Gelegenheit. Er würde Paul bearbeiten. Ihn auf seine Seite ziehen. Er würde es Papa heimzahlen, daß er ihm solche Qualen bereitete. Auf halbem Weg nach oben mußte er wieder niesen. Er stützte sich auf das Geländer. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Er fror schrecklich.
27 ILSA Ilsa verbrachte eine lange durchwachte Nacht neben ihrem Mann. Joe war schnell eingeschlafen, wahrscheinlich um den Erinnerungen an den Abend zu entfliehen. Dieser düstere Tag, an dem ihr Mann und ihr Sohn ihren schrecklichen Gefühlen freien Lauf gelassen hatten, schien das Ende eines Sommers zu symbolisieren, der als der einmalige, wunderbare Sommer der großen Ausstellung so vielversprechend begonnen hatte. Die erste Enttäuschung hatte Ilsa lange vor dem Eröffnungstag erlebt. Sie hatte sich sehr gewünscht, zum Komitee der weiblichen Veranstalter der Ausstellung zugelassen zu werden, weil dieses Komitee einen Schritt nach vorne darstellte. Hier leisteten Frauen wichtige Arbeit nur für Frauen. Ilsa besaß genug Geld und hatte einen ausreichend hohen gesellschaftlichen Stand, um für einen Platz im Komitee qualifiziert zu sein. Aber irgend jemand hatte bei der Zulassungskommission gegen sie opponiert. Später erzählte eine Freundin ihr, daß Nell Vanderhoff die Betreffende gewesen sei. Ihr Mann, Pork Vanderhoff, und Joe Crown waren einmal recht gute Freunde gewesen. Dann, in einem Sommer beim jährlichen Picknick der Brauerei, hatte sich das geändert. Vanderhoff besuchte gelegentlich das Picknick, weil seine Firma das Fleisch dafür lieferte. Ilsa hatte in jenem Jahr nicht am Picknick teilgenommen, und Joe erzählte später nur sehr wenig darüber. Aber er schwor, daß Vanderhoff den Streit vom Zaun gebrochen habe, obgleich es am Ende völlig gleichgültig war, wer angefangen hatte. Die Beziehung wurde eisig. Im darauffolgenden Jahr kaufte Crown die Picknickwürste bei einer anderen Fleischfirma.
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Ilsa hatte im Mai an zahlreichen Veranstaltungen teilgenommen, die vom Frauenkongreß angeboten wurden, wie sie es Joe erklärt hatte. Der Kongreß trat im Institut für Kunst in der Michigan Avenue zusammen, und zwar in renovierten Räumlichkeiten, die in Columbus-Halle und Washington-Halle umgetauft worden waren. Ilsa hatte dort Lucy Stone gehört, die klein und gebrechlich, aber trotzdem immer noch eine feurige Rednerin war. Sie hatte erneut verkündet, daß der Zwang, Frauen in den Haushalt zu verbannen und nur dorthin, eine »stählerne Fessel der Gesellschaft« sei. Sie hörte andere Frauen, die genau das Gegenteil behaupteten – daß die Aufzucht von Kindern und die Versorgung des Haushalts den höchsten Ausdruck für das Wesen der Frau und ihre Hauptaufgabe darstellten. Sie applaudierte ihrer Freundin Jane Addams, die von dem guten Einfluß redete, der durch Frauen im Haushalt ausgeübt werde, die ihre Arbeit nicht einfach nur mechanisch absolvierten, sondern sie mit Hingabe und einer gründlichen Ausbildung erledigten. Einer Ausbildung, wie Miss Addams’ Stiftungshaus sie in seinen Programmen für Bedürftige anbot. Und Ilsa hatte Fritzi zu einer Darbietung berühmter Schauspielerinnen mitgenommen. Diesmal wurde eine historische Szene zum Thema Frauen auf der Bühne geboten, die von Madam Modjeska vorgetragen wurde. Aber all das war nicht so, wie es hätte sein können, wenn man Ilsa gestattet hätte, an der Planung des Frauenpavillons mitzuwirken; in der Jury des Wettbewerbs für weibliche Architekten zu sitzen, die sich für einen neoklassizistischen Entwurf von Sophia Hayden entschied, die ihren Beruf am Institut für Technologie von Massachusetts gelernt hatte; mitzubestimmen über Größe, Beschaffenheit und Plazierung der Ausstellungsstücke in dem Pavillon. Am Eröffnungstag hätte Ilsa, anstatt mit ihrer Familie durch das Gelände zu trotten, auf dem Podium gesessen, während Bertha Palmer und ihr Komitee den Frauenpavillon seiner Bestimmung übergaben. Sie hätte dort im Kreis mit Mrs. Altgeld und Mrs. Adlai Stevenson und anderen distinguierten Frauen aus der ganzen Welt gesessen. Sie wußte, daß Joe stolz daraufgewesen wäre, trotz seiner reichlich primitiven Ansichten über die Rolle der Frauen. Am Eröffnungstag ließ sie ihm gegenüber kein Wort dazu verlauten. Sie haßte Selbstmitleid und Klagen. Dennoch tat es weh. Und dann war da Paulis Ausschluß aus der Schule. Pauli war ein kluger Junge, auf seine Art sogar außergewöhnlich klug, aber die normale Schulausbildung war für ihn überhaupt nicht das richtige. Außerdem hatte er monatelang Ablehnung und Erniedrigung durch eine schlechte Lehrerin in der Schule ertragen müssen. Durch eine Frau, die
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Deutsche verabscheute. Und sie hatte ihn mit dazu gedrängt. Als er die Schule verlassen mußte, hatte sie Joes Entscheidung für die Brauerei widerstrebend zugestimmt. Es war die einzige richtige Entscheidung, wenn auch keine gute. Seit sie Pauli im Arbeitszimmer verkündet worden war, hatte er sich verhalten wie jemand, der am Boden zerstört war. Am schlimmsten war natürlich der Streit an diesem Abend gewesen. Joe juniors Entschuldigung löste das Problem nicht, kittete überhaupt nichts. Sie hatte darauf bestanden, weil es sich so gehörte, aber ohne sie angehört zu haben, wußte sie, daß es nur eine hohle Geste war. Joes Rebellion gegen seinen Vater war durchaus verständlich. Er war voller Energie, ungeduldig, von wacher Intelligenz. Er verfügte über alle Eigenschaften, die junge Männer selbstbewußt machten. Ilsa war sicher, daß ihr Mann und ihr Sohn sich mochten, obgleich sie sich in Streitsituationen nicht selten wie Todfeinde gegenüberstanden. Was ihr jetzt große Sorgen bereitete, war das untrügliche Gefühl, daß die Kluft zwischen ihnen sich an diesem Tag verbreitert hatte. Und zwar so sehr, daß Vater und Sohn wahrscheinlich nie mehr fähig wären, sie zu überbrücken, zueinander zu kommen, einander wieder in Liebe gegenüberzutreten. In dieser Nacht drehte sie sich auf die Seite zu Joe um, wie sie es immer taten, um sich gegenseitig zu trösten. Ihre Hand berührte das Haar über seinem linken Ohr, streichelte es sanft. »Joe, Joe«, flüsterte sie. »Bitte – bitte! Laß nichts Schlimmes geschehen!« Für einen winzigen Moment wurde ihr gar nicht bewußt, daß sie in ihre Muttersprache verfallen war. Die Bitte galt nicht ihm allein. Es war ein Wunsch, ein Flehen, das sich aus dem Schlafzimmer hinausschwang, aufstieg zu etwas Unsichtbarem, Rätselhaftem, an das sie noch immer glaubte. Es war ein Gebet, ein Symbol für den brüchigen Zustand der Familie. Ein Zeichen für ihre tiefe Verzweiflung. Bitte, bitte! Laß nichts Schlimmes geschehen! 28 PAUL Paul war erschüttert über die offene Feindschaft zwischen seinem Onkel und seinem Vetter. Er hatte von ihr gewußt, aber niemals geahnt, daß sie so erschreckend heftig war. Am Samstagmorgen, als er in die Küche ging, um sich eine zweite Tasse Kaffee zu holen, knetete Tante Ilsa wieder Brotteig mit heftigen, fast
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wütenden Bewegungen. Ihr Gesichtsausdruck beunruhigte Paul. Sie war ein Mensch, der nur selten schlecht gelaunt war. Gegen elf Uhr erschien Mr. Mars, um seinen letzten Lohn abzuholen. Er und Paul spazierten durch den Garten, nahmen den Weg, der zum Seitenhof führte. Carl spielte dort mit einem neuen Spielzeug. Es war ein Stock mit einer Schnur und einem vierflügeligen Propeller darauf. Paul und der Hauslehrer sahen zu, wie Carl die Schnur auf den Stock aufwickelte, dann daran zog. Der Propeller und der Stock erhoben sich in die Luft, schwebten dort einen Moment, als gäbe es keine Schwerkraft für sie. Dann fiel das Spielzeug herunter. »Der Penaud-Helikopter«, sagte Mr. Mars »Fünfundzwanzig Cents. Es gibt sie zu Millionen in den Spielzeugkisten amerikanischer Kinder. Sie wurden in Frankreich erfunden. Hattest du nicht auch so einen?« »Ich hatte kein Spielzeug aus dem Laden. Meins war handgeschnitzt oder selbstgebastelt.« Carl zog den Propeller auf und ließ ihn erneut starten. Er klatschte in die Hände, als er diesmal etwas höher stieg. Erst eine Stunde vorher hatte Tante Ilsa ihn dafür bestraft, daß er an ihrer Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald herumgefummelt hatte. Carl hatte sie von der Wand genommen und sie auseinandermontiert, um zu sehen, wie sie funktionierte. Er hatte sie wieder zusammengesetzt, aber nun tickte sie nicht mehr und rief auch nicht »Kuckuck«. Dafür hatte Tante Ilsa ihm einige Arbeiten aufgetragen, die er ohne Bezahlung ausführen mußte. Das schien seine gute Laune in keiner Weise zu mindern. Paul wünschte sich, er könnte sich genauso schnell von seinen Schwierigkeiten erholen und sie vergessen. Mr. Mars ging weiter bis zu dem betenden Engel und ließ sich daneben auf der Steinbank nieder. Er fächelte sich mit seinem breitkrempigen Filzhut Kühlung zu. »Das ist ein trauriger Tag für mich, Paul. Die Unterrichtsstunden mit dir werden mir fehlen. Du bist fleißig und klug. Wenn du dich für ein Fach interessierst«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu. »Ich prophezeie dir, daß du deinen Weg machen wirst, wenn du deine richtige Bestimmung findest.« Verbittert dachte Paul: Ich hab’ sie schon gefunden. Onkel Joe hat gemeint, sie brächte mir nichts ein. »Was werden Sie jetzt tun, Mr. Mars?« »Tja, ich – so weitermachen wie bisher. Verzogene Töchter eingebildeter Geldsäcke unterrichten. Ihnen Französisch beibringen. Oder Literatur und Dichtung. Sie unterrichten – und gleichzeitig wissen, daß sie sehr bald alles wieder vergessen werden.« »Ich werde nichts vergessen. Ich danke Ihnen. Ich bin nämlich im
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Englischen schon viel besser.« »Na ja, übertreib mal nicht. Dein Englisch macht wirklich Fortschritte, aber sehr gut ist es noch lange nicht. Ich werde dich auch nicht vergessen.« Sie drückten sich die Hand. Paul stand an der Straßenecke und sah Mr. Mars nach, der Saum seines langen grün-blauen Überwurfs flatterte im Sommerwind. Vor dem Schulgebäude verabschiedete Paul sich von Leo. Er hatte dieses Treffen arrangiert, indem er am Freitag, seinem letzten Schultag, eine Notiz hinterlassen hatte. Die Assistentin des Direktors, eine freundliche junge Frau, war sehr nett und verständnisvoll gewesen. Sie hatte mit keiner Silbe auf den Schulverweis angespielt. Der Schulhof war leer, blankgefegt von einem Sommerwind, der eine Blechdose lärmend über den Schotter trieb und mit Pauls ungekämmten Haaren spielte. Sein gestreiftes Hemd hing halb aus der Hose. Er rannte auf Leo zu, als dieser mit Flash um die Ecke kam, und erzählte ihm, daß er in Zukunft in der Brauerei arbeiten werde. »Einstweilen müssen wir jetzt Lebewohl sagen, Leo. Aber ich sehe dich bestimmt wieder. Wenn du mir deine Adresse gibst, dann besuche ich dich mal.« Leo errötete. »Das geht nicht, wir ziehen nämlich um. Papa hat die Kündigung bekommen. Ich glaube, im Augenblick kauft niemand Korsetts. Pa ist deshalb ziemlich niedergeschlagen …« Mit trauriger Miene kraulte er Flash hinter den Ohren. »Ich schicke dir meine Adresse, sobald wir eine neue Wohnung gefunden haben.« »Gut, ich verlaß mich darauf.« Sie umarmten einander. Leo schickte die Adresse nie. Später am gleichen Tag stand Paul vor dem Schaufenster des Ladens in der North-Clark-Straße. Er drückte erneut seine Nase an der Scheibe platt. Dahinter war es dunkel und leer. Er konnte es nicht fassen. Auf das Glas hatte jemand mit dicker roter Temperafarbe die Worte ZU VERMIETEN gepinselt. Auf einer Trittleiter ging ein Mann, der auf einem Zahnstocher herumkaute, seiner Arbeit nach. Er hängte Ketten ab, die ein verblichenes Schild hielten. Darauf stand zu lesen ROONEYS TEMPEL DER PHOTOGRAPHIE. »Aber wo ist er?« fragte Paul und hielt als Erklärung die Visitenkarte hoch.
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Der Mann nahm den Zahnstocher aus dem Mund, beugte sich zur anderen Seite und spuckte einen dicken Strahl Tabaksaft auf den Bürgersteig. »Wen interessiert das schon? Dieser Rooney war ein ganz übler Kunde.« »Wann ist er umgezogen?« »Er ist nicht umgezogen, ich hab’ ihn rausgeworfen. Am Dienstag. Mein Gott, er war fünfeinhalb Monate mit der Miete im Rückstand. Ich hab’ ihn lange genug mitgeschleppt.« »Aber sagen Sie mir doch bitte, wo ist er hin?« »Versucht mal auf irgendeiner Parkbank. Oder im CookBezirksgefängnis. Hinter diesem miesen kleinen Bastard war ein ganzer Schwarm Gläubiger her. Rooney bezahlt keine Rechnungen. Jedenfalls nicht regelmäßig. Er kann die Finger nicht von den Pferden lassen, das ist sein Problem.« Paul verstand die Bemerkung über die Pferde nicht. Während er sich von dem bemalten Schaufenster abwandte, löste der Mann eine Kette von dem Schild. Paul ging zum Bordstein, zerknüllte die Visitenkarte und warf sie zu dem anderen Abfall in die Gosse. Am Montag erwachte er schon früh, lange vor Tagesanbruch. Genauso wie an dem Morgen, als er zum Güterbahnhof pilgerte, um sich den Zug von Buffalo Bill anzusehen, oder am Eröffnungstag der Ausstellung. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Er beeilte sich, sein Gesicht einzuseifen, sich zu rasieren und sich anzuziehen. Er sollte sich um Punkt sechs Uhr beim Braumeister Mr. Friedrich Schildkraut melden. In jeder guten Brauerei war der Braumeister ein kleiner Herrgott, und das traf auch auf Crown zu. Onkel Joe wies ausdrücklich darauf hin, als er Paul während des Abendessens am Sonntag letzte Anweisungen gab: »Wir können es im wesentlichen Fred Schildkraut verdanken, daß wir ein erfolgreiches Unternehmen sind. Es gibt niemanden, dem ich seine Position anvertrauen würde – ich war selbst Braumeister, bis meine Verpflichtungen in anderen Bereichen zu umfangreich wurden. Ich habe Fred bei Pabst in Milwaukee abgeworben, indem ich ihm das Dreifache seines dortigen Gehalts anbot. Er hat in vielen Dingen vom Brauhandwerk sehr viel mehr Ahnung als ich. Zum Beispiel, wenn es um die mechanische Kühlung geht. In den Anfangstagen war ein Braumeister eigentlich nicht mehr als ein besserer Koch, aber nun ist er der Eckpfeiler des gesamten Unternehmens. Fred lebt praktisch für die Brauerei. Das ist gut für mich, aber schlecht für seine Frau und seine vier Jungen. In Spitzenzeiten, oder
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wenn er sich mit einem Problem herumschlagen muß, bleibt Fred schon mal zwei, drei, vier Tage hintereinander im Betrieb, ohne nach Hause zu gehen. Ich versuche dann, ihn zu überreden, Feierabend zu machen, aber er weigert sich. Er arbeitet dann die ganze Nacht hindurch, bis er an seinem Schreibtisch einschläft. Fred erwartet dich um sechs Uhr. Ich wäre an deiner Stelle pünktlich, ja, ich würde sogar zusehen, daß ich ein paar Minuten früher einträfe. Fred ist katholisch. Und das mit Hingabe. Also keine schlimmen Worte in seinem Beisein.« Vetter Joe würde an diesem Morgen nicht mit ihm zur Brauerei gehen. Seine Grippe hatte sich am Sonntag verschlimmert. Tante Ilsa hatte ihn mit Fieber ins Bett gepackt. Daher mußte Paul allein auf Zehenspitzen durch das schlafende Haus schleichen und in die Küche gehen, wo er das Pausenbrot holte, das Louise in eine Papiertüte gewickelt und für ihn bereitgelegt hatte. Mit einem Pferdewagen fuhr er die zwei Blocks bis zur Brauerei. Die verlassenen Straßen glänzten. Ein leichter Dunst oder Nebel bildete sich in der feuchten Luft, während er zum Angestellteneingang am südlichen Ende des Brauereigeländes ging. Eine gepflasterte Gasse führte parallel zur Larrabee-Straße ins Herz der Brauerei. Der Dunst trieb langsam über den Boden dahin und verbarg die Fundamente der festungsähnlichen Gebäude. Irgendwo klirrten Maschinen; Dampf zischte. Kein anderer Arbeiter war zu sehen. Ein alter Nachtwächter saß in einer kleinen Bude und las bei Laternenlicht in einer Zeitung. Paul klopfte an die Glasscheibe. Der Wächter kam herausgeschlurft. »Guten Morgen, ich heiße Paul Crown. Ich arbeite ab heute hier.« »Ja, das wurde mir gesagt. Geh ruhig weiter.« »Ich soll mich bei Mr. Schildkraut melden.« »Im zweiten Stock im vorderen Gebäude. Die Gasse hinunter und dann nach rechts. Die Tür zur Bierstube müßte eigentlich offen sein. Fred ist schon vor einer halben Stunde gekommen.« Er ließ die Bude des Nachtwächters hinter sich und tauchte in den finsteren Schlund der Gasse ein. Die schwarzen Gebäude ragten zu beiden Seiten wie mittelalterliche Burgen auf. Das würde nun sein Leben sein. Sein ganzes Leben. Er hatte kein Ziel, sondern nur einen Job, den sein Onkel ihm aufgezwungen hatte. Trübe Empfindungen quälten ihn, während er über das Pflaster trottete. Onkel Joe hatte für seine Wünsche nichts übrig. Er interessierte sich nur für Zahlen, Verkaufsmengen und dafür, daß alles nach seinen eigenen Vorstellungen ablief. Paul hatte eine Arbeit gefunden, die er mit großer
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Begeisterung in Angriff nehmen würde, und Onkel Joe hatte dafür nur Spott übrig gehabt. Paul verstand nun Vetter Joes rebellische Haltung. Er blieb stehen und betrachtete die Brauereigebäude. Ein paar vereinzelte Lampen brannten hinter blinden Fensterscheiben. Die Maschinen klirrten und klapperten. Die Luft war erfüllt mit den würzigen Gerüchen, die für eine Brauerei typisch sind. Es war alles andere als appetitlich. Mein Gott, weshalb war er eigentlich hier? Vielleicht hatte er in Amerika überhaupt nichts zu suchen. Wie der Bäcker aus Wuppertal jetzt lachen würde, wenn er ihn so sehen könnte. Beruhige dich, dieser Job muß ja nicht für die Ewigkeit sein. Er hat einen Vorteil. Und zwar einen sehr wichtigen. Wenn der Winter anbricht, besitzt du ganz sicher ein Paar Schlittschuhe. Während er sich Juliette Vanderhoffs Gesicht in Erinnerung rief, setzte er seinen Weg in die Brauerei fort. Friedrich Schildkrauts Büro befand sich ebenso wie Onkels Joes in einem Eckzimmer, allerdings mit Blick auf die hintere Gasse und die Produktionsbauten. Ein Lichtschimmer drang aus dem Spalt der geschlossenen Tür. Paul fuhr sich mit der Hand über sein widerspenstiges Haar und klopfte. »Komm rein, junger Mann.« Das Büro war dunkler als das von Onkel Joe und weitaus unaufgeräumter. Überall lagen Kolbenflaschen und Thermometer, kleine Musselinsäcke mit Getreide und Hopfen, Diagramme, Blaupausen und Konstruktionspläne in deutscher Sprache herum. Inmitten dieses Durcheinanders sah der Besucher ein Schild mit goldenen Lettern. F. SCHILDKRAUT, BRAUMEISTER. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein blutender Christus an einem Holzkreuz. Daneben befand sich die gerahmte Photographie eines bärtigen Mannes. Schildkraut bemerkte, daß Paul es eingehend betrachtete. »Das ist Louis Pasteur. Ein begeisterter Biertrinker, wie sich herausstellte. Allerdings betrieb Pasteur seine Forschungen hauptsächlich, um den Weinherstellern in Frankreich zu helfen. Damit sie sich neben den deutschen Bierbrauern behaupten konnten.« Schildkrauts Lippen zuckten. Man konnte diese Reaktion kaum als Lächeln bezeichnen. »Setz dich doch.« Sobald Paul Platz genommen hatte, erhob der Braumeister sich. Er war ein hochgewachsener, ernster Mann um die Vierzig mit länglichem Gesicht und ausgeprägtem Kinn. Sein kräftiges blondes Haar wurde von ersten grauen Strähnen durchzogen. Sein linker Arm endete am Ellbogen. Ärmel
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und Manschette waren säuberlich umgeklappt und mit einer Sicherheitsnadel fixiert worden. Als junger Mann hatte Schildkraut, wie Onkel Joe seinem Neffen erzählt hatte, seinen Arm bei einer Staubexplosion in einer Mälzerei verloren. Das Pendel einer Wanduhr erzeugte ein lautes Ticken. Aus seiner einschüchternden Höhe blickte der Braumeister auf Paul herab. »Was weißt du über Bier? Hast du eine Ahnung, was dies hier ist?« fragte Schildkraut, ohne ihm Gelegenheit zu geben, die erste Frage zu beantworten. Er nahm ein trichterförmiges Gebilde aus Metall, das stark zerbeult war, vom Tisch. »Nein, Sir, das weiß ich nicht.« »Das nennen wir Schwimmer. Es wurde mit Eis gefüllt und ins Bier eingesetzt, um die Gärungstemperatur zu kontrollieren. Das war, bevor es Kühlungsverfahren gab. In den Tagen der unterirdischen Keller und der Kühlräume. Als man noch nicht das ganze Jahr hindurch Lagerbier brauen konnte, sondern nur so lange, wie die Vorräte an Flußeis reichten.« Er warf den Schwimmer zurück auf den Schreibtisch. Am Fenster verzog er mißmutig das Gesicht wegen etwas, das er draußen erblickte. Er wirbelte plötzlich herum und bellte Paul an wie ein Armeeausbilder. »Weißt du, woher der Begriff ›Lager‹ kommt?« »Vom Deutschen lagern?« »Natürlich. Lagern. Aufbewahren. Ruhen lassen. Nach dem Gärungsprozeß ruht das Lagerbier zwei bis drei Monate an einem kühlen Ort. Weißt du, ob Lager unter- oder obergärig ist?« »Nein, Sir.« »Es ist untergärig – im Gegensatz zu englischen Bieren. Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts war es nicht möglich, in Amerika Lager zu brauen. Davor, so erzählt man sich, ging jede Hefekultur ein, ehe sie die lange Reise über den Atlantik beendet hatte. Dann kamen die schnellen Klipper und schafften die Überfahrt in drei Wochen oder sogar noch schneller. Die Hefe blieb am Leben. Ich sehe schon, wir müssen dir wirklich fast alles beibringen. Vor allem da dein Onkel mir erklärt hat, daß das vielleicht dein Beruf werden könnte.« In Pauls Nacken entstand ein Kribbeln. »Wie bitte, Sir?« »Hast du nicht gehört? Dein Onkel sagte, daß das Brauereihandwerk dich vielleicht so sehr interessieren könnte, daß du damit später deinen Lebensunterhalt verdienst. Wir haben versucht, den jungen Mr. Joe entsprechend auszubilden, aber ohne Erfolg. Es freut mich, daß sich vielleicht eine weitere Gelegenheit ergibt –« Paul unterbrach ihn, indem er aufstand. Der Braumeister musterte ihn unwirsch.
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»Möchtest du etwas sagen?« »Ja, Mr. Schildkraut. Mein Onkel war so nett, mir diese Stelle zu verschaffen. Es wurde Zeit, daß ich zu arbeiten anfange. Aber ich habe niemals behauptet, ich wolle für den Rest meines Lebens Bierbrauer sein. Ich weiß noch gar nicht, was ich überhaupt will.« Das war eine Lüge. Eine notwendige und strategische Lüge, aber auf jeden Fall eine Lüge. Er war ganz sicher, daß er nicht Bierbrauer werden wollte. Er hatte schließlich den Elefanten tanzen gesehen … »Die Wahrheit ist, Sir, daß ich nach Amerika kam, um zu entscheiden, was ich sein will und was nicht – nun, auf jeden Fall nicht, um mir vorschreiben zu lassen, was ich sein muß. Die Menschen in Amerika können sich frei entscheiden. Aus diesem Grund bin ich herübergekommen.« Langsam ließ Friedrich Schildkraut seine rechte Hand auf die Rückenlehne seines Drehsessels sinken. Er umklammerte sie mit langen, spitz zulaufenden Fingern. Er beugte sich vor. Er ist wütend. Ich werde sicher entlassen, ehe ich überhaupt angefangen habe. »Gut! Du hast Rückgrat. Für Schwächlinge ist in einer Brauerei kein Platz.« Schildkraut lächelte tatsächlich. »Wir werden alles tun, um dich davon zu überzeugen, daß es ein achtbares Gewerbe ist. Ich sage dir gern, daß Mr. Crown meinte, du seist ein vielversprechender junger Mann.« Auf einmal wirkte Schildkraut viel lockerer, entspannter, nicht so bedrohlich. »Wir bringen dir alles bei. Wir fangen dort an, wo die Bierproduktion beginnt, in der Mälzerei. Wir malzen selbst und kaufen nichts von draußen. Einige deiner Aufgaben werden mühsam und anstrengend sein. Unsere Maischekessel werden direkt befeuert und nicht mit Dampf geheizt. Du wirst einige Monate lang die Feuer in Gang halten. Du wirst Geräte und Maschinen reinigen. Du wirst nach Hause zurückkehren und so müde sein, daß dir die Augen tränen. Aber du wirst ein edles Handwerk erlernen. Laß dich hier nur nicht mit den falschen Leuten ein.« Schildkraut umrundete den Schreibtisch und legte Paul seine gesunde Hand auf die Schulter. »Wir haben mindestens einen Angestellten, der der erhabenen, grandiosen nationalen Gewerkschaft der Vereinigten Brauereiarbeiter der USA angehört, ein gewisser Mr. Benno Strauss.« Er spuckte in einen Spucknapf, der neben dem Schreibtisch auf dem Fußboden stand. »Benno und seine Freunde sind Unruhestifter. Hör nicht auf sie. Der junge Master Joe hat sich nicht an diesen Rat gehalten, und das hat ihn auf den falschen Weg geführt. Tatsache ist, daß wir bei Crown keine
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sozialistische Gewerkschaft dulden. Dagegen wehren wir uns, solange dein Onkel oder ich noch die Kraft dazu haben. Wir wünschen auch keinen Achtstundentag. Männer, die zusätzliche zwei oder drei Stunden am Tag dem Müßiggang ausgeliefert sind, fallen leicht neuen Versuchungen zum Opfer. Das lassen wir nicht zu. Niemals.« Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf Schildkrauts Stirn gebildet. Aber sein Griff lockerte sich. »Dort entlang«, sagte er und ging in geradezu militärischer Haltung auf die Tür zu. »Ich bringe dich persönlich zur Mälzerei und weise dich ein.« Paul nickte unterwürfig, aber innerlich bäumte sich alles auf. In was war er hineingeraten? War das eine Brauerei oder ein Schlachtfeld?
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Wir befürworten die gründliche Erziehung und Ausbildung der Frau, um sie in die Lage zu versetzen, alles zu meistern, was das Leben für sie bereithalten mag. Um sie nicht nur auf die Fabrik oder die Werkstatt vorzubereiten oder auf die freien Berufe und die Kunst, sondern, was noch wichtiger ist als alles andere, um sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Hüterin des heimischen Herdes einzustimmen. Gerade dafür, das höchste Gut weiblichen Strebens, sind eine breitgefächerte Ausbildung und viel Übung vonnöten. 1893 Mrs. Potter Palmer bei der Einweihung des Frauen-Pavillons der Weltausstellung
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29 JULIE Am ersten Samstagmorgen im September kämmte Mrs. Vanderhoff ihrer Tochter das Haar. Dieses allwöchentliche Ritual fand in Julies Ankleidezimmer statt. Julies gelöstes Haar hing bis über die Taille herab. Kohlrabenschwarzes Haar. Haar, das glänzte wie verschüttete Tinte. Haar, das Juliette Vanderhoffs ganzer Stolz und ihr wertvollster Schatz war, weil ihre Mutter ihr das immer wieder eingetrichtert hatte. Mrs. Vanderhoff hatte ihrer Tochter sehr viele Dinge über Frauen beigebracht, über ihre Anlagen und möglichen Anfechtungen, ihre Pflichten als wohlerzogene junge Damen, als angehende Bräute, dann als Mütter und schließlich als erfolgreiche Gastgeberinnen. Nell Fishburne Vanderhoff, als jüngere von zwei Töchtern der Familie Fishburne in Lexington, Kentucky, geboren, war knapp ein Meter sechzig groß und hatte eine stämmige Figur. Früher, in der Blüte ihrer Jugend, hatte sie vielleicht den Liebreiz eines Porzellanpüppchens. Nun, da sie um die Vierzig war, sah sie nur noch zerbrechlich aus. Falten der Erschöpfung hatten sich tief in ihr Gesicht eingegraben. Große braune Schatten umgaben ihre Augen. Ihre Haut erinnerte an blaßgelben Marmor mit blauer Äderung, ihre Hände zitterten oft, wenn auch nicht an diesem Morgen. Julie hatte am 28. Mai ihren 16. Geburtstag gefeiert. Ihre Figur war inzwischen so weit entwickelt, daß sie Frauenkleidung trug, an diesem Morgen einen teuren Hausmantel aus pfirsichfarbener Seide. Er war bei Redfern kreiert und angefertigt worden, der New Yorker Filiale des vornehmen Londoner Schneiders. Julie saß regungslos da und betrachtete sich in einem großen ovalen Spiegel, während Nell mit Kamm und Bürste hantierte. Sie konnte dieses Ritual nicht mehr so genießen wie früher. Sie fühlte sich zu alt. Auch an diesem Morgen störte die qualvolle Erinnerung an den Jungen, den sie vor einigen Monaten kennengelernt hatte, ihre innere Ausgeglichenheit. Joey Crowns Vetter, der deutsche Junge. Ihre Begegnung auf der Straße war nur kurz gewesen, dennoch erinnerte sie sich an ihn. An seine breiten Schultern und sein ausdrucksvolles, ehrliches Gesicht. An seine braunen Augen, groß und glänzend und mit einer seltsamen Eindringlichkeit, die in ihr unangemessene Gedanken und Gefühle weckten, die sie nicht in Worte zu fassen wagte. Er hatte einen furchtbaren Akzent, aber sein Lächeln war offen und aufrichtig. Er war von einer Direktheit und so frei von Arroganz, wie sie es bei jungen Männern ihres Alters und ihrer Gesellschaftsschicht noch nie erlebt hatte. Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein, weil er ein Einwanderer mit einer gewissen
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exotischen Ausstrahlung war. Vielleicht entsprach – abgesehen von seiner äußeren Erscheinung – nichts von dem, was sie in ihm sah, tatsächlich der Realität. Es war ihr gleichgültig, sie empfand Sympathie für diesen Jungen. Sie wünschte sich, sie könnten einander besser kennenlernen. Nell Vanderhoff fuhr mit der Bürste noch einige Male durch das Haar, und das Ritual war beendet. Sie legte Kamm und Bürste beiseite. Dann, indem sie von hinten Julies Wange mit der Hand berührte, betrachtete sie Julies Gesicht im Spiegel. »Ich habe dich noch nie mit derart roten Wangen gesehen. Du bist viel zuviel in der Sonne, spielst zuviel Tennis.« »Ich spiele aber gerne Tennis, Mama.« »Du übertreibst, genauso wie du es im Winter mit dem Schlittschuhlaufen übertreibst. Übertreibung ist in beiden Fällen schlecht für den Teint, den Kreislauf – die gesamte Verfassung. Ich habe es dir immer wieder gesagt, Juliette, Mädchen und Frauen sind empfindlich. Damit mußt du rechnen. Du mußt dich darauf einstellen. Mußt dich vor den Auswirkungen rauhen Wetters schützen, vor Nervenbelastungen, vor –« »O Mama, ich kann nicht verstehen, daß frische Luft schlecht sein soll.« »Aber es ist so. Dr. Woodrow wird es bestätigen – und sei nicht so halsstarrig und behaupte, du wüßtest besser Bescheid als ein Arzt, der in den Schweizer Kliniken Erfahrungen gesammelt hat. Du wirst von Tag zu Tag eigensinniger. Das liegt sicher an deinem Alter. Ein vorübergehender Zustand. Hoffentlich geht das bald vorbei, denn mich damit auseinanderzusetzen ermüdet mich. Es zerrüttet meine Nerven.« Sie zog die Hände zurück, während sie weiterhin in Julies Augen blickte. Ihre Miene zeigte ständig den gleichen Ausdruck: Sorge, Enttäuschung, aber auch Verärgerung. Es vermittelte Julie stets ein Gefühl der Schuld, eine Gewißheit, daß sie als einziges Kind ihrer Mutter versagt hatte. »Mama, du weißt, ich möchte, daß du dir um mich niemals Sorgen machen sollst.« »Ich hoffe es, Liebes. Ich hoffe es.« Das physische und emotionale Wohlbefinden von Mrs. M. P. Vanderhoff III. war ein ständiges Thema in der Familie. Neurasthenie – Erschöpfungszustände der Nerven und des Gehirns – war eine immer wiederkehrende Erscheinung bei Nell. Viele Frauen ihrer sozialen Schicht und Herkunft litten darunter, aber bei Nell war es besonders extrem, das gab sogar Dr. Woodrow zu. Julies Mutter litt unter quälenden Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen. Sehr oft flüchtete sie sich in hysterische Anfälle oder versank für längere Zeit in Zustände mürrischen Schweigens. Sie
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verbrachte viele Stunden, manchmal sogar Tage, bei zugezogenen Vorhängen im Bett. Sie las ausgiebig in einschlägigen Zeitschriften, suchte nach neuen Wundermitteln. Sie bestürmte den armen Dr. Woodrow, neue Behandlungsmethoden zu suchen und anzuwenden. War es in dem einen Monat ein Eisentonikum, versuchte sie es im nächsten mit einem Präparat aus Rhabarber oder Kampfer oder Senf. Sie nahm Schwefelbäder; sie machte Seetangpackungen. Sie zwang Woodrow, seine chirurgischen Instrumente mitzubringen und sie zur Ader zu lassen. Regelmäßig stellten diese Maßnahmen ihre Energie und ihren Lebensmut wieder her. Aber genauso regelmäßig kehrten Niedergeschlagenheit und Erschöpfung wieder zurück, und alles begann von neuem. Nell machte ihrer Tochter klar, daß derartige Leiden das Los der Frauen waren. Daß man sie als eine Folge der weiblichen Natur und Gemütsverfassung betrachten mußte. Julie dürfe nicht erwarten, daß ihr Leben sich von dem ihrer Mutter in irgendeiner Weise unterschied. Julie haßte diese Unausweichlichkeit, aber es schien zuzutreffen. Auch sie wurde immer wieder von Kopfschmerzen heimgesucht, litt unter länger andauernden depressiven Phasen, in denen sie zu überhaupt nichts Lust hatte und niemanden sehen wollte. Damit stand sie aber überhaupt nicht allein. Viele ihrer jungen weiblichen Bekannten wurden von Krankheiten heimgesucht, die von Zuständen nervlicher Überreizung bis hin zu chronischer Erkältung, Magenkrämpfen, Katarrhen und Depressionen in Verbindung mit der monatlich wiederkehrenden Indisponiertheit reichten. Julie gelangte zu der Überzeugung, daß die Gesundheit der amerikanischen Frauen allgemein schlecht war, und fragte sich, weshalb das so war. Andererseits verschwanden ihre Gesundheitsprobleme, wenn sie sich regelmäßig und ausgiebig körperlich betätigte. Hier das richtige Maß zu finden war nicht so einfach, denn Nell lehnte Sport für junge Damen strikt ab. Julie faltete die Hände im Schoß und betrachtete sich wieder. Ihre Wangen waren tatsächlich von der Sonne verbrannt, doch die Farbe wurde intensiver, noch während sie hinsah. Sie verspürte eine starke, unkontrollierbare, leicht lüsterne Sehnsucht, den deutschen Jungen wiederzusehen. Ihre Vernunft ließ diesen Traum sehr schnell platzen. Was sie da wollte, war unmöglich. Es konnte und durfte nicht sein. Der deutsche Junge gehörte zu den Crowns. Und Mama und Papa haßten die Crowns, und zwar jeden einzelnen von ihnen. Nun, welchen Unterschied machte das schon? Wahrscheinlich erinnerte
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er sich gar nicht mehr an sie. Wahrscheinlich hatte sie an dem Nachmittag, als sie sich begegnet waren, überhaupt keinen Eindruck bei ihm hinterlassen. Dieser traurige Gedanke verdarb ihr für den Rest des Tages gründlich die Laune.
30 PAUL Es war genauso, wie Friedrich Schildkraut prophezeit hatte – er lernte. Und auf Grund der Leistung, die Schildkraut von seinen Männern verlangte, machte er gute Fortschritte. Er erlernte den gesamten Prozeß, angefangen mit dem Einweichen der Braugerste in der Mälzerei, bis sie richtig keimte. Dann wurde sie in der Darre getrocknet, gereinigt, gemahlen und in den großen Kupferkesseln mit Wasser vermischt. Durch den Kochvorgang wurde der Zucker freigesetzt, der Trester setzte sich am Boden ab, und übrig blieb die Würze. Nach dem Abkühlen wurde die Würze zusammen mit dem Hopfen gekocht, die dadurch entstandene Maische wurde erneut – und zwar im Schnellverfahren – gekühlt und in einen Gärbottich geleitet, wo die Hefe wirksam wurde und den Zucker in Alkohol verwandelte, der je nach Menge zwischen vier und fünf Prozent Volumen hatte. Jede Partie, jedes Bier war das Ergebnis strengster Überwachung der Zutaten, Temperaturen, Kochzeiten, Abkühlzeiten, des Gärungsprozesses und der Lagerdauer. Die Vorarbeiter bei Crown trugen ständig irgendwelche Daten in ihre Braubücher ein. Kein Wunder, daß die Deutschen in diesem Gewerbe führend waren. Es erforderte strengste Genauigkeit bis ins kleinste Detail. Paul schmierte und reinigte die Braugeräte. Er half bei Reparaturen. Er arbeitete an den großen Mühlen, die fünfhundert Scheffel Malz in der Stunde verarbeiteten, an den pneumatischen Mälzanlagen, die die Feuchtigkeit und die Temperatur der Keimkammern steuerten; an den Baudelot-Kühlvorrichtungen, die die Wassertemperatur mittels einer Mischung aus Wasser, Ammoniak und Salz senkten; im Keller überwachte er die Feuer unter den Braukesseln. Ihm machte die schwere Arbeit nichts aus. Jede Woche legte er ein wenig Geld beiseite. Schon nach einem Monat hatte er in einem Marmeladenglas genug zusammen, um sich ein paar Schlittschuhe zu kaufen, sobald sie bei Spalding wieder in den Auslagen auftauchten. Juliette Vanderhoff war ständig in seinem Bewußtsein; sie erinnerte ihn daran, daß die ganze Mühsal einen Zweck, ein Ziel hatte.
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Die Arbeit machte ihn zäh. Seine Beinmuskeln nahmen zu, und seine Arme wurden dicker. Auch sein Bart entwickelte sich zusehends. Außerdem wuchs Paul noch, veränderte sich. Er reifte schnell zum Mann. Ihm wurde in der Brauerei auch noch etwas anderes klar. Seine erste Reaktion war durchaus richtig gewesen. Er wollte nicht sein ganzes Leben als Bierbrauer fristen. Es mußte für ihn eine Möglichkeit geben, die völlig neue Welt der Photographie zu erforschen. Es mußte auch noch jemanden anderen geben, der ihm die entsprechenden Techniken beibringen würde, nun da Rooney von der Bildfläche verschwunden war. Wie Schildkraut ihm vorausgesagt hatte, kam er jeden Abend völlig erschöpft nach Hause. Die Muskeln seiner Arme und Beine und sein Rücken schmerzten höllisch. Manchmal war er so müde, daß er am Abendbrottisch beinahe einschlief. Einmal, während Paul den Kopf ruckartig hob, als er merkte, daß er zwischen zwei Bissen eingenickt war, betrachtete Onkel Joe ihn mit einem zufriedenen Lächeln. Endlich holte man bei Spalding die Winterwaren aus dem Lager. Paul erstand ein Paar Renner, wie der Verkäufer sie ihm lange vor der Zeit beschrieben hatte. Er steuerte unbeirrbar auf eine Zusammenkunft mit Miss Vanderhoff zu, doch es waren noch weitere Vorbereitungen erforderlich als nur der Kauf von Schlittschuhen. Jeden Abend, wenn er eigentlich nichts anderes tun wollte, als zu Bett zu gehen und sich auszuschlafen, zwang er sich zu einem fünfundvierzigminütigen Programm von Kniebeugen und anderer Beingymnastik. Joe junior sagte, um das Schlittschuhlaufen zu erlernen, müsse man seine Beinmuskeln und vor allem die Fußgelenke kräftigen. Anschließend fiel er immer todmüde und mit bohrenden Schmerzen in den Knochen auf sein Bett. Doch schon bald linderten Visionen von Juliette Vanderhoffs feiner Haut, ihrem vollen ebenholzfarbenen Haar und ihren zarten Rundungen seine Qual. An einem warmen Sonntag Ende September besuchte Onkel Joe mit der ganzen Familie außer Joe junior die Vorstellung der Buffalo Bill Wild West and Congress of Rough Riders Show. Pauls Vetter fuhr an diesem Tag hinaus nach Pullman, um sich mit seiner Freundin zu treffen. Onkel Joe hatte Karten für eine der besten Logen ganz vorn gekauft. Paul konnte kaum stillsitzen, als er eine Vorstellung zu sehen bekam, von der er in Berlin nur hatte träumen können. Oberst Cody, mit seinem weißen Hut auf dem Kopf so edel und eindrucksvoll wie eh und je, galoppierte auf Isham auf und ab und zerschoß blaue Glaskugeln, die seine Assistenten ins Licht greller Bogenlampen schleuderten, in tausend Stücke. Im Rahmen der von allen erwarteten und vielgerühmten Deadwood-
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Nummer gab es eine Überraschung. Die Kutsche beschrieb langsam einen weiten Kreis in der Arena, und der schnurrbärtige Kutscher blieb hier und da stehen, um auf einen Zuschauer zu deuten – der auf diese Art und Weise eingeladen wurde, für den Rest der Show in die Kutsche zu steigen. Paul konnte es kaum fassen, als der Kutscher ausgerechnet auf ihn zeigte. Er kletterte über das Geländer, während seine Tante, Fritzi und Carl ihm durch anfeuernde Rufe Mut machten. Er quetschte sich zwischen eine dicke Frau und einen Mann, der nach Haarpomade roch. Während die Kutsche in der Arena umherratterte und –schwankte, stürmten die berittenen Indianer auf sie zu, schwangen drohend ihre Speere und stießen blutrünstige Schreie aus. Eine Salve Pistolenschüsse kündigte das Erscheinen von Buffalo Bill und seinen Cowboys an. Sie schlugen die Indianer schnell in die Flucht und ließen die Kutsche noch eine Runde durch die Arena fahren, um die begeisterten Passagiere wieder aussteigen und ihre Tribünenplätze einnehmen zu lassen. Anschließend schüttelte Paul seinem Onkel die Hand und bedankte sich überschwenglich bei ihm. »Gern geschehen«, sagte Onkel Joe und schaute bereits woanders hin. Er entfernte sich eilig, um einen Bekannten zu begrüßen, der ebenfalls die Show mit seiner Familie verließ. Onkel Joes Reserviertheit verwirrte ihn. Als Joe junior an diesem Abend nach Hause kam, unterhielt Paul sich mit ihm darüber. »Ist es dein Ernst, daß du den Grund dafür nicht verstehst? Ich bitte dich! Du bist zwar noch immer Pas Neffe, aber jetzt arbeitest du für ihn. Du bist Teil seines Eigentums. Vielleicht verbündest du dich sogar mit Benno – « »Ich habe mit Benno überhaupt nichts zu tun. Ich mag diesen Burschen nicht.« »Das macht für Pa keinen Unterschied. Du stehst auf der anderen Seite des Zauns. Du bist zwar kein Gewerkschaftsmitglied, aber fast so etwas Ähnliches. Und daran kannst du nun mal nichts ändern. Also nimm dich in acht.« Joe junior war in die Flaschenabfüllung versetzt worden, daher sah Paul ihn während der regulären Arbeitszeit nur selten. Gewöhnlich trafen sie sich während der halbstündigen Mittagspause. Während sie aßen, entwickelte Joe seine Theorien über Arbeit und Kapital, die er, wie Paul vermutete, von Benno Strauss übernommen hatte. Abends, nach dem Essen, erschien Joe junior gelegentlich in Pauls Zimmer, um ihm ein Buch in die Hand zu drücken.
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»Das ist auch ein Teil deiner Ausbildung, Paul. Du mußt diese Dinge ebenfalls lernen.« Es gab einen amerikanischen Philosophen, Thoreau, den Joe junior besonders liebte, weil seine Schriften zum Ungehorsam gegenüber ungerechten Gesetzen aufriefen. Es gab auch einen Roman mit dem Titel Looking Backward von Edward Bellamy. »Ein Mann schläft ein und wacht fünfzig Jahre später auf. Man schreibt das Jahr 1957, und die Welt ist eine vollkommene sozialistische Utopie.« Joe junior wollte auch, daß er Artikel eines örtlichen Reformators mit Namen Henry Demarest Lloyd las, der bei der Chicago Tribune als Redakteur arbeitete. »Ein echter Agitator. Er hat ein grandioses Buch über die Grubenbesitzer geschrieben, die ihre Arbeiter ausgesperrt haben, weil sie ein paar Grundforderungen gestellt haben. Die Grubenarbeiter sind praktisch kurz vor dem Verhungern. Lloyd hat soeben ein zweites Buch geschrieben, und das ist sogar noch besser. Wealth Against Commonwealth. Du hast doch schon mal von Charles Darwin gehört, oder?« »Gehört habe ich von ihm, aber mehr nicht.« Paul vollführte voller Hingabe seine Kniebeugen, während Joe es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte. »Darwin vertrat die Theorie, daß in der Tierwelt nur die Stärksten überleben. Alle Kapitalisten – die Handelsaristrokratie nennt Lloyd sie –, sie denken, daß es zu ihnen paßt. Sie stellen sich vor, daß sie den kleinen Mann weichkauen und dann ausspucken können, weil das die Art und Weise ist, wie die Natur arbeitet. Lloyd geißelt sie dafür. Und das ist schon ganz schön radikal für einen Zeitungsredakteur, der für Plutokraten arbeitet.« »Ich würde meinen, dafür verliert er seinen Job.« Joe junior grinste. »Außer wenn eine Sache nicht wäre. Lloyd ist nämlich mit der Tochter des Verlegers verheiratet. Ich besorge dir sein Buch, sobald du die dort ausgelesen hast«, sagte er und deutete auf einen kleinen Stapel auf dem Fußboden neben dem Bett. Paul las auch mehrere Zeitungen, suchte sich die alten zusammen, die von den Brauereiarbeitern liegengelassen worden waren. Viele der Begriffe in den Leitartikeln und Meldungen verstand er gar nicht, deshalb kaufte er sich ein billiges Taschenwörterbuch. Sehr bald erkannte er einen bestimmten Tenor in der einfachen Sprache der meisten Zeitungsartikel. Arbeiter wurden fast ausnahmslos gehaßt oder zumindest als gefährlich eingestuft. Paul erkannte, daß Joe trotz seiner Übertreibungen, seiner Abneigung gegen seinen Vater in einem Punkt völlig recht hatte: Chicago, und damit auch Amerika, war von Streitigkeiten zerrissen. Arbeiter gegen Eigentümer, Eigentümer gegen Arbeiter. Die
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Auseinandersetzungen bestanden aus giftigen Beschimpfungen, aus Haß und sehr oft auch aus Gewalt. Ehe er das Licht ausknipste, saß Paul noch oft an seinem Tisch und betrachtete das Stereoskopbild der Freiheitsstatue und fragte sich dabei, ob all das, was sie symbolisierte, tatsächlich so friedlich, so unverdorben und edel war, wie er es früher einmal geglaubt hatte. An einem sonnigen Mittag stiegen er und Joe junior auf das Dach der Brauerei, um dort ihre Wurstbrote aus den Papiertüten zu verzehren. Louise legte jeden Tag außer Sonntag zwei Provianttüten für sie bereit. Diese Tüten waren das einzige äußere Zeichen, daß Paul und Joe aus einem wohlhabenden Haushalt kamen. Benno Strauss und seine Kumpel waren bereits mit ihren Proviantdosen aus Blech auf dem Dach. Wie immer empfand Paul es als ziemlich gewagt, trotz der Warnungen Onkel Joes und Schildkrauts hier oben mit den Sozialisten zusammenzusitzen. Benno war immer freundlich zu Paul. Wenn sie einander zufällig in der Brauerei begegneten, hatte er immer irgendeine Bemerkung auf den Lippen wie: »Na, Kleiner, ist Joey ein guter Lehrer?« »Ich denke schon«, erwiderte Paul dann. Er hatte keine Ahnung, welchen Wert die Erklärungen seines Vetters hatten, und er war sich auch nicht so sicher, was er von Benno halten sollte. Benno bot ganz sicher einen furchteinflößenden Anblick. Und er war stark. Dennoch war er ein Angeber. Selbst die, die ihn mochten, erzählten sich das hinter seinem Rücken. Benno und seine Freunde aßen und unterhielten sich lautstark. Ein Mann blickte über die Dachkante nach unten und machte unverschämte Bemerkungen über die elegant gekleideten Gäste, die im Biergarten unter den schattigen Bäumen ihr Mittagsmahl einnahmen. Paul und Joe saßen nur ein kleines Stück von Bennos Leuten entfernt. Benno verschlang seine enorme Mittagsmahlzeit aus Salami, Zwiebel und Knoblauch auf Schwarzbrot mit der Geschwindigkeit eines ausgehungerten Bären, der die Knochen eines Beutetiers zermalmt. Sobald er damit fertig war, unterbrach er irgendein Gespräch und ergriff das Wort, als hätte er das naturgegebene Recht dazu. »Als ich im Winter 1871 in Paris war, hatten wir nicht soviel zu essen. Ehe die Belagerung beendet war und der Feind einmarschierte, verzehrten wir bereits gebratene Katzen und Ratten. Glaubt mir, ich war wirklich froh, endlich diese verdammten Deutschen zu sehen. Gegen Abend konnten wir uns aus dem Staub machen. Wir schnitten irgendeinem Corporal die Kehle
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durch und stahlen einen Proviantsack, um uns die Bäuche vollzuschlagen.« Einer seiner Freunde verzog skeptisch das Gesicht. »Du hast Deutsche umgebracht, also deine eigenen Leute, als sie die Stadt eroberten?« »Meine eigenen Leute waren in Paris. Die Tapferen, die im Frühjahr ‘71 die Kommune gegründet hatten. Die Deutschen waren doch nur ein Haufen imperialistischer Hunde.« Ein anderer Freund winkte lächelnd ab. »Ach laß doch, Benno. Wahrscheinlich hast du die ganze Zeit besoffen bei irgendeinem Hürchen im Bett gelegen.« »Hör zu, ich geh’ zu den Huren, aber ich gehe auch auf die Barrikaden. Ich hab’ es noch immer geschafft, erst zu kämpfen und es direkt hinterher den Mädels zu besorgen.« Die Männer lachten, und Paul und Joe stimmten mit ein. Benno hörte das. »Heh, ihr Grünschnäbel, ihr solltet das lieber glauben.« »Jetzt mal im Ernst, Benno«, sagte ein anderer Freund. »Wir haben in letzter Zeit den Chef ziemlich in Ruhe gelassen. Meinst du, das ist richtig?« Paul und sein Vetter warfen einander verstohlene Blicke zu. »Nein, richtig ist das nicht, aber ich habe etwas Besonderes vor. Wir werden ihm schon wieder die Hölle heiß machen, unseren Neunstundentag fordern. Außerdem einen Lehrling für je fünfzehn Mann, und nicht für zwanzig. Auch wenn wir keine Gewerkschaft im Betrieb haben, das entspricht genau ihren Forderungen.« Paul ging zu der Gruppe hinüber. »Mr. Strauss, darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?« »Sicher, raus damit.« »Ich habe auch schon andere Leute nach Ihrer Gewerkschaft befragt. Mir wurde erklärt, die Gewerkschaft verlange einen Monatslohn von mindestens sechzig Dollars für Mälzer. Mein Onkel zahlt aber fünfundsiebzig. Ist er damit denn kein guter Chef?« »Ne, laß dich nicht täuschen. Dein Onkel zahlt hier und da ein wenig mehr, aber er spart eine Menge, indem er seine Schäfchen still hält und die Gewerkschaft nicht in seinen Betrieb reinläßt. Das war eine sehr dumme Frage.« Pauls Gesicht lief rot an. »Ich versuche nur dazuzulernen, herauszufinden, was berechtigt und was –« »He, Paul«, rief Vetter Joe. Es war eine Warnung. Gar nicht mehr so freundlich, sprang Benno auf und stieß Paul unsanft den Daumen vor die Brust. »Die Gewerkschaft ist berechtigt. Der Sozialismus ist berechtigt. Dein Onkel hat unrecht, weil alle Kapitalisten unrecht haben. Sieh dir doch an, was sie mit dieser Stadt machen!« Benno
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deutete mit einer ausholenden Geste auf das Panorama, das die Dächer, den Fluß und den silbernen See hinter den Dunstschleiern des Ostens bot. »Hunderte von Männern da draußen haben keine Arbeit. Sie haben aber leere Bäuche, ihre Frauen und Kinder hungern ebenfalls – aber wen interessiert’s? Und sobald diese gottverdammte Ausstellung die Tore schließt, wird man zehnmal so viele Arbeitslose auf den Straßen sehen.« »Benno«, sagte jemand mit gedämpfter Stimme. Bennos seltsam geschlitzte Augen blickten zur Dachtür. Ein unscheinbarer kleiner Mann in einem karierten Anzug kam gemütlich heraus und bearbeitete seine Zähne mit einem goldenen Zahnstocher. »‘n Tag Jungs. Ein schöner Tag. Genießt ihn nur. Bald haben wir wieder mehr Eis und Schnee, als uns lieb ist.« Ein paar Begrüßungen wurden gemurmelt, aber sie klangen nicht sehr freundlich. Der Name des Besuchers war Sam Traub. Er hatte seinen Schreibtisch im Hauptgebäude, und er kam jeden Tag zur Arbeit, aber sein Gehalt wurde von der amerikanischen Regierung bezahlt. Die Steuergesetze verlangten, daß in jeder Brauerei ein Zollbeamter sitzen müsse. Joe junior sagte, es werde vermutet, daß Traub für Onkel Joe und Schildkraut im Betrieb spioniere. »Weshalb machen Sie sich Sorgen wegen des Wetters, Sam?« fragte Benno. »Sie können sich doch jederzeit den Hintern am Kamin vom Boß wärmen, oder etwa nicht?« Seine Freunde lachten. Traub ebenfalls, aber es schwang auch verhaltener Ärger mit. »Ach, Benno, warum zum Teufel gehen Sie denn nicht zurück in Ihre Heimat, wenn es Ihnen hier nicht gefällt?« Benno hakte die Daumen hinter seinen Gürtel. Er amüsierte sich. »Weil wir dieses Land erst reformieren müssen.« »Da wäre ich mir nicht allzu sicher. Die Polizisten und Richter Lynch, die werden euch zuerst reformieren. Und das wäre noch nicht mal schlecht.« »Sam«, sagte Benno, »du kannst mich mal.« Zwei seiner Kumpel applaudierten. Traub nahm den goldenen Zahnstocher aus dem Mund. »Wenn ich euch Roten zuhöre, kriege ich immer Magenschmerzen.« Der Knall, mit dem die Dachtür zuschlug, war laut wie ein Pistolenschuß. Benno kicherte und setzte sich auf die Randmauer. »Dem hab’ ich’s gegeben, was?« Er strich sich mit einem Zeigefinger über eine Schnurrbarthälfte. Dabei bemerkte er Pauls Stirnrunzeln. »Stimmt etwas nicht mit dir, Kleiner?« »Nur noch eine Frage.«
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»Spuck sie aus.« Paul wußte, daß er lieber den Mund halten sollte, aber er wollte es wissen. »Es geht um das, was Sie sagen. Ständig erzählen Sie, Sie hätten diesen oder jenen Plan, aber Sie bleiben trotzdem in Ihrem Job und verdienen ganz gut damit. Sie lassen sich sogar von meinem Onkel aus dem Gefängnis freikaufen –« Angst regte sich in ihm, als Benno aufstand und auf ihn zukam. »Willst du etwa behaupten, wir seien ein Haufen Feiglinge und Angeber?« »Ich sage nur –« Benno packte Paul am Kragen, beugte sich zu ihm herab und blies ihm eine Wolke aus Knoblauch- und Zwiebelgeruch entgegen. »Du hast völlig falsche Vorstellungen, mein Junge. Joey?« Joe junior sprang auf die Füße und wirkte fast wie ein Soldat, der einem Befehl gehorchte. »Wir müssen wohl schwerere Geschütze auffahren, damit der Junge etwas klarer sieht. Schafft ihr beiden es am nächsten Sonntag, von zu Hause zu verschwinden?« »Klar.« »Dann bring ihn mit. Kommt gegen elf. Nehmt den Zug, der den Güterbahnhof des Illinois-Zentralbahnhofs um sechs nach verläßt.« »Wohin soll ich mitkommen?« fragte Paul. »Nach Indiana«, sagte Joe. »In die Dünen.« »Dort zeigen wir dir, daß die Revolution nicht nur Gerede ist, junger Freund.« Ein grauer Himmel stieß am Horizont mit grauen Wassermassen zusammen, auf denen weiße Gischtkronen tanzten. Der eisige Wind rötete Pauls Wangen und erzeugte einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund. Während der verhältnismäßig kurzen Eisenbahnfahrt hatte Vetter Joe Paul erzählt, daß die Männer, die sie treffen würden, keine Sozialisten seien, sondern überzeugte Anarchisten. Sie verließen den Zug auf einem kleinen ländlichen Bahnhof und wanderten zwei Meilen nach Norden zu diesem einsamen Strandabschnitt des Sees. Dort trafen sie Benno mit fünf Freunden. Keinen von ihnen hatte Paul schon mal bei Crown gesehen. Benno war der einzige in der Gruppe, der imponierend wirkte. Die anderen erinnerten eher an Schulmeister, die sich niemals hinaus in die freie Natur wagten, oder an ständig gebückt einherschleichende Bürohengste. Zwei Männer trugen Brillen, einer hatte ein geschwärztes Augenglas. Der Bart eines anderen reichte fast bis zum Gürtel. Alle waren schäbig
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gekleidet. Zwei trugen Anzüge und Melonen, zwei andere seltsame Kombinationen aus geflickten Hosen, Jeansmänteln und billigen Wollmützen. Der armseligste der fünf trug eine abgelegte Armeekluft: einen dunkelblauen Mantel mit Schulterumhang und schmuddelige hellblaue Hosen mit gelben Seitenstreifen. Wohl kaum ein heldenhafter Haufen, dachte Paul. Der Anblick verstärkte seinen Verdacht, daß Benno Strauss ein Schaumschläger, ein Schwindler war. Fröstelnd standen er und sein Vetter etwas abseits von den anderen bei Benno. Joe stampfte mit den Füßen auf. »Mein Gott, ich erfriere bald. Ich wünschte, sie würden sich was beeilen.« »Sei still, wir müssen alles richtig machen«, sagte Benno. Eine Wollmütze bedeckte seinen kahlen Schädel. Der bunte Pompon bewegte sich im Wind. »Sie sind gleich fertig.« Bennos fünf Kollegen nagelten rohe Holzbretter und große Stücke Teerpappe auf eine kleine Hütte, die sie auf der ersten Düne unweit der an den Strand rollenden Brandung zusammengezimmert hatten. Weshalb sie ein solches Bauwerk an diesem einsamen Ort errichtet hatten, war Paul schleierhaft. Er hauchte in seine Hände und stampfte ebenso wie sein Vetter mit den Füßen. »Wann haben Sie mit dem Bau der Hütte begonnen?« »Heute morgen. Wir sind mit dem Sechs-Uhr-Zug gekommen.« »Sind Sie oft hier?« Es gab eindeutige Hinweise, die diese Vermutung nahelegten. Stücke verkohlten Holzes lagen verteilt in drei verschiedenen Löchern auf der windabgewandten Seite der Dünen. »Einmal im Monat, manchmal auch öfter.« Benno holte ein kleines Notizbuch aus seinem Overall, dann einen Bleistiftstummel. Er befeuchtete die Mine mit der Zungenspitze und begann zu schreiben. Vor der Hütte, die weder über eine Tür noch über Fenster verfügte, stand der Mann in dem alten Armeemantel und winkte Benno zu. Sein Ruf war bei dem heftigen Wind nicht zu verstehen. Benno winkte zurück, dann sagte er: »Falls Joey es dir noch nicht erklärt hat, wir üben hier. Wir schärfen die Waffen, mit denen wir die Reichen zur Strecke bringen werden. Und uns endlich holen, was wir haben wollen.« Die Männer begannen sich aus der nächsten Umgebung der Hütte zurückzuziehen, alle bis auf den mit dem schwarzen Augenglas. Er beugte sich über einen alten Koffer, holte etwas heraus und schob es vorsichtig durch ein kleines Loch, das in der Seitenwand der Hütte offengelassen worden war. Der Mann bei der Hütte sank auf die Knie, und Paul sah eine kleine Rauchwolke in der Nähe der Öffnung. Der Mann sprang auf und rannte
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hinter den anderen her, als sei der Teufel ihm auf den Fersen. Benno legte einen mächtigen Arm um die beiden Jungen. »Runter, schnell!« Sie warfen sich auf den Bauch, und noch während Pauls Gesicht den Sand berührte, zerriß eine Explosion die Hütte. Das Echo schien eine Ewigkeit über den Strand zu wogen. Nach und nach wurde es vom Pfeifen des Windes und vom Rauschen der Brandung überlagert. Die letzten Trümmer der Hütte fielen vom Himmel herab. Ein Stück qualmende Teerpappe segelte wie eine betrunkene Fledermaus über die Dünen davon. Paul war entsetzt. »Seht doch mal«, rief Benno, während er mit einer Geschwindigkeit durch den Sand rannte, die für einen Mann seines Alters und seiner Statur erstaunlich war. Paul und Joe folgten ihm. »Mein Gott, das habe ich nicht erwartet«, keuchte Joe junior. »Das letzte Mal hatten sie nur ein paar Dynamitstäbe, die haben sie angezündet und geworfen –« Alle versammelten sich um den Standort der Hütte. Die Anarchisten lachten und beglückwünschten sich gegenseitig. »Der Trichter ist mindestens einen Meter tief«, stellte Paul fest. »Dann sieh lieber noch mal hin, es sind eher anderthalb bis zwei Meter«, sagte ein Mann. Auch ein Deutscher. Sein Englisch war so schlecht, daß Paul ihn kaum verstand. Benno schrieb etwas in sein kleines Notizbuch. Er war aufgeregt. »Wir machen das nicht zum Vergnügen«, sagte er zu seinen Besuchern. »Wir untersuchen die Schäden und die Art und Weise, wie Dynamit wirkt. Das Verkünden der Idee verlangt weitaus mehr als nur große Worte.« Sein Blick fiel auf Paul. »Ich will dir keine Angst einjagen, aber eines solltest du besser glauben: Wenn dein Onkel uns nicht ohne Blutvergießen geben will, was wir haben wollen, dann wird er sein eigenes Blut zu schmecken bekommen. Er und der ganze Rest.« Joe junior sah Benno mit einem seltsamen gequälten Blick an. Ganz bestimmt kann er seinen eigenen Vater nicht so sehr hassen, um ihm etwas derart Schlimmes anzutun, dachte Paul. Bestimmt liebt er ihn noch ein wenig … »Was genau haben Sie benutzt, um die Hütte zu sprengen?« fragte Paul. »Ganz normales, handelsübliches Dynamit. Jeder kann es kaufen. Auch du. Sicher weißt du, was über Dynamit gesagt wird. Es ist sehr demokratisch und macht alle Menschen gleich.« Seine Freunde stießen Beifallsrufe aus und klatschten in die Hände. Benno genoß diese Reaktion. Dann, unvermittelt, packte er Pauls Arm und verdrehte ihn schmerzhaft.
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»Und auch das sollte dir klar sein. Erzähl kein Wort über das, was du gesehen hast. Niemandem. Klar, Joey?« »Ist schon in Ordnung«, sagte Vetter Joe. »Du brauchst bei uns nicht mitzumachen«, sagte Benno. »Du brauchst noch nicht einmal so zu sein wie wir. Aber wenn du uns verpfeifst, dann wird es schlimm für dich.« Benno schüttelte ihn heftig. »Verstanden?« »Ja, ich verstehe. Ich sage bestimmt nichts.« Benno ließ ihn los. Ein verbrannter Strauch am Rand der letzten Grube qualmte leicht. Der schwarze Rauchfaden wurde eilends vom Wind weggerissen und zerfasert. Paul hatte wirklich Angst. Von nun an nahm er Bennos Drohungen ernst, und zwar jede einzelne. Während der Rückfahrt redeten die beiden Vettern fast überhaupt nicht miteinander. Joe junior lehnte seine Wange gegen das schmutzige Zugfenster und hing seinen Gedanken nach. Und es waren keine glücklichen, davon war Paul überzeugt. Auf dem Hinweg hatte Joe noch Scherze darüber gemacht, daß er Paul mit seinen gefährlichen Freunden bekannt machen würde. Nun schien er von der Demonstration ehrlich erschüttert zu sein. Er hatte gesehen, was Benno Onkel Joe antun konnte. In der Michigan Avenue gingen beide nach einem gemurmelten »Gute Nacht« auf ihre Zimmer. Sie redeten nicht über das, was sie gesehen hatten, nicht an diesem Abend und auch später nicht. Am 28. Oktober, dem Tag, bevor die Ausstellung ihre Tore schloß, öffnete Bürgermeister Carter Harrison auf ein Klopfen die Tür seiner Villa in der Ashland Avenue. Harrison war ein geselliger und beliebter Mann, der häufig Besuch von Anhängern und Arbeitssuchenden erhielt. Diesmal war es kein Anhänger, sondern ein Arbeitsloser namens Prendergast, der überzeugt war, Harrison habe dafür gesorgt, daß er bei der Stadtverwaltung keine Arbeitsstelle erhielt. Prendergast gab drei Schüsse aus seiner Pistole ab. Innerhalb von fünfzehn Minuten war der Bürgermeister verblutet. »Wahnsinn«, sagte Onkel Joe am nächsten Abend. »Auf den Straßen führen Wilde das Regiment. Daß es soweit gekommen ist, haben wir den Sozialisten und Anarchisten zu verdanken.« Joe starrte nur stumm und düster vor sich hin. Paul hingegen dachte, daß Onkel Joe mit dieser Einschätzung nicht ganz unrecht hatte. Die lebhaften Farben des Herbstes, ein tiefroter Himmel und die leuchtendroten Bäume machten der Eintönigkeit des Winters Platz. Die Sonne war eine matte, zitronenfarbene Scheibe hinter dahinjagenden
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dunklen Wolken, und eines Tages blieb sie völlig verschwunden. Für Paul konnte es gar nicht schnell genug kalt werden. Vielleicht gab es an Thanksgiving schon Schnee und Eis. Dieser Feiertag war in Deutschland unbekannt. Der große Präsident Lincoln hatte ihn 1863 geschaffen, um das Überleben der Union und den Sieg ihrer Soldaten zu feiern. Der Nordwind riß das Laub von den Bäumen auf dem Anwesen der Crowns. Als Paul Zeit hatte, half er Carl, die trockenen Blätter zusammenzukehren und sie im Rinnstein der Neunzehnten Straße zu verbrennen. Der süßliche Geruch schwelender Laubhaufen war etwas Neues, Unvergeßliches und machte traurig. Joe junior half niemals bei solchen Arbeiten. Er nannte Paul einen Narren. Arbeitete er denn nicht schon in der Brauerei wie ein Pferd? In der Hoffnung, daß sein Vetter diesen Vorwurf nicht ganz ernst meinte, wehrte Paul sich: »Mir macht es nichts aus. Ich habe mich noch für viele Dinge zu revanchieren.« Obgleich er Onkel Joe nicht mehr die warmen Gefühle entgegenbrachte wie kurz nach seiner Ankunft, meinte er durchaus, was er sagte. Joe junior schüttelte nur überheblich den Kopf und ging einfach weg. Abgesehen von einigen zornigen Reaktionen seines Vetters schien es keine Auswirkungen auf ihre wachsende Freundschaft zu haben, wenn Paul seine geheimsten Gedanken äußerte. Dafür war Paul dankbar. Als die Ausstellung geschlossen wurde, bewahrheitete sich Bennos Prophezeiung. Tausende weiterer Arbeiter wurden entlassen. Sie streiften scharenweise durch die Straßen. Benno und seine Freunde bei Crown prangerten die Not der Arbeitslosen an, aber Paul dachte, daß sie sich insgeheim darüber freuten. Weil nämlich jedes Leid ihrer Sache diente und den Ausbruch von Gewalt und Klassenkämpfen beschleunigte. In seinem Taschenwörterbuch fand Paul ein Wort, das die Haltung Bennos und seiner Freunde treffend beschrieb. Er hatte es zum erstenmal in einer Zeitung gesehen. Das Wort war »Zynismus«. Die Männer betrachteten die herrschende Not mit Zynismus. Aber Paul war nicht mehr so naiv, die Männer für harmlos zu halten.
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31 JOE CROWN Im November 1893 erhielt Joe Crown willkommenen Besuch aus New York. Es war ein alter Freund, den er durch die Republikanische Partei kennengelernt hatte, als sie beide dort aktiv gewesen waren. Carl Schurz war zwölf Jahre älter als Joe. Er war außerdem unwidersprochen der berühmteste Amerikaner deutscher Herkunft. In der Nähe von Köln geboren, hatte er sich in die Revolution von 1848 gestürzt, während er die Universität in Bonn besuchte. Er wanderte in den fünfziger Jahren nach Amerika aus, ließ sich in Wisconsin nieder und trat dort der neuen und idealistischen Republikanischen Partei bei. Als der Krieg ausbrach, arbeitete er bereits als Rechtsanwalt. Er half, Lincolns Nominierung für die Präsidentenwahl abzusichern, hatte kurz den Posten eines Ministers für Spanien inne und kehrte 1862 in seine neue Heimat zurück, um die Unionstruppen zu führen. Er kämpfte im Second Bull Run, Chancellorsville, Gettysburg und verließ die Armee im Range eines Generalmajors. Dann wandte er sich dem Journalismus zu und war Besitzer und Herausgeber des Blattes Westliche Post St. Louis, als er in Missouri zum Senator gewählt wurde. Er war damit der erste deutschstämmige Bürger, der ein derart hohes Amt bekleidete. Nun war er wieder als Journalist tätig. Er war Chefredakteur und Leitartikler des Harper’s Weekly und hatte anläßlich einer seiner Informationsreisen einen Abstecher nach Chicago gemacht. Schurz war ein schlaksiger, gelehrtenhafter Mann mit einem wilden Wust grauer Haare, die nach allen Richtungen von seinem Kopf abstanden. Seine wachen, zuckenden Augen schienen durch die kleinen runden Gläser seiner Brille noch vergrößert zu werden. Er war bei den Crowns wohlgelitten, und Ilsa hieß ihn herzlich im Haus in der Michigan Avenue willkommen. Alle Kinder wurden ihm nacheinander vorgestellt. Schurz hatte für jeden ein Lob übrig und beschäftigte sich vor allem mit Carl, der ihm zu Ehren auf seinen Vornamen getauft worden war. Fritzi kicherte und flirtete schamlos, dann fragte sie, ob sie den Gast einmal nachahmen dürfe. Schurz amüsierte sich darüber, aber Ilsa duldete es nicht. Die ganze Zeit war Joe junior höflich, blieb aber stumm. Das entging seinem Vater nicht. Als Paul vorgestellt wurde, sagte Schurz: »Ich kann deiner Entscheidung, Amerika zu deiner neuen Heimat zu machen, nur Beifall zollen. Ich habe auch diese Entscheidung getroffen, ebenso wie dein Onkel. Damit wären wir schon drei weise Männer, nicht wahr?« Ilsa lachte ein wenig zu laut, und Schurz strahlte. Er war sich seiner eigenen Wichtigkeit
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durchaus bewußt und kehrte sie hervor, wo es eben ging. Die Familie und der Besucher nahmen an diesem Nachmittag ein umfangreiches Mahl ein. Dann zogen Schurz und Joe sich ins Arbeitszimmer zurück und unterhielten sich bei einigen Drinks – HeimatDunkelbier für Joe, Schnaps für Carl – über den Zustand der Nation im besonderen und der Welt im allgemeinen. Daß sie beide Republikaner waren, bedeutete nicht, daß sie in allen Dingen übereinstimmten. Joe gehörte zu den Hunderten und Tausenden von Unionsveteranen, die in unerschütterlicher Treue Präsident Grant unterstützten, obwohl in seinen letzten Amtsjahren zahlreiche Vorwürfe wegen Amtsmißbrauchs und völliger Unfähigkeit gegen ihn erhoben wurden. Schurz hatte damals die Anti-Grant-Fraktion angeführt. Auch andere Themen heizten die Diskussion zwischen den beiden Männern an. Eine Reform des Futterkrippensystems, die Ämtervergabe an Anhänger der gewählten Parteien, war eins davon. Schurz verteidigte den öffentlichen Dienst, aber Joe betrachtete etwas Derartiges lediglich als unerwünschte Einmischung der Regierung. Ein weiteres kontroverses Thema war Kuba. Diese Insel, neunzig Meilen vor Florida gelegen, erregte schon seit Jahren das Interesse und die Besorgnis der Amerikaner. Joe und Schurz waren sich einig, daß Spanien sich im Laufe der Geschichte durch Unterdrückung und mangelhafte Regierung auf seiner Inselkolonie hervorgetan hatte. Sie stimmten darin überein, daß das Bemühen Kubas, das Joch Madrids abzuwerfen, völlig legitim war. Der Kampf hatte Anfang der siebziger Jahre begonnen, als eine zahlenmäßig umfangreiche Gruppe von Exilanten, die kubanische Junta, sich in einer Pension in Manhattan niederließ und von dort aus Gelder sammelte, um Sabotageexpeditionen zu finanzieren. Der sogenannte Zehnjährige Krieg zwischen Spanien und den rebellischen Kolonisten schleppte sich bis zum unheilvollen Friedensvertrag von Zanjón im Jahr 1878 hin. Aber die Freiheit war eine Idee, die sich nicht so leicht unterdrücken ließ. In New York gab es weiterhin eine mächtige Gruppe von Flüchtlingen, die offiziell die Kubanische Revolutionspartei gründeten. Die Rebellen steuerten ihre Aktionen von einem Lagerhaus unweit des New Yorker Hafens aus. Die Anführer waren ein alter Soldat, General Máximo Gómez, und ein junger Journalist und Ideologe, Jose Martí, der im Alter von fünfzehn Jahren zur Strafe für revolutionäre Aktivitäten in einem Steinbruch hatte arbeiten müssen. Es war Martí gewesen, der seit kurzem die Kampagne für ein Cuba libre, ein freies Kuba, anführte. Nun, im Herbst 1893, war die Kampagne wieder zum Stillstand gekommen. Durch die Wirtschaftskrise waren
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zahlreiche Zigarrenfabriken und Ausbeutungsbetriebe geschlossen worden. Stellungslose kubanische Zigarrenarbeiter hatten kein Geld, das sie den Revolutionären hätten spenden können. »Und es hat außerdem noch sein Gutes«, sagte Schurz in Joes Arbeitszimmer. »Wenn Martís Invasionspläne nicht finanziert werden können, dann zerschlagen sie sich vielleicht endgültig.« »Du bist gegen den Sturz eines tyrannischen Regimes? Du bist gegen die Freiheit?« »Ich bin gegen den Imperialismus, der sich unter dieser Fahne versteckt, Joseph. Es gibt eine starke Bewegung in diesem Lande, die genau das tut. Es ist eine Gruppierung, die ständig lauter die Stimme erhebt und an Einfluß gewinnt. Eine Gruppierung, die insgeheim nicht die Ausweitung amerikanischer Freiheiten ersehnt, sondern von neuen Märkten für den Absatz amerikanischer Güter träumt.« Joe schüttelte den Kopf und leerte sein Bierglas. »Diese Nation sollte alles in ihren Kräften Stehende tun, um Kuba zu befreien. Wenn nötig, sollten wir sogar bewaffnete Hilfe anbieten.« »Wie kannst du nur so argumentieren? Wenn nun das Vaterland seine Art von Regierung exportieren wollte, und zwar mit Hilfe einer Armee, die den Erfolg derartiger Unternehmen in Übersee garantieren soll? Lach nicht, das Militär ist in Berlin sehr stark vertreten und übt großen Einfluß aus. Solche Gedanken sind in der Umgebung des Kanzlers durchaus im Schwange.« »Das ist nicht dasselbe, in keiner Weise.« Schurz streckte seine langen Beine aus und wärmte sie am lodernden Feuer des Kamins. »Wie du meinst. Ich habe nicht die Absicht, einen lieben Gastgeber zu verärgern.« Er hob sein kleines Schnapsglas. »Prosit.« Joe hob die Schultern. »Das kubanische Problem läßt sich nicht so einfach lösen, weißt du. Martí und seine Männer erhalten breite Unterstützung. Einige der größten Zeitungen in New York stehen hinter ihnen. Sam Gompers, der einzige Gewerkschaftler, der nicht machtbesessen ist und ständig rotes Gedankengut verbreitet –« »Ich weiß, ich weiß.« Schurz hob besänftigend eine Hand. »Wir können die Frage hier und jetzt doch nicht beantworten. Ich würde viel lieber einen Spaziergang machen.« Vom Fenster sagte Joe: »Es ist sehr kalt. Und es gibt Schnee.« »Ich brauche frische Luft.« So marschierten sie dann, eingepackt in schwere Mäntel, warme Hüte, Ohrenschützer und Handschuhe, an diesem bitterkalten, grauen Nachmittag hinunter zum dunklen, aufgewühlten See.
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»Wie gehen deine Geschäfte, Joseph?« »Es läuft wieder ganz gut.« Er beschrieb das Problem, das sich durch Hexhammers Leitartikel ergeben hatte. »In schlechten Zeiten verlangen die Leute noch viel dringender nach ihrem Bier als je zuvor. Damit hatte er nicht gerechnet.« Joe ging voraus über einen Weg, der zwischen mächtigen Granitblöcken hindurchführte, die nach einem erfolglosen Bauvorhaben einfach liegengelassen worden waren. Die Wellen schlugen gegen die andere Seite, so daß eisiges Wasser auf ihre Hüte spritzte. »Die Arbeitssituation hingegen – das ist eine ganz andere Sache. In der Brauerei nimmt der Druck zu. Ich spüre es, obgleich ich nur selten äußere Anzeichen erkennen kann. Dieser verdammte Eugene Debs und seine neue Gewerkschaft sind teilweise schuld daran.« Joe bezog sich auf die große Amerikanische Eisenbahnergewerkschaft. Sie hatte sich während des Sommers aus mehreren kleinen Eisenbahnervereinen gebildet, und zwar im wesentlichen auf Betreiben eines Arbeiterführers aus Indiana. »Ich habe Debs bisher noch nicht kennengelernt«, sagte Schurz. »Es heißt, er sei ein guter Mann – fast ein Heiliger.« Joe schnaubte. »Hat er viele Anhänger in Chicago?« »Nicht unter meinen Freunden. Er ist Sozialist und macht daraus kein Geheimnis.« Joe umrundete einen Granitblock, in den jemand einen Sims gemeißelt hatte. Er blickte hinaus auf den riesigen See, der kalt und abweisend dalag. »Ich habe in der Brauerei ein mehr persönliches Problem. Es gibt da eine radikale Gruppierung, und mein ältester Sohn, Joe, sympathisiert mit ihr.« Schurz Wangen leuchteten tiefrot vom Wind. Die beiden Freunde standen nebeneinander auf dem Sims, die behandschuhten Hände in den Manteltaschen. »Joseph, eines solltest du nicht vergessen – damals, ‘48, gehörte auch ich mal zu den radikalen Elementen im Staate.« Als hätte er Schurz’ Bemerkung gar nicht gehört, fuhr Joe fort: »Ich würde Joe am liebsten bestrafen – ihn sofort aus der Brauerei herausholen – , aber ich fürchte, daß ich ihn diesen Leuten dann erst recht in die Arme treibe. Er ist in vieler Hinsicht ein kluger Junge, aber andererseits kann er auch sehr dumm sein. Ich hoffe, daß er irgendwann vernünftig wird. Offen gesagt, habe ich manchmal den Eindruck, als sei er überhaupt nicht mein Kind.« Er wandte sich um, betrachtete die dunkle Häusersilhouette der Stadt. Sie waren ziemlich weit gegangen. Er konnte über den Granitblöcken das zehnstöckige Auditorium-Hotel in der Congress-Straße erkennen und nach Norden und in direkter Nähe das eindrucksvolle Studebaker-Gebäude.
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»Es ist jetzt zwanzig Jahre her, daß ich nach Chicago kam – und sechsunddreißig, daß ich den Boden dieses Landes betrat –, und ich erkenne beide kaum wieder. Ich weiß nicht, was ich mit der Welt von heute anfangen soll, was ich von ihr zu erwarten habe. Elektrisches Licht. Telephone. Bilder, die wie durch ein Wunder aus dem kleinen schwarzen Kasten Eastmans herauskommen. Alle fahren wie die Wilden auf Rädern umher – man redet sogar schon von Kutschen, die von Maschinen angetrieben und nicht mehr von Pferden gezogen werden; kannst du dir so etwas vorstellen? In Artikeln schreiben sie sogar von Maschinen, die durch die Luft fliegen! Sieh dir nur die Stadt an. Was siehst du dort? Arbeiter, die anständig bezahlt und gut behandelt werden und trotzdem ihren Arbeitgebern ins Gesicht spucken. Häuser, in denen all die bereitwillig aufgenommen werden, die die Gesellschaft zerstören wollen – die ihre Parolen öffentlich verkünden dürfen und dafür auch noch Applaus erhalten! Es gibt Clubs und Universitäten für Frauen – Frauen, die in die Küche und ins Kinderzimmer gehören! Carl, was geschieht da?« »Ich denke, es ist das Alter. Wir werden älter, du und ich, während der Fortschritt weitergeht.« Joe Crown fluchte. Er tat es selten, aber wenn er sich einmal dazu hinreißen ließ, dann benutzte er bissige, scharfe, verletzende Wörter der deutschen Sprache. Schurz schwieg dazu. Einige Menschen wurden mit zunehmendem Alter geradezu erzkonservativ, und offensichtlich gehörte sein Freund zu diesen Leuten. Dies minderte Schurz’ Zuneigung jedoch nicht. Joe Crown war ein feiner Mann. In der Ausübung seiner Geschäfte war er absolut ehrlich und zuverlässig. Er war ein fürsorglicher Vater und zuvorkommender Ehemann. Schurz brauchte sich den politischen und gesellschaftlichen Ansichten seines Freundes nicht anzuschließen, um zu verstehen, wie sehr er unter beidem litt. Joes Zorn verrauchte. Er wirkte traurig, ratlos. Sein Besucher sah ihn fragend an. »Deine Befürchtungen wegen der Brauerei – meinst du wirklich, daß es dort Ärger geben wird?« »Wenn sie mich weiterhin angreifen – wenn sie ihre Forderungen immer höher schrauben –, dann ja. Die Krise macht die Roten nur noch rücksichtsloser, unverschämter. Sie wollen beweisen, daß sie ihre Programme um jeden Preis durchsetzen können, während ehrliche Unternehmer und Geschäftsleute scheitern.« »Du befürchtest doch wohl keine gewalttätigen Ausschreitungen, oder etwa doch? So weit wird es doch nicht kommen.«
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»Alles ist möglich.« »Nun, ich wünsche und hoffe, daß dein Sohn nicht darin verwickelt wird.« »Wer weiß? Im Augenblick will er nichts mehr von mir wissen.« »Junge Männer haben des öfteren mit ihren Vätern Meinungsverschiedenheiten. So etwas scheint einfach dazuzugehören, wenn man heranwächst.« »Tatsächlich? Auch diese Verachtung für alles, was ich ihm gegeben habe? Für alles, was ich ihm bieten kann? O nein!« Joe Crowns Hut wurde ihm plötzlich vom Kopf geweht. Gewandt sprang er von dem Steinsims herunter und fing ihn auf, als er gerade Anstalten machte, über die gefrorene Erde davonzutanzen. Während Joe den Hut wieder aufsetzte, blinzelte er plötzlich und streckte die Zunge heraus, um etwas in der Luft zu schmecken. Schurz nahm es ebenfalls wahr. Er streifte einen Handschuh ab und berührte seine Wange. »Schnee.« »Ja.« Aus dem Norden, wo der Himmel sich schiefergrau gefärbt hatte, wehten winzige Schneeflocken heran, die ständig dicker wurden. »Ein Zeichen, daß der Winter vor der Tür steht, Carl. Vielleicht läßt Joe junior uns nun für ein paar Monate in Frieden. Er liebt diese Jahreszeit und verbringt jede freie Minute draußen unter freiem Himmel. Er läuft gerne Schlittschuh. Mein Neffe hat sich auch so ein Paar Dinger gekauft. Erst gestern hat er sie mir gezeigt. Er wollte wissen, wie lange es noch dauert, bis die Teiche im Lincoln-Park zugefroren sind. Komm, wir sollten nach Hause zurückgehen.« 32 PAUL Tief über dem Horizont stand der riesige Wintermond und tauchte das Eis in blaßgoldenes Licht. Der Wind bewegte die Baumäste über der Uferböschung, wo Paul saß und mit klammen Fingern seine Schlittschuhe anschnallte. In seiner Nähe versuchte Joe junior gegen die Kälte anzukämpfen, indem er auf der Stelle trampelte und mit den Armen schlug. Sein Atem gefror. Es war halb sechs Uhr morgens. »Das ist verrückt, Paul. Du kannst doch gar nicht Schlittschuh laufen.« »Wenn ich nicht Schlittschuh laufen kann, dann kann ich sie auch nicht treffen. Das hast du selbst gesagt.«
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»Ich habe auch gesagt, daß es keinen verdammten Unterschied macht, ob du sie triffst. Vanderhoff verabscheut Deutsche, Bohunks, Iren – alle. Vor allem haßt er Pa.« »Das ist mir gleich. Ich werde sie treffen. Hilfst du mir mal hoch?« Vetter Joe reichte ihm die Hand, und Paul hielt sich daran fest und kämpfte sich auf die Schlittschuhe. Der Lincoln-Park lag einsam und verlassen im Mondlicht. Mit dem linken Schlittschuh machte Paul einen kleinen Schritt auf dem Erdboden. Seine Beine waren kräftig, aber seine Fußgelenke wackelten noch immer bedenklich. Ein weiterer kurzer Schritt brachte den rechten Schlittschuh bis an den Rand der Eisfläche des Teichs. »Ich weiß nicht, ob das Eis schon dick genug ist«, sagte Joe junior. »Es hat erst vorgestern angefangen zu frieren.« »Egal, ich muß es trotzdem versuchen.« Pauls Wangen fühlten sich an wie rohes Fleisch. Sein wollener Wintermantel kam ihm vor, als sei er nicht dicker als Zeitungspapier. Er zog sich die Wollmütze über die schmerzenden Ohren und streifte sich Wollhandschuhe über. Er stellte den linken Schlittschuh aufs Eis, dann den rechten. Sein linkes Fußgelenk knickte um. Er stürzte. »Mein Gott, das klappt doch niemals.« »Hilf mir aufstehen, Joe. Ich will Schlittschuh laufen lernen.« »Und bei dem Versuch sterben.« Aber Joe reichte Paul wieder die Hand. Er bewegte sich auf seinen Schlittschuhen ohne Mühe. Paul schwankte und schaffte es kaum, das Gleichgewicht zu halten. »Gib mir mal bitte einen Stoß. Vielleicht kann ich dann ein Stück weit gleiten.« Joe schob ihn in Gesäßhöhe von hinten an. Paul rutschte etwa einen Meter weit, wobei seine Kufen in der Stille über das Eis scharrten. In der Ferne heulte die Dampfpfeife eines Eisenbahnzugs. Der Ton stieg zu tausend funkelnden Sternen empor. »Es klappt, ich gleite!« rief Paul. Mit einem Freudenschrei ruderte er mit den Armen. Er stürzte. Diesmal schaffte er es, ohne Hilfe aufzustehen. »Setz dich, Joe, ruh dich aus. Jetzt übe ich allein.« »Wenn du das tust, dann sind wir Weihnachten noch immer hier.« Joe kurvte zum Ufer zurück, setzte sich dort auf die Böschung und schlang die Arme um seine Knie, um sich warm zu halten. Paul machte mit dem rechten Fuß einen Schlittschuhschritt und fiel hin. Er rappelte sich auf und versuchte es erneut. Er stürzte wieder. Schon bald tat sein Hinterteil schrecklich weh. Aber er versuchte es weiter. Er fiel insgesamt siebzehnmal hin, ehe es ihm gelang, drei Meter
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weit zur Mitte des Teichs zu gleiten. Der Mond, der allmählich am Himmel hochstieg, wechselte seine Farbe von Gold zu fahlem Weiß. Das Eis knisterte unter Pauls Schlittschuhkufen. »Joe, sieh doch, ich bleibe oben. Ich lerne, wie es geht!« rief er. Er stieß sich wieder mit einem Fuß ab und segelte noch weiter zur Teichmitte. Das Eis knisterte immer lauter. Eisige Luft peitschte ihm ins Gesicht. Er lachte begeistert, segelte weiter – Das Eis brach. Er versank im schwarzen Wasser und hörte Joe schreien, während er untertauchte. Seine Kleider zogen ihn hinab. Das eisige Wasser erschreckte ihn. Aber er war schon immer ein passabler Schwimmer gewesen, und er war stark. Er berührte den Teichgrund, zog die Beine an und stieß sich nach oben ab. Er hob die rechte Hand über den Kopf und ertastete das Eis. Es zerbrach in dem Moment, als er zupacken wollte. O mein Gott, dachte er, ich bin geliefert. Und versank wieder. Jemand faßte seinen Arm, stoppte seinen Untergang. Joe junior, der unsicher auf dem Eis balancierte, das gefährlich krachte und knisterte und jeden Moment wieder zu brechen drohte, zog ihn mit reiner Kraft halbwegs aus dem Loch. Dann brach das Eis erneut. Beide Jungen ruderten im Wasser herum und spritzten silbrige Tropfen in die Luft. Joe junior bewahrte einen kühlen Kopf. Er wußte, auf welcher Seite des Lochs das Eis wahrscheinlich dicker war. Dort schaffte er es hinauszuklettern. Er zerrte Paul hinter sich her. »Mein Gott, wie verdammt dämlich das war!« keuchte er. Dann lachte er. »Du siehst vielleicht aus!« Pauls triefende Wollmütze war ihm über ein Auge gerutscht. »Du aber auch.« Sie lachten beide schallend. Pauls Zähne begannen klappernd aufeinanderzuschlagen. »Das reicht wohl für heute«, stellte sein Vetter fest. »Wir gehen in die Brauerei. Der Nachtwächter läßt uns sicher rein. Wir können uns dort abtrocknen, ehe die Schicht beginnt.« Paul folgte seinem Vetter zum Ufer. Dabei schaffte er wieder ein paar Schlittschuhschritte. »Aber morgen bin ich wieder hier.« »Ich fürchte, das ist dein Ernst.« »Ich werde sie treffen, Joe. Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn ich hier lerne und übe.« »Du erwartest, daß ich zu Hause bleibe und dich ertrinken lasse? Ein oder zwei tote Kapitalisten würden mein Gewissen nicht im mindesten belasten, aber ein toter Vetter – das ist etwas ganz anderes.«
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Joe junior stieß ihn an. »Da ist sie.« Es war an einem Sonntagnachmittag im Dezember. Es war sehr kalt. Aber die Sonne schien. Aus einem großen Pavillon am Ostufer des Teichs drang die beschwingte Melodie von Grandfather’s Clock, gespielt auf einer Drehorgel, zu ihnen herüber. Trotz der Kälte wurde es Paul ganz warm. Vielleicht lag es an seiner Nervosität und Erregung. Auf dem Eis wimmelte es von Schlittschuhläufern, Jungen und Mädchen, Familien mit Kindern, einige langsam dahingleitend, andere zügig ihre Kreise ziehend und zwischen den anderen herumkurvend. Trotzdem war es unmöglich, Juliette Vanderhoff zu übersehen. Sie hielt sich in einem kleineren Pavillon am nahegelegenen Ufer auf. Der Pavillon war dunkelgrün und hatte in der Mitte einen gemauerten Kamin mit Schornstein. Ein Holzfeuer loderte darin. Am Dachüberstand hing ein Schild. SCHLITTSCHUHCLUB LINCOLN-PARK – Nur für Mitglieder – Juliette Vanderhoff wärmte sich in dem Pavillon auf. Sie war durch ihr Cape und die große Kapuze aus rotem Samt schon von weitem zu erkennen. Sieben oder acht junge Männer umringten sie lachend und schwatzend. Die jungen Männer sahen allesamt elegant und wohlhabend aus. »Wir müssen rübergehen«, sagte Paul. »Du kannst sie ja daran erinnern, daß wir uns in diesem Sommer kennengelernt haben.« »Na schön, aber du hast große Konkurrenz. Ein ganzer Haufen feiner Pinkel!« »Feine Pinkel?« »Reiche Jungs. Aber keine Angst, was hast du schon zu verlieren!« Alles, dachte Paul. Sie stiegen hinunter aufs Eis. Paul konnte mittlerweile einigermaßen geschickt Schlittschuh laufen. In langen Übungsnächten hatte er an Sicherheit gewonnen. »He, Julie, hallo!« rief Joe junior, während sie mit klappernden Kufen den Clubpavillon betraten, wobei ihre Schlittschuhe über die Steinplatten scharrten. Er drängte zwei ihrer Verehrer beiseite. »Erinnerst du dich noch an meinen Vetter Paul?« Paul riß sich die Mütze vom Kopf und wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Die grauen Augen, das reizende warme Lächeln verhexten ihn völlig. Ihr üppiges schwarzes Haar schimmerte unter der Kapuze hervor. »Aber ja, der deutsche Junge.« Das Wort »Junge« zerstörte ihn am
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Boden. Sie streckte ihm ihre Hand im schwarzen Handschuh entgegen. »Wie schön, daß ich dich mal wiedersehe.« Sie reichten sich die Hände. Zu den anderen gewandt, sagte sie: »Das ist der Vetter von Joseph, Paul Crown.« Paul spürte die Blicke der anderen jungen Männer auf sich. Ein hochgewachsener grinsender Blondschopf schlug ihm auf die Schulter. »Hallo, Dutch. Julie, sollen wir wieder aufs Eis gehen?« »Natürlich.« Sie lächelte den blonden Jungen an, allerdings schien sie vorher Paul einen verheißungsvollen Blick zuzuwerfen. »Paul, das ist Strickland Welliver II. Er ist unser Clubmeister im Eisschnellauf.« »Paß auf, wie gleich das Eis qualmt«, sagte Welliver mit überheblicher Miene. Er legte eine Hand besitzergreifend auf Julies Arm. Beeil dich, sag was. Wenn er sich jetzt nicht rührte, würde Welliver mit ihr von dannen ziehen, und seine Chance wäre vertan. »Miss Vanderhoff, ich glaube, vorher sollten Sie mich begleiten«, sagte er und kämpfte gleichermaßen mit der englischen Sprache und mit seinen Nerven. »Da drüben wartet ein Parkwächter, der Sie sprechen möchte.« Strickland Welliver runzelte die Stirn. »Wer?« Joe junior bekam einen Hustenanfall. »Ein Polizist – so heißt es doch bei Ihnen, nicht wahr?« Paul deutete auf den dicht bevölkerten Teich. »Gleich da drüben. Wenn Sie kurz mitkommen würden.« Obgleich er befürchtete, daß sie ihm eine Ohrfeige geben würde, faßte er trotzdem nach ihrem Arm. Ihre grauen Augen musterten ihn prüfend, neugierig, überrascht, dann erfreut. »In Ordnung. Entschuldigt mich, Strickland – Joe – alle miteinander.« Sie folgte Paul aus dem Pavillon hinaus und in den Sonnenschein. Sie liefen Schlittschuh. Sie glitten über den Teich, ließen sich vom Strom der anderen Läufer mitziehen und fuhren ihre Runden entgegen dem Uhrzeigersinn. Sie hielten auf den Pavillon zu, wo der Orgelspieler gerade das Lied The Bowery beendete und eine schnelle Version von Old Black Joe anstimmte. Julies Wangen leuchteten hellrot. Sie lief mit kurzen, knappen Schritten, und ihr Oberkörper schien ohne Mühe oder irgendeine Verbindung mit ihren Beinen dahinzuschweben. Paul war völlig verkrampft und hatte ständig Angst zu stürzen. Julie überschattete ihre Augen. »Wo ist der Beamte? Ich sehe ihn nicht.« »Nun –« Paul ertrug es nicht mehr. Er bremste. Sie prallte gegen ihn. »Oh«, sagte sie leise, wich etwas zurück, blieb aber trotzdem dicht bei
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ihm. Sie waren gleichgroß. Der Hauch ihres Atems mischte sich. Aus der Nähe erschienen ihre grauen Augen riesengroß. Paul fühlte, daß sich zwischen seinen Beinen etwas regte. »Miss Vanderhoff, ich muß Ihnen etwas gestehen. Es gibt keinen Polizisten. Ich habe es nur gesagt, um Sie von den anderen wegzuholen.« »Das ist sehr raffiniert. Und gewagt –« »Aber wenn dort ein Polizist wäre, dann würde er Sie sicherlich sprechen wollen, weil –« Er schluckte und riskierte alles. »Sie sind sehr schön, verzeihen Sie, ich bin so nervös –, Sie sind sogar wunderschön.« »Nun, vielen Dank, Paul.« Sie schien nicht verärgert zu sein, eher gerührt. Sie schaute zurück zum Clubpavillon, von wo Strickland Welliver sie beobachtete. Er hatte die behandschuhten Hände in die Hüften gestemmt. »Du bist ein äußerst ungewöhnlicher junger Mann, Paul. Höflich, aber auch gewitzt.« »So jung bin ich gar nicht, Miss –« »Wir wurden offiziell miteinander bekannt gemacht, du mußt Julie zu mir sagen.« »Julie.« Allein der Klang ihres Namens, der ihm zum erstenmal in ihrer Gegenwart über die Lippen kam, brachte ihn fast um den Verstand. »Du hast mich einen jungen Mann genannt – nun, so jung bin ich nicht. Ich bin schon sechzehn.« »Ich auch. Ich hatte am 28. Mai Geburtstag.« »Ich am 15. Juni.« »Dann bin ich älter. Mal sehen – genau achtzehn Tage. Also wirst du wohl immer tun müssen, was ich von dir verlange.« In ihren Augen tanzte ein belustigtes Funkeln. »Paul – ich muß dir auch ein Geständnis machen.« Sie wartete, bis zwei junge Männer an ihnen vorbeigeglitten waren. »Ich wußte, daß es gar keinen Polizisten gab. Aber ich habe mich gefreut, daß du einen erfunden hast.« Ihr Atem streifte ihn und verströmte einen schwachen, süßlichen Zwiebelgeruch. Ihr rotes Cape flatterte gegen seinen Mantel. Für einen kurzen Moment spürte er die weiche Wölbung ihrer Brust. In seinem Kopf entstand ein Dröhnen. »Paul?« »Ja? Ja?« »Sollen wir noch ein wenig Schlittschuh laufen?« Sie bemerkte, daß er ungeübt war, und lief langsam. Er hielt das Tempo, ohne zu stürzen. Daß sie seine ziemlich plumpe List hingenommen hatte, lockerte die anfängliche Verlegenheit zwischen ihnen ein wenig. Joe lief an
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ihnen vorbei, rückwärts. Sein gerötetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er winkte ihnen zu und lief weiterhin rückwärts, wobei er wie durch ein Wunder mit niemandem zusammenstieß. »Du sprichst sehr gut englisch«, sagte sie. »Vielen Dank. Ich habe es eifrig gelernt, ganz allein und mit – einem Hauslehrer.« Verlegen murmelte er: »Ich kenne das englische Wort dafür nicht mehr.« Sie sagte es ihm. »Du meinst einen Tutor?« »Ja, das ist das Wort. Ich hatte einen Tutor. Danke schön.« Sie liefen weiter. »Arbeitest du jetzt in der Brauerei Crown?« »Ja. Der Sonntag ist mein freier Tag.« Sie liefen Schlittschuh. »Ich mag deinen Vetter Joe. Er ist ein guter Freund. Er ist sehr intelligent. Ich glaube, er liest sehr viel, nicht wahr? Einige seiner Ideen sind ziemlich beunruhigend, aber ich höre ihm immer gerne zu. Ich wünschte, ich könnte ihn öfter sehen. Ich fürchte, mein Vater hat etwas – hmm … gegen Leute, die noch nicht so lange in diesem Land leben wie unsere Familie. Die ersten Vanderhoffs kamen schon vor der Revolution nach Connecticut.« »Du mußt sicherlich immer tun, was dein Vater wünscht, nehme ich an.« »Das ist richtig. Von Töchtern in meinem Alter wird Gehorsam verlangt.« Sie liefen Schlittschuh. »Ich dachte schon, ich käme heute nachmittag nicht von zu Hause weg«, sagte sie. »Meine Mutter ist mal wieder bettlägerig. Sie ist ziemlich krank.« »Das tut mir leid.« »Danke für die Anteilnahme.« »Kam es überraschend?« »O nein. Mama hat ein chronisches Leiden. Es heißt Neurasthenie. Das sind schlimme Erschöpfungszustände der Nerven und des Gehirns. Dann versinkt sie immer in einer düsteren Stimmung. Manchmal redet sie tagelang nicht mit uns. Ich finde es ganz schrecklich, aber Dr. Woodrow meint, bei Frauen sei das ganz normal. Meine Tante Willis, die in New York wohnt, sagt, das sei Unsinn, aber Vater glaubt ihr nicht. Er verabscheut Tante Willis’ Auffassungen. Sie besucht uns zweimal im Jahr. Auch das gefällt ihm nicht.« »Magst du deine Tante?« »Sehr sogar, obgleich einige ihrer Ansichten ziemlich ungewöhnlich sind. Sie erinnert mich in vielem an deinen Vetter.«
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Sie liefen weiter. »Wie gefällt dir Amerika?« Seit er seinen kleinen Schwindel zugegeben hatte, ahnte er, daß er ehrlich zu ihr sein konnte. »Mir gefällt es nicht so gut, wie ich anfangs erwartet hatte.« Er lächelte. »Aber jetzt bin ich schon viel lieber hier.« Ein Mann lief vorbei, vollführte eine gekonnte Drehung auf der Stelle und schien sich gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu bewegen. Er war etwa mittelgroß, trug eine Melone, einen langen Schal aus dunkelblauer Wolle, teure Schweinslederhandschuhe und unter seinem zweireihigen Tweedanzug einen Rollkragenpullover. Paul hätte überhaupt nicht auf ihn geachtet, wäre da nicht noch etwas Besonderes gewesen. Der Mann trug außerdem ein Monokel an einem langen Band. Er schien sich für Julie zu interessieren. Paul sah ihn flüchtig an. Der Mann lächelte und bog abrupt nach links ab. Paul vergaß ihn wieder. Ein Kastanienverkäufer schob seinen kleinen Karren am Ufer entlang und rief seine Ware aus. Die Drehorgel spielte Daisy Bell, einen Schlager vom Vorjahr. Man hörte ihn immer noch überall. Fritzi sagte, es sei das ideale Schlittschuhlied und eigens dafür geschrieben worden. Julie sah Paul an. Er betrachtete sie … »Paß auf, du Idiot.« Ein fettes Kindermädchen schaffte es gerade noch, auszuweichen und ein Kind auf winzigen Schlittschuhen hinter sich herzuziehen. Paul machte vor Schreck eine heftige Bewegung, er stolperte und stürzte auf die Uferböschung. Julie schaffte es geschickt, dort anzuhalten, wo die Eisfläche zu Ende war. Beschämt kämpfte Paul sich hoch und klopfte seine Hose ab. »Ich fürchte, ich bin kein guter Schlittschuhläufer.« »Du hast doch gesagt, du seist in Berlin viel gelaufen.« »Daran erinnerst du dich noch?« »Natürlich.« »Juliette – das – es war nur ein weiteres Märchen. Ich wollte – ach! –, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« »Das Wort heißt ›beeindrucken‹.« »Ja. Ich wollte dich beeindrucken.« Mit einem freundlichen Lächeln legte sie ihre behandschuhte Hand auf seinen Arm. »Das hast du auch.« Der blonde Mr. Strickland Welliver II. kam aus der untergehenden Sonne herausgeschossen und machte sich bei Julie bemerkbar, während er eine makellose Acht auf das Eis zeichnete. »Willst du den ganzen Tag mit ihm herumschleichen?« »Nein, Strickland, nun sei doch nicht so ungeduldig.« Zu Paul sagte sie
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flüsternd: »Wenn du möchtest, kann ich dir am nächsten Sonntag ein paar Schlittschuhtips geben.« »Ja! Wunderbar!« Aber wie sollte er sieben lange Tage überstehen, ohne sie zu sehen? »Auf Wiedersehen, Paul. Vielen Dank.« Sie drückte seine Hand und entfernte sich, verfolgt von dem jungen blonden Gott namens Strickland Welliver. In der dicht besetzten Straßenbahn, die ratternd auf der State-Straße nach Süden rollte, platzte Paul vor seinem Vetter mit seinem Geheimnis heraus. »Ich liebe dieses Mädchen. Ich habe mich in sie verknallt.« »Du bist verrückt.« »Nein, verliebt.« »Dann, mein Freund, steckst du in der Tinte. Sie mag dich ja gern haben, aber wenn Papa Pork es herausbekommt, dann bringt er es fertig, sie zu verprügeln und dich gleich mit. Habe ich dir nicht erzählt, daß der alte Vanderhoff alle Fremden haßt? Er verabscheut jeden, der kein blaues Blut in den Adern hat – und damit auch uns.« Paul träumte so sehr von Julies Augen, ihrem schwarzen Haar, dem herrlich geformten Busen, daß er die Warnung kaum wahrnahm.
33 ELSTREE Er lief langsam Schlittschuh. Seine Beute an diesem Nachmittag war sehr mager. Was eigentlich ein großes Pech war, denn die Umstände waren ideal. Er sah keinen Bekannten außer Vanderhoffs Tochter, die längst nach Hause gegangen war. Er ließ die eifrigeren Schlittschuhläufer vorbei, damit er das potentielle Angebot um so besser studieren konnte. Die Abenddämmerung senkte sich herab und brachte Feuchtigkeit und Kälte mit. Ein alter Parkwächter stellte Holzfeuer in Blechfässern rund um den Teich auf. Die Flammen spiegelten sich im Monokel des Eisläufers wider. Wahrscheinlich war es dumm von ihm, ein Monokel zu tragen, da er damit die Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber ihm gefiel die vornehme Ausstrahlung, die es erzeugte. Man konnte es natürlich auch noch anders betrachten. Falls jemand sich auf sein Monokel konzentrierte und sich daran erinnerte, dann vergaß er wahrscheinlich sein Gesicht. Dennoch blieb ein gewisses Risiko, das er genoß. Es war die Würze dieses Unternehmens. Er dachte an die kleine Vanderhoff, Juliette mit Namen. Sie war mit
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einem jungen Mann mit blauen Augen, rötlichbraunem Haar und kräftiger Statur Schlittschuh gelaufen. Er war eifersüchtig auf den Jungen, sagte sich aber, selbst wenn Miss Vanderhoff ohne Begleitung gewesen wäre, hätte er sie wohl kaum ansprechen können. Sie hätte sich möglicherweise an ihn erinnert. Es war zwar unwahrscheinlich, aber es hätte passieren können. Er war ihr vor drei Jahren einmal in der Garderobe des Auditoriums vorgestellt worden, wohin Vanderhoff und seine affektierte Frau aus dem Süden ihre Tochter zu einem Symphoniekonzert mit Werken von Wagner mitgenommen hatten. »Juliette«, sagte ihr Vater damals, »darf ich dir Mr. William Vann Elstree III. vorstellen? Seiner Familie gehört das Kaufhaus, das deine Mutter so gerne aufsucht – zum großen Verdruß von Mr. Marshall Field.« Er konnte sich noch lebhaft an Juliettes jugendliche Schönheit an diesem Abend erinnern. An das Kleid, das sie trug – ein jungfräuliches Weiß, das zu den Aigretten in ihrem ungewöhnlich schwarzen Haar paßte. Damals waren ihre Brüste nicht mehr als zarte Knospen gewesen, die erst allmählich aufblühten. Die Erinnerung daran erregte ihn, während er Schlittschuh lief. Wie sehr er sich doch wünschte, dieses schwarze Haar gelöst zu sehen, wie es fließend ihre weiße Nacktheit umspielte. Gern hätte er gesehen, ob sie das gleiche schwarze Haar genauso üppig auch an anderen Körperstellen … Ach, was half’s, davon zu träumen? Er war durchaus bereit, gewisse Risiken einzugehen, aber wenn eine Frau unmöglich zu haben war, verzichtete er. Dennoch hatte er Mühe, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Er streifte seine Handschuhe ab und wärmte seine Hände an einem der Feuerfässer. Schweiß bedeckte sein Gesicht. Aber nicht von den heißen Flammen. Custom House Place von der Harrison- bis zur Zwölften Straße war das eleganteste Laster- und Vergnügungsviertel von Chicago, eines der berühmtesten in ganz Amerika. Es war eine Gegend, die von der ständig wachsenden Krise völlig unberührt blieb. Diese Beobachtung machte Elstree, als seine Kutsche am Bordstein vor dem Society Club anhielt. Für einen kalten Sonntagabend herrschte auf der Straße lebhafter Betrieb. Andere Pferdewagen und viele Fußgänger. Die meisten Etablissements am Custom House Place bedienten eine gehobenere Klientel. Es gab einige Spelunken, aber die wurden von den anderen Eigentümern streng überwacht. Ein Gentleman konnte sich hier
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vergleichsweise sicher bewegen. Dennoch ließ er es nie darauf ankommen. Er trug stets eine kleine Pistole bei sich. Der über zwei Meter große Portier des Clubs, ein Mann mit mahagonifarbener Haut und langem weißem Bart, eilte die breite Eingangstreppe hinunter und öffnete die Kutschentür. »Guten Abend, Sir. Willkommen zu Hause.« Elstree sprang aus der Kutsche und bezahlte den Fahrer. Er trug jetzt Abendkleidung: weiße Krawatte, hoher Zylinder, kurzes Cape, Handschuhe. Er sah elegant aus. »Guten Abend, Johannes.« Jeder nannte den Portier nur Johannes den Täufer. Die Betreiber des Clubs erzählten, er sei ein Parse aus Kalkutta. Er trug eine verblichene Livree, die aus dem Kostümfundus eines Theaters stammte. Verziert war die Uniform mit einer blauen Seidenschärpe, hinter der ein Dolch mit Scheide steckte. »Heute ist offenbar wieder eine Sondervorstellung fällig.« »Ja, Sir. Wir haben schon ziemlich viel Betrieb. Das wird eine tolle Show heute abend. Es geht gleich los. Beeilen Sie sich.« Elstree stieg die von flackernden Gaslaternen beleuchtete Treppe empor – noch gab es hier keinen elektrischen Strom – und klopfte an eine mit Schnitzereien verzierte Tür. Ein anderer Angestellter in Livree öffnete die Tür zu einem Foyer, das im gepflegten, dezenten Stil einer eleganten Privatwohnung möbliert war. Das einzige aus dem Rahmen fallende in dieser Umgebung war ein Papagei in einem Käfig, der an einem Ständer hing. Der Vogel stieß einen schrillen Pfiff aus, legte den Kopf schief und krähte: »Willkommen, Mister, willkommen, Mister.« »Hallo, mein Freund. Auf die Sekunde pünktlich, nicht wahr?« Aus einem Salon rechts von Elstree kam eine kleine, zierlich gebaute Frau. Sie war mindestens sechzig Jahre alt und trug ein elegantes Kleid in Großmuttergrau. Sie ergriff seine Hand, drückte sie. »Wir freuen uns, Sie wieder bei uns zu sehen.« Er reichte sein Cape, Hut und Handschuhe dem Lakaien, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Danke, Sue. Sind wir oben im Salon?« Little Sue, die weißer Hautfarbe war, leitete das Bordell in gleichrangiger Partnerschaft zusammen mit Big Sue, einer Farbigen. »Nein, hinten im Billardzimmer. Wir mußten den Tisch herausholen. Es sind zu viele Besucher gekommen. Ich habe für diesen Spaß ein Mädchen aus dem Levee hergebracht. Da unten wird sie von allen Beefsteak Bert genannt; sie ist kräftig. Eine kleinere würde die Nummer heute nicht durchstehen.«
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Little Sue zwinkerte ihm zu, ein erster Verstoß gegen ihre auf Großmutter getrimmte Erscheinung und Rolle. Elstree lachte verhalten. »Heute der übliche Preis?« »Richtig, fünfundsiebzig. Wir setzen es auf Ihre Rechnung. Gehen Sie nur nach hinten, dort wird noch Champagner ausgeschenkt.« Im Society Club war dies das einzige Getränk, das ständig angeboten wurde. Whiskey oder Bier mußte vom jeweiligen Gast lange im voraus bestellt werden, und das auch noch zu exorbitanten Preisen. Elstree eilte durch den schlecht beleuchteten Korridor, dessen kastanienfarbene Wandbespannung mit lotusähnlichen Blüten gemustert war. In einem verrauchten Raum am Ende des Korridors saßen und standen mehrere Gentlemen mit einem Glas Champagner herum. Er hörte ein Knurren. In die Anwesenden geriet Bewegung, und er sah einen vierschrötigen kleinen Mann mit Stoppelbart, der sich an eine lange Leine klammerte. Am anderen Ende der Leine befand sich ein mächtiger gelbbrauner Boxerhund. Elstree blieb stehen, als sich rechts von ihm eine Tür zu einem Nebenraum öffnete. Eine dröhnende Stimme begrüßte ihn. »Sieh mal an, wer da ist. Bill! Bei Gott, jetzt ist wenigstens auch etwas Klasse da.« »Sei so nett und schrei meinen Namen nicht so laut, Sue«, sagte Elstree, obgleich im Billardzimmer so viel Lärm herrschte, daß zu bezweifeln war, daß jemand den kurzen Dialog mitgehört hatte. Er betrat den Raum. Big Sue, eine dreihundert Pfund schwere Frau, trug ein schwarzes Bombasinkleid mit langen Ärmeln und einem hohen Kragen, der von einem breiten Brillanthalsband gehalten wurde. Sie verströmte einen betäubend süßen Parfümduft. »Wie geht es Ihnen?« fragte sie. Big Sue war immer gutgelaunt und freundlich, und wenn er auch nicht viel für Neger übrig hatte, mußte er doch zugeben, daß sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau war. »Mir geht es sicherlich besser, wenn ich erst mal ein paar Stunden hier war.« Grinsend fragte Sue: »Und wie geht’s Ihrer Frau?« Er legte eine Hand unter ihr Kinn, kniff sie. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht und zeigte dabei ihre ebenmäßigen weißen Zähne. »Werd nicht frech! Du weißt doch, was ich mit Mädchen zu tun pflege, die mir frech kommen. Es gibt zwei Arten von Moral auf dieser Welt. Die eine gilt für Ehefrauen, die andere für Ehemänner. Merk dir das!« Elstree kniff sie noch einmal, so daß sie leise aufstöhnte. Dann schlenderte er weiter zum Billardzimmer. Köpfe drehten sich in seine Richtung, als er eintrat. Zwei Bekannte
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grüßten ihn, allerdings nicht mit Namen. Ebensowenig nannte er ihren. Er fand einen freien Platz und holte sich ein Glas Champagner. Eine Seitentür schwang auf. Mehrere Gäste stießen begeisterte Rufe aus und applaudierten. Heraus kam Beefsteak Bert, eine Frau um die Dreißig mit langem schmutzigblondem Haar und Schultern wie ein Stahlarbeiter. Ihr Satinmantel war mit aufgestickten Pfauen verziert. Sie lächelte geziert und verbeugte sich vor dem Publikum, dann löste sie den Gürtel ihres Mantels und ließ ihn von ihren Schultern gleiten. Erneut gab es Applaus. Elstree beteiligte sich daran, eine frisch angezündete Havannazigarre klemmte verwegen zwischen seinen Lippen. Beefsteak Bert stützte die Hände auf die Knie, blickte scheu über die Schulter und reckte ihr riesiges weißes Hinterteil hoch. Der Hundeführer konnte kaum den Hund festhalten, dessen aufgeregt scharrende Pfoten den Teppich zu zerfetzen drohten. Im dichten Zigarrenqualm sah Elstree plötzlich eine Vision; berauschend wie ein starker Drink wischte sie sämtliche Gedanken an die bevorstehende Show hinweg. Diese Vision war Juliette Vanderhoff – weitaus begehrenswerter als diese verkommene Hure, aber genauso nackt.
34 PAUL Julie fegte alles aus seinem Bewußtsein: seine bohrende Unzufriedenheit mit den Crowns, weil er genau wußte, welchen Beruf er ergreifen wollte, aber keine Ahnung hatte, wie er ihn erlernen sollte; seine Sorge und sein vorweggenommenes Schuldgefühl darüber, daß er Onkel Joe ein zweites Mal enttäuschen würde, sollte er die Brauerei verlassen – was ihm nunmehr beinahe unausweichlich erschien; die unterschwellige Feindschaft zwischen seinem Onkel und seinem Vetter, die er beide in sein Herz geschlossen hatte; und die alte Frage, die ihm nur selten aus dem Kopf ging: Hatte er tatsächlich seine Heimat gefunden, den Ort, an den er für den Rest seines Lebens gehörte? Nicht so sehr dieses spezielle Haus in der Michigan Avenue, sondern Chicago, Amerika. Nichts von alledem schien mehr von Bedeutung zu sein. Sehnsucht, Angst vor Verlust und heftige Eifersucht auf die Menschen in Julies Umgebung quälten ihn, Eifersucht auf ihre Eltern, Freunde, auf jeden, der sich erdreistete, sie von ihm fernzuhalten oder sie bei ihren zärtlichen Gedanken zu stören. Inbrünstig hoffte er, ja, er betete darum, daß diese Gedanken ihm galten.
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Am darauffolgenden Sonntag regnete es. Trotzdem machte er sich auf den weiten Weg zum Lincoln-Park. Er stellte fest, daß das Eis auf dem Teich taute und die Pavillons verwaist waren. Fast eine Stunde lang lief er auf der Straße unweit der Villa an der Ecke der Fünfzehnten Straße und der Prairie Avenue auf und ab. Aber Julie sah er nicht. Als Paul ins Haus der Crowns zurückkam, konnte er Joe junior nirgends finden. Er ging in den Stall. Der englische Kutscher, Nicky Speers, striegelte Onkel Joes wertvolles Kutschpferd, einen wunderschönen Braunen namens Prince. »Nicky, haben Sie Joe gesehen?« Speers streichelte liebevoll den Kopf des Pferdes. Prince schnaubte. »Der junge Master Joseph erzählt mir nicht alles, aber ich vermute stark, daß er nach Pullman hinausgefahren ist.« »Haben Sie seine Freundin schon mal gesehen?« »Er hat sie eines Abends mal für fünf Minuten reingeschmuggelt. Sie ist eine bohunk. Ein hübsches Ding. Reizende Figur, aber irgendwie wirkt sie kalt. Reich mir mal die Bürste, bitte. Danke, bist ein feiner Kerl.« Joe junior kehrte erst nach dem Abendessen zurück. Durch die halboffene Tür seines Zimmers hörte Paul, daß sein Vetter pfeifend durch den Flur ging. Ein paar Minuten später klopfte Paul an seine Tür. Joe forderte ihn auf, hereinzukommen. Er zog gerade sein Hemd aus. Auf seinem Rücken befanden sich drei kurze, parallel verlaufende Kratzer. »Ich habe heute Julie im Park gesucht.« »Bei dieser Wärme? Paul, mein Junge, dich hat es aber erwischt. Und zwar ganz schlimm.« Paul ließ sich mit düsterer Miene auf das Bett sinken. »Du hast heute deine Freundin gesehen, nehme ich an.« Joe zwinkerte. »Jawohl, Sir.« »Lerne ich sie irgendwann mal kennen?« »Niemals in diesem Haus. Wenn ich sie herbrächte, würde Pa einen Affentanz veranstalten – genauso wie Pork Vanderhoff, wenn er das mit dir herausbekäme. Rosies Vater, Tabor, ist Mitglied der Eisenbahnergewerkschaft, die Gene Debs im vergangenen Sommer gegründet hat. Drei oder vier Meilen Schienenstrang berühren die PullmanWerke, daher hat Debs auch dort die Arbeiter organisiert. George Pullman, der King, sieht das gar nicht gern. Und Rosies Ma macht sich große Sorgen, weil sie in einer Werkswohnung leben.« »Aber du hattest heute deinen Spaß.« »Und wie! Rosie ist nicht eins von diesen heiklen Mädchen der besseren
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Gesellschaft. Die glauben, daß die Babys vom Himmel kommen, oder in Ohnmacht fallen, wenn sie zwei Hunde sehen, die miteinander etwas völlig Natürliches treiben. Mit Julie könntest du solche Probleme bekommen.« »Oh, ich würde niemals auf die Idee kommen –« »Ich bitte dich, natürlich würdest du. Du bist doch ein Mann, oder?« Pauls Gesicht war rot angelaufen. Nachdenklich fügte Vetter Joe hinzu: »Julie ist etwas ganz Süßes, aber ich denke, sie ist ein anständiges Mädchen. Zumindest haben die Vanderhoffs sie so erzogen. Also sei nicht zu sehr enttäuscht, wenn sie – nun – wenn sie sich zurückhält.« Mitfühlend legte er eine Hand auf Pauls Schulter. »Du weißt, was ich meine, oder?« »Klar. Aber ich glaube, du irrst dich bei ihr. Wie dem auch sei, sie wird mein Mädchen.« »Klar. Klar wird sie das«, sagte Joe junior mit falscher Herzlichkeit. »Hör mal, ich bin ziemlich schachmatt. Morgen ist wieder ein Arbeitstag.« Paul sagte gute Nacht und kehrte in sein Zimmer zurück. Die Bemerkungen seines Vetters über Julie hatten ihn zutiefst verunsichert und stimmten ihn nachdenklich. Die Crowns hielten an vielen deutschen Traditionen fest, vernachlässigten aber auch einige. In der Heimat wurde der Tannenbaum, das Symbol für das Weihnachtsfest, am Heiligen Abend aufgestellt. Die Crowns holten ihren Baum zwei Wochen früher und schmückten ihn. Onkel Joe liebte die Vorfreude und die festliche Stimmung, die der Baum erzeugte. Aber er gestattete niemals, daß die Kerzen vor dem Heiligen Abend angezündet wurden, und er hängte persönlich den Zapfen auf, wie jeder gute deutsche Vater es tat. Wenn alle anderen den Raum verlassen hatten, versteckte er den kleinen Glasschmuck am Baum, so gut er nur konnte. Eine Belohnung von einem Golddollar wartete auf jedes jüngere Mitglied der Familie, das ihn fand, ohne den Baum zu berühren. Vor einem Jahr hatte Paul den Schmuck zuerst entdeckt, nach weniger als einer Minute. Joe junior hatte sich geweigert, an diesem Spiel teilzunehmen. Er sei zu alt dafür, hatte er erklärt. Die Crowns gingen während der Adventszeit oft in die Kirche. Es gab viele besondere Gottesdienste. Paul hatte immer sehr gerne Weihnachtsmusik gehört, und im vorangegangenen Jahr hatten die Hymnen und Lieder fröhlich, jubelnd und unglaublich schön geklungen. Dieses Jahr empfand er die Kirche – und eigentlich sogar das ganze Fest – als furchtbar lästig. Er empfand alles als lästig und störend, bis auf die junge Frau, die in seinem Leben mittlerweile eine beherrschende Rolle spielte. Trotzdem bekam er am Heiligen Abend eine Gänsehaut, als der Chor
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und die Kirchengemeinde im warmen Glanz der Kerzen, die den Altar erleuchteten, das Lied Stille Nacht anstimmten. Als alle wieder zu Hause in der Michigan Avenue waren, entzündeten sie die Kerzen am Baum und stießen mit Glühwein auf das Weihnachtsfest an. Onkel Joe prostete Paul zu. »Dies ist ein ganz besonders wichtiger Gedenktag. Vor einem Jahr bekamen wir ein neues Familienmitglied. Möge das kommende Jahr für dich noch besser und glücklicher sein, Paul.« »Vielen Dank, Onkel.« »Pauli. Unser Pauli«, sagte Tante Ilsa, umarmte ihn und gab ihm einen dicken Kuß. Dabei schaffte sie es, ein wenig Glühwein auf ihr hübsches Festtagskleid zu schütten. Für eine kurzen Moment hatte Paul das Gefühl, daß er wirklich dort war, wo er hingehörte. Weihnachten fiel auf einen Montag. Onkel Joe und Tante Ilsa verteilten wieder großzügig Geschenke. Paul bekam mehrere Oberhemden, zwei Knickerbockerhosen aus Cord und ein versilbertes Frisierset, das aus Bürste und Kamm bestand. Offensichtlich war es etwas besonders Wertvolles, denn Bürste und Kamm trugen auf dem Rücken jeweils das CrownEmblem. Pauls schönstes Geschenk war ein eleganter Fahrradanzug – Sakko und knielange Hose – aus feiner Kaschmirwolle mit braunem Karomuster. Er war begeistert. Er wünschte sich nur, er hätte Julie auch irgendwie ein Geschenk machen können. Am Mittwoch jener Woche war der halbe Haushalt erkältet, desgleichen die Hälfte der Brauereibelegschaft. Am Samstagmittag wurde Paul mit Fieber nach Hause geschickt. Der Lieferwagen von Metzgerei Frankel war am Haltering neben dem Hintereingang in der Neunzehnten Straße angebunden. Paul schleppte sich in die Küche, die leer war bis auf Frankels Botenjungen, einen schlaksigen älteren Jungen mit einer übergroßen Haartolle, die er so frisiert hatte, daß sie seine Halbglatze einigermaßen verdeckte. Der Botenjunge trug einen weiten braunen Kittel, der bis zu seinen Knien reichte. »Hör mal, Kumpel, ich hab’ ein Problem«, sagte er. »Wo ist eure Köchin? Ich suche sie schon überall und kann sie nicht finden.« »Louise hat gestern abend angefangen zu niesen und zu husten, deshalb hat sie sich ins Bett gelegt. Ich denke, sie ist auf ihrem Zimmer.« »Dann muß ich mit der Hausherrin sprechen.« »Die ist den ganzen Tag unterwegs. Zumindest hat sie sich heute morgen entsprechend geäußert.« »Himmel, dann wird es schwierig.« Der Botenjunge puhlte mit dem
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Nagel seines kleinen Fingers in einer Lücke zwischen zwei Schneidezähnen herum. Er schnippte etwas von seinem Fingernagel und sagte: »Ich soll hier irgendeine Liste mit Bestellungen für Silvester und Neujahr abholen.« Ohne sich viel dabei zu denken, sagte Paul: »Warum gehst du nicht rauf zu Louises Zimmer im dritten Stock? Klopf leise an, damit du sie nicht weckst, falls sie schläft. Wenn sie wach ist, wird sie dir sicher die Liste geben können. Nimm die Hintertreppe neben der Speisekammer. Oben ist es dann die zweite Tür auf der linken Seite.« Der ältere Junge bedankte sich bei ihm, redete ihn noch einmal mit »Kumpel« an und verschwand. Paul hängte den Wasserkessel zum Kochen über die Feuerstelle. Er wollte sich eine kräftige Tasse Tee mit Milch zubereiten. Ein paar Minuten später ging er von der Küche hinüber in den kurzen Flur. Dort war es verhältnismäßig dunkel. Von hier beobachtete er den Botenjungen, der vor dem geschmückten Weihnachtsbaum stand und ihn bewunderte. Ehe Paul sich bemerkbar machen konnte, dröhnte vom Treppenabsatz im zweiten Stock eine Stimme herunter. »Du da unten! Was treibst du da?« »Ich sehe mir nur mal den Baum an, Kumpel.« Manfred Blenkers kam die Treppe heruntergeeilt. »Ich hab’ dich doch schon mal gesehen. Wie heißt du?« »Jimmy Daws. Ich komme von Frankel.« »Wir gestatten Lieferanten zu diesem Teil des Hauses keinen Zutritt. Verschwinde augenblicklich!« Aus Manfred Blenkers’ Mund klang das Wort »Lieferanten« wie ein schlimmes Schimpfwort. Obgleich Manfred die oberste Instanz in allen Haushaltsangelegenheiten war, dachte Paul, daß dies doch etwas zu weit ging. Er machte ein paar Schritte, damit sie ihn sehen konnten. »Ich habe ihn raufgeschickt, Manfred. Er wollte zu Louise, um eine Bestelliste für Montag abzuholen. Ich sagte, er könne zu ihr raufgehen und sich bei ihr die Liste holen, falls sie wach ist.« »Du hast dieser Person gestattet, ungehindert im Haus herumzuschleichen?« »Ja, was ist denn daran so schlimm?« Paul ärgerte sich über den anklagenden Ton in Manfreds Worten. »Hören Sie«, ergriff der Botenjunge das Wort. »Ich bin über die Hintertreppe raufgegangen, hab’ mit ihr geredet, bekam die Liste und kam wieder runter. Na und? Sie regen sich verdammt noch mal über nichts auf.« »Fluche nicht in diesem Haus, oder ich sorge dafür, daß du rausfliegst, du Gossenbengel. Sieh zu, daß du schnellstens von hier verschwindest.« Paul entschied, daß er das nicht zulassen durfte. Er nahm seinen ganzen
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Mut zusammen und machte einen Schritt vorwärts. »Mr. Blenkers, Sie haben kein Recht, ihn derart zu beschimpfen.« »Wie bitte? Was sagst du zu mir?« Irgendwo über ihnen erklang ein erschrockener Seufzer. Paul entdeckte Fritzi, die hinter dem Geländer auf dem oberen Treppenabsatz kauerte. »Ich habe gerade gesagt, Mr. Blenkers, daß er mit Louise sprechen mußte. Ich habe ihm nur erklärt, wo sie war. Was ist daran so schlimm?« »Das wird dein Onkel entscheiden, wenn er nach Hause kommt.« »Wenn Sie es ihm erzählen wollen, nur zu. Ich werde meinen Standpunkt erklären, und dann werden wir sehen, wer am Ende Sieger ist.« Paul sagte es ruhig und sah dabei den Hausdiener an, der mittlerweile einen gequälten Gesichtsausdruck hatte. Der Botenjunge klopfte die ganze Zeit nervös mit der rechten Hand auf die Vorderfront seines langen braunen Kittels. Seine linke Hand hatte er tief in der Tasche vergraben, als habe er Leibschmerzen und hielte sich den Bauch. Manfred begriff, daß seine Autorität verletzt worden war. Mit einer heftigen Handbewegung rief er: »In Ordnung, das reicht jetzt. Verschwindet! Und zwar beide!« Er stampfte die Treppe hinauf. Grinsend deutete Paul mit einem Kopfnicken auf die Küche, und der Botenjunge folgte ihm nach draußen. Als die Tür zufiel, hörte Paul Fritzis fröhliches Lachen und Händeklatschen. Der Kessel dampfte. Paul nahm ihn mit einer Zange vom Haken und stellte ihn zum Abkühlen auf eine Zierfliese. Jimmy Daws betrachtete ihn eindringlich. Offenbar wollte er sich zu dem Vorfall äußern. »Vielen Dank, daß du mir bei diesem Kerl geholfen hast. Ich bin früher schon mal mit ihm aneinandergeraten. Irgendwann schneide ich ihm die Kehle durch.« Paul konnte sich nicht vorstellen, daß es dem Botenjungen damit ernst war. »Manfred ist eigentlich ganz in Ordnung, aber manchmal benimmt er sich, als habe er hier das Kommando. Niemand kann ihn besonders gut leiden. Möchtest du eine Tasse Tee?« »Ich mag das Zeug nicht. Muß sowieso weiter. Hab’ noch weitere Lieferungen zu machen. Aber eins kann ich dir sagen, normalerweise freunde ich mich mit Deutschen nicht so schnell an. Bei dir mache ich eine Ausnahme. Hand drauf, Kumpel.« Sie besiegelten das neue Bündnis mit einem Händedruck. Dabei behielt Jimmy Daws die linke Hand in der Kitteltasche. Er verließ die Küche, und Paul bereitete sich seinen Tee. Als die Familie sich an diesem Abend zum Essen niederließ, bemerkte Tante Ilsa sofort etwas Ungewöhnliches und schlug entsetzt die Hand vor
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den Mund. Eines der Regalbretter im Porzellanschrank mit dem goldgeränderten bayerischen Geschirr war leer. »Der größte Teller ist verschwunden. Das wertvollste Stück.« Sie ging zum Schrank. »Und ein kleiner Teller fehlt. Nein, zwei!« Paul erinnerte sich, daß der Botenjunge ständig eine Hand in der Tasche gehabt hatte, als verstecke er etwas unter seinem Kittel… Tante Ilsa entschuldigte sich und zog ein Taschentuch hinterm Gürtel ihres Rocks hervor, während sie hinausging. Paul war wie am Boden zerstört. Er schob seinen Teller beiseite. Der Appetit war ihm vergangen. »Onkel Joe, ich glaube, es war meine Schuld.« »Nein!« rief Fritzi von der anderen Seite des Tisches. Niemand beachtete sie. Paul erklärte, was geschehen war. »Ich hab’ ihn nach oben geschickt. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er ein Dieb ist.« »Wie solltest du auch?« Das war Tante Ilsa. Sie war wieder zurückgekommen und tupfte sich mit dem Taschentuch die von Tränen geröteten Augen ab. Sie trat hinter Pauls Stuhl und tätschelte seine Schulter. »Du bist ein vertrauensvoller Mensch, Pauli. Du hast in bester Absicht gehandelt. Sage ich nicht immer, daß Menschen viel wichtiger sind als irgendwelche Dinge?« »Es war auch gar nicht Pauls Schuld«, sagte Fritzi. »Manfred ist mit dem Botenjungen umgesprungen, als sei er der letzte Dreck. Paul war sehr tapfer. Er hat Manfred zurechtgewiesen.« »Ich bezweifle nicht, daß Manfred den Tadel verdient hat«, stellte Onkel Joe fest. »Er ist ein hervorragender Angestellter, aber manchmal kann er furchtbar –« Er verstummte, als Helga mit dem Nachtisch auf einem Tablett hereinkam. Es gab Kullerpfirsiche, Meringuetörtchen und frischgebackene Springerle. Onkel Joe schickte warnende Blick über den Tisch. Niemand redete. Paul brach sich beinahe einen Zahn ab, als er herzhaft in das harte, mit Anis gewürzte Springerle biß, dessen Oberseite einen Weihnachtsbaum zeigte. Er hatte für den Keks keine Augen. Dafür warf er Fritzi einen dankbaren Blick zu. Sie reagierte mit einem verträumten Lächeln. Sie hat keine Ahnung, daß ich eine Freundin habe … Nun, er würde Fritzi nichts von Julie erzählen. Sie hatte sich für ihn eingesetzt. Wie konnte er jemanden verletzen, der sich so fürsorglich und loyal gezeigt hatte? Seine Erkältung hielt sich hartnäckig. Sein Fieber stieg sogar. Zwei Tage lang lag er phantasierend im Bett. Dann sank die Temperatur, begleitet von
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heftigen Schweißausbrüchen. Tante Ilsa wechselte selbst seine Bettwäsche und bestand darauf, daß er sich noch mindestens drei weitere Tage ausruhte. Fritzi besuchte ihn beinahe stündlich. Ob er ein Glas heiße Milch haben wolle? Oder sollte sie sich aus dem Haus schleichen und ihm ein paar Nick Carter-Romane kaufen? Sie könne ihm aber auch eines ihrer Bücher über Traumdeutung leihen. Oder Tennysons Idylls of the King? Ihr Theateralbum vielleicht? »Ich habe wunderschöne neue Bilder von Richard Mansfield und James O’Neill.« Oder hätte er Lust auf ein paar Pantomimen? Wenn ja, auf welche –? »Es geht mir gut, Fritzi, danke, ich brauche nichts. Vielen Dank auch dafür, daß du mich verteidigt hast.« »Vetter Paul, ich muß dich vor etwas warnen.« »Und wovor?« Sie beugte sich über das Bett und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Es ist etwas sehr Ernstes. Nicky Speers hat es mir verraten.« Fritzi liebte Theatralik. Sie konnte aus dem nebensächlichsten Thema ein Melodram machen. »Was hat er dir verraten?« »Manfred hat es auf dich abgesehen. Er hat Nicky erzählt, daß du ihn blamiert hast. Daß du seine Autorität untergraben hast.« »Was habe ich?« »Seine Position erschüttert. Manfred verzeiht es niemals, wenn jemand mit ihm auf diese Weise umspringt. Sei lieber vorsichtig.« »Ich werde daran denken.« »Ich meine nicht nur heute, sondern auch in Zukunft.« »Ich verspreche es. Was ist denn mit dir? Du hast für mich Partei ergriffen!« »Mit mir sollte er sich lieber nicht anlegen! Sonst rede ich mit Papa, und der wirft ihn dann raus!« Paul entschied, daß sie ihm diesmal nichts vorspielte. Sie war ein mutiges Mädchen. Nein, eine junge Frau. Im Januar würde sie ihren dreizehnten Geburtstag feiern. Sie wuchs sichtlich heran, allerdings nicht an den entscheidenden Stellen. Obgleich Tante Ilsa immer darauf hinwies, daß das kein Thema war, über das man sich vor Jungen äußerte, beklagte Fritzi sich oft über ihren flachen Busen. Für sie schien es kein Thema zu geben, über das man nicht reden durfte. »Ehe ich wieder gehe –« Sie faßte in ihre Schürzentasche. »Ich hab’ dir eine kleine Glocke mitgebracht. Klingle, wenn du irgend etwas brauchst. Auch mitten in der Nacht. Ich komme sofort.« »Ja, danke, ich klingle ganz bestimmt.« Kaum hatte sie das Zimmer
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verlassen, schob er die Glocke unters Bett. Er gähnte ausgiebig. Er vergaß seine Kusine augenblicklich und begann von Julie zu träumen. Wie sollte er es nach der Eislaufsaison anstellen, sie wiederzusehen? Das war ein Problem, das er unbedingt lösen mußte. Er würde sich etwas ausdenken. Er war zu allem entschlossen. Sollte ihr Vater nur versuchen, ihn aufzuhalten … 35 JOE CROWN Am Samstagabend nach dem Diebstahl telephonierte Joe Crown mit Abraham Frankel. Frankel war wie vom Donner gerührt und empört. Nein, Jimmy Daws sei am Abend nicht zurückgekommen. »Ach, ich hätte ihn schon vor ein paar Wochen rauswerfen sollen. Ich habe geahnt, daß er ein verkommenes Subjekt ist. Herr Crown, es tut mir wirklich leid. Ich werde Ihnen natürlich den Schaden ersetzen.« »Das ist nicht nötig«, wehrte Joe ab. »Ilsa ist sehr traurig, aber es waren am Ende doch nur ein paar Teller. Sie wird schon darüber hinwegkommen. Dieser Botenjunge – wissen Sie, wo er wohnt?« »In den Elendsvierteln, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Er wollte mir seine Adresse nicht nennen. Er prahlte damit, daß er in einer großen Wohnung in einer anständigen Gegend lebe, aber ich wußte, daß das eine Lüge war. Jimmy hat ständig irgendwelche Schwindeleien über sich selbst und sein Zuhause erzählt.« Joe erstattete Anzeige gegen ihn, allerdings ohne Erfolg. Es war einfach unmöglich, einen Dieb aufzustöbern, der entschlossen war, sich in der kriminellen Unterwelt Chicagos zu verstecken.
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36 JULIE Am Neujahrsmorgen bürstete Nell Vanderhoff Julies Haar. Dieses Ritual war an diesem Tag besonders wichtig. Am 1. Januar fand stets eines der bedeutendsten gesellschaftlichen Ereignisse statt, an denen die Vanderhoffs dank Nell immer teilnahmen. Ihre Familie, die Fishburnes aus Lexington, gehörte zur elitären Chicagoer Gemeinde der Leute aus Kentucky, und dies traf auch auf die Gastgeberin zu, deren Haus sie an diesem Nachmittag aufsuchen würden. Julie fühlte sich an diesem Morgen wunderbar. Seit Beginn der Eislaufsaison hatten ihre Gesundheitsprobleme sich verflüchtigt. Ausgiebige körperliche Betätigung in frischer Winterluft war nicht die einzige Erklärung. Julies Spiegelbild löste die längst vertraute Klage ihrer Mutter aus. »Deine Wangen sind schon wieder gerötet. Viel zu sehr. Mir wäre es lieber, du würdest nicht jeden Sonntag in den Schlittschuhclub gehen. Eine ganze Menge übles Volk trifft sich immer im Lincoln-Park. Welliver Strickland hat mir das in der vergangenen Woche erzählt, als er anrief und du noch oben in deinem Zimmer warst.« Julies graue Augen funkelten zornig. »Der junge Joe Crown ist doch auch in diesem Club, nicht wahr?« »Ja – manchmal.« Sie ging darüber hinweg, als sei sie mit Joe nur ganz flüchtig bekannt. »Du darfst dich nicht mit ihm abgeben. Auch der kleinste Verdacht würde bei deinem Vater einen Tobsuchtsanfall zur Folge haben.« »Ich weiß, Mama. Dabei habe ich eigentlich nie verstanden, weshalb Papa die Crowns haßt.« »Aus vielen Gründen. Sie sind Fremde. Und sie sprechen mit einem grauenhaften Akzent.« »Aber nicht Joe, er ist –« »Es steckt mehr dahinter, viel mehr sogar«, unterbrach Nell sie. »Vor einigen Jahren hörte dein Vater zufällig mit, wie Joe Crown senior häßliche und beleidigende Bemerkungen über die Unternehmer, die sich im Fleischhandel betätigen, fallen ließ. Als sei ein Bierbrauer grundsätzlich etwas Besseres als Philip Armour und Gus Swift und dein Vater.« »Davon habe ich schon gehört, Mama. Aber niemand will mir verraten, was genau Mr. Crown gesagt hat. Welche Bemerkungen hat er denn nun gemacht?« »Dein Vater erging sich nur in vagen Andeutungen, und ich weigere mich, selbst die zu wiederholen. Du mußt mir schon glauben, daß der Zorn deines Vaters voll und ganz gerechtfertigt ist.«
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Nell legte ihre zierlichen, von feinen Adern überzogenen Hände auf Julies Schultern. Der Atem der älteren Frau roch leicht muffig wie die Luft eines Krankenzimmers. »Es ist mein Ernst, Juliette, du darfst dich mit dieser Familie nicht abgeben. Wenn du deinen Vater liebst und achtest, wirst du bestimmt –« Julie sprang auf. »O Mama, weshalb wird es immer so hingestellt? Wenn ich dich und Papa liebe, dann soll ich dies tun, dann soll ich das tun. Ich kenne Mr. Crown nicht, aber Joe ist ein anständiger Kerl.« »Eben das glaube ich nicht. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß er radikale Ansichten vertritt. Er ist ein richtiger Sozialist und macht seinem Vater damit eine Menge Ärger.« »Das kann schon sein, aber ich mag ihn.« Nell löste sich von ihrer Tochter und trat einen Schritt zurück. »Ich bin sehr enttäuscht.« »Tut mir leid. Aber ich bin sechzehn, fast siebzehn. Ich habe meine eigene Meinung. Das heißt nicht, daß ich dich oder Papa nicht liebe.« »Ich bin enttäuscht«, wiederholte Nell. »Was ich damit sagen will – wenn ich es unbedingt offen aussprechen muß – ist, daß es mich tief verletzt.« Bitte, nicht schon wieder. »Mama, du weißt, daß ich niemals –« »Ich muß mich sofort hinlegen. Mein Herz schlägt wieder wie rasend.« Oh, ich flehe dich an … »Ich schicke eins der Mädchen, damit es dir mit dem Korsett hilft. Wir dürfen nicht zu spät kommen.« »Mama«, rief sie verzweifelt. Umsonst. Die Tür zum Flur fiel ins Schloß. Julie ließ sich zurücksinken, verschränkte die Hände, bis sie sich weiß färbten. Warum mußte Mutter immer ihre angegriffene Gesundheit als Waffe einsetzen? Dagegen konnte Julie überhaupt nichts ausrichten, denn tief in ihrem Innern war sie immer noch die gehorsame Tochter. Die alles recht machen wollte; die geliebt werden wollte … Sie erinnerte sich an den fürchterlichen Streit wegen ihrer weiteren Ausbildung im vergangenen Jahr. Tante Willis, die ältere Schwester ihrer Mutter, hatte nach dem Bürgerkrieg zwei Jahre lang das Oberlin College besucht. Während einer ihrer Besuche hatte Tante Willis Julie davon überzeugen können, daß junge Frauen gebraucht würden und tatsächlich ein Anrecht auf die gleiche höhere Erziehung hätten wie Männer. Als Beispiel nannte sie eine berühmte Frau aus der Stadt, Miss Jane Addams von der Hull-House-Stiftung. Miss Addams und ihre weiblichen Mitstreiterinnen
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halfen erfolgreich den Armen Chicagos und schufen ein Modellprogramm, das Vorbildcharakter hatte. Tante Willis sagte weiterhin, dazu seien sie nur deshalb in der Lage gewesen, weil sie gebildet wären. »Aufgeklärt«, das war das Wort, das Willis benutzt hatte. Nach mehreren Diskussionen über dieses Thema mit ihrer Tante hatte Julie ihren Eltern verkündet, daß sie das College besuchen wolle. Julies Vater, ein polternder, gottloser Mensch, hatte seine Schwägerin am Abendbrottisch beschimpft und verflucht. Nell Vanderhoff sagte, sie wolle über die Bitte ihrer Tochter nachdenken, allerdings wurde diese Erklärung von einem leidenden Blick begleitet. Am nächsten Tag schloß sie sich in ihr Zimmer ein und legte sich mit einem ihrer Anfälle ins Bett. Willis reiste am Tag danach ab. Drei weitere Tage verstrichen, qualvolle Tage für Julie. Am vierten Tag ging sie zu ihrem Vater und erklärte, sie habe sich alles noch einmal überlegt, sie wolle eigentlich doch nicht aufs College gehen. Was schließlich alles für sie geändert hatte, war der deutsche Junge. So nannte sie ihn meistens, wenn sie an ihn dachte, der deutsche Junge, weil er achtzehn Tage jünger war als sie. Aber er war kaum mehr ein Junge. Er war stark und schon fast ein reifer Mann. Er war still. Äußerte sich niemals zu irgendwelchen trivialen Dingen. Manche mochten das irrtümlich für eine gewisse Trägheit oder Schüchternheit halten. Das war ein Irrtum. Während ihrer gemeinsam verbrachten Sonntage war Julie zu der Überzeugung gelangt, daß Paul nur deshalb so still war, weil er zuhören, beobachten und lernen wollte. Nicht daß es ihm an Geist oder Ehrgeiz mangelte. Von beidem besaß er genug. Er hatte des öfteren davon erzählt, wie aufregend es wäre, wenn er sich in diesem neuen Bereich der Photographie betätigen könne. Er hatte eine ganz besondere Art an sich. Eine grundlegende Anständigkeit. Freundlichkeit, Intelligenz, Stärke – eine wunderbare Kombination von Vorzügen, dachte sie, während sie sich ankleidete. In ihren Augen hatte der deutsche Junge keine Mängel, keinen Fehler. Sie war in ihn verliebt. Und er ahnte wahrscheinlich nicht einmal etwas von ihren Gefühlen. Daß sie bei jeder Berührung durch ihn geradezu dahinschmolz. Daß sie fast in Ohnmacht fiel, wenn er beim Schlittschuhlaufen seinen starken Arm um ihre Taille legte. Allein seinetwegen träumte sie ständig von einer idyllischen Zukunft. Aber über ihren Tagträumen lag ein bedrohlicher Schatten. Was würde wohl geschehen, wenn sie vor die Wahl gestellt würde, sich für Paul oder
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für ihre Familie zu entscheiden? Sie wollte ihrer Mutter nicht weh tun. Aber sie konnte den deutschen Jungen auch nicht aufgeben … In diesem Zustand innerer Zerrissenheit machte Julie sich gegen halb zwei mit ihren Eltern in der Familienkutsche auf den Weg. Ihr Ziel war das Haus von Mr. und Mrs. Potter Palmer, 1350 Lake Shore Drive, das von Freunden wie Feinden allgemein nur Palmer Castle, Palmer-Burg, genannt wurde. Während der Wirtschaftskrise von 1893 waren bereits etwa 16000 Firmen pleite gegangen. Mehr als 50 verfügten über ein Kapital von über 1 Million Dollars. Große Industriebetriebe wie die Pullman-Werke hatten zahlreiche Arbeiter entlassen, die Arbeitszeit der verbliebenen verkürzt und ihre Löhne um 30,40, ja sogar 50 Prozent herabgesetzt. Man erzählte sich, daß in den Wohnungen und Bruchbuden der Arbeitslosen die Kinder den ganzen Tag im Bett blieben, weil dies die einzige Möglichkeit war, sich warm zu halten und den Winter zu überstehen. Diese Not drang niemals bis Palmer Castle vor. Sogar dessen Türen signalisierten Uneinnehmbarkeit. Es gab keinen Knauf und keine Klinke. Nicht einmal Schlüssellöcher oder Verriegelungen waren zu sehen. Mit ihrem 25 Meter hohen Turm und ihren mit Zinnen bewehrten Gebäuden erinnerte die Palmer-Residenz an eine alte englische Burg. Potter Palmer und seine Frau hatten das Bauwerk eigenhändig entworfen, und es hieß sogar, daß sie auch verantwortlich waren für das seltsame, abweisende Fassadenmaterial – Granit aus Wisconsin, kombiniert mit Sandstein aus Ohio. Als die Vanderhoffs eintrafen, war die Auffahrt mit Fahrzeugen verstopft, die von livrierten Männern gelenkt wurden. Sie alle traten ziemlich großspurig auf. Die Vanderhoff-Kutsche war durchaus groß und teuer, aber eher unscheinbar, verglichen mit dem Gefährt, das bereits einige Plätze vor ihnen in der Schlange stand. Nell deutete darauf. »Die Pullmans sind schon da!« Mason Putnam Vanderhoff III. knurrte gereizt. War Nell ein elfenhaftes Geschöpf, so war Pork Vanderhoff ein Riese. Er war ein massiger, breitschultriger Klotz von einem Mann und fast zwei Meter groß. Er wog zwischen 122 und 127 Kilo, wovon ein beachtlicher Anteil einen eindrucksvollen Bauch bildete. Pork hatte einen faltigen Hals und kleine graue Augen, die niemals stillzustehen schienen. Obgleich er schon zu den Leuten mittleren Alters zählte, war sein Haar noch immer so schwarz wie das eines Indianers. Er hatte es mit Pomade auf Hochglanz gebracht und trug es straff nach hinten gekämmt. Die Leute sagten, er sei der attraktivere
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der beiden Brüder, die das Unternehmen Vanderhoff mit seinen verschiedenen Produkten führten, die unter dem »Big V«-Markenzeichen vertrieben wurden. Israel Washington Vanderhoff- I.W. wie er genannt wurde – war das leitende Finanzgenie, während Pork für Produktion und Vertrieb verantwortlich war. I.W. wohnte in New York. Er war dreimal geschieden und stieg jeder jungen Schauspielerin nach. Mindestens einmal im Jahr schwor er dem Alkohol ab und machte eine Wasserkur. Porks Körpergröße war eine ständige Last für ihn. Er mußte sich bücken, um durch Türen zu gehen oder um halbwegs bequem in Kutschen sitzen zu können. Genauso wie der Gastgeber dieses Nachmittags, Potter Palmer, war Pork ein schüchterner, stiller Mann, wenn er sich unter Leuten befand, die er nicht kannte; andererseits war er sehr laut und pflegte eine ausgesprochen drastische Ausdrucksweise, was Nell stets vor Scham im Boden versinken ließ. Viele Industrielle Chicagos waren im Begriff, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen und sich zur Ruhe zur setzen. Einige, wie Marshall Field, den Pork aus dem exklusiven Commercial Club kannte, weigerten sich sogar, zu gesellschaftlichen Ereignissen zu erscheinen. Seine Ehefrau Nanny pflegte ihn zu vertreten. »Übrigens, Mason«, sagte Nell und rückte nervös ihren Hut zurecht, »erhielt ich gestern einen Brief von Willis. Sie kommt uns wie üblich im Frühjahr besuchen.« »O verdammt noch mal, warum kann diese Frau nicht mal ernstlich krank werden? Ich verabscheue sie. Sie ist fast so schlimm wie eine Hure. Die würde sogar einen Nigger küssen, wenn sich ihr halbwegs die Chance dazu böte.« Julie krümmte sich innerlich, weil sie ihre wilde und ungebundene Tante von Herzen liebte. Der Vater der Fishburne-Schwestern hatte sich sehnlichst einen männlichen Nachkommen gewünscht. Als das Schicksal ihm die Erfüllung seines Wunsches versagte, bestand er darauf, daß sein Erstgeborenes nach ihm benannt wurde. Daher Willis. Im Süden herrschte die schöne Tradition, Mädchen angesehener Familien auf den Namen des Familienoberhaupts zu taufen. Aber die Mädchen mußten sich dann für den Rest ihres Lebens mit den Verwicklungen herumschlagen, die durch das Tragen eines männlichen Namens entstehen konnten. Die Kutsche bewegte sich wieder. Einige Diener Palmers sprangen herbei, um den Schlag zu öffnen. Kurze Zeit später legten die Vanderhoffs in der riesigen achteckigen Eingangshalle ihre Umhänge ab. Die Halle ragte drei Stockwerke hoch auf, ihre Wände waren mit Gobelins bedeckt. Den harten, hallenden Fußboden zierte ein Mosaik aus italienischem Marmor. Tannenduft erfüllte das ganze Haus. Irgendwo in der Ferne spielte ein
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Streichorchester gegen das allgemeine Gemurmel an. Eine unüberschaubare Gästeschar hatte sich eingefunden. Aufgeregt sagte Nell: »Ich muß unbedingt Bertha suchen. Komm doch bitte mit, Juliette.« »Ich sehe mich mal um, ob ich einen von den Jungs auf treibe«, sagte Pork. Mit »Jungs« meinte er seine gleichrangigen Kollegen in Geschäftswelt und Gesellschaft. »Es ist schon jetzt gottverdammt heiß hier.« Nell verdrehte die Augen. Pork marschierte davon und unterhielt sich wenig später mit dem Eigentümer der Tribune, Joe Medill, einem ehemaligen Bürgermeister. Er und Pork waren stramme Republikaner. Medill, mittlerweile über Siebzig, wurde allgemein als Gründer der Partei angesehen. Einige erzählten sogar, er habe ihr den Namen verliehen. In Kanada geboren, war er in den fünfziger Jahren aus Ohio nach Chicago gekommen und hatte sich mit einer bescheidenen Summe in die Tribune eingekauft. Er wurde ein enger Freund Abraham Lincolns und unterstützte seine Nominierung, als die Republikaner 1860 im Wigwam in Chicago ihren Parteitag abhielten. Nell Vanderhoff behandelte Joe Medill nur deshalb mit Respekt, weil er eine wichtige Persönlichkeit war. Als echte Tochter Kentuckys und Angehörige einer konservativen Familie hatte sie nicht vergessen, daß Medill nicht nur vehement die Abschaffung der Sklavenhaltung verfochten hatte, also Abolitionist war, sondern auch die Politik der Konfiszierung, als er nach Ende des Krieges öffentlich gefordert hatte, das Grundeigentum der Bewohner des Südens einzuziehen. In diesem Punkt wurde Mr. Medill von seinem Freund geschlagen, dem später ermordeten Präsidenten, der eine etwas gemäßigtere Politik vertrat. Nell grüßte Medill mit einem Kopfnicken, als sie an ihm vorbeiging. Seiner Frau Katharine, für die sie einiges mehr übrig hatte, winkte sie lächelnd zu. Katharine entfernte sich gerade von ihrem Mann, um sich zu einer Gruppe zu gesellen, zu der auch Samuel Insull, der aus England stammende Direktor der Chicago Edison Power Company, gehörte. Mr. Insull war ein ernster, ja pedantischer Mann mit beginnender Glatze und einem Kneifer auf der Nase. Er war etwa fünfunddreißig und einer der wohlhabendsten Junggesellen der Stadt. Nell hatte dies einmal beiläufig gegenüber Juliette erwähnt und sie damit über die Maßen erschreckt. Mr. Insull galt allgemein als kleine Berühmtheit, denn er hatte für einige Zeit sehr eng mit Thomas Edison in England zusammengearbeitet. In England hatte er mitgeholfen, eine sehr erfolgreiche Edison-Filiale zu gründen. Dadurch hatte er sich die Beförderung zum Privatsekretär des berühmten Mannes in Amerika erstritten. Pork Vanderhoff, selbst ein
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aggressiver Geschäftsmann, hatte schon mehr als einmal in ehrfürchtiger Bewunderung von Insull gesprochen. »Ein gottverdammt gerissener Engländer. Die Jungs sagen, daß er auch eine Portion jüdisches Blut in seinen Adern hat. Ein echter Machertyp.« Am Ende fanden Edisons Partner und sogar dessen Familie Insull einfach zu überlegen und ehrgeizig. Deshalb erzwangen sie seine Entlassung. Edison half ihm persönlich, einen neuen Posten zu finden. Der Erfinder betrachtete den Mittleren Westen als einen vielversprechenden Markt für elektrischen Strom, daher wurde Insull als der ideale Mann vorgestellt, um die neue Chicago Edison Company zu leiten. Viele Stromgesellschaften belieferten damals die Stadt. Die handelsüblichen Generatoren konnten nur Strom für ein Gebiet von etwa vier Straßenblocks erzeugen. Als die Maschinen besser und leistungsfähiger wurden, schluckte Insull still und stetig andere Firmen und vergrößerte das eigene Leitungsnetz. »Dieser Mann hat sämtliche Kerzen und Petroleumlampen in Chicago zum Verlöschen gebracht«, sagte Pork. »Das gleiche wird er noch im ganzen Land machen, wartet nur ab.« Nell achtete genau auf Mr. Insulls Reaktion auf die Ankunft von Katharine Medill. Er begrüßte sie mit einer formellen Verbeugung, ergriff aber nicht die Hand, die sie ihm reichte. »Er mag keine Zeitungsleute, er hält sie für aufdringliche Schwätzer«, flüsterte Nell ihrer Tochter Julie ins Ohr. »Es überrascht mich, daß Bertha es überhaupt geschafft hat, ihn herzulocken. Er trinkt nichts und besucht nur sehr selten Parties.« Während sie Insulls arrogantes Auftreten beobachtete, dachte Julie, daß Gastgeberinnen wahrscheinlich grundsätzlich kaum den Wunsch hatten, ihn einzuladen, es sei denn, sie hatten ledige Töchter. »Sollen wir mal in den Salon gehen und nachsehen, ob wir Bertha dort finden?« fragte Nell. Julie folgte ihr gehorsam, und während sie sich ihren Weg durch das Gedränge der Gäste bahnten, sahen sie mehrere McCormick-Kinder, mittlerweile erwachsen, sowie Nettie McCormick. Sie war die zerbrechlich wirkende, aber berüchtigt zähe und unbeugsame Witwe des ziemlich ungebildeten Virginiers, der mit der Mähmaschine, die er zuerst in den dreißiger Jahren gebastelt hatte, ein Wirtschaftsimperium aufgebaut hatte. Cyrus McCormick war 1847 nach Chicago gezogen und hatte dort eine kleine Fabrik eröffnet, um die Herstellung seiner Mähmaschine zu zentralisieren. Die Mähmaschine revolutionierte den Ackerbau in den weiten Ebenen von Kansas bis hin zu den russischen Steppen. Sie bildete den Grundstein zum riesigen McCormick-Vermögen, aber McCormick erfand noch viele andere landwirtschaftliche Maschinen. In späteren Jahren
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hielten er oder seine Stellvertreter sich ständig in irgendwelchen Gerichtssälen auf, wo sie in Patentrechtsprozessen als Kläger oder Beklagte auftraten. Lincoln hatte einmal einen Prozeß gegen ihn gewonnen. Die Geschichte seines Imperiums war nicht frei von blutigen Kapiteln: Der Streik in seiner Fabrik war der Auslöser für die Haymarket-Demonstration gewesen. Die Suche unter den Gästen führte Nell und Julie in die Nähe eines stämmigen Gentleman mit silberner Haarmähne, funkelnden blauen Augen und mächtiger Stirn. Nell beschleunigte ihre Schritte und eilte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Potter.« »Meine liebe Nell! Und Julie. Wie reizend ihr beiden ausseht! Ein glückliches neues Jahr wünsche ich. Vielen Dank, daß ihr gekommen seid.« »Kann ich mir so etwas entgehen lassen? Niemals, mein Lieber. Wo können wir Bertha finden? Hier herrscht ja solch ein Betrieb.« »Dort drin. Sie ist bei unserem Ehrengast aus New York, der Schriftstellerin.« Potter Palmer unterhielt sich mit den Vanderhoffs in freundlichem, lässigem Ton. Auf Grund der Verbindung mit Kentucky kannte er sie sehr gut. Auch mit Pork verband ihn einiges. Palmer war ein Yankee aus dem Osten, der seine Chance gewittert und ergriffen hatte, als Chicago noch eine junge Stadt gewesen war. Das gleiche galt auch für Pork, der aus Connecticut, und für Field, der aus Massachusetts stammte, sowie für Armour und Pullman, beides Männer aus dem Staate New York. Wie sie war Palmer in den dreißiger Jahren geboren. Er hatte ein Vermögen mit Immobiliengeschäften, Baumwollhandel – während des Bürgerkriegs – und mit Gemischtwaren verdient. Lange Zeit schickte R.H. Macy, der Kaufhausbetreiber, alljährlich Beauftragte aus, damit sie in Palmers Warenhaus spionierten, es war berühmt für seine Sonderangebote, seine geschmackvollen Schaufensterdekorationen und sein ständiges, hingebungsvolles Bemühen um die Zufriedenheit der Kundschaft. Marshall Field und sein Partner Levi Leiter hatten ihr eigenes Vermögen damit verdient, daß sie sich ihren Anteil am Palmer-Laden auszahlen ließen. »Ich habe zwar keine Zeit, um viel zu lesen, aber ich nehme an, Sie kennen die Romane dieser Lady, Nell«, fuhr Palmer, an Nell und Julie gewandt, fort und hakte sie unter, um sie zum Weitergehen zu animieren. Andere Gäste erwarteten bereits, daß er ein wenig Zeit für sie erübrigte. Indem er mit einem Kopfnicken auf Julie wies, fügte er hinzu: »Für junge Mädchen sollen sie angeblich zu schlüpfrig sein, wurde mir erzählt.« Nell lächelte affektiert. »Wenn ich den Namen der Lady wüßte, könnte ich …«
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»Habe ich den noch nicht genannt? Mrs. I. J. Blauvelt.« »Du liebe Zeit, tatsächlich?« Nell fächelte sich mit einem Taschentuch frische Luft zu. Julie wurde es schlagartig wärmer. Mrs. I. J. – für Isabel Judith – Blauvelt schrieb jene Art von Romanen, die man mit aufgeregt geröteten Wangen und fliegendem Puls heimlich unter der Bettdecke las. Sie hatten etwa die gleiche literarische Qualität wie ein Kochrezept, aber das störte niemanden. Mrs. Blauvelt selbst wurde allgemein verdammt. »Sie überschreitet die Grenze zur Lüsternheit unter dem Deckmantel des Naturalismus«, lautete der Vorwurf eines Geistlichen. Ihr jüngstes Werk, Eine Zierde der Gesellschaft, war trotzdem zehntausendmal verkauft worden. Julie liebte Mrs. Blauvelts Bücher, die sie entweder kaufte oder bei Freunden und Bekannten auslieh. Sie waren einander auf beruhigende Art und Weise ähnlich. Die Heldinnen waren immer tugendhaft, immer reich, und sie mußten sich stets gegen Mitgiftjäger und »alte Schwerenöter« wehren. Irgendein anständiger, armer junger Mann – ein athletischer Decksteward, ein wortgewandter Reporter, ein verkanntes Dichtergenie – tauchte gegen Ende jeder Story auf, um auf die wahren Werte des Lebens zu verweisen und die Heldin aus den Klauen ihres nichtswürdigen Verehrers zu befreien und sie in ein seliges letztes Kapitel voller malerischer Sonnenuntergänge, Schwärme weißer Tauben und mit Blumen berankter Landhäuser zu entführen. Das Ganze spielte sich stets an besonders prächtigen Schauplätzen ab: in einem Seebad in Europa, in Saratoga während der Rennsaison oder in den Villen von Newport und New York. Mrs. Blauvelt wählte für ihre sensationsgierigen Leser niemals Terre Haute, Laramie oder Palatka in Florida. Julie teilte ihre Vorliebe für billige und gewagte Romane mit einer Legion Frauen jeden Alters, von der kleinen Verkäuferin bis hin zur eleganten, reichen Lady. Was für eine Sensation, Mrs. Blauvelt unter den Gästen zu haben! Sekundenlang dachte sie sogar nicht einmal mehr an Paul. Mutter und Tochter drängten sich in den überfüllten Salon, der im Stil Ludwigs XVI. gehalten war. Er war der erste seiner Art in Chicago – ein Traum in Gold und Weiß – mit einer eigens dafür geschaffenen Wand- und Deckendekoration, die ein Meer von Rosenblüten und drallen, rosigen Amorgestalten im Flug zeigte. »Ah, dort ist sie ja!« rief Nell. »Bertha!« »Liebste Nell«, sagte Bertha Honoré Palmer und schwebte heran, um ihre Freundin zu umarmen. Sie beeilte sich niemals. Sie vertraute darauf, daß man stets auf sie wartete. »Wie reizend, daß Sie hergekommen sind. Und Julie auch. Haben Sie Judith schon kennengelernt? Kommen Sie, Sie müssen sie sehen.«
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Mutter und Tochter folgten der Frau, die sich selbst den Titel »Gastgeberin der Nation« verliehen hatte – und das nicht ohne eine gewisse Berechtigung. Bertha Palmer war intelligent, hatte eine führende gesellschaftliche Stellung, äußerte stets mit Nachdruck ihre Ansichten und betätigte sich immer wieder als Wohltäterin der Bedürftigen. Sie besaß einflußreiche Kontakte zum Osten. Ihre Schwester Ida war die Ehefrau Fred Dent Grants, des ältesten Sohnes des früheren Präsidenten. Sie ist außerdem wunderbar selbstsicher und attraktiv, dachte Julie. Sie war über Vierzig und hatte eindrucksvolle dunkle Augen und hübsche Gesichtszüge. Zu diesem Empfang trug sie ein weites Kleid in ihrer Lieblingsfarbe Blau und hatte sich winzige Rosenblüten zwischen die Brillanten in ihrem Haar geflochten. »Aber ja, ich habe ihn mit meinem Sonnenschirm geschlagen«, sagte die korpulente Frau gerade, zu der Bertha sie hinführte. Sie stand inmitten eines Dutzends andächtig lauschender Verehrerinnen. »Dreimal! Ich lasse mich nicht von irgendeinem billigen Zeitungsschreiberling beleidigen. Das Interview hatte noch keine fünf Minuten gedauert, da fragte er mich schon, ob ich meine Werke nicht für Schrott hielte. Schrott? Das ist die Zeit der neuen Literatur! Des neuen Realismus! Ich bin eine Künstlerin!« Julie wußte, daß es zutraf, aber nicht so, wie es gemeint war. Mrs. Blauvelt war eine ehemalige Zirkusartistin, die vom Drahtseil herabgestiegen war, um mit dem Schreiben anzufangen, und so zu Reichtum gelangt war. Ihre weiblichen Anhänger murmelten zustimmend und spendeten ihrer Erklärung Beifall. Nell und Julie wurden ihr vorgestellt. »Sehr angenehm«, sagte Mrs. Blauvelt und war sichtlich ungehalten über die Unterbrechung ihres Vertrags in eigener Sache. Sie hatte ein richtiges Pferdegebiß und Augen wie Glasmurmeln. Unter ihrem Kleid wogte ein üppiger Busen. Für das Drahtseil schien sie entschieden zu schwer zu sein. »Wir unterhielten uns gerade über Gene Field, den Kerl, der Isabel verrissen hat«, erklärte eine ältere Frau, von der Julie annahm, daß sie eine McCormick war. Sie brachte die verschiedenen McCormicks ständig durcheinander, glaubte aber, die Frau von Leander, dem Bruder und Partner von Cyrus, vor sich zu haben. »Seine Zeitungskolumne mag ja beliebt sein, aber ich finde ihn einfach unverschämt.« »Wenigstens kann man ihn verstehen«, sagte eine andere Frau. »Dieser furchtbare irische Dialekt Dunnes ist einfach unmöglich.« Sie bezog sich auf Finley Peter Dunnes Mr. Dooley, einen fiktiven Chicagoer Salooninhaber, der philosophische Weisheiten und politische Ansichten im Rahmen einer Kolumne in der Evening Post verbreitete. Julie fand Mr. Dooley spaßig, aber das wagte sie ihren Eltern nicht zu gestehen. Pork
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Vanderhoff haßte die »Saloon-Iren« und ihre ganze Kultur. Julie gefiel die Daily-News-Kolumne »Hieb und Stich« von Eugene Fields – nicht verwandt mit Marshall – sogar noch besser als Mr. Dooley. Field haßte Pomp und Konventionen. Pork konnte Mr. Field natürlich nicht ausstehen. Und Julies Mutter hatte einmal gesagt: »Wie ist es möglich – wie kommt es, daß ausgerechnet jemand, der Lieder und Gedichte schreibt, die bei kleinen Kindern so beliebt sind« – Julie selbst hatte in ihren ersten Schuljahren Little Boy Blue auswendig gelernt –, »sich derart sarkastisch und verächtlich über jene äußert, von denen er weiß, daß sie ihm überlegen sind?« Mrs. Blauvelts Stimme riß Julie aus ihren Gedanken. Die Autorin hatte den autobiographischen Monolog der Selbstbeweihräucherung wieder aufgenommen. Einmal verglich sie sich sogar mit Gustave Flaubert und Emile Zola. Als sie erkannte, daß sich in den Gesichtern der Umstehenden zunehmend Langeweile ausdrückte, stampfte sie sofort davon, um sich neue Zuhörer zu suchen. Die kleine Gruppe löste sich auf. Nell winkte einer anderen Bekannten zu, aber Julie wollte nicht den ganzen Nachmittag damit verbringen, hinter ihrer Mutter herzulaufen, sie schaffte es, zu entwischen, als Nell in eine andere Richtung steuerte. Allein wanderte sie durch die anderen Räume der Villa. Sie ging durch das spanische Musikzimmer, das englische Eßzimmer und durch den maurischen Wandelgang, der in den Ballsaal führte, wo das Orchester musizierte. Der Ballsaal war zweifellos der Mittelpunkt des Festes. Er war fast 35 Meter lang, und es herrschte dichtes Gedränge. Die Gäste bedienten sich mit Eierflip und Madeira, Geflügelsalat und Austern sowie anderen Köstlichkeiten, die auf langen Buffettischen aufgebaut waren. Zahlreiche in Öl gemalte Ladies und Gentlemen blickten von abgesperrten Bildergalerien auf allen Seiten des Raums auf das Treiben herab. Das kleine, elegant gekleidete Orchester spielte auf einem Balkon am hinteren Saalende. Riesige Tiffanyleuchter erhellten die Szenerie, deren Glanz in jedes Dekor gepaßt hätte, das Mrs. Blauvelt sich nur ausdenken konnte. Julie holte sich einen Eierflip und fragte sich betrübt, was Paul in diesem Augenblick wohl tun mochte. Hoffentlich hat er etwas mehr Spaß, dachte sie. Leider würde er niemals zu den Palmers eingeladen. Sie wünschte sich, sie wäre bei ihm. Sie schaute sich suchend um, bis sie flüchtige Bekannte erblickte: Charles Yerkes, den König des Transportwesens, und seine bildschöne zweite Frau Mary Adelaide. Julie wollte nicht mit ihnen reden. Papa konnte den Mann nicht leiden. Er sagte, Yerkes habe wegen irgendeines
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Börsenschwindels im Gefängnis gesessen. In Chicago betrieb er ein ganzes Netz von Baufirmen, Dienstleistungs- und Holdinggesellschaften, und obgleich Julie von geschäftlichen Angelegenheiten keine Ahnung hatte und sich auch nicht dafür interessierte, war sie bereits mit den mangelhaften Wagen von Mr. Yerkes gefahren und kannte seine halsabschneiderischen Fahrpreise. Yerkes ignorierte sämtliche Klagen und Beschwerden. Als das Thema der Überfüllung zur Sprache kam, reagierte er darauf mit einem spöttischen Kommentar, der in allen Zeitungen abgedruckt wurde: »Es sind allein die Stehplatzinhaber, die die Dividenden zahlen.« Julies Vater sagte über Yerkes: »Wenn man schon ein gottverdammter Gauner ist, dann ist man es seiner Familie schuldig, es möglichst geheimzuhalten.« Sie schlich sich um Mr. und Mrs. Yerkes herum, nickte und lächelte, als Mary Adelaide sie grüßte. Sie entdeckte ihren Vater in einer Gruppe von Männern und Frauen, die aufmerksam einem anderen Gentleman zuhörten. Sie konnte den Sprecher nicht einordnen, denn sie sah nur seinen Rücken. Sie schob sich durch das Gewimmel der Gäste, bis sie einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Dann erkannte sie ihn sofort. Es war George Pullman, ein imponierender Mann um die Sechzig mit einem buschigen und sorgfältig getrimmten Knebelbart. George Mortimer Pullman war ebenfalls einer der Giganten Chicagos. Auch er hatte genau wie McCormick die Schule frühzeitig an den Nagel gehängt. Er hatte als Schranktischler im Staat New York angefangen, aber er interessierte sich schon frühzeitig für größere Objekte und Ideen. Sein Vermögen, seine große Fabrik und die vorbildhafte Arbeiterstadt, die er in der Nähe erbaut hatte, waren allesamt Früchte einer einzigen Erfindung. Ende der fünfziger Jahre hatte Mr. Pullman zwei Personenwagen der Chicago & Alton-Eisenbahnlinie umgebaut und seine patentierten herunterklappbaren oberen Schlafliegen an die Seitenwände des Waggons geschraubt. Die Passagiere waren von diesem Schlafwagenprototypen begeistert, doch die Eisenbahngesellschaften reagierten skeptisch und übervorsichtig. Nachdem Mr. Pullman 1865 auch eine untere zusammenklappbare Liege vervollkommnet und patentiert hatte, mußte er seinen eigenen Eisenbahnwagen, den Pioneer, selbst finanzieren. Aber der erwies sich als zu groß für die bestehenden Bahnhöfe und Unterführungen. Er wollte jedoch seine Konstruktion, die der Öffentlichkeit gut gefiel, nicht ändern, daher kapitulierten schließlich die Eisenbahngesellschaften vor der Pullman Palace Car Company und bauten ihre Bahnhöfe und Überführungen um. Mr. Pullman hatte außerdem den Speisewagen und den Salonwagen sowie den Eisenbahnwagen mit Harmonikaverbindung erfunden. Papa hielt
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Pullman für anmaßend und arrogant, aber er war immer noch akzeptabel, weil er republikanisch wählte. Mr. Pullman redete ohne Unterlaß, als rechne er nicht mit Unterbrechungen. Seine Gesten waren ausladend und theatralisch. Dieser Mann strahlte wirklich eine unerträgliche Überheblichkeit aus. Julie gesellte sich zu den Zuhörern und fand einen Platz neben Pullmans Frau Hattie. Pork warf seiner Tochter einen flüchtigen Blick zu und bohrte dann gedankenlos die Spitze seines kleinen Fingers in sein rechtes Ohr, als wolle er Ohrenschmalz herauskratzen. »Sie kläffen mich an wie ein Rudel Straßenköter, weil ich die Löhne der Arbeiter gekürzt habe. Das tat ich nur, weil die Bestellungen zurückgegangen sind. Aber nun werde ich dafür gegeißelt, daß ich ähnliche Kürzungen nicht bei den Gehältern der leitenden Angestellten und der Vorarbeiter vorgenommen habe. Und daran erkennt man das totale Unverständnis für die Wirtschaft und das amerikanische System.« »Wie meinen Sie das, Sir?« fragte jemand. »Begreifen Sie denn nicht? Wenn ich die Gehälter meiner leitenden Angestellten kürze, ergibt sich die Gefahr von Massenkündigungen. Am Ende, wenn der wirtschaftliche Aufschwung wieder einsetzt, stünde ich dann nur noch mit einem unvollständigen Management da. Die Gehälter der höheren Leitungsebene nicht anzutasten ist geradezu eine zwingende Notwendigkeit. Desgleichen die Aufrechterhaltung unserer Dividendenzahlungen. Die Öffentlichkeit erwartet acht Prozent bei Pullman-Aktien, also zahlen wir auch acht Prozent. Es ist eine Frage des Vertrauens.« »Diese Leute, die George ständig anklagen, sind ganz einfach hinterhältig und gemein«, verkündete Hattie. »Es gibt sogar unzufriedene Arbeiter, die aber weiterhin ihre Pullman-Löhne beziehen.« »Sie meinen Leute, die eine Stelle haben und trotzdem die Firma kritisieren?« sagte ein Gentleman verblüfft. »Das kann ich nicht glauben.« »Es trifft absolut zu«, sagte Pullman. Wie selbstgefällig er doch ist, dachte Julie. »Aber in dieser Hinsicht bin ich nicht ganz hilflos. Ich habe ein Netz von – nennen wir sie mal Beobachtern – aufgebaut. Sie helfen mir, die schlimmsten Unruhestifter schnell zu erkennen und zu entfernen. Sobald ich so einen entdecke, endet sofort sein Mietvertrag in der PullmanSiedlung.« »Das ist nur gerecht«, meldete Hattie sich wieder zur Wort. »George hat schließlich Hunderttausende investiert, um eine Modellstadt zu errichten. Eine Stadt, in der alles, was häßlich, störend und demoralisierend ist, abgeschafft wurde.«
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Julie zögerte, hob aber dann doch die Hand. »Mrs. Pullman, darf ich mal eine Frage stellen?« Hattie Pullman erstarrte. »Wenn Sie wünschen, Miss Vanderhoff.« »Eigentlich geht es nur darum, daß ich etwas nicht ganz verstehe. In den Zeitungen steht, daß man sich in der Arbeiterstadt Pullman darüber beklagt, daß die Mieten nicht gesenkt wurden, obgleich die Arbeiter, also die Mieter, nun viel weniger verdienen.« In Wirklichkeit las sie eigentlich nie Zeitung. Sie hatte es vom jungen Joe Crown gehört. Sie stellte ihre Frage in einem unschuldigen Ton, der eine freundliche Reaktion verdiente. Sie dachte, sie habe eine logische, naheliegende und durchaus berechtigte Frage gestellt. Sie wollte nichts anderes, als von Pullman direkt aufgeklärt werden. Daher war sie überhaupt nicht auf die stumme, wütende Miene ihres Vaters, den vernichtenden Blick Hattie Pullmans und den Zorn des großen Mannes selbst vorbereitet. »Miss Vanderhoff, gehören etwa auch Sie zu jenen schlecht informierten Leuten, die von geschäftlichen Dingen nicht die geringste Ahnung haben? Pullman der Fabrikant und Pullman der Hausherr und Vermieter sind völlig verschiedene Geschäftsunternehmen. Sie dürfen diese beiden nicht durcheinanderbringen.« »Aber es erscheint mir nicht ganz richtig, daß –« »Juliette, wo ist deine Mutter?« unterbrach Pork sie laut. »Wir müssen jetzt leider gehen. George – Hattie – Freunde – ein frohes neues Jahr Ihnen allen.« »Und auch für Sie«, sagte George Pullman ausdruckslos. Er sah Julie an. Es war der Blick, mit dem er normalerweise jemanden musterte, der schmutzig war und stank. In der Kutsche redete niemand. Nell tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab. Als Julie sich vorbeugte, um die Hand ihrer Mutter zu ergreifen und zu erklären, daß sie sich wirklich nichts Böses bei ihrer Frage gedacht habe, zog ihre Mutter die eigene Hand mit einem verletzten Gesichtsausdruck zurück. Sie lehnte die Stirn gegen das Seitenfenster und schloß die Augen. Zu Hause suchte sie sofort ihr Zimmer auf, ohne ein einziges Wort von sich zu geben. Julie ging in ihrem Zimmer auf und ab und wurde immer unruhiger. Krachend flog die Tür auf. »Papa –« »Sag jetzt nichts! Nicht ein verdammtes Wort. Du hättest nicht so mit Pullman reden dürfen. Alle werden davon erfahren. Hast du nicht gesehen, wie sie uns alle angestarrt haben, ehe wir gingen?«
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Julie verlor die Nerven. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es war eine völlig normale Frage –« »Aber nicht von einer wohlerzogenen jungen Frau. Verdammt noch mal! Dein Platz ist im Hintergrund, der Platz einer aufmerksamen, hübsch anzusehenden Zuhörerin. Du hast deiner Mutter heute nachmittag Schande gemacht. Sie liegt schon wieder im Bett, sie ist völlig entkräftet.« An diesem Abend versank Julie in der Düsternis ihres Zimmers ebenfalls in einen Zustand der Düsternis. Sie kämpfte dagegen an, erkannte, was es war: die ersten Anzeichen eines Leidens, das dem ihrer Mutter ähnelte; ein Zustand der Bedrücktheit und Tatenlosigkeit, der Tage, ja Wochen anhalten konnte. Sie begriff, daß ihre Empfindungen wahrscheinlich eine Schuldreaktion auf die Entrüstung waren, die sie mit ihrer Frage ausgelöst hatte. Daß sie das begriff, half ihr nicht, ihre Verzweiflung zu meistern. Paul war vergessen. Sie zog die Bettdecke über den Kopf, rollte sich zu einer Kugel zusammen, verschränkte die Hände und versteckte sich. Warum auch nicht? Frauen hatten nun mal ein empfindliches Nervenkostüm. Derartige Leidenszustände waren unvermeidbar. Das hatte Mama ihr oft genug erklärt.
37 PAUL An einem warmen Märztag, als Tauwetter herrschte, strich Paul durch die Regalgänge in McClurgs Buchhandlung, einem Chicagoer Wahrzeichen in einem alten Klinkerbau an der Ecke Monroe- und Walsh-Straße. In dem Laden roch es aromatisch nach Buchpapier und Ledereinbänden und nach dem Kaffee in der Kanne, die auf einer kleinen Gasflamme in der Nähe einiger Schaukelstühle im hinteren Teil des Ladens stand. Vetter Joe sagte, dies sei die Nische der Heiligen und der Sünder. Viele literarische Persönlichkeiten hatten dort geschaukelt, gelesen und diskutiert. Dort saß ein Mann mit einem aufgeschlagenen Buch. Paul grüßte nervös, als er das erste Mal an ihm vorbeiging. Der Mann antwortete freundlich. Paul fragte sich, ob es jemand Berühmtes war. Der Mann war Anfang Vierzig, lang und hager. Er lümmelte im Schaukelstuhl und hatte ein Bein über die Armlehne gelegt. Er hatte ein freundliches, regelmäßiges Gesicht, blaue Augen wie Vetter Joe, schütteres glattes Haar und ein großes Muttermal auf der linken Wange. Sein zerknautschter Anzug hatte ein grelles Karomuster in Braun, Gelb und Grün. Eine zerbeulte schwarze
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Melone lag unter seinem Stuhl. Paul schlenderte langsam durch den Gang und bog in den nächsten ein. Er gab sich Mühe, so leise wie möglich aufzutreten, um den Mann nicht beim Lesen zu stören. Als Paul wieder in seine Nähe kam, blickte der Mann plötzlich hoch und schien etwas zu bemerken. Seine Augen blinzelten warnend. Eine Sekunde später hörte Paul hinter sich dumpfe Schritte. »Junger Mann!« Er wirbelte herum. Es war der kleinliche Angestellte, der ihn schon mißtrauisch beäugt hatte, als er hereingekommen war. »Du wanderst hier herum, als hättest du dich verirrt. Hast du die Absicht, ein Buch zu kaufen?« Nervös griff Paul nach dem Buch, das ihm am nächsten stand. »Ich warte hier auf eine Bekannte. Ist das möglich?« »Es kommt darauf an. Sind deine Hände sauber? Wenn nein, dann faß bitte keine Ware an.« Hastig stellte Paul das Buch zurück. Der Mann im Schaukelstuhl meldete sich zu Wort. »Hören Sie, Simpkins, ich glaube, ich hab’ da hinten eine Schlange gesehen.« »Eine Schlange? Mein Gott, wo?« »Drüben in der Ecke.« Der Mann stand auf. Er war hochgewachsen, schlaksig und hatte hängende Schultern. Er deutete in die angegebene Richtung. Seine Nägel waren bis auf die Fingerkuppen abgekaut. »Ich hab’ gesehen, wie sie hinter die Kiste da vorne gekrochen ist.« »Wir hatten noch nie Reptilien hier drin –« Der Angestellte rannte nach vorne und kam im Laufschritt mit einem Besen zurück. Er hielt ihn vor sich im Anschlag wie ein Gewehr, während er auf die Kiste zuschlich. Der Mann in der Ecke blinzelte Paul zu. Der Angestellte schob die Kiste mit einem Tritt zur Seite. Dort war nichts, außer Staub und einem Spinnennetz. »Mr. Field, ist das wieder einer Ihrer seltsamen Scherze?« Der Mann hatte ein ansteckendes Grinsen auf den Lippen. »Nennen Sie es einfach eine notwendige Ablenkung.« »Zu welchem Zweck, wenn ich fragen dürfte?« »Simpkins, seien Sie nicht so hochnäsig. Wir sind hier bei McClurg’s und nicht in einem Mädchenpensionat. Der Zweck der Übung war, Sie davon abzuhalten, unschuldige Kunden wie diesen jungen Burschen zu belästigen. Haben Sie vergessen, daß eine Buchhandlung dazu da ist, darin herumzustöbern? Das ist ihr einziger, vom Himmel gewollter Zweck. Wenn Sie sich daran nicht mehr erinnern können, gehen Sie lieber auf Schlangenjagd.«
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Simpkins marschierte mit hochrotem Kopf davon. Er funkelte Paul wütend an, als er an ihm vorbeiging. Immer noch amüsiert, ließ der große Mann sich wieder nieder. »Ich glaube, ich muß mich mal mit General McClurg über diesen Wurm unterhalten.« Paul näherte sich dem Schaukelstuhl. »Gestatten Sie mir, daß ich mich bei Ihnen bedanke, Sir.« »Klar, Dutch, und ich sag’ dir auch, wie am besten. Kauf die Daily News. Und lies in Zukunft nichts anderes.« Paul entschied, daß der Spitzname Dutch gar nicht so schlecht klang, wenn jemand ihn in freundlicher Absicht aussprach. »Arbeiten Sie für die Zeitung?« fragte er. »Ich schreibe dafür. Field ist mein Name. Geh schon, sieh dir alle Bücher an, die dich interessieren. Dieser Wurm wird dich nicht mehr stören.« »Danke, ich warte auf jemanden. Sie scheint sich zu verspäten.« »Na ja, hoffen wir, daß sie dich nicht draufgesetzt hat.« Er wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Paul verstand nicht, was »draufsetzen« heißen sollte, es sei denn, es bedeutete, daß Julie nicht käme. Er hatte sie sechs Wochen lang nicht mehr gesehen. Vetter Joe auch nicht. Er wurde fast verrückt vor Sorge und Sehnsucht. Er hoffte, er hatte am vorangegangenen Tag keinen Fehler gemacht, indem er einem der Stallknechte der Vanderhoffs fünfzig Cents gegeben hatte, um eine Nachricht ins Haus zu schmuggeln. »Ich tu’s«, hatte der Bursche gesagt. »Aber es ist möglich, daß sie den Zettel nicht sofort liest. Es geht ihr nicht gut.« »Ist sie krank? Was fehlt ihr?« »Ich hörte, es ist irgendeine Frauensache.« Er nahm seine Wanderung wieder auf und knetete nervös seine Mütze. Er trug noch immer seine Arbeitskleidung. Außerdem hatte er seine Haare länger wachsen lassen, so daß sie ihm fast bis zum Kragen reichten, zum Mißfallen Tante Ilsas, die sich ablehnend dazu äußerte. Sie kommt nicht, es ist vorbei. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich werde sie nie wiedersehen … Das Klingeln der kleinen Glocke über der Ladentür ließ ihn herumwirbeln. Eine Mädchengestalt stand als Silhouette vor dem grellen Schein der Mittagssonne. Draußen schmolzen schmutzigweiße Schneehaufen. Er erkannte sie und war erleichtert. Sie kam durch den Gang geeilt, warf flüchtige Blicke auf den Angestellten und den anderen Kunden. Sein Herz klopfte heftig.
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Sie sah nicht gesund aus. Ihre Haut hatte die Farbe frischgefallenen Schnees. Breite, bläuliche Schatten um die Augen veränderten fast unmerklich deren Ton und minderten den Glanz, an den er sich erinnerte. Paul ergriff ihre behandschuhte Hand. »Geht es dir gut?« »Ja, prima.« »Du hast die Nachricht erhalten?« »Ja, und niemand weiß davon außer dem jungen Mann, der sie mir gebracht hat.« »Er sagte, du seist krank.« Sie senkte den Blick. »Es sind die Nerven. Aber es geht mir schon besser.« Das mochte zwar so sein, aber ihr fehlte jene fröhliche Zuversicht, die für ihn ein Teil ihrer Natur war. »Weshalb arbeitest du nicht?« fragte sie. »Es ist Samstag.« »Ich habe mir ein paar Stunden frei genommen. Der Braumeister kann mich gut leiden, er hatte nichts dagegen. Ich mußte dich sehen, Julie, das Eis auf dem Teich ist schon längst getaut.« »Ist der Schlittschuhclub geschlossen?« »Schon seit ein paar Tagen. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, uns jede Woche zu sehen. Deshalb habe ich dir die Nachricht geschickt. Fährst du Fahrrad?« Ganz gewiß tat sie das; jeder in Amerika fuhr Fahrrad. Amerika war ganz wild darauf. »Ja, aber Mama mag es nicht. Sie findet es vulgär. Weshalb fragst du?« »Weil ich einen Plan habe. Du mußt im Lincoln-Park Fahrrad fahren. Du kannst dir dort eins mieten, ich habe mich bereits erkundigt. Ich tue dann so, als sei ich dein Fahrradlehrer.« Sie traute ihren Ohren nicht. »Mein –?« »Lehrer. Trainer. Wie soll ich mich nennen? Leopold? Thomas? Sammy? Thomas, das klingt ehrenwert. Thomas, der Fahrradexperte. Mein Unterricht ist – zuverlässig –« Er suchte nach dem richtigen englischen Wort. »Gründlich?« Sie nickte zustimmend. »Zuverlässig und stets zuvorkommend.« Er verbeugte sich, schnitt dabei Grimassen und versuchte sie aufzumuntern. Der Angestellte tauchte im Nebengang auf, fuhr mit einem Staubwedel über die Bücher, während er zu lauschen versuchte. »Ich komme immer am Sonntag. Ich kann vor dem Haus warten, respektvoll, wie es sich gehört, und du kannst herauskommen. Ich trage Klammern an meiner Knickerbocker. Du kannst mich den Leuten im Haus zeigen. Meine demütige Haltung. Du kannst sogar so tun, als würdest du mich bezahlen. Ich gebe dir dann später das Geld zurück.« Sie lachte. »O Paul, ich weiß gar nicht, was ich von dir und deinen Ideen
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halten soll.« »Ich setze stets alles daran, mein Ziel zu erreichen. Wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere.« »Das ist skandalös.« »O nein, ich mache keinen Skandal – niemals. Ich werde stets deine Ehre verteidigen.« »Du hast mich mißverstanden.« Sie berührte seine Hand; ließ ihre behandschuhten Finger über seine Haut gleiten. »Ich mag deinen Mut.« »Vielen Dank.« Er grinste. Er fühlte sich wie einer dieser Abenteurer, von denen er gelesen hatte, die sich verbotenerweise in einem Faß die Niagarafälle hinunterstürzten. Er kam sich im Augenblick vor wie im freien Fall, genauso wie sie. »Ich will dich sehen, ich muß dich sehen.« Nun streichelte er sie, ergriff sanft ihre Hand. »Ich kann nicht anders.« Sie schien aus seinen Worten Kraft zu schöpfen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde plötzlich entschlossener. Nun sah er wieder die junge Frau mit dem starken Willen und der ansteckenden Fröhlichkeit vor sich, mit der er am ersten Tag Schlittschuh gelaufen war. Leise sagte sie: »Ich auch nicht.« Der aufdringliche Angestellte starrte sie, kaum einen Meter entfernt, über ein Regalbrett hinweg an. Paul trat zwischen ihn und Julie und verdeckte ihm so die Sicht. Er beugte sich zu Julie vor, um ihr etwas zuzuflüstern. »Ich liebe dich«, raunte er auf deutsch. »Was hast du gesagt?« Er errötete. »Ich habe nicht den Mut, es auf englisch auszusprechen.« »Ich glaube, ich weiß, was es heißt. Ich empfinde – das gleiche.« »Dann laß mich bitte dein Fahrradlehrer sein.« »O ja. Aber ich glaube nicht, daß es klug von dir wäre, wenn du zum Haus kämst. Ich erzähle meinen Eltern, ich hätte dich durch einen Freund kennengelernt, der Mitglied im Reit- und Fahrradclub ist. Das ist eine ganz hervorragende Empfehlung. Mama wird sich aufregen, aber mit ihr komme ich schon zurecht. Ich werde mir Mühe geben.« »Das wäre dann sonntags.« »Ja, sonntags.« »Schon bald?« »Wir können morgen anfangen. Ich bin so froh, daß du die Nachricht geschickt hast. Du bist sehr mutig, Paul. Mutig und ganz süß –« Sie war den Tränen nahe, aber es waren Tränen des Glücks. »Würdest du die Worte noch einmal wiederholen?«
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»Ich liebe dich.« Als sei nun seine Geduld erschöpft, machte der Angestellte den Mund auf, um etwas zu sagen. Paul zog an Julies Arm. Der Reporter, Mr. Field, sah ihnen amüsiert zu. Er griff in seine Weste und holte ein kleines Notizbuch und einen Bleistift hervor. Draußen spürten sie den Wind vom See. Sie standen im Sonnenschein, während kühle Windböen von den Schneehaufen herüberwehten. Pauls Herz schlug heftig. »Würdest du es auch zu mir sagen?« »Ich liebe dich, Paul. Wenn ich tausend Sprachen sprechen würde, müßte ich es in jeder sagen. Ich liebe dich.« Er war im Himmel. Die Gesänge der Loreley, die auf ihrem Felsen über dem Rhein saß, konnten nicht lieblicher sein als diese Musik. Er wußte, daß sein Leben sich für immer geändert hatte.
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Solltet ihr krank sein, arm, hungrig, unterdrückt oder bekümmert, so stehen eure Chancen auf Mitgefühl und Hilfe von E. V. Debs bei hundert zu eins. Bei G. M. Pullman habt ihr nahezu keine Chance, Unterstützung zu bekommen. 1894 Eugene Field von den ›Chicago Daily News‹ Wenn Sie nicht sofort gezielte Maßnahmen ergreifen, geraten Aufruhr und Rebellion außer Kontrolle, und es kommt zu Blutvergießen und Verwüstung. … ich bete zu Gott, daß er Ihnen den Vulkan zeigt, auf dem wir alle stehen. 1894 Nachricht eines Chicagoer Geschäftsmannes an Präsident Cleveland
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38 JOE JUNIOR In diesem Winter verbrachte Joe junior weniger Zeit mit seinem Vetter. Paul brauchte seine Dienste als Mittelsmann im Lincoln-Park nicht mehr. Er und Julie waren bis über die Ohren ineinander verliebt; sie nahmen ihre Umgebung kaum wahr. Joe junior erkundigte sich bei Paul nach seinen Plänen hinsichtlich Julie, wenn der Frühling käme und der Clubpavillon schlösse. Paul grinste und sagte, er habe sich bereits einen raffinierten Plan zurechtgelegt. Joe beglückwünschte ihn, warnte seinen Vetter aber gleichzeitig. »Paß nur auf, daß der alte Vanderhoff nichts merkt.« Joe hatte nichts dagegen, von seinen Pflichten als Sendbote der Liebe entbunden zu sein. Er hatte schließlich seine eigene Freundin, an die er denken mußte. Um Roza Jablonec zu besuchen, mußte er zehn Meilen weit bis nach Pullman hinausfahren, in jene Modellstadt, die 1882 als Wohnsiedlung für fünftausend Arbeiter der Pullman Palace Car Company gegründet und errichtet worden war. Die Strecke legte er in zwei Etappen zurück, wobei er von einer Pferdebahn in die nächste umstieg. Die Fahrt selbst machte ihm nichts aus, denn er war eigentlich sehr gerne allein. Gewöhnlich steckte er sich ein Buch in die Tasche. Er liebte es, sich allein irgendwohin zurückzuziehen und in Ruhe zu lesen. Das war schon immer so gewesen. Auch die Sportarten, die man allein ausüben konnte, wie Schlittschuhlaufen und Schwimmen, bevorzugte er. Im Unterschied zu Carl fügte er sich ungern in eine Mannschaft ein. Wenn er an einem Sonntag mit der Pferdebahn nach Süden fuhr, malte er sich manchmal in den lebhaftesten Farben aus, wie der Tag verliefe, wenn er Glück hätte. Rosie auf dem Rücken unter ihm, stöhnend, sich ihm entgegendrängend und ihn zu noch größerem Tempo anstachelnd. Es konnte aber auch ganz anders kommen. Es hing einzig und allein davon ab, ob Rosies Eltern, Tabor und Maritza, einen Spaziergang unternahmen oder nicht. Joe junior und Rosie liebten sich immer nur im Haus. Ihr erster Versuch, es woanders zu wagen, auf dem Heuboden einer Scheune, endete damit, daß der Eigentümer sie erwischte und sie flüchten mußten, als Joe gerade die Hose heruntergezogen hatte. Bei einer anderen Gelegenheit, in einem Wäldchen draußen auf dem Land, war Rosie zweimal von einer Hornisse gestochen worden. Damit war die Suche nach einem Liebesnest außerhalb Pullmans zu Ende. Während seiner Fahrten am Sonntagmorgen dachte er nicht immer an Sex. Manchmal las er besonders schwierige Passagen eines Buchs mehrmals, bis er sie verstand. Manchmal dachte er über die Zukunft des
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Landes nach oder über seine Familie. Über Pa, der niemals aufhörte, seine Angestellten, seine Frau, seine Kinder zu kontrollieren. Der niemals einen Hehl daraus machte, daß er alles unter Kontrolle hatte, was mit seinem Leben in Berührung kam. Der sich niemals ändern würde. Und manchmal dachte er über seinen Vetter nach. Paul war ein guter Kerl. Jung, zäh. Jämmerlich unerfahren. Ein Träumer, ein Sternengucker. Paul dachte, Amerika sei viel besser als die alte Heimat. Besser als jeder andere Ort der Erde. Er dachte, daß in Amerika niemand Intrigen spann und betrog und mordete, um das zu bekommen, was er wollte. Daß niemand Politiker bestach. Niemand den ordinären Arbeiter wie eine kleine Schachfigur betrachtete, als Spielmarke in einem großen Geldkarussell, das von einigen wenigen in Gang gehalten und gesteuert wurde. Joe versuchte ständig, seinen Vetter über alles mögliche aufzuklären. Es schien nichts zu nutzen. Obgleich die Vettern einander sehr gern hatten, diskutierten sie häufig und leidenschaftlich miteinander. Einmal hatten sie sogar einen richtigen Streit. Nach der Arbeit ging Joe junior oft in Donophan’s Pool and Billiard Hall in der Lake-Straße. Es war ein lauter, verrauchter Treffpunkt, der bei den Arbeitern sehr beliebt war. Und es gab dort kein Crown-Bier, sondern nur Budweiser von Busch in St. Louis. Bei Donophan’s spielte Joe junior auch schon mal mit anderen Gästen. Außerdem spielte er Poolbillard gegen sich selbst. Paul bat ihn einmal, ihm dieses Spiel zu erklären. Daher nahm Joe ihn an einem Abend mit. Er rieb sein Queue mit Kreide ein, reichte ein zweites seinem Vetter und sagte: »Denk dran, es ist kein Wettkampf. Ich demonstriere nur.« Er legte die farbigen Kugeln auf. Paul hatte den ersten Stoß. Er entwickelte noch kein Gefühl für das Queue. Sie spielten Rotation, und Joe versenkte die Kugeln bis auf eine. Nach drei weiteren genauso einseitigen Spielen traten sie ans Messinggeländer der Bar und bestellten sich jeder einen Krug Bier für einen Nickel. Der stupsnasige Barkeeper betrachtete sie argwöhnisch. »Wie alt seid ihr denn, Freunde?« »Alt genug«, erwiderte Joe junior. »Geben Sie uns nur unser Bier, klar?« »Ist ja schon gut, nun macht euch mal nicht gleich in die Hose.« Joe junior stützte sich mit den Ellbogen auf die zerkratzte Mahagonitheke. »Ich zahl’ einen Dime, damit wir ein Gratisessen bekommen.« »Aber wenn du bezahlst, dann ist es doch nicht gratis.« »Das stimmt.« Paul schüttelte verblüfft den Kopf. »Amerika!« Sie gingen an der Bar entlang zu den Platten, die auf fleckigen Servietten standen. Es gab Roggenbrotscheiben, hartgekochte Eier, Salzfische, saure
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Gurken, eine Schüssel Sauerkraut. Joe nahm zwei Happen Sauerkraut und reichte danach Paul die Gabel, der sich ein Stück von dem Fisch nahm. Jemand anderer bat um die Gabel – sie war für die gesamte Bar gedacht –, und Paul gab sie ihm. Der stupsnasige Barkeeper brachte das Bier. Paul blies den Schaum herunter und kostete. »Das ist aber nicht so gut wie unseres.« Joe junior lachte. »So spricht der treue Lohnsklave.« »Joe«, sagte Paul und machte plötzlich ein ernstes Gesicht. »Ich habe von den Problemen in der Pullman-Fabrik gelesen. Was wird dort passieren?« »Überhaupt nichts, wenn man sich darauf verläßt, daß die Bosse ein faires Spiel treiben. Sie sind genauso wie alle anderen Kapitalisten in diesem Land. Das würdest auch du feststellen, wenn du nur ein paar von den Büchern lesen würdest –« »Ich weiß, ich weiß. Die Bücher. Im Augenblick arbeite ich die englische Grammatik durch, die ich mir gekauft habe.« »Darin wirst du aber kaum die Wahrheit finden.« »Du redest dauernd von der Wahrheit, aber was ist die Wahrheit?« »Etwas, was du nicht hören willst. Du willst nicht hören, daß unsere glorreiche Freiheit nicht das ist, was sie angeblich sein soll. Du bist frei, das ist richtig. Frei, jeden auszubeuten, der schwächer ist als du. Frei, kleine Kinder an gefährlichen Maschinen in einer schmutzigen, finsteren Fabrik arbeiten zu lassen. Frei, selbst das Leben eines Sklaven zu führen.« »Angenommen, ich arbeite in einer Fabrik, die so schlimm ist, wie du sie beschreibst. Dann habe ich die Freiheit zu kündigen. Das entspricht doch auch der Wahrheit, oder?« Joes Lachen schien ihn zu verspotten. »Natürlich. Du hast wirklich alle Freiheit der Welt, aufzuhören, auf der Straße zu hungern, dich in Lumpen zu kleiden – zu sterben. Du denkst wohl, wir sind hier etwas Besonderes, nicht wahr? Das sind wir nicht. Dieses Amerika, das du dir da zusammengesetzt hast, existiert nur in deinem Kopf, Paul. Es ist eine Phantasievorstellung. Du denkst wohl, daß jeder, der fleißig arbeitet und sich an die Gesetze und Regeln hält, am Ende so reich wird wie Pa, oder? Einen Teufel wird er sein. Ein paar wenige schaffen es, zu Bossen aufzusteigen, und die bestimmen dann die Spielregeln und das Spiel. Sie rauben und betrügen und organisieren dein Leben! Das ist die Wahrheit.« Paul schwieg und dachte stirnrunzelnd nach. »Joe, dann beantworte mir doch mal folgende Frage. Wenn Amerika gar nicht besser ist als jeder andere Ort, weshalb setzen so viele Menschen alles aufs Spiel, um hierherzukommen? Warum bin ich dann gekommen?«
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Joe junior legte einen Arm um die Schultern seines Vetters. »Die zweite Frage werde ich nicht beantworten, Kleiner. Aber die erste. Wir haben hier in Chicago einen Mann namens Mike McDonald. Big Mike. Er ist Spieler. Er ist reich. Er leitet ein Etablissement namens Store an der Ecke Clarkund Monroe-Straße. Er kontrolliert außerdem die Ratsherren und Politiker der Demokratischen Partei. Big Mike sagt immer: ›Jede Minute wird ein neuer Trottel geboren.‹« »Was meint er damit?« Joe griff nach seinem Bierkrug und leerte ihn. »Er meint damit jemanden, der alles glaubt, was man ihm erzählt.« Paul stellte mit einer heftigen Bewegung seinen Krug auf die Bar. Sein Gesicht rötete sich schlagartig. »Du denkst also, so einer bin ich? Na schön –« »Moment mal, ich –« »– vielen Dank.« Paul nahm den Fuß von der Messingstange und stürmte davon. Joe junior folgte ihm und holte ihn dicht vor dem Ausgang ein. »He, jetzt sei doch nicht wütend! Ich habe dich nicht ausgelacht, ich habe nur versucht, etwas zu erklären. Dir die Wahrheit zu erzählen. Du hast schließlich danach gefragt.« »Die Wahrheit, die du siehst. Ich sehe etwas anderes. Ich sehe all die Menschen auf dem Schiff, wie sie zur Freiheitsstatue im New Yorker Hafen emporblicken und hoffen, daß sie das Tor zu einem besseren Ort bewacht als den, den sie soeben verlassen haben. Ich war einer von diesen Menschen.« Joe seufzte. »Na schön! Belassen wir es dabei. Ich wollte dich nicht ärgern.« Er streckte ihm eine Hand entgegen. »Freunde?« Paul entspannte sich. Das Blut wich aus seinen Wangen. »Klar. Freunde.« Sie schüttelten sich die Hände. Dann gingen sie Arm in Arm die Lake-Straße hinauf. Damit war die Diskussion für diesen Tag beendet. Aber endgültig geklärt war damit natürlich gar nichts. Der April kam. Amerika steckte noch immer im Würgegriff der Wirtschaftskrise. Die kleinen Leute waren völlig machtlos – irgendwie fühlten sie sich aus der Ferne kontrolliert durch Kräfte, gegen die sie sich nicht wehren und die sie nicht verstehen konnten. Es war die Rede von »Bossen«, »Konzernen« und »Goldgierigen« – fernen, unheimlichen Instanzen, die durch Intrigen die Wirtschaft manipulierten und mit der Existenz armer Menschen spielten, ohne sich darum zu scheren, ob diese leben oder sterben würden.
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In Ohio hatte ein gewisser Jacob Coxey aus Massillon mehrere hundert Arbeitslose mit der Absicht zusammengetrommelt, sie in einem Protestmarsch nach Washington zu führen. Coxey war Farmer, ein gläubiger Christ, Populist, Bürgerkriegsveteran und echter KleinstadtExzentriker. Sein jüngstes Kind hatte er Legal Tender Coxey genannt. Eine kleine Journalistengruppe folgte »General« Coxeys Armee, als sie durch kalte Regengüsse nach Osten zog. Der Kampfgeist schien unter dem schlechten Wetter und wundgelaufenen Füßen nicht zu leiden, schrieben die Reporter. Eine kleine Kapelle namens Commonwealth of Christ Brass Band spielte Melodien zum Marschieren und Mitsingen. Besonders beliebt war eine parodistische Version von After the Ball, in der sich die Hoffnung ausdrückte, daß eine Gesetzesänderung noch im Mai eine Verbesserung für die Arbeiterschaft bringen werde. Das war zweifelhaft. Sehr zweifelhaft, befand Joe junior. Am 28. April würde Joe seinen 18. Geburtstag feiern. Er hatte seine körperliche Reife erreicht; er würde stets die kleine, zierliche Gestalt haben, die er von seinem Vater geerbt hatte. Aber seine Schultern, Arme und Beine waren muskulös, seine Handflächen von der Arbeit hart und schwielig. Mit jener unbewußten Arroganz der Jugend betrachtete er sich selbst als ausgewachsenen Mann. In diesem April hatte der Mann von fast achtzehn Jahren in Pullman an zwei Sonntagen hintereinander Pech gehabt. Tabor Jablonec war ausgegangen, aber seine farblose Frau Maritza war zu Hause geblieben. Tabor wurde ständig von Sorgen gequält wie fast jeder, der für George Pullman arbeitete. Infolgedessen trank er. Um ein paar Gläser billigen roten Weins zu bekommen, mußte er ins benachbarte Dorf Kensington laufen. Auf Geheiß Mr. Pullmans gab es in seiner Stadt der Zukunft keine Saloons für Arbeiter. Nur in einer kleinen Bar im Siebzig-Zimmer-Hotel Florence, so benannt nach Pullmans Lieblingstochter, gab es Drinks für Manager und leitende Angestellte, doch die waren derart teuer, daß einfache Arbeiter sie sich nicht leisten konnten. Mr. Pullman war überzeugt, daß Männer, die den ganzen Tag hart gearbeitet hatten, weniger leistungsfähig und produktiv seien, wenn sie abends Alkohol tränken. Tabor Jablonec hatte durchaus Grund, zu trinken und sich Sorgen zu machen. Er war Schreiner in den Pullman-Reparaturwerkstätten, wo Wagen repariert und renoviert wurden, bevor sie wieder auf die Reise geschickt wurden. Pullman-Wagen verkehrten auf drei Vierteln aller Eisenbahnstrecken in den Vereinigten Staaten, aber nicht ein Wagen gehörte der Eisenbahngesellschaft. Sie betrieb die Wagen auf der Grundlage
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eines Vertrages und heuerte eigene Schaffner, Gepäckträger und Köche an. Für den Reparaturservice kassierte sie eine Pauschale von zwei Cents pro gefahrenen Kilometer. Anfang 1894 war Tabors Stundenlohn um 20 Prozent gekürzt worden und Ende Februar um weitere 15 Prozent. Nach der zweiten Kürzung zählte Tabor zusammen, was er seinem Vermieter und anderen schuldete, trank während der Mittagspause eine halbe Flasche Rotwein und tat etwas, was er noch nie zuvor getan oder auch nur in Erwägung gezogen hatte. Er ging zu seinem Aufseher, Castleberry, baute sich vor dessen Schreibtisch auf, knetete seine Mütze mit blassen, narbigen Händen und protestierte gegen die letzte Lohnkürzung. Castleberry reagierte darauf in einer Weise, die von der Unternehmensführung durchaus geduldet, sogar empfohlen wurde. Er sprang von seinem Stuhl hoch, schlug Tabor zu Boden und beschimpfte ihn. Er nannte ihn unter anderem einen »schmutzigen, undankbaren Scheißkerl von einem bohunk«. Der Vorarbeiter warnte Tabor, daß eine weitere Beschwerde ihn seine Stellung kosten könne. Am Ende wurde Tabor mit einem Monat unbezahltem Zwangsurlaub bestraft und war noch froh darüber, so glimpflich davongekommen zu sein. »Warum ziehen Sie nicht einfach aus Pullman weg?« wollte Joe junior einmal von Tabor wissen. »Sie sollten nicht hierbleiben, eine derartig hohe Miete bezahlen und sich von ihnen ausnutzen lassen.« Tabor antwortete mit seinem schwerfälligen Akzent: »Ich muß bleiben, wenn ich meine Arbeit nicht verlieren will. Wenn die Firma ihre Leute wieder zur Arbeit zurückholt, rutschen alle, die nicht in Pullman wohnen, ans Ende der Liste.« Joe juniors einziger gemurmelter Kommentar war ein »O Gott«, womit er sich einen strafenden Blick von Rosies furchtsamer Mutter einhandelte. Maritza Jablonec hoffte darauf, daß ihr Herr Jesus Christus irgendwann Mr. Pullman auf den Pfad der Rechtschaffenheit bringen würde. Wenn nicht in diesem Leben, dann wenigstens im nächsten. Roza Jablonecs Vater war ein schmächtiger Mann mit schwermütigen dunklen Augen und einer hohen, gewölbten Stirn, die Joe junior an Bilder von Daniel Webster erinnerte. Unglücklicherweise wurde dieser Eindruck von einem fliehenden Kinn und einem kleinen, schlaffen Mund getrübt. Tabors einziges Kind hatte von ihm seine schönsten Merkmale geerbt, nur die vollen Lippen und Brüste sowie ein starkes Kinn hatte sie von ihrer ansonsten unscheinbaren Mutter. Rosie war anderthalb Jahre älter als Joe, was einen großen Teil ihres Reizes ausmachte.
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Er hatte sie auf dem Land kennengelernt, nämlich in Odgen’s Grove, wohin er Paul mitgenommen hatte. Der Anlaß war das erste jener politischkulturellen Picknicks gewesen, zu dem Benno ihn eingeladen hatte. An jenem heißen, trockenen Sonntag im Herbst 1892 war er vom radikalen Charakter der Versammelten und den kühnen und gesetzlosen Bemerkungen in den Reden geradezu eingeschüchtert worden. Er fragte sich, ob nicht jeden Moment Polizeiwagen in den Wald gerauscht kommen würden, um die aufrührerische Versammlung aufzulösen. Um seine Nervosität und Scheu unter Fremden ein wenig zu mildern, leerte er einen ganzen Krug Bier und einen zweiten, ehe das Unterhaltungsprogramm begann. Rosie war die dritte Attraktion der Show. Es war nicht ihr Vater gewesen, der sie zu dem Treffen mitgenommen hatte, aber davon hatte Joe junior zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wie er auch ihren Namen nicht wußte oder sonst etwas von ihr, außer daß sie ihn von dem Augenblick an erregte, als er sie zum erstenmal sah. Während sie auf die Bühne stieg, die aus Kisten und Brettern zusammengezimmert worden war, raffte sie ihre Röcke und entblößte ihre Fesseln. Applaus brandete auf, vorwiegend von Männern, denen ihr Gesicht und ihre Figur besonders gefiel. Ihr Showtalent war bis dahin noch eine unbekannte Größe. Roza Jablonec hatte breite Hüften und stämmige Beine. Ihr Haar war dunkelbraun, dick und gewellt. Ihr ausladender Busen entsprach dem geltenden Schönheitsideal. Zu dem Picknick trug sie eine hochgeschlossene Bluse aus rauhem weißem Stoff. Auf den Saum ihres Rocks waren bunte und offensichtlich selbstgemachte Stoffblumen genäht. Joe junior lehnte an einem Baum in der Nähe der improvisierten Bühne, auf der Miss Roza Jablonec als vielversprechende junge Sängerin vorgestellt wurde. Benno rülpste, stieß dabei eine Wolke Zwiebel- und Knoblauchgeruch aus und tippte ihn an. »Ich wünschte, sie ließe mich an ihre Titten. Ein Gedicht! Damit könnte sie einen glatt erschlagen. Eine wundervolle Art zu sterben, nicht wahr?« Ein krummbeiniger, weißhaariger Mann saß mit einem Akkordeon auf einem Faß am Rand der Bühne. Einige Zeit später erfuhr Joe, daß der Musiker der Vater von Rosies einziger Freundin war. Er war ebenfalls ein Pullman-Arbeiter, nur noch wütender und weniger furchtsam als Tabor. Die Tochter hatte Rosie zu dem Landausflug eingeladen, und sie hatte Tabor und Maritza erklärt, sie nähmen an einem Picknick am See teil. Das Publikum, das sich im welkenden Gras ausgestreckt hatte, wurde langsam still. Die Sängerin verschränkte die Hände in einer steifen, künstlichen Pose und begann zu singen, Ta-ra-ra Boom-de-day. Die
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schnelle, laute Darbietung kaschierte gewisse Mängel, die schon bei ihrer zweiten Nummer, My Sweetheart’s The Man In The Moon, deutlich hervortraten. Ihre Stimme war süß, aber ziemlich dünn, und sogar Joe juniors ungeübtes Ohr konnte hören, daß sie manchmal nicht genau den richtigen Ton traf. Er fand sie dennoch überaus reizend. Nicht so sehr ihre körperlichen Vorzüge, obgleich die durchaus beachtlich waren. Er spürte, daß sie eine besonders natürliche Ausstrahlung hatte, eine Lüsternheit, die sie kundtat, indem sie ihre Hüften bewegte und ihr dunkles welliges Haar nach hinten warf. Dabei flirteten ihre großen dunklen Augen mit dem einen oder anderen Mann im Publikum. Es war schon später Nachmittag, und einige der Junggesellen im Publikum hatten eine Menge Bier getrunken. Während die junge Frau noch immer sang, hörte Joe junior, wie jemand aus dem Publikum eine zweideutige Aufforderung rief. Dann schwenkte ein dicker Kerl seinen Bierkrug und rief: »Okay, Kindchen, das reicht. Die nächste Nummer.« Die Finger des Akkordeonspielers produzierten einen letzten, quietschenden Ton. Das Mädchen hörte mitten im Text auf zu singen und schaute mit zunehmendem Zorn ins Publikum. Ohne lange darüber nachzudenken, trat Joe vor. »Seid still, gebt ihr eine Chance. Wo sind eure Manieren?« rief er. Der dicke Mann erschrak und sah sich verlegen um. Hinter Joe junior kicherte einer der Männer aus der Brauerei Crown. »Dort, wo auch ihr Talent ist. Nämlich abwesend, weg, nicht vorhanden.« Joe machte eine unbeholfene Geste und versuchte der jungen Frau klarzumachen, sie solle ihr Lied weitersingen. Ihre Blicke richteten sich auf ihn. Ein flüchtiges, warmes Lächeln vertrieb den Zorn aus ihrem Gesicht. Sie deutete ein Kopfnicken an. Er erwiderte es. Das Akkordeon spielte wieder die Melodie. Verschwitzt und leicht erregt, umklammerte er den Zinnkrug mit beiden Händen, während sie die Ballade beendete. Viel Applaus bekam sie nicht, aber es gab auch keine Buh’s und keine abfälligen Bemerkungen. Joe junior klatschte ausgiebig und achtete nicht auf Bennos spöttisch grinsende Freunde. Er eilte zum Ende der Bühne, als das Mädchen heruntersprang, wobei sie ihre Röcke mit beiden Händen hochhob. Sie stolperte, als sie landete. Er war rechtzeitig bei ihr, um sie bei den Schultern aufzufangen und einen Sturz zu verhindern. Sie war etwas außer Atem, schnappte nach Luft und preßte für einen kurzen Moment ihre großen, weichen Brüste gegen sein Hemd. Sie mußte auch selbst etwas gespürt haben, denn sie atmete zischend aus, und ihre Augen weiteten sich.
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Irgendeine Kraft, ein starker Funke sprang über und schuf eine Verbindung, ohne daß sie ein Wort gesprochen hätten. Er ließ sie los, trat etwas zurück und hatte Mühe, seine Stimme wiederzufinden. »Ich heiße Joe. Mir hat dein Lied gefallen.« »Ich heiße Roza.« »Roza, das ist schön. Es klingt wie Rose.« »Du bist auch sehr nett. Hol mich in zehn Minuten ab. Dann können wir einen Spaziergang machen.« Ein gutes Stück von der Lichtung entfernt, sicher verborgen im Schatten gelben und roten Laubs, lehnte sie sich an einen Baum und hob ihre Röcke. Er zog ihr Höschen herunter und berührte ihren üppigen dunklen Busch, während seine Schläfen pochten. Sie lachte und leckte mit ihrer Zunge über seine Lippen. Es war für ihn das erste Mal, aber nicht für sie, vermutete er. Sie machte es ganz einfach, und so schnell es auch vorüber war, es war die reinste Glückseligkeit. Von da an traf er sich regelmäßig mit ihr in Pullman. Er nannte sie Rosie, und das gefiel ihr. Sie war nicht lernbegierig oder klug im herkömmlichen Sinn. Sie las keine Bücher. Dennoch hatte sie eine ganze Menge über das Leben gelernt und eine klare, um nicht zu sagen harte Philosophie entwickelt, vor allem was ihren Vater betraf. »Papa wurde in Böhmen in Armut geboren und wuchs in Armut auf, und das hat ihn für sein ganzes Leben gezeichnet. Er wird in der Fabrik niemals aufbegehren. Er läßt sich von ihnen widerspruchslos herumschubsen, solange sie ihn jede Woche bezahlen. Ich habe daraus gelernt, Joey. Ich habe gelernt, was an erster Stelle steht. Man muß jemand sein, man muß Beziehungen haben, damit sie einen nicht fertigmachen können. Und dann muß man auch noch Geld haben. Je mehr, desto besser.« »Ich denke aber nicht so, Rosie.« »Ich weiß, ich hab’ dich ziemlich schnell durchschaut. Du hast all diese wunderschönen Ideen, die dich im Winter nicht wärmen und dir den Bauch nicht füllen können, und deshalb werden wir wohl nicht zusammenbleiben. Und wenn schon? Miteinander zu schlafen reicht doch im Augenblick.« Das sagte sich so leicht, war jedoch schwierig in die Tat umzusetzen. An zwei Sonntagen hintereinander hatten sie und Joe keine Gelegenheit mehr gehabt, allein zu sein. Aber das entmutigte ihn nicht. Es machte ihn
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allenfalls ungehalten – und entschlossener. Am 22. April, sechs Tage vor seinem Geburtstag, bestieg er wie üblich den Wagen der Pferdebahn. Das Wetter war mild und sonnig. Es war ein idealer Tag, um seine Hände auf die Wanderschaft zu schicken und das Ohr eines Mädchens zu liebkosen, bis sie schließlich nachgab und ihre Röcke hob. Während der langen Fahrt gab er sich alle Mühe, seine Gedanken von Rosies intimen Zonen abzulenken, die er schon früher genossen hatte und die ihn mit unbändigem Verlangen erfüllten. Er holte aus seiner Tasche ein Buch, dessen Titel auf dem Umschlag nur in winziger Schrift aufgedruckt war, damit man es nicht gleich erkannte. Es handelte sich um eine Übersetzung des Werks Arbeitergespräche von dem italienischen Anarchisten Enrico Malatesta. Benno hatte es ihm geliehen. Es verdammte leidenschaftlich sämtliche Grundbesitzer und Kapitalisten – also Männer wie Pullman und Joe Crown, seinen eigenen Vater. Begreifst du denn nicht, daß jedes Stück Brot, das sie essen, deinen Kindern weggenommen wurde? Daß jedes schöne Geschenk, das sie ihren Frauen machen, für dich und deinesgleichen Armut, Hunger, Kälte, vielleicht sogar Prostitution bedeutet? Pa war nicht so schlimm, das wußte er. Dennoch gehörte Joe Crown zu der Klasse, die Malatesta haßte, und er teilte viele Auffassungen mit Männern, die weitaus skrupelloser waren. Er stopfte das Buch wieder in die Tasche. Er hatte keine Lust, weiterzulesen und sich so den Vormittag zu verderben. Dafür verbrachte er den Rest der Fahrt damit, darüber nachzudenken, wie sehr er sich nach seinem Mädchen sehnte. Tabor Jablonec wohnte mit Frau und Tochter in einem der Klinkerbauten von Pullman, die für verheiratete Arbeiter bestimmt waren. Diese Behausungen waren deutlich ärmlicher als die Häuser im Vorarbeiterviertel und entsprachen nicht ganz dem Ideal, das Mr. Pullman und sein Management propagierten. Die Mieten waren hoch, desgleichen die Gebühren für Wasser und Gas, die Pullman von Chicago erwarb, bevor er beides mit einem Aufschlag an die Mieter weiterverkaufte. Trotz der Lohnkürzungen verlangte Pullman die gleichen Preise wie vor der Wirtschaftskrise. Als Joe junior anklopfte und Rosie ihn einließ, legte sie einen Finger auf
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den Mund. »Wir haben Besuch.« Indem er innerlich fluchte, während er die Küche betrat, zwang er sich zu den üblichen höflichen Begrüßungsfloskeln. Der Besucher war eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, ziemlich klein, schlicht gekleidet, mit einem Haarknoten im Nacken. Ein kantiges Kinn verriet einen starken, wenn nicht unbeugsamen Willen. Sie schüttelte heftig Joes Hand, als sie erfuhr, wer er war. »Ich kenne Ihre Mutter sehr gut. Sie ist eine meiner größten Hilfen im Stiftungshaus. Wenn es ginge, würden wir sie dort täglich einsetzen. Würden Sie sie herzlich von mir grüßen?« »Gewiß, das tue ich«, versprach er lächelnd. Nun war er von der Besucherin eher fasziniert als über ihre Anwesenheit verärgert. Er fragte sich, was die Gründerin der Hull-House-Stiftung in Pullman an einem wackligen Küchentisch, der mit dicht beschriebenen Bögen Papier bedeckt war, zu suchen hatte. Rosies Mutter lieferte ungefragt die Erklärung. »Miss Addams informiert sich darüber, wie wir leben.« Maritzas Englisch war besser als das ihres Mannes. Ihr Akzent war nicht so ausgeprägt. »Und ich kann die Antwort ganz kurz und knapp zusammenfassen: schlecht.« Während sie das sagte, faltete Jane Addams ihre Papiere zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Zu Joe junior gewandt, sagte sie: »Angesichts der extremen Not, die durch den Niedergang der Wirtschaft verursacht wird, wurde ich gebeten, für die Bürgervereinigung von Chicago Zahlenmaterial zu beschaffen. Was ich hier vorfinde, ist eine Schande.« »Ich weiß, daß es hier sehr schlimm ist«, sagte Tabor. Er saß am Tisch, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und hatte den Kopf in die Hände gelegt. »Wenn man hart arbeitet und nicht trinkt – wenn man eine Frau hat, die mithilft und spart – und wenn man zehn Jahre lang für den gleichen Boß arbeitet und immer noch nicht aus den Schulden rauskommt, dann stimmt irgend etwas nicht.« »Ich würde kündigen«, sagte Miss Addams. »Zumindest würde ich mich heftigst zur Wehr setzen.« »Das habe ich einmal getan und damit Schwierigkeiten bekommen.« Nachdem Jane Addams sich bei der Familie bedankt und sich verabschiedet hatte, setzte Tabor seine Mütze auf. »Ich gehe mal rüber nach Kensington.« Maritza nickte stumm und handelte sich damit weitere stumme Verwünschungen von Joe junior ein. Maritza Jablonec setzte sich anschließend in das kleine, enge Wohnzimmer und stopfte und flickte den ganzen Nachmittag über Strümpfe und Arbeitskleidung. Rosie und Joe blieben in der Küche und unterhielten
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sich. Er schaffte es, ein paarmal seine Hand unter ihr Kleid zu schieben. Von Maritza im Wohnzimmer unbeobachtet, leckte er mit der Zunge über Rosies Lippen und liebkoste sie mit der Zunge. Das war noch schlimmer, als sie überhaupt nicht zu berühren. Gegen halb fünf ging die Küchentür auf, und Tabor stolperte herein, gefolgt von zwei anderen Männern, die ebenfalls bei Pullman arbeiteten. Einer war ein spindeldürrer Bursche, den Tabor als Link Randolph vorstellte. Der andere war ein mürrischer, beleibter Mann namens Dice Harrod. Link hielt eine braune Flasche Whiskey, die schon beinahe leer war, in der Hand. Er schimpfte. »In einem Pullman-Haus geboren. Aufgewachsen mit Lebensmitteln aus einem Pullman-Laden. In einer Pullman-Kirche getauft. Wenn man sich zur Ruhe setzt, dann ist die Pullman-Rente das Eintrittsgeld fürs Armenhaus. Und wenn man stirbt, fährt man wahrscheinlich in die Pullman-Hölle hinab. Sie tun so, als geben sie uns alles, dabei nehmen sie uns alles weg, auch unsere Selbstachtung. Sie holen sich sogar den Dreck aus unseren Toiletten, verdammt noch mal.« Maritza schlug die Hände vor den Mund. Joe junior sagte, die letzte Bemerkung habe er nicht ganz verstanden. »Die Abwässer. King George benutzt sie als Dünger in seiner Gemüsefarm. Dieser Bastard!« Er schleuderte die leere Flasche gegen die Wand. Braune Glasscherben flogen klirrend hinter den Herd. Maritza starrte trübsinnig ihre besudelte Wand an. Dice Harrod riß ein Streichholz an, um eine kurze dicke Zigarre anzuzünden. Er blinzelte wie ein Frosch auf einem Seerosenblatt durch die dichten Qualmwolken, die aus seinem Mund strömten. »Was hast du denn vor, Link?« »Ich trete dem Komitee bei.« »Welchem Komitee?« »Dem Komitee, das zusammentritt, um zu den Bossen zu gehen und von ihnen zu verlangen, daß sie die Löhne wieder auf den Stand von vor der Kürzung anheben.« Dice Harrod blinzelte. »Habe ich richtig gehört? Hast du von »verlangen« gesprochen?« »Das habe ich gesagt. Diese oder nächste Woche tun wir es, du kannst dich drauf verlassen.« Joe junior bemerkte, wie Maritza ihrem Mann besorgte Blicke zuwarf. Dice Harrod paffte vor sich hin. »Mein Gott, das ist aber ganz schön gefährlich, Link. Wenn du dich zu weit vorwagst, dann weißt du ja, was passiert. Sie zahlen es dir heim.« »Das ist mir jetzt egal, verdammt noch mal!«
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»Gefährlich«, murmelte Dice Harrod wieder kopfschüttelnd. »Wer ist denn noch in dem Komitee?« »Das braucht dich nicht zu kümmern. Jedenfalls ist es eine tolle Gruppe.« »Und du gehörst dazu.« »Aber ganz sicher.« »Und du, Tabor?« »Nein! Ich bin zwar interessiert, aber ich laß mich auf eine solche Sache nicht ein.« Als die Männer gegangen waren, sagte Maritza: »Dice hat recht, Link sollte es nicht tun.« »Ja, Dice hat recht. Er vertritt zwar die Meinung der Firma, aber er hat recht«, pflichtete Tabor ihr bei. Joe junior wollte etwas sagen, schwieg aber. Statt dessen schob er sich näher an Rosie heran und steckte seine Nase in ihr Haar. Es duftete nach Rosen. Er hatte ihr nämlich ein Stück parfümierte Seife für zehn Cents gekauft. Sie benutzte sie nur sonntags. Sie gingen hinaus. Da die Küchentür nur einen kleinen Spaltbreit offenstand, drängte er sie gegen die Wand. Er schob ihr Haar mit einer Hand beiseite und ließ seine Zungenspitze sanft über ihre Ohrmuschel gleiten. »Ich hatte damit gerechnet, ein Geburtstagsgeschenk zu bekommen.« »Keine Angst, ich spare es für dich auf«, flüsterte sie, preßte ihre Beine zusammen und stemmte sich mit wiegenden Hüften gegen seine Hand. Ihr Schlüpfer war feucht. Sein Glied war so hart, daß es weh tat. Bei seinem nächsten Besuch erzählte Rosie ihm, daß Link Randolph hinausgeworfen worden sei und daß die Pullman-Vermietungsgesellschaft ihm die Kündigung seiner Wohnung und die Räumungsverfügung präsentiert habe. »Dice Harrod war einer ihrer verdammten Spione. Wenigstens dieses eine Mal hat Papa klug gehandelt und Dice Harrods Köder nicht geschluckt.« Mittlerweile auf fünfhundert Mitglieder angewachsen, erreichte »General« Coxeys Armee Washington und marschierte die Pennsylvania Avenue hinauf. Der Anführer hatte eine Petition aufgesetzt, in der er ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm forderte, um den Arbeitslosen zu helfen. Vor dem Capitol wurde Coxey sofort verhaftet, als er eine Rasenfläche betrat, die Eigentum der Regierung war. Einer seiner Anhänger versuchte, den Polizeikordon zu durchbrechen, und wurde mit Faust- und
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Stockschlägen zurückgedrängt. Die berittene Polizei, die den Demonstranten gefolgt war, trieb ihnen die Pferde entgegen und schwang die Schlagstöcke. Die »Armee« löste sich auf und zerstreute sich, als hätte es sie nie gegeben. In der Brauerei wurde ausgiebig und hitzig über Coxeys Marsch diskutiert. Einige hielten ihn für mutig, andere meinten, es sei von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Benno hatte dazu seine eigene Meinung. Er tat sie Joe junior nach Feierabend in dem Raum mit den Kleiderspinden kund, den Joe Crown für seine Leute eingerichtet hatte. »Mit Marschieren erreicht man nichts. Wenn man mit einem Stück Papier in Washington herumwedelt, auch nicht. Ich sag’ dir, was sie hätten tun sollen: Sie hätten besser ein paar Stangen Dynamit mitgenommen.« Am 6. Mai machte Joe junior sich wieder auf den Weg nach Pullman, begleitet von der bedrückenden Vorahnung einer weiteren Niederlage. Er war seit Wochen nicht mehr mit Rosie intim gewesen. Dieser Sonntag bildete darin keine Ausnahme. Tabor lud ihn ein, ihn nach Kensington zu einer Werkstatthalle zu begleiten, wo eine große Anzahl Pullman-Arbeiter erwartet wurde. Sie wollten sich einen ganz besonderen Redner anhören, nämlich Eugene Debs von der Amerikanischen Eisenbahnergewerkschaft. Joe junior entschied, daß er genausogut mitgehen konnte, da Maritza angedeutet hatte, sie wolle den Nachmittag wieder zu Hause verbringen. Rosie war offensichtlich verärgert, und zwar sowohl über ihre Mutter als auch über ihn. Joe junior hatte Debs noch niemals persönlich gesehen, sondern nur auf Bildern in Zeitschriften, die gewöhnlich von heftigen Attacken gegen seine sozialistischen Predigten begleitet wurden. Er hätte über die äußere Erscheinung des Mannes nicht verblüffter sein können. Erwartet hatte er einen rauhen, wilden Menschen, einen Benno Strauss aus Terre Haute im tiefsten Indiana. Statt dessen sah er einen schlanken, ordentlich rasierten Mann mit schütterem Haar, der genausogut Buchhalter hätte sein können. Debs war etwa eins achtzig groß und um die dreißig Jahre alt. Der Nachmittag war heiß, dennoch trug er einen makellos gebügelten Tweedanzug und ein Hemd mit gestärktem weißem Kragen. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Schon in seiner früheren Funktion als Schatzmeister der Brotherhood of Locomotive Firemen, der Vereinigung der Dampflok-Heizer, hatte er an der Realisierung seiner Vorstellung gearbeitet, sämtliche Eisenbahnergewerkschaften zu ihrem gemeinsamen Nutzen zu einer einzigen zusammenzuführen. Die American Railway Union, kurz A.R.U. hatte nun fast dreihunderttausend Mitglieder. Das
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Argument, mit dem sie neue Mitglieder warb, war überzeugend. Wenn jemand der A.R.U beitrat, dann war er geschützt, falls die Bosse der Eisenbahngesellschaften versuchen sollten, eine Gemeinschaft gegen die andere mit dem Ziel auszuspielen, einen Streik zu brechen. Debs redete eine halbe Stunde ohne Manuskript. Nach zwei Minuten war Joe beeindruckt, nach fünf war er wie hypnotisiert. »Ich bin während der letzten beiden Tage durch Pullman spaziert«, sagte Debs. »Ich habe mit Leuten gesprochen, habe Fragen gestellt, aber die meiste Zeit habe ich nur zugehört. Ich bin zu einer unwiderlegbaren Schlußfolgerung gelangt. Wenn ihr, nachdem ihr jahrelang für George M. Pullman gearbeitet habt, vorübergehend entlassen werdet und zwei Wochen nach Arbeitsende hungern und um euer Überleben kämpfen müßt, kann man dazu eigentlich nur eins bemerken: George Mortimer Pullman hat sich dadurch selbst als Räuber entlarvt. Er hat überhaupt kein menschliches Interesse an euch, er hat es lediglich vorgetäuscht. Seine angebliche Fürsorge ist nur die eines Sklavenhalters gegenüber seinen menschlichen Arbeitstieren. Deshalb fordere ich euch mit Nachdruck auf, morgen euer Komitee zu unterstützen. Seid mutig und entschlossen, vertretet tapfer euer Anliegen, und ihr werdet am Ende den Sieg davontragen.« »Welches Komitee meint er denn?« erkundigte sich Joe flüsternd bei Tabor. »Das gleiche, weswegen Link Randolph rausgeworfen wurde.« »Und was haben sie vor?« »Ich weiß nichts darüber. Ich will auch gar nichts wissen.« Debs kam zum Rand des Podiums, nahm die Brille ab, um seinen Blick über sein Publikum wandern zu lassen, das aus einfachen, müden, armseligen Männern bestand. »Ich will mit einem letzten Hinweis schließen. Vergeßt nicht, daß die American Railway Union hinter euch steht. Unsere Philosophie ist einfach. Wenn ein Bruder angegriffen wird, dann kommen alle anderen ihm zu Hilfe. In diesem Kampf stehen alle Arbeiter zusammen. Verlaßt euch darauf!« Männer sprangen auf, pfiffen und applaudierten. Joe junior klatschte laut. Der Hallenboden erzitterte unter dem Beifall aus stampfenden Stiefeln und trampelnden Schuhen. Tabor schüttelte bedrückt den Kopf. »Durch solches Gerede landet man auf der Straße. Komm, ich brauche jetzt etwas zu trinken.« Joe ging mit in den Saloon, aber nach einem Glas von dem billigen roten Wein konnte er Tabors Haltung eines geprügelten Hundes nicht mehr ertragen. Er fragte, ob Tabor nicht nach Hause gehen wolle. »Noch nicht.« Tabor bestellte ein zweites Glas. Sofort erkannte Joe die
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Gelegenheit, diese Situation zu seinem Vorteil auszunutzen. Wieder in Pullman, sagte er eine Stunde später zu Maritza: »Ich fürchte, Mr. Jablonec ist in Kensington schon ziemlich angeschlagen. Es war eine aufregende Versammlung, die Leute waren am Ende ziemlich in Rage. Mr. Jablonec hatte schon mehrere Glas Wein getrunken, als ich mich von ihm trennte und zurückging.« »Mein Gott, wo ist er denn? Bei Fanucci?« »Ja. Er hatte noch keine Lust, Schluß zu machen.« »Ich werde wohl hingehen und ihn abholen müssen. Rosie kann dir etwas zum Essen zubereiten.« Er nickte ernst, während sie hinausging, um ihr Kopftuch umzubinden. Von der anderen Seite des Küchentisches lächelte Rosie ihn verzückt an. Joe junior und Rosie stürmten ihr schmales Bett. In der Zeit, die sie nun schon miteinander befreundet waren, hatte er sie noch nie so schnell ihre Kleider herunterreißen sehen. Er warf sich mit der Heftigkeit und der Geschwindigkeit eines Ausgehungerten in sie hinein. Nach weniger als einer Minute explodierte er in ihr, und sie wand und krümmte sich und schrie nach mehr. Er ruhte sich vierzig Minuten lang aus und nahm sie erneut, langsamer diesmal, mit mehr Hitze und mehr Schweiß und mehr Gestöhne aus ihrem gierigen Mund, als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. Nachher, während er sich auf den Ellbogen aufstützte und ihre weißen Brüste streichelte, sagte er: »Ich hasse es immer, nach Hause zurückzukehren, wenn ich bei dir war. Ich hasse es, in der Michigan Avenue zu leben, während hier draußen soviel Hunger und Angst herrschen.« Rosie lachte. »Du willst nicht zurück nach Hause in die Michigan Avenue? Ich würde sofort mit dir tauschen.« »Du verstehst nicht, daß es ein schlimmes Gefühl ist, von goldgeränderten Tellern zu essen, während Menschen arbeitslos sind? Während sie hungern müssen?« »Ist mir egal, was das für ein Gefühl ist, ich jedenfalls möchte gern von so ‘nem Teller essen. Ich möchte so ‘ne Teller sogar besitzen!« »Solche, Rosie. Solche Teller. Wie willst du denn weiterkommen, wenn du dich nicht mal richtig ausdrücken kannst?« Sie hatten sich schon früher deshalb gegenseitig aufgezogen. »Von einem Mädchen wie mir erwartet man wohl kaum Grammatiklektionen, Joe«, sagte sie. Damit faßte sie ihm zwischen die Schenkel und drückte zu. »Ich hab’ was andres zu bieten.«
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Er drehte sich auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke empor, die mit Wasserflecken übersät war. Irgendwo pfiff eine Lokomotive. In der Ecke brannte ein Kerzenstummel auf einem kleinen Teller. Das Gas war abgestellt worden, da die Rechnung noch nicht bezahlt war. »Ich wünschte, du würdest dich nicht über die Dinge lustig machen, an die ich glaube«, sagte er. »Wahrscheinlich tätest du das auch nicht, wenn du sie nur besser verstehen würdest. Ich könnte dir Bücher geben über –« »Um Gottes willen, keine Bücher! Du selbst liest ja schon viel zuviel. Deshalb redest du auch ständig von verhungernden Menschen, während du doch eigentlich glücklich sein solltest, daß du ein schönes warmes Bett und genug zu essen hast – eine Familie mit einem ansehnlichen Bankkonto. Ich möchte bloß wissen, weshalb du so total verdreht bist.« »Vielleicht nennt man das, was ich empfinde, ein schlechtes Gewissen.« »Vielleicht nennt man es auch verrückt. Abgesehen davon habe ich sowieso den Eindruck, daß eine Menge von diesem Gerede über Arbeit und Unrecht nichts als heiße Luft ist.« Er drehte sich wieder zu ihr um, so daß die Kerzenflamme sich in seinen Augen widerspiegelte. »Das ist es nicht.« »Was du nicht sagst. Na schön.« »Lach mich nicht aus. Du wirst schon sehen.« »Werde ich das? Wann?« Er setzte zu einer Antwort an, dann errötete er so heftig, daß die Farbe sich sogar bis zu seinem Hals ausbreitete. »Ich weiß es noch nicht. Aber wenn der richtige Zeitpunkt kommt, werde ich ein Zeichen setzen, um unserer Sache zu helfen. Ich werde etwas tun.« »O Joey, red nicht so, das ist doch albern. Wenn du anfängst, an das zu glauben, was –« »Ich glaube daran!« »– dann bringst du dich in Gefahr und wirst am Ende noch getötet. Soll man sein Leben für Ideen aus irgendeinem Buch wegwerfen? Ich tu’ das jedenfalls nicht.« »Rosie, laß uns nicht streiten.« »Ich streite nicht, ich sag’ dir nur, daß ich zuallererst für mich sorge.« Er lehnte sich zu ihr hinüber und küßte sie heftig. »Ich sorge auch für dich. Vielleicht schenke ich dir zur Hochzeit ein paar Teller mit goldenem Rand, wie wäre das?« Die Spannung zwischen ihnen entlud sich; sie lachte. »Erzähl keinen Unsinn, Joey. Es gibt zwei Arten von Mädchen, nämlich die, welche geheiratet werden, und die, mit denen man schläft. Ich gehöre zur zweiten Art und mache mir deswegen keine Illusionen. Ich weiß, was ich bin.
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Welche Sorte von Mädchen. Ein Mädchen, das gelernt hat, Männer zu verwöhnen, und es gerne tut. Das ist ganz in Ordnung, denn ich kann mir damit ein angenehmes Leben machen, eine schöne Wohnung bekommen, hübsche Kleider. Ich erwarte nicht, daß du von Heiraten redest, Joey. Und wenn du es tätest, würde ich nein sagen; ich habe größere Dinge vor.« Sie ließ ihre Hand wieder nach unten in seinen Schoß wandern und schloß sie um sein Geschlecht. »Über die red’ ich auch nicht. Und jetzt komm, ich kann schon wieder. So lange braucht Mama auch nicht, um von Kensington zurückzukommen. Zieh dir wieder eins von diesen Dingern drüber. Ich will keine Babys, weder von dir noch von einem anderen. Entweder schaffe ich den Aufstieg und verlasse diesen traurigen Ort, oder ich sterbe. Ich werde irgendwann vom goldgeränderten Teller irgendeines Mannes essen, auch wenn du es nicht tust.« Am 7. Mai erschien ein Beschwerdekomitee bei der PullmanGeschäftsleitung, um die Wiedereinführung normaler Löhne zu fordern. Die leitenden Angestellten hörten sich das Anliegen wohlwollend an und legten dann erneut die Position der Firma dar. Die Zeiten seien schlecht. Die Bestellungen seien auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Lohnkürzungen betrügen nicht 40, 50 oder 60 Prozent, wie behauptet werde; sie bewegten sich durchschnittlich bei 19 Prozent. Außerdem baue Pullman seine Waggons zur Zeit mit Verlust, um die Produktionsbetriebe in Gang zu halten und wenigstens einen Teil der Belegschaft beschäftigen zu können. Das Treffen endete in freundlicher Atmosphäre. Unter der PullmanBelegschaft verbreitete sich schnell die Nachricht, daß die drei Mitglieder des Komitees einstweilen zufrieden seien. Mitte der Woche erhielt jeder der drei eine Verfügung, daß er auf unbestimmte Zeit von seiner Arbeit suspendiert sei. Am Freitag, dem 11. Mai, um die Mittagszeit, legten 3 100 Arbeiter der Pullman Palace Car Company ihre Arbeit nieder und verließen die Montagehallen. Sie verlangten niedrigere Mieten in Pullman, die Rücknahme der Lohnkürzungen von 1893 und die sofortige Wiedereinstellung der drei Komiteemitglieder. Nicht alle Arbeiter bei Pullman beteiligten sich an der Arbeitsniederlegung. Tabor Jablonec gehörte zu denen, die an ihrem Arbeitsplatz ausharrten. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Rosie zu Joe junior, als sie ihm von den Vorgängen erzählte. Tabors Loyalität half ihm wenig. Am Montag entließ die Firmenleitung auch die dreihundert restlichen Arbeiter auf unbestimmte Zeit.
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39 JULIE Tante Willis Fishburne traf während der zweiten Woche des PullmanStreiks ein. Sie blieb nie lange, wenn sie zu Besuch kam. Sie hielt sich an das, was sie ihre »Drei-Tage-Regel« nannte. »Nach drei Tagen fangen Fisch und Besuch sehr schnell an zu stinken.« Drei Tage reichten auch aus, um Vanderhoff halbwegs um den Verstand zu bringen, aber sie waren nicht annähernd genug für Julie. Tante Willis würde bald ihren achtundvierzigsten Geburtstag feiern. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Nell war sie eine große Frau mit herben Gesichtszügen, ausgeprägtem Kinn, langer Nase und eingefallenen Wangen. Sie trug ihr mit grauen Strähnen durchsetztes Haar männlich kurz und schlicht. Sie hatte für die kleinen Löckchen, die Turmfrisuren und schweren Nackenknoten, die gerade in Mode waren, nichts übrig. Willis Schlankheit war von jener Art, die manchmal auch sehnig genannt wurde. Ihr Busen war winzig. Sie wirkte wie eine Frau von irgendeiner hinterwäldlerischen Plantage im Süden, wo das Leben hart und grundsätzlich freudlos war. Bis man ihre Augen sah. Sie strahlten abwechselnd Wärme, Heiterkeit und Zynismus aus. Sie waren wie Fenster, durch die man regelrechte Feuerwerke betrachten konnte. Tante Willis erschien mit einer Mietdroschke in der Prairie Avenue. Sie unterhielt sich länger als nötig mit dem Droschkenkutscher und gab ihm eine Flasche zurück, aus der er sie offenbar hatte trinken lassen. Sie trug wie üblich ein Kostüm, das schockieren sollte: Haremshosen unter einem kurzen Rock und einem maßgeschneiderten Hemd, flache Schnürschuhe und rote Seidenstrümpfe mit einem Karomuster. Willis hatte die Lehren von Mrs. Amelia Bloomer aus Seneca Falls, New York, studiert. Das war jene emanzipierte Frau, die in den fünfziger Jahren als erste die Einführung hygienischer Kleidung propagiert hatte. Einmal über deren Vorteile aufgeklärt, hatte Willis mit der alten Mode nichts mehr im Sinn. Sie verachtete die übereinandergetürmten Viktorianischen Krinolinenröcke, die Krausen und Volants, die schweren Turnüren, die mühsam umgeschnürt werden mußten. Sie sagte, sie bewirkten eine Unterdrückung der normalen und gesunden Weiblichkeit. Julies Tante war das sprichwörtliche schwarze Schaf der Familie. Sie war von ihrem Zuhause in Kentucky ausgerissen, als sie fünfzehn Jahre alt war. Wegen eines Jungen. Eines Jungen, den ihre Eltern ablehnten, hatte Nell ihrer Tochter einmal anvertraut. Das war jedoch nicht der einzige Grund. Von allen Fishburnes war Willis die einzige gewesen, die von der Krankheit des Abolitionismus angesteckt worden war.
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Als Mädchen hatte sie am liebsten Geschichten über geflohene Sklaven gelesen und ganze Seiten des aufrührerischen Romans von Mrs. Stowe auswendig gelernt. Sie begann, auf die Verhältnisse in ihrer direkten Umgebung zu achten. Dieses neue Interesse bescherte ihr Konflikte mit allen anderen Mitgliedern des Fishburne-Haushalts. »Ich erinnere mich an schreckliche Szenen«, erzählte Nell. »Sie beschimpfte Vater wegen des Frevels der Sklavenhaltung, klagte den Wahnsinn der Sezession an. Sie stellte sich auf einen Stuhl und riß sich die Unterwäsche vom Leib, weil sie aus Baumwolle bestand, und Baumwolle stammte aus dem Süden, wo die Sklaverei herrschte. Bis heute lehnt meine Schwester das Tragen von Baumwollunterwäsche kategorisch ab. Sie trägt ausschließlich Seide.« Willis war zu einem Störfaktor geworden, den Nell vor der Welt zu verstecken versuchte. Glücklicherweise wohnte Willis in New York. Dort setzte sie sich für Anliegen ein, die ihre Schwester erbleichen ließen. Sie erklärte sich mit Huren solidarisch und ging zu ihnen auf die Straße, um gegen ihre sexuelle Ausbeutung zu kämpfen. Sie formulierte Flugblätter, auf denen die Änderung einseitiger Scheidungsgesetze gefordert wurde. Sie setzte sich in aller Offenheit für die freie Liebe ein und erklärte Julie, daß eine Frau das totale und absolute Recht habe, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Kein Arzt habe dieses Recht; kein Politiker oder Geistlicher habe dieses Recht; kein anderer Mensch habe dieses Recht – allerdings versuchten all diese Leute immer wieder, es für sich zu beanspruchen. Zwei Jahre zuvor hatte Willis den letzten ihrer drei Ehemänner verloren, deren Hinterlassenschaft ihr zu einem Status völliger finanzieller Unabhängigkeit verhelfen hatten. Nell war es ganz recht, nichts Näheres über die Männer zu erfahren. Der erste war ein Radikaler, der zweite ein Lebemann und der dritte ein Jude gewesen. Willis’ erster Ehemann, Reverend Chauncey Stone Coffin, war zwanzig Jahre älter als sie. Von seinem Vater hatte er den unitarischen Glauben geerbt sowie mehrere Millionen Dollars aus der in New England ansässigen Schiffahrtslinie. Er war eine führende Persönlichkeit im Kreuzzug für den Abolitionismus und die Gleichberechtigung der Neger. Willis lernte ihn während des Krieges in Chicago kennen. Sie lebte allein und bestritt ihren Lebensunterhalt mit niedrigen Arbeiten und nutzte außerdem jede freie Minute für wohltätige Zwecke. Im St. Luke’s Hospital, wo verwundete Unionssoldaten und Rebellen manchmal nebeneinander lagen, wechselte sie das Bettzeug und leerte Bettpfannen als Hilfspflegerin. Zweimal in der Woche begab sie sich ins Camp Douglas, das Gefangenenlager draußen in Cottage Grove, und half den Männern aus dem Süden, die nicht lesen und
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schreiben konnten, Briefe nach Hause zu schicken, oder sie redete einfach nur mit ihnen, hielt ihnen die Hand und nahm Anteil an ihrem Leid, Hunderte Meilen entfernt von zu Hause und allen Angehörigen von amerikanischen Landsleuten eingesperrt worden zu sein. Gegen Ende des Krieges kam Reverend Coffin auch in das Gefangenenlager, lernte Willis kennen und machte ihr fortan den Hof. Er warb zwei Jahre lang um sie, während sie das Oberlin College besuchte. Am Ende erhörte sie sein Flehen. Die Leidenschaft des Reverend für die Freiheit der Schwarzen und die Bestrafung der Bewohner des Südens kannte keine Grenzen. Unglücklicherweise traf das auch auf seine Vorliebe für die weiblichen Mitglieder seiner Gemeinde zu. Auf einer seiner Predigtreisen nach der Hochzeit wurde er in einem Hotelzimmer in St. Louis erwischt, wo er sich gerade mit der nackten Ehefrau eines Würdenträgers der örtlichen Kirche in engster Umarmung befand. Willis erfuhr von dieser Affäre, und Coffin überließ ihr eine Million Dollars als Gegenleistung für ihre Diskretion und eine unauffällige Scheidung. Ihren zweiten Ehemann, Loyal McBee, nahm sie ein paar Jahre später. Er war Schauspieler und fiel der gefährlichsten Versuchung seines Gewerbes, dem Trinken, schon sehr frühzeitig zum Opfer. Sein Talent reichte allenfalls für Nebenrollen. Er schaffte es nicht, einen einzigen Penny in der Tasche zu behalten, aber Willis liebte ihn wahnsinnig und vorbehaltlos. Ihre Ehe dauerte vier Jahre. Während einer Tournee in Detroit spielte er in Julius Caesar neben Mr. Booths Mark Anton den Cassius. Er verließ das Theater nach einer Matinee, fand in der Nähe einen Saloon, beendete nach einer Stunde sein Gastspiel an der dortigen Bar und stürzte vor einen Pferdewagen. Er brach sich das Genick und starb sofort. Es dauerte eine Woche, bis Willis zum erstenmal davon erfuhr, daß Loyals Familie in Rochester, New York, eine große Getreidemühle besaß und ihm eine halbe Million Dollars in Form eines Treuhandfonds überschrieben hatte, über die er so lange nicht hatte verfügen dürfen, wie er das anrüchige Gewerbe der Schauspielerei betrieb. Willis erbte das Geld. Simon Mordecai Weiss war ihr letzter Ehemann. Weiss war ein Handelsprinz – oder, genauer, ein alternder König –, als Willis ihn kennenlernte. Weiss hatte den Schrotthandel seines Vaters übernommen und sich im Laufe der Jahre zu Amerikas wichtigstem Großhändler für Eisenwaren gemausert. Er hatte ständig schmutzige Hände oder Schmierflecken im Gesicht. Größere Posten, die ihm zum Kauf angeboten wurden, überprüfte
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er persönlich. Er war ein überaus freundlicher, gütiger Mann, der vorher schon mit zwei Frauen verheiratet gewesen war, von denen er sich hatte scheiden lassen. Beide waren habgierig und fade gewesen. Er und Willis lernten sich durch Zufall bei einem Lichtbildervortrag über Zentralafrika kennen. Gehalten wurde der Vortrag von Mr. Henry M. Stanley, dem Journalisten, der der Welt die Sensation bescherte, im Jahr 1871 den verschollen geglaubten Dr. Livingstone am Tanganjikasee aufzustöbern. Willis und Weiss hatten Eintrittskarten für nebeneinander liegende Sitze und kamen ins Gespräch. Willis mochte den alten Herrn schon, ehe sie überhaupt wußte, wer oder was er war. Zwei Wochen später machte er ihr einen einfachen und ehrlichen Antrag. Wenn sie ihn heiratete und mit ihm lebte, reiste und ihn für den Rest seines Lebens mit intelligenten, lebhaften Gesprächen unterhielt (es war ihre kluge, selbstbewußte Art, die ihm auf Anhieb gefallen hatte), würde er sie zu seiner Alleinerbin machen. Er hatte keine Familie. Als er ihr seinen Antrag machte, gestand er außerdem, daß er ein schwaches Herz habe und damit rechne, nicht länger als fünf Jahre zu leben; er war zu diesem Zeitpunkt siebenundsiebzig. Tatsächlich lebte er noch vierzehn Monate. Am Tag nach seinem Tod meldeten seine Anwälte sich bei seiner Witwe mit zwei Angeboten von Konkurrenten des Verstorbenen. Weiss hatte oft angedeutet, er erwarte, daß sie die Firma nach seinem Hinscheiden verkaufe. Sie sei eine zu lebensfrohe Frau, um ihr Leben mit Nieten und Schrauben und Winkeleisen zu verbringen. Sie verhandelte mit großem Geschick. Die konkurrierenden Bieter erhöhten mehrmals ihr Angebot, und sie verkaufte schließlich an den Mann, der ihr siebeneinhalb Millionen Dollars zahlen wollte. Nachdem sie den gütigen und klugen Weiss beerdigt hatte, trauerte sie einen Monat lang um ihn. Willis hatte niemals Interesse am Reichtum ihrer Ehemänner gehabt. Oft fragte sie sich, ob das nicht vielleicht der Grund dafür war, daß der Reichtum ihr am Ende in den Schoß gefallen war. Trotz ihrer fortschrittlichen Ansichten und ihres aktiven Interesses an weniger achtbaren Anliegen hatte Willis sich viele Tugenden einer Südstaatlerin bewahrt. Solange sie durch Dummheit nicht tyrannisiert oder direkt beleidigt wurde, begegnete sie ihren Mitmenschen sehr taktvoll, ausgenommen ungehobelten Leuten und hoffnungslosen Dummköpfen. Ihr Schwager paßte eigentlich in beide Kategorien, aber da er nun zur Familie gehörte, versuchte sie, sich in seiner Gegenwart mit Kommentaren zurückzuhalten. Sie schaffte es nicht immer. Was ihr als gesunder Menschenverstand
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erschien, war für ihren Schwager und für Nell häufig völlig undenkbar. Daher schaffte sie es bei jedem ihrer Besuche mindestens einmal, sie in Rage zu bringen. Dieses Mal geschah es bereits während des ersten Abendessens in Chicago. Sie leerte ihre Mokkatasse und zündete sich eine ihrer schlanken dunkelbraunen Zigarren an. »Im Zug habe ich einiges über Mr. Pullman und seinen Streit mit seinen Arbeitern gelesen. Er klingt schrecklich überheblich. Ich hoffe nur, daß die Streikenden durchhalten, bis sie anständig behandelt werden. Vielleicht zwingen sie Pullman diesmal in die Knie.« »Das sieht dir ähnlich«, murmelte Pork. Nell warf ihm einen beschwörenden Blick zu – Wirst du wohl Frieden halten? In drei Tagen haben wir es überstanden. Ich weiß, daß sie verrückt ist, aber sie ist immer noch meine Schwester. Julies Vater schien nicht gewillt, auf das Signal zu reagieren. Seine Tochter war ganz zappelig. Sie wollte unbedingt allein mit Tante Willis reden. Ihr von Paul erzählen. Sie um Rat fragen. Willis streifte die Zigarrenasche auf ihrer Untertasse ab. Nell versuchte, ihre Mißbilligung zu verbergen. Julies Mutter sah im grellen Licht des elektrischen Kronleuchters erschreckend kränklich aus. Willis bemerkte das sehr wohl. »Fühlst du dich wieder mal nicht wohl, Nellie?« »Na ja, ich habe ein paar Tage im Bett gelegen –« »Auf Anraten dieses Doktors mit dem Chorknabengesicht, nehme ich an.« »Dr. Woodrow.« »Wen interessiert es, wie er heißt? Jeder, der Bettruhe bei totaler Dunkelheit verschreibt, während draußen die Sonne scheint, ist ein Quacksalber.« Willis machte mit ihrer Zigarre eine wegwerfende Bewegung. Nell zog ein Gesicht wie ein beleidigter Vogel. »Wenn du so krank wärest, würdest du ihn nicht als Quacksalber titulieren. Du kannst Gott danken, daß du eine jener seltenen Erscheinungen bist, Schwester. Nämlich eine gesunde Frau.« »Meine liebe Schwester, das ist Quatsch. Ich bin gesund, weil ich ein gesundes Leben führe. Ich trage keine einschnürenden Kleider. Spiele niemals die Kranke. Unternehme jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge. Ich esse und trinke gut und ausgiebig –« »Und du hast Männer«, platzte Vanderhoff heraus. Julie schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund. Aber der erwartete Wutausbruch blieb aus. Willis lächelte ihren Schwager an.
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»Das ist richtig, Mason. Ich hatte drei wunderbare Ehemänner. Aber ich habe beschlossen, nicht mehr zu heiraten. Erstens wäre es schwierig, jemanden zu finden, der den Vorgängern halbwegs ebenbürtig wäre. Ferner ist es in diesen modernen Zeiten nicht nötig. Man braucht keinen Ring am Finger zu tragen, um das andere Geschlecht genießen zu können.« Nellie schnappte nach Luft. »Willis, das ist ja widerlich!« »Ja, ja, ich kann mir vorstellen, daß du so denkst. Ich hatte vergessen, daß wir hier ja noch im tiefsten Mittelalter leben.« »Du meinst hier in Chicago«, sagte Vanderhoff. »Hier in der Prärie. In der Provinz.« »Genauso ist es, Mason«, erwiderte Willis mit ihrem süßesten Südstaatenlächeln. Julie verspürte den unbändigen Drang zu kichern. Sie liebte Papa, aber es amüsierte sie immer wieder, wenn irgend etwas ihn ärgerte und er sich aufblies wie ein Ochsenfrosch. In freudiger Erwartung eines Einkaufsbummels mit Tante Willis am nächsten Tag verbrachte Julie eine unruhige Nacht und erwachte schon vor Tagesanbruch. Sie und ihre Tante verbrachten den größten Teil des Tages bei Elstree und Field und in anderen großen Kaufhäusern, danach begaben sie sich zum Abendessen in Willis’ bevorzugtes Restaurant, das English Chop House. Es war ein urwüchsiges, verrufenes Etablissement in der Gamblers’ Alley, mit seinen unternehmungslustigen Männern, geschminkten Frauen, dickbäuchigen Politikern und wortgewandten Journalisten sehr volkstümlich. Inmitten der dunklen Holzeinrichtung und bei einer Luft, in die sich zu gleichen Teilen Tabakqualm, Bratenfettgeruch und Whiskeydämpfe mischten, fühlte Willis sich zu Hause. »Na los, dann erzähl mal«, sagte sie, nachdem sie einen Tisch gefunden hatten und sie sich eine frische Zigarre angezündet hatte. Julies Augen weiteten sich fragend. »Was denn?« »Ich bitte dich, meinst du, ich hätte die Veränderungen seit meinem letzten Besuch nicht bemerkt? Deine Wangen sind voll und rot, aber deine Augen sehen richtig abgespannt und sorgenvoll aus. Wenn junge Frauen schlecht schlafen, dann meistens wegen irgendwelcher junger Männer.« Sie streckte die Arme aus und drückte Julies Hände. »Erzähl schon.« Julie sprudelte bereitwillig alles hervor – alles über Paul Crown, der zu der Familie gehörte, die die Vanderhoffs haßten. »Du hast dich trotzdem mit ihm verabredet.« Willis ließ die Feststellung wie eine Frage klingen. »Jeden Sonntag. Jetzt, wo das Wetter sich gebessert hat, fahren wir im Lincoln-Park Fahrrad. Er mimt dabei meinen Lehrer. Er ist sehr
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entschlossen und wagemutig. Ich glaube, ich liebe ihn, Tante Willis.« Willis schwieg für einen Moment. »Wie alt bist du, Juliette?« »Also, das weißt du doch. Du schickst mir immerhin jedes Jahr ein wunderschönes Geschenk. Am achtundzwanzigsten dieses Monats werde ich siebzehn.« »Ja, das weiß ich. Aber das laut auszusprechen hat durchaus seinen Sinn. Du bist jung. Es ist also durchaus möglich, daß diese Schwärmerei irgendwann vorübergeht.« »Das wird sie nicht. Ich habe genug Bücher gelesen, um zu wissen, daß vor gar nicht langer Zeit Mädchen, die viel jünger waren als ich, sich verliebt, dann geheiratet haben und schließlich Kinder bekamen, kaum daß sie vierzehn oder fünfzehn Jahre alt waren.« »Ja, aber sie hatten einen guten Grund dafür. Sie hatten ein viel härteres und kürzeres Leben. Sie mußten sich beeilen, das brauchst du nicht. Du hast so viele Vorteile – so viel, was noch vor dir liegt. Ich tue doch nichts anderes, als dich ein wenig zu bremsen, dich zum Nachdenken anzuhalten. Du mußt deiner Sache sehr sicher sein.« »Das bin ich.« Willis musterte sie einige Sekunden lang mit ernster Miene. »Na schön. Wenn es stimmt und sich auch als dauerhaft erweist, dann sag nicht, daß du glaubst, den Jungen zu lieben, sondern erkläre es ganz offen.« Julie rührte mit ihrem kleinen Silberlöffel in ihrem geschmolzenen Eisdessert herum. »Was ist denn mit Mama und Papa? Sie werden ihn hassen. Ich würde aber sterben, wenn ich ihn nicht mehr sehen dürfte.« »Dann sag nichts.« »Richtig, das meine ich auch. Aber was soll ich tun, wenn sie es herausbekämen?« »Wehr dich gegen sie.« »Mich wehren? Oh, Tante Willis, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich glaube, ich bin nicht prüde und alles andere als tugendhaft, aber ich liebe Mama und Papa. Ich wünsche mir ihre Achtung und ihre Zustimmung. Ihre Liebe –« »– die sie davon abhängig machen, wie du dich verhältst.« Julie wandte den Blick ab. Ihre Tante hatte es richtig erkannt. »Ich nehme deine Gefühle ernst, mein Kind. Du bist eine gehorsame Tochter und eine anständige Person. Bedauerlicherweise kann Anständigkeit in der Welt von heute ein Handikap bedeuten. Überdies hat deine Mutter – die aus demselben Fleisch und Blut ist wie ich – dir den Kopf vollgestopft mit irgendwelchem Unsinn über deine empfindliche Gesundheit, über schwache Nerven und einen allgemeinen Mangel an
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Widerstandskraft. Du darfst nichts davon glauben. Das gehört zu dem Unsinn, den man den Frauen immer noch erzählt. Nimm nur dieses Ammenmärchen, daß Frauen einmal im Monat so krank werden, daß sie sich hinlegen müssen. Lächerlich. Den Mädchen wird dieser Quatsch von der Gesellschaft und von ihren Müttern weisgemacht. Schönes Haar scheint immer noch wichtiger zu sein als ein intaktes, zum Denken fähiges Gehirn. Die Hauptfunktion der Frau besteht immer noch darin, als Zierde des Mannes aufzutreten. Außer natürlich, wenn sie sich als Zuchtsau betätigt.« »Tante Willis«, flüsterte Julie schockiert und schlug eine Hand vor den Mund. »Na komm schon, es ist doch nichts Schlimmes daran, wenn man die Wahrheit offen ausspricht. Eine Frau kommt mit Intelligenz und Charakter auf die Welt. Und zwar hat sie von allem mehr, als der durchschnittliche Mann besitzt. Eine Frau ist zu bedeutsameren Dingen fähig, als nur wie eine Puppe zur Dekoration im Haus herumzusitzen. Kennst du das Theaterstück, daß Mr. Ibsen über diese Nora geschrieben hat?« »Nein. Ich habe lediglich den Namen Ibsen schon mal gehört. Die Leute sagen, er schreibe unanständige Theaterstücke.« »Natürlich. Die Menschen haben immer einen ganzen Haufen bewährter Anschuldigungen, die sie jemandem entgegenschleudern können, der sich mit einer neuen Idee vorwagt. Henrik Ibsen ist ein fähiger, überzeugender Dramatiker. Ein Genie. Für einen Mann weiß er erstaunlich gut über unser Geschlecht Bescheid. Eine Frau braucht eine Aufgabe, einen Lebenssinn, Julie. Eine Mission, von der sie weiß, daß sie wichtig ist. Das und ein Glas besten Kentucky Bourbon, ausgiebiges Schwimmen oder ein starker Liebhaber können fast alles kurieren, worunter man jeweils leiden mag. Dennoch – wenn wir all das erst mal beiseite lassen – weiß ich, daß du wegen dieses Jungen vor einer ganz anderen, weitaus akuteren Frage stehst. Nämlich – um wessen Leben geht es hier? Um das deiner Mutter, deines Vaters oder dein eigenes?« Unsicher betrachtete Julie ihre Hände. Sie kannte die tapfere Antwort auf diese Frage. Sie konnte nur nicht ertragen, sich den Konsequenzen zu stellen, die sich daraus ergaben. Tante Willis schien es gut zu verstehen. Sie ergriff Julies Hand. An jedem Finger trug sie einen Ring mit einem anderen Edelstein. »Fang nicht an, an dir zu zweifeln. Du hast den Mut und die Kraft, den richtigen Weg einzuschlagen, wenn du nur fest davon überzeugt bist. Wenn du es tust, wird es zumindest für einige Zeit ziemlich qualvoll für dich sein, aber du wirst es am Ende überleben. Du hättest deinen Standpunkt erfolgreich verteidigt.«
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»Ich hoffe es.« »Ich habe es in Kentucky genauso gemacht und habe es geschafft.« »Davon hast du mir nie erzählt.« »Ach, habe ich das nicht?« Willis lehnte sich zurück und schloß halb die Augen. Ein seltsam verträumter Ausdruck breitete sich kurz auf ihrem Gesicht aus und ließ es in nie gesehener Schönheit erstrahlen. Ihre Stimme bekam einen weichen Klang. »Es ist eigentlich nur eine kurze Geschichte. Im Staat Kentucky gab es zwei Lager, die gegeneinander stritten. Die Fishburnes waren für die Abtrennung. Billy Boyntons Leute waren Loyalisten. Arme Loyalisten. Schlammspringer. Mir war es gleich. Ich packte ein paar Sachen zu einem Bündel zusammen, rutschte am Regenrohr hinunter und lief von zu Hause weg. Ich war sechs Tage und Nächte mit Billy zusammen, ehe er einrücken mußte.« »Hast du ihn geheiratet?« »Nein, das habe ich nicht. Kein Geistlicher hätte die Zeremonie vorgenommen ohne eine schriftliche Erklärung, daß wir dazu die elterliche Erlaubnis hatten.« Julie war entgeistert. »Dazu muß aber viel Mut nötig gewesen sein – du warst schließlich erst fünfzehn. Hast du jemals –?« Sie wartete, bis der Kellner ein Silbertablett mit der Rechnung auf ihren Tisch gestellt hatte. »Hast du jemals bereut, was du getan hast?« »Kein einziges Mal. Diese sechs Tage und Nächte mit Billy Boynton gehörten zu den glücklichsten, die ich je erlebt habe. Ich würde nicht auf sie verzichten wollen, selbst wenn man mich dafür zur Kaiserin von China machen würde.« »Was ist deinem Freund passiert?« Willis drückte ihre Zigarette mit heftigen Bewegungen in einer Kristallschale aus. »Er fiel in Chickamauga. Moment, ich zahle die Rechnung. Es wird Zeit für uns, nach Hause zurückzukehren. Eine Sache noch.« Sie tätschelte noch einmal die Hand ihrer Nichte. »Wenn diese Liebesgeschichte so ernst wird, daß du glaubst, nicht mehr alleine damit fertig zu werden, dann denk an mich. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du eine Zuflucht oder eine Freundin brauchst.« 40 PAUL Onkel Joe wetterte weiterhin laut und oft gegen den Streik bei Pullman. Das
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gleiche taten auch die Zeitungen, die ins Haus kamen. Paul las sie langsam, mühsam, und stets hielt er eine kleine englische Grammatik und sein Taschenwörterbuch bereit. Die Zeitungen sprachen sich so entschieden gegen die Streikenden aus, daß Paul sich zu fragen begann, ob es zwischen ihnen und Mr. Pullman irgendwelche verborgenen Kontakte gab. Er erinnerte sich, wie Vetter Joe einmal davon geredet hatte, daß die Reichen sich gegen die Armen verschworen. Diese einseitigen Darstellungen konnten durchaus ein Beweis dafür sein. Niemand konnte so selbstsüchtig, verantwortungslos, verdorben und gesetzlos sein, wie die Zeitungen die Streikenden beschrieben. Die Diskussion um den Streik weckte Zweifel, die Paul verdrängte. Er wollte nicht an den Bäcker aus Wuppertal erinnert werden. Er wollte nicht den düsteren Andeutungen seines Vetters über Amerika glauben – jener ständig wiederholten »Wahrheit«. Aber die Zweifel waren da, und sie wurden mit jedem Tag stärker. An einem heißen Junitag überredete Joe junior Paul nach der Arbeit, ihn noch zu einer Versammlung zu begleiten, ehe sie nach Hause gingen. Es war ein Samstag, der Tag nach Pauls siebzehntem Geburtstag. »Gene Debs tritt heute nachmittag auf. Er ist ein phantastischer Redner, du mußt ihn dir anhören.« Paul befürchtete, daß er die Botschaft des Gewerkschaftlers längst kannte. Um ihrer Freundschaft willen erklärte er sich jedoch bereit mitzugehen, obgleich er am liebsten nach Hause gegangen wäre und sich schlafen gelegt hätte, um sich die Wartezeit bis zum darauffolgenden Sonntagnachmittag zu verkürzen. Nachdem sie die Brauerei verlassen hatten, aßen sie zu Mittag in einem Saloon und gingen dann zur Uhlich-Halle im Ashland-Block. Der schmuddelige Saal war heiß und beinahe voll, als sie die Treppe zur Galerie hinaufstiegen. Paul fühlte sich in dieser Menge, die sicherlich nur aus Sozialisten bestand, ausgesprochen unwohl. Die meisten waren dürftig gekleidet und hatten das ärmliche Aussehen von Tagelöhnern. Vetter Joe sagte: »Debs’ Gewerkschaft hält diese Versammlung hier schon seit fünf Tagen ab. Alle sind gespannt, ob Debs heute eine wichtige Erklärung abgibt. Nämlich, daß er den Streik unterstützt. Siehst du die Reporter da unten?« Er deutete auf einen abgesperrten Bereich im Saal. Dort herrschte dichtes Gedränge. Um Punkt zwei Uhr betrat ein Mann die Bühne. Er stellte sich als George Howard vor, Vizepräsident der American Railway Union. Mit einigen rhetorischen Schnörkeln präsentierte er den Vorsitzenden, Mr. Debs. Langer Applaus, Pfiffe, Fußgetrampel empfingen Debs, als er aus den
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Kulissen trat. Paul dachte, daß Mr. Debs, der Radikale, eher wie ein Mönch aussah, der irrtümlich einen normalen Anzug mit Schlips und Kragen trug. Als der Applaus verebbte, trat Debs ans Rednerpult. Er sprach ohne Notizen. »Meine Herren, ich möchte Ihnen eine Entscheidung bekanntgeben, die vom Vorstand Ihrer Bruderschaft getroffen wurde. Als persönliche Bemerkung möchte ich vorausschicken, daß ich, wie viele von Ihnen wissen, mich immer wieder dagegen gesträubt habe, den Streikenden der Pullman-Werke offen unsere Unterstützung zuzusagen. Ich bin noch immer sehr skeptisch.« Seine Stimme drang bis in den letzten Winkel des Saals und bewegte sogar Paul. »Es trifft zu, daß die American Railway Union in sehr kurzer Zeit sehr groß geworden ist. Aber wir sind noch immer eine junge und bisher nicht geforderte Organisation. Man kann über die Pullman Palace Car Company sagen, was man will« – vereinzelt wurden Buh-Rufe laut –, »kein vernünftiger Mensch kann leugnen, daß sie eine Firma mit bedeutenden finanziellen Mitteln und einflußreichen Beziehungen bis in die höchsten Kreise der örtlichen wie auch der nationalen Regierung ist. Allein aus diesem Grund war ich nicht bereit, eine Aktion zu empfehlen, um unsere Solidarität mit jenen zu demonstrieren, die tapfer für ihre Rechte kämpfen.« Paul beugte sich zu seinem Vetter hinüber. »Was meint er mit Aktion?« »Einen Sympathiestreik durch diese Gewerkschaft.« Debs hob den Kopf. Sein Blick wanderte über die Galerie. »Fünf Tage dauert unsere Versammlung schon. Wir haben Berichte über den Mißbrauch und die Ausbeutung von Arbeitern bei Pullman gehört, einen Mißbrauch, der sich mit der Moral eines modernen, zivilisierten Landes nicht verträgt. Wir haben auf die andauernde, offene Unnachgiebigkeit des Managements bei Pullman hingewiesen. Das Management erklärt stur, daß es nichts zu verhandeln gibt. Mit blinden Augen, tauben Ohren und Herzen, in denen kein christliches Mitgefühl mehr existiert, wendet die Pullman Company sich von ihren eigenen Angestellten ab, die hungern und leiden wegen – ja, wegen was? Wegen unmäßiger oder unvernünftiger Forderungen? Nein! Nur wegen der Fortzahlung eines Mindestlohns!« Joe junior rutschte gespannt nach vorne auf die Sitzkante. »Ich glaube, er tut’s.« Debs machte eine kleine Pause, um aus einem Glas einen Schluck Wasser zu trinken. Als er das Glas zur Hälfte geleert hatte, stellte er es beiseite und umklammerte mit den Händen die Seiten des Rednerpults. Sekunden verstrichen. In der Uhlich-Halle war es so still, daß Paul eine
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Bodendiele knarren hörte, als jemand sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagerte. »Gentlemen – aus allen soeben genannten Gründen habe ich meine Bedenken beiseite geschoben.« Jemand stieß einen Pfiff aus, andere reagierten mit Beifallsrufen. Debs hob schnell die Hand und bat um Ruhe. »Ich werde nicht widersprechen, sondern schließe mich der Entscheidung des Vorstands der Vereinigung an. Diese Entscheidung ist das Ergebnis langer und sorgfältiger Überlegungen. Wenn die Pullman Palace Car Company sich nicht innerhalb von zehn Tagen zu einer gutwilligen Schlichtung der Meinungsverschiedenheiten bereit erklärt, dann wird die American Railway Union einen Boykott aller Pullman-Betriebe empfehlen.« Unter den Reportern im Saal entstand Bewegung. Ein Mann mit Strohhut drängte sich zum Mittelgang. Debs stoppte ihn mit scharfer Stimme. »Einen Moment. Ich bin noch nicht fertig.« Protestierend setzte der Reporter sich wieder. Seine Kollegen bedeuteten ihm zu schweigen. »Während des Boykotts wird die Bruderschaft sich weigern, PullmanWagen zu warten oder zu betreiben, ganz gleich bei welcher Linie sie verkehren. Wir werden keine Gewalt anwenden. Wir werden keine Züge anhalten. Wir werden ganz einfach keinen Finger mehr rühren. Unsere Bemühungen werden friedlich sein und nicht ehrverletzend. Wir werden die Firma auf jeden Fall besser behandeln, als sie es mit ihren eigenen Leuten tut. Aber wir werden unbeugsam sein und den Boykott aufrechterhalten, bis ernsthafte Verhandlungen beginnen.« Langsam ließ Debs seinen Blick durch die mittlerweile totenstille Halle wandern. Er hatte sie nach und nach mit seinen Worten gebannt. Sogar Paul, der von der Rede des Mannes langsam und beinahe unbewußt hypnotisiert worden war. »Das ist unsere Botschaft an die Welt. In diesen finsteren und schwierigen Zeiten können wir nichts anderes tun, als unsere tapferen Brüder, amerikanische Arbeiter wie wir, zu unterstützen. Ich kann und werde nichts anderes tun, solange ich atme. Vielen Dank und guten Tag.« Der Vizepräsident der A.R.U. Howard, sprang von seinem Platz auf, um zu applaudieren. Joe junior schoß hoch und Paul ebenfalls, wenn auch zögerlicher. Debs stützte sich auf das Rednerpult, schwankte, als habe er sich verausgabt. Seine Blicke wanderten durch die Halle. Ein schwaches, müdes Lächeln war seine einzige Reaktion auf das Händeklatschen und Füße trampeln. Reporter drängten sich aus der Presseloge und versuchten, an Debs heranzukommen. Männer aus dem Publikum erreichten ihn zuerst, klopften
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ihm auf den Rücken und drückten ihm die Hand. Während Paul und sein Vetter zum Ausgang strebten, war Joe junior geradezu außer sich vor Freude. »Das ist es, jetzt wird endlich gehandelt.« »Wahrscheinlich hast du recht.« »Warum so mißgelaunt? Ist dir das mit dem Streik egal?« »Ich denke, das sollte es wohl nicht sein, aber –« »Du kannst an gar nichts anderes mehr denken als nur an Julie, stimmt’s?« Paul versuchte zu lächeln. »Scheint so.« »Nun, du mußt jetzt an etwas anderes denken. Der Arbeitsboykott verändert alles. Er ist das reinste Dynamit.« Während die beiden die Halle verließen, fragte Paul sich, ob seinem Vetter bewußt war, welches Wort er benutzt hatte. Bilder zuckten durch seinen Kopf. Die Sanddünen. Die explodierende Baracke. Benno Strauss’ begeistertes Lachen … Schlimme Bilder. Waren sie die Vorboten von noch Schlimmerem? Er hoffte nicht. Zwei glänzende Fleetwing-Sicherheitsfahrräder lehnten am Stamm der Platane. Auf der anderen Seite, im Schatten des Baums, lagen Paul und Julie im jungen Gras. Ihr rechter Arm, in Weiß gekleidet, und sein linker, in einem gestärkten Hemd, dessen Ärmel hochgerollt war, ruhten dicht nebeneinander, berührten sich. Sie hatten sich heute zwei Stunden später als sonst getroffen, um vier Uhr. Tante Ilsa hatte das sonntägliche Mittagessen wegen eines besonderen Empfangs nach dem Morgengottesdienst in der St. Pauls-Kirche verschoben. Pastor Wunder stellte einen neuen Assistenten vor, der soeben ordiniert worden war. Als Paul an diesem frühen Sonntagmorgen davon erfuhr, rannte er im Dauerlauf bis zur Prairie Avenue und drückte sich in der Nähe der Vanderhoff-Villa herum, bis die Familie zur Kirche fuhr. Dann eilte er schnell durch die Fünfzehnte Straße zur Rückseite des Anwesens, wo ein kurzer Fußweg vom Bürgersteig zur Stalltür führte. Sieben melonengroße, gekalkte Steine säumten jede Seite des Weges. Ihr Stein war der zweite auf der linken Seite, wenn man auf den Stall blickte. Paul hatte den Stein ausgesucht, nachdem Julie angedeutet hatte, daß sie am Ende ganz sicher erwischt würden, falls sie sich weiterhin des Hauspersonals bedienten, um Nachrichten zwischen ihnen hin und her zu schicken.
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Er versteckte eine Nachricht unter dem Stein und glättete die Erde sorgfältig. Julie sah immer unter dem Stein nach, ehe sie das Haus verließ. Er war völlig außer Atem und schwitzte, als er ins Crown-Haus zurückkam. Egal. Eine ganze Woche zu überstehen, ohne sie gesehen zu haben, wäre einfach unerträglich. Ihr Treffpunkt war die Fahrradvermietung in der Nähe von Fishers Biergarten auf der nördlichen Seite des Lincoln-Parks. Er traf zwanzig Minuten zu früh ein. Sie erschien pünktlich. »Ja, ich habe die Nachricht gefunden.« Sie reichten sich die Hände, tauschten einen innigen Händedruck aus, dann trennten sie sich mit einem schuldbewußten Lächeln. Sie trug schicke neue Fahrradkleidung. Flache Schuhe aus weißem Leinen, weiße Gamaschen, einen knielangen Überrock, ein enges weißes Bolerojäckchen sowie eine fröhliche Matrosenmütze mit einem breiten smaragdgrünen Satinband. In Pauls Augen hätte niemand zu irgendeiner Zeit und an irgendeinem Ort schöner aussehen können. Sie radelten auf einer Straße nach Süden, die mitten durch den LincolnPark führte. Der Park war erfüllt von sommerlichen Geräuschen. Spielende Kinder. Fahrradfahrer, die ihre Klingeln ertönen ließen. Das Knallen eines voll getroffenen Baseballs mit anschließenden Beifallsrufen. Am südlichen Ende des Parks machten sie kehrt, radelten zurück zu Fisher, wo sie abstiegen und die Straße verließen. Paul und Julie suchten ihren Lieblingsplatz am Seeufer unter der großen Platane auf. Im Biergarten spielte die deutsche Kapelle Die Wacht am Rhein. Aus einer Tasche seines leichten Leinensakkos holte Paul einen kleinen Zeichenblock und ein Stück Zeichenkohle. Er versuchte sie zu skizzieren, während sie sich unterhielten. Er kam auf den Streik zu sprechen. »Ich weiß nicht viel darüber«, erwiderte Julie. »Papa sagt, die Streikenden sollten verhaftet werden. Und die Rädelsführer erschossen. Ich glaube nicht, daß er das ernst meint.« »Nein, aber das Thema scheint die Menschen sehr in Rage zu bringen. Mein Onkel redet genauso.« »Reiche Leute«, sagte sie achselzuckend. »Sie denken alle gleich. Bitte, laß mich mal sehen.« Verlegen zeigte er ihr die Zeichnung. »Schlecht wie immer. Ich versuche es, habe aber kein Talent. Ich möchte mit einer Kamera Bilder machen. Vielleicht sogar Bilder, die sich bewegen. Das wäre wirklich aufregend.« »Davon habe ich schon gehört. Papa hat sich eine Vorführung während der großen Ausstellung angesehen. Er sagte, die Bilder wären überflüssig und wertlos gewesen.«
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»O nein, das finde ich nicht.« Er legte die kitschige Zeichnung beiseite. »Wie wäre es denn, wenn man wirklich bedeutende Dinge photographieren könnte? Dinge, die kein normaler Mensch jemals zu sehen bekäme? Präsidenten oder Könige oder Kannibalen? Ägypten oder China oder die Felswände irgendeines hohen Berges wie zum Beispiel der Jungfrau? Wenn man Kriege photographieren könnte? Es wäre genauso, als würde man ein Geschichtsbuch zum Leben erwecken. Und das wäre doch nicht überflüssig oder wertlos.« »Nein, das natürlich nicht.« Er lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm. »Das wäre eine Arbeit, der ich mein ganzes Leben widmen könnte, Julie.« »Du würdest den Betrieb deines Onkels verlassen?« »Ja, ich bin das Brauerhandwerk schon jetzt leid. Die Bezahlung ist zwar sehr gut, aber ich interessiere mich überhaupt nicht für die Bierherstellung, sondern nur fürs Trinken.« Sie lachte. »Ich möchte photographieren. Natürlich müßte ich es zuerst erlernen. Bei der Ausstellung habe ich einen Mann kennengelernt, der es mir beigebracht hätte, aber sein Laden ist geschlossen. Ich habe keine Ahnung, wohin er gegangen ist.« »Es muß doch noch einen anderen Weg geben. Du wirst ihn schon finden. Ich glaube sowieso, daß du fast alles schaffst, was du willst.« Sie war unfaßbar schön. Ihre Stirn leuchtete. Ihre Lippen waren weich und rosig. Die Hitze hatte einen silbernen Tautropfen auf ihre Oberlippe gezaubert. Sein Kopf füllte sich mit chaotischen Gedanken an Nacktheit, verschlungene Gliedmaßen, leise, leidenschaftliche Schreie. Er schob seine linke Hand über ihre. Julie drehte sich zu ihm hin. Die schwarzen Strähnen ihres Haars flatterten über den ausgepolsterten Schultern ihres Jäckchens. »Bitte, Paul. Das dürfen wir nicht.« Er ließ sie nicht los. »Ich fühle mich ganz schlimm, Julie.« »Weil wir uns auf diese Weise sehen?« »Nein, weil ich anständig sein muß, während ich an nichts anderes denke, als dich zu umarmen und zu küssen.« »Wir dürfen damit nicht anfangen. Das dürfen wir nicht wagen. Es könnte sein, daß ich nicht stark genug bin, um aufzuhören.« Er richtete sich auf, kniete sich hin. Zwei Fahrradfahrer fuhren auf der Straße vorbei. Paul sah kurz zu ihnen hinüber, dann beugte er sich vor und küßte sie. Sie hatten sich schon vorher zweimal auf den Mund geküßt, ganz züchtig. Aber nun war Juni; es war Sommer, und Hitze stieg aus der Erde auf, erfüllte die Luft, brachte ihr Blut in Wallung.
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Er preßte seinen Mund auf ihren, spürte, wie die kühlen Lippen sich schnell erwärmten. Irgendwie öffnete sich ihr Mund. Ihre Zungen berührten sich. Sie stieß einen leisen Schrei aus und schlang die Arme um seine Taille, preßte sich an ihn. Er streichelte ihr glänzendes Haar, fragte nicht, wer sie so sehen konnte. »Ich will mehr, als mich immer nur so mit dir zu treffen. Bitte laß mich mit deinem Vater reden. Ich werde ihm klarmachen, daß ich aufrichtige, ernsthafte Absichten habe. Er wird seine Antipathie gegen meinen Onkel ablegen –« »Nein, das wird er nicht, und du darfst kein Wort sagen. Wenn du mit Papa reden würdest, dürfte ich dich nicht wiedersehen, niemals mehr. Wir würden sogar diese wenigen Stunden verlieren.« »Aber ich kann dies hier nicht mehr lange ertragen, ich will dir viel näher sein. Fühl doch«, stieß er hervor und zog sie an sich, so daß sie seine Erregtheit an ihrer Brust spürte. Mit geschlossenen Augen drängte sie sich noch heftiger gegen ihn. Dabei drangen Laute der Leidenschaft aus ihrer Kehle. »Ich kann mich nicht für den Rest meines Lebens heimlich mit dir treffen, Julie.« »Oh, das kann ich auch nicht, aber – aber –« Sie begann zu weinen. Er umarmte sie und strich ihr wieder über das dunkle, glänzende Haar. »Was sollen wir also tun?« »Ich weiß es nicht.« Er löste sich von ihr, als ihr Schluchzen heftiger wurde. Er war sowieso schon zudringlicher und intimer geworden, als der allgemeine Anstand es zuließ. Er berührte ihr von Tränen gerötetes Gesicht. Legte seine Hände an ihre Wangen. Beugte sich wieder hinab, um sie zärtlich, tröstend, sanft zu küssen, während über ihnen das Laub der Platane im Wind raschelte … »He! Hallo, ihr da!« Der Ruf riß sie geradezu auseinander. Paul schaute sich um, suchte die Störquelle. Er sah ein schickes rotes Tandemfahrrad auf der gewundenen Straße, das eine Staubwolke hinter sich herzog. Die junge Frau auf dem vorderen Sitz schaute unter ihrem Strohhut hervor über die Schulter. Wegen des hochgewirbelten Staubs konnte Paul sie oder ihren blonden Begleiter nicht auf Anhieb erkennen. Julie wußte wenige Sekunden vor Paul, wer es war. »O mein Gott, Paul!« Es war ihr reicher Freund Welliver.
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41 ILSA Im Herbst 1889 hatten zwei junge Frauen namens Jane Addams und Ellen Starr den zweiten Stock eines heruntergekommenen Hauses an der Ecke Polk- und Halsted-Straße untervermietet. In dem Gebäude wohnten vorwiegend Angehörige der Arbeiterklasse, aber man erinnerte sich noch immer an den ersten Eigentümer des Hauses, einen Immobilienmogul namens Charles Hull. Die Adresse lautet daher für immer und ewig Hull House. Die Hull-House-Stiftung unterwies die bildungsmäßig vernachlässigten Leute in der Umgebung nicht nur in praktischen Dingen wie Ernährungsfragen, Kindeserziehung, Gesundheitspflege, Kosteneinsparungen, sondern sie führte auch Bildungs- und Kulturveranstaltungen durch. Kammermusikensembles spielten im Hull House. Schriftsteller lasen aus ihren Werken und stellten sich anschließend den Fragen ihrer Zuhörer und Leser. Kunstmaler präsentierten ihre Werke und hielten praktische Kurse ab. Universitätsdozenten hielten Vorlesungen über Ästhetik, Geschichte und Literatur. Redner aus den unterschiedlichsten Lagern stellten ihre Gesellschaftsmodelle vor. Aber die Hull-House-Stiftung erreichte nicht nur die nächste Umgebung, sondern sie wirkte sogar bis in die Familien der wohlhabenden und einflußreichen Frauen Chicagos. Dort hatte sie sich zur Aufgabe gemacht, die Wahrheit über die Not der Armen und Bedürftigen Chicagos zu verbreiten. Miss Addams und ihre Freundin Miss Starr waren in gewisser Hinsicht typisch für die weiblichen Vertreter ihrer Gesellschaftsschicht und ihrer Generation. Sie hatten das College besucht und betrachteten ein sinnvolles, der Wohltätigkeit verschriebenes Leben als unvereinbar mit einer Ehe. »Als ich mein Studium am Rockford Female Seminary abschloß«, erzählte Miss Addams Ilsa Ende der achtziger Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten, »wollte ich eigentlich umherreisen und die Jahre mit irgendwelchen sinnlosen Aktivitäten verbummeln wie viele andere Frauen aus wohlhabenden Kreisen. Ich war zweimal in Europa und hatte während meiner zweiten Reise in einer Bierbrauerei in Coburg in Bayern ein einschneidendes Erlebnis. Ich sah, wie junge Frauen von fünf Uhr in der Frühe bis sieben Uhr abends schwere Bierfässer auf dem Rücken umherschleppten. Das Bier war noch heiß. Sie brachten es ins Kühlhaus. Sehr oft schwappte das Bier über und verbrühte sie. Entstellte sie wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens. Trotzdem arbeiteten sie weiter. Vierzehn Stunden am Tag für einen Lohn von anderthalb Mark. Das sind in
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unserer Währung siebenunddreißig Cents. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich bin keine Heilige, Ilsa. Ich bin nicht besonders durchgeistigt, ich betrachte mich selbst als eher praktisch veranlagte Frau. Aber ich erkannte in Coburg, daß ich für mein Leben eine Mission, eine Aufgabe brauchte. Und ich wußte, daß die Aufgabe darin bestehen sollte, den Frauen in meiner eigenen Heimat zu helfen, denn auch dort waren sie teilweise durch unmenschliche Arbeiten zu einem Leben voller Hoffnungslosigkeit verdammt.« Ehe das Gespräch beendet war, hatte Ilsa Crown sich ebenfalls zur Arbeit im Hull House verpflichtet. Sie wußte, daß ihr Ehemann sich dagegen aussprechen würde. Diese Entscheidung hatte einen radikalen Anstrich. Das war ihr gleichgültig. In dieser Angelegenheit würde Joe sich ihrer Haltung als moderne Frau beugen müssen. Während jenes unruhigen Frühlings und Sommers des Jahres 1894 sammelte Jane Addams einen Zirkel wohlhabender Frauen um sich und überzeugte sie, ihren Einfluß im Zusammenhang mit dem Streik in den Pullman-Werken geltend zu machen. An einem Montag Ende Juni, einen Tag vor Beginn des Boykotts durch die A.R.U. zeigte sie sieben Frauen, die sich in ihrem Salon versammelt hatten, eine Seite des Magazins Harper’s Weekly. »Dort werden die Streikenden als »Erpresser und Banditen« bezeichnet.« Sie hielt eine Ausgabe der Tribune hoch. »Hier steht ›Diktator Debs‹ ruft die ›DebsRevolution‹ aus. Für die Presse sind sie alle Monster. Aber ich war gestern wieder draußen in Pullman, und ich bin überzeugt, daß die Streikenden im großen und ganzen friedliche und anständige Menschen sind, die von ihren Arbeitgebern ausgenutzt wurden.« »Wird der Streik denn wie geplant stattfinden, Miss Addams?« fragte Ilsa. Ganz gleich, wie eng jeweils die Freundschaft war, niemand redete sie mit Jane an. »Ich befürchte es. Ich habe mit Wickes gesprochen, dem Vizedirektor, der sich mit allem befaßt, was mit den Arbeitsbedingungen zu tun hat. Er hat den Standpunkt der Firma wiederholt. Es gibt nichts zu verhandeln. Nichts zu vermitteln. Wie Sie alle sicherlich längst gelesen haben, hat die General Managers Association in Erwartung der Tatsache, daß der Arbeitsboykott sich zu einem Streik gegen alle Pullman-Wagen ausweitet, ihren eigenen Mann ernannt, John Egan, der sich der Angelegenheit annehmen soll. Die G.M.A. vertritt die vierundzwanzig Eisenbahnlinien, deren Sitz in Chicago ist oder die hier enden. John Egan ist der Direktor der Chicago & Great Western. Er hat Büros eröffnet, und seine Männer sind bereits unterwegs und halten Ausschau nach Bewerbern.«
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»Bewerbern wofür?« fragte eine Frau. »Für eine Streitmacht von Sonderbewachern und Helfern. Sie werden dazu verpflichtet, die Züge zu bemannen, die von Mr. Debs’ Leuten nicht bedient werden. Sie werden sich gegen die Streikposten durchsetzen.« »Ist das nicht eine völlig legitime Reaktion?« überlegte Ilsa laut. »Oder war das nicht zumindest zu erwarten? Der Justizminister in Washington, Mr. Olney, sitzt im Aufsichtsrat von sieben Eisenbahngesellschaften und steht auf seiten der Eigentümer. Ist es denn nicht logisch, daß er sich zu einer solchen Taktik entschließt?« »Das ist nicht der Punkt, Ilsa. Die G.M.A. hat sehr schlimmes Volk eingestellt. Schläger, Taschendiebe, Zuhälter – jeden Abschaum, den sie finden konnte. Sie bewaffnen die Leute und verpassen ihnen vorübergehend ein Abzeichen und einen offiziellen Status. Ich bitte Sie alle, mit Ihren Männern zu reden, auf sie einzuwirken. Sie sollen mit den Entscheidungsträgern sprechen, die sie vielleicht bei den verschiedenen Eisenbahnlinien oder bei der Regierung kennen. Auf jeden Fall muß die Ordnung erhalten werden. Wir dürfen nicht zulassen, daß im Namen des Kapitalismus Rechtlosigkeit und Ungesetzlichkeit regieren.« Ilsa konfrontierte Joe am Abendbrottisch mit diesem Thema. Er reagierte unwirsch. »Was ist daran unrecht, wenn man sich darauf vorbereitet, sich gegen den Pöbel zu verteidigen? Nichts! Wenn die Situation außer Kontrolle gerät, sollten die Behörden staatliche Hilfstruppen alarmieren. Altgeld ist in seiner Gesinnung derart rot angehaucht, daß er sich wahrscheinlich gegen jeden Einsatz des Staates sträubt. Fritzi, zum letzten Mal, unterlaß das bei Tisch!« Sie hatte versucht, ihren jüngsten Schatz herumzuzeigen. Er hatte sie einen ganzen Dollar gekostet, den sie sich von ihrem Taschengeld zusammengespart hatte. Es war eine ziemlich abgegriffene Autogrammkarte, wie sie üblicherweise von Theatern verteilt wurden, damit die Besucher sich damit Autogramme von den auftretenden Schauspielern holen konnten. Was diese Karte zu etwas Besonderem machte, war das Autogramm des jungen Schauspielers, der seinen Namen in schwungvoller Handschrift daraufgesetzt hatte: J. W. Booth. Mit einem traurigen Seufzer ließ Fritzi die Karte in der Tasche ihrer bestickten Schürze verschwinden. Sobald ihr Vater sich von ihr abwendete, faltete sie aus ihrer Serviette ein Kopftuch, hielt es unterm Kinn fest, bewegte den Kopf hin und her und spielte irgendeine Bühnenrolle. Verärgert nahm Ilsa ihrer Tochter das Tuch ab. Carl versuchte
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währenddessen, die Zinken zweier Gabeln derart miteinander zu verhaken, daß die Gabeln aufrecht in Form eines V stehenblieben. Er konnte ein Kichern nur mühsam unterdrücken. »Ich stehe voll und ganz hinter der G.M.A.«, verkündete Joe senior. »Dieser schreckliche Debs baut sich ein persönliches Imperium auf dem Rücken der Trottel auf, die ihm hinterherlaufen.« »Pa, das ist doch lächerlich«, widersprach Joe junior. »Meinst du wirklich?« »Ja, und ich unterstütze die Streikenden.« Aus der Brusttasche seiner Cordjacke zog er ein langes weißes Stoffband. Joe Crown schob die Brille auf seiner Nase ein Stück nach unten und blickte über den Rand hinweg. »Was zum Teufel ist das denn, wenn ich fragen darf?« »Die Eisenbahnergewerkschaft verteilt diese Bänder an Mitglieder und Sympathisanten. Debs möchte, daß seine Leute in einer Menschenmenge leicht zu erkennen sind, damit ihnen niemand irgendwelche kriminellen Handlungen anhängt. Außerdem sind die Bänder ein Zeichen der Solidarität.« »Aber nicht in meinem Haus. Und auch nicht in der Brauerei.« »Es tut mir leid, Pa, das ist eine Frage des Gewissens.« Joe junior begann sich das Band um den linken Arm zu knoten. »Stopp!« Joe senior streckte ihm auffordernd die offene Hand entgegen. »Gib es her, Joe. Sofort.« »Pa –« »Auf der Stelle!« Sie sahen einander in die Augen. Joe junior gab nach. Er ließ das Band in die Hand seines Vaters fallen. Joe senior zerknüllte es. »Du darfst jetzt deine Mahlzeit fortsetzen.« Ilsa saß stocksteif da, hatte Angst sich zu rühren, die Situation noch zu verschlimmern. Sie wußte, daß Joe junior über die eiserne Disziplin seines Vaters wütend war; sich wahrscheinlich noch mehr über sich selbst ärgerte, weil er nachgegeben hatte … »Ich möchte nichts mehr«, sagte Joe junior. »Ich bitte darum, mich entschuldigen zu dürfen.« »Geh nur!« Joe senior machte eine Handbewegung. »Du verdirbst mir sowieso den Appetit, du und dein radikaler Unsinn.« »Joe, bitte«, ergriff Ilsa das Wort. »Einiges von dem, was dein Sohn dir erzählt, entspricht der Wahrheit.« Joe senior ließ die Hand zum Eberzahn an seiner Uhrkette herabfallen. »Miss Addams ist der Meinung, daß die Streikenden bei Pullman insgesamt friedlich sind. Sie –« »Miss Addams, Miss Addams – offen gesagt, Ilsa, bin ich es leid, die
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Meinung einer alten Jungfer zu hören, die keine Ahnung von der Wirklichkeit hat.« »Oh, das ist unfair«, entgegnete sie. Sie wurde allmählich ebenfalls zornig. Joe junior stand auf, murmelte »Entschuldigt mich« und ging hinaus. Pauls Miene verriet Bedrückung. Carls Gabeln fielen klappernd um. Sein Vater strafte ihn mit Blicken. Carl senkte den Kopf. Joe Crown trank den Rest seines dunklen Heimat-Biers. Der Krug war mit dem Familienwappen verziert. »Kein Wunder, daß er gegen Gesetz und Ordnung opponiert. In dieser Stadt gibt es mittlerweile mehr Anarchisten als in St. Petersburg.« Ilsa hielt ihren Zorn nur mit Mühe im Zaum. »Sich ein Band um den Arm zu wickeln ist doch nicht so schlimm –« »Es symbolisiert die Anarchie. Es ist eine Schande für diese Familie. Ich dulde das nicht. Und damit wäre das Thema wohl erledigt.« Fritzi, Carl und Paul verfolgten das Geschehen mit angespannten Gesichtern. Carl sah aus, als habe er echte Angst. Um der Harmonie willen und um den Frieden am Tisch zu erhalten, besann Ilsa sich und unterdrückte ihren Zorn. »Bitte eßt weiter.« Auch sie hatte klein beigegeben. Darauf war sie überhaupt nicht stolz. Sie verachtete sich dafür. Oder ihren Mann, weil er es erzwungen hatte. Am darauffolgenden Tag, nachdem Ilsa noch einmal über alles nachgedacht hatte, was Jane Addams gesagt hatte, entschied sie, daß sie die Pflicht habe, dies an andere weiterzugeben, ganz gleich wie Joe darüber dachte. Sie würde tun, was sie tun mußte, und ihm nichts sagen. Obgleich moderne Einrichtungen wie das Telephon sie nervös machten, rief sie trotzdem ihre nächste südliche Nachbarin, Mrs. Sophie Pelmoor, an, um ihr den Streik aus der Sicht der Arbeiter zu erklären. Mrs. Pelmoor legte mitten im Satz auf. Verblüfft und verärgert tätigte Ilsa trotzdem sechs weitere Anrufe zu Bekannten in der Nachbarschaft. Emmeline De Vore, deren Ehemann eine kleine Versicherungsgesellschaft betrieb, verurteilte die Erklärung und die Anruferin gleich mit: »So was wie Sie brauchen wir hier nicht, Mrs. Crown. Kehren Sie lieber auf die Nordseite zurück, wie es bei Ihnen auf deutsch heißt. Oder noch besser, verschwinden Sie gleich wieder nach Deutschland!« Am nächsten Morgen stellte Pete, der Hofaufseher, fest, daß jemand während der Nacht das Haus mit Eiern beworfen hatte. Joe Senior kam nach draußen, um sich den Schaden anzusehen. Er stemmte die Hände in die Hüften und biß die Zähne zusammen. Dann sagte er: »Ilsa, ich bitte
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dich in aller Form, dich von diesen Furien im Haus der Stiftung fernzuhalten. Wir haben damit nichts zu schaffen. In meinem Gewerbe kann ich etwas Derartiges nicht gebrauchen.« Ilsa gab keine Antwort. Er erwartete auch keine von ihr. Er ging davon aus, daß sie ihm gehorchte. Als er und die anderen zur Arbeit gegangen waren, schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und weinte bitterlich. Das war nicht ihre übliche Art und Weise, auf Schwierigkeiten zu reagieren. Ilsa hatte etwas gegen Heulsusen; gegen Frauen, die Tränen als Hilfsmittel benutzten, als Schutzschild, als ein Mittel der Überredung. Aber es hatte vor Jahren einen Tag gegeben, an den sie sich noch lebhaft erinnerte; damals hatte sie geweint, als ginge die Welt unter … In Over-the-Rhine, nördlich des Miami-Kanals, waren sie jungverheiratet und nicht sehr wohlhabend. An einem Frühlingssamstag im Jahr 1870 schenkte Herr Imbrey ihnen etwas, das die Crowns sich niemals selbst hätten leisten können: zwei Eintrittskarten für ein Konzert des Männerchors, des ältesten und feinsten Gesangsvereins von Cincinnati. Für diesen besonderen Anlaß hatte Ilsa sich das Haar in einer Weise geschmückt, die sie sich leisten konnte, nämlich mit einem selbstgepflückten Maiglöckchenstrauß. Nach dem Konzert spazierten sie und Joe Hand in Hand zu Weinert in der Vine-Straße und setzten sich an einen kleinen Tisch im Garten. Über ihnen schaukelten Papierlaternen im Wind. Am weißen Ziergitter hinter ihrem Mann hing ein lithographiertes Porträt von Wolfgang Amadeus Mozart. Im Garten herrschte laute Fröhlichkeit, unterstrichen vom dumpfen Ton der Baßtuba in der kleinen Musikkapelle. Joe arbeitete sehr hart in jener Zeit. Er verbrachte jede freie Minute in der Young Men’s Mercantile Library in der Walnut-Straße, einer Leihbücherei, wo er Bücher über Handel und Finanzen studierte und sich den Kopf vollstopfte zur Vorbereitung auf seine Selbständigkeit als Geschäftsmann. Ilsa war heftig in ihren jungen Ehemann verliebt. Mit seiner Zärtlichkeit, seiner freundlichen Art und seiner Güte hatte er ihr eine ganz neue Welt körperlicher Nähe und Intimität eröffnet. Und sie genoß es – was sie noch nicht einmal ihrer Mutter gegenüber zugegeben hätte. Dennoch gab es eine große dunkle Wolke am Horizont. Sie hatten noch kein Kind gezeugt. Dabei wünschten sie sich so verzweifelt eines. Mehrere sogar. Joe bestellte zwei Glas Lagerbier von einem der zu allen möglichen Späßen aufgelegten Kellner. Das Bier machte ihn heiter und ein wenig geschwätzig. Beim Lärm der Musik und ausgelassenen Stimmen beugte er
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sich vor und ergriff ihre Hand. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?« »Ja, aber ich fürchte, es sind die gleichen wie im vergangenen Monat.« Dabei wandte sie ihren Blick ab. Es gehörte sich nicht, über solche Dinge zu reden, noch nicht einmal mit dem eigenen Ehemann. »Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt, Joe.« Sie brach in Tränen aus. »Nichts ist bei dir nicht in Ordnung, Liebes«, rief er, sprang auf, um sie zu trösten, und stieß dabei seinen Stuhl um. Er beugte sich zu ihr herab und umarmte sie. Gäste in der Nähe sahen herüber. »Wir müssen es wieder versuchen. Wir schaffen es, ich bin ganz sicher.« Er richtete seinen Stuhl wieder auf und setzte sich. »Wir schaffen es, weil wir müssen. Leben und Arbeit sind nichts wert ohne eine Familie. Familien sind die Grundlage des Lebens, Ilsa. Unsere einzige Chance der Unsterblichkeit. Der Segen der Welt.« Ilsa entschuldigte sich wegen ihrer Tränen. Aber sie waren echt, und es flossen noch mehr, bis der lange Kampf beendet war und sie das Kind empfing, das im Jahr 1875, sechs lange Jahre nach ihrer Hochzeit, geboren und auf den Namen Joseph junior getauft wurde. Kein Freund oder Arzt konnte die Verzögerung erklären oder weshalb es mit Fritzi und Carl, die verhältnismäßig schnell empfangen und geboren wurden, keine ähnlichen Probleme gegeben hatte. Das lange Warten auf das erste Kind hatte eine grundlegende Auswirkung auf die Crowns. Es intensivierte ihre Liebe zu ihrem Sprößling. In gewisser Weise war diese Zeit des Wartens auch für Joes Zorn auf seinen Ältesten verantwortlich. Der Zorn war die Kehrseite der Medaille namens Liebe. Ilsas Tränen am Morgen im Juni waren heilsam; sie milderten ihr Gefühl, versagt zu haben, aber sie vertrieben es nicht vollständig. Sie hatte Miss Addams im Stich gelassen, Joe und ihre Nachbarn gegen sich aufgebracht. Ilsa fand, daß ihr Verhalten wirkungslos geblieben und – im entscheidenden Augenblick – feige gewesen war. Sie trocknete ihre Tränen und suchte Zuflucht in ihren regelmäßigen Aufgaben und Pflichten. Ilsa folgte dabei einer Routine, wie sie von Generationen duldsamer und fleißiger Hausfrauen gepflegt wurde. Am Montag war Waschtag. Am Dienstag wurde gebügelt. Mittwochs wurde gestopft, eine Fähigkeit, die eine Spezialität der besonders perfekten Hausfrau war. Rein theoretisch war der Donnerstag eine Zeit der Ruhe als Vorbereitung auf den Hausputz am Freitag. Am Samstag wurde immer für die darauffolgende Woche vorgebacken. Es war Mittwoch, daher saß sie am späten Vormittag in ihrem Wohnzimmer im Schaukelstuhl. Sie trug ihre stärkste Brille. Sie hatte sich
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außerdem ihre Stopfeier aus Marmor und Holz zurechtgelegt sowie ihr dicht besetztes Nadelkissen und den Karton mit den vielfarbigen Garnrollen. Der Korb mit den ausbesserungsbedürftigen Unterhemden, Unterhosen, Strümpfen und Socken stand auf dem Teppich neben ihrem Fußbänkchen. Gegen Mittag rief Joe aus dem Büro an und entschuldigte sich in ziemlich barschem Ton. Sie bat ebenfalls um Verzeihung. Sie erkundigte sich nach Joe junior und Pauli. Ja, sie wären beide wie gewöhnlich zur Arbeit angetreten, und es schien keine weiteren Anzeichen für eine Revolte zu geben. Vielleicht habe ihr Sohn sich beruhigt, sagte Joe. Ilsa schwieg und bezweifelte es. »Ich habe jedoch bekanntgegeben, daß ich das Tragen weißer Bänder auf dem Firmengelände streng verbiete. Fred Schildkraut entläßt jeden, der ein solches Band am Arm hat.« »Ich verstehe. Ist das alles?« »Ja.« Eine längere Pause entstand; sie hörte, wie er sich räusperte. Dann beendete er das Gespräch mit seinem üblichen »Ich liebe dich« und legte auf. Die Aktion der A.R.U. gegen alle Pullman-Wagen begann wie geplant am Dienstag, dem 26. Juni. Bisher hatte es keine Kämpfe oder Demonstrationen durch aufrührerische Arbeiter gegeben. Eugene Debs verkündete erneut, daß die Arbeitsniederlegung weiterhin friedlich verlaufen werde. Aber die Zeitungsbesitzer und –herausgeber blieben allesamt gleich feindselig. Die Tribune, die auf einem Hocker in der Nähe von Ilsas Nähtisch lag, bezeichnete Mr. Debs in einer Schlagzeile als den Verfechter der Anarchie und verspottete ihn in der Unterzeile: »SECHS TAGE SOLLST DU ARBEITEN« – BIBEL »ABER NUR, WENN ICH ES AUCH WILL« – DEBS Als Ilsa draußen auf der Treppe laute Schritte hörte, legte sie Joes Sommerunterwäsche, die sie gerade stopfte, beiseite. Fritzi kam von der Schule zurück. Nächte Woche begännen die Sommerferien. Dann wäre sie den ganzen Tag zu Hause und im Weg. »Mama, ich möchte dir etwas aufsagen.« »Was denn?« »Wir haben einen neuen Fahneneid. Miss Jacobs sagt, er sei in einer Illustrierten erschienen.« »Ja, aber das ist schon fast zwei Jahre her«, sagte Ilsa kopfnickend. »Ab September müssen wir ihn jeden Morgen aufsagen.« Fritzi schob
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sich Ilsas Fußhocker zurecht, hüpfte darauf und legte eine Hand auf ihr Herz. »Ich gelobe meine Treue der Fahne und der Republik, deren Zeichen sie ist. Auf eine unteilbare Nation mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.« Ilsa reagierte mit dem gewünschten Applaus. Fritzi sprang von dem Hocker herunter und verbeugte sich. Dann griff sie in die Tasche ihres Trägerkleids. »Sieh mal, was ich gefunden habe, Mama. Es ist eine Nachricht. Ich glaube, sie gehört Paul. Er hat sie wohl verloren.« Sie hielt ein zerknülltes taubenblaues Notizblatt hoch. »Wenn sie von Pauli ist, dann sollten wir sie nicht lesen.« »O doch, du mußt, Mutter!« Um ihr den Gefallen zu tun, glättete Ilsa das Stück Papier und hielt es schräg zum Fenster, durch das die Sonne hereinschien. In den letzten Jahren hatte sie zunehmend Schwierigkeiten beim Lesen festgestellt. Die Nachricht las sich mühelos. Die weibliche Schrift war groß, die Botschaft kurz. P. Am Sonntag wie üblich. Ich liebe Dich so! J. »Könnte das Initial möglicherweise für Juliette Vanderhoff stehen, Fritzi?« »Da bin ich mir ganz sicher, Mama.« »Er trifft sie noch immer.« »Was meinst du denn, wohin er jeden Sonntag geht? Es ist einfach abscheulich.« Ilsa hätte sich eigentlich über Fritzis Eifersucht amüsieren müssen, aber das tat sie nicht. Sie wußte, daß Pauli im Winter mit der Tochter der Vanderhoffs Schlittschuh gelaufen war. Joe junior hatte vor einigen Monaten eine Bemerkung darüber fallenlassen. Ilsa hatte sogar mit ihrem Mann darüber gesprochen. »Ich habe Joe junior ausgefragt, und er hat zugegeben, daß Paul bis über beide Ohren verliebt ist. Meinst du, er kommt darüber hinweg?« »Wahrscheinlich. Er ist ja noch jung. Er überlegt es sich ganz bestimmt, falls Vanderhoff es herausbekommt. Dieser dumme Esel bringt es am Ende noch fertig und verpaßt ihm ein paar kräftige Hiebe mit der Pferdepeitsche.« »Dein Sohn Joe hat ihn darauf aufmerksam gemacht. Pauli ist es egal. Junge Liebespaare meinen ja, sie seien unsterblich.«
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»Ja, aber sind sie das denn nicht?« hatte er gemurmelt und nach ihrer Hand gegriffen … Ilsa gab Fritzi den Zettel zurück. »Es wäre am besten, du legst ihn wieder dorthin, wo du ihn gefunden hast – nein, ich habe eine bessere Idee. Leg ihn irgendwo in die Nähe von Paulis Zimmer. Dann findet er den Zettel sehr schnell, und niemandem wurde geschadet.« »Na schön.« Fritzi gefiel dieser Vorschlag gar nicht. Sie hielt die Nachricht von sich, als habe sie einen üblen Geruch, und verschwand. Draußen zogen die ersten dunkelgrauen Abendwolken mit hoher Geschwindigkeit vor die Sonne. Ilsa schaukelte langsam und hing ihren Gedanken nach, während das Licht verblaßte. Sehr bald brach die Dunkelheit herein, die nur vom Lichtschein der Straßenlaternen erhellt wurde. Sie betete darum, daß Paulis jugendliche Schwärmerei von selbst vergehen möge. Falls es nicht dazu käme – wenn es ihm mit dem Mädchen wirklich ernst sein sollte –, dann würden die Vanderhoffs sich einschalten, und das würde ihm das Herz brechen. Entweder das würde passieren oder sogar noch Schlimmeres … 42 PAUL In Zeitungen und Gesprächen wurde aus dem Pullman-Boykott der Pullman-Streik. Paul kam nicht umhin, einiges darüber zu hören und zu lesen. Bei den Crowns wurde kaum über etwas anderes gesprochen. Jeden Tag nach der Arbeit bestand Joe junior darauf, daß sie erst einmal zur Uhlich-Halle gingen, wo Debs und seine Männer ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Die Atmosphäre dort ließ sich am besten mit dem Begriff »Tollhaus« beschreiben. Gewerkschaftler diskutierten und gaben Erklärungen ab; Journalisten lungerten herum und machten sich Notizen, atemlose Botenjungen rannten alle paar Minuten zum Telegraphenbüro. Als Paul sich bei einem Offiziellen erkundigte, was all diese Boten denn täten, erklärte der Mann, die A. R. U. schicke jeden Tag Hunderte von Telegrammen an andere Ortsgruppen der Bruderschaft. »Wir müssen ihnen moralische Unterstützung geben. Müssen dafür sorgen, daß sie durchhalten, ohne zu Gewalt zu greifen. Das würde Gene niemals dulden.« »Ich wette, er wird umdenken, ehe das Ganze vorbei ist«, sagte Joe junior, nachdem der Vertreter des Streikkomitees wieder verschwunden war. »Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn wir siegen wollen.« Es geschah in der Uhlich-Halle am Abend des 28. Juni – der Boykott
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war gerade zwei Tage alt –, daß die Vettern beobachteten, wie Mr. Debs aus dem Konferenzraum herausgestürmt kam, wo sein Exekutivausschuß ständig tagte. Debs’ Weste war zugeknöpft, seine Krawatte ordentlich gebunden; hochgekrempelte Ärmel waren seine einzige Konzession an das heiße Wetter. Seine Miene verriet, daß es schlechte Nachrichten gab. Zwei Reporter standen von ihrem Tisch auf. Debs sagte zu ihnen: »Ich muß telephonieren. Die G.M.A. hat verfügt, daß jeder hinausgeworfen wird, der sich weigert, mit Pullman-Wagen zu arbeiten.« »Was werden Sie tun, Gene?« »Standhaft bleiben. Was sonst?« Nach ein paar Abenden kannten die Männer in der Uhlich-Halle Paul und Joe allmählich. Auch Debs wurde auf sie aufmerksam. Eines Abends, als gerade die Boten knapp waren, bat er die Vettern um Hilfe; Joe junior ergriff begeistert die Chance, zum Telegraphenbüro zu laufen, nachdem er Paul zugerufen hatte, er solle auf ihn warten. Eine Stunde später machte er einen zweiten Botengang. Die Vettern kehrten gegen halb zehn in die Michigan Avenue zurück. Tante Ilsa, bereits in ihrem Nachthemd, hielt sich noch in der Küche auf. Sie hatte ungeduldig auf sie gewartet und wollte wissen, wo sie gewesen waren. Ohne zu zögern, antwortete Joe junior: »Überall und nirgendwo. Wir sind spazierengegangen. Haben uns unterhalten. Der Abend war so schön.« Paul konnte nicht fassen, daß sein Vetter Tante Ilsa so dreist anlog. Sie schien die Erklärung zu akzeptieren, allerdings nicht kommentarlos. »Ich glaube, das ist schon in Ordnung, ihr seid schließlich junge Männer. Und stark. Aber ich sehe euch nicht gerne draußen in den Straßen bei all diesen Streikunruhen. Ihr müßt euch in acht nehmen.« »Klar doch, Mama«, sagte Joe junior und umarmte sie. »Bitte, geht jetzt zu Bett. Morgen ist wieder ein Arbeitstag.« Sie eilten nach oben. Paul konnte nicht einschlafen. Mit dieser Lüge, so kam es ihm vor, hatte Joe juniors Beziehung zu seinen Eltern sich entscheidend verändert. Zum Schlechteren. Am nächsten Abend dezimierte ein heftiges Gewitter die Anzahl der Männer in der Uhlich-Halle. Joe junior und Paul waren da, naß aber treu. Joe wurde zum Telegraphenbüro geschickt, und Paul saß da und wünschte sich im stillen, jemand möge auch ihm einen Auftrag geben. In der Halle war es ungewöhnlich still. Ein Reporter döste am Tisch vor sich hin. Ein Mann schrieb Zahlen auf eine große Tafel, die auf einem Stativ ruhte.
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GELIEF. FRACHTMENGE VERGANGENE WOCHE – 40000 TONNEN GELIEF. FRACHTMENGE LAUFENDE WOCHE – 10000 TONNEN Am Abend vorher, als sie die Tafel zum erstenmal sahen, hatte ihnen ein Offizieller erklärt, daß viele Fernzüge aus Güterwagen und Pullman-Wagen zusammengestellt würden. Auf der Tafel würde die Frachtmenge notiert, die in Chicago eintraf und die die Stadt verließ; der Boykott zeigte tatsächlich Wirkung. Die Tür zu einem Hinterzimmer öffnete sich, und Debs kam mit einem anderen Mann heraus. Begleitet wurden sie von dem appetitlichen Duft gebratenen Specks. Der Reporter erwachte. »Gibt es was Neues, Gene?« Debs schüttelte den Kopf. Der Reporter holte sich seinen Regenschirm und schlurfte hinaus. Paul gähnte, wurde aber plötzlich hellwach, als Debs den anderen Mann in einer vertrauten Sprache anredete. Nach der kurzen Unterhaltung setzte der Mann seine Mütze auf, ging durch den Mittelgang hinaus. Paul sah, daß er der letzte Mensch im Saal war, obgleich ständig Männer im Konferenzraum zusammenkamen. Ihre Schatten bewegten sich hinter der Milchglasscheibe. Debs winkte Paul grüßend zu und wollte ins Hinterzimmer zurückkehren. Überaus neugierig geworden, sprang Paul auf. »Herr Debs? Sprechen Sie deutsch?« »Ja, seit vielen Jahren. Ich habe es von meinem Vater gelernt. Auch Französisch. Er stammt aus dem Elsaß. Du bist Deutscher?« fragte er, immer noch in Pauls Muttersprache. »Ja, Sir.« »Und dieser junge Bursche, den ich mit dem Telegramm weggeschickt habe – wer ist das?« »Mein Vetter. Ich warte auf ihn.« »Er ist sicher gleich zurück. Wenn du Hunger hast, dann komm mit nach hinten. Ich brate gerade ein paar Eier mit Speck.« Paul folgte ihm bereitwillig. Das Hinterzimmer war ein improvisiertes Schlafzimmer mit Kochnische. Dort stand ein Bett, daneben eine Kiste, auf der einige Bücher gestapelt waren. Stapel von Chicagoer Zeitungen waren auf dem Fußboden verteilt, und auf einem wackligen Tisch lag Schreibmaterial. Auf einem kleinen Herd in der Zimmerecke brutzelte eine Scheibe Speck in einer Bratpfanne. Debs nahm die Scheibe mit einer Gabel schnell aus der Pfanne und legte sie auf einen Teller. Er holte ein paar Eier aus einer Papiertüte und schlug sie auf. »Räum den Kram dort vom Tisch, und fühl dich wie zu Hause«, sagte er
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immer noch auf deutsch. Er hatte eine angenehme und gepflegte Art sich auszudrücken und schien alles andere als der Teufel zu sein, als den die Zeitungen ihn beschrieben. Paul fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Debs deutete auf die brutzelnden Eier. »Meine Frau Kate ist eine exzellente Köchin, aber ich selbst bin auch nicht schlecht. Als Kind habe ich in Terre Haute oft am Herd gestanden und meiner Mutter geholfen. Kannst du kochen?« »Nein, Sir.« »Es ist ganz nützlich, wenn man weiß, wie es geht. Wenn du soviel umherreist wie ich, dann bist du das Restaurantessen sehr bald leid. Ich sehe immer zu, daß ich in Pensionen absteige, wo ich einen Herd zur Verfügung habe. Vor zwei Tagen, als es hier ganz schön hoch herging, habe ich Steaks mit Spargel und einer Sauce Vinaigrette zubereitet. Ich fürchte, heute abend müssen wir uns mit Speck und Eiern begnügen.« »Das macht nichts, Sir. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und mein Mittagessen liegt schon einige Stunden zurück.« »Wo arbeitest du?« »In der Brauerei Crown. Der Inhaber ist mein Onkel. Ich heiße Paul Crown.« »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Bruder Crown.« Debs schüttelte ihm die Hand. »Ich hab ein- oder zweimal Crown Lager getrunken. Hervorragend. Die Eier von beiden Seiten braten?« »Ja, bitte. Wenn ich eins bemerken darf – Sie sprechen sehr gut deutsch.« »Mein Vater war zwar kein reicher Mann, aber er war gebildet und lernte gerne dazu. Er kam 1849 nach Amerika, ohne einen Penny in der Tasche, und brachte sich selbst Englisch bei. Jeden Abend las er Texte berühmter Autoren laut der Familie vor, oft sogar in der Originalsprache. Ich habe Goethe und Schiller auf deutsch gehört und auf französisch den größten von allen, Victor Hugo. Mein zweiter Name lautet Victor, weil Vater ihn so bewundert und verehrt hat.« »Wie sind Sie zu dieser Gewerkschaftsarbeit gekommen, wenn ich fragen darf?« »Auf Umwegen sozusagen. Als ich vierzehn war, ging ich von der Highschool ab und fing an, auf dem Güterbahnhof in Terre Haute zu arbeiten. Ich entfernte die Schmiere und das Öl von den Drehgestellen der Güterzuglokomotiven. Ein Jahr später kam ich zum erstenmal als Heizer ins Führerhaus. Ich erfuhr, wie es ist, rund um die Uhr zu arbeiten, in der einen Minute zu frieren und in der nächsten gebraten zu werden, dabei ständig Kohlen zu schaufeln für wenig Geld und ohne Schutz vor Unrecht oder
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Krankheit, unabhängig davon, wer sie verursacht. Es war eine falsche Entscheidung, die Schule so frühzeitig zu verlassen. Aber die Arbeit als solche war auch ein guter Lehrmeister. Desgleichen Appleton’s Enzyclopedia. Ich habe sie vom ersten bis zum letzten Wort gelesen.« Geschickt bugsierte er die Eier aus der Pfanne auf die Teller, dann schnitt er den Speck mit einem Messer in der Mitte durch. Der Geruch von Speck und Eiern weckte Pauls Hunger erst recht. Debs stellte die Teller auf den Tisch und füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Mein größter, gründlichster Lehrer von allen war Victor Hugo. Hast du schon Les Misérables gelesen?« »Nein, wir hatten bei uns zu Hause in Deutschland keine französischen Romane.« »Schade. Ich rate dir, dieses Buch mal zu lesen. Es ist die Geschichte eines armen, hungernden Menschen, der sein ganzes Leben lang verfolgt wird, weil er irgendwann einmal ein Stück Brot gestohlen hat. Diese Geschichte erzählt dir alles, was du darüber wissen mußt, wie diese Welt funktioniert. Das heißt, wie sie funktioniert, solange niemand aufsteht und sein Recht – Gerechtigkeit – fordert. Wahrscheinlich ist Victor Hugo sogar der eigentliche Grund, weshalb ich Gewerkschaftler geworden bin.« Sie hörten, wie die Tür zur Straße aufging und geschlossen wurde, dann kamen Schritte den Mittelgang herunter. Paul ging zur Tür. »Hier sind wir, Joe.« Joe junior war durchnäßt und verblüfft, Paul anzutreffen, wie er mit dem Anführer des Pullman-Streiks am Tisch saß und einen Imbiß verzehrte. Debs stellte sich förmlich vor. Dann schlug er zwei weitere Eier auf und gab sie mit einer zweiten Scheibe Speck in die Bratpfanne. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sie auch über den Streik sprachen. Joe junior erklärte, er unterstütze ihn. Auch Paul erklärte dies, allerdings nicht so leidenschaftlich. »Miteinander zu verhandeln und zu schlichten ist die beste Methode, um das Los der Arbeiter zu verbessern«, sagte Debs. »Ich habe mich eigentlich nie für Streiks stark gemacht, aber wenn ein Streik notwendig ist – wenn die Unternehmer völlig ungewillt sind zu verhandeln –, dann muß der Streik friedlich ablaufen. Es dürfen keine Gesetze gebrochen werden, kein Blut darf fließen. Gewalt ist immer von Übel. Überdies verliert man die Sympathie der Öffentlichkeit, wenn man Gewalt anwendet. Und man gefährdet damit das Anliegen, für das wir alle so mühsam arbeiten.« Paul sah seinen Vetter an. Joe hob den Blick nicht vom Teller. Als sie die Halle verließen, hatte der Regen aufgehört. Joe junior stapfte
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mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen durch die nassen, einsamen Straßen. Eier mit Speck zu essen, die Mr. Debs gebraten hatte, verlieh dem Streik neue Bedeutung. Paul las nun jeden Bericht, so tendenziös er auch sein mochte. Er lieh sich in der Brauerei Zeitungen und klaubte sie sogar aus Papierkörben. Der Streik bedeutete einen tiefen Einschnitt für die Chicagoer Wirtschaft. Die Frachtmengen nahmen ständig ab. Die Zeitungen riefen immer lauter nach Aktionen gegen die Streikenden, und die General Managers Association unterstützte diesen Ruf mit einem ganz neuen Argument. Die Eisenbahnen seien öffentliche Einrichtungen. Daher sei der Streik der A.R.U. eine gegen jeden amerikanischen Bürger gerichtete Maßnahme. Auf Empfehlung des Streikmanagers Egan von der G.M.A. stellten die Eisenbahngesellschaften ihre Züge etwas anders zusammen. PullmanWagen wurden an Güterzüge angehängt, mit denen sie normalerweise nicht verkehrten, oder an Kurzstreckenzüge, die Pendler zwischen der City und den Vororten hin und her transportierten. Oder man hängte Postwagen hinter Pullman-Waggons und erhielt damit den Beweis, daß der Streik auch das Staatseigentum beeinträchtigte. Unter dem Schutz des Chicagoer Polizeichefs Brennan warb die G.M.A. weiterhin Wachpersonal an, um das Eigentum der Eisenbahnlinie zu schützen und um die Post weiterzubefördern. Darunter war viel lichtscheues Gesindel, doch es meldeten sich auch zahlreiche Eisenbahner: Maschinisten, Heizer, Bremser. Der Justizminister der Vereinigten Staaten unternahm sofort eine Reise nach Chicago, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Onkel Joe erzählte während des Abendessens davon. »Olney kommt aus Boston. Er kennt sich in den Eisenbahngesetzen aus, denn er hat den Direktorposten bei Atchison, bei der CB & Q und bei mindestens einer weiteren Eisenbahn-Gesellschaft. Er wird die Angelegenheit schon regeln.« Eugene Debs in der Uhlich-Halle sah das allerdings ein wenig anders. Die G.M.A. will Washington in den Streit hineinziehen. Der Boykott soll als Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Regierung gewertet werden.« Die Strategie erwies sich als erfolgreich. Präsident Cleveland forderte, daß die Post nicht behindert werden dürfe. »Und wenn es jeden Dollar des Schatzamtes oder jeden Soldaten der amerikanischen Armee kosten sollte,
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auch nur eine einzige Postkarte nach Chicago zu bringen, dann wird diese Karte befördert.« Ein Wetter, das an ein türkisches Bad erinnerte, senkte sich auf die Stadt herab. Der Himmel war dunstig, der Michigan-See lag glatt und strahlend da wie polierter Stahl, und kein Lufthauch rührte sich. Der Gestank von Abfall und Abwässern drang sogar bis in die elegantesten Straßen. In der Brauerei brachen offene Streitigkeiten aus. Mitten in dieser Phase, am Montag, dem 2. Juli, handelte die Regierung. Richter Peter Grosscup vom Verwaltungsgericht in Chicago erließ eine einstweilige Verfügung, die Debs et al. untersagte, den Postbetrieb, den zwischenstaatlichen Handel und die Tätigkeit von dreiundzwanzig Eisenbahngesellschaften, die in der Verfügung namentlich aufgeführt wurden, zu behindern. Die Vettern hielten sich an jenem Abend in der Uhlich-Halle auf, als Debs aus dem Konferenzraum herauskam, um sich mit einer Ansprache an die zahlreichen Versammelten zu wenden. Paul hatte den Eindruck, daß Mr. Debs viel dünner und mitgenommener aussah als je zuvor. »Der Fehdehandschuh wurde geworfen«, teilte Debs den gespannt lauschenden Zuhörern mit. »Noch nie zuvor wurde das Instrument der einstweiligen Verfügung mißbraucht, um ehrliche Arbeiter daran zu hindern, einen ehrlichen und gesetzlich zulässigen Protest vorzubringen. Diese Verfügung beraubt uns des Rechts zu streiken. Sie drückt unmißverständlich aus, daß eine derartige Aktion als Vergehen gewertet wird. Derartige angebliche Vergehen dürfen noch nicht einmal vor Gericht verhandelt werden. Die Richter setzen nach Gutdünken die jeweilige Strafe fest. Und welchen Richter kennen wir schon, der auf unserer Seite steht?« Zum erstenmal hörte Paul in Debs’ Stimme einen zornigen Unterton. »Erkennt ihr alle die Lage, in die sie uns hineinmanövriert haben? Wenn wir die einstweilige Verfügung beachten und eine gerichtliche Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit abwarten, mit der frühestens in einigen Monaten zu rechnen ist, bricht der Streik zusammen. Wenn wir nicht gehorchen, übertreten wir das Gesetz.« Auf der Galerie meldete sich jemand zu Wort. »Was haben Sie jetzt vor, Gene?« Debs wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Er brachte ein Lächeln zustande. »Nun, wir machen weiter. Der Exekutivausschuß hat die Entscheidung getroffen, alle Eisenbahnergewerkschaften zum Streik aufzurufen.« Inmitten eines lauten Tumults von Bravorufen und Fußgetrampel verließen Paul und Joe junior die Halle. Pauls Vetter lachte triumphierend.
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Diesmal reagierte Paul schweigsam. Stück für Stück schien der Streik in eine gewalttätige Auseinandersetzung auszuarten, die Mr. Debs im Grunde verabscheute. Auf dem Dach mußte die Temperatur am nächsten Tag über 30 Grad Celsius betragen haben. Das Dach war leer bis auf Paul. Von seiner Stirn tropfte der Schweiß. Die Hitze machte ihn schlapp. Seine Laune war ziemlich schlecht. Er hatte Julie seit drei Sonntagen hintereinander nicht mehr gesehen. Die Vanderhoffs waren zu Hause. Er wußte das, weil er eines Abends vor dem Haus herumgelungert war. War Julie vielleicht wieder erkrankt? Sie hatte ihm von ihren Leiden erzählt, aber niemals irgendwelche Einzelheiten mitgeteilt. Sie redete nur von »furchtbaren Kopfschmerzen« oder davon, daß sie »tagelang dahindämmere«. Das erinnerte ihn an Tante Lottes Launen. Julie erklärte, ihr Leiden sei ein unausweichliches »weibliches Problem«, wie alle Frauen es hätten. Stimmte das? Er hatte keinen Appetit auf die Wurst und das Brot in seinem Verpflegungsbeutel. Er schlug eine Ausgabe der Tribune auf. Die Schlagzeile sprang ihm regelrecht entgegen. STREIK IST KRIEG! Ein Mann trat durch die Dachtür nach draußen. Es war Sam Traub, der Finanzbeamte. Auch er hielt eine Zeitung in der Hand. Er breitete einen Teil auf der Begrenzungsmauer neben Paul aus. Traubs Krawatte hatte einen peinlich adretten Knoten und wurde durch seine zugeknöpfte Weste zur Hälfte bedeckt. Der Talkumpuder verlieh seinen Wangen einen hellen Schimmer. Er sah kühl und trocken und irgendwie wächsern aus. Traub holte einen kleinen Apfel aus der Tasche und halbierte ihn mit seinem Klappmesser. Er verzehrte den Apfel, während er die restlichen Seiten seiner Zeitung durchblätterte. »Dieses verdammte Wetter hat schon das nächste Opfer auf dem Gewissen. Damit sind es insgesamt sieben.« Er zeigte Paul die Meldung. MRS. ELSTREE VERSTORBEN Begräbnisvorbereitungen für Frau des Kaufhauserben sind bereits im Gange. Ihr plötzlicher Tod ist vermutlich eine Folge der Hitzewelle. Paul trocknete sich Nacken und Gesicht mit seinem Halstuch. Es überraschte ihn nicht, daß Menschen bei diesen Temperaturen starben.
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Im Südosten bemerkte er eine aufsteigende schwarze Qualmwolke. »Was ist das?« »Ich wette, das sind wieder ein paar Güterwagen. Gestern abend sind in Blue Island sechs oder sieben in Flammen aufgegangen.« »Die Streikenden zünden Güterwagen an?« Traub grinste verschlagen. »Nicht ganz. Die Wachleute selbst kippen sie um und setzen sie in Brand. Dadurch erscheinen die Streikenden in einem sehr schlechten Licht. Das geschieht den verdammten Roten ganz recht.« »Oh, das finde ich nicht, Mr. Traub.« »Was weißt du denn schon? Du bist doch noch ein Greenhorn, ein Anfänger, hast keine Ahnung, wie es in diesem Land zugeht. Ich rate dir, deine Nase aus diesen Angelegenheiten herauszuhalten.« Paul betrachtete die bedrohliche schwarze Rauchfahne. Bomben, Feuer, Drohungen, Sonderbewacher – mein Gott, es entwickelte sich alles genauso, wie Vetter Joe es vorausgesagt hatte. Streik sei Krieg, hatte die Tribune verkündet, und so kam es auch. Kopien der einstweiligen Verfügung wurden überall in der Stadt an Telegraphenmasten genagelt. Gerichtsboten überreichten Debs eine Kopie, und er nahm sie widerspruchslos entgegen. Weniger gelassen verhielten sich zweitausend Protestler, die sich zu einer Großversammlung auf dem Blue-Island-Bahnhof der Chicago, RockIsland & Pacific-Linie eingefunden hatten. Arnold, der Chef der Justizbeamten, erschien mit einer ganzen Schar Anwälte und Wachbeamter. Er verlas den Text der einstweiligen Verfügung, während die Menge mit Pfiffen und Protestrufen reagierte. Danach forderte er die Anwesenden auf, nach Hause zu gehen. Die Protestierenden weigerten sich und brüllten Drohungen. Steine und Flaschen wurden geworfen. Arnold und seine Männer ergriffen die Flucht. Am Unabhängigkeitstag, einem Mittwoch, marschierten vier Kompanien der 15. Infanterie aus Fort Sheridan am Seeufer auf, wo sie ihr Lager aufschlugen. Präsident Cleveland war dem Ruf nach Einsatz der Armee gefolgt. An diesem Tag wurde der Pöbel aktiv. Fast fünfzig Güterwagen verbrannten auf den zentralen Bahnhöfen von Illinois. Der Eisenbahnverkehr wurde durch falsch gestellte Weichen und außer Betrieb gesetzte Signale empfindlich gestört. Züge wurden im Schutz der Dunkelheit von Streikenden mit Steinen beworfen. General Nelson Miles erschien, um das Kommando über die Soldaten zu übernehmen. Er richtete sein Hauptquartier an der Ecke der Michigan
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Avenue und der Adams-Straße ein – im Pullman-Gebäude. Unternehmer und Zeitungsverleger reagierten erleichtert und erfreut. In der Brauerei hatte Joe Crown einen großen Raum als Aufenthalts- und Waschbereich für seine Männer abgeteilt. Einzelne Holzspinde standen an einer Wand. Seit Beginn der Hitzewelle hatte Paul in seinem Spind stets ein zweites blaues Arbeitshemd, das er den ganzen Tag tragen und durchschwitzen konnte. Über Nacht hängte er es dann zum Trocknen auf. Manchmal herrschte in dem Raum abends dichtes Gedränge, manchmal aber auch nicht. Bei Arbeitsende am Donnerstag stieß Paul die Tür auf und hörte jemanden singen. Er erkannte Benno an der Stimme, ehe er ihn sah. Benno stand vor einem Waschbecken. Die Träger seines Overalls hingen auf seine Hüften herab, und sein Arbeitshemd klaffte bis zur Taille auf. Er säuberte seine Brust mit einem nassen Lappen und sang vor sich hin. Sonst hielt niemand sich im Raum auf. Paul nickte Benno zum Gruß zu und ging zu seinem Spind. Benno unterbrach seine Körperpflege und grinste. »Sie sehen nicht gerade glücklich aus, Mr. Pauli.« »Es ist teuflisch heiß, und ich bin müde.« Paul öffnete seinen Spind, zog sein Hemd aus und begann sich mit einem Handtuch abzutrocknen. Aus seinem Spind nahm Benno ein in Wachspapier eingewickeltes Päckchen. »Wollen Sie ein Lakritz?« »Nein danke, ich habe keinen Hunger.« Benno zuckte die Achseln und wollte das Lakritz wieder in seinen Schrank zurücklegen. Aus irgendeinem Grund fiel es ihm auf den Fußboden. Er bückte sich danach, und etwas Schweres rutschte aus seinem Hemd und landete zwischen seinen schweren Schuhen auf dem feuchten Beton. Ein blauschwarzer Revolver mit einem weißen Band um den Lauf. Sie sahen einander an. Benno warf einen schnellen Blick zur Tür. Männer näherten sich. Er hob den Revolver auf und stopfte ihn sich unters Hemd. Er schloß die drei untersten Knöpfe und zog die Träger seines Overalls hoch. Er kam zu Paul herüber. Er lächelte nicht mehr. Seine mächtige Faust legte sich auf Pauls Schulter. »Scheinst ein anständiger Junge zu sein, Pauli. Schlau. Deshalb mache ich es ganz harmlos, nur eine Warnung.« Aber es war gar nicht harmlos. Seine Hand auf Pauls Schulter schloß sich und drückte zu, bis Schmerzen einsetzten. Die Stimmen im Flur, das Gelächter und die Kommentare zum Geschehen des Tages wurden lauter.
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»Du hast nichts gesehen. Wenn du etwas anderes erzählst, deinem Onkel oder sonst jemandem, dann hast du deinen Job nicht mehr lange. Vielleicht hast du dann auch keine heilen Arme und Beine mehr, verstanden?« »Ja«, erwiderte Paul, so ruhig er konnte. Er wollte seine Angst nicht vor Benno Strauss zeigen. Andererseits gab es auch keinen Grund, dumm zu sein und jemandem zu widersprechen, der so groß und entschlossen war. »Sehr gut. Das ist klug von dir«, sagte Benno. Die äußere Tür flog krachend auf. Ein halbes Dutzend Männer kam hereingetrottet. Benno verwandelte sich schlagartig. Er schlug Paul aufmunternd auf die Schulter und grinste ihn an, als hätten sie sich gerade noch über irgend etwas Spaßiges unterhalten. Dann begrüßte er die anderen. Paul schlüpfte schnell in ein frisches Hemd und verschwand. Gewarnt oder nicht, es gab eine Person, der er alles erzählen mußte. Nach dem Abendessen zog er Vetter Joe hinter sich her hinaus in den Garten. Über den gestutzten Sträuchern leuchtete der Abendhimmel dunkelrot. In wenigen Worten schilderte er den Zusammenstoß mit Benno. Die Reaktion seines Vetters überraschte ihn. »Ja, ich hab’ es auch gesehen. Er hat mir das Ding gezeigt. In der Brauerei sind noch vier andere, die Pistolen bei sich haben. Das heißt, vier Männer, von denen ich es weiß.« »Er hat dir den Revolver gezeigt?« »Hat er. Er hat mich vorgestern abend am Bahngleis beiseite genommen. Er sagte: ›Du bist ein guter Soldat, nicht wahr? Wir können doch auf dich zählen?‹« »Auf dich zählen? Wofür?« »Ich weiß es nicht, er hat es nicht näher erklärt, sondern er hat mich nur scharf angesehen und ist dann weggegangen.« Joe junior starrte auf seine Hände. »Ich stehe auf Bennos Seite, aber ich hätte niemals erwartet, daß es innerhalb der Brauerei Schußwaffen gibt, nachdem Pa sie von dort verbannt hat.« »Benno gab mir eine Warnung auf den Weg, Joe. Er hat es nicht eindeutig ausgedrückt, aber ich weiß genau, was er damit meinte. Daß er mir irgend etwas antun oder mich sogar töten würde, wenn ich ihn – wie heißt das Wort noch mal, das du manchmal benutzt?« »Verpfeifen?« »Ja. Wenn ich ihn verpfeifen würde.« Joe junior nickte. »Er hat mich ebenfalls gewarnt.« Paul erschauerte. »Er hatte ein ganz böses Gesicht. Der ganze Streik wird immer häßlicher. Du hattest recht mit –« Er suchte nach dem richtigen
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englischen Wort. »– der Gewalt.« Joe junior sah ihn ernst an. Sie hörten in der Ferne das Knallen von Feuerwerkskörpern. Es konnte aber auch Gewehrfeuer sein. Sie hörten einen Polizeiwagen vor dem Haus vorbeijagen, hörten den Hufschlag galoppierender Pferde, das Geklingel einer Warnglocke. »Joe?« »Ja? Was ist?« »Kann Benno auf dich zählen?« Die lebhaften blauen Augen fingen Lichtreflexe der erhellten Fenster ein. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ich glaube, Pa steht auf der falschen Seite, auf der Seite Pullmans, der Seite der Plutokraten. Ich möchte niemanden töten.« »Ich auch nicht.« Sie saßen auf der Steinbank vor dem betenden Engel. Ihre Schultern berührten sich. Keiner der beiden rührte sich. Das Schweigen dehnte sich aus und war Ausdruck einer tiefen gemeinsamen Furcht. 43 ROSIE Am Sonntagabend, bevor Richter Grosscup seine einstweilige Verfügung gegen Debs verhängte, hatte Rosies Herzbube, nachdem er mit Rosie und Maritza zu Abend gegessen hatte, sie gegen halb neun verlassen. Tabor war nicht zugegen. Wieder auf einem seiner sonntäglichen Ausflüge. Betrunken in einem Saloon, vermutete Rosie. Es war ein enttäuschender Tag gewesen. Keine Zeit allein mit Joey, nichts als einige Küsse und etwas Streicheln zwischen den Beinen und ansonsten furchtbare Qualen, denn sie war ganz heiß und verlangte mehr denn je nach ihm. Das Abendessen war auch so ärmlich wie immer. Brot, das bereits vier Tage alt war, als ihre Mutter es kaufte, und ein jämmerlich dünner Eintopf aus Bohnen, ein paar gekochten Kartoffeln und einigen wenigen Stücken Hammelfleisch, das bereits leicht verdorben schmeckte. Der Eintopf, die heißen, stickigen Zimmer ihres kleinen Hauses, die Angst, die wie ein Nebel auf Pullman lag, all das machte sie mißgelaunt und reizbar und ließ sie verstärkt daran denken, wie und wann sie sich aus diesem gottverdammten Loch würde herausarbeiten können. Sie brauchte Gesangsstunden, um ihre Stimme auszubilden. Sie mußte sich einen Mann suchen, der ihr den Unterricht bezahlen würde. Sie brauchte eine Fahrkarte nach New York. Vom selben Mann oder vielleicht
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auch von einem anderen. Nachdem sie Joey Crown kennenlernte, hatte sie den kindischen Traum gehabt, sie könne ihn heiraten. Lange glaubte sie nicht daran. Er hatte kein Geld, um die Gesangsstunden oder ihre Fahrkarte zu bezahlen. Er konnte sich kaum ein kleines Stück Seife mit Rosenduft erlauben. Sie bewunderte Joey in vieler Hinsicht. Er war gescheit; las Bücher, die sie noch nicht einmal verstehen konnte, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengte. Unter ihrer Anleitung war er ein geschickter, guter Liebhaber geworden, leidenschaftlich, aber auch zärtlich, immer dann, wenn ihre Gefühle es verlangten; er tat ihr niemals weh. Unglücklicherweise waren einige seiner Ideen töricht. Wer außer Joey lehnte die Möglichkeit ab, eine Brauerei zu führen, reich zu sein und sich niemals mehr den Kopf zu zerbrechen, woher er den nächsten Dollar oder etwas anderes bekäme? Tabor betrat lärmend die Wohnung. Sein Gesicht war verschwitzt und von der Hitze gerötet. Er war aufgeregt, was für ihn nicht gerade typisch war. Was immer geschehen sein mochte, er sah irgendwie verändert aus. Er war beinahe wieder der gutaussehende Vater, an den sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte und den sie verehrte. Der Vater, der mit ihr auf dem See in einem gemieteten Boot ruderte. Der ihr Puppen aus Maiskolben oder Tüten voller Kandiszucker kaufte, wenn er sich von dem Geld lieber eine neue Mütze hätte kaufen sollen, die ihn in den wilden Schneestürmen der harten Winter von Illinois warmhalten würde. Der Vater, der immer so gerne mit ihr gespielt hatte. Schach, Karten, Rommé, Skat, wenn Maritza wollte. »Ratet mal, was ich habe! Ich habe eine Stelle!« Maritza kam in die Küche. »Was habe ich da gehört? Was sagst du? Du hast doch schon eine Stelle, Tabor, du wartest nur darauf, daß man dich wieder an die Arbeit ruft.« »Das ist ein ganz spezieller Job, nebenbei. Zweieinhalb Dollars am Tag. Hör doch, es ist alles okay. Ehe ich ihn annahm, war ich drüben bei Castleberry.« Maritza stemmte die Hände in die Hüften. »Und was hat dein Vorarbeiter dazu gesagt?« »Nun, er sagte, es sei in Ordnung, der Firma würde es gefallen, es mache sich in meinen Papieren sehr gut, wenn ich wieder zurückkäme.« »Was für eine Arbeit ist es denn, Pa?« Rosie hatte bereits einen unheilvollen Verdacht, der auf einigen Dingen basierte, die sie in Pullman aufgeschnappt hatte. Er klopfte sich auf die linke Hemdtasche. »Sonderwachdienst. Ich bekomme morgen mein Abzeichen und meine Waffe.«
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»Du willst schwarzarbeiten? Als Streikbrecher?« Tabor machte ein beleidigtes Gesicht. »Rosie, Liebling, das ist ein schlimmes Wort. Ich helfe lediglich mit, das Eigentum der Gesellschaft zu bewachen. Und diesen Streik zu beenden, der unsere Lage nur noch verschlimmert.« Rosies Mutter knetete ein schmutziges graues Taschentuch in ihren abgearbeiteten Händen. »Tabor, du hast doch keine Ahnung von Pistolen. Das darfst du nicht tun.« »Hör mal, es ist eine große Ehre.« »Papa, Papa – zwei Dollars und fünfzig Cents am Tag und die Chance, getötet zu werden, sind keine Ehre. Tu es nicht! – Mach nicht, daß wir alle am Ende auf dich wütend sind.« »Mädchen, hüte deine Zunge!« »Hör auf sie«, sagte Maritza. »Und hör auf mich. Ich bitte dich, laß dich nicht auf diese verrückte Sache ein.« »Was zum Teufel ist mit euch los? Es kommt wieder Geld ins Haus, und es macht sich in meinen Papieren gut. Das hat Castleberry gesagt.« »Pa, hör mir bitte zu. Du weißt genau, wie ich denke – man soll ruhig alles tun, womit man Geld verdienen kann, und darauf scheißen, ob es in Ordnung ist –« »Roza!« rief ihre Mutter entrüstet. »– aber diesmal ist das Geld nicht so wichtig. Lehn es ab! Sag ihnen, nein, es sei das Risiko nicht wert. Dieser Streik ist ebenfalls bedeutungslos. Wer gewinnt oder verliert – es ist alles ein reines Glücksspiel. Jeder muß am Ende für sich selbst sorgen. Das war schon immer so und wird immer so sein. Ich will nicht, daß dir auch nur ein Haar gekrümmt wird, Papa.« »Das ist lieb von dir, Rosie, du bist wirklich eine gute und brave Tochter, das freut mich.« Tabors Augen hatten einen feuchten Glanz, und er erinnerte an einen treuen Hund. »Dann sag ihnen, du machst es nicht.« »Ja, Tabor, bitte«, flehte Maritza ihn an. Mit einem schuldbewußten Blick zu seiner Frau und dann zu Rosie sagte Tabor: »Ich kann nicht. Ich hab’ schon unterschrieben.« »Oh, Pa!« Was für ein schwacher, dummer Mann er doch war. Sie haßte sich dafür, daß sie ihn so bedingungslos liebte, trotz seiner Fehler und Mängel. Gott sei Dank hatte man in seinem Leben immer nur einen einzigen Vater.
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44 PAUL Die Rauchschwaden über Chicago wurden immer dichter. Paul roch es durch das offene Fenster seines Zimmers. Er roch es in den Wagen, mit denen er zur Arbeit und wieder nach Hause fuhr. Manchmal roch er es sogar in der Brauerei. Abends konnte er wegen des Gestanks kaum einschlafen. Er erinnerte ihn an Benno und seine Pistole. Er würde jeden Ärger vermeiden, indem er Bennos Warnung ernstnahm und sich still verhielt. Vetter Joes Situation war gefährlicher. Er war ein Verbündeter, falls Benno ihn brauchte. Für Vetter Joe war es die eine Sache, sich mit Worten und Blicken gegen seinen Vater zu stellen. Ein offener Akt war etwas völlig anderes. Das war seinem Vetter durchaus klar. Er war angespannt, nachdenklich, er lachte kaum noch und scherzte mit Paul nicht mehr herum. Fünfzehn Eisenbahngesellschaften, die nach Chicago verkehrten, wurden teilweise oder ganz stillgelegt. Die Stände und Buden des Marktes in der Water-Straße standen seit fast zwei Wochen leer. Lange Schlangen von Güterwagen warteten vor der Stadt, während ihre Ladungen an Getreide und Gemüse aufweichten und verfaulten. Auf den Viehhöfen standen ganze Waggons voller Fleisch auf Abstellgleisen. Das Fleisch färbte sich grau und wimmelte von Maden, und aus den Türen lief eine faulig stinkende Flüssigkeit heraus. Der Fäulnisgestank wehte von den Güterbahnhöfen herüber und vermischte sich mit dem Qualmgeruch. Der Pöbel, der nachts durch die Straßen zog, wurde ständig größer. Mehr Soldaten wurden aus Michigan und Iowa, aus Colorado und Kalifornien zusammengezogen, obgleich der Gouverneur bereits zwei Telegramme an Präsident Cleveland geschickt hatte mit der Aufforderung, die Bundestruppen abzuziehen. Altgeld bestand darauf, daß nur er das Recht habe, Soldaten anzufordern, und daß er dieses Recht nicht wahrgenommen habe. Die Antwort des Präsidenten an den Gouverneur bestand aus Schweigen, eine krasse Beleidigung. Und zugleich ein deutlicher Hinweis, daß die nationale Macht über der des Staates rangierte. Weitere Soldaten trafen ein. Weitere Sonderbewacher wurden engagiert und auf die Straßen geschickt. Sie betreuten die wenigen noch verkehrenden Züge. Arbeiter in der Brauerei redeten voller Unbehagen von einem neuen Slogan, der unter Soldaten und Sicherheitsleuten an Bedeutung zu gewinnen schien: »Schießt auf die schmutzigen weißen Bänder.« Heizer und Weichensteller, Telegraphisten und Maschinisten schlossen
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sich dem Streik an, ohne von ihren jeweiligen Bruderschaften dazu aufgefordert worden zu sein. Die G.M.A. gab bekannt, daß ab Samstag, den 7. Juli, bewaffnete Miliz jeden Postzug begleiten werde, der die Bahnhöfe in der Union- und Dearborn-Straße und die Bahnhöfe der Linien I.C. Rock Island und Northwest verlasse. Jeder Soldat verfüge über hundert Schuß Munition, um jeden abzuschrecken, der versuche, den Betrieb zu stören. Schießt auf die schmutzigen weißen Bänder … Am Freitagnachmittag, ehe die letzte Verfügung der G.M.A. wirksam werden sollte, wurde Paul aus der Flaschenabfüllabteilung ins Büro seines Onkels gerufen. Onkel Joe verschwand wie immer hinter einem Stapel unerledigter Akten. Er wirkte klein und abgekämpft. Er las etwas auf einem faltigen Stück schweren braunen Papiers und verzog ungehalten das Gesicht. Er faltete das Stück Papier zusammen und stopfte es in eine Schublade. Sein Begrüßungslächeln war kaum mehr als ein Zucken seiner Lippen. »Paul, ich habe einen Auftrag für dich. Eigentlich fällt die Angelegenheit ins Ressort von Dolph Hix, aber er ist gerade nicht da und die beiden anderen Verkaufsagenten auch nicht. Die Sache erfordert einiges an Diplomatie.« »Was meinst du?« »Fingerspitzengefühl.« »Ach so. Und?« »Du kannst mir demonstrieren, wie du Aufträge ausführst, die etwas mehr verlangen als nur ein kräftiges Kreuz. Büroaufgaben, zum Beispiel.« O nein, ich werde auf keinen Fall Vetter Joe ersetzen. Er mußte seinem Onkel erklären, wo seine wahren Interessen lagen. Er hatte es schon einmal getan, und Onkel Joe hatte es einfach beiseite gewischt. Er mußte es erneut versuchen. Aber nicht jetzt. »Ich nehme an, du weißt, was mit dem Ausdruck ›Rotlicht-Viertel‹ gemeint ist?« fragte sein Onkel. »Ein Bordellviertel? Ich weiß Bescheid. In Berlin gab es viele von der Sorte.« »Hier gibt es auch einige. Ich habe gerade erfahren, daß einer meiner Kunden, Canadian Gardens, im ersten Stock ein Clubzimmer eröffnet hat. Der Begriff ›Clubzimmer‹ ist ein Geheimzeichen, ein Signal, daß Gäste dort nicht nur Bier trinken können, sondern – na ja, du weißt schon. Ich habe mit dem Eigentümer der Canadian Gardens telephoniert. Er nennt sich Toronto Bob. Jeder billige Gauner und Hurenbock sucht sich irgendeinen tollen Namen. Als ich Bob erzählte, was ich gehört habe, lachte er nur und leugnete noch nicht einmal. Ich habe ihm dann erklärt, daß ich meine
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Lieferungen einstellen würde. Ich verkaufe kein Bier an Betriebe, in denen sich Frauen anbieten. Aber ich will meine Crown-Zapfhähne zurückhaben.« Er griff hinter sich, um einen zu suchen. Paul hatte sie schon in verschiedenen Kneipen und in der Bierstube unten gesehen. Sie sahen hübsch aus, verjüngten sich nach unten. Sie wurden aus massivem Nußbaum gedreht, dann wurde das Crown-Symbol aufgemalt, anschließend erhielten sie eine Lackschicht. Am Ende wurde noch ein solider Messingring an der Stelle aufgezogen, wo sie in der Zapfvorrichtung saßen. »Diese Dinger sind teuer. Sie kosten drei Dollars zwanzig pro Stück. Dafür bekommt man schon drei Paar feinste Schuhe, und bekommt sogar noch Geld heraus. Ich will die Hähne und auch das Schild von draußen vor dem Lokal zurückhaben. Es ist zwar aus Metall, aber nicht so groß, daß du es nicht tragen kannst.« Viele Brauereien lieferten Schilder gratis. Die meisten hatten die Form eines Bierkrugs, waren bunt bemalt und trugen als Aufschrift den Namen der Brauerei. »Da hast du die Adresse. Das Wirtshaus liegt südlich der Van Buren in der Clark-Straße im sogenannten Little Cheyenne. Das ist eine ziemlich üble Gegend. Nicht so schlimm wie Bad Lands südlich der Taylor-Straße oder, Gott behüte, das Levee. In diesen Vierteln gehen die Polizisten nur zu zweit Streife. Aber Little Cheyenne ist auch schon schlimm genug. Also nimm dich in acht!« »Mach’ ich, Sir. Aber ich bin in Berlin schon oft genug durch solche Gegenden gerannt.« Und durch den Westen von Chicago, wo die Bande die Vettern verfolgt hatte. »Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, Onkel.« Onkel Joe lehnte sich in seinem Sessel weit zurück und betrachtete ihn lange und eingehend. »Das glaube ich. Ich will nur mal sehen, ob ich mit meiner Einschätzung recht habe.« Während Paul hinausging, zog Onkel Joe eine Schublade auf, faltete die Nachricht auseinander, die auf braunes Papier geschrieben war, und strich den Zettel auf der Schreibunterlage glatt. Seine Miene verfinsterte sich wieder. Onkel Joe hatte mit seiner Beschreibung von Little Cheyenne nicht übertrieben. Das Viertel war nach einer typischen Eisenbahnstadt im Westen benannt worden. Ein Schatten schien darüber zu liegen, ein Schatten aus Armut, Schmutz und Verfall. Paul eilte über den Bohlengang in der Clark-Straße und mußte sich seinen Weg vorbei an herumlungernden Säufern und einigen stark geschminkten Frauen suchen. Die Musik eines Akkordeons drang aus
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einem Konzertsaloon. Fast jedes Etablissement schenkte alkoholische Getränke aus, es sei denn es handelte sich um eine Pfandleihe. Ein grauhaariger Schlepper winkte ihm aus einem Hauseingang zu. »Komm rein zu Candy Molly, mein Freund. Fünfzig Cents für beste Unterhaltung und ein Pfefferminz gratis.« Paul schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg durch das menschliche Treibgut fort, das die Gehsteige bevölkerte. Niemand belästigte ihn. Er war jetzt groß und kräftig und schritt selbstbewußt und entschlossen aus. Er hatte vor den Bewohnern von Little Cheyenne keine Angst, im Gegenteil, das Treiben dort faszinierte ihn. Er wünschte sich im stillen, er hätte eine Kamera, um ein paar Photographien zu machen. Zwei Blocks hinter der Van Buren, auf der anderen Straßenseite, entdeckte er das Metallschild vor den Canadian Gardens. Schmutz und Ruß hatten den gemalten Bierkrug mit seinem schneeweißen Schaum, das vertraute Brauereizeichen, sowie die große rote Inschrift CROWN’S dunkel gefärbt. Er überquerte die Straße und bemerkt sofort, daß er von einem Jungen von neun oder zehn Jahren verfolgt wurde. Er hatte ein Fuchsgesicht und trug zerlumpte Kleidung. Paul stufte ihn sofort als Taschendieb ein und funkelte ihn drohend an. Der Junge trollte sich, nachdem er ihm ein obszönes Zeichen gemacht hatte. Toronto Bobs Canadian Gardens war ein ziemlich großer Saal zu ebener Erde mit niedriger Decke, einer langen Bartheke unter trompetenförmigen Lampen und ein paar Tischen, die auf einem mit Sägemehl bestreuten Fußboden standen. Abgesehen von dem Gestank der Spucknäpfe und dem ärmlichen Aussehen der wenigen Gäste war es eigentlich nicht so übel. Im Hintergrund begleitete ein müde aussehendes Mädchen einen fetten Mann eine Treppe hinauf. Paul trat ans vordere Ende der Bar. Der Barkeeper war ein einäugiger Knirps von einem Mann mit schwarzer Augenklappe. Während Paul sein Anliegen vorbrachte, schnitt der Barkeeper ihm das Wort ab. »Ich wußte, daß jemand kommen würde. Bob hat mir Bescheid gesagt. Du kannst dir eine Leiter holen und das Schild selbst abmontieren. Und was die Zapfhähne angeht – du siehst ja selbst, daß sie verschwunden sind. Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind. Da mußt du mit Bob reden. Und der ist nicht da.« »Können Sie mir verraten, wo ich ihn finden kann?« »Mein Gott, du verlangst aber gar nicht viel, oder? Bob ist vor fünf Minuten losgezogen. Er wollte seine Kodak zu Rooney bringen. Er wollte fragen, ob man sie doch noch reparieren kann. Irgendwas klemmt daran, was weiß ich. Vielleicht erwischst du ihn dort.«
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Rooney? »Sir, bitte – wo ist dieser Rooney?« »Am Ende des Blocks, und dann links. Es ist der übernächste Laden nach dem Stundenhotel.« Die Seitenstraße war noch enger, schmutziger und dunkler. Mietshäuser ragten zu beiden Seiten hoch und neigten sich, als wollten sie jeden Moment auf die Straße kippen. Paul blickte zu dem schmalen Streifen Himmel hinauf. Er war strahlendblau mit kleinen weißen Sommerwölkchen. Nur wenig Licht drang bis nach unten in die Häuserschlucht. Er stieg über die Überreste einer toten Katze. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, aber niemand war zu sehen außer einem einzelnen mickrigen Burschen, der unter dem Namensschild von Wamplers Hotel an der Wand lehnte und mit den Fingern zwischen seinen Zähnen herumpuhlte. Paul lief an ihm vorbei und warf einen kurzen Blick in die schäbige Halle. Eine stämmige Frau mit dick geschminkten Augen winkte ihn herein. Er vergaß die ärmliche Umgebung in dem Moment, als er den Laden entdeckte. Über einem schmuddeligen Schaufenster hing ein buntes Schild, das noch nicht verwittert oder verschmutzt war. Auf cremefarbenem Grund verkündete eine rote Zirkusschrift mit goldenen Konturen: ROONEYS TEMPEL DER PHOTOGRAPHIE Hinter dem mit Fliegendreck beschmutzten Glasfenster lagen auf einem verknautschten Samttuch mehrere Kastenkameras. Eine davon war ein genaues Duplikat der defekten Kodak, die während der Überfahrt von der Rheinland ins Meer geflogen war. Auf einem kleinen Podest lagen vier Linsen. Ein Schild machte auf gebrauchte Kameras aufmerksam, ein anderes versprach photographische Porträts. Aufgeregt versuchte Paul in dem Laden etwas zu erkennen. Es war dunkel im Innern bis auf ein mattes Licht im Hintergrund. Er trat ein. Eine kleine Glocke an einem Federarm über der Tür klingelte. Ein strenger Geruch nach Chemikalien machte sich bemerkbar. »Ich komme schon, wer ist denn da?« Ein Klicken, und eine schwache Glühbirne an der Decke erhellte den Laden. Paul hätte vor Freude beinahe in die Hände geklatscht. Es war derselbe kleine Mann! Krümel hingen in seinem graumelierten Schnurrbart. Seine dicken Brillengläser reflektierten das Deckenlicht. Er trug einen fleckigen Kittel. »Ja? Kann ich Ihnen helfen –? He, Himmel! Ich kenn’ dich, nicht
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wahr?« »Jawohl, Sir. Ich war während der Ausstellung bei Ihnen. Sie haben mir die Maschine mit den bewegten Bildern gezeigt. Und Sie haben mir erklärt, wie sie funktioniert.« »Das habe ich, tatsächlich.« Der kleine Mann nahm seine Brille ab. Sogar unvergrößert waren seine dunklen Augen genauso durchdringend und hypnotisch, wie Paul sie in Erinnerung hatte. »Hab’ dir meine Karte gegeben. Du sagtest, du wärst interessiert, bist aber nie vorbeigekommen.« »Doch, Sir, ich war da. Der Laden war geschlossen. Es hieß, Sie wären weggezogen.« Weil Sie die Miete nicht bezahlt haben. Er erinnerte sich an die rätselhafte Bemerkung über Pferde. Er verstand sie noch immer nicht. »Ja, ja, stimmt, das bin ich, richtig«, sagte Rooney schnell. »Ich brauchte einen günstigere Lage. Ich habe jede Menge Kundschaft, die mit dem Wagen kommt, mußt du wissen.« Eine bessere Lage in Little Cheyenne? Wagenkundschaft? Paul hatte seine Zweifel. »Dann erzähl mal, wie hast du mich gefunden?« »Es ist ein glücklicher Zufall.« Er erklärte es. »Der Barkeeper hat dich richtig informiert, Bob Hopper war hier. Aber das ist schon zehn Minuten her. Ich weiß nicht, wo er noch hin wollte.« »Ich verstehe. Ich glaube, dann gehe ich wohl besser –« »Moment mal, warte. Da du dich so sehr für die Kunst des Photographierens begeisterst, kann ich dir eine Kamera zu einem sehr günstigen Preis überlassen. Willst du dich nicht mal umsehen? Übrigens, ich heiße Rooney, Wexford Rooney.« »Ich weiß.« »Und du? Wie heißt du?« »Paul Crown.« »Deutscher.« Es war keine Frage. »Ja.« »Ich nenn’ dich Dutch.« Er konnte sich offensichtlich gegen diesen Spitznamen nicht wehren. »Komm, ich führ’ dich mal rum, Dutch.« Wexford Rooney, den Paul auf Mitte Fünfzig schätzte, hörte während der nächsten halben Stunde nicht mehr auf zu reden. Er hatte einen seltsam buckligen Gang, so als hätten die Jahre, die er gebückt unter einem schwarzen Kameratuch verbracht hatte, seine Wirbelsäule für immer verkrümmt. Stolz führte er ihm eine Sammlung von Kameras, Linsen und anderen
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Geräten vor, die Paul noch nie gesehen hatte. Der Staubschicht auf dem Schaukasten nach zu urteilen, hatte ihn schon seit langem niemand mehr geöffnet. An der Wand darüber hing eine handbeschriebene Karte. Schaff ein getreues Ebenbild, eh’ die Materie verblaßt! Wissenschaft soll nachempfinden, was Natur geschaffen hat. In der Mitte des Raums stand eine große Kamera auf einem hohen Dreibein. Ein schwarzes Tuch war darüber drapiert. Das Objektiv zielte auf ein rundes, mit Samt bezogenes Sitzpolster, eine Anordnung von drei Kopfhaltern, auf drei griechische Säulen unterschiedlicher Höhe und auf die Nachbildung einer kleinen Fußgängerbrücke. »Ich kann dir mit einer umfangreichen Auswahl von Hintergründen dienen, wenn du ein Porträt haben möchtest«, sagte Rooney. »Ich zeige es dir mal.« Er schob einen Hocker vor die hintere Wand. Als er hinaufstieg, reichte er an mehrere parallel an der Decke hängende Rollen heran. Er faßte einen Ring und wickelte eine Rolle ab. »Dichter Wald.« Er zog an einem anderen Ring. »Grandiose Berge.« Ein dritter Ring. »Palmenhütte in der Südsee.« Noch einer. »Eleganter Wintergarten.« Die Hintergründe, auf Leinwand aufgemalt, waren sehr grob gemalt und, wie Paul dachte, ausnahmslos schlecht. Rooney sprang vom Hocker, rieb sich dabei die Hände. »Sehr kunstvoll, meinst du nicht?« Er wartete nicht auf eine Antwort. Er betätigte einen Schalter und knipste eine elektrische Glühbirne am oberen Ende einer schmalen Treppe an. »Da oben sind weitere Räume. Ich habe das ganze Gebäude gemietet und den zweiten Stock jemandem überlassen, der mit billigem Krimskrams handelt. Ein Banause. Aber er zahlt seine Miete regelmäßig, Gott sei Dank. Im dritten Stock befindet sich ein drittes Studio. Mit einem großen Oberlicht. Und ein Teil des Dachs ist als Freiluftstudio nutzbar.« »Sehr schön, Sir. Ganz prima.« »Richtig«, sagte Rooney und knipste das Licht wieder aus. »Vielleicht möchtest du jetzt ein paar Bilder sehen, die ich während der letzten großen Unannehmlichkeit gemacht habe. Komm mit nach hinten und setz dich.« Paul folge Rooney in den hinteren Teil des Ladens. »Ich esse gerade zu Abend. Ich weiß, es ist noch ziemlich früh, aber meine letzte PorträtSitzung fällt überraschenderweise aus.« Hatte es wirklich einen Termin gegeben, der sich zerschlagen hatte? Es war gleichgültig. Paul empfand
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Sympathie für den seltsamen kleinen Mann, der mit seiner bleichen Hautfarbe einem Grottenolm sehr ähnlich war. Rooney führte ihn in eine kleine Küche mit Eßecke und Linoleumfußboden. Eine Petroleumlampe stand auf einem wackligen Tisch. Neben der Lampe war Rooneys Mahlzeit ausgebreitet: eine Schüssel Tomatensuppe, auf deren Oberfläche sich bereits eine Haut gebildet hatte, zwei Kräcker, eine Tasse Tee. Rooney streckte die Hand aus und knipste die elektrische Beleuchtung des Ladens aus. »Das spart ein paar Pennies. Bitte setz dich doch, Dutch.« Paul nahm einen der beiden Stühle. »Möchtest du eine Tasse Tee? Ich hab’ nichts Stärkeres im Haus, ich bin nämlich Abstinenzler. Alkohol benebelt das Gehirn.« Während Rooney einen Wasserkessel auf einen Gaskocher stellte, ihn anzündete und die Flamme hochdrehte, hatte Paul Gelegenheit sich umzuschauen. Ein dünner Vorhang an einem Draht verbarg teilweise ein Bett in einer Nische. Durch eine halb geöffnete Tür waren rechteckige Metallplatten und große braune Flaschen auf einem Arbeitstisch zu sehen. Auf einem selbstgebauten Regalbrett, das an der Wand befestigt war, entdeckte er die sepiafarbene Photographie eines hübschen Kindes, das eine kunstvoll einstudierte Pose einnahm, den Kopf leicht auf die Seite gelegt, die Hände gefaltet und unter das runde kleine Kinn gestützt. Das Kind war drei oder vier Jahre alt, hatte nachdenkliche dunkle Augen, Pausbacken und langes Haar, dessen Locken ihm bis auf die Schulter reichten. Wegen des Matrosenkragens und der Krawatte nahm Paul an, daß das Kind ein Junge war. Der ovale Bilderrahmen bestand aus billigem Messing, das bereits blinde Flecken zeigte. Im Gegensatz zu den meisten Besitztümern Rooneys war das Bild frei von jeglichem Staub. Ernst sagte Rooney: »Das ist mein Sohn, Wexford junior. Das einzige Kind. Er starb, als er vier war. Ein schrecklicher Unfall. Es war meine Schuld.« »Das tut mir leid, Mr. Rooney.« »Vielen Dank.« Er betrachtete das Photo. »Oh, ich habe diesen kleinen Jungen geliebt. Wie habe ich mich darauf gefreut, ihn mein Handwerk zu lehren.« Paul saß still da, hörte zu. Rooney unterdrückte ein Schluchzen, bewegte den Kopf wie ein Hund, der Wasser aus seinem Fell schüttelt. Der Teekessel begann zu pfeifen. Rooney schneuzte sich in sein Taschentuch und putzte sich dann heftig die Nase. Das schien seine unbeschwerte Laune wiederherzustellen. Er schüttete heißes Wasser in eine angeschlagene Porzellantasse und tauchte dann ein angelaufenes silbernes
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Tee-Ei hinein. Dann schob er Paul die Tasse hinüber. »Woher kommst du, Dutch?« »Im Augenblick aus Chicago. Aber ursprünglich bin ich per Eisenbahn und Schiff aus Berlin hergekommen.« »Berlin also. Ich habe schon oft gehört, daß es eine wundervolle Stadt sein soll. Ich wurde in Charleston, South Carolina, geboren. Sehr viele Iren haben sich an unserer südöstlichen Küste niedergelassen, wußtest du das? Hättest du gedacht, daß ich ein Südstaatler bin? Natürlich nicht. Ich habe meinen Akzent schon vor vielen Jahren verloren. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich irischer Abkunft bin. Ich war Waise. Bin schon früh nach Norden gegangen. Ich war völlig ungebunden. Und wollte irgend etwas lernen.« Er suchte in einem Schrank herum, holte ein Album hervor und brachte es zum Tisch. Er schlug es auf und deutete auf eine auf Pappe aufgeklebte Photographie, verblichen und bräunlich, auf der er als Kind zu sehen war. Er war schon damals ziemlich rundlich. Er stand neben einem geschlossenen Pferdewagen und reichte einem älteren Mann die Hand. Der Mann war ziemlich klein und schmal. Er war adrett gekleidet, trug eine Krawatte, einen leichten Mantel und einen Strohhut. Man konnte den Mann im Profil sehen. Er hatte eine säbelförmige Nase. »Das bin ich mit meinem Lehrmeister, Mr. M. B. Brady. Ein waschechter Ire. Vielleicht nicht unbedingt der beste Photograph in der kurzen Geschichte dieses Gewerbes, aber ich zähle ihn zu den klügsten. Ich fing als sein Lehrling und Gehilfe an, wischte den Fußboden seines Studios in der Pennsylvania Avenue in Washington. Er brachte mir alles bei. Wie man den Bildausschnitt bei Porträts festlegt. Wie man mit Platten in der Dunkelkammer umgeht. Wie man sie mit der Collodion-Emulsion bedeckt. Wie man dorthin gelangte, wohin man wollte, auch wenn die Armeeoffiziere es nicht gestatteten. Er lehrte mich alles, außer wie man Geld verdient. Es gab viele, die damals für ihn gearbeitet haben und Kriegsphotos schossen, aber wir sind alle vergessen außer ihm. Auf den Bildern durfte immer nur ein Name stehen. Brady.« Eine Fliege wanderte über den Rand seiner Suppenschüssel. Rooney befand sich in der Vergangenheit. »Eines muß ich Mr. Brady zugute halten. Er hatte eine Vision. Nein, er war besessen. Er wollte photographieren, was noch nie zuvor photographiert worden war. Schlachtfelder. Wir fuhren mit rundum geschlossenen Pferdewagen wie dem dort auf dem Bild mitten ins Kriegsgebiet und hatten alles dabei – Kameras, Platten, Tücher, Chemikalien. Die Soldaten konnten sich nicht vorstellen, welchen Sinn ein
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solches Fahrzeug hatte. Sie nannten es Bradys Was-weiß-ich-Karre. Wir arbeiteten, während Artilleriegranaten explodierten und sterbende Männer in den Lazarettzelten vor Schmerzen brüllten. Niemand hatte je zuvor solche Bilder gesehen. Da, sieh selbst!« Er zeigte Paul eine gräßliche Photographie von Leichen, die in einem Graben aufgestapelt waren. »Das habe ich in St. Petersburg aufgenommen.« Er zeigte das nächste, ein erschreckendes, unheimliches Bild von ausgebrannten Gebäuden; leere Fensterhöhlen vor einem Hintergrund endloser Schuttberge ohne ein Zeichen menschlichen Lebens. Schwarz wie Grabsteine aus Obsidian, bildeten die Gebäude einen scharfen Kontrast vor einem weißen Himmel. »Das ist Richmond, nachdem es abgebrannt ist und die Flaggen der Rebellen niedergingen. Du blickst auf Geschichte, Dutch. Ein Augenblick der menschlichen Historie, für die Ewigkeit festgehalten – eingefroren.« Paul verspürte ein Kribbeln. Es war Zauberei, aber auch die reale Welt. Das war wie Zeichnen und Malen mit einer Kamera. Das war es, was er für den Rest seines Lebens tun wollte. Rooney blätterte weiter. Das nächste Bild zeigte einen jugendlichen Offizier, der steif auf seinem Stuhl saß und seine Mütze auf dem Schoß festhielt. »Ja, ja, an den Jungen erinnere ich mich noch. Er wollte ein Bild für seine Freundin. Ein Scharfschütze erwischte ihn bei Brandy Station, eine Woche vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Der Junge gab mir noch nicht mal die Adresse seiner Freundin. Ich habe die Platte behalten, Brady wollte sie nicht mehr.« Er berührte das unschuldige Soldatengesicht. »Er war ein netter, tapferer junger Mann –« Er hob seine Brille hoch und wischte sich etwas aus den Augen. Er klappte das Album zu. »Nach dem Krieg kam ich nach Hause, begeistert von der Macht der Photographie. Ich ließ mich an der Küste unterhalb von Charleston nieder, in der kleinen Stadt Beaufort. Ich heiratete eine junge Einheimische. Alte Familie. Indigo, dann Reis, dann Baumwolle. Sie hatte eine himmlische Stimme. Sang im Kirchenchor. Wexford junior wurde geboren. Ich eröffnete ein kleines Studio. Ich liebte mein Gewerbe, aber es brachte kein Geld ein. Zumindest habe ich keins gemacht. Dann kam die Tragödie. Er ertrank. Und Alice gab mir die Schuld, mit Recht. Danach ging alles in die Brüche. Ein paar Monate nach der Beerdigung unseres Sohnes wußte ich, daß wir am Ende waren. Ich packte einen Koffer und erklärte Alice, ich ginge weg. Sie weinte, aber es tat ihr nicht richtig weh. Sie war froh, daß es vorbei war. Ich nehme es ihr nicht übel. Ich habe mich zu sehr um mein Geschäft gekümmert, um Licht und
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Bildkomposition, und nicht genug um mein Bankkonto. Oder um meinen kleinen Jungen. Ich war und bin immer noch ein sehr unpraktischer Mensch.« Er blickte seitlich an seinen Brillengläsern vorbei. »Wir alle haben unsere Dämonen. Du bist noch zu jung, um das zu wissen.« Er trank einen Schluck Tee. Und erneut besserte seine Stimmung sich merklich. Er sprach davon, daß die Photographie die Gesellschaft revolutionierte »Stell dir nur mal eine Gerichtsverhandlung vor. Die Beweise werden klar und deutlich präsentiert, sichtbar für jedes Mitglied der Jury. Weg mit dem verlogenen, Vorurteile säenden Zeugen, dessen Phantastereien irgendeinen armen Teufel an den Galgen bringen. Die Photographie ist ehrlich. Sicher, man kann sie auch so einsetzen, daß sie lügt. Aber das darf nicht geschehen.« Er erzählte von einem Journalisten namens Jacob Riis in New York, der ein Buch über die Verhältnisse in Elendsvierteln veröffentlicht und es mit eigenen Blitzlichtphotos illustriert hatte. »How The Other Half Lives – wie die andere Hälfte lebt – lautet der Titel. Ich würde dir gerne mein Exemplar zeigen, aber ich mußte es leider verkaufen. In New York reißen sie Elendsviertel ab, ändern Bauvorschriften und gründen Wohltätigkeitsorganisationen, und alles nur wegen Jacob Riis. Es waren nicht seine Texte, die das bewirkten, sondern es waren seine Photos von halbverhungerten, vom Schicksal schwer geprüften Menschen, die aus Zimmern mit schmutzigen Wänden herausschauten, wo sie zu viert oder fünft in einem Bett schlafen mußten.« Paul konnte das Zimmer beinahe vor sich sehen. »Wir haben doch über Edison und seine bewegten Bilder gesprochen, nicht wahr? Wenn du etwas Revolutionäres willst – das ist wirklich revolutionär.« »Ich möchte lernen, wie man photographiert, wie man so gute Bilder wie Sie macht.« »Nun, ohne falsche Bescheidenheit würde ich meinen, daß du in mir den besten Lehrer von Chicago vor dir hast. Komm vorbei, wenn du Zeit hast. Wenn ich mal nicht im Laden bin, dann bin ich sicherlich schnell wieder zurück. Ich bringe dir bei, wie man den Film lädt, wie man mit dem Verschluß arbeitet, wie man mit den Chemikalien verfährt – alles. Ich bringe dir das Handwerk und die Kunst bei – also das wäre mir wirklich eine Freude.« Von ganzem Herzen antwortete Paul: »Das wäre wirklich schön.« »Großartig! Dann erwarte ich dich in nächster Zukunft. In allernächster Zukunft!« »Vielen Dank. Ich arbeite sechs Tage in der Woche in der Brauerei
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meines Onkels. Aber ich werde irgendwie Zeit finden. Und jetzt sollte ich wirklich gehen.« »In Ordnung, aber komm zurück, Dutch. Laß dich mal wieder blicken, bitte.« In seinem seltsam gebückten Gang führte Rooney ihn durch das unaufgeräumte Studio und winkte ihm auf der Straße nach. Paul sah durch das schmutzige Fenster, wie Rooney wieder nach hinten schlurfte und den Vorhang am Draht zuzog, um dahinter die armselige Küche und sich selbst zu verbergen. Paul nahm die traurige Umgebung nicht wahr. Statt dessen war er aufgeregt bei der Vorstellung, daß er alles lernen würde, was Mr. Wexford Rooney ihm beibringen konnte. Er mußte die Brauerei verlassen, das war jetzt völlig klar. Er brauchte es nicht sofort zu tun, er konnte warten, bis er die Grundlagen gelernt hätte und bis Rooney erklärte, er sei jetzt in der Lage, sich in diesem Gewerbe eine Stelle zu suchen. Dann würde er Onkel Joe die Neuigkeit so schonend wie möglich beibringen. Einstweilen würde er sein aufregendes Geheimnis mit Vetter Joe und mit Julie, aber mit niemandem sonst teilen. Schlagartig fiel ihm ein, weshalb sein Onkel ihn überhaupt nach Little Cheyenne geschickt hatte. Er konnte zwar die Zapfhähne nicht sofort mitnehmen, aber er würde sich bestimmt irgendwo eine Leiter ausborgen und das Schild der Canadian Gardens abnehmen können. Er machte kehrt, um zur Clark-Straße zu gehen – und erstarrte. Unter der fahlweißen Lichtkugel des Stundenhotels standen reglos vier abgerissene Gestalten. Sie versperrten den Gehsteig von der Hauswand bis zum Bordstein. Zwei der Burschen waren in Pauls Alter: Einer war ein Mulatte, dessen Haut die Farbe eines eleganten gelben Lederschuhs hatte, und der andere ein magerer Kerl mit flachsblondem Haar. Den dritten schätzte Paul auf zwölf Jahre. Und der vierte … Ein Irrtum war unmöglich. Es war der Junge mit dem Fuchsgesicht. Die vier warteten auf ihn. Sie wichen auseinander. Über sich hörte Paul eine Frauenstimme. »Das wird ein Schauspiel, Gert. Komm her. Sieh es dir an.« Er sah zwei Huren, die im zweiten Stock aus einem Fenster lehnten. Der Junge mit dem Fuchsgesicht kam auf ihn zu. »Jetzt bist du nicht mehr so dreist, oder? Trägst ganz schön schicke Klamotten. Hast du ein wenig Geld in der Tasche?« Pauls Herz klopfte heftig. Er drehte sich um. Rooneys Laden war dunkel wie ein Grab. Von dort war keine Hilfe zu erwarten.
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Paul trat vom Bordstein auf die Straße. Der Junge, der ganz außen stand, folgte ihm und blockierte erneut den Weg. Schmutzwasser umfloß Pauls Schuhe. Er konnte hören, wie die Huren sich über ihm unterhielten. »Ich wollte keinen Ärger machen.« »Hört euch das an«, sagte der Mulatte. »Noch so eins dieser verdammten Greenhorns, die mit dem Schiff hergekommen sind.« »Ein Holländer«, sagte der Flachshaarige und kam auf ihn zu. »Mein Großvater hat mir einiges über Holländer erzählt. Er hat unter Stonewall gedient. Großvater sagte, daß die Holländer bei Chancellorsville als erste geflüchtet sind. ›Fliegende Holländer‹ hat Großpapa sie genannt. Ist das nicht lustig?« Paul spannte sich, um zu reagieren. Er wollte einfach an ihnen vorbeistürmen, einen oder zwei von ihnen kampfunfähig machen, falls er es schaffte, und den anderen einfach davonlaufen. Das Gesicht des Flachshaarigen rötete sich. »He, du Scheißer. Ich hab’ gesagt, ist das nicht lustig?« Er versetzte Paul einen Boxhieb, packte Pauls linkes Ohr und drehte brutal. Paul rammte ihm eine Faust in die Magengrube. Der Flachskopf geriet ins Taumeln. »Mach Platz, Davey, ich mach’ ihn fertig«, sagte der Mulatte und zog einen Gegenstand unter seinem Hemd hervor. Paul senkte den Kopf und ging in Stellung, um erneut zuzuschlagen. Aber der Mulatte war schneller. Seine gelbe Faust beschrieb einen flachen, schnellen Bogen. Paul sah das Rohrstück erst, als es schon fast gegen seinen Kopf krachte. Er stieß einen Schrei aus und sank in der Gosse auf die Knie. Wasser drang in seine Schuhe, tränkte seine Hose, seine Hemdsärmel, als er versuchte, sich abzustützen und aufzustehen. Er hörte, wie der Mulatte knurrte. Ein Lufthauch strich an seinen Ohren vorbei. Das Rohr knallte gegen seinen Hinterkopf, rammte sein Gesicht in die Gosse und bewirkte, daß er sich schmerzhaft auf die Zunge biß. Er schmeckte Blut, das plötzlich seinen Mund füllte, und fiel lang in die Gosse, während seine linke Hand hektisch den Bordstein abtastete und Halt suchte. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. 45 JOE JUNIOR Gegen halb neun Uhr an diesem Abend klopfte jemand an Joes Tür, so daß er hochschreckte. Er hatte, immer noch angezogen, im dunklen Zimmer
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gelegen und das Flackern des roten Lichts am Himmel beobachtet. Er ging zur Tür. Es war seine Mutter. Sie wirkte nervös. »Es ist so dunkel hier. Der Qualm ist furchtbar. Mach doch die Fenster zu.« »Zu heiß, Mama.« »Dein Vater möchte, daß du in sein Arbeitszimmer kommst.« Er ging nach unten und fühlte sich dabei wie ein Häftling, der plötzlich aus seiner Zelle geholt wird und erfährt, daß er nicht zu Gefängnis, sondern zum unmittelbaren Tod verurteilt worden ist. Er schwitzte, als er an der Arbeitszimmertür klopfte. Nur eine Lampe brannte in dem Raum. Es war die Schreibtischlampe mit dem Schirm aus grünem Preßglas. Die Fenster waren geschlossen, als könnte man damit die Wirklichkeit der Proteste und der Brandschatzungen aussperren. Das Gesicht seines Vaters war voller Sorge. Trotz der Hitze trug er eine Weste und auch seine abnehmbaren Hemdmanschetten. Er war erst spät nach Hause gekommen. Joe junior, seine Mutter sowie seine Geschwister hatten ohne ihn zu Abend gegessen. Aus irgendeinem Grund war Paul noch nicht zu Hause. »Ich muß dir eine ernste Frage stellen, Joseph. Ich verlange und erwarte eine ehrliche Antwort. Ich könnte auch deinen Vetter fragen, aber er ist nicht da. Andererseits frage ich auch lieber dich, weil du mein Sohn bist.« Er nickte nervös. »Klar, Pa. Frag nur.« Sein Vater griff mit ausgestreckter Hand in den schattigen Bereich des Schreibtisches. Er hielt mit Daumen und Mittelfinger ein zusammengefaltetes Stück braunen Papiers hoch. »Heute hat jemand in der Brauerei einen anonymen Brief in mein Büro gelegt. Ich glaube an der Handschrift erkennen zu können, daß er von Emil Tagg kommt. Die Nachricht besagt, daß Benno Strauss während seiner Arbeit in der Brauerei eine Pistole bei sich trägt. Was eindeutig gegen meine Vorschriften verstößt. Wenn ich Benno fragen würde, bekäme ich wahrscheinlich eine Lüge zu hören. Emil hegt einen persönlichen Groll gegen Benno, weil dieser ihn tätlich angegriffen hat, daher ist Emil auch nicht sehr zuverlässig. Deshalb frage ich dich. Hast du bei ihm eine Waffe gesehen?« Joe juniors Kopf summte. Unter ihm schien der Fußboden hin und her zu schwanken. Hier war ein Strich gezogen, und er mußte ihn respektieren. Oder ihn überschreiten. »Joe, ich warte …« Guter Soldat… kann ich auf dich zählen? Er bekam Kopfschmerzen. Die
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Haltung seines Vaters änderte sich, signalisierte, daß er Anstalten machte, sich zu erheben. »Junger Mann, ich befehle dir, mir zu antworten.« Ja. Verdammt noch mal, du erteilst mir Befehle, du kommandierst jeden herum … »Nein, Sir. So etwas habe ich nicht gesehen.« »Weshalb schwitzt du denn?« »Hier drin ist es so heiß wie in der Hölle.« Joe Crown betrachtete seinen Sohn sicherlich länger als eine halbe Minute. Dann sagte er knapp: »In Ordnung. Danke. Du kannst jetzt gehen.« In der Halle hielt Joe junior sich am Treppengeländer fest und legte seine Stirn auf das kühle, glatte Holz. Er schloß die Augen. Sein Herz hämmerte wild. Er hatte es getan. Hatte den Schritt gewagt. Hatte sich für die andere Seite entschieden. Er war benommen vor Stolz auf sich selbst. Eine halbe Stunde später hörte er unten im Parterre das Telephon klingeln. Jemand nahm nach dem zweiten Signal ab. Wahrscheinlich Manfred, der alle Anrufe annahm, es sei denn, er war außer Haus. Er ging zum Fenster, stützte sich auf die Fensterbank und betrachtete den roten Himmel. Hatte er mit seiner Lüge genug für Benno getan? Hatte er seine Pflicht erfüllt? Mein Gott, er hoffte es inständig. Das war eine ernste Sache, viel gefährlicher, als er es sich jemals erträumt hatte. Geräusche aus dem Stall weckten seine Neugier. Er setzte sich auf die Fensterbank, hielt sich mit einer Hand am Fensterrahmen fest und beugte sich weit hinaus. Als er sich streckte, konnte er gerade das Stalldach und ein Stück der Neunzehnten Straße in Richtung Westen überblicken. Er sah den Landauer der Crowns aus dem Stall rollen. Nicky Speers saß auf dem Bock und ließ seine lange Peitsche knallen. Das Gesicht seines Vaters tauchte kurz aus dem Dunkel auf, dann war die Kutsche außer Sicht. Er eilte hinaus auf den Korridor und lief nach unten. Das Telephon klingelte erneut. Er prallte mit Fritzi zusammen, die im Nachthemd und mit einem Buch unterm Arm die Treppe heraufkam. »Warum ist Pa weggefahren? Ist irgend etwas in der Brauerei passiert?« »Ich weiß es nicht, aber er war aufgeregt. Ich hörte, wie er mit Mama flüsterte. Es ging um Paul. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen …« Manfred erschien. »Mr. Joseph, der Anrufer möchte Sie sprechen. Es ist eine junge Frau.« Der Hausdiener ließ niemals einen Zweifel daran, daß ihn derartige Störungen des normalen Ablaufs im Haus über die Maßen störten. Joe junior tätschelte seiner Schwester die Schulter – »Geh zu Bett!« – und rannte weiter zum Telephon.
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Er war auf einen weiteren Schock eigentlich nicht vorbereitet. »Joey? Bist du’s?« »Rosie?« Ihre Stimme am anderen Ende der Leitung war schwach und kratzig. Das Telephon, von dem aus er sprach, hing in der kleinen Seitendiele, die zur Küche führte. Das Flurlicht war ausgeschaltet. Er sprach leise. »Wo bist du?« Die Jablonecs besaßen kein Telephon, weil sie sich etwas Derartiges nicht leisten konnten. »Bei Min Slocum, ihre Eltern haben das einzige Telephon in der Straße.« Er konnte nicht glauben, daß er mit seiner Rosie sprach. Sie war immer so stark. »Du klingst, als hättest du Todesangst.« »Die habe ich auch. Ich habe Todesangst um Pa.« »Weshalb?« »Hier ist die Hölle los. Hast du schon mal zum Himmel geschaut? Ein Nachbar hat Ma erzählt, daß im Süden Chicagos auf dem Güterbahnhof der Panhandle Linie Hunderte von Güterwagen brennen. Die Menschen rennen wie wild auf der Straße herum. Es ist der reine Wahnsinn. Das schlimmste ist aber, daß Pa heute morgen seinen Dienst angetreten hat – ausgerechnet dann, wo schlimmster Ärger erwartet wird.« »Er hat seinen Dienst angetreten? Ich verstehe nicht, was –« »Streikbrechen! Pa geht als Streikbrecher, er hat unterschrieben, daß er einer dieser Sonderbewacher ist.« »O mein Gott.« Er sank gegen die Wand. »Weshalb zum Teufel hat er das denn getan?« »Wegen des Geldes, zweieinhalb Dollars pro Tag. Die Bosse bei Pullman sagen, daß es ganz in Ordnung ist und Treue zum Unternehmen beweist.« »Er hat seine Freunde verraten, verdammt noch mal. Er kann dabei sein Leben verlieren. Daß er ausgerechnet so etwas Blödes –« »Joe Crown, all das weiß ich selbst. Ich brauche jetzt keine Moralpredigten, ich brauche dich. Ein Reparaturzug soll gegen zehn Uhr losfahren, mit Soldaten und Sonderbewachern, die die Durchfahrt erzwingen sollen. Pa ist dabei. Die Streikenden wollen den Zug am Übergang von Loomis und Neunundvierzigster Straße aufhalten. Pa tut zwar so, als hätte er keine Angst, aber ich weiß, daß es nicht stimmt. Ich liebe meinen Vater, ich muß dorthin und dafür sorgen, daß ihm nichts zustößt. Aber ich wage es nicht allein. Bitte, komm mit!« »Rosie, es ist ein normaler Arbeitstag. Ich muß in die Brauerei. Ich glaube nicht –« »Joe, du verdammter Bastard, ich hab’ dich noch nie um etwas gebeten.
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Ich war immer gut zu dir, Joey –« Sie stand kurz davor zu weinen. »Du kannst nicht einfach den Schwanz einkneifen. Du mußt mir dieses eine Mal helfen.« Er wischte sich mit der Hand über seine schweißnasse Wange. »Ich bin gegen halb zehn dort.« Er hängte den Hörer ein.
46 PAUL Er erwachte durch den Schmerz. Er lag auf dem Fußboden, auf irgendeinem harten Brett. Die Augen waren geschlossen. Er schob die Zunge nach vorne. Seine Unterlippe fühlte sich an wie eine Wurst kurz vor dem Platzen. Sie tat weh. Desgleichen seine Zunge. Der fade, metallische Geschmack von Blut erfüllte seinen Mund. Ein Mann redete. »Er wacht auf, Ella.« Paul versuchte sich einen Überblick über die Schwere seiner Verletzungen zu verschaffen. Sein Bauch und seine Rippen schmerzten, ebenso die Rückseite und die Seite seines Kopfs, wo das Rohr getroffen hatte. Er erinnerte sich noch, daß der zweite Schlag ihn in die Gosse geschleudert hatte, aber an sonst nichts mehr. Sein rechtes Augenlid funktionierte, sein linkes nicht. »Warte, es ist mit Blut verklebt«, sagte eine Frau. Er hörte das Plätschern von Wasser. Ein nasses Tuch wurde gegen das geschlossene Lid gedrückt. Lauwarmes Wasser rann über sein Gesicht. Nun konnte er beide Augen aufschlagen. Vor einem fleckigen braunen Himmel sah er Farbspritzer, Hunderte. Rosenrot, gelb, weiß, ultramarin, orange. Er blinzelte, und die Umgebung ordnete sich allmählich. Die fleckige braune Fläche war eine mit Wasserflecken übersäte Wand. Sie gehörte zu einem schmutzigen, fensterlosen Zimmer einer Mietwohnung, wo ein muffiger Geruch herrschte. Die Farben waren Fetzen aus Filz und Seide in Schuhkartons, die zwischen Drahtrollen und einigen bereits fertiggestellten künstlichen Blumen auf dem Tisch standen. »Freundchen, du siehst vielleicht aus«, sagte der Mann. Er war stämmig, hatte ein rosiges Engelsgesicht und krause weiße Haare. Seine Frau hinter ihm war blaß und so dünn wie ein Strohhalm. Paul hörte außerdem Kinderstimmen. Der Mann kauerte neben Paul und hielt ihm einen kleinen gerahmten Spiegel hin. Paul verzog das Gesicht beim Anblick seines Spiegelbilds. Zugeschwollene Augen. Eine übergroße Unterlippe. Braunes Blut klebte an seiner Schläfe.
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»Sie haben dich in der Gasse hinterm Hotel liegengelassen. Ich war unterwegs auf Arbeitssuche und fand dich, als ich zurückkam. Es regnet in Strömen.« Paul hörte es. »Ich hab’ dich dann reingeholt. Ich heiße Marcus Mantville. Das ist meine Frau Ella.« »Ich bin Paul. Vielen Dank.« Jedes Wort kostete ihn Mühe. Er versuchte sich aufzusetzen. Sein Kopf dröhnte. Er betastete ihn vorsichtig und fühlte weitere eingetrocknete Blutreste. »Vorsichtig, du hast dort eine große Wunde«, warnte Mantville. »Du bist Deutscher, nicht wahr?« »Ja, aus Berlin. Ich bin vor zwei Jahren rübergekommen.« »Wohnst du in der Nähe?« fragte Mrs. Mantville. »Ich wohne auf der Michigan Avenue bei meinem Onkel, Joseph Crown. Ich sollte in der Clark-Straße etwas für ihn erledigen.« »Na ja, das ist hier eine ziemlich üble Gegend. Wir wohnen schon ein halbes Jahr hier. Wir wissen Bescheid«, sagte Mantville. »Du solltest in diesem Zustand nicht zu Fuß nach Hause gehen. Wir haben kein Telephon. Gib mir deine Adresse, und ich schicke meinen Jungen, Judson, zu deinem Onkel, damit er dich abholt.« Sie halfen Paul beim Aufstehen und brachten ihn in ein Nebenzimmer. Dort war ein Fenster geöffnet, das auf einen großen Luftschacht hinausging, der von oben bis unten und auf allen Seiten die gleichen Fenster aufwies. »Ich entschuldige mich für die ärmlichen Verhältnisse«, sagte Mantville. Sein Sohn, Judson, war bereits losgelaufen. Mrs. Mantville bot Paul einen Platz am Arbeitstisch an, dem einzigen großen Möbelstück neben dem alten Sofa, dem ein Bein fehlte. In einer Ecke stand ein rostiger Holzofen. In einer Wandnische darüber verbreitete eine Petroleumlampe ein mattes, rauchiges Licht. Paul blickte zurück in das fensterlose Zimmer. Er sah vier dünne Bretter mit gestreiften Laken. Keine Betten. Keine Toilette. Ein Mädchen mit großen braunen Augen hielt sich in respektvoller Entfernung und betrachtete ihn scheu. Sie hielt etwas im Arm. »Ich bin Ihnen allen sehr dankbar«, sagte Paul. »Mein Onkel wird sicher bald hier sein.« Mantville zog sich einen Stuhl heran und holte aus der Tischschublade eine langstielige Pfeife, die er stopfte und anzündete. Der Tabaksrauch verbesserte den Geruch der Wohnung um einiges. »Hattest du irgendwelches Geld bei dir?« Paul griff in seine Taschen. »Etwa dreißig Cents, mehr nicht.« »Das haben sie sich natürlich geholt. Himmel, ich hasse diese
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verdammte Gegend. Wir hatten keine andere Wahl, als hierher oder an einen ähnlichen Ort zu ziehen, nachdem sie mich bei Pullman hinausgeworfen haben.« »Sie haben in der Fabrik gearbeitet?« »Neun Jahre lang. Ich hielt es für eine große Chance, sonst wäre ich nicht den weiten Weg von Philadelphia hierhergekommen. Ursprünglich bin ich Schranktischler.« Mantville lachte bitter. »Ich war es. Nachdem ich meinen Protest vorbrachte, wurde ich entlassen und kam auf die schwarze Liste. Ich kann nirgendwo mehr eine anständige Arbeit bekommen. Also machen wir Heimarbeit.« Er deutete mit dem Pfeifenmundstück auf das Material für die Herstellung künstlicher Blumen im anderen Zimmer. »Wogegen haben Sie denn protestiert?« Mantville nahm einen kleinen, billigen Bilderrahmen von der Wand herab. Unter dem schmuddeligen Glas befand sich ein großer, mit Verzierungen versehener Scheck der Pullman Palace Car Company. Er war auf Mr. Mantville ausgestellt und lautete über den Betrag von vier Cents. Paul gab den Scheck zurück. »Das verstehe ich nicht.« »Das ist mein Lohnscheck, Freund. Der Lohnscheck, der mich dazu brachte, mein Recht zu fordern.« Mantville wischte mit einem Finger über das Glas. »Jede Arbeit bei Pullman hat einen festgelegten Mindest- und Höchstlohn pro Stunde. Ein Schranktischler verdient siebzehn bis neunzehn Cents die Stunde. Die Firma setzt außerdem Zuschläge für individuelle Akkordarbeit fest. Man muß pro Stunde soviel leisten, wie der Stundenlohn ausmacht. Unsere Abteilung, die die Holzinnenausbauten der neuen Pullman-Wagen ausführte, entwickelte richtigen Teamgeist und wurde besonders gut und schnell, und das, obwohl wir den Qualitätsstandard hielten. Wir fingen an, einen Penny pro Stunde mehr zu verdienen. Dann zwei. Als wir dann drei Pennies schafften, gerieten die Bosse in Panik. Der Lohn wurde auf zehn bis zwölf Cents herabgestuft. Entsprechend sank auch die Bewertung der fertigen Stückzahlen.« »Das ist ja furchtbar.« »Das ist es. Was du da siehst, den Scheck, den ich nicht eingelöst habe, weil es sich kaum gelohnt hätte, war mein Lohn für zwei Wochen. Zwölf Tage mit jeweils zehn Stunden. Mein Verdienst nach der Lohnkürzung betrug neun Dollars und elf Cents.« Ella Mantville begann zu weinen. Sie bedeckte ihre Augen mit der Schürze. »Natürlich wohnten wir damals in Pullman. Die Firma zog die Gebühren für Miete, Wasser, Gas ab, sogar drei Dollars jährlich für die Benutzung der Bibliothek. Was nach zwei Wochen Arbeit übrig blieb, siehst du dort auf dem Scheck. Vier Pennies. Glaub nur nicht, daß dieser Scheck eine
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Seltenheit ist. Solche Schecks waren durchaus üblich. Ich habe viele über zwei Pennies gesehen, einen sogar über nur einen Penny. Viele von den Jungs haben ihre Schecks eingerahmt und aufgehängt.« Vetter Joe hatte Paul oft erzählt, was bei Pullman so schlimm war, aber Paul hatte die brutale Wirklichkeit hinter den Schilderungen nicht begriffen. Mit Worten ließ sich eine solche Not kaum ausdrücken. Das kleine Mädchen kam näher. Sie lehnte sich schüchtern gegen sein Bein und hielt ihm etwas hin, damit er es betrachtete. »Sieh mal, meine Puppe. Ich hab’ sie zu Weihnachten bekommen. Der Weihnachtsmann hat sie gebracht.« Die Puppe bestand aus einem Schwellennagel. Das Kleid war ein Stück Tapete. Die Haare bestanden aus ein paar Strähnen Strickwolle. Paul mußte schlucken. »Das ist aber eine schöne Puppe«, sagte er und berührte sie. Vergessen waren seine Schmerzen, seine Wut über die Prügel, das erniedrigende Gefühl, körperlich mißhandelt worden zu sein; was übrig blieb, war eine namenlose Wut und Entrüstung. Es überrollte ihn wie eine riesige Flutwelle und erschütterte ihn zutiefst. Joe junior hatte recht. Und der Bäcker aus Wuppertal…? Onkel Joe war höflich, aber schroff, als er die unbeleuchtete Treppe des Mietshauses heraufstieg und seinen Neffen sah. Er bedankte sich bei der Familie und schüttelte Mr. Mantville die Hand, hielt sich aber nicht auf und begann kein Gespräch. Paul kam es so vor, als läge ein Ausdruck verhaltener Wut auf dem Gesicht seines Onkels. In der Kutsche während der Heimfahrt erkundigte er sich nach den Zapfhähnen und dem Schild. »Ich konnte diesen Toronto Bob nicht finden, um ihn nach den Hähnen zu fragen, Onkel. Und dann war ich gerade auf dem Rückweg zum Saloon, um das Schild abzunehmen, als ich überfallen wurde. Laß mich morgen wieder hingehen. Ich will schließlich beenden, was ich angefangen habe.« »Nein, ich glaube, du hast dich wirklich bemüht. Dolph Hix kommt im Laufe des Vormittags von seiner Reise zurück. Er wird es erledigen.« Onkel Joe drehte sich halb zur Seite und blickte hinaus auf die regennasse Straße. Paul war erfüllt von heftig widerstreitenden Gefühlen. Er konnte sich bei Onkel Joe niemals für all die Güte, die Verpflegung, das Obdach, die Sorge revanchieren – sogar für jenen fehlgeschlagenen Versuch, ihm zu mehr Bildung zu verhelfen. Gleichzeitig unterstützte sein Onkel die Aktionen eines Mannes wie Pullman, der seine Arbeiter bis aufs Blut ausnutzte und
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der einen ehrlichen Mann sogar mit einem Scheck über vier Pennies beleidigte. Vier Pennies. Paul war kein Benno Strauss, aber er konnte jetzt verstehen, weshalb Männer, die unterdrückt und verzweifelt waren, Bomben als ihr einziges Mittel der Gegenwehr betrachteten. »Paul.« Er fuhr herum. »Hast du Schmerzen? Du bist so still.« »Es geht um diese Familie, Onkel. Sie waren sehr nett. Es sind gute, anständige Leute. Sie müssen hungern. Das ist nicht fair.« »Das Leben ist niemals fair.« »Alles, was der Mann getan hat – sein einziges Verbrechen –, war, daß er sich gewehrt hat, als die Pullman Company ihm den Lohn kürzte.« »Ach, ich denke doch, daß noch mehr dahintersteckt. Wahrscheinlich hat er mit den radikalen Elementen sympathisiert. Mit den Aufwieglern.« »Wie kannst du so etwas behaupten, Onkel? Du kennst ihn doch gar nicht.« »Ich habe meine Erfahrungen«, erwiderte Onkel Joe ziemlich scharf. Er begann, den Eberzahn an seiner Uhrkette zu polieren. Paul wandte sich ab, biß sich auf die Unterlippe, während er die erhellten Ladenfenster betrachtete, die im Regen vorbeiglitten. Onkel Joe legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich schicke ihnen etwas Geld als Hilfe. Hundert Dollars. Ich tue es, weil sie dir geholfen haben. Viel Mitleid für ihre Not empfinde ich allerdings nicht.« »Sir – bei allem Respekt –, das sollten Sie aber.« »Sieh mal, du hast wirklich keine Ahnung von der Wirklichkeit. Arme Menschen führen meistens das Leben, daß sie sich eingebrockt haben und das sie auch verdienen.« »Das glaube ich nicht.« Onkel Joe stützte sich auf den Knauf seines Stocks. »Du fängst an zu reden wie dein Vetter. Das enttäuscht mich, Paul. Ich hatte mehr von dir erwartet.« Paul wandte wieder den Blick ab. Die Kutsche rollte ruckend und hüpfend über eine Straßenbahnschiene. Paul biß die Zähne zusammen. Sein geschundener Körper schmerzte, aber es gab noch einen schlimmeren, inneren Schmerz. Weder er noch sein Onkel sprachen während der restlichen Heimfahrt ein Wort. Paul und Onkel Joe kamen gegen halb zehn nach Haus. Paul überzeugte seine Tante und seinen Onkel, daß er Dr. Plattweiler wirklich nicht brauchte, aber Tante Ilsa entschied, daß er sich mindestens einen Tag, wenn nicht gar zwei, zu Hause ausruhen solle, ehe er wieder zur Arbeit ginge. Onkel Joe verschwand ohne einen Kommentar in seinem Büro.
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Paul warf seine schmutzigen Kleider in den kupfernen Wäscheschacht. Im Bad wusch er sich das Gesicht mit heißem Wasser, ein schmerzhafter Prozeß. Er zog sich einen Bademantel über sein Nachthemd und ertrug sitzend geduldig, daß Tante Ilsa seine Kopfwunde versorgte. Seine Tante trug ihr Nachthemd und Pantoffeln. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Anschließend schlüpfte Paul unter sein Federbett und fühlte sich schon viel besser. Tante Ilsa strich ihm über die Stirn. »Du mußt ja kurz vor dem Verhungern stehen, Pauli. Bleib noch einen Moment lang wach. Dann bringe ich dir etwas.« Sie kam nach einer halben Stunde zurück und brachte ihm ein Tablett mit Wurst, frischem Brot und einem Krug Bier. Dann umarmte sie ihn, gab ihm einen Gutenachtkuß und verließ ihn. Er döste vor sich hin, als Joe junior leise anklopfte und das Zimmer betrat. »Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Mein Gott, wer hat dich denn so zugerichtet?« »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähl’ sie dir, wenn du sie hören willst. Was hast du denn getrieben?« Vetter Joe setzte sich auf die Bettkante. »Ich bin ein paar Stunden lang nur rumgelaufen. Die Hölle ist los. Altgeld hat heute den Aufmarsch des Militärs befohlen. Fünf Regimenter. Morgen früh stehen vierzehntausend bewaffnete Soldaten in der Stadt. Nicky Speers war ebenfalls unterwegs. Er sagt, der Bürgermeister habe ›Zusammenrottungen‹ verboten. Hör mal, noch was anderes – was Wichtiges. Ich komme morgen nicht zur Arbeit.« »Ich auch nicht, deine Mutter hat es mir verboten.« »Ich mache einfach blau. Aber nicht zum Vergnügen. Ich muß etwas für Rosie tun. Falls jemand fragt, sag einfach, du wüßtest nicht, wo ich bin. Was auch der Wahrheit entspricht, weil ich es dir nicht verrate.« »Klar, Joe.« Joe junior hob drohend einen Finger. »Und jetzt raus damit. Wer hat dich durch die Mangel gedreht?« Paul schilderte es so schnell und vollständig wie möglich. Schließlich schüttelte sein Vetter nur den Kopf. »Herr Jesus Christus. Ich habe schon von diesen Vier- und Zwei-Cents-Schecks gehört, aber noch nie einen mit eigenen Augen gesehen.« »Das hat meine Einstellung völlig verändert«, sagte Paul. »Diese armen Menschen haben mich überzeugt. Ich bin jetzt hundertprozentig für den Streik.«
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»Ist das dein Ernst? Du stehst auf Seiten der Streikenden, ganz gleich, wie Pa darüber denkt?« »Ja. Und ich leugne nicht, daß es mir sehr schwer fällt. Onkel Joe war immer gut zu mir. Auf ihn bin ich nicht böse. Aber ich bin gegen diesen Pullman.« Mit funkelnden Augen legte Joe die Arme um Paul, drückte ihn an sich, klopfte ihm auf den Rücken. »Wie gut für dich, Kleiner. Ganz prima!« Paul hatte Mühe, in den Armen seines Vetters nicht vor Schmerzen laut aufzustöhnen. »Wir brauchen weiße Bänder«, sagte er. »Wenn wir sie auch nicht hier im Haus tragen können, so doch woanders.« Grinsend ging Joe junior zur Tür. »Ich sehe zu, daß ich ein paar besorge. Aber vergiß nicht – morgen hast du keine Ahnung, wo ich abgeblieben bin.« »Okay, ich weiß von nichts.« Paul nickte. Die Tür fiel ins Schloß. Mit dem Gefühl, daß der Tag einen Wendepunkt darstellte, löschte Paul das Licht. Er drehte sich auf die Seite und wartete darauf, daß die Müdigkeit die Schmerzen seines geschundenen Körpers ein wenig milderte. Gegen die Qualen seines schlechten Gewissens, weil er sich gegen Onkel Joe gewandt hatte, gab es keine Medizin.
47 JOE JUNIOR Rosie ergriff Joes schwitzende Hand. »Hier entlang, ich höre schon den Zug.« Er hörte ihn ebenfalls – das Geräusch der Dampfpfeife, das dumpfe, regelmäßige Stampfen der Lokomotive. Die Gleise kreuzten nur eine Straße weiter die Neunundvierzigste Straße. Anfangs hatten Joe junior und Rosie sich zehn Minuten lang verfehlt, denn sie steckten mitten in einem Gewimmel von Männern, Frauen und Jugendlichen, etwa drei- oder vierhundert Menschen insgesamt, die alle zu diesem einen Bahnübergang wollten. Die Menschenmenge wirbelte safranfarbene Staubwolken von der Straße hoch. Der Staub setzte sich in Joe juniors Haaren fest und legte sich wie Schminkpuder auf Rosies feuchte Haut. Er trug das weiße Stoffband oberhalb des Ellbogens um den linken Arm. Er hatte es aus seiner Schreibtischschublade herausgekramt, wo er es versteckt hatte. Angesichts der aufregenden Ereignisse diese Vormittags konnte er beinahe vergessen, wie sehr sein Vater ihn wegen des Bandes
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erniedrigt und beleidigt hatte. Er sah eine ganze Menge anderer weißer Bänder in seiner Umgebung. In der Nähe der Bahngleise stießen sie auf eine Mauer aus Menschen, die in drei oder vier Reihen neben den Gleisen standen. Die Bahnschranken waren bereits umgerissen und zu Kleinholz zerschlagen worden. Kinder schwangen Holzstücke, die sie sich als Andenken gesichert hatten. Die Menschenmenge strömte auf die Gleise. Joe junior und Rosie wurden hin und her gestoßen. Er sah nach rechts, also nach Norden, zur Stadt. Er erkannte Männer in den blauen Uniformen der Nationalgarde von Illinois, die auf dem Kuhfänger der Lokomotive saßen. Sie war noch etwa einen Block weit entfernt, stampfte langsam heran und stieß dicke Dampfwolken aus. Auch auf dem Dach des Führerhauses saßen Nationalgardisten, die Gesichter von den Krempen ihrer Feldhüte überschattet und die Gewehre schußbereit auf den Oberschenkeln. Im wesentlichen handelte es sich um Zivilisten, und sie waren vermutlich nervös. Immerhin waren die Vereinigten Staaten seit nahezu dreißig Jahren in keinen Krieg mehr verwickelt gewesen. »Ich möchte bloß wissen, wo Pa ist«, sagte Rosie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihr rot-weißes Ginghamkleid, durch häufiges Waschen schon etwas verblichen, zeigte feuchte Flecken unter ihren Brüsten und Armen. Ein Schwitzfleck in der Form eines Schmetterlings markierte die Mitte ihres Rückens. Ein Offizier der Nationalgarde, der ebenfalls auf dem Kuhfänger saß, winkte den Menschen mit seinem Hut zu. »Macht die Gleise frei. Wir haben Schießbefehl erhalten, wenn ihr die Gleise nicht freigebt!« Ein hagerer Junge schleuderte einen Stock. »Verdammter Streikbrecher!« Der Offizier der Nationalgarde wehrte den Stock ab, ehe er getroffen wurde. Die Menschenmenge rannte auf beiden Seiten des Gleises neben dem Zug her und brüllte: »Streikbrecher, Streikbrecher, verdammte Streikbrecher!« Der Zug dampfte auf den Bahnübergang zu. Die Menschen wichen zurück. Aber Männer und Frauen rannten weiterhin neben dem Zug her und warfen Steine, Stöcke, Flaschen. Rosie hüpfte immer wieder hoch und versuchte etwas zu erkennen. »Wo sind die Bewacher, Joey, siehst du sie?« Er streckte die Hand aus, deutete. »Dort, auf dem zweiten Waggon.« »Ist Pa dabei?« »Ich sehe ihn noch nicht.« Es war bei den dichten Staubwolken ohnehin schwierig, etwas zu erkennen.
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Der Zug bestand aus vier flachen, offenen Güterwagen und einem Dienstwagen. Auf dem zweiten Niederbordwagen befand sich ein großer Drehkran, rostrot, mit einer schweren Kette, die in einem riesigen Eisenhaken endete. Die meisten Bewacher befanden sich auf diesem Wagen. Männer in Westen und mit Hüten auf dem Kopf, mit gezogenen Pistolen und mit blinkenden Abzeichen auf der Brust. Joe konzentrierte sich auf ihre Gesichter und suchte Tabor. Er hielt verblüfft die Luft an. »Diesen Sheriff dort kenne ich. Den mit dem Silber am Revers. Er ist ein verdammter Botenjunge, der mal wertvolles Porzellan aus unserem Haus gestohlen hat.« Rosie achtete nicht auf ihn. Der Waggon mit dem Drehkran und den Sheriffs quietschte und kreischte über den Übergang an der Neunundvierzigsten Straße. Der Botenjunge der Metzgerei Frankel trug eine alte Melone auf dem Kopf, und er hatte sich offenbar seit längerer Zeit nicht mehr rasiert. Er ließ seinen Revolver wie ein Wildwestheld um den Finger kreisen. Sein Blechabzeichen blinkte, desgleichen der silberne Gegenstand, der sich in Höhe seines Revers befand. Joe junior identifizierte ihn sofort. »Verdammt noch mal, er trägt einen silbernen Suppenlöffel.« In der Brauerei hatte er aufgeschnappt, daß einige von den Hilfssheriffs stahlen, was und wo sie nur konnten. Rosie, die sich immer wieder auf die Zehenspitzen stellte und sich bei ihm aufstützte, interessierte sich noch immer nicht dafür. Der Wagen rollte vorbei. Der Blick des Botenjungen ruhte kurz auf Joe und glitt dann weiter ohne ein Zeichen des Wiedererkennens. »Da ist Pa!« rief Rosie plötzlich. »Da, auf dem nächsten Wagen!« Sie sprang immer wieder hoch und zeigte auf den Wagen. Hinter dem Waggon mit dem Kran folgte einer mit Rungen an den Seiten, die eine Ladung Schienen sicherten. Tabor Jablonec und drei andere Sheriffs saßen auf den Schienen. Tabor trug einen Overall. Das Blechabzeichen hatte er sich an den Hosenlatz geheftet. »O mein Gott, Joey, es geht ihm gut! Pa! Papa! Hier drüben!« Sie schrie und winkte. Tabor entdeckte sie, als der Wagen die Straße kreuzte. Er winkte. Er blies auf seine Faust und polierte stolz das Abzeichen für sie. Die beiden letzten Niederbordwagen rollten vorbei, beladen mit Eisenbahnschwellen und Fässern voller Nägel. Dann kam der Dienstwagen. Joe verspürte eine unendliche Erleichterung. Dann, etwa einen halben Block weiter südlich, kreischten und knirschten die Räder der Lokomotive auf den Schienen und sprühten Funken. Der Arbeitszug kam ruckend zum Stehen.
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Rosie drückte Joe juniors Hand so heftig, daß er schon glaubte, sie bräche ihm den kleinen Finger. »Was ist? Stimmt etwas nicht?« Durch die Staubwolken sah er eine weitere Menschentraube in Höhe der Fünfzigsten Straße auf die Gleise strömen und den Zug anhalten. »Sie umringen die Lokomotive und rühren sich nicht von der Stelle!« Sie hörten beide die laute Stimme des Offiziers der Nationalgarde: »Aus dem Weg, oder ich gebe das Feuer frei!« Jemand schleuderte eine grüne Flasche, die einen hohen Bogen beschrieb und an der Stirn eines Nationalgardisten zerschellte, der auf dem Dach der Führerkanzel saß. Blut spritzte. Der Soldat kippte nach hinten und stürzte seitlich vom Kanzeldach herunter. Joe und Rosie hörten laute Rufe und Flüche, als ob der Mob sich auf den Verwundeten gestürzt hätte. Menschen begannen, auf die Lokomotive und die Waggons einzuschlagen. Jemand feuerte einen Schuß ab. Mehrere andere Waffen gingen ebenfalls los. Ein kurzes, trockenes Knattern wie von besonders großen Knallfröschen. Joe schlang die Arme um Rosie, zog sie an sich, um sie zu beschützen, während er im stillen über Tabors Dummheit schimpfte. Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Weshalb hat er sich in diese Sache eingemischt? Wie ist er da hineingeraten? Warum?« Ein Dutzend weiterer Schüsse fiel. Ein Mann brüllte: »Sie schießen auf unschuldige Menschen!« Eine Frau schrie. »Sie haben Jebbie getroffen. Sie haben meinen Jungen erschossen!« Der Mob geriet in Rage. Männer und Frauen, die die Sheriffs und Nationalgardisten zunächst nur mit Flüchen und ein paar Stöcken attackiert hatten, packten nach den nächsten Beinen und zogen und zerrten daran. Die Gardisten wehrten sich, um nicht vom Waggon zu stürzen. Die Tapfersten unter den herandrängenden Demonstranten versuchten, auf den Zug zu klettern. Joe juniors Herz schlug wie wild. Leute drängelten, brüllten, fluchten. Erneut flogen Steine und Flaschen, und das Knallfroschgeknatter ertönte wieder. »Rosie, komm, hier ist es zu gefährlich.« Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie hinter sich her. Die Hilfssheriffs bildeten auf beiden Seiten der Niederbordwagen je eine Reihe. Mit ausgestreckten Armen feuerten sie wahllos in die Menge. Dabei bissen sie die Zähne zusammen, um ihre eigene Angst zu bezwingen. Menschen stürzten zu Boden. Weitere Schreie erhoben sich. Auf der Lokomotive und hinten auf dem Dienstwagen brüllten Nationalgardisten Befehle, die niemand hören konnte. Erst einer, dann mehrere andere und
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schließlich alle begannen, auf beiden Seiten des Zuges zu schießen, und erzeugten so ein tödliches Kreuzfeuer. Joe sah mindestens drei Männer und zwei Frauen getroffen zu Boden sinken. Rosie riß sich von ihm los und kämpfte sich durch das aufgeregte Menschengewühl. Sie war hysterisch und kreischte, als ob Tabor sie bei dem Lärm hören könnte: »Pa, Pa, komm runter, versteck dich!« Joe junior rannte hinter ihr her. Ein Mann versuchte, ihm ohne ersichtlichen Grund das Auge mit einem Daumen auszudrücken. Joe junior krallte die Finger in das Hemd des Mannes, rammte ihm das Knie in den Unterleib und schleuderte ihn aus dem Weg. Die Menschen drehten jetzt durch. Rosie ebenfalls, ihre Schreie übertönten deutlich und schrill die Rufe der anderen. Joe stieg auf eine wacklige Kiste neben dem Bahngleis und konnte sich lange genug oben halten, um Tabor Jablonec sehen zu können. Tabor stand noch immer auf dem Niederbordwagen. Sein Gesicht war schneeweiß vor Angst. Er feuerte seine Pistole ab, während die Kugeln seiner eigenen Leute um ihn herumsummten. Joe junior rannte weiter und versuchte Rosie einzuholen. In diesem Moment sah er, wie Tabor sich mit einem erstaunten Gesichtsausdruck auf die Spitzen seiner staubigen Schuhe zu erheben schien. Tabor ließ seinen Revolver fallen und griff sich an die Brust. Unter seiner Hand und mitten auf dem Hosenlatz drang Blut hervor. Er kippte von dem stehenden Zug, prallte auf den Schotter und rollte ein Stück weiter. »O Pa, o mein Gott, o Herr Jesus im Himmel!« kreischte Rosie, während sie sich zu dem zusammengekrümmten Körper durchkämpfte. Sie fiel auf die Knie und hob den Kopf ihres Vaters in ihren Schoß. Joe erreichte sie. Sie weinte und streichelte hektisch Tabors Gesicht. »O mein Gott, Jesus Christus, Papa, warum mußtest du dich mit diesen Schweinen einlassen?« »Rosie«, machte Joe sich bemerkbar, als ihnen die Kugeln um die Ohren flogen. Er legte eine Hand auf den schweißdurchtränkten Rückenteil ihrer Bluse. Sie beachtete ihn nicht, massierte die Arme und Beine ihres Vaters, als wolle sie ihn damit wieder zum Leben erwecken. In diesem Moment roch Joe die Ausscheidungen von Tabors Körper. Seine Augen waren bereits geschlossen. »Rosie, er ist tot, laß ihn liegen. Wir suchen uns einen Wagen und kommen hierher zurück und –« »Ich will nicht!« schrie sie. Eine Kugel flog sirrend zwischen ihnen hindurch. Joe junior zuckte zusammen und ging mit dem Kopf in Dekkung, aber sie schien es überhaupt nicht bemerkt zu haben. Verzweifelt kauerte er sich nieder und versuchte mühevoll, seine Arme unter den stinkenden
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Leichnam von Tabor Jablonec zu schieben. Sie begriff, was er tat. »Nein!« »Rosie, komm schon, wir müssen von hier verschwinden.« Der Ruf, seine Lautstärke und sein befehlender Ton durchdrangen ihre Hysterie. Sie stolperte neben ihm her, während er mit Tabors Leiche in den Armen teils ging, teils rannte. Er wandte sich nach Norden, weg von den Pistolen, den Schreien und Klagen der Verwundeten und Trauernden. Eine Straße weiter, östlich der Neunundvierzigsten Straße, bettete er Tabor in den heißen Schatten auf der Westseite eines Pferdestalls. Rosie sank wieder auf die Knie. Joe blickte auf seine Hände. Sie waren blutig. Tabors Blut hatte sein Hemd getränkt und sogar das weiße Band an seinem Arm befleckt. Rosies leere Hände ergriffen die seinen. »Weshalb hat er sich von ihnen einwickeln lassen, Joey?« Joe junior schüttelte den Kopf, seine blauen Augen brannten. »Er hätte es nicht tun dürfen! Er hätte wissen müssen, daß er sich auf die falsche Seite schlug.« Sie verlor wieder die Fassung, attackierte ihn, zerkratzte sein Gesicht. »Sei still, verdammt noch mal! Ich kann das sagen, aber nicht du oder irgend jemand anderer! Laß mich in Ruhe mit deinen verdammten Predigten!« »Rosie, es tut mir schrecklich leid. Du brauchst Hilfe, um ihn von hier wegzuholen –« »Von dir brauche ich gar nichts. Du und deine verrückten Ideen, was richtig und was falsch ist – wen interessiert das? Wer schert sich einen Dreck darum? Mit richtig oder falsch kannst du dir keine Schuhe kaufen. In der Hinsicht bist du genau wie er, du hast auch niemals Geld in der Tasche. Und wahrscheinlich mußt auch du irgendwann dran glauben. Verschwinde endlich.« »Rosie, ich will dir doch nur helfen –« »Verschwinde! Und bleib weg! Verdammt noch mal, laß mich in Frieden! Ich will dich nie wiedersehen!« Er blickte in ihre wilden, haßerfüllten Augen. Er wollte etwas sagen, erkannte jedoch, daß es hoffnungslos war, und entfernte sich mit schnellen Schritten. Er bog um die Ecke des Stalls und ging durch die breite Eingangstür. Auf einem Stuhl, den er mit der Lehne gegen die Stallwand gekippt hatte, saß der Stallknecht und las einen Deadwood Dick-Roman, wie man sie für zehn Cents überall kaufen konnte. »Komm raus, aber schnell. Da draußen ist ein Mädchen, dessen Vater gerade erschossen wurde. Sie braucht Hilfe.« Der Stallbursche, ein stämmiger Junge von fünfzehn Jahren mit einem
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leichten Buckel, musterte ihn kritisch. Aber er rannte hinaus und verschwand um die Ecke. Joe hörte ihn rufen: »O Miss – mein Gott. Wie schlimm ist er verletzt?« »Er ist tot, mach die Augen auf, sieh ihn doch an!« Joe junior ging eilig nach Osten davon. In der Ferne, ungefähr an der Fünfzigsten Straße, fiel ein einzelner Schuß. Dann herrschte Stille. Straßenstaub trieb im grellen Licht der Mittagssonne. Der Staub färbte sein Haar so weiß wie das eines alten Mannes. Joe wusch sich den Kopf und die Hände in einer Straßentränke für Pferde. Als Handtuch benutzte er seinen Hemdzipfel. Er war sich nicht sicher, ob er das blutige Hemd ausziehen oder weiter tragen sollte. So oder so war er eine auffällige Erscheinung. Daher behielt er sein Hemd an. Er legte den Weg bis zur Ecke Michigan Avenue und Zwanzigste Straße zu Fuß zurück und brauchte fast eine Stunde. Er wußte, wenn er, so wie er aussah, die Pferdebahn benutzte, würde man ihn gleich wieder rauswerfen oder er würde verhaftet. Und tatsächlich – der Inhaber eines Eisenwarenladens sah ihn die Straße herunterkommen, verschwand in seinem Laden und griff nach dem Telephon. Ein paar Straßen weiter trat ihm ein Streifenpolizist in den Weg. Joe junior schlug einen Haken um ihn herum, versuchte gar nicht erst, seine äußere Erscheinung zu erklären, und konnte ihm nur deshalb weglaufen, weil der Polizist schon älter war und ziemlich fett. Er gelangte durch den Hintereingang ins warme und stille Haus. Louise Volzenheim war in der Küche und entschotete Erbsen. Bei seinem Anblick fiel sie beinahe in Ohnmacht. »Master Joe, woher kommt all das Blut?« »Es gab einen Unfall, der Vater meiner Freundin ist ums Leben gekommen. Das ist sein Blut.« Louise brachte keinen Ton hervor, es war zu schrecklich. Wie benommen ging er die Treppe hinauf. Er ließ Wasser in seine Badewanne laufen und streckte sich darin aus. Dann wusch er sich das getrocknete Blut von den Händen und Armen. Das Hemd war nicht mehr zu retten. Aber er löste das mit Blut befleckte weiße Stoffband und legte es behutsam in seinen Schreibsekretär. Sobald seine Mutter nach Hause kam, erzählte er ihr alles. Sie drückte ihn an ihre Brust und wiegte ihn wie ein kleines Kind. »Joey, Joey, auch du könntest jetzt dort liegen.« »Aber nicht ich liege dort, sondern Rosies Vater. Die verdammten Streikbrecher haben ihn umgebracht, und außer ihm noch viele andere.
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Zehn, zwanzig, ich weiß nicht wie viele.« »Wir müssen zur Beerdigung des Mannes ein paar Blumen schicken. Das ist das mindeste, was wir tun können.« »Ich denke, du hast recht«, sagte er und empfand eine seltsame Endgültigkeit, so, als sei alles in ihm abgestorben. Er würde Rosies hinausgeschrieene Worte, mit denen sie ihn davongejagt hatte, sein ganzes Leben lang nicht vergessen. »Ich werde nicht zur Beerdigung gehen. Wahrscheinlich sehe ich sie nie wieder.« »Das versteh’ ich nicht.« »Das macht nichts, Mutter, laß es einfach dabei. Bitte …« Er erzählte die Geschichte erneut während des Abendessens. Sein Vater bestand darauf, nachdem er erklärt hatte, daß ihm der Lohn um zwei Tage gekürzt werde. Einen Tag wegen der Stunden, die er nicht gearbeitet hatte, und den zweiten wegen seines unentschuldigten Fehlens. Joe junior war zu erschöpft, um sich darüber zu ärgern. Fritzi wagte kaum zu atmen, als sie ihm zuhörte. Carl ebenfalls. Paul hatte beide Hände im Schoß gefaltet und sagte gar nichts. Am Ende spürte Joe junior, wie er ein wenig zitterte. Er blickte auf seine Hände. Sie waren vom Blut gesäubert, aber er sah immer noch rote Flecken darauf. Er würde sie immer sehen … »Joseph«, sagte sein Vater und strich mit der flachen Hand über die Spitze seines silbergrauen Knebelbarts, als könne er auf diese Art und Weise die Wogen seines inneren Aufruhrs glätten, »ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um meine Empfindungen zu dieser ganzen Sache auszudrücken.« Joe juniors Augen schienen sich zu vergrößern, und in ihnen flackerte erneut ein intensives Feuer auf. »Ich bin zutiefst erschüttert, daß du ein solches Risiko eingegangen bist. Ich hätte beinahe einen über alles geliebten Sohn verloren. Ich denke, es war sicherlich edel von dir, dieser jungen Frau helfen zu wollen. Aber sie hat sich selbst völlig unbekümmert in Gefahr gebracht und dich ebenfalls. Das mit ihrem Vater tut mir wirklich leid, obgleich ich ihn niemals kennengelernt habe und die junge Frau auch nicht. Wenigstens ist er bei dieser Auseinandersetzung auf der richtigen Seite gefallen.« Joe junior ballte unter dem Tisch die Fäuste. Dicht vor seinem linken Ohr trat eine pulsierende Ader hervor. Sein Vater bemerkte es und fuhr in sanfterem Ton fort: »Ich vergesse, was ich vorhin gesagt habe. Ich werde dir deinen Lohn nicht kürzen. Es war falsch von dir, daß du deinen Arbeitsplatz ohne
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Erlaubnis verlassen hast, aber ich denke, du bist für einen Tag schon genug bestraft worden.« »O danke, Joe«, murmelte Ilsa. Joe Crown faltete seine Serviette zusammen. »Bitte, geh jetzt zu Bett, mein Sohn. Ruh dich aus, und sieh zu, daß du die Sache schnell vergißt.« »Das werde ich niemals, Pa. Nicht solange ich lebe.« »Das klingt ziemlich theatralisch.« »So empfinde ich es aber«, sagte Joe junior. Sie blickten einander in die Augen. Mit stärker geröteten Wangen und mit leiser, angespannter Stimme sagte Joe Crown: »Ihr entschuldigt mich sicher. Ich habe zu tun.« Er verließ das Eßzimmer und knöpfte sich dabei seinen Rock zu. »Komm nachher in mein Zimmer«, flüsterte Joe junior Paul zu, als sie ein paar Minuten später ebenfalls von ihren Plätzen aufstanden und hinausgingen. »Rosie hat mit mir Schluß gemacht«, begann Joe junior und schloß die Tür, nachdem Paul eingetreten war. »Das ist aber schlimm. Tut mir aufrichtig leid.« Joe junior versuchte mit einem Achselzucken darüber hinwegzugehen. »Ich wußte schon die ganze Zeit, daß wir beide keine Zukunft haben, das hat sie mir oft genug klargemacht. Sie sucht jemanden, der sie mit Geld zuschüttet.« Bedrücktes Schweigen entstand, dann sagte Paul leise: »Es sind schreckliche Leute, diese Soldaten und die Sonderbewacher und Helfer.« »Mörder sind das! Niemand von den Protestierenden hatte etwas anderes als Steine oder Knüppel.« Er ging zum Schreibsekretär und holte das blutbefleckte weiße Band aus der zweiten Schublade. »Da ist sein Blut drauf.« »Das Blut eines Märtyrers«, sagte Paul. »Richtig.« Joe junior wühlte in einer anderen Schublade herum und nahm sein Taschenmesser heraus. Er faltete das Band doppelt und halbierte es mit einem Schnitt. »Da, nimm.« Paul legte das Stück blutbefleckten Bandes auf die linke Handfläche und berührte es mit dem rechten Zeigefinger. »Diese verdammten Kerle. Zur Hölle mit ihnen!« In seinen Augen glitzerten Tränen. Und zum erstenmal an diesem Tag lächelte Joe junior.
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48 JOE CROWN Manchmal, Jahre später, wenn er düsterer Stimmung war oder verzweifelt nach Antworten auf seine Fragen suchte, blickte er zurück und machte Stead für alles verantwortlich. William T. Stead, den englischen Reformator, und sein Buch If Christ Came To Chicago – Wenn Christus nach Chicago käme –, in dem Ilsa an jenem schicksalhaften Sonntagabend las. Natürlich war Stead nur der Funke. Joes zunehmende Ungeduld war die Lunte, seine Erregbarkeit und das immer stärker werdende Gefühl des allgemeinen Drucks, der Umzingelung. Die Ereignisse jener heißen Woche im Juli 1894 waren die Pulverladung, die explodierte und umwälzende Konsequenzen in der Familie in Gang setzte. Es war ein seltsamer und beunruhigender Sonntag, angefangen mit Joe juniors hautnaher Berührung mit dem Tod am Bahnübergang. Die Zeitungen meldeten vierzehn Tote und viele Verletzte. Der Vater des böhmischen Mädchens aus Pullman gehörte zu den Todesopfern. Den ganzen Sonntagvormittag wanderte Joe stumm und mit einem seltsam leeren Gesichtsausdruck durch das Haus. Der Junge stand ganz offensichtlich unter Schock und litt unter dem Erlebten. Daher machte sein Vater keinerlei provozierende Bemerkung und hoffte, damit den seelischen Heilungsprozeß des Sohnes beschleunigen zu können. Er bemerkte sehr wohl, daß Paul während des Vormittags Joe junior praktisch auf Schritt und Tritt folgte. Sie schienen unzertrennlich zu sein. Obgleich Paul es nicht geschafft hatte, seinen Auftrag in Little Cheyenne zu Ende zu führen, begriff Joe Crown, daß er seinem Neffen angesichts des Überfalls durch den Schlägertrupp kaum Vorwürfe machen konnte. Und Paul war für seinen jüngeren Vetter und seine Kusine ganz eindeutig ein Held. Während des Mittagessens an diesem Sonntag lobte Fritzi mehrmals Pauls »Tapferkeit«. Es schien ihm unangenehm zu sein und bewirkte, daß er schneller aß als sonst. Eine Stunde später ging Joe Crown an der offenen Tür des Wohnzimmers vorbei und hörte Carls begeisterte Reaktion auf die Geschichte, die Paul offenbar auf Carls Bitten hin noch einmal rekapitulierte. Am Nachmittag verließ Joe junior das Haus mit der Begründung, er müsse einen Spaziergang machen. Er war weitaus adretter als sonst gekleidet, und er deutete seiner Mutter an, es könnte sein, daß er bis zum Abendessen unterwegs sei. Dieses Verhalten war untypisch für ihn. Joe senior nahm an, die Schießerei mit tödlichem Ausgang habe ihn geläutert. Diese Veränderung, obgleich durch eine Tragödie herbeigeführt, war ihm
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nicht unlieb. Paul und Carl gingen nach draußen, um Ball zu spielen. Dadurch erhielt Joe senior die Gelegenheit, einen Blick in seine Zeitungen zu werfen. Jedes Blatt machte mit ähnlichen Schlagzeilen auf. BLUTRÜNSTIG! Rasender Mob fordert lautstark Tod und Vernichtung! Die nackte Anarchie tobt! Pöbel zu allem entschlossen! – Feuer verursacht Chaos! Nie dagewesene Szenen der Gewalt und des Terrors! Er zerknüllte die Zeitung und schleuderte sie beiseite. Das Chaos und das Blutvergießen wurden von den Roten und ihrem Rädelsführer Debs angezettelt. Daran gab es für ihn keinen Zweifel. Der von Debs ausgerufene Arbeitsboykott bedrohte den geordneten Ablauf der Wirtschaft und damit hautnah alle Menschen, die nichts anderes wollten, als ein ruhiges Leben führen. Die Soldaten müßten noch härter zuschlagen. Wenn nötig, sollten alle Streikenden ins Gefängnis gesperrt werden. Er würde in der Brauerei einen derartigen Verfall der Disziplin niemals dulden. Mit seiner Reaktion auf die Ereignisse in der Stadt steigerte er sich in eine schlechte Stimmung hinein. Als er schließlich zu Bett ging, war er ausgesprochen übel gelaunt. Im Haus war es unerträglich heiß, und zusätzlich spürte er eine innere Hitze. Sein Nachthemd war aus weißem Musselin geschneidert und hatte vorne Perlmuttknöpfe. Kragen und Manschetten waren mit roter Seide abgesetzt. Obgleich es ein besonders leichtes und ausschließlich für den Sommer bestimmtes Kleidungsstück war, kam er sich darin vor, als trüge er drei Pelzmäntel übereinander. Ilsa ging es noch schlechter. Ihr Musselinnachthemd im MutterHubbard-Stil war bodenlang und weit geschnitten. Es hatte lange Puffärmel, die am Handgelenk dicht abschlossen, und einen hohen Kragen mit feinem Spitzenbesatz. Ilsa hatte sich so hingelegt, daß ihr Kopf auf der Nackenrolle ruhte. Sie las. Er bemerkte, daß es das Buch Steads war, das er nach seiner Untersuchung über das Verbrechen in der Stadt geschrieben hatte. Im Februar veröffentlicht, waren von dem Buch bereits mehrere tausend Exemplare verkauft worden, und die Nachfrage war weiterhin sehr rege. Allein sein Anblick reichte schon aus, um Joe noch ungehaltener zu machen. Im Schlafzimmer regte sich kein Lüftchen. Die Luft war stickig und feucht. Sich unbehaglich fühlend und stark schwitzend, legte Joe sich neben
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seine Frau ins Bett. Eine Motte flatterte um die Lampe auf dem Nachttisch. In der Glaskugel erzeugten die Glühdrähte eine blendende Helligkeit. Er zog das gestärkte Laken über sich. Ein paar Sekunden später schob er es wieder weg. Dann raffte er den Saum seines Nachthemds so hoch, wie es gerade noch schicklich war. Vom Nachttisch nahm er einen Pappfächer mit dem Namen der Brauerei und dem Crown-Emblem darauf. Er fächerte sich mit heftigen Bewegungen Kühlung zu. Ilsa streifte ihn mit einem besorgten Seitenblick und blätterte weiter. Ein paar Sekunden später sagte sie: »Hier steht etwas, das dich vielleicht interessiert.« »Nichts, was dieser scheinheilige Schwätzer geschrieben oder gesagt hat, interessiert mich.« »Mein Lieber, du mußt nicht von vornherein alles ablehnen. Mr. Stead äußert einige völlig unerwartete Auffassungen über Saloons.« »Ach?« sagte er spöttischer, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. »Will er sie jetzt in die Luft sprengen, anstatt sie mit Vorhängeschlössern zuzusperren?« »Du bist unfair. Du hast bisher auch nicht ein einziges Wort von ihm gele –« »Das habe ich auch nicht vor. Würdest du bitte das Licht löschen, damit ich schlafen kann?« Auf ihre Art war Ilsa genauso stur wie ihr Mann. Sie setzte das Buch aufgeschlagen auf ihrem Bauch ab. »Nicht eher, als bis ich dir das Kapitel mit der Überschrift ›Whiskey und Politik‹ vorgelesen habe. Mr. Stead unterscheidet ganz eindeutig zwischen Familiensaloons und denen, die er als unanständig bezeichnet.« »Ilsa, ich interessiere mich nicht für die Ansichten eines Mannes, der verdammt, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene.« »Moment mal, er verdammt doch gar nicht –« »Ich weigere mich, weiter zuzuhören. Gute Nacht.« Er drehte sich auf die Seite, weg von ihr. Etwa eine Minute lang lag er so da, angespannt, erregt. Dann kam das befürchtete Zeichen. Ilsa klappte das Buch mit einem lauten Knall zu. »Und ich lasse mich nicht herunterputzen und abfertigen wie einen Dienstboten, Joe Crown!« Irgend etwas in ihm reagierte sofort wie ein Rennpferd auf die Startglocke. Als hätte er nur darauf gewartet, stürzte er sich sofort in eine Erwiderung. Dabei drehte er sich zu ihr um. »Verdammt noch mal, Frau –« Die Meinungsverschiedenheit, zunehmend hitziger und unlogischer,
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dauerte zwanzig Minuten. Sie schlief unter Tränen ein. Er lag auf der rechten Seite, wandte ihr den Rücken zu und mied jeglichen Kontakt mit ihr, zitternd vor Wut. Am nächsten Morgen, als Dolph Hix ins Büro zurückkam, schickte Joe ihn zu Canadian Gardens. Nach einer Stunde meldete Hix sich telephonisch und gab durch, er habe das Schild, doch die Zapfhähne seien verschwunden. Toronto Bob behaupte, keine Ahnung zu haben, wo sie abgeblieben seien. »Wahrscheinlich hat er sie aus Rache zerstört, weil wir ihm unser Bier nicht mehr liefern.« Mit gerötetem Gesicht erwiderte Joe: »Dann bringen Sie nur das Schild zurück. Ich habe keine Lust, noch länger zu warten.« Er hängte den Hörer mit einer heftigen Geste an den Haken. Gegen halb elf war er in seine Arbeit vertieft. Die Tür seines Büros war geschlossen. Er zerriß den dritten Bogen Papier mit dem Briefkopf der Brauerei Crown, warf ihn in den Papierkorb und zog einen vierten Bogen aus der Schreibtischschublade. Er mühte sich ab, einen Entschuldigungsbrief an seine Frau zu verfassen. Er hatte die Absicht, ihn Ilsa mit zwei Dutzend gelben Rosen zu schicken, die er bei Eitel, dem Blumenhändler, bestellt hatte und die noch am gleichen Tag geliefert werden sollten. Er tauchte die Feder ins Tintenfaß. Meine liebe Ilsa – Weiter kam er nicht. Ein lautes Klopfen ertönte. Stefan Zwick stürmte ins Büro, ehe Joe reagieren konnte. »Sir, es tut mir aufrichtig leid –« »Ich habe doch angeordnet, keine Störungen!« »Ich weiß, Sir, aber ich dachte, ich müßte Ihnen mitteilen, was draußen im Gange ist.« Joe bemerkte einen Bogen gelben Notizpapiers in Zwicks Hand. Es war ein Blatt, auf dem Namen notiert waren. »Erzählen Sie.« Stefan Zwick hüstelte und trat vor dem Schreibtisch von einem Fuß auf den anderen. »Sir, es gibt eine – äh, Arbeiterdemonstration. Eine Arbeitsniederlegung.« »Was?« »Einen Arbeitsstopp, Sir. Elf Männer haben ihre Arbeitsplätze für eine Stunde verlassen aus Solidarität mit dem Pullman-Boykott. Schultheiss aus der Küferei. Chester Amunnsen aus der –« Joes geballte Faust krachte auf den Schreibtisch. Ein Papierstapel
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rutschte über die Kante und flatterte wie ein Schwarm müder Vögel zu Boden. »Und Strauss? Ich wette, er hat das Ganze inszeniert.« »Ja, Sir, er scheint der Anführer zu sein. Er hat drei andere Gewerkschaftler aufgewiegelt. Ich habe eine vollständige Liste.« Zwick reichte Joe den gelben Zettel. »Wenn sie zurückkommen, sollen sie sofort bei mir erscheinen.« »Sir, sie haben das Gelände nicht verlassen. Sie halten sich am Haupttor auf.« Joe eilte zum Fenster. Er fluchte auf deutsch, als er Benno und die anderen am Brunnen herumlungern sah. Die Männer lachten und scherzten, als hätten sie Urlaub. Jeder trug ein weißes Stoffband um den Arm. Schultheiss, der Küfer, riß am Stiefel der Figur des König Gambrinus ein Streichholz an, um sich eine Zigarre anzuzünden. »So eine verdammte Respektlosigkeit. Sie demonstrieren auf meinem Grund und Boden.« Er rannte zur Tür. Benno Strauss hatte endgültig die Grenze überschritten, der er im Laufe der vergangenen Monate ganz gezielt immer näher gerückt war. Joe stürmte die Treppe hinunter und durch die Bierstube nach draußen. Mickelmeyer, der Oberkellner, hielt ihn im Restaurantgarten auf. Mickelmeyer sah in seinem schwarzen Frack, mit der Krawatte und der weißen Schürze aus wie bei lebendigem Leib gekocht. Zwei Streikende bemerkten Joe und unterbrachen ihre Unterhaltung. Benno saß auf der Seite des Brunnenbeckens, die der Straße zugewandt war. Er rührte mit einer Hand im Wasser herum, während er fröhlich weiterredete. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Mr. Crown«, flüsterte Mickelmeyer. »Diese Männer werden unser Mittagsgeschäft erheblich stören.« »O nein!« Joe ging zum Tor. »Alle sofort runter von meinem Brunnen!« Er packte den Mann, der ihm am nächsten war, Wenzel aus der Mälzerei. Er schleuderte ihn derart heftig zur Seite, daß Wenzel sich beinahe den Schädel an der Ziegelmauer neben dem Tor einschlug. Benno sah sich um. Er lächelte verhalten. Dann stand er auf und rieb mit den Händen über die Hosenbeine seines Overalls. Joe achtete auf Beulen und Ausbuchtungen, die auf eine versteckte Pistole hinwiesen. Er sah nichts dergleichen. »Reden Sie«, befahl Joe Crown senior. »Weshalb haben Sie die Arbeit niedergelegt?« Immer noch herausfordernd grinsend, sagte Benno: »Ich glaube, diese
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Frage können Sie sich sehr gut selbst beantworten, Mr. Crown. In den anderen Gewerben wird auch gestreikt, bei den Bäckern, zum Beispiel, und bei den Metzgern – alles gute Deutsche«, fügte er hinzu und genoß die Situation. Ein schmerzhafter Druck baute sich in Joes Kopf auf. Er hörte hinter sich Männer in den Biergarten kommen. Auf dem Dach der Brauerei erschienen Arbeiter, um zuzusehen. Er glaubte, zwischen ihnen Joe junior zu erkennen. Wenzel kostete es aus, sich den Staub abzuklopfen und seinen schäbigen Overall zu ordnen. Für einen Mann von seiner geringen Körpergröße war er geradezu tollkühn trotzig. »Wir machen Sie auf folgendes aufmerksam, Mr. Crown. Wir unterstützen die Eisenbahner, und wir werden jeden Tag die Arbeit eine Stunde lang niederlegen, bis King George Pullman kapituliert.« »Demnach ist das also eine Gewerkschaftsaktion?« Benno schüttelte den Kopf. »Die United Brewery Workmen, unsere Gewerkschaft der Brauereiarbeiter, hat damit nichts zu tun. Wir haben das unter uns besprochen und organisiert.« »Ihr habt euch organisiert? Das ist verdammte Anarchie«, sagte Joe und stellte sich fast auf die Zehenspitzen. Trotzdem war er immer noch kleiner als Benno, was ihm stets einen Nachteil verschaffte. »Geht an eure Arbeit zurück, oder eure Tage bei Crown sind gezählt.« Einige der Streikenden blickten plötzlich reichlich unbehaglich drein. Bennos Gesichtsausdruck wurde ernst. »Diesmal haben Drohungen keinen Sinn, Mr. Crown.« »Legen Sie sich doch nicht mit ihm an, Sir«, rief jemand. Sam Traub, der Mann von der Steuer- und Zollbehörde, stand mit Fred Schildkraut hinter Joe. »Rufen Sie die Polizei. Streiken ist ein Vergehen, das mit Gefängnis geahndet wird. So lautet die einstweilige Verfügung.« »Scheiß auf dich Streikbrecher«, sagte Benno. »Wir streiken gar nicht, wir ruhen uns nur aus.« Er setzte sich wieder. Der Brunnen plätscherte. Unbeteiligt blickte König Gambrinus zu den weißen Quellwolken, die sich im Osten sammelten. Benno schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Joes Gesicht war jetzt scharlachrot. »Es reicht mir mit Ihnen, Strauss. Ich habe Sie viel zu lange mitgeschleppt. Ihr habt den Bogen überspannt. Ihr seid alle auf der Stelle entlassen.« »Wenn Sie das wirklich wollen, dann schulden Sie uns noch den Lohn für –«
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»Ich schulde euch gar nichts. Macht, daß Ihr runterkommt von meinem Grund und Boden!« In diesem Moment kam eine Droschke aus der Stadt die North-LambertStraße herauf. Zwei Geschäftsleute stiegen aus. Während der eine den Kutscher bezahlte, beobachtete der andere den Ort der Konfrontation. Die Streikenden hatte sich auf beiden Seiten des Brunnens verteilt und versperrten den Eingang zum Biergarten. »Stefan?« sagte Joe Crown, ohne sich umzudrehen. »Hier bin ich, Sir.« »Rufen Sie das Polizeirevier an.« Am Tor sagte Mickelmeyer: »Ich habe keine Lust, so lange zu warten, bis die Polizei kommt.« Während Zwick in die Brauerei rannte, trat der Oberkellner vor und packte den nächsten Streikenden. »Mach Platz für unsere Gäste.« »Nimm deine verdammten Pfoten von ihm!« brüllte Benno. Der Mann, den Mickelmeyer festhielt, trat ihm gegen das Schienbein. Mickelmeyer versetzte ihm einen Schwinger, der ihn in den Brunnen fliegen ließ. Benno griff nach hinten unter sein Hemd. Eine blau-schwarze Pistole schimmerte im Sonnenschein. Eine Pistole mit einem schmutzigen weißen Stoffband um den Lauf… Joe stürzte sich auf die Pistole, indem er mit beiden Händen Bennos Handgelenk packte. Benno roch nach schalem Schweiß. Seine zusammengebissenen Zähne waren nur wenige Zentimeter von Joes Augen entfernt. Benno war so stark wie ein rasender Gorilla, aber auch Joe verfügte über erhebliche Kraft, verstärkt durch seine Hartnäckigkeit. Benno riß die Pistole erst nach rechts, dann nach links. Joe hielt fest, obgleich Benno ihm beinahe die Schultern auskugelte. Der Arbeiter im Brunnen kam hoch und spuckte Wasser. Traub stieß ihn zurück und drückte seinen Kopf unter Wasser, bis Mickelmeyer den Steueragenten wegzerrte. Die Geschäftsleute sprangen zurück in die Droschke und gaben dem Kutscher ein Zeichen, schnellstens loszufahren. Währenddessen versuchte Benno weiterhin, sich zu befreien. Als er es nicht schaffte, trat er mit seinen mit Stahlkappen verstärkten Arbeitsschuhen nach Joes Beinen. Joe stieß einen Fluch aus, stolperte nach hinten und stürzte zu Boden. Schweiß rann in Strömen über Bennos kahlen Schädel. Seine Nasenlöcher waren aufgebläht, die Augen hatten einen unmenschlichen, tierhaften Glanz. Er streckte seine Pistolenhand aus, zielte auf Joe, der vor der Ziegelmauer auf dem Erdboden saß. Joe blickte in die schwarze Mündung. Erinnerungen an Mississippi zuckten ihm blitzartig durch den
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Kopf… Benommen, atemlos kämpfte er sich auf die Füße. »Geben Sie her, Benno. Sie wollen doch wohl nicht auch noch einen Mord begehen, oder?« »Hm, hm, Mr. Crown, Sie bekommen die Kanone nicht. Und Sie sollten lieber stehenbleiben und nicht näher kommen, sonst, Gott verdammt noch mal, werde ich –« Er beendete den Satz nicht, denn Joe landete einen Schwinger in Bennos Magengrube, die so hart wie ein Waschbrett war. Benno schwankte und brüllte: »Verdammtes Schwein!« Fred Schildkraut tauchte mit einem großen Spundhammer auf, den er auf Bennos Pistolenhand niedersausen ließ. Die Waffe fiel platschend ins Brunnenbecken. Der Arbeiter namens Schultheiss kam Benno zu Hilfe. Mickelmeyer trieb ihn mit einem einzigen Schwinger zurück und legte ihn mit einem zweiten auf die Bretter des Gehsteigs. Wenzel und ein anderer Streikender stürzten sich auf Sam Traub und zerrten an seinem Rock. Joe fühlte sich wie berauscht und völlig außer Kontrolle. Er zielte mit einem weiteren Hieb auf Bennos Gesicht. Bennos Nase war nicht so zäh wie sein Bauch. Blut rann heraus und spritzte auf Joes schneeweißes Hemd. Indem er sich beide Hände unter das herabrinnende Blut und herabtropfenden Nasenschleim hielt, stieß Benno einen Strom von Flüchen gegen ihn aus, während die Männer auf dem Dach applaudierten und Hochrufe anstimmten; für welche Seite, ließ sich nicht feststellen. Sam Traub öffnete sein Taschenmesser und versuchte, einen anderen Streikenden damit zu erwischen. »Sam, hören Sie damit auf!« rief Joe. Ein scharfer Pfiff durchschnitt die Mittagshitze. O’Doul, der Streifenpolizist, der in der Gegend Streife ging, kam die Larrabee heruntergetrabt, so schnell seine Leibesfülle es ihm erlaubte. Obgleich schon fast sechzig, war O’Doul immer noch zäh und bei Zweikämpfen ziemlich wendig. Er wehrte zwei von den Streikenden mit Schlägen seines Hickoryknüppels ab. »Der Wagen kommt schon«, rief Sam Traub. Joe hörte das Getrappel der dahinjagenden Pferde bereits ein paar Straßen entfernt, dann das Geklingel der Glocke. Benno brauchte seine Kameraden nicht zu warnen. Sie rannten in beide Richtungen durch die Larrabee-Straße davon. Benno blieb noch für einen Moment zurück. Joe umklammerte den Rand des Brunnenbeckens und beugte sich mit gesenktem Kopf darüber. Sein zerzaustes Haar hing ihm in die verschwitzte Stirn. Sein Herz schlug viel zu schnell. »Crown!« Zorniger, als Joe ihn jemals erlebt hatte, drohte Benno ihm
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mit einem blutigen Finger. »Das ist noch nicht das Ende, du kapitalistischer Scheißkerl!« Er rannte nach Süden. Blutstropfen aus seiner Nase fielen auf den Gehsteig. Joe griff in das Becken, faßte nach der Pistole und schleuderte sie heraus. Die Waffe beschrieb einen Bogen und landete auf der Straße in einem Regen von glitzernden Wassertropfen. Falls Benno das noch sah, wagte er es doch nicht, zurückzukommen und seine Pistole zu holen. »Wer gehört zu diesem Eisen?« wollte O’Doul wissen. »Strauss«, sagte jemand. »Ich brauche die Pistole als Beweisstück.« O’Doul trat auf die Straße und steckte die Waffe in die Tasche. Joe strich sich die grauen Haare aus der Stirn, korrigierte den Sitz seiner Krawatte. Er beugte sich ein zweites Mal über den Rand des Brunnenbeckens, formte mit beiden Händen eine Schöpfkelle und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er lauschte dem fernen Glockengeläut und betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild. Er verabscheute den Mann, den er sah. Den Mann, der für diesen Ausbruch von Gewalt verantwortlich war. Benno Strauss war anarchistischer Abschaum. Und Joe hatte ihm gestattet, die Lage zu kontrollieren, bis eine Diskussion unmöglich, bis jede Ordnung zerstört war. Daß die Situation gewisse verzweifelte Maßnahmen erforderlich machte, änderte nichts an seinen Empfindungen. Er fühlte sich besiegt, geschlagen. Besiegt von Ereignissen, die anscheinend völlig außer Kontrolle geraten Eine Scheibe Pumpernickel mit Wurst und ein Krug kaltes Crown Lager an seinem Stammtisch unter der Linde beruhigten ihn ein wenig. Der Polizeiwagen nahm drei der fliehenden Streikenden mit. »Leider war Strauss nicht darunter«, meldete O’Doul. Joe bedankte sich bei O’Doul und versprach, er käme in Kürze im Revier vorbei, um Anzeige zu erstatten. Als der Streifenpolizist sich verabschiedet hatte, bat Joe Mickelmeyer, seinen Bürochef zu rufen. »Setzen Sie sich, Stefan.« Zwick ließ sich im Schatten der Linde auf einem Stuhl nieder. Ein leichter Wind strich durch das Laub und veränderte das Muster des Schattens auf seinem Gesicht. Sein Arbeitgeber räusperte sich. »Die Lage ist ziemlich unangenehm. Ich bin sicher, daß Benno und die anderen an Rache denken. Ich hoffe, ihnen ist klar, daß irgendwelche Aktionen ihnen nur weitere Schwierigkeiten bescheren werden. Aber darauf können wir uns nicht verlassen. Falls wir uns irren, müssen wir trotzdem vorbereitet sein. Lassen Sie sämtliche Türschlösser in der Brauerei
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auswechseln.« »Alle, Sir?« »Alle bis zum letzten.« Zwick machte sich eine Notiz auf einem kleinen Taschenblock, den er immer bei sich trug. Er stellte keine weiteren Fragen. Benno besaß einen ganzen Satz Schlüssel für die Verladerampe und für die Verbindungstüren in der Brauerei selbst und in den Kühl- und Lagerräumen. Joe Crown vertraute seinen Männern immer. Zwick klopfte mit dem Bleistift auf seinen Schreibblock. »Das müßten wir bis Freitag erledigt haben, Sir.« »Bis heute abend, sechs Uhr, Stefan. Bezahlen Sie, was immer verlangt wird. Aber lassen Sie es sofort machen. Sofort.« Zwei Wagen von Lorenz Brothers, dem Schlossereibetrieb, erschienen um halb zwei. Ein ganzes Regiment ungehobelter und lärmender Männer machte sich bei Crown breit, montierte neue Ketten, verteilte neue Vorhängeschlösser, installierte neue Schließriegel und probierte neue Schlüssel aus. Ein Teil der Leute hatte in der Nähe von Joes Büro zu tun. Im Laufe des Nachmittags trafen die gelben Rosen ein. Joe hatte schließlich seinen Brief an Ilsa doch noch fertig bekommen. Er war zu kurz und schlecht formuliert; die richtigen Worte wollten ihm einfach nicht einfallen. Nachdem Zwick die Blumen und den Brief von einem Gewerkschaftler hatte überbringen lassen, der auf seinem Arbeitsplatz geblieben war, rief Joe noch einmal seinen Bürochef zu sich. »Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Bestellen Sie George Hoch, er soll irgendeine Pistole kaufen. Sagen Sie ihm, die Firma bezahlt sie.« George Hoch war der Nachtwächter der Brauerei. Er versah seine Arbeit schon seit zwölf Jahren. Er war gründlich, hielt bei seinen Rundgängen stets die Augen offen, aber er war, wie Joe sich erinnerte, schon siebenundsechzig Jahre alt. In all den Jahren seiner Tätigkeit hatte George sich niemals mit einem Eindringling herumgeschlagen, der gefährlicher war als eine Ratte oder ein zu Streichen aufgelegter Jugendlicher. Falls es ernsthafte Schwierigkeiten geben sollte, so erkannte Joe, konnte und durfte er sich nicht ausschließlich auf George verlassen. Er würde eine Detektei wie Pinkerton engagieren müssen. Sie könnten einen jüngeren, erfahreneren Mann schicken, der den Betrieb des Nachts bewachte, und wenn nötig, sogar mehr als nur einen Mann. Kurz bevor die Tagesschicht zu Ende ging, bat Joe Stefan Zwick, seinen Sohn und seinen Neffen zu holen. Zehn Minuten später standen sie vor
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seinem Schreibtisch. Sie sahen beide erhitzt und müde aus und schienen sehr angespannt zu sein. »Mittlerweile weiß jeder, was heute morgen passiert ist. Es war ein unangenehmer Vorfall, aber es ist jetzt vorbei. Ich frage nicht nach eurer Meinung zu der ungesetzlichen Arbeitsniederlegung, denn die glaube ich mittlerweile zu kennen. Ich bitte euch nur um ein Versprechen. Ein Versprechen, daß ihr weder mit Ilsa noch mit Carl und Fritzi darüber redet. Sie brauchen deswegen nicht beunruhigt zu werden. Ich möchte sie möglichst unbehelligt lassen. Eigentlich sollte es euch nicht schwerfallen, mir in dieser Hinsicht entgegenzukommen.« Er wartete einen Moment, dann sah er seinen Neffen fragend an. »Paul?« »Ich verspreche es.« Joe ließ seinen Blick zu seinem Sohn weiterwandern. Seine Hand tastete nach dem Eberzahn an seiner Uhrkette. Seine Stimme bekam einen etwas schärferen Klang. »Joseph? Deine Antwort?« »Ich halte den Mund.« Dann platzte er heraus. »Aber nur wegen Mama.« »Mehr verlange ich nicht. Vielen Dank ihr beide. Ihr seid entlassen.« Sie gingen hinaus, ohne einander anzusehen. Als Paul die Tür hinter sich geschlossen hatte, stützte Joe die Ellbogen auf den Schreibtisch, legte den Kopf in die Hände und dachte: Was kommt als nächstes?
49 JOE JUNIOR Während sie nach der Arbeit zur Uhlich-Halle wanderten, sagte Joe junior: »Ich wünschte, die ganze verdammte Brauerei hätte gestreikt. Ich hatte keine Ahnung, was da ablief. Ich war nämlich im dritten Stock und habe ein neues Fenster eingesetzt.« Paul zuckte die Achseln. »Mir hat auch niemand etwas gesagt. Ich nehme an, Benno weiß gar nicht, daß ich auf der Seite der Streikenden stehe.« Joe holte seine Hälfte des blutbefleckten Stoffbandes aus seiner Hemdtasche und knotete es in ein Knopfloch. Paul befestigte sein Band mit einer Sicherheitsnadel. Ein Polizist, an dem sie vorbeigingen, musterte sie mit finsterer Miene. »Wir sollten eigentlich den Mut haben, die Dinger den ganzen Tag zu tragen, Paul.« »Ich weiß. Aber Mr. Schildkraut würde sie uns abnehmen und uns melden. Wir müssen immer noch im Haus deines Vaters leben. Ich fühl’
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mich auch nicht besonders wohl dabei, aber so ist es nun mal.« Joe schwieg längere Zeit. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so bedrückt gewesen zu sein. Der Streik war nicht der einzige Grund. Er vermißte Rosie. Sie so zu verlieren, wie es ihm passiert war, hatte bei ihm ein Gefühl des Schmerzes und der Niederlage hinterlassen. Am Sonntag nach Tabors Tod hatte er sich entschlossen, der Familie einen Beileidsbesuch abzustatten. Er hatte sich seelisch darauf vorbereitet. Er stand an der Haltestelle der Pferdebahn, als ihm bewußt wurde, daß er nur nach Pullman hinausfuhr, weil er hoffte, Rosie wiederzusehen und von ihr zu hören, daß sie die ausgesprochene Trennung von ihm nicht ernst gemeint habe. Aber sie war ernst gemeint, und das wußte er auch. Der Wagen der Bahn war noch eine Straße weit entfernt. Die Glocke ertönte zweimal. Der Fahrer hatte ihn an der Ecke warten sehen. Joe machte abrupt kehrt und ging davon. Den Rest des Nachmittags verbrachte er am Seeufer. Aber auch der ausgedehnte Spaziergang, bei dem er von einem vom See landeinwärts wehenden Wind kräftig durchgepustet wurde, besserte seine Laune nicht… Ein Holztransporter mit knarrenden Achsen und Rädern fuhr vorbei, danach eine klappernde Kutsche. Joe junior sagte zu Paul: »Weißt du, Pa hat heute alles noch schlimmer gemacht. Es sollte eigentlich nur eine kurze Arbeitsunterbrechung von höchstens einer Stunde sein. Um Solidarität zu beweisen. Er hat diese harmlose Geste zu einem regelrechten Kampf mit allen Mitteln aufgebauscht.« »Meinst du, Benno rächt sich?« »Wenn ja, dann dürfte es eine richtige Schweinerei werden, das kannst du mir glauben.« Er befürchtete, daß es während der nächsten Tage oder Wochen geschehen würde. Die Ereignisse trieben irgendeiner grundlegenden, noch nicht einschätzbaren Lösung entgegen. Wie schon mehrmals seit jenem Samstag sah er vor seinem geistigen Auge das Bild, wie Tabor Jablonec blutend zusammengebrochen war. Er hatte noch nie zuvor einen Menschen sterben gesehen. Es war entsetzlich. Auf keinen Fall wollte er noch einen weiteren Menschen sterben sehen. Er hoffte inständig, daß Benno sich nicht zu irgendeiner Aktion hinreißen ließe. Und daß er jene schicksalhafte Frage nicht stellen mochte. Kann ich auf dich zählen? In der Uhlich-Halle sprach Debs zu den Reportern über die Gewalt: »Ich habe meine Position bisher nicht geändert und werde es auch niemals tun.
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Jemand, der Gewalt ausübt, ganz gleich in welcher Form und ob er nun ein Mitglied unserer Bruderschaft ist oder nicht, sollte sofort verhaftet und bestraft werden. Wir werden die ersten sein, die eine solche Maßnahme begrüßen. Wir müssen uns wie gesetzestreue Bürger verhalten und nicht anders.« Müde nickte er in die Runde, begab sich mit schweren Schritten zum Konferenzzimmer und schloß die Tür hinter sich. Hinter der Milchglasscheibe der Tür waren die Schattenrisse mehrerer Männer zu sehen, die auf und ab gingen. Joe und sein Vetter hörten erregtes Stimmengewirr. In der Nähe sagte ein Reporter murmelnd zu einem seiner Kollegen: »Er ist wohl am Ende. Der Streik dürfte gescheitert sein. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.« Enttäuscht verließen die Vettern den Ort des Geschehens. Die Lage der Streikenden schien sich immer mehr zu verschlechtern. Der Exekutivausschuß der A.F. of L. weigerte sich, seine Solidarität mit »Diktator Debs« zu demonstrieren. Weitere Bierbrauer und Bäcker legten aus Loyalität die Arbeit nieder, danach noch ein paar Zigarrenarbeiter, aber zahlreiche Verhaftungen von Streikenden wegen angeblich krimineller Handlungen schwächten den Widerstand entscheidend. Die in Chicago umgeschlagene Frachtmenge nahm täglich zu. In der Uhlich-Halle wurde eingebrochen, Schreibtische wurden geleert und schriftliche Unterlagen gestohlen. Gene Debs und drei andere Gewerkschaftsvertreter wurden auf der Grundlage von Verfügungen eines großen Sonderausschusses Geschworener sofort verhaftet. Joe juniors Vater, Fred Schildkraut, Sam Traub und andere aus dem gleichen Lager reagierten erfreut. Gegen Feierabend am Donnerstag nach Tabors Tod ging Joe junior an seinen Spind, um seine Mütze zu holen. Er wollte an diesem Abend nicht auf Paul warten. Am Mittag hatte sein Vetter ihm mitgeteilt, er müsse noch länger im Kesselhaus arbeiten, weil gegen acht Uhr eine neue Partie Bier fertig sei. Joe war es eigentlich gleichgültig. Er hatte sowieso nicht mehr viel Lust, in der Uhlich-Halle vorbeizuschauen. Während er seine Spindtür zudrückte, entdeckte er einen weißen Zettel, der ganz hinten im oberen Fach lag. Er war zusammengefaltet und enthielt eine Nachricht. Joes Nackenhaare stellten sich knisternd auf. Er wartete, bis zwei ältere Männer den Raum verlassen hatten, dann faltete er den Zettel auseinander. Lake Str. Brücke 5:30, dringend
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Er hatte die große, geschwungene Handschrift noch nie zuvor gesehen. Aber er wußte, wem sie gehörte. Er schlug die Spindtür zu und rannte hinaus. Er hatte schreckliche Angst. An der Lake-Straße lehnte er am Geländer der Brücke, die den nördlichen Arm des Chicago-Flusses überspannte. Der Gestank von Abfall und Fäkalien stieg vom Wasser auf. An verschiedenen Stellen lagen Schiffe und bildeten Wälder von Segelmasten; Kähne ankerten an den Piers von Sägewerken und Lagerhäusern. Ein Kohlenfrachter glitt unter der Brücke hindurch und ließ ein lautes Pfeifen ertönen. Silbergraue Wolken zogen an der Sonne vorbei, verhüllten sie und gaben sie dann wieder frei, so daß sie als grellweiße Scheibe am Himmel stand. Immer wenn die Wolken sich verflüchtigten, leuchteten auf dem Wasser die Regenbogenfarben vereinzelter Öllachen auf. Die Turmuhr der katholischen Kirche Sankt Meinrad in der Nähe schlug sechs Uhr. Joe junior entschied, daß er noch zehn Minuten warten würde. Er betrachtete den schmutzigen Fluß und sah einen Hundekadaver vorbeitreiben, der eine Blutspur so schwarz wie Öl hinter sich herzog. »Dreh dich nicht um. Nenn meinen Namen nicht. Sag nichts!« Aus dem Augenwinkel sah er Bennos Profil und einen zerbeulten Strohhut, der seinen kahlen Schädel vor Regen schützte. Benno stützte die Ellbogen auf das Geländer wie ein Freund, der zu einem Schwätzchen stehengeblieben war. Er wirkte hager und ausgezehrt. Gelbliche Tränensäcke hatten sich unter seinen leicht geschlitzten Augen gebildet. »Sie haben die verdammten Schlösser in der Brauerei ausgetauscht.« »Ich weiß.« Ein Trupp der Nationalgarde marschierte an ihnen vorbei. Die Gesichter der Männer waren gerötet, sie schwitzten heftig in ihren dunkelblauen Uniformen. Der Feldwebel gab mit lauter Stimme den Marschrhythmus vor. Benno redete leise und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Es ist an der Zeit, daß du ein genauso guter Soldat wirst wie diese Jungs. Du kannst dich jetzt aktiv für unser Anliegen einsetzen.« Joes Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet. »Was soll ich tun?« »Na, etwas ganz Einfaches. Such morgen einen ganz bestimmten Schlüssel. Nimm ihn nach Feierabend mit nach draußen. Wenn es dunkel ist, aber noch vor zehn Uhr, schließ die Tür des Flaschenabfüllhauses auf. Laß sie offen. Mehr nicht.« »Was hast du vor?« »Ich werde deinem Papa zeigen, daß er ehrliche Arbeiter nicht einfach rauswerfen kann, nur weil sie Solidarität mit der Gewerkschaft bekunden.«
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»Du willst es ihm zeigen? Wie denn?« Benno schlug mit der Faust auf das Geländer. »Wir kämpfen für unsere Sache. Ich sagte, wir würden ein Zeichen setzen, und niemand hat mir geglaubt. Du auch nicht.« Er erinnerte sich an die Dünen in Indiana, an das Dynamit, mit dem die Baracke in die Luft gesprengt worden war. Er zitterte innerlich, aber er mußte es sagen. »Ich helfe nicht, wenn es bedeutet, daß jemand verletzt wird. Ich will nicht daran beteiligt sein, wenn jemand ermordet wird. Wenn du vorhast, irgendwo eine Bombe zu verstecken, wo Männer arbeiten, dann werde ich ganz bestimmt nicht –« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn wir schlagen zu, wo niemand zu Schaden kommt, sondern wo nur eine Menge Gerät zerstört wird. Wir haben uns das Flaschenhaus ausgesucht – die Rohrleitungen zum Kesselhaus – abends, wenn der Betrieb geschlossen ist. Das wird deinen alten Herrn eine Menge Geld kosten, aber keine Menschenleben. Das will ich auch nicht. Meinst du, ich möchte, daß die Soldaten und die Polizei hinter mir herlaufen und ich am Galgen ende? Vielen Dank, kann lieh da nur sagen.« Joe mußte diese Nachricht erst verdauen. Es war schlimm, aber nicht so schlimm, wie er anfangs befürchtet hatte. »Kannst du mir versprechen, daß du nichts im Kesselhaus veranstaltest?« Im Kesselhaus wurde nämlich auch nachts gearbeitet. »Klar, Joey. Ich schwöre es bei Gott.« Benno hob die rechte Hand. »Und wie wollt ihr es machen?« »Überlaß das mir. Erst mal müssen wir uns vergewissern, daß der alte George Hoch seine Runde macht und gerade woanders ist.« Er wartete einen Moment. »Was meinst du, Joey?« Er hatte Magenschmerzen. »Ich sage ehrlich, es ist hart. Was du verlangst, ist schwierig. Immerhin ist die Brauerei noch immer das Eigentum meines Vaters.« »Eigentum.« Benno spuckte über das Geländer in den Fluß. »So ein Scheiß! Eigentum ist der Fluch der Welt.« »Schon möglich, aber er hat sein ganzes Leben lang für den Betrieb gearbeitet.« Bennos Stimme bekam einen drohenden Unterton. »Willst du damit sagen, daß du uns nicht helfen willst? Himmel Herrgott, wie die Zeiten sich doch ändern. Du hast mal gesagt, du stündest auf unserer Seite. Und nicht nur einmal. Ständig hast du das wiederholt. Was bist du, ein Lügner? Ein Schaumschläger? Ich habe dich für einen Mann gehalten, der für sich selbst denkt. Nein. Du bist ein Baby!«
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»Verdammt, Benno, sag das nicht.« »Wie soll ich das denn sonst verstehen, Joey?« erwiderte Benno mit spöttischem Grinsen. »Hast du nun Mumm in den Knochen, oder war das alles nur leeres Gerede?« Joe junior biß sich auf die Fingerknöchel. Er sah die ernsten Augen seines Vaters vor sich. Er sah auch Rosie in ihrer befleckten Bluse – befleckt mit dem Blut ihres Vaters. Eine Demonstration für die Sache. Er hatte die Bücher gelesen, hatte sich davon überzeugt, daß es der beste Weg war, um sich gegen ein verdorbenes und ungerechtes System aufzulehnen, oder etwa nicht? Er durfte nicht zulassen, daß sentimentale Gedanken an seine Familie ihn davon abhielten, ihn lähmten. Er mußte sich die Bedeutung der geplanten Aktion vor Augen halten, mußte daran denken, daß sein Vater und mit ihm seine kapitalistischen Freunde aufgerüttelt wurden … Er könnte sich daran beteiligen, ohne daß jemand zu Schaden käme. »Joey?« »In Ordnung, ja.« Benno lachte. »Gut. Ich wußte doch, daß wir uns auf dich verlassen können.« »Freu dich nicht zu früh! Ich muß mir erst einmal überlegen, wie ich es am besten mache.« »Sicher, Joey, laß dir ruhig Zeit.« Joe beobachtete, wie der Kadaver eines Schweins vorbeitrieb und sich inmitten einer Garnitur Melonenschalen langsam drehte. Er massierte seine Hände. »Mr. Schildkraut hat an einem Brett an seiner Bürowand einen Satz Reserveschlüssel hängen. Jeden Schlüssel an einem eigenen Haken. Sein Büro ist niemals abgesperrt. Ich könnte den Schlüssel holen, wenn er zum Mittagessen in der Bierstube ist. Er verschwindet jeden Tag um Punkt zwölf dorthin. Man könnte glatt die Uhr danach stellen.« »Laß dich nur nicht erwischen.« »Meinst du, ich will im Gefängnis landen? Genausowenig wie du.« Er wurde ruhiger, dachte nach, rechtfertigte sich vor sich selbst. »Keine Sorge. Bis zehn Uhr ist die Tür offen.« Benno legte einen Arm um Joes Schultern. »Du hast trotz allem das Zeug zum Gewerkschaftler.« Joe schlich sich ins Haus und klagte über Bauchschmerzen, damit er mit niemandem mehr reden mußte. Er brauchte auch nicht am Abendessen teilzunehmen und umging somit das Risiko, daß man ihm sein schlechtes Gewissen anmerkte.
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Er wußte, daß er in dieser Nacht kein Auge zutun würde, und so war es auch. Wach in seinem Bett liegend, sah er ständig seine Mutter vor sich. Es mußte getan werden. Manchmal mußten Männer einen drastischen, sogar mitunter gefährlichen Standpunkt einnehmen. Er betete zu Gott, daß seine Mutter ihn verstehen und ihm verzeihen möge, wenn sie jemals etwas davon erfahren sollte. Die Nacht war schwül und still. Als er den Schlüssel ins Schloß schob, zitterte seine Hand. Der Schweiß machte den Schlüssel schlüpfrig. Er fiel hin und landete in der Gasse mit einem Klirren, das laut genug war, um auf dem Mond gehört zu werden. Joe junior schickte wachsame Blicke durch die Gasse, die parallel zur Larrabee-Straße verlief und das Flaschenabfüllgebäude und den Hauptteil der Brauerei, wo noch vereinzelt Licht brannte, voneinander trennte. Auf der Vorderseite des zweiten Stocks bewegte sich ein Schatten zwischen Fenster und Lampe. Es war Mr. Schildkraut, der wieder einmal länger arbeitete. An der Stelle, wo Joe sich mit dem Schlüssel versteckt hatte, gab es überhaupt kein Licht. Weil er die tägliche Routine seines Vaters und Fred Schildkrauts sowie der anderen Männer in der Verwaltung kannte, war es nicht schwierig gewesen, den Schlüssel zu entwenden, während Schildkraut im Garten der Bierstube zu Mittag aß. Er hatte ein Braubuch bei sich, als habe er im Bürogebäude etwas Dienstliches zu erledigen. Stefan Zwick erschien in der Halle und lief ihm nur wenige Sekunden, nachdem er mit dem Schlüssel aus Schildkrauts Büro herausgekommen war, über den Weg. Joe grüßte Zwick, schwenkte zur Erklärung sein Braubuch und eilte die Treppe hinauf. An der Tür zur Flaschenabfüllabteilung lauschte er. Alles war still. Der alte George Hoch, der Nachtwächter, war vor zwanzig Minuten durch diesen Teil der Brauerei gegangen. Er würde erst auf seiner nächsten Runde, also gegen elf, wieder hier vorbeikommen. Als George durch die Gasse geschlurft kam, um die hinteren Gebäude zu inspizieren, versteckte Joe junior sich hinter einigen Strohballen im Wagenhof am südwestlichen Rand des Geländes hinter dem Flaschenabfüllhaus. Dort fand er einen Einspänner. Das Pferd trug einen Futtersack um den Hals. Wagen und Pferd gehörten Schildkraut. Das Tier wieherte leise, als er hinter die Strohballen kroch. Sekunden später schaute der Nachtwächter in den Hof. Joe ergriff den gestohlenen Schlüssel in seiner Tasche und umklammerte ihn derart krampfhaft, daß er sich tief in seine Handfläche grub. Der alte George verließ den Hof und schlenderte weiter, wobei er eine
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Melodie vor sich hin summte … Joe junior faßte den Schlüssel ein wenig fester und schob ihn ins Schlüsselloch. Für eine angstvolle Sekunde glaubte er schon, er ließe sich nicht drehen. Dann, mit einem Klicken, rutschte der Riegel zurück, und die Tür war offen. Erheblich mutiger schlich er um die Ecke und an der nördlichen Mauer des Gebäudes entlang, bis er sich fast auf der Rückseite befand. Dort setzte er sich auf den Boden, um zu warten. Er lehnte den Kopf gegen die Klinkersteine und schloß die Augen. Nun war es endgültig zu spät, um sich alles noch einmal zu überlegen und gar einen Rückzieher zu machen. Ein menschliches Bedürfnis machte sich bemerkbar. Joe versuchte, nicht daran zu denken. Aufgeschreckt hob er den Kopf. Jemand hatte gezischt oder etwas geflüstert. Er nahm sich zusammen. Vor den Lichtern im Bürogebäude bemerkte er die Silhouetten zweier Männer in der Gasse. Er erkannte die Rundung von Bennos kahlem Schädel. Den anderen Mann kannte er nicht. Er machte sich mit einem halblauten Ruf bemerkbar. »Alles klar!« Benno und der zweite Mann verschwanden im Flaschenhaus. Was benutzten sie? Dynamit? Eine Höllenmaschine? Wie lange würde es dauern, sie zu verstecken? Sollte er dableiben und warten? Irgendwie hatte er das Gefühl, er müßte es. Der Druck in seiner Blase verstärkte sich. Er hielt ihm so lange stand wie möglich, dann stützte er sich mit der linken Hand gegen die Mauer und knöpfte seinen Hosenschlitz auf. Der Strahl rauschte wie ein Wasserfall. Durch das schmutzige Fenster links von ihm war ein schwacher Lichtschein in der Flaschenabfüllabteilung zu erkennen. Wahrscheinlich hatten sie eine Kerze angezündet, um sich zurechtzufinden. Dann hörte er etwas, das ihn in Panik geraten ließ. Schritte auf der Zufahrt durch die Gasse. Diesmal sah er die Silhouette eines Mannes mit einem sommerlichen Strohhut auf dem Kopf und einem Spazierstock. Der Mann pfiff Daisy Belle, das Fahrradlied. Schildkraut, der nach Hause ging. Würde er das rötliche Licht hinter dem Fenster bemerken? Joe junior hätte sich am liebsten vor das Fenster geworfen, um es mit seinem Körper zu verdecken … Offenbar stimmte der Blickwinkel nicht, denn Schildkraut bemerkte nichts. Er verschwand hinter dem Flaschenhaus, ging durch die Gasse zum Hof und pfiff weiterhin sein Lied. Joe legte seine Stirn gegen die Ziegelmauer. Wenn das aktive Eintreten für die Anarchie so aussah, dann war es ein ziemlich beängstigendes Unterfangen.
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Er hielt die Luft an. Die Schritte verhallten. Starr vor Schreck beobachtete er die Gebäudeecke. Schildkraut erschien wieder. Vielleicht hatten seine Sinne ihm verspätet gemeldet, daß irgend etwas nicht stimmte. Schildkraut blickte in beide Richtungen und wieder zum Bürogebäude. Immer noch in der Gasse deutlich zu sehen, hob er seinen Spazierstock. Stieß damit gegen die Tür zum Flaschenabfüllhaus. Sie schwang auf, die Angeln quietschten. Schildkraut machte einen schnellen Schritt vorwärts, verschwand. Der Kerzenschein erlosch. »Wer ist da?« rief Schildkraut. »Kommen Sie raus! Zeigen Sie sich!« Joe junior rannte zur Ecke, von der aus man in die Gasse blicken konnte. Im Gebäude hörte er eilige Laufschritte und erneut Schildkrauts Rufe. Dann ertönten Kampfgeräusche und eine angespannte Stimme, die er nicht kannte. »Benno – die Zündschnur!« Joe erreichte die Tür zum Flaschenhaus. Ein ohrenbetäubender Donner ertönte, und eine Feuerwand schleuderte ihn rückwärts in die Gasse. Ein Ziegelstein traf seine Stirn, und um ihn herum wurde alles schwarz. Feuerschein und Qualm. Schreie und Kreischen. Er schlug die Augen auf. Das Flaschenabfüllhaus war eine Ruine. Der größte Teil der nördlichen und der östlichen Mauern war eingestürzt. Lodernde Flammen vernichteten das Fließband und die Kronkorken-Anlage. Beides sah aus wie ein überdimensionales Knäuel Spaghetti. Ein schwerer Balken lag auf seinen Unterschenkeln. Er war fast bis zum Hals von einem Haufen Ziegelsteinen und Mörtel begraben. Männer rannten zwischen Joe und dem Feuer hin und her. Sie wußten nicht, daß er unter den Trümmern lag. Ein leicht gebeugter Mann erschien vor den lodernden Flammen. Er fuchtelte mit einer silbern glänzenden Pistole herum. Es war der alte George, der Nachtwächter. »Sie waren alle da drin. Sie sind tot. Mr. Schildkraut, Strauss, irgendein anderer Mann. Alle tot. O mein Gott, mein Gott, Jesus Christus!«
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50 PAUL An diesem Freitagabend ging Paul, da er ziemlich müde war, schon bald nach dem Abendessen zu Bett. Vetter Joe war nicht zum Essen erschienen. Niemand schien zu wissen, wo er sich befand, und Onkel Joe war darüber verärgert. Paul warf sich eine Zeitlang unruhig im Bett hin und her und dachte an Julie. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen und ihr von seinem unglaublichen Glück zu erzählen, daß er Mr. Rooney wiedergefunden hatte. Er döste ein und hatte vielleicht eine halbe Stunde geschlafen, als er davon geweckt wurde, daß ein schweres Gewicht in der Dunkelheit auf sein Bett krachte. »Carl! Was zum Teufel soll das heißen?« »Etwas Schlimmes ist passiert. Papa hat vor einer Weile das Haus verlassen, und Mama ist wach und sehr aufgeregt. Sie will nichts weiter verraten, als daß Papa einen Anruf aus der Brauerei erhielt. Was bedeutet das?« »Wie soll ich das wissen? Ich habe geschlafen. Frag deinen Bruder.« »Er ist immer noch nicht zu Hause.« »So spät?« »Hm-hm. Paul, ich habe Angst.« Carl Crown wurde im November zwölf Jahre alt. Rein körperlich war er stark wie ein junger Ochse, aber in dieser Nacht hatte seine Stimme einen dünnen, hohen Klang wie die eines Jungen, der höchstens halb so alt war wie er. »Bestimmt gibt es dafür eine Erklärung. Sicher nichts Schlimmes. Geh lieber zurück ins Bett.« »Darf ich nicht für eine Weile hierbleiben? Die Dunkelheit macht mir nichts aus. Ich bin auch ganz still.« »Natürlich, wenn du dich dann besser fühlst.« Carl setzte sich in einen Sessel in der Ecke, der bei jeder Bewegung knarrte. Paul konnte nicht mehr einschlafen. Gegen Mitternacht brach unten im Parterre große Hektik aus. Stimmengewirr, schwere Schritte. Paul und sein junger Vetter eilten hinaus auf den Flur und sahen Leute die Treppe heraufrennen. Zuerst Nicky Speers, auf dessen Armen Vetter Joe reglos lag und Paul an den toten Christus erinnerte, den er einmal auf dem Bild einer katholischen Pieta gesehen hatte. Vetter Joes Gesicht war blutig, und grauer Staub klebte auf seiner Haut, in seinem Haar und seinen Kleidern. Sein linker Schuh war in
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einem grotesken Winkel verdreht. Nicky rannte vorbei, gefolgt von Onkel Joe. Der gleiche graue Staub bedeckte seinen eleganten schwarzen Anzug. Er sah Paul und Carl nicht einmal an. Tante Ilsa kam als nächste. Sie trug ihren Morgenmantel. »Tante Ilsa, was ist passiert?« »Ein schrecklicher Unfall in der Brauerei. Irgendeine Höllenmaschine im Flaschenabfüllhaus. Drei Männer wurden getötet, und Joey ist verletzt. Wie schlimm, wissen wir noch nicht. Bitte, geht jetzt beide wieder zu Bett.« Sie lief weiter. Paul und Carl starrten einander entsetzt an. Die Tür von Vetter Joes Zimmer schloß sich. Für den größten Teil der Nacht war das Haus in Aufruhr. Fremde erschienen. Der erste war Dr. Plattweiler mit seiner Arzttasche. Er trug einen eleganten Frack, aber keine Krawatte. Er stolperte die Treppe hinauf. Als der Arzt sich verabschiedet hatte, schlich Fritzi in Vetter Joes Zimmer. Ihre Mutter schickte sie gleich wieder hinaus. Sie und Paul und Carl flüsterten im Flur miteinander. Ja, Vetter Joe ginge es einigermaßen. Er habe sich nur den Fuß verstaucht und ein paar Kratzer und Beulen abbekommen. »Aber ich habe Papa noch nie so wütend gesehen. Was hat Joey getan?« Niemand kannte die Antwort. Zwei Polizeibeamte in Zivilkleidung und mit Filzhüten auf dem Kopf erschienen gegen halb eins. Onkel Joe erwartete sie in seinem Arbeitszimmer. Sie verließen das Haus um zwei, aber fünfzehn Minuten später klingelte ein Reporter von der Tribune. Als Manfred, bekleidet mit Nachthemd und Morgenmantel, die Tür öffnete, konnte der Reporter sich an ihm vorbei und in die Vorhalle schlängeln. Onkel Joe kam aus seinem Arbeitszimmer herausgestürmt und drängte den Reporter unter heftigen Flüchen zur Tür hinaus. Paul, Carl und Fritzi verfolgten das Geschehen vom Treppenabsatz im ersten Stock aus und waren völlig verwirrt. »Was auch passiert ist«, sagte Paul, »es muß etwas ganz Furchtbares sein.« Er war schon um halb sechs auf den Beinen, um sich eine Tasse Tee aufzubrühen. Gähnend kam Louise Volzenheim aus der Küche. »Ich hab’ kein Mittagsbrot eingepackt. Du gehst heute nicht zur Arbeit. Mr. Crown legt für heute den Betrieb bis auf einige wichtige Bereiche still.« Paul sank auf einen Hocker. Manfred kam herein und band sich seinen Satinmorgenmantel zu. Paul sah die Köchin an, dann den Hausdiener. »Kann mir jemand vielleicht mal verraten, was geschehen ist?«
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Louise wandte den Blick ab. Dafür ergriff Manfred das Wort. »Ich habe keine Hemmungen, es auszusprechen. Ein Gebäude ist in die Luft geflogen. Zwei Anarchisten sind dabei draufgegangen. Einer war dieser üble Bursche namens Strauss. Ein weiteres Opfer war Mr. Crowns Braumeister. Master Joe hat den Bombenlegern das Gebäude aufgeschlossen, jedenfalls hat Dr. Plattweiler etwas Derartiges verlauten lassen, ehe er uns verließ. Ich habe keine Ahnung, ob er es allein getan hat oder zusammen mit einigen seiner radikalen Freunde.« Er richtete einen anklagenden Blick auf Paul. Gegen sieben Uhr bereitete Louise ein Frühstückstablett für Vetter Joe vor. Tante Ilsa, immer noch mit Nachthemd und Morgenmantel bekleidet, bat Paul, es ihm zu bringen. Seine Tante bewegte sich und redete, als wäre sie halb benommen. Er hatte sie noch nie so traurig und niedergeschlagen gesehen. Er stieg mit dem Tablett die Treppe hinauf. Silberdeckel hielten die Würstchen und das Brot warm. Aus einer weißen Porzellankanne stieg Dampf und würziger Kaffeeduft hoch. Die wenigen Lampen, die im ersten Stock brannten, warfen Flecken weichen Lichts auf den Teppich. Nach der Unruhe während der Nacht hatte sich eine bedrückende Stille auf das Haus herabgesenkt. Er blieb vor dem Zimmer seines Vetters stehen. Onkel Joes laute Stimme drang heraus. »Ich werde meinen eigenen Sohn nicht anzeigen und lasse die ganze verdammte Geschichte im Gericht und von der Presse nicht breittreten. Aber vertu dich nicht! Ich mache dich für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich. Und für Fred Schildkrauts Tod.« »Pa, ich hab’ nur die Tür aufgeschlossen. Mr. Schildkraut kam im falschen Moment vorbei.« »Ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß du die Schuld so leicht von dir abwälzt!« Paul näherte sich der Tür und achtete darauf, daß das Besteck auf dem Tablett nicht klirrte. »Benno hatte mir versprochen, niemand käme zu Schaden. Er sagte, er wolle nur ein paar Maschinen demolieren. Das ist bei Gott die ganze Wahrheit …« Vetter Joes Stimme besaß keinerlei Überzeugungskraft und versiegte schließlich. »Und du hast Benno geglaubt? Du hast dich auf einen gesetzlosen, verlogenen roten Anarchisten verlassen? Lieber Gott, steh uns bei! Ich habe schon viel von diesen roten Trotteln gelesen, aber ich hätte niemals
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geglaubt, daß ich so einen in der eigenen Familie habe. Wie konntest du dich nur so verführen lassen? Dieses dreckige, verbrecherische Pack hat dich ja völlig vergiftet!« »Ich wollte nicht, daß Menschen sterben!« »Aber es ist passiert, du kannst sie nicht mehr zurückholen, und du kannst deiner Schuld nicht entfliehen. Du mußt für immer damit leben. Möge Gott dir verzeihen! Ich kann es nicht!« Paul atmete zischend aus, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Onkel Joe stürmte heraus. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und zwei Westenknöpfe steckten in den falschen Knopflöchern. Paul hatte ihn noch sie so durcheinander und außer sich erlebt. Onkel Joe brüllte ihn an. »Hast du gelauscht?« »Sir, ich wurde gebeten, dieses Tablett für –« »Gib schon her!« »Sir, Joe ist mein Freund. Ich würde gerne mit ihm reden –« »Ich sagte, gib schon her!« Sein Onkel brüllte wie ein wildes Tier. Er packte das Tablett. Paul ließ los, aber Onkel Joe hatte es nicht richtig gefaßt. Mit einem lauten Krach flogen die Schüsseln und Teller mitsamt Inhalt und Tablett gegen die Wand. Aus der zerbrochenen Kanne lief der Kaffee auf den Teppich. Onkel Joe zog die Tür hinter sich zu. »Bleib ja draußen, das rate ich dir. Nach dem, was er getan hat, darf er von nichts und niemandem besucht oder sonstwie zerstreut und unterhalten werden.« Er stürmte die Treppe hinunter. »Manfred! Helga! Wo seid ihr?« In seinem Zimmer kam Paul zu dem Entschluß, seinen Vetter zu besuchen, ganz gleich was sein Onkel davon hielt. Er wartete eine Stunde, vergewisserte sich, daß die Luft im ersten Stock rein war und alle sich unten aufhielten, und huschte dann zur Tür von Joes Zimmer. Nach einem kurzen, leisen Klopfen schlüpfte er hinein. »Geht es dir gut?« »Es sind keine Knochen gebrochen. Ich schaffe es schon. Aber Pa hat mir nicht geglaubt, daß Benno versprochen hat, niemanden zu verletzen.« »Ich glaube dir.« »Dann bist du der einzige.« Zu Pauls Verwunderung standen Tränen in den Augen seines Vetters. »Geh lieber raus«, flüsterte Joe junior. »Es ist nicht nötig, daß wir am Ende alle beide geteert und gefedert werden.« Weitere schockierende Ereignisse folgten. Am späten Nachmittag fand Paul eine Nachricht unter dem Briefkastenstein am Haus der Vanderhoffs. Julie
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könne ihn am darauffolgenden Nachmittag nicht treffen. Keine weitere Erklärung. Vielleicht wieder eine Krankheit? Oder eines dieser ewigen Frauenleiden? Julie hatte einmal angedeutet, daß sie sich, wenn dieses Leiden sich einstellte, für ein oder zwei Tage ins Bett legen müsse, wie es bei den Frauen nun mal üblich sei. Daß er sie nicht sehen würde, bedrückte ihn nur noch mehr. Desgleichen die Stimmung im Haus der Crowns, als er wieder heimkam. Dort hatte sich alles völlig verändert. Es herrschte eine Stimmung wie in der Aufbahrungshalle eines Begräbnisunternehmens. Ein großer schwarzer Kranz mit einer üppigen schwarzen Seidenschleife hing an der Haustür. Schwarze Stoffstreifen bedeckten die oberen Leisten von Bilderrahmen und Spiegeln überall im Parterre. Das Abendessen war ein schreckliches Ritual. Niemand hatte Appetit auf das, was Louise gekocht hatte. Tante Ilsa hatte rotgeweinte Augen. Onkel Joe trug ein schwarzes Stoffband an seinem Hemdsärmel. Carl und Fritzi trugen ebenfalls ein Band. Onkel Joe wandte sich in scharfem Ton an Paul. »Du bindest dir wie jeder andere auch so ein Band um den Arm. Hol dir eins von Manfred. Dieses Haus trauert um Friedrich Schildkraut. Für den Abschaum, der für seine Ermordung verantwortlich ist, haben wir keinerlei Gefühle übrig.« Ilsa knetete ihre Serviette, als sie sich an ihren Mann wandte. »Darf Joe zum Essen herunterkommen?« »Das darf er nicht. Schick ihm das Essen hinauf! Er soll so lange in seinem Zimmer bleiben, bis ihm voll und ganz klar ist, was er getan hat. Hier wurden nicht nur Sachwerte für mehrere tausend Dollars zerstört, sondern das Leben von Menschen. Er ist – wie heißt es vor Gericht? Ein Tatbeteiligter. Ein Mittäter.« »O gütiger Himmel –« Tante Ilsa stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Joe, das kann nicht dein Ernst sein. Man darf ihn nicht einsperren wie ein Tier.« »Warum nicht? Er hat sich wie ein Tier benommen, dann soll er genauso leiden. Den Verlust eines feinen und aufrichtigen Menschen wie Fred wird er niemals wiedergutmachen können, jedenfalls nicht unter Gottes Himmel. Er ist schuldig. Ich habe Manfred den Befehl gegeben, dafür zu sorgen, daß seine Tür abgeschlossen wird, damit er in Ruhe nachdenken kann.« Paul war entsetzt. Konnte man seinen eigenen Sohn behandeln wie einen Knastbruder? Wenn er seinen Onkel jemals gehaßt hatte, dann in diesem Augenblick. Paul erhielt sein schwarzes Armband von Manfred, der ihn weiterhin
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ansah, als sei er eine gefährliche Giftschlange. Fritzi traf ihn zufällig im hinteren Flur. »Komm mit in den Garten, ich binde es dir um.« Draußen war die Luft sehr schwül, und man konnte in der Ferne sommerlichen Donner hören und das Aufflackern von Blitzen beobachten. Fritzi schlang ihm das schwarze Band um den Arm und verknotete es. Plötzlich beugte sie sich zu ihm vor, und ihr Atem umfächelte warm sein Ohr, als sie ihm etwas zuflüsterte. »Joey muß mit dir reden.« »Dein Vater hat ihn doch eingeschlossen.« »Rede mit ihm durch die Tür, wenn alle schlafen.« Noch mehr Verschwörung. Das gefiel ihm gar nicht. Aber er konnte seinen Vetter nicht im Stich lassen. »In Ordnung.« Fritzi gab ihm spontan einen Kuß auf die Wange. »Du bist wunderbar.« Er sagte ihr gute Nacht und verließ eilends den Garten. Gegen halb zwölf schlich er durch den Flur. Sein Nachthemd scheuerte an seinen nackten Beinen. Die Treppenlampe warf einen Kreis gedämpften Lichts auf den Teppich. Ansonsten war es im ersten Stock dunkel. Er lauschte, ob jemand sich bewegte. Alles war still. An der Tür seines Vetters angelangt, flüsterte er: »Psst, Joe. Ich bin’s, Paul.« Er hörte ein gedämpftes Scharren, als sein Vetter sich zur Tür schleppte. »Können wir reden?« Ein schneller Blick in den Flur. »Ich denke schon.« »Ich werde von hier verschwinden, Paul.« »Wie bitte? Vetter –« »Bitte keine Diskussionen. Meinst du, ich hätte große Lust hierzubleiben, wenn mein eigener Vater mich einen Verbrecher nennt?« »Er war aufgeregt. Bestimmt hat er es nicht ernst gemeint –« »O doch, das hat er! Und wie er das hat! Ich muß weg von hier. Für immer. Du mußt mir dabei helfen.« »Wie kann ich das? Diese Tür ist verschlossen. Ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist.« »Ich nehme den Weg durchs Fenster. Du mußt nur eine Leiter aufstellen. Mit dieser Schiene am Fuß wage ich keinen Sprung aus dieser Höhe. Im Stall ist eine große Leiter. Sie hängt gegenüber den Pferdeboxen an ein paar Haken an der Wand.« »Ich hab’ sie schon mal gesehen.« Er wollte nicht noch mehr Ärger im Haushalt heraufbeschwören. Aber er wußte, zu wem er loyal stehen mußte. Daß Onkel Joe seinen Vetter verurteilte, war grausam und unangemessen
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… »Paul? Würdest du das tun?« »Ja, natürlich.« »Du wirst die Leiter heranschaffen müssen, ohne daß Nicky dich dabei erwischt. Das könnte schwierig werden.« Vielleicht sogar unmöglich. Wenn Nicky auf dem Damm war, dann verschwand er abends oft in irgendwelchen Kneipen, sobald er nicht mehr gebraucht wurde. Aber an diesem Abend lag er im Bett. Seine Wohnung lag über dem Stall. Dort versuchte er gerade eine Sommergrippe auszukurieren. Möglich, daß er für mehrere Tage ans Bett gefesselt war. »Ich lasse mir etwas einfallen.« Natürlich, warum nicht? War er nicht ein schlauer Bursche aus Berlin? Was für ein trauriger Scherz! Sein Kopf war völlig leer. »Weißt du, wann Mr. Schildkraut beerdigt wird?« fragte Joe junior. »Am Dienstagvormittag. Die Brauerei hat am Montag nur den halben Tag geöffnet.« »Das heißt, wahrscheinlich wird der Tote morgen abend in der Leichenhalle aufgebahrt und Montagabend sicher auch. Ich mache mich am Montag aus dem Staub. Ich fange schon jetzt an zu packen.« »Gehst du weit weg?« »Am liebsten würde ich bis ans Ende der Welt verschwinden. Ich möchte Mama nicht weh tun, aber Pa zwingt mich dazu. Diesmal muß er die Schuld dafür auf sich nehmen.« Die Brauerei schloß am Montag gegen Mittag. Paul eilte nach Hause und traf auf Nicky, der sich in der Küche herumdrückte. Er schniefte und nieste und hatte offenbar noch immer Fieber. Es war sehr unwahrscheinlich, daß er heute wieder auf den Kutschbock steigen würde. Indem er dies in seine Überlegungen mit einbezog, sah Paul sich auf dem Anwesen um. Er spazierte durch die Seitenstraße, schlenderte bis zur nördlichen Seite des Stalls, merkte sich die Lage eines bestimmten Fensters von Nickys Wohnung. Wäre die Ecke Neunzehnte Straße und Michigan Avenue von dort aus zu überblicken? Er vermutete es. Der Plan nahm Gestalt an. Er klagte über Magenschmerzen und nahm nicht am Abendessen teil. Er blieb in seinem Zimmer und versuchte, eine Geschichte von einem mutigen Botenjungen zu lesen, die von einem gewissen Mr. Horatio Alger geschrieben worden war. Er kam kaum drei Worte weit. Er ging nervös auf und ab und schob alle paar Minuten den Vorhang beiseite, um hinauszuschauen. Gegen sieben, als die sommerliche Abenddämmerung sich im Osten auf die Dächer herabzusenken begann, sah er, wie der
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Landauer aus dem Stall rollte, um die Ecke bog und auf der beleuchteten Avenue zügig in Richtung Norden davonfuhr. Sein Onkel und seine Tante würden sich sicherlich bis neun Uhr in der Leichenhalle aufhalten. Die Rückfahrt von Evanston würde etwa eine halbe Stunde dauern. Um neun wäre es fast völlig dunkel, aber er mußte dann handeln, selbst wenn es nicht so wäre. Enttäuscht betrachtete er das helle Sternengefunkel am Himmel. Eine bewölkte Nacht wäre ihm viel lieber gewesen. Er verließ sein Zimmer um zehn vor neun. Auf dem Treppenabsatz traf er Fritzi. Sie trug bereits ihr Nachthemd. Ihr gelöstes Haar fiel auf die Schultern. In der Hand hielt sie einen Roman von Walter Scott. Sie drückte das Buch an ihre flache Brust. »Wo willst du hin, Paul?« »Ein wenig frische Luft schnappen.« »Nimm mich mit. Ich halte es hier nicht aus – all die schwarzen Trauerdekorationen –, und dann ist Joey auch noch eingesperrt. Warte einen Moment, ich ziehe mir nur feste Schuhe an und –« »Nein, Fritzi, ich möchte allein sein.« »Aber –« »Ganz allein.« Er lief die Treppe hinunter. Von unten schaute er hinauf und sah, wie Fritzi den Treppenpfosten mit ihrer kleinen weißen Hand umklammerte. »Ein anderes Mal«, rief er leise. Es half nichts. Sie machte abrupt kehrt und verschwand. Im Parterre herrschte Stille. Louise war an diesem Tag außer Haus. Desgleichen Mrs. Blenkers. Sie besuchte ihre Schwester, die auf der Westseite wohnte. All das hatte er durch behutsame Fragen im Laufe des Tages in Erfahrung gebracht. Er stahl sich in die Küche, wo mittlerweile völlige Dunkelheit herrschte. Immer noch lag der appetitliche Duft eines Kaninchenragouts in der Luft, das zum Abendessen serviert worden war. Ein breiter Lichtstreifen fiel durch einen Türspalt auf den Fliesenboden. Die Tür führte zu einem kleinen Raum neben der Küche. Dort hielt Manfred sich für gewöhnlich auf, bis er Dienstschluß hatte und seine Wohnung im zweiten Stock aufsuchte. Paul stützte sich auf den Hauklotz für das Fleisch und warf einen Blick durch den Spalt. Manfred saß auf einem Sessel. Seine Lesebrille war ihm auf die Nasenspitze hinuntergerutscht. Das Kinn ruhte auf der Brust. Seine Zeitung war auf den Fußboden gefallen. Paul atmete vorsichtig aus und schlich durch den Lichtstrahl.
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Vom Garten aus entdeckte er eine Gestalt, die im Zimmer seines Vetters am Fenster stand und hinaussah. Er winkte ihr zu, dann schob er sich durch eine Lücke in der Hecke hinaus auf die schmale Gasse. Vorher hatte er Zweige und Stoffreste gesammelt und alles in ein leeres Faß für Nägel aus dem Keller gestopft. Danach hatte er das Faß mit Reisig von einem Haufen Abfallholz aufgefüllt. Das Faß hatte er unter einem Pappkarton vor der Stallwand versteckt. Er hob den Karton hoch und griff hinter das Faß. Seine Finger ertasteten einen Glasbehälter. Es war eine kleine Flasche, die er mit Petroleum, ebenfalls aus dem Keller, gefüllt hatte. Er entkorkte die Flasche und schüttete das Petroleum über die Zweige und die Lumpen und schleuderte die Flasche ins Gras, wo sie fast lautlos landete. Die Nacht war mit einem ständigen Summen und Rauschen erfüllt. In der Luft lag der Geruch des sommerlichen Laubs, des Sees und der unvermeidlichen stinkenden Dämpfe der Fabriken Chicagos. Dann schleppte er das Faß um den Stall herum in die Neunzehnte Straße und schaute zur Michigan Avenue hinüber. Der schwarze Schlauch der Neunzehnten verengte sich nach Westen. Darüber leuchtete immer noch ein dunstiger orangefarbener Lichtstreifen am Horizont. Paul eilte zur Ecke. Dort stellte er das Faß unter einer rauschenden Platane auf den Bordstein. Vom Fenster seiner Stallwohnung aus konnte Nicky Speers es sehen – hoffentlich sah er es auch. Die ersten beiden Streichhölzer zerbrachen bei dem Versuch, sie anzuzünden. Er riß das dritte an und warf es in das Faß. Das Petroleum entzündete sich explosionsartig. Der Flammenschein spielte über die Blätter der Platane, während er zum Stall zurückrannte und hinter einer Wand unweit der Gasse in Deckung ging. Er wartete auf irgendein Geräusch, das auf eine Reaktion hindeutete. Es geschah nichts. Erst als er schon annahm, er habe sich einen schlechten Plan ausgedacht oder er sei gescheitert, hörte er, wie das Fenster geöffnet wurde. Nicky stieß einen Fluch aus. Einen Moment später kam er im Nachthemd aus der Stalltür herausgestürzt. Er trug einen Eimer Wasser. Während Nicky zu dem brennenden Faß hinüberrannte, huschte Paul in die Gasse und öffnete eine der Stalltüren. Er fand die Leiter und hob sie von den Haken herunter. Sie war etwa drei Meter lang und ziemlich schwer. Gott sei Dank hatte er kräftige Arme und Schultern. Trotzdem atmete er heftig, als er die Seite des Hauses erreichte. Joe junior hatte sein geschientes Bein bereits über die Fensterbank geschwungen. »Achtung!« rief er und warf etwas hinaus. Paul wich dem Bündel Habseligkeiten aus. Sie steckten in einem Kopfkissenbezug, der mit einem
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Halstuch zugebunden worden war. Er stellte die Leiter an die Hauswand. Joe junior drehte sich um, hielt sich am Fensterrahmen fest, während er mit dem geschienten Fuß nach der obersten Leitersprosse tastete. Dann stieg er herunter, eine Sprosse nach der anderen. An der Ecke schlug Nicky lautstark Alarm. Wegen der hohen Hecke konnte Paul ihn nicht sehen, sondern nur das rötliche Leuchten der Flammen. Beeil dich, dachte er und hielt die Leiter mit beiden Händen fest. Irgendwo ging eine Tür auf. Jemand kam herbeigerannt … Wahrend er auf die drittletzte Sprosse hinunterstieg, entdeckte Vetter Joe zuerst, wer auf sie zukam. »Paß auf. Es ist Manfred!« Der Hausdiener stürmte auf sie zu. Paul rief: »Lauf, Joe!« und warf sich zwischen Manfred und die Leiter. Joe sprang von der zweiten Leitersprosse herab und stöhnte schmerzerfüllt auf, als er landete. »Lauf!« rief Paul wieder und warf sich gegen Manfreds Beine. Sie purzelten beide ins taufeuchte Gras. Manfreds ausschlagender Fuß traf Pauls Kinn, und das sicher nicht rein zufällig. »Mr. Joseph!« brüllte Manfred im Befehlston eines militärischen Ausbilders, als könne er damit allem Einhalt gebieten. Im Gras liegend, sah Paul das Gesicht seines Vetters als weißen Fleck im Sternenlicht. Joe riß sein Bündel an sich und rannte durch die Gasse auf und davon. »Du Teufel. Verdammter Schleicher!« Manfred riß Paul vom Boden hoch. »Was hast du getan?« Manfred schüttelte ihn. Das reichte. Paul trat ihm vors Schienbein, dann stieß er seinen Arm weg. »Lassen Sie mich los. Was glauben Sie denn, wer Sie sind?« »Jemand, der mehr Loyalität beweist und mehr Ehre im Leib hat als du!« Aber Manfred trat zurück und ließ die Hände sinken. Er wischte sie am Brustlatz seiner Küchenschürze ab. Wie vieles andere im Haushalt trug auch er das Emblem der Brauerei Crown, eine Krone, mit dunklem Garn aufgestickt. »Ich habe ein wenig gedöst und dann geglaubt, ich hätte in der Küche jemanden gehört. Ich hätte mir denken können, daß du dahintersteckst. Du hast irgend etwas im Schilde geführt. Man konnte es deinem Gesicht schon den ganzen Tag ansehen.« Manfred grinste spöttisch. »Du bist ein ziemlich schlechter Gauner.« Nicky Speers kam durch eine Lücke in der Gartenhecke herüber. Er war barfuß. »Diese verdammten Lausbuben – hallo, was hat das denn zu bedeuten?« Manfred beachtete ihn gar nicht. »Warten Sie, bis Mr. Crown nach
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Hause kommt«, sagte er zu Paul. »Warten Sie nur, bis er erfährt, was Sie getan haben.« Paul saß im Arbeitszimmer und wartete auf die Rückkehr seiner Tante und seines Onkels. Manfred hatte alle Lampen angeknipst und sich wie ein Gefängniswärter vor dem Zimmer auf einen Stuhl gesetzt. Paul gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. Schließlich hörte er die Haustür zufallen. Dann Stimmen, zuerst leise, dann schnell anschwellend. Eine stieß einen Schrei aus und begann zu schluchzen, während Tante Ilsa die Treppe heraufrannte. Die Tür wurde aufgerissen. Onkel Joe wußte alles. Man sah es an seinen Augen, der Röte seiner Wangen und den Schweißtropfen in seinem Bart. Paul stand auf und straffte seine Schultern. Er war mittlerweile einige Zentimeter größer als sein Onkel, aber das machte kaum einen Unterschied. In seinem Zorn war Onkel Joe ein regelrechter Goliath. »Mein Sohn ist dank deiner Hinterlist und Mithilfe weggelaufen – das ist unglaublich. Wir haben dich bei uns aufgenommen, deine Tante und dein Onkel. Wir haben dir die Zuneigung und Geborgenheit einer Familie gegeben. Wir haben dich unterstützt, dafür gesorgt, daß du eine gute Arbeit, eine Zukunft hast. Ist das unser Lohn?« »Sir –« »Wo ist mein Sohn? Wohin ist er gegangen?« Joe Crowns Ruf brachte das Glasgehänge einer Tischlampe zum Klirren. »Onkel Joe, das kann ich dir nicht beantworten. Er hat mich nicht ins Vertrauen gezogen.« »Geh auf dein Zimmer, bis ich mir überlegt habe, was geschehen muß. Eigentlich sollte ich dich ebenfalls einschließen.« »So wie du es mit ihm getan hast? Damit hast du ihn zu dem getrieben, was er getan hat.« Irgend etwas schien im Kopf seine Onkels zu reißen. »Gott verdammt noch mal!« Er schlug Paul mit der Hand mitten ins Gesicht, so daß Pauls Kopf zur Seite geschleudert wurde. Paul brauchte einige Sekunden, um sich zu erholen, dann holte er tief Luft. Er war schneeweiß. »Es wird nicht nötig sein, mich einzuschließen, Onkel. Ich bleibe hier oder gehe weg, ganz wie du es wünschst.« Er war überzeugt, absolut richtig gehandelt zu haben, als er seinem Vetter half. Und dennoch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, ein Verräter zu sein. Wie abscheulich, daß er nur noch den Wunsch hatte, wie ein kleines Kind zu weinen. Er kämpfte gegen diesen Drang an, während er das Arbeitszimmer verließ und an Manfred Blenkers vorbeiging, der mit
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verschränkten Armen im Flur stand und zufrieden lächelte. 51 JOE JUNIOR Trotz allem und aus reiner Verzweiflung ging er nach Pullman. In der Modellstadt war wieder die Alltagsnormalität eingekehrt. Obgleich es bereits kurz vor Mitternacht war, brannte in vielen Reihenhäusern aus Backstein Licht. Geräusche drangen aus den Fenstern. Ein Mann und eine Frau lachten leise, vertraut. Ein Baby quengelte und schrie vor Hunger. Jemand übte am Klavier. Ein Hund kläffte … Nach mehreren ereignislosen Minuten auf der Schwelle von Rosies Tür schulterte er sein Bündel und klopfte am benachbarten Haus. Ein kleiner, schlanker Mann mittleren Alters öffnete die Tür. Er stützte eine Hand gegen den Türpfosten und versperrte mit seiner herausfordernden Haltung den Durchgang. Er trug ein verblichenes Nachthemd und Filzpantoffeln. Der Farbe seines Gesichts und der Form seiner Nase nach stufte Joe junior ihn als Iren ein. »Guten Abend, Sir«, begann Joe junior. »Was wollen Sie mitten in der Nacht?« »Ich bin mit den Jablonecs befreundet. Im Haus rührt sich nichts. Niemand hat auf mein Klopfen reagiert. Können Sie mir vielleicht verraten, wo sie sind?« »Weg. Hinausgeworfen. Diese Häuser sind ausschließlich für Arbeiter reserviert. Nachdem der Mister ums Leben kam, gab es in der Familie keinen Arbeiter mehr.« »Und Rosie – hat sie ihre Mutter begleitet?« Der Mann rümpfte die Nase. »Niemand weiß, wohin die verschwunden ist. Ein wildes Girl. Ziemlich hart. Sie verschwand am Tag nach der Beerdigung. Lief einfach davon. Mrs. Jablonec ist zusammengebrochen, die arme Frau. Man konnte sie stundenlang heulen und klagen hören. Sagen Sie mal, Freundchen, kenne ich Sie nicht?« »Wahrscheinlich, Sir. Rosie war eine Freundin von mir. Ich kam manchmal sonntags zu Besuch.« »Aha, jetzt weiß ich es wieder. Nun, Sie müssen ganz schön suchen, wenn Sie sie wiederfinden wollen. Sie hat ihrer armen Mutter nichts erzählt, sagt meine Kitty. Eins ist jedenfalls klar: Sie landet sicher in der Hölle. Mit mehr kann ich Ihnen nicht dienen.« »Das reicht schon, Sir. Vielen Dank.«
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Die Tür wurde geschlossen. Das Licht im vorderen Zimmer erlosch, und Joe stand allein im tiefen Schatten der Reihenhäuser. Er kam sich vor, als hätte die Dunkelheit ihn verschlungen. Er hatte zwar keine großen Hoffnungen gehabt, daß Rosie ihn wieder aufnehmen würde, aber er hatte angenommen, daß sie ihm wenigstens vorübergehend Zuflucht gewähren würde – ein Versteck, in dem er abwarten könnte für den Fall, daß Pa ihn suchen ließ. Er blickte zum Himmel empor. Tausende von Sternen flimmerten im Hitzedunst. Ein Gefühl von Grenzenlosigkeit und Einsamkeit lahmte ihn. In der Ferne rollte ein pfeifender Zug durch die unendliche Nacht. Er kämpfte gegen seine Traurigkeit an, gegen dieses Gefühl des Verlustes und der Isolation. Gegen seine Sorge, seine Angst. Er war stark. Weshalb sollte er sich vor dem fürchten, was vor ihm lag? Er hob sein Bündel hoch und marschierte zur Straßenecke. Dort blieb er stehen, um sich zu orientieren. Er entschied sich für eine Straße nach Westen. Irgendwo schlug eine Uhr Mitternacht. 52 PORK Zwei schwarze Traber zogen die elegante Studebakerkutsche, eine von vieren, die Pork Vanderhoff besaß. Der Kutscher stoppte wenige Minuten vor zehn vor der Brauerei Crown. Es war Donnerstag, der zweite Tag nach Joe Crowns Verschwinden. Davon wußte Pork allerdings noch nichts. Pork stieg mit einem tiefen Seufzer aus der Kutsche und trat auf den Bordstein. Mit einem Ausdruck des Mißfallens betrachtete er die Statue irgendeines trottelhaften teutonischen Königs in der Mitte eines sprudelnden Springbrunnens. Er hatte bereits drei Stunden in seiner Firmenzentrale in der südlichen LaSalle-Straße hinter sich. Im Vanderhoffschen Fleischverarbeitungsimperium begann der Arbeitstag um sieben Uhr morgens und dauerte, bis alle Arbeit erledigt war, selbst wenn die Angestellten erst gegen Mitternacht nach Hause kamen. Wie Pork seinen Freunden oft anvertraut hatte, war sein Erfolg, der auf Strebsamkeit und Schweiß basierte, ein Gut, das bewacht und erhalten werden mußte, vor allem, nachdem die Familie im Laufe der Generationen in diesem Gewerbe des öfteren Mißerfolge hatte hinnehmen müssen. »Ich liebe das Geld nicht um seiner selbst willen, sondern ich liebe das, wofür es steht. Und ich liebe das Spiel. Das Verdienen an sich. Das Austricksen, Übervorteilen und Ausschalten aller anderen Konkurrenten.« In dieser Hinsicht – der
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Huldigung des Erfolgs – hatte Pork mit dem reichen deutschen Bierbrauer, den er besuchen wollte, etwas gemeinsam. Der Himmel verhieß einen weiteren sonnenlosen, gleichwohl heißen Tag. Pork wechselte seine Ledermappe von einer Hand in die andere, um seine Finger zu inspizieren. Sie waren schmutzig von der Kutschfahrt. Chicagos übliche Decke aus Kohlenqualm verdunkelte den Himmel, so wie der Ruß der Stadt Haut und Kleidung befleckte. Porks großer, massiger Körper walzte auf die mit goldenen Lettern beschrifteten Türen der Brauereiverwaltung zu wie ein Wal durch ein Meer feuchten Dunstes. Er äußerte nicht den Wunsch, den Inhaber sprechen zu wollen. Statt dessen erklärte er, er werde ihn aufsuchen, und zwar sofort. Nein, er habe keinen Termin. Ein Bote rannte die Treppe hinauf, kam mit Joe Crowns Büroleiter wieder herunter, und ein paar Sekunden später saß Pork vor dem Schreibtisch des Inhabers. Er bemerkte viele Dinge, die ihm mißfielen. Die unübersehbare deutsche Fahne. Einen Schreibtisch ohne eine Leiste von Klingelknöpfen, die Pork als Zeichen für einen fortschrittlichen Industriebetrieb betrachtete. Porks Zentrale in der LaSalle-Straße war rundum mit Signalklingeln ausgestattet, von denen jede einen anderen Ton auslöste. Er konnte auf diese Weise jeweils einen seiner Untergebenen herbeizitieren, indem er nur auf einen bestimmten Klingelknopf drückte. Was ihm jedoch am meisten mißfiel, war der Mann, der ihn mit einem Blick musterte, den Pork nur als unfreundlich deuten konnte. Er nahm sich vor, ruhig zu bleiben, während er sein Anliegen vorbrachte. Er war ganz einfach schockiert von Joe Crowns Erscheinung. Er hatte den Bierbrauer als eine trotz seiner relativ bescheidenen Körpergröße durchaus robuste Gestalt in Erinnerung. An diesem Morgen wirkte er jedoch geschrumpft und irgendwie erschöpft. Sein Gesicht war mehlig bleich und hager. Zweifellos war diese verdammte Anarchistenbombe daran schuld. »Hallo, Joe. Vielen Dank, daß Sie mich empfangen. Das mit der Störung Ihrer Produktion tut mir leid – ach ja, und dann sind offenbar auch Menschenleben zu beklagen. Bedauerlich. Wenigstens wurde den Streikenden das Genick gebrochen, und dieser Satan Debs dürfte bald ins Gefängnis wandern. Kennen Sie schon die jüngsten Frachtmengen?« Joe Crown griff nach seiner Uhrkette und rieb mit dem Daumen irgendeinen Tierzahn, der dort hing. »Ja.« Die Stille zog sich in die Länge. Pork wand sich in seinem Sessel. Er war zu klein. Alle Sessel waren zu klein bis auf die, welche eigens für ihn gebaut wurden.
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»Joe, wir beide haben schon lange nicht mehr miteinander geredet –« »Das ist wahr. Sie haben unserem Restaurant vor einigen Jahren hervorragendes Fleisch verkauft. Ich habe den Vorfall, der unsere Geschäftsbeziehung beendet hat, immer bedauert, obgleich ich eigentlich nie richtig verstanden habe, wie es überhaupt dazu kam. Ich weiß wohl, daß Sie in der Folgezeit gegen mich gestimmt haben, damit ich nicht in den Commercial Club aufgenommen wurde. Ein Freund nannte mir die Begründung. Zu fremd, sagten Sie. Ich klänge zu deutsch – ich spräche kein gutes Englisch. Dabei ist mein Englisch genauso gut wie das Ihre.« Porks gezwungene Herzlichkeit verflüchtigte sich allmählich. »Sir, ich sage Ihnen ganz offen, ich bin es nicht gewöhnt –« »Darf ich Sie bitten, mir den Grund Ihres Besuchs zu nennen?« Joe deutete auf ein offenes Fenster, durch das der Lärm eines Dampfbohrers und mehrerer Zimmermannshämmer hereindrang. »Wir sind gerade dabei, das Flaschenabfüllhaus wiederaufzubauen. Wir befinden uns unter großem Zeitdruck. Also kommen Sie bitte zur Sache. Was wollen Sie von mir?« Ich hatte recht, er ist abscheulich. So arrogant wie eh und je. Pork öffnete den Verschluß seiner Aktenmappe. »Es geht darum.« Er legte ein zusammengefaltetes Blatt Schreibpapier auf den Tisch. Joe Crown griff danach und las die Nachricht, während Pork fortfuhr. »Es wurde meiner Tochter Juliette von jemandem geschickt, der unter Ihrer Vormundschaft steht oder sogar ein Verwandter ist. Beachten Sie bitte, daß er am Ende noch irgendwelche Koseworte angefügt hat. In deutscher Sprache.« Joe Crown gab den Zettel zurück. Er ärgerte sich über die Störung, und sein Gesicht hatte sich gerötet. Pork hatte ihn überrumpelt. »Wie sind Sie in den Besitz dieser Nachricht gelangt, wenn ich fragen darf?« »Ein junger Mann, der mit meiner Tochter befreundet ist, ein anständiger Bursche namens Strickland Welliver, sah Juliette und Ihren Verwandten zufälligerweise zusammen im Lincoln-Park. Sie haben sich offenbar längere Zeit heimlich an Sonntagen dort getroffen. Welliver schrieb mir einen Brief dazu. Aufgrund wichtiger und dringender Geschäfte gelangte mir die Angelegenheit erst diese Woche zur Kenntnis. Ich ließ sofort Juliette überwachen wie auch mein Anwesen in der Prairie Ave –« »Ich weiß, wo Sie wohnen. Fahren Sie fort.« Schweißtropfen glänzten auf Porks Kinnfalten. »Diese Person und meine Tochter haben sich offenbar ein bestimmtes System ausgedacht, um persönliche Nachrichten zu senden und zu empfangen. Dieses Schriftstück wurde unter einem Stein auf der Rückseite meines Anwesens gefunden. Einer meiner Hausdiener hat den jungen Mann dabei beobachtet, wie er das
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Grundstück betrat, um die Nachricht dort zu hinterlegen.« Wie ein erfahrener Schauspieler kostete Pork die Dramatik dieses Augenblicks aus. Er nahm das Papier an sich, wobei ein Sternsaphir, so groß wie ein Dirne, an seinem kleinen Finger funkelte. Er verstaute die Nachricht wieder in seiner Aktenmappe, ließ den Messingverschluß einrasten und lehnte sich zurück. Der Besuchersessel knarrte. »Ich habe den Namen des Jungen herausbekommen. Ich zwang Juliette, ihn preiszugeben. Nun ja, zwingen ist vielleicht ein zu starkes Wort. Sie nannte den Namen, sobald ich sie auf die Sache ansprach. Seit kurzem legt sie ein völlig untypisches, trotziges Verhalten an den Tag – die Folge des schädlichen Einflusses meiner Schwägerin, die Sie nicht kennen. Aber ebensoviel Schuld gebe ich diesem Jungen. Paul Crown.« »Paul ist mein Neffe. Er ist vor zwei Jahren in dieses Land gekommen. In letzter Zeit war ich mit seinem Benehmen nicht gerade zufrieden. Das tut aber nichts zur Sache. Was soll ich denn jetzt auf Grund dieser Enthüllung tun?« »Ihren Neffen anweisen, sich von Juliette fernzuhalten, das Senden solcher Nachrichten und die geheimen Treffen zu unterlassen. Woher soll ich wissen, welche Unflätigkeiten er in einer fremden Sprache geschrieben hat?« »Ach, es ist nichts, woran ein feinsinniger Mensch wie Sie etwas auszusetzen haben könnte, Vanderhoff. Es ist nur etwas Romantisches.« »Sie machen sich über mich lustig, Sir. Hören Sie zu – bestellen Sie Ihrem Neffen, daß ich ihn mit der Reitpeitsche verprügeln und verhaften lasse, wenn er meiner Tochter noch einmal zu nahe kommt. Ich werde nicht dulden, daß ihr Ruf durch die Bekanntschaft mit irgendeinem hergelaufenen deutschen Einwanderer für immer besudelt wird.« »Vanderhoff, mein Neffe hat im vergangenen Monat seinen siebzehnten Geburtstag gefeiert. Er führt seit einigen Jahren ein mehr oder weniger unabhängiges Leben, und obgleich ich hinsichtlich seines Charakters gewisse Vorbehalte habe, ist er weitaus reifer als viele, die doppelt so alt sind wie er. Ich denke, er ist für seine Taten selbst verantwortlich. Ich verteidige und ich beschütze ihn nicht. Sie können mit ihm reden, wenn Sie wollen. Er arbeitet hier. Im Augenblick ist er in der Mälzerei tätig. Mein Buchhalter zeigt Ihnen gerne den Weg.« Dieser verdammte Kraut! Pork ließ sich das nicht gefallen. »Sir, eines sollte Ihnen klar sein, ich habe nicht vor, in einer heruntergekommenen Brauerei herumzukriechen und mich mit einem einfachen Arbeiter über meine Tochter zu unterhalten.« Crown zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen. Wenn Sie nicht mit Paul
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reden wollen, kann ich Ihnen nicht helfen. Guten Morgen.« »Bei Gott, Crown, so können Sie mich doch nicht abfertigen!« Joe Crown kam aus seinem Sessel hoch wie ein wildes Tier, das aus seinem Schlaf erwacht, und umrundete den Schreibtisch. Erbleichend wuchtete Pork sich auf die Füße und wich langsam zurück. Sein Atem ging abgehackt, fast mühsam. Ein heftiger Schmerz in seiner Brust bewirkte, daß er sich unwillkürlich krümmte. »Raus, Vanderhoff! Sie haben in einem schmuddeligen Gewerbe ein Vermögen verdient und sind ein aufgeblasener Esel geworden. Ich mag Sie nicht, und ich mag Ihre Beleidigungen nicht. Gehen Sie lieber schnell die Treppe hinunter, ehe ich Sie rauswerfen lasse.« Zu seiner ewigen Schande und namenlosen Wut gehorchte Pork sofort. Sein Haß auf Joe Crown, den er seit jenem schicksalhaften Sonntagnachmittag vor fünf Jahren hegte, war also berechtigt! Voller Bitterkeit erinnerte Pork sich daran, daß er Joe Crown früher eigentlich ganz gut hatte leiden können, als dieser noch zu seinen Kunden gehörte – nun, zumindest hatte er den Deutschen trotz seiner Herkunft immerhin geachtet. Sie waren sich in mancher Hinsicht sehr ähnlich. Sie waren beide ehrgeizige, engagierte Geschäftsleute, zäh und gerissen und deshalb so erfolgreich. Porks Großhandelsabteilung erwirtschaftete mit der Lieferung von Wurstwaren und zerlegtem Fleisch an Restaurants, darunter auch Crowns Bierstube, einen ansehnlichen Profit. Als besonderes Entgegenkommen für einen guten Kunden lieferte er im August die gleiche Ware auch für das Picknick des alljährlichen Betriebsausflugs mit der Brauereibelegschaft. Als Zeichen seiner Wertschätzung nahm Pork stets für ein oder zwei Stunden an dem Picknick teil. An dem besagten Nachmittag, es war ein höllisch heißer Tag im August, trank Pork zuviel Crown Lager in zu kurzer Zeit und mußte schon bald mit reichlich unsicheren Schritten ein stinkendes Toilettenhäuschen aufsuchen, das am Rand des Wäldchens, in dem das Picknick stattfand, aufgestellt worden war. Während er sich nun erleichterte, hörte er Joe Crowns Stimme durch die dünne Bretterwand. Crown unterhielt sich mit jemandem über seine eigene Vergangenheit. »Mein erstes Angebot für eine Lehrstelle in Cincinnati war eigentlich ganz gut, bis auf einen Schönheitsfehler. Mein zukünftiger Arbeitgeber war ein Metzger, der nebenbei noch einen ziemlich umfangreichen Schlachtbetrieb unterhielt. Arme, dumme Tiere zu töten und ihre Körperteile zu verkaufen ist ein schmutziges, blutiges Gewerbe, Fred. Ich
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glaube, das ist eine scheinheilige Haltung, da ich selbst Fleisch esse und weiß, daß jemand diese Arbeit tun muß. Aber ich betrachte es nicht als eine angenehme oder saubere Tätigkeit, obgleich ich etwas Derartiges einem Lieferanten wie Mason Vanderhoff gegenüber niemals äußern würde.« Pork stand da mit heruntergelassener Hose und bebte vor Zorn. »Das Bierbrauen hingegen – das ist ein feiner Beruf. Wenn Menschen Bier trinken, dann sind sie glücklich und zufrieden. Das Bierbrauen ist außerdem eine angesehene deutsche Angelegenheit. Deshalb habe ich damals für einen weitaus geringeren Lohn in einer Eisfabrik gearbeitet, in der Hoffnung, auf diesem Weg ins Braugewerbe gelangen zu können.« Crowns Stimme wurde leiser, als er sich entfernte. »Ich wollte auf keinen Fall Metzger werden. Sie genießen in Deutschland und in Amerika kein besonders hohes Ansehen. Und nicht nur dort, sondern eigentlich auf der ganzen Welt.« Pork konnte und wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Er stürmte hinaus, vergaß seine offene Hose, die er nur notdürftig hochgezogen hatte, und rannte hinter Crown her, der Arm in Arm mit einem Mann spazierenging, in dem Pork den Braumeister erkannte. Pork gelangte auf eine sonnige Lichtung, näherte sich Crown von hinten, packte seine Schulter und versetzte ihm einen Schwinger. Joe Crown verteidigte sich sofort. Er schickte Pork mit einem einzigen Treffer zu Boden. Und setzte sich auf seinen Bauch, während Pork im Dreck zappelte. Eine solche Erniedrigung ließ sich nicht so ohne weiteres vergessen und vergeben. »Ich weiß nicht, was das jetzt soll, Mason, aber ich kann es einfach nicht vertragen, wenn man mich ohne Vorwarnung von hinten angreift. Ich denke, ich habe nicht zu fest zugeschlagen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, aufzustehen.« Er griff mit seiner rechten Hand nach unten. Pork spuckte darauf. Sie machten nie wieder miteinander Geschäfte. Im Herbst jenes Jahres stand Joe Crowns Name auf der Liste der Bewerber um eine Mitgliedschaft im Commercial Club. Porks Stimme sorgte dafür, daß er nicht aufgenommen wurde. Die Erinnerung an dieses Picknick versetzte Vanderhoff noch immer in Wut. Fast während der ganzen Rückfahrt in die Stadt zerrte er an seinem Krawattenknoten herum und schnappte in der Hitze der Kutsche mühsam nach Luft. Der Schmerz in seiner Brust hatte nachgelassen, aber nicht jener andere, tiefere Schmerz. Joe Crowns beleidigende Worte drückten eine beschämende Wahrheit aus. Eine Wahrheit, die Pork antrieb, immer mehr
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Geld zu verdienen, ständig mehr Reichtum anzuhäufen und diesen Reichtum immer aufdringlicher zur Schau zu stellen. Die Vanderhoffs gehörten zu den ersten Siedlern der Kolonie in Connecticut. Mehrere Generationen lang hatten die Männer der Vanderhoffs Schweine gezüchtet, sie geschlachtet und die Schinken, Schultern und Seiten in der Räucherkammer einer Farm in den Wäldern oberhalb der hübschen kleinen Stadt Darien veredelt. Zu einigen der frühesten Erinnerungen Porks – er war damals etwa vier oder fünf Jahre alt – gehörte der Anblick des Schlachthauses im Wald, der Todesscheune, wo sein Vater arbeitete. Pork wußte sehr wohl, weshalb die Joe Crowns der Welt auf das Schlachter- und Fleischergewerbe herabschauten. Porks eigene Erinnerungen lieferten die Erklärung: die baufällige Scheune, der mit Blut und Tierexkrementen verkrustete Boden, die schillernden grünen Fliegen und die dreisten Ratten, die sich sogar am hellichten Tag aus ihren Löchern wagten. Seine ersten Spielzeuge waren Schweineknochen; Mama konnte sich nichts anderes leisten. Als die Schule begann, war er bereits zu stämmig. Die Vanderhoffs aßen sehr bescheiden, es lag also nicht an der Nahrung, sondern an einer besonderen körperlichen Veranlagung. Der Gestank des Gewerbes, das seine Familie betrieb, hing auch in der Schule ständig in seinen Kleidern. Dies und das Stigma, das diesem Beruf anhaftete, hinderten ihn daran, Freundschaften zu schließen. Schon nach kurzer Zeit verpaßten seine Klassenkameraden ihm den Spitznamen, den er nie mehr loswurde, den Namen, der seine Körperfülle treffend beschrieb und an seinen Beruf erinnerte: Pork, Schwein. Obgleich der Schlachtschuppen tief im Wald verborgen lag, brachte er sich beharrlich in Erinnerung. Aasvögel mit scharfen Schnäbeln und weiten Schwingen kreisten unablässig über den Bäumen. Der kleine Bach unterhalb der Farm war ständig mit Blut und Fleischabfällen verschmutzt, die Porks Vater regelmäßig hineinschüttete. Von Zeit zu Zeit kamen zornige Bürgervertreter aus der Stadt zu ihm und erklärten, daß schon wieder einmal Kinder, die flußabwärts von dem Wasser getrunken hatten, erkrankt seien. Porks Vater hörte sich die Klagen an, tat aber nichts. Er trachtete sein Leben lang nach einer besonders feinen Lebensart, eine Ambition, die sein Sohn geerbt hatte. Er war außerdem im Grunde seines Herzens ein Tagträumer und neigte zum Versagen wie alle Generationen der Vanderhoffs vor ihm. Pork blickte voller Spott auf die Tagträumerei. »Keine Bank der Welt gibt einem etwas für Theorien und Träume«, pflegte
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er zu sagen. In der Kutsche versank Pork im verhaßten Abgrund der Erinnerung. Er dachte an seine arme, leidende Mutter, die er abgöttisch liebte. Einmal, als er noch ein kleiner Junge war, stand er neben ihr und sah zu, wie sie ihr einziges Paar Schuhe anzog. Er sollte niemals den Anblick vergessen, wie ihr schmuddeliger Strumpf aus einem Loch im Oberleder herausschaute und wie sie sich darüber beklagte. »Wenn du einmal groß bist, dann arbeitest du ganz fleißig, damit du Mama ein Paar schöne Schuhe kaufen kannst, nicht wahr?« »O ja, Mama«, hatte er schluchzend geantwortet. »Mason wird für dich arbeiten. Für Mama, nur für Mama.« Genauso wie der gute alte Phil Armour, der ihm an Ansehen und Wohlstand leicht überlegene Tycoon von Chicago, der immer prahlte: »Wir verarbeiten alles vom Schwein bis auf das Quieken«, hatte Pork Vanderhoff die ärmliche Region des Nordostens verlassen, um die besseren Chancen, die im Westen der jungen Nation zu winken schienen, wahrzunehmen. Pork und sein Bruder Israel Washington Vanderhoff, der sechs Jahre jünger war, betrieben zuerst einen Fleischhandel auf einem Flachboot auf dem OhioFluß. In dieser Zeit entwickelte Pork einen seltsamen und aggressiven Stolz auf seine Arbeit. Er prahlte gerne damit, daß er den Schädel eines ausgewachsenen Schweins mit einem Axthieb spalten und schneller als jeder andere Mann oder Junge zum Entfernen der Borsten in kochendes Wasser stecken könne. Er gewann regelmäßig entsprechende Wetten. Sein eher schmächtiger Bruder I.W. erwies sich schon bald als Genie im Umgang mit Zahlen, Geld und Immobilien. Mit einundzwanzig war er außerdem ein notorischer Säufer. Während des Bürgerkriegs überzeugte I.W. seinen Bruder, langfristige Verträge für den Verkauf von Schweinefleisch für vierzig Dollars pro Faß abzuschließen, da er gegen Kriegsende mit einem Preisverfall rechnete. Nach der Kapitulation der föderierten Truppen in Appomattox sank der Preis auf achtzehn Dollars pro Faß. Sie hatten ihren ersten sauberen Schnitt gemacht. Die Vanderhoff-Brüder folgten Phil Armour und Gus Swift nach Chicago. Dort bauten sie ihre Unternehmen auf, sicherten sich technische Entwicklungen, die Fleischhändler reich machen konnten, wenn sie klug genug waren, sich ihrer zu bedienen. Armour war in dieser Hinsicht das Vorbild für alle. Er war der erste, der Kadaver an Haken aufhängte, die an einer Kette befestigt waren, welche sie schnell und ohne Komplikationen durch den Schlachthof transportierte. Er war der erste, der den Versand von Schweine-, Hammel- und Rindfleisch von einem zentral gelegenen
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größeren Bahnhof aus betrieb. Die deutschen Bierhersteller installierten Kühlanlagen, lange bevor die Metzger etwas Derartiges benutzten, und erneut war Armour der Innovator, der eine Möglichkeit erkannte, das Schlachten und die Fleischverarbeitung nicht nur in einer Saison, sondern das ganze Jahr über zu betreiben, weil es keine Abhängigkeit von kalter Witterung oder der Belieferung mit teurem Eis mehr gab. Pork Vanderhoff watete seit seiner Kindheit in Blut und Hirnen von Schlachtvieh. Er hatte Tausende Tonnen Köpfe, Füße und Eingeweide in jeden erreichbaren Bach oder Fluß geschüttet. Er hatte gänzlich heruntergekommenen Subjekten zwei Dollars pro Wagenladung bezahlt, damit sie die Abfälle in die Prärie schafften und dort vergruben. Er überredete seinen unberechenbaren Bruder zu Phasen der Nüchternheit und achtete darauf, daß er sich mindestens einmal im Jahr, wenn nicht gar zweimal, einer Wasserkur unterzog. Pork verließ sich noch immer auf das finanzielle Geschick von I.W. und auf den eigenen natürlichen Charme, der ihm bei den Frauen der Bankiers von Manhattan einen Stein im Brett verschaffte. I.W. hatte nach einem häßlichen und ziemlich gewalttätigen sexuellen Abenteuer mit der Frau eines Vorarbeiters von Chicago nach New York umziehen müssen. Durch den gemeinsamen Erfolg mit seinem Bruder errang Pork nicht nur erheblichen Wohlstand, sondern auch eine aristokratische Frau aus einer der edelsten Familien von Kentucky. Er wurde Vater einer bildhübschen Tochter, die später einmal in höchste Kreise einheiraten und viele Kinder haben würde. Er war hoch angesehen und wurde von seinen Konkurrenten anerkannt. Er bat seine männlichen Freunde, ihn doch nicht immer Pork zu nennen – Nell schäumte fast vor Wut, wenn sie den Namen hörte –, aber irgendwie blieb er an ihm hängen, verbreitet von den Zeitungen, seinen Angestellten und sicherlich auch unterstrichen durch seine äußere Erscheinung. Pork Vanderhoff kontrollierte ein wahres Imperium der Fleischverarbeitung und des Vertriebs: riesige Stallungen in Kansas City und zahlreiche Fabriken zur Verwertung der Nebenprodukte. Amerika verzehrte Vanderhoff-Schinken und Vanderhoff-Würste, aß den Toast mit Streichfett, das auf der Basis von mit Dampf ausgelassenem VanderhoffSchmalz hergestellt wurde, badete jeden Samstag mit Seife aus VanderhofTalg und tapezierte Zimmerwände, leimte Möbel und verschloß Briefkuverts mit »Big V«-Markenklebern. Sechstausend Kühlwagen, die zwischen dem Atlantik, dem Pazifik und dem Golfstrom hin und her fuhren, trugen das »Big V«-Emblem. Aus diesem Erfolg ergaben sich wichtige Freundschaften, Bürgerehrungen, Mitgliedschaften in exklusiven Clubs,
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Einfluß und Ansehen in Chicago, in der Republikanischen Partei, in der gesamten Nation. Er hatte sich all das nicht erkämpft, damit seine Tochter irgendeinen miesen ausländischen Emporkömmling heiratete. Er würde Juliette diesem schädlichen Einfluß für immer und ewig entziehen. Er begann sein Vorhaben in dem Augenblick in die Tat umzusetzen, als er den Fahrstuhl verließ. Fröhlich betrat er sein üppig getäfeltes Büro, das ihm wie gewünscht ein Gefühl männlicher Energie und Überlegenheit vermittelte. Nell hatte die dunklen Teakholzmöbel ausgesucht. In den Ecken standen Fernschreiber, die ihn mit der Wall Street und der Handelskammer verbanden und ratterten und meterweise Papierstreifen ausspuckten. Dem Schreibtisch gegenüber, neben der Tür, verfolgte I.W. als lebensgroßes Konterfei aus einem reich verzierten goldenen Rahmen das Treiben im Büro. Der Künstler hatte sein Werk klugerweise geschönt, indem er die Flecken auf I.W.s Wangen weggelassen und die rote Knollennase ein wenig umgeformt hatte. Es war ein mannhaftes, sachliches Abbild republikanischer Rechtschaffenheit. An den Wänden, verteilt zwischen gerahmten Farblithographien von verschiedenen »Big V«-Fabriken und Rangierbahnhöfen, hingen ausgestopfte Schädel von Elchen, Ebern, Grislybären, von denen keiner von Pork geschossen oder gar gejagt worden war. Allerdings stellte er sich gerne vor, daß es so gewesen war. An seinem Schreibtisch warf er einen kurzen Blick auf die Nachrichten und Telegramme, die während seines Besuchs bei Crown eingegangen waren. Nichts Wichtiges, und es gab nur eine Mitteilung, auf die er noch vor Feierabend reagieren mußte. Es handelte sich um ein längeres Telegramm von Mark Hanna aus Ohio, der schon wieder Bill McKinley bei seinem Kampf um die Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat unterstützte. Hanna erbat eine bedeutende Spende für die Kriegskasse der Partei, um sich gegen die ständigen Angriffe der Verfechter des freien Silberhandels zur Wehr setzen zu können. Pork beschloß, eine Zahlungsanweisung über zweitausend Dollars hinzuschicken. Er war eingefleischter Gold-Fanatiker. Er haßte die radikalen Verfechter des Silbers. Erst in der vorangegangenen Woche hatte er einem mürrischen Phil Armour gesagt: »Mit diesen Leuten sollte man genauso drastisch verfahren wie mit den verdammten Südstaatlern, die gegen dieses Land rebelliert haben.« Er betätigte eine Glocke über der dreißig Knöpfe umfassenden Schalttafel auf der rechten Seite seines Schreibtisches und hörte es im
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Großraumbüro jenseits der schweren Eichentür klingeln. Er lehnte sich nun in seinem imposanten Sessel etwas entspannter zurück. Die beabsichtigte Lösung des Problems »Juliette« stellte ihn überaus zufrieden. Außerdem wußte er, wie er ihren Widerspruch überwinden konnte. Diese Strategie war schon früher erfolgreich gewesen, sie würde es wieder sein. Sein Büroleiter, Roswell, klopfte an und kam herein. »Mr. Vanderhoff«, murmelte er, hielt Bleistift und Notizblock bereit und wartete auf Anweisungen seines Herrn und Meisters. »Ich brauche die Fahrpläne der Dampfschiffahrtslinien«, bellte Pork. »Von New York nach Europa, und zwar bis zum Jahresende. Außerdem besorgen Sie mir alles an Prospekten über Ferien- und Kurorte, was Sie auftreiben können. Natürlich nur die besten. Ich möchte sofort entsprechende Vorbereitungen treffen. Vielleicht sogar heute noch.« »Sie wollen Urlaub machen, Sir?« Während er schrieb, brachte Roswell gleichzeitig ein kriecherisches Lächeln zustande. »Richtig. Mrs. Vanderhoff und ich nehmen Juliette mit über den großen Teich. Damit beginnt die große Reise meiner Tochter. Ich werde mit Mrs. Vanderhoff nach ein oder zwei Monaten wieder nach Hause kommen, aber Juliette wird wohl noch fast ein Jahr lang drüben bleiben.« Pork war innerlich angespannt, als er am gleichen Abend auf die Konfrontation mit seiner Tochter wartete. Er trommelte mit den Fingern auf dem dicken Umschlag auf seiner Schreibunterlage herum. Auf dem Umschlag war das Thomas Cook-Emblem zu sehen. Darunter stand die Adresse der örtlichen Filiale des Reisebüros. Porks Arbeitszimmer zu Hause war eine kleinere Kopie seiner Höhle in der LaSalle-Straße. Auch an diesen Wänden hingen Arbeitsproben des Tierpräparators, darunter auch ein wunderschöner Haifisch sowie eine geschönte, vorwiegend der Phantasie entsprungene Darstellung des alten Familiensitzes in Darien. Eine Tafel mit sechzehn Klingelknöpfen war in bequemer Reichweite an der Wand hinter ihm angebracht. Das war nicht nur eine Spielerei. Vanderhoff steuerte den gesamten Haushalt mit Hilfe dieser Glocken. Nell, mit ihrer ausgeprägten südstaatlerischen Empfindlichkeit, weigerte sich seit mehr als zehn Jahren, mit den Hausangestellten, außer mit dem Chefdiener, auch nur ein einziges Wort zu reden. Daher diese Glocken. Die Vorzüge des Reichtums spürt man eben nicht nur im Magen, sagte Pork sich des öfteren. Die Uhr zeigte auf halb neun. Er hatte bereits verlauten lassen, daß er zum Kartenspielen verabredet sei und wahrscheinlich die ganze Nacht wegbliebe. Dabei verabscheute er das Kartenspiel. Es war I.W. der ein
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wahrer Hexenmeister war, wenn es darum ging, einzuschätzen, welche Karten die Mitspieler jeweils in der Hand hatten. Auf jeden Fall würde er das Haus verlassen, sobald das Gespräch beendet war. Der Gedanke an die Person, mit der er die Nacht zu verbringen beabsichtigte, ließ ihn unter den Tisch greifen und sich im Schoß kratzen. Wohlerzogen wie Juliette war, klopfte sie leise an, ehe sie eintrat. Pork ging das Herz fast über bei ihrem Anblick. Trotz ihrer jüngsten rebellischen Anwandlungen, die er mittlerweile verstand, war sie eine reizende junge Frau, eine Tochter, auf die jeder Vater stolz gewesen wäre. Um so wichtiger war es, sie von diesem ausländischen Rohling zu trennen und vor ihm zu schützen, der sicherlich die Absicht hatte, ihren Körper zu schänden. Pork betete im stillen, daß dieser entweihende Vorgang noch nicht stattgefunden hatte. »Guten Abend, Julie.« Er strahlte sie an. »Papa.« Sie setzte sich in den Sessel neben dem Schreibtisch. Ihr Lächeln war leider etwas oberflächlicher als seins. Dennoch spielte er seine Rolle weiter. »Wie bezaubernd du heute wieder aussiehst. Das liegt an der neuen Sommerkleidung.« »Vielen Dank, Mama hat sie mir gekauft.« Die Hemdbluse war gedeckt rosa, wie Herbstastern, und hatte ein kleines Muster. Ein kleiner weißer Kragen schuf einen hübschen Kontrast. Der Rock war granatrot. Ein langer offener Schlitz sorgte dafür, daß das farblich abgestimmte Innenfutter aus Taft bei jedem Schritt zu sehen war. Aber die Kleidung war nicht alles, was an dem Mädchen auffiel. Er bemerkte ein nervöses Zucken ihrer Finger, die auf ihren Knien lagen. Außerdem waren da dunkle Ringe um ihre grauen Augen. Ihm kam ein Gedanke. Er mußte sich die letzten Telephon- und Telegraphenrechnungen des Haushalts ansehen. Er wollte nicht, daß seine Tochter mit dieser verdammten subversiven Willis in Verbindung stand und sich von dort irgendwelchen Rat holte. Aus einem Behälter nahm Pork eine Havannazigarre, rund, grün, über zwanzig Zentimeter lang. Er liebte Havannazigarren. Aus diesem Grund hatte er der Kubanischen Befreiungsfront in New York tausend Dollars gespendet. Ihre Ideen und Prinzipien interessierten ihn nicht die Bohne, er wollte nur nicht, daß die besten Zigarren der Welt von einer Bande königstreuer Idioten in einem Palast in Madrid geraucht wurden. Julie hüstelte verhalten. Verdammte Weiber! Nell reagierte genauso, wenn er sich in ihrer Gegenwart eine Zigarre gönnte. Er legte die Zigarre in einen Kristallaschenbecher, aus dem der Rauch kerzengerade aufsteigen konnte.
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Grinsend wie ein listenreicher Fuchs zog er den Cook-Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts. »Ich habe ein Geschenk für dich, Liebes.« Er legte den Umschlag in den Lichtfleck, der vom grünen Porzellanschirm der Lampe erzeugt wurde. Julies Blick glitt darüber hinweg. Natürlich kannte sie die Bedeutung des Namens Cook. Sie sagte nichts. Pork skizzierte seinen Plan für ihre große Reise. Das gehörte zu einer List, so zu tun, als habe er überhaupt keine Ahnung von der Existenz dieses verdammten deutschen Bengels. Als er fertig war, sagte Julie: »Das klingt ja wundervoll, Papa. Aber ich will nicht verreisen. Nicht für ein Jahr, noch nicht einmal für einen Monat. Es gibt hier zu viele Dinge, mit denen ich mich beschäftigen möchte.« Schweißtropfen bildeten sich wieder auf Porks Kinnfalten. »Und was sind das für Dinge, wenn ich fragen darf?« »Lesen. Meine Musik –« »Mein liebes Kind. Ich glaube, auch in Europa dürfte es englische Bücher geben. Und das Klavier kennt man auch in Frankreich oder Italien oder in den Niederlanden – also auch dort herrscht bereits die Zivilisation, wie ich gehört habe.« Und ein wenig provozierender fügte er hinzu: »Das gleiche gilt wohl auch fürs Schlittschuhlaufen und fürs Fahrradfahren.« Er beobachtete sie aufmerksam. Sie biß bei keinem der beiden Köder an. Zuerst schüttelte sie den Kopf. Dabei glänzte ihr schwarzes Haar im Sonnenschein wie die Flügel eines Raben. Dann sagte sie: »Papa, ich kann es nicht anders als ganz direkt ausdrücken – ich fahre nicht mit. Ich möchte nicht, daß jede Minute meines Lebens für mich verplant wird.« »Juliette! Das klingt sehr undankbar!« »Ich habe nicht die Absicht, undankbar zu sein. Ich begrüße die Idee, finde ganz toll, was du dir ausgedacht hast. Es ist nur so, daß ich jetzt nicht nach Europa möchte.« Ihre Stimme wurde entschlossener. »Ich bin schließlich erwachsen. Viele Mädchen sind mit siebzehn oder achtzehn bereits verheiratet und haben Kinder. Daher denke ich, daß auch ich in dieser Sache das Recht habe, zumindest mitzuentscheiden.« Pork spürte, wie sich sein Innerstes aufbäumte. Frauen hatten überhaupt nichts zu entscheiden. Er hatte noch nicht mal mit Nell über diese Reise gesprochen. Sie würde einverstanden sein, das stand ganz außer Zweifel. Sein Saphirring funkelte, als seine Hand sich über den Tisch schob und das Kuvert streichelte. »Sei doch nicht so stur, Juliette. Sieh dir erst mal das Material an. Es ist ein vorläufiger Reisevorschlag für die ersten neunzig Tage. Eine
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Beschreibung der Kabinen erster Klasse, die ich bereits auf dem besten Schiff der Cunard-Linie gebucht habe –« »Es tut mir leid, Papa«, unterbrach sie ihn. »Ich fahre nicht.« Mein Gott, diese Schwärmerei ist sehr ernst und gefährlich. Er hatte angenommen, daß sie leicht zu überwinden sein würde. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Er entblößte die Waffe, die er bisher versteckt bereitgehalten hatte. »Ich werde vorerst deine Reaktion vor deiner Mutter geheimhalten.« Julies graue Augen bekamen einen bitteren Ausdruck, als sie zu verstehen begann. »Deine Mutter hat den innigen Wunsch, diese Reise zu unternehmen. Du weißt genauso gut wie ich, was die Folge sein kann, wenn du dich weiterhin dagegen sträubst. Du kennst ja das labile Nervenkostüm deiner Mutter. Möchtest du vielleicht für einen Zusammenbruch verantwortlich sein? Oder, Gott bewahre, für etwas noch Schlimmeres? Wenn du ihr diese Freude versagst und etwas Ernstes geschieht, dann liegt die Schuld ganz allein bei dir.« Mit einem unterdrückten Schrei sprang Julie auf. Sie hielt sich am Türpfosten fest, als wolle sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Ihr tränenüberströmtes Gesicht erschien über der Schulter ihrer Hemdbluse. »Das ist so grausam.« »Deine Schuld«, wiederholte Pork drohend. »Du allein bist dafür verantwortlich.« Sie schlug krachend die Tür hinter sich zu. Pork lehnte sich zurück und war ausgesprochen entsetzt über die soeben abgelaufene Szene. Ihre »Schwärmerei« war offenbar doch mehr als das. Es war eine jugendliche Verliebtheit, vor der in Büchern über Kindeserziehung stets gewarnt wurde. Der Crown-Neffe mußte ein wahrer Satan von einem Verführer sein. Dennoch, als sein Schock vorüber war und er sich mit den Realitäten abgefunden hatte, von denen er vorher nichts geahnt hatte, fühlte er sich etwas besser. Er hatte sehr wohl Juliettes gequälten und schuldbewußten Gesichtsausdruck mitbekommen, kurz bevor sie das Zimmer verließ. Sie hatte durchaus recht mit ihrem Hinweis auf ihre körperliche Reife. Sie besaß viele Reize einer fünf bis zehn Jahre älteren Frau. Innerlich war sie jedoch immer noch sehr unreif und wurde hin und her gerissen zwischen den widerstreitenden Emotionen ihre Jugend. Es war durchaus verständlich, daß sie sich in jemanden verliebte, der völlig unakzeptabel war, und daß sie von ihren Gefühlen für den Betreffenden in die Irre geleitet wurde.
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Gleichzeitig war sie aber auch dazu erzogen worden, ihre Eltern zu achten und ihnen zu gehorchen. Und um sie nachhaltig an die Pflichten einer gehorsamen Tochter zu erinnern, hatte er seine schärfste Waffe eingesetzt. Emotionen konnten erfolgreich durch andere Gefühle verdrängt werden. Es hatte schon früher funktioniert. Und würde auch jetzt funktionieren. Er mußte nur Geduld haben. Er betätigte die entsprechende Glocke und ließ seine Kutsche vorfahren. Wenig später war er unterwegs, fuhr die Prairie Avenue hinauf und blickte zuversichtlich in die Zukunft. Pork verbrachte die Nacht in einer schäbigen Bude in der wuchernden Wildnis der Touhy Avenue. Aber die reichlich heruntergekommene Umgebung war dank der Bewohnerin, einer aufstrebenden Soubrette namens Liza, in Wirklichkeit genauso reizvoll wie ein türkischer Harem. Liza war des öfteren mit Theaterkompanien von zweifelhaftem Ruf im Mittleren Westen unterwegs. Er war einmal heimlich bei McVicker’s gewesen, als sie in einer Komödie eine winzige Rolle hatte. Auf der Bühne war sie eine ziemlich dürftige Schauspielerin. Im Bett hingegen war sie zu Höchstleistungen fähig. Am folgenden Morgen, es war der Freitag, begab er sich um Viertel vor sieben direkt in die LaSalle-Straße. Sein Buchhalter, Roswell, erwartete ihn schon in der Tür. Er sah aufgeregt aus. »Sie sollten lieber sofort nach Hause fahren, Mr. Vanderhoff. Ihre Frau ist völlig aufgelöst.« Pork eilte schnellstens in die Prairie Avenue. Er traf Nell in ihrem Hausmantel an. Ihr Haar war zerzaust. Sie irrte jammernd umher, stürzte sich auf Pork und schlug mit ihren kleinen Fäusten gegen seine Brust. »Sie ist weg, verschwunden! Ich weiß nicht wohin. Ihr Bett ist unbenutzt. Sie muß während der Nacht weggegangen sein. Wo ist sie? Was ist passiert? Mein Gott, ich bin völlig durcheinander. Ruf Dr. Woodrow, ehe ich endgültig den Verstand verliere!«
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53 Paul Paul kam sich im Haus der Crowns mehr und mehr wie ein Fremder vor. Onkel Joe und Tante Ilsa waren höflich zu ihm, aber das war auch schon alles. Paul konnte immer noch einen unterdrückten Zorn in der Stimme seines Onkels hören, und Tante Ilsa konnte ihre herzzerreißende Trauer nicht verbergen. Am Dienstagabend nach Joe juniors Weggang hatte Paul seinen ganzen Mut soweit zusammengerafft, um mit seiner Tante im Nähzimmer zu reden. Stockend drückte er ihr sein Bedauern aus, daß Joe sie verlassen hatte, und bat sie um Verzeihung für die Rolle, die er bei der Aktion gespielt hatte. Sie sagte, ja, es sei ihre Christenpflicht, ihm zu verzeihen. Aber ihre Worte klangen hohl. Er konnte ihr deswegen nicht böse sein. Fritzi trauerte ganz offen. Sie klagte ihn in keiner Weise direkt an, aber sie schwatzte und scherzte auch nicht mehr mit ihm. Er schien ihr leidzutun, aber sie suchte nicht mehr seine Nähe, wie sie es vorher getan hatte. Carl schlich mit düsterer Miene durch das Haus, aber er schien von allen am wenigsten betroffen zu sein. Vielleicht war er noch nicht alt genug, um in vollem Umfang zu begreifen, was geschehen war. Vielleicht hegte er auch die naive Überzeugung, daß sein Bruder schon bald wieder nach Hause zurückkommen würde. Es war für Paul offensichtlich, daß außer ihm niemand an etwas Derartiges glaubte. An seinem Arbeitsplatz redete er nur, wenn es unbedingt nötig war. In jeder freien Minute las er Zeitungen. Nicht so sehr, um sich zu informieren, sondern mehr zur Ablenkung. Der Streik in Chicago wurde beendet. Eisenbahner, die den von Debs ausgerufenen Boykott aktiv unterstützt oder sich zustimmend dazu geäußert hatten, fanden Kündigungsschreiben in ihren Lohntüten. Der Abzug der Nationalgarde hatte begonnen. Die Soldaten wurden mit der Eisenbahn nach Kalifornien verlegt, wo in Sacramento und Oakland ebenfalls Arbeiterunruhen ausgebrochen waren. Am darauffolgenden Montag sollte Eugene Debs zu einer Anhörung vor einem Richter erscheinen. Es lag eine Anklage wegen Mißachtung des Gerichts gegen ihn vor, weil er die einstweilige Verfügung nicht beachtet hatte. Debs hatte einen gerissenen und streitbaren Anwalt namens Clarence Darrow engagiert, einen Mann aus Ohio, der einige Jahre zuvor in die Stadt gekommen war. Es war beinahe ein Skandal, als Mr. Darrow den glänzenden Posten als Firmenanwalt der Chicago & Northwestern Railroad niederlegte, um einen Aufrührer zu verteidigen, der von zahlreichen Leitartikelschreibern einmütig als »völlig Verrückter«, »Syphilitiker im dritten Stadium« oder als »Verbrecher, der
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nichts als den Strick verdient« bezeichnet wurde. Aber Darrow war wohl nicht gerade der typische karrierebewußte Anwalt, vermutete Paul. Einige seiner kontroversen Erklärungen wurden gerne zitiert. »Die Nation wird einzig und allein vom Geschäft regiert, und Geschäftemacherei ist legalisierter Betrug.« »Gerechtigkeit ist wie Zucker oder Salz auf dem Tisch –die Menge bemißt sich nach dem Geld, das man besitzt.« Paul hatte den weißen Stoffstreifen in seinem Zimmer zwischen die Ansichtskarten an das Holzbrett geheftet. Die Blutflecken hatten sich mittlerweile braun verfärbt. Das Band erschien nun, da der Streik zu einer Erinnerung verblaßt war und das Licht kapitalistischer Vernunft und Ordnung die düstere Stadt wieder erhellte, töricht und übertrieben pathetisch. Er fand es entsetzlich, daß ein untadeliger Gentleman wie Mr. Schildkraut sein Leben verloren hatte. Aber war Vetter Joe der einzige Übeltäter? Benno und sein Komplize hatten schließlich die Bombe gelegt. Und könnte man nicht sogar argumentieren, daß auch Onkel Joe einen Teil der Verantwortung trug? Die Schuld allein auf Joe junior zu schieben war ganz einfach falsch, und er selbst war immer noch fest davon überzeugt, daß er richtig gehandelt hatte, als er seinem Vetter zur Flucht verhalf. Er wünschte sich nur, daß die anderen Menschen, die er im Laufe der Zeit lieben gelernt hatte, nicht so sehr darunter litten und ihm keine zu massiven Vorwürfe machten. Er wünschte sich, daß auch er selbst nicht so sehr darunter leiden möge. Onkel Joe äußerte sich nicht. Nicht über seinen Sohn und nicht über irgendeine Entscheidung, die Paul betraf. Am Donnerstag konnte Paul es nicht mehr ertragen. Mittags verzichtete er darauf, seine mitgebrachte Mahlzeit zu verzehren, und begab sich ins Bürogebäude. Während er mit zwei Fingern auf der Schreibmaschine tippte, verfolgte Stefan Zwick, wie Paul die Hand hob, um an die Tür seines Onkels zu klopfen. »Das würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht tun.« »Ich muß, Mr. Zwick.« Er klopfte. Ein einsilbiges Knurren forderte ihn zum Eintreten auf. Er kam gerade weit genug ins Zimmer, um die Tür hinter sich zu schließen. »Was ist?« »Sir, ich wollte Sie nicht stören –« »Aber genau das tust du gerade.« Paul errötete, ließ sich aber nicht abweisen. »Mir liegt eine Frage auf dem Herzen – gibt es irgendwelche Neuigkeiten von meinem Vetter?«
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»Keine. Ich frage jeden Tag bei der Polizei nach. Ich habe außerdem eine Privatdetektei engagiert. Bisher hatten sie keinen Erfolg. Joe scheint spurlos aus der Stadt Chicago verschwunden zu sein.« »Onkel, bitte glaub mir, daß es mir leidtut. Ich habe nur getan, was er wollte. Ich hab’ ihm geholfen, als er mich darum bat.« Onkel Joe hielt seinen Federhalter, als sei er ein Speer, den er gegen seinen Besucher schleudern wollte. »Nein«, sagte er, »du hast dich damit gegen deine Tante und mich gestellt. Du kannst dir jetzt nicht selbst die Absolution erteilen, indem du den reuigen Sünder spielst. Bitte geh, ich habe zu tun.« Als er am Samstagmorgen zur Arbeit ging, fing ihn ein farbiger Junge vor dem Tor ab. »Das ist für Sie, Sir.« Er reichte Paul einen zusammengefalteten Zettel. »Bist du ganz sicher?« Auf der Außenseite des Zettels war nichts zu lesen. »Ja. Sir, war nich schwer, Sie zu erkennen. Hab ‘ne gute Beschreibung von Ihnen.« »Von wem?« »Einer schönen, jungen weißen Lady. Ich hab’ meinen Schuhputzstand vor dem Bahnhof der Northwestern, und sie kam rüber und sagte mir, wie Sie aussehn, und gab mir ‘nen Dollar, damit ich Ihnen das hier bring’.« Paul faltete den Zettel auseinander. Seine Lippen wurden bleich. Radigan’s Hotel & Cottages – nördlich von Waukegan. Heute nachmittag – BITTE!! IN EWIGER LIEBE Um vier Uhr saß er auf einer grünen Polstersitzbank in einem nach Norden fahrenden Vorortzug der Chicago & Northwest-Linie und blickte aus dem Fenster. Telegraphenmasten und kleine Farmhäuser flogen vorbei. Er würde Schwierigkeiten bekommen, weil er seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, ohne jemanden zu informieren. Eigentlich war ihm das ziemlich gleichgültig. Die Nachricht war von unmißverständlicher Dringlichkeit, und sein Verhältnis zu Onkel Joe konnte kaum noch schlechter werden. Er stieg in dem verschlafenen Bahnhof von Waukegan am Fuß eines steilen Hügels am Seeufer aus. Er mietete für zwanzig Cents ein rotes Fahrrad und strampelte auf der von Bäumen gesäumten SheridanLandstraße nach Norden. Nachdem er einige Meilen weit durch die
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Landschaft geradelt war, näherte er sich der Staatsgrenze von Wisconsin. Auf der linken Seite der asphaltierten Straße entdeckte er ein verwittertes Hinweisschild – RADIGANS –, das an zwei Ketten hing. Ein kräftiger Seewind, der weiße Schaumkronen auf die Wellen zauberte, ließ es hin und her schwingen. Hinter dem Schild stand ein weißes Holzhaus mit Kuppeldach, Veranda, Wetterfahnen und Blitzableitern. Dahinter, in U-Form angeordnet, befand sich eine Reihe kleiner Hütten, die dem Haupthaus ähnelten, ohne jedoch dessen Vorbau und übertriebene Verzierungen zu besitzen. Steif und staubig stieg er vom Fahrrad und ging über den Schotterweg, der zu den Hütten führte. Ihm war durchaus klar, was geschehen würde, aber er konnte es noch immer nicht richtig fassen. Die Aussicht darauf war aufregend und beängstigend zugleich. Was er beabsichtigte, war töricht und gefährlich. Die Tür von einer der Hütten öffnete sich. Eine weiße Gestalt winkte ihm mit einem Taschentuch zu. Sein Herz wollte ihm vor Glückseligkeit fast zerspringen. Er konnte gar nicht schnell genug laufen … Er stellte das Fahrrad vor dem kleinen Haus ab, rannte zur Tür, schlang die Arme um sie und küßte ihre feuchten Wangen. Sie hatte geweint. Vor Freude, hoffte er. Sie streichelte und drückte seine Schulter und wiederholte ständig seinen Namen, während sie ihn in die Hütte zog. »Du hast meine Nachricht erhalten –«, begann sie. »Habe ich, aber ich verstehe nicht –« Sie brachte ihn mit einem süß duftenden Finger, den sie auf seine Lippen legte, zum Schweigen. »Ich bin gestern abend von zu Hause weggelaufen. Ich mußte dich sehen, ganz allein. Ich setzte mich in den Zug und mietete mir dann einen kleinen Wagen in einem Mietstall. Ich hab’ ihn in die Scheune gestellt, damit er von der Straße nicht gesehen wird.« »Julie, um Himmels willen – du bist von zu Hause weggegangen? Weshalb?« »Ich liebe dich, Paul. Ich liebe dich über alles, und Papa will uns voneinander trennen.« »Wie bitte? Weiß er Bescheid?« »O nein, ich glaube nicht, es ist eher ein schrecklicher Zufall. Er und Mama wollen eine Europareise unternehmen. Sie bestehen darauf, daß ich mitfahre.« Sie beruhigte sich jetzt und wischte sich die Tränen aus den
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Augen. Licht drang durch ein kleines Hinterfenster, vor dem ein dünner Spitzenvorhang hing. Eine Aura aus Sonnenlicht legte sich um ihr schwarzes Haar. Paul sah jetzt auch Einzelheiten der Hütte. Den Linoleumfußboden. Einen Bettvorleger. Eine billige Deckenlampe, deren Glasschirm und Brennstofftank mit Blumen verziert waren. Das große eiserne Bettgestell war weiß emailliert. Die vier Eckpfosten endeten in Messingkugeln. Daneben stand eine ebenfalls weiße Kommode, deren Türen geschlossen waren, um das Nachtgeschirr zu verbergen. Der Spiegel darüber, leicht nach vorne geneigt, war fleckig vom Alter. Er lieferte ein verzerrtes Bild der beiden Liebenden, die nebeneinander auf dem Bett saßen, einander berührten und umarmten. »Dann fahr nicht mit, wenn du nicht willst«, sagte er. »Ich habe Papa erklärt, ich wolle nicht. Er sagte, die Reise sei Mamas Herzenswunsch. Es wäre für sie eine unendliche Enttäuschung, wenn ich mich weigerte. Er sagte, es könne sogar ihr Tod sein. Immer wenn sie etwas wollen, benutzen sie Mamas angegriffene Gesundheit, um mich zu überreden. Ich habe schon daran gedacht, für immer von zu Hause wegzugehen, aber was soll ich dann tun? Verkäuferin werden? Ich weiß ja gar nicht, wie ich für mich sorgen soll.« Er ergriff ihre Hand. »Du bist ganz alleine hierhergekommen. Woher kanntest du dieses Hotel?« »Ich war schon mal hier, vor zwei Jahren. Ich kam damals mit Mama und Papa aus Wisconsin. Unsere Kutsche hatte eine Panne, und wir haben hier übernachtet.« »Aber sag nur, wie hast du es denn diesmal geschafft, so ganz allein, meine ich?« »Ich habe den Mann an der Rezeption bestochen. Freust du dich nicht? Sag, daß du dich freust! Wenn es nicht so ist, bricht es mir das Herz – ich liebe dich doch so.« Sie legte die Hände an seine Wangen und küßte ihn. Seine Arme legten sich um sie. Sie sanken nach hinten auf das harte Bett. Ihre von der Reise noch staubige Hemdbluse rutschte hoch. Er legte ein Bein über ihre Hüfte und küßte sie leidenschaftlich. Sie stöhnte unterdrückt, drängte sich gegen ihn, streichelte sein Gesicht. »Ich will dich so sehr, Paul. Es ist so lange her, seit ich dich das letzte Mai sah –« »Und soviel ist in dieser Zeit passiert.« Er küßte ihre feuchten Mundwinkel, ihre Nase, die Augen. »Ich hab’ dir soviel zu erzählen.« »Später, Liebling.« Sie küßte seinen Hals, zog ihn heftig an sich.
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»Julie, ich darf diese Situation nicht ausnutzen, dir nicht zu nahe –« »Ach, red keinen Unsinn«, rief sie lachend und weinend zugleich. »Ich bitte dich, mich zu lieben. Was meinst du denn, weshalb ich mich habe hinreißen lassen, dies hier zu tun? Bitte weise mich nicht ab. Liebe mich, so lange wir dazu Gelegenheit haben!« Sie küßten sich erneut. Seine Hände lagen plötzlich auf ihren Brüsten, streichelten sie zärtlich. Julie biß in sein Ohr, ließ ihre Zunge über seine Wange gleiten und wurde immer erregter. »Ich habe keine Erfahrung«, flüsterte sie. »Mama lehnt es ab – über Männer und Frauen zu reden.« Pauls Hand schob sich unter ihren Rock, den Unterrock und berührte den Baumwollstrumpf auf der Innenseite ihres Oberschenkels. »Sie sagt, das ganze Thema sei unschicklich. Das wenige, das ich weiß, kenne ich nur vom Hörensagen.« »Keine Angst, das ist nicht schlimm. Es macht nichts –« Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete ihr vom Weinen gerötetes Gesicht. Es war der schönste Anblick seines Lebens. Dieses Zusammensein in einem billigen Hotelzimmer am windumtosten Seeufer besiegelte eine grundlegende Veränderung seiner Gefühle, seines Lebens, seines Schicksals. »Ich liebe dich, Juliette. Immer. Für alle Ewigkeit.« »Dann lieb mich, Paul.« Sie streckte ihm die Arme entgegen. »Jetzt.« Der Wind drehte auf jene abrupte Art und Weise, wie sie im Sommer für diese Gegend typisch war, auf Nordwest. Sie konnten hören und spüren, wie der Wind an der Hütte zerrte, während sie in enger Umarmung nackt nebeneinander lagen, weich, warm, zufrieden, unter einem rauhen, gestärkten Bettlaken und einer Daunensteppdecke. Das Licht des Tages war bis auf einen letzten Schimmer der Sonne erloschen, die hinter den Pappeln an der Grenze des Anwesens unterging. »Hast du Hunger?« fragte sie. Er lachte. »Essen ist im Augenblick das letzte, was mir in den Sinn käme. Ich habe so viele Fragen an dich. Hab’ dir soviel zu erzählen –« »Na schön, falls du Hunger bekommst, ich habe einen Proviantkorb mitgebracht. Ich habe ihn heute morgen in Waukegan aufgefüllt. Es gibt Käse, Bratwurst, Brot, eine Flasche Moselwein, die mir der Ladeninhaber nicht verkaufen wollte, weil ich ihm zu jung erschien – der Wein wird sicher zu warm sein.« »Sie sind weitaus überlebensfähiger, als Sie sich selbst gegenüber zugeben wollen, Miss Juliette. Sie mieten dieses Zimmer – sorgen für Proviant, sogar für Wein –«
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»Doch nur, weil ich Angst habe, daß sie mich zwingen mitzufahren und ich dich ein ganzes Jahr lang nicht mehr sehe. In einem Jahr kann eine Menge passieren, Paul. Menschen können für immer getrennt werden. Sie können einander sogar vergessen.« »Niemals. Ich liebe dich. Immer. Ewig.« Sie küßten sich, berührten sich und begannen mit einem neuen, genußvollen, langsamen zweiten Liebesspiel. Sie war nicht mehr so scheu, weniger zurückhaltend. Sie umarmte ihn mit einer Heftigkeit, die ihn zu einem derart aufwühlenden Höhepunkt trieb, daß er nachher eine halbe Stunde schlief. Sie schlief ebenfalls, nachdem sie sich in seine Armbeuge gekuschelt hatte. Sie lagen nebeneinander wie ein altes Ehepaar. Jedenfalls kam es ihm, halbwach im Delirium seines Glücks, so vor. In der Dunkelheit hatte er ein wenig Mühe, in Hemd und Hose zu schlüpfen. Sie zog sich ihren Rock und die weiße Hemdbluse an und nichts darunter. Er half ihr, die Bluse auf dem Rücken zuzuknöpfen. Er fühlte sich dabei seltsam glücklich und geborgen. Er zog den vorderen Vorhang der Hütte auf und stellte fest, daß im Hotel nur drei Fenster erleuchtet waren. Ein Einspänner mit großen gelben Rädern parkte vor der Veranda. Das Pferd war an einer Haltestange angebunden. Das Getöse der Wellen, die auf den Steinstrand unterhalb der Straße aufliefen, war ein beruhigendes Geräusch. Julie hatte Streichhölzer. Er schloß den Vorhang wieder, zog die Lampe nach unten und zündete sie an. Sie bedienten sich aus dem Picknickkorb. Der Moselwein, obgleich ein wenig warm, kam ihnen vor wie reiner Nektar. Julie sah weich und vollkommen glücklich aus, während sie eine Scheibe Schwarzbrot verspeiste, die er mit einem Taschenmesser von einem Brotlaib abgeschnitten hatte. »Ich muß dir unbedingt erzählen, was geschehen ist. Vetter Joe ist weggegangen.« »Joey? Wohin?« »Das weiß niemand, er lief einfach davon.« Er schilderte die Ereignisse, die dazu geführt hatten. Sie staunte, war aber noch verblüffter, als er seine eigene Rolle bei dem Geschehen schilderte, dann wie es entdeckt wurde und wie seine Familie darauf reagierte. »Oh, Paul, das tut mir leid.« Sie streichelte sein Gesicht. »Du mußtest ihm helfen, als er dich darum bat, du hattest keine andere Wahl.« »Das habe ich auch gedacht.« »Armer Joey. Meinst du, er ist für immer weg?«
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»Ich habe das Gefühl, ja.« Er hielt kurz inne. »Du bist der zweite Ausreißer, mit dem ich in dieser Woche zu tun habe.« Sein Versuch, die Unterhaltung aufzulockern, schlug fehl. Er räusperte sich für die gefürchtete Frage: »Du gehst wieder zurück, nicht wahr?« »Ich weiß nicht. Ich habe Mut, Paul – manchmal. Aber sehr oft reicht er nicht aus.« »Mut ist wie ein Muskel, glaube ich. Man muß ihn benutzen und trainieren.« Sie lachte, tätschelte ihn. »Du bist ein wirklich schlauer Bursche. Ich bin richtig froh, daß ich mich in dich verliebt habe. Du wirst sehr weit kommen.« Julie sagte, sie habe zwei Tage vorher, als sie über dieses geheime Treffen nachdachte, ihrer Tante Willis ein Telegramm geschickt. Sie hatte darin um Erlaubnis gebeten, ihre Tante zu besuchen, falls sie jemals eine Zuflucht brauchte. Die Haushälterin ihrer Tante hatte daraufhin per Telephon ein sehr teures Ferngespräch geführt und erklärt, Willis sei vierzehn Tage vorher in Begleitung nach Paris abgereist. »Die Haushälterin hatte zwar keine weitere Erklärung geliefert, aber ich konnte es aus ihrem Tonfall heraushören. Die Begleitung ist wahrscheinlich ein neuer Mann. Meine Tante bringt eben einen Mut auf, den ich nicht habe.« »Doch, du hast ihn«, widersprach Paul ihr und drückte einen Kuß auf ihr gelöstes Haar. Sie war nicht davon überzeugt. »Wir müssen jetzt über morgen reden, Julie«, sagte er. »Wir werden uns wohl irgendwelche Ausreden wegen unseres Wegbleibens ausdenken müssen.« Er haßte es, irgend jemanden anzulügen. Aber für Julie würde es sehr heikel, wenn die Wahrheit bekannt würde. Sie war noch nicht volljährig. Sie hatte ihre Unschuld verloren, der Beweis fand sich auf dem Bettlaken. Man würde ihn verantwortlich machen – er würde die Schuld bereitwillig auf sich nehmen –, aber sie hätte unter den Folgen zu leiden. »Wir müssen uns wirklich etwas Gutes einfallen lassen –« »Nicht jetzt, Paul. Erst morgen früh. Wir wollen uns die Nacht nicht durch solche traurigen Gedanken verderben. Halt mich fest. Gib mir Mut und Zuversicht.« Sie liebten sich noch einmal und schliefen dann ein. Es donnerte. Paul fuhr hoch. Er hatte die Steppdecke von sich geschoben. Er fror. Julie murmelte etwas in ihr Kopfkissen. Sie schlief noch fest.
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»Julie!« Seine Stimme war leise, heiser. Er ergriff ihre Schultern, um sie zu wecken. Er erkannte, was das Donnern tatsächlich bedeutete. Jemand klopfte heftig an die Tür. »Juliette? Wir wissen, daß du da drin bist! Mach auf!« Er schüttelte sie. Sie wollte nicht wach werden. Draußen sagte ein Mann: »Nun nehmen Sie schon die verdammte Axt!« Paul hatte gerade noch Zeit, aus dem Bett zu springen und seine Hose anzuziehen, als die Axtklinge bereits mit einem Krachen durch die Tür brach. Eine tastende Hand drehte den Türknauf. Ein zweiter Axthieb sprengte die Tür von der oberen Angel weg. Vier – nein, fünf Männer standen draußen und drängten herein. Einer war ein massiger Riese mit einem Filzhut auf dem Kopf. Laternen flackerten. Stiefel trampelten über den Linoleumfußboden. Julie setzte sich nackt auf. Sie war stumm vor Schreck. Paul deckte das Laken über sie. Ihre völlig verschlafenen Augen begannen die Umgebung wahrzunehmen. Helle silberne Abzeichen blinkten an Anzugwesten. Barsche Stimmen erklangen. »Juliette. O mein Gott! Holen Sie den Bastard aus dem Bett, Sheriff. Verhaften Sie ihn, verdammt noch mal, sie ist noch minderjährig!« »Geben Sie mir nicht die Schuld. Sie hat das Zimmer unter falschem Namen gemietet.« Das kam von einem kahlköpfigen Mann mit Schnurrbart und Hosenträgern über einem kragenlosen Hemd. Einer der Männer mit einem Abzeichen packte Pauls Schulter. Paul schlug die Hand beiseite. Der Mann gab ihm eine Ohrfeige. Paul schlug zurück, verfehlte den Mann jedoch. Er stürzte auf den Bettvorleger und landete unsanft auf dem Allerwertesten. Der Polizist trat ihm gegen die Beine, die Rippen, während der riesige Mann den Kahlköpfigen anbrüllte. »Sie wußten genau, daß sie noch minderjährig ist, Radigan. Das Schweigegeld haben Sie jedenfalls angenommen.« »Komm schon hoch, du Haufen Scheiße.« Einer der Gesetzeshüter riß Paul auf die Füße. Julie schrie auf. »Oh, tun Sie ihm nicht weh!« »Sei still!« brüllte ihr Vater. Ein anderer Polizist mit einem Abzeichen ließ Handschellen um Pauls Handgelenke zuschnappen. Er stand benommen da, während der Hotelbesitzer jammerte: »Ich hab’ die zwanzig Dollars nur angenommen, damit sie keinen Verdacht schöpft, Mr. Vanderhoff. Sie hat einen falschen Namen ins Buch
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eingetragen, aber ich erkannte sie von damals. Ich hab’ doch richtig reagiert und Sie sofort angerufen, nicht wahr?« »Stunden später erst. Mein Gott, Sie konnten doch sehen, was los war.« Der massige Mann schlug Paul ins Gesicht. »Du verdammter Hurensohn, ich sorge dafür, daß du für den Rest deines jämmerlichen Lebens hinter Gitter kommst!« Er wandte sich zu seiner Tochter um und stieß sie vom Bett. Sie hüllte sich in die Steppdecke. Der große Mann entriß einem der Polizisten die Laterne und beleuchtete damit das Laken. »O mein Gott, sehen Sie doch! Zu spät! Das Unglück ist geschehen!« »Hören Sie«, meldete Paul sich zu Wort. »Sie haben kein Recht, einfach hereinzustürmen und sie zu erschrecken –« »Erzähl mir nichts von Recht oder Unrecht, du gottverdammter ausländischer Abschaum, du verdammter Verführer.« Vanderhoff schwenkte die Laterne, als wolle er Paul damit in Brand setzen. Einer der Polizisten hielt ihn zurück. »Mr. Vanderhoff, warten Sie. Wir sollten uns lieber an unseren Plan halten. Bringt ihn nach draußen in den Wagen.« »Was haben Sie vor?« fragte Julie. Sie kauerte auf Knien hinter dem Bett und zitterte am ganzen Körper. »Wir bringen ihn über die Grenze nach Cook County«, sagte der Polizist. »Dort stecken wir ihn ins Gefängnis. Wenn sich ein paar von den Drogensüchtigen und Schwulen mit ihm beschäftigen, wird er das so bald nicht vergessen.« Ein anderer Polizist kicherte. »Wenn er wieder rauskommt, ist er reif für die Klapsmühle.« »Wenn …«, sagte der erste. »Haltet keine Volksreden«, schnaubte Vanderhoff. »Steckt ihn endlich in den verdammten Wagen.« Ein Polizist stieß Paul nach draußen ins Freie. Die kalte Nachtluft erzeugte auf seiner nackten Brust und den Armen eine Gänsehaut. Ein Vollmond stand am Himmel. Zwei Pferde vor einem geschlossenen Wagen scharrten mit den Hufen. Ihr Atem kam als weißer Dampf aus ihren Nüstern. Er dachte nicht an sich, sondern nur an sie. Er drehte sich zu der dunklen Hütte um und rief: »Julie? Denk an das, was ich gesagt habe. Du bist stärker als –« Vanderhoff packte seinen Arm. »Halt die Klappe!« Er schleuderte Paul gegen den Wagen. »Du wirst meine Tochter nie wiedersehen.« Pauls Augen, die gewöhnlich einen freundlichen Ausdruck hatten,
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funkelten nun wie Eis. »Warten Sie ab! Es fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter!« »Was ist das für ein Unsinn?« »Ein altes deutsches Sprichwort. Es besagt, daß die Zeit vieles bewirken kann.« Vanderhoff lief rot an. »Sperrt ihn ein, ehe ich ihn zu Tode prügele!« Der Polizist stieß Paul einen Knüppel in den Rücken. »Rein in den Wagen, Dutchie. Dort, wo du jetzt hinkommst, gibt’s kein Bier und kein Sauerkraut.« »Aber sie lieben frisches Fleisch«, sagte sein Kollege und löste damit schallendes Gelächter aus. »Am Ende wirst du dich fragen, weshalb du überhaupt mit dem Schiff rübergekommen bist.« Die Türen des Gefangenenwagens schlugen zu und sperrten den Mond aus. Eine Kette klirrte, ein Schloß schnappte ein. Umgeben von totaler Dunkelheit, hockte Paul auf einer harten Bank, die gefesselten Hände zwischen den Knien. 54 JULIE Sie befand sich in einem seltsamen Dämmerzustand. Ihr Körper war gewichtslos. Das erschien ihr völlig natürlich und richtig. Sie hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Gesichter kamen und gingen am äußersten Rand ihres Gesichtsfeldes, schwebten über ihr, riesig groß und leicht deformiert, wie bemalte Ballons. »Ich hoffe, du ruhst dich gründlich aus. Dr. Woodrow hat eine ganz spezielle Medizin hergestellt. Du mußt sie jetzt wieder einnehmen.« Sie erkannte die Stimme, das Gesicht. Ihre Mutter. Sie spürte einen Druck im Rücken. Sie wurde angehoben und setzte sich halb auf. Eine Hand, die an ein Bündel abgestorbener Zweige erinnerte, führte ein Glas an ihre Lippen. Sie trank von der süßen, sirupartigen Flüssigkeit und sank mit einem müden Seufzer wieder nach hinten. Elfenlichter blinkten in einiger Entfernung. Sie erkannte Kerzen, die von vier Lichtpunkten umgeben waren und damit einen leuchtenden Stern bildeten. Die zerbrechliche Hand ihrer Mutter tauchte aus der Dunkelheit auf und strich über ihr langes schwarzes Haar. »Es ist so schön. Du bist ein so schönes Kind. Ich kann nicht zulassen, daß irgendein grober fremder Kerl diese Schönheit verdirbt. Papa hat mir alles erzählt. O habe ich geweint! Ich war außer mir, war wie rasend. Jetzt
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bist du nicht mehr unbefleckt. Damit werden wir leben müssen, was können wir sonst tun? Aber wir werden gewisse Schritte unternehmen, dafür sorgen, daß alles so ist, als sei es nie passiert. Dr. Woodrow hat sich bereits darum gekümmert, daß du kein Kind bekommst. Niemand außerhalb der Familie wird jemals erfahren, daß etwas Derartiges geschehen ist. Es gibt Möglichkeiten, einen Bräutigam zu täuschen. Aber das liegt noch in der Zukunft. Einstweilen mußt du dich ausruhen. Und zulassen, daß Mama dir hilft und dich heilt. Die Gesundheit einer Frau ist das Wichtigste. Nichts anderes ist von Bedeutung.« Kurz danach schwebte ein anderes Gesicht über ihr. Sie erkannte Papa, der fröhlich mit einem dicken gelben Umschlag winkte. »Vergiß das nicht, Juliette. Wir werden wunderbare Ferien machen, wir drei. Aber vorher fährst du für einen Monat nach Cleveland. Auf Anraten Dr. Woodrows. Es gibt dort eine sehr gute Einrichtung, nämlich das Mountjoy Hospital für orthopädische und nervöse Störungen. Dort werden vorwiegend Frauen behandelt, die unter neurasthenischen Erschöpfungszuständen leiden. Nach einem Monat der Ruhe in totaler Abgeschiedenheit wirst du wieder bei Kräften sein und dich auf Europa freuen.« Das holte ein anderes Gesicht in ihr Bewußtsein. Es war doppelt so lebendig wie die Gesichter, die langsam durch das von den Kerzen erzeugte Zwielicht trieben, einander umkreisten, gegeneinanderstießen. Dieses Gesicht war jung, markant. Die Haare waren braun mit einem rötlichen Schimmer. Die Augen waren blau, freundlich, vertrauenerweckend. Ihr Anblick entfesselte eine Flut von Empfindungen, Emotionen. Erinnerungen an Küsse, Liebkosungen, das Zusammensein ihrer Körper. Die Angst vor Trennung. Verlust. Drohungen – »Paul? Wo bist du?« »Dr. Woodrow, Dr. Woodrow«, rief jemand durchdringend aus der Halbdämmerung. Dr. Woodrows großer Kopf erschien engelsgleich. Blondes Haar kräuselte sich darauf, graue Locken fielen über die Ohren. Die Wangen erinnerten an reife Herbstäpfel, und der Mund war eine rosige Öffnung. Er verzog sich jetzt zu einem Lächeln. Dr. Woodrow streichelte ihre Hand. »Ganz ruhig.« »Ist das ein Anfall?« fragte ihre Mutter irgendwo aus der Dunkelheit. »Ich nehme es an.« »Was empfehlen Sie?« »Einen Aderlaß. Er wirkt aufbauend, regenerierend.« Sie bäumte sich auf und schrie: »Nein!« Sie schienen sie nicht zu hören.
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Jemand packte ihre Hände und zog sie nach oben über ihren Kopf, so daß sie sie nicht mehr sehen konnte. Ihre Handgelenke wurden freigelegt. Papa setzte sich auf ihre Füße. Metall klirrte. Körperlose Hände trugen ein glänzendes silbernes Gefäß vor ihren Augen vorbei. Es trieb über ihr in der Luft wie ein leuchtendes phantastisches Luftschiff und verschwand. »Ganz ruhig«, sagte Dr. Woodrow und strich ihr über das schwarze, glänzende Haar. Scheren trennten die Ärmel ihres Nachthemds auf. Sie wehrte sich vergeblich dagegen. Gummischläuche wurden um ihre Oberarme gebunden und verknotet. Dr. Woodrow streifte weiße Musselinhandschuhe über. Hände holten ein Silbertablett heran. Darauf lagen funkelnde Instrumente mit scharfen Spitzen oder Klingen für den Aderlaß. »Es ist heilsam«, sagte der Arzt und schürzte die rosigen Lippen wie zu einem Kuß. »Du spürst kaum etwas.« Er wählte ein blinkendes Skalpell. Sie schrie. 55 PAUL Hände betasteten sein Bein. Im Halbschlaf stellte Paul sich vor, es wäre ein Käfer, und zwar eine größere Art als die, welche in dem modrig riechenden Strohsack herumkrabbelte. Sein Blick klärte sich. Ein mattes Gaslicht hinter den Gitterstäben erhellte ein Mondgesicht mit blutunterlaufenen Augen, einen Mund voller fauler Zähne. Das Gesicht war seinem eigenen ganz nahe. Die Hand tastete sich höher. »Crazy Tom schläft, du schöner Junge. Komm runter in mein Bett, und sei lieb zu Swede. Zur Belohnung schenke ich dir auch ein Stück von meinem Kautabak. Aber vorher mußt du etwas anderes kauen.« Swede kicherte. Paul schlug seine Hand weg. »Laß mich in Ruhe. Ich will schlafen.« »Ach ja?« Swede packte Pauls Ohr und drehte es brutal. »Es zahlt sich nicht aus, wenn man im Knast hochnäsig ist. So was spricht sich rum. Paß nur auf, eines Tages ziehst du im Scheißhaus die Hose runter, und die Jungs zahlen dir deine Hochnäsigkeit auf ‘ne Art und Weise heim, die dir bestimmt nicht gefällt.« Paul spürte Läuse in seinen Haaren, in den Achselhöhlen. Er drehte sich um und kratzte sich. Ehe die Wachmannschaft das Gaslicht für die Nacht
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herunterdrehte, hatte Crazy Tom, ein Säufer und offenbar regelmäßiger Gast im Countygefängnis, auf einem Hocker in der Ecke gesessen. Er hatte sich das Hemd ausgezogen und an seinem Körper herumgekratzt, bis Blut kam. Swede streichelte ihm wieder den Hals. »Ich hab’ gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen, verdammt noch mal!« »Na schön, mein Junge. Dann eben nicht. Paß demnächst nur auf, was hinter deinem Rücken geschieht.« Swede kniff Paul ins Gesäß und kicherte wieder. Seine Stirn und sein schütteres Haar verschwanden im Dunkeln. Swede schlief im untersten Bett. Paul hatte das oberste. Das mittlere war frei. In der Zelle standen Betten für sechs Personen. Crazy Tom schnarchte im untersten Bett an der gegenüberliegenden Wand. Den alten Mann namens Swede abzuwehren war Pauls mühsame Beschäftigung der vergangenen zwölf Stunden gewesen. Er war völlig erschöpft. Er rollte sich zur Wand und legte den Arm über seine Augen. Er war so müde und schämte sich so sehr, daß er am liebsten gestorben wäre. Im Laufe des späten Vormittags hatte der Polizeiwagen mit ihm das Tor des Cook-County-Gefängnisses passiert. Die meisten Zellen in dem granitgrauen Gebäude hatten noch nicht einmal ein Fenster. In dem Gefängnis stank es aus Zinkeimern nach menschlichen Ausscheidungen und nach Tabaksaft, der achtlos auf den Granitfußboden gespuckt wurde. Die schleimige Schicht war trügerisch. In Pauls Zellentrakt herrschte ein Inferno von Rufen, Flüchen, Obszönitäten. Die Zellen standen von vier Uhr nachmittags bis sechs Uhr abends offen. In diesen zwei Stunden hatte er sich auf dem Korridor umsehen können. Auf und ab war er gelaufen, immer auf und ab, wobei er sich seinen Weg durch das Strandgut der Stadt suchte. Einige Männer beobachteten ihn, andere versuchten ihn zu berühren; andere wiederum flüsterten ihm Dinge zu, die er zu überhören versuchte. Zum Abendessen brachte der Wächter Blechteller mit kalten grauen Maisfladen. Paul biß in einen hinein und stieß auf ein Nest zappelnder weißer Würmer. Er erbrach sich in den stinkenden Aborteimer. Swede und Crazy Tom fanden das überaus belustigend. Die Zellen grenzten direkt an die Frauenabteilung. Eine Verbindung bestand durch eine Tür, die ständig offenstand. Kurz nachdem die Zellen für die Nacht wieder verriegelt worden waren, begannen die Frauen zu weinen und zu schreien. »He, Scheißer. Ihr Wichser! Ihr könnt uns mal. Nein, scheiß auf das hier. Nimm den Kopf etwas höher. Ha-ha, ha-ha, ha-ha
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…« Schritte näherten sich. Der Nachtwächter schaute herein. »Schlaft gut, Mädels.« Er fuhr mit dem Knüppel an den Gitterstäben entlang. Von dem Geräusch schreckte Crazy Tom hoch und brüllte. Der Wächter lachte und setzte seinen Rundgang fort. Paul kämpfte darum, nicht den Mut zu verlieren, aber es war schwer. Ist das Amerika? Hast du den weiten Weg über den Ozean nur zurückgelegt, um dies hier kennenzulernen? Und Julie … was war mit ihr geschehen? Hatte ihr Vater sie bestraft? Er hatte schreckliche Angst um sie. Kurz nachdem die Wächter die Häftlinge am Morgen geweckt hatten, wurde Paul aus seiner Zelle herausgeholt und eine Treppe tiefer in einen fensterlosen Raum mit Granitwänden geführt. An der Decke hing eine billige elektrische Lampe. Ein Holzstuhl stand in der Mitte des Raums, und eine Dampfheizung zischte. Zwei Kriminalbeamte mit steifen Hemdkragen und Ärmelhaltern hießen Paul mit einem Lächeln willkommen, dem er instinktiv mißtraute. »Setz dich, Dutch.« Der eine Beamte schloß die Tür und verriegelte sie. Der Heizkörper strahlte so viel Hitze ab, daß Paul unter seinem groben Gefängnishemd sehr bald in Schweiß gebadet war. Der massigere der beiden Beamten baute sich breitbeinig vor Pauls Stuhl auf. »Das hier ist die Schwitzkammer. Du weißt, was das heißt, Dutch?« Paul schüttelte den Kopf. »Wir arbeiten hier als Team. Jedes Team macht eine Stunde Dienst und hat dann ein Stunde frei. Auf diese Art und Weise können wir dich hierbehalten, bis du die Wahrheit sagst. Du bekommst nichts zu essen, nichts zu trinken, du darfst nicht schlafen und nicht pinkeln, sondern du sitzt hier und schwitzt.« Er beugte sich vor und brüllte: »Warum hast du sie entführt?« »Ihr seid Idioten, ich hab sie nicht entführt –« »Keine Schimpfworte, du verdammter Kraut. Du bist hier in polizeilichem Gewahrsam, und zwar in Chicago, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Hal? Verpaß ihm mal eine, damit er endlich lernt, sich zu benehmen.« Ein mit Bleischrot gefüllter Strumpf prallte gegen seinen Hinterkopf. Nach vorne gestoßen, rutschte er vom Stuhl. Der andere Beamte versetzte ihm einen Tritt, während er stürzte. Paul stöhnte und rutschte über den rauhen Granitfußboden. Er schloß die Augen.
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»Nein, du Haufen Dreck. Nicht einschlafen. Hoch mit dir!« Der andere Beamte packte seinen Hosenbund und riß ihn hoch. Paul mußte sich auf die Knie hochkämpfen und dann auf die Füße. Die Beamten setzten ihn auf den Stuhl und brüllten ihre Fragen. War er vorbestraft? Gehörte er zu irgendeiner sozialistischen oder anarchistischen Aktionsgruppe? Hatte er eine Geschlechtskrankheit? Hatte er schon andere junge Frauen entführt und vergewaltigt? Egal, wie er antwortete – verneinend oder mit spöttischem Lächeln –, sie waren nie zufrieden. Er mußte einen Hieb nach dem anderen mit dem Bleistrumpf einstecken. Schweiß rann über seine Haut. Er hatte das Gefühl, als würde seinem Körper jeder Tropfen Flüssigkeit entzogen. Den Beamten schien die Hitze überhaupt nichts auszumachen. Wahrscheinlich zum dreißigsten Mal widersprach er der Anschuldigung, er habe Julie entführt. Ehe der eine Beamte ihn wieder schlagen konnte, klopfte jemand laut an die Tür. Ungehalten sagte der ältere Beamte: »Immer mit der Ruhe da draußen. Hal, mach mal auf.« Die Tür quietschte. »Hört auf, Jungs. Der da kommt auf Kaution raus. Macht ihn ein wenig sauber, und bringt ihn runter.« Der Anwalt war ein geschniegelter kleiner Mann. Er trug eine Melone und einen Mantel mit Samtkragen. Paul fragte sich, weshalb er bei dieser warmen Witterung einen Mantel trug. Der Name des Anwalts lautete Kaspar Gross. Er kümmerte sich um Paul, zeigte ihm, wo er die verschiedenen Formulare unterschreiben mußte. Dann schüttelte er Paul die Hand und gratulierte ihm, als sei es eine ganz besondere Ehre, aus dem Cook-County-Gefängnis entlassen zu werden. Paul war noch immer barfuß, allerdings hatte man ihm das derbe graue Gefängnishemd und die Hose gelassen. Er schlurfte die Granittreppe hinunter und kam auf einen Hof, den er vorher gar nicht gesehen hatte. Über ihm zogen Gewitterwolken an einem gelblichen Stück Himmel dahin. In der Mitte des Hofs stand der Landauer der Crowns mit geschlossenem Verdeck. »Schön, daß Sie wieder draußen sind«, rief Nicky Speers vom Kutschbock. »Steigen Sie lieber ein, es fängt gleich an zu regnen.« Schwere Tropfen fielen platschend in die Pfützen. Paul öffnete die Wagentür und sah seinen Onkel auf der Bank sitzen. Er stützte beide Hände auf den Knauf seines Spazierstocks. Onkel Joes Gesicht verriet nichts. Paul sank ihm gegenüber auf die
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Ledersitzbank und zog die Tür zu. Onkel Joe stieß mit dem Stock auf den Wagenboden, der Landauer kurvte über den Hof und bog in die DearbornStraße ein, während der Regen immer heftiger wurde. »Ich bringe dich nach Hause, ehe ich in die Brauerei fahre«, sagte Onkel Joe mit gepreßter Stimme, als müsse er sich anstrengen, einen rasenden Zorn zu unterdrücken. »Du stinkst wie ein Müllhaufen.« »Das ist es wohl auch, was man da drin antrifft – ein Müllhaufen.« »Vanderhoff hatte nichts Eiligeres zu tun, als mich darüber zu informieren, was du dir geleistet hast. Er versuchte schon gestern, mich zu erreichen, aber ich hatte geschäftlich in Milwaukee zu tun. Er rief mich dann um Mitternacht zu Hause an. Glücklicherweise war ich gerade unten in der Nähe des Telephons, und deine Tante schlief, als der Anruf kam. Den Anwalt konnte ich erst heute morgen auftreiben.« »Ich bin dir trotzdem unheimlich dankbar.« Diese Erklärung hinterließ keinen sichtbaren Eindruck. »Ist das da in deinen Haaren getrocknetes Blut? Haben sie dich mißhandelt?« »Sie haben mich ziemlich hart verhört. Das wird schon wieder. Wenn du dir nur mal meine Sicht der Dinge anhören würdest –« »Dann rede.« »Juliette hat mich gebeten, zu ihr in dieses kleine Landhotel zu kommen. Ich liebe sie. Sie liebt mich.« »Das ist völlig bedeutungslos.« Paul war entsetzt über die Kälte in der Stimme seines Onkels. Sie klang eher wie die eines Richters und nicht wie die eines Blutsverwandten. »Vanderhoff erklärte sich damit einverstanden, seine Klage fallenzulassen, wenn unsere Familie über die Angelegenheit Stillschweigen bewahrt. Eine Anzeige würde in einen Gerichtsprozeß münden, und die Presse liebt nichts mehr als einen Justizzirkus mit Prominenten. Das möchte Vanderhoff auf jeden Fall vermeiden. Ich will auch keinen Skandal. Wir brauchten nicht lange miteinander zu feilschen. Vanderhoff stellte nur eine einzige weitere Bedingung. Daß du seine Tochter nie wiedersiehst und auch sonst keinerlei Verbindung mit ihr aufnimmst.« »Dieses Versprechen kann ich nicht geben.« »Das brauchst du auch gar nicht. Ich habe es nämlich schon für dich getan.« »Onkel –« »Sei lieber still! Deine Tante hat in letzter Zeit genug durchgemacht. Ich werde ihr die Wahrheit über diese beschämende Affäre nicht erzählen, und du tust es auch nicht. Unsere Geschichte lautet folgendermaßen: Du warst
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am Samstagabend in einer Kneipe. Dort hast du zuviel Bier getrunken, es gab Streit, und die Polizei wurde gerufen. Du wolltest die Kneipe nicht freiwillig verlassen, deshalb mußte die Polizei Gewalt anwenden. Das erklärt deine Blessuren. Du wurdest eingesperrt, bis Kaspar Gross dich herausholte. So, und damit hast du uns beide zu Lügnern gemacht.« »Aber die Erklärung ist in Ordnung. Ich möchte nicht, daß Tante Ilsa etwas Schlechtes von mir denkt.« »Sie soll nichts Schlechtes von dir denken? Du hast geholfen, daß unser Sohn von zu Hause weglief. Also erwarte keine Wunder.« Paul wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Meinst du, sie glaubt die Geschichte?« »Ich denke schon. Sie ist davon überzeugt, daß Alkohol die Menschen zu völlig widersinnigen Handlungen treibt. Je älter sie wird, desto leidenschaftlicher verabscheut sie das Trinken, sogar den Genuß von Bier. Es ist besser, wenn sie meint, du hättest zuviel getrunken. Das kann sie durchaus akzeptieren. Sie würde sterben, wenn sie wüßte, daß du eine unschuldige junge Frau geschändet hast.« Paul sackte in sich zusammen. Hatte er kurz vorher noch geschwitzt, so war ihm jetzt furchtbar kalt. Onkel Joe blickte aus dem Landauer in den Regen und auf das unvermeidliche Verkehrschaos aus Pferdebahnen, Droschken und Privatfahrzeugen. »Ich weiß nicht, was mit dieser Familie los ist, alles um uns herum scheint zusammenzubrechen. An dem Abend, als du mit der Tochter Vanderhoffs zusammen warst, hat Frederica dreist ihre Absicht verkündet, Schauspielerin zu werden.« Frederica. Er benutzte niemals Kusine Fritzis vollständigen Namen. »Schauspielerin – kannst du dir das vorstellen? Sie ist gerade dreizehn Jahre alt! Wie soll ich einem Mädchen in ihrem Alter erklären, daß Schauspielerinnen allgemein als Huren betrachtet werden? Ich sagte ganz einfach, daß so etwas nicht in Frage käme. Dem widersprach sie heftig und durchaus wortgewandt. Dreizehn Jahre alt, wohlerzogen, und sie lehnt sich gegen ihren Vater auf! Sie sagte weiter, wenn ich es nicht zuließe, werde sie das gleiche tun, was Joe junior getan hat. Weggehen.« Er schüttelte den Kopf, als sei er mittlerweile bis an die Grenzen seiner Tragfähigkeit belastet. Der Regen trommelte auf das Kutschenverdeck. »Alles bricht zusammen«, murmelte er wieder. »Mein Sohn ist mit deiner Unterstützung weggelaufen. Du entehrst die Familie mit deinem unmoralischen Verhalten –« »Onkel Joe, es ist nicht unmoralisch, wir lieben uns. Wir wollen heiraten.« »Mach dich nicht lächerlich, Paul, diese Vorstellung ist völlig unsinnig.
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Volljährig ist man in diesem Land erst mit einundzwanzig. Bis dahin kannst du nicht ohne elterliche Zustimmung heiraten. Außerdem hast du nicht die geringste Vorstellung von der Bedeutung des Wortes ›Liebe‹. Du weißt nicht, welche Verantwortung man damit übernimmt. Oder welche Rücksichten erwartet werden. Das wird aus deinem Verhalten deutlich. Nach allem, was du in dieser Woche getan hast, zwingst du mich zu einer schmerzlichen Entscheidung. Du wirst deine Siebensachen zusammenpacken und unser Haus verlassen. Tu dies nach Möglichkeit, ehe ich heute abend zurückkomme. Deine Arbeit bei Crown ist vorbei. Von jetzt ab wirst du deinen Weg alleine gehen müssen.« »Aber ich weiß nicht, wo ich –« »Du hast bisher sehr deutlich deine Unabhängigkeit bewiesen. Du hast auf den Straßen von Berlin gelebt. Hast alleine den Kontinent von New York bis nach Chicago überquert. Ich bin ganz sicher, daß du für dich sorgen kannst. Und auch eine Unterkunft finden wirst.« Onkel Joe klang wie ein völlig anderer Mensch. Verbittert; grausam. Paul sah seine Umgebung nur noch verschwommen, weil er plötzlich Tränen in den Augen hatte. »Onkel Joe, ich kann nicht glauben –« Onkel Joe stieß heftig seinen Stock auf den Wagenboden. »Das solltest du aber, Paul. Die Entscheidung ist gefallen.« Paul schloß die Augen und ließ sich in die Ecke der Sitzbank sinken. Er versuchte zu verbergen, wie traurig und verzweifelt er war. Sein Onkel sah ihn während der ganzen Fahrt bis zur Michigan Avenue nicht mehr an. »Zum Hintereingang, Nicky«, befahl er, als sie dort ankamen. Paul öffnete die Tür und stieg aus. Eingehüllt in seinen Regenmantel und unter seinem Hut verkrochen, ließ Nicky Speers die Peitsche über den Pferden knallen. Der Landauer rollte davon, und der Sommerregen prasselte Paul ins Gesicht. Die Atmosphäre in der Crown-Villa erinnerte an ein Mausoleum. Helga Blenkers teilte ihm mit, seine Tante habe bereits das Haus verlassen und werde wohl den ganzen Vormittag unterwegs sein. Niedergeschlagen stolperte er nach oben in sein Zimmer. Stunde um Stunde fiel der Regen aus einem schwarzen Himmel herab. Die Straßen wurden überflutet. Trotz seines Trübsinns, trotz des Schlags, den Onkel Joe ihm versetzt hatte, stellte er fest, daß er schon wieder ein wenig Kraft sammelte. Vielleicht hatte er bereits so viel erleiden müssen, daß es nichts mehr gab, was ihm in irgendeiner Form noch weh tun konnte. Er badete, rasierte sich und legte sich für ein kurzes Schläfchen in sein Bett.
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Er erwachte gegen halb zwei und erinnerte sich, was er nun tun mußte. Er zog frische Unterwäsche an, dann ein Oberhemd und nahm schließlich seine Knickerbocker sowie ein Jackett aus dem Schrank. Er zählte sein Geld, das er im Schreibsekretär aufbewahrte. Dreieinhalb Dollars. Innerhalb von fünfzehn Minuten packte er ein paar Kleidungsstücke in seinen Koffer und ließ noch ein wenig Platz für seine Andenkenstücke. Pauli und sein Sammeltrieb! Nun, es stimmte schon. Das Wandbrett quoll geradezu über. Er konnte nur die wichtigsten Dinge mitnehmen. Ein Papierfähnchen der White Stockings, das er sorgfältig um den dünnen Stock wickelte und am Rand in seinen Koffer steckte. Einen Stahlstich von der wunderschönen Lilian Russell, herausgerissen aus einer Wochenillustrierten, den er nun zusammenfaltete und in seine englische Grammatik legte. Obgleich der Koffer sich schon ausbeulte, stopfte er auch noch seinen Globus mitsamt Ständer hinein. Er wickelte ein Gummiband um all seine Ansichtspostkarten bis auf zwei. Eine hing noch am Brett. Die andere, das gemalte Bild von der Brauerei Crown mit den Fahnen auf den Türmen, riß er mitten durch und warf sie aufs Bett. Sein müder Blick ruhte auf der letzten Karte. Es war das stereoskopische Panorama des New Yorker Hafens. Er glaubte diesem Bild nicht mehr so uneingeschränkt wie früher. Er überlegte, ob er dieses Andenken ebenfalls zurücklassen sollte. Noch war er nicht bereit, diesen Schritt zu tun. Er zog die Heftzwecke aus dem Brett und war für einen Moment unschlüssig, was er nun mit der Karte tun sollte. Dann verstaute er sie in der Hosentasche, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte. Tante Ilsa kam herein. Ihre Augen waren wieder verquollen. Sie schlang die Arme um ihn. »Oh, Pauli, Pauli, wie ist das möglich? Ich war gerade fünf Minuten zu Hause, da rief er mich an. Das war vor einer Stunde. Seitdem rede ich auf ihn ein, versuche ihn umzustimmen. Er ist ein guter Mensch, daran darfst du nicht zweifeln. Aber er ist so zornig. Zornig und verletzt. Es gab so viele Schicksalsschläge in einer Woche –« »Das verstehe ich ja.« »Ich habe ihn angefleht, habe gebettelt wie nie zuvor in meinem Leben. Zorn ist eine menschliche Schwäche, die man entschuldigen kann, aber das ginge zu weit, sagte ich zu ihm. Man verstößt kein Mitglied der Familie. Aber er war rasend –« Sie schlug weinend die Hände vors Gesicht. »Er duldet nicht einmal, daß du noch einen Tag hierbleibst.« Paul nahm sie in die Arme. Sie duftete nach Lilien. Er küßte sie auf die Wangen. Er liebte sie und würde es immer tun.
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»Ich muß dir helfen, einen Platz für die Nacht zu suchen –« »Nein, das schaffe ich schon. Ich bin erwachsen, Tante Ilsa.« »Das ist wahr, aber –« »Ich habe lange genug auf der Straße gelebt, also mach dir keine Sorgen.« Er hatte bereits eine Idee, wohin er sich wenden würde. Dieser Gedanke war ihm bereits in dem Moment gekommen, als er aufgewacht war. Sie sah auf dem Bett das zerrissene Bild von der Brauerei. Sie umarmte ihn erneut. »Ach du lieber Himmel! Es tut so weh.« Sie sagte es auf deutsch. »Ich passe auf mich auf. Ich schaffe es schon. Allein.« »Du kannst doch nicht so einfach verschwinden, Pauli. Du mußt uns mitteilen, wo du bist. Mußt uns irgendwann besuchen.« »Natürlich, das tue ich bestimmt.« Glaubte sie ernsthaft, er würde jemals wieder einen Fuß in das Haus seines Onkels setzen? Der Regen ließ nach. Es wurde Zeit aufzubrechen. Er hatte den Eindruck, ein wenig zu schwanken, als er den Schrank öffnete, um seine Cordjacke herauszuholen. Ihm fiel ein, daß noch etwas in der Schublade seines Schreibsekretärs lag. Er schlüpfte in seine Jacke, öffnete die Schublade und befestigte das blutbefleckte weiße Band mit einer Sicherheitsnadel am Revers. »Fritzi will sich bestimmt von dir verabschieden«, sagte Tante Ilsa. »Natürlich, wenn ich ihr begegne.« Er hatte nicht die Absicht, nach ihr zu suchen. Er wollte möglichst schnell dieses Haus der Schmerzen hinter sich lassen. »Lebe wohl, Tante Ilsa.« Er küßte sie noch einmal auf die Wange, griff nach seinem Koffer und ging hinaus. Er hatte nicht vor, das dunkle Haus heimlich zu verlassen wie ein Verbrecher. Deshalb marschierte er erhobenen Hauptes die Treppe hinunter und gab sich keine Mühe, besonders leise zu sein, ganz im Gegenteil. Mit betont selbstsicherer Haltung schritt er zur Haustür, der Tür, durch die er vor vielen Monaten halberfroren und hungrig, aber voller Hoffnung hereingestolpert war. Jemand trat aus dem Schatten am Ende der Eingangshalle. Manfred. Eine elegante Erscheinung in einem gestärkten weißen Hemd, einer grauen Hose mit makelloser Bügelfalte und mit auf Hochglanz polierten Schuhen. Hinzu kam die Lederschürze, die er immer bei der Erledigung seiner morgendlichen Aufgaben trug. »Sieh mal an. Sie verlassen uns also, wie ich hörte. Geht es nun zurück
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auf die Kartoffelfelder Ihrer Heimat?« »Das würde Ihnen gefallen, nicht wahr?« »Stimmt«, sagte Manfred. »Dieses Haus ist wie edler Champagner. Sie haben den Geruch von Kohlsuppe hereingebracht.« »Manfred –« Paul atmete tief ein. »Wenn Sie zwanzig Jahre jünger wären, würde ich Ihnen einen Kinnhaken verpassen.« Manfred erbleichte und wich zurück. Paul drehte sich um und ging hinaus. Ein silbergrauer Nachmittag, ein silbergrauer Himmel. Ein heller Lichtschein im Westen verhieß besseres Wetter, aber es regnete noch. Er ging über den Gehsteig, ohne sich seines unordentlichen Aussehens bewußt zu sein. Er hatte die Cordknickerbocker angezogen, die an einem Knie eingerissen waren. Sein linker Strumpf war bis auf den Schuh heruntergerutscht. Als er die Kreuzung an der Neunzehnten Straße erreichte, rannte Fritzi durch den Garten hinter ihm her und rief seinen Namen. »Paul, geh nicht weg. Das alles ist allein Papas Schuld, er ist schlecht.« »Das ist er nicht. Wirklich nicht.« »Ich hasse ihn.« »Oh, das darfst du nicht. Versprich es mir!« Sie zog die Nase hoch. »Na schön.« »Prima. Dann auf Wiedersehen.« Er trat auf die Fahrbahn. Sie lief neben ihm her, watete durch Pfützen, spritzte Schlamm auf ihren Rock und sein nacktes Bein über dem heruntergerutschten Strumpf. »Du kannst doch nicht so einfach weggehen. Das ist dein Zuhause.« Er blieb stehen und sah sie ernst an. »Das hatte ich auch gedacht. Ich habe Tausende von Meilen zurückgelegt, weil ich daran glaubte. Ich habe mich geirrt. Wenn ich überhaupt ein Zuhause habe – was ich öfters bezweifle –, dann ist es dies ganz bestimmt nicht. Ich muß es wohl woanders suchen.« »Paul, geh nicht weg. Wir mögen dich!« »Ich mag dich auch, Fritzchen.« Er schlang die Arme um seine magere Kusine und umarmte sie heftig. Fast hätte er wieder geweint. Aber dieser Augenblick verstrich. »Auf Wiedersehen«, sagte er zum zweiten Mal. Er packte den Griff seines Koffers fester, wischte einen Schlammspritzer weg, der daran klebte. Er ließ sie in einer Pfütze zurück und winkte ihr, während der Himmel silberne Tränen weinte.
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Als er in Little Cheyenne ankam, war es bereits dunkel. Das Gewitter war erneut losgebrochen mit Blitz und Donner. Der Regen strömte in Sturzbächen durch die Rinnsteine. Paul nahm kaum wahr, wie naß er wurde. Er eilte am Stundenhotel Wampler vorbei und blieb vor dem Tempel der Photographie stehen. Sein Klopfen kämpfte gegen das Donnern und die rauschende Flut im Rinnstein an. Er klopfte lauter. Schließlich klirrte ein Schlüssel. Die Tür schwang auf. »Mr. Rooney?« »Wer –? Dutch! Was für eine Überraschung!« Er bemerkte Pauls Koffer. »Ich habe meine Stelle gekündigt, Sir. Ich habe auch meine Verwandten verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ich möchte unbedingt die Wissenschaft der Photographie erlernen.« »Und die Kunst. Vergiß die Kunst nicht.« »Natürlich. Erlauben Sie, daß ich hereinkomme?« »Aber auf jeden Fall! Das ist ein freudiger Augenblick. Du mußt dich schnellstens abtrocknen, du siehst ja schrecklich aus. Mit zerrissener Hose und rutschenden Strümpfen –« Paul lachte. »Ach, so sehe ich immer aus. Nicht gerade passend für einen Deutschen, sagen die Leute. Irgendwie kann ich nichts dafür. Stören Sie sich nicht daran. Ansonsten bin ich ein fleißiger und gewissenhafter Arbeiter.« Rooney lachte ebenfalls. »Das werden wir bald feststellen.« Paul trat über die Schwelle und war überzeugt, daß er die eine Welt für immer verließ und dafür in eine andere, bessere Welt überwechselte. Eine Welt, in der er endlich ein Ziel und eine Aufgabe fände, in der er nicht mehr ein Außenseiter, ein Fremder wäre, der den Launen eines Tyrannen ausgeliefert war. In dieser neuen Welt würde er das Zuhause finden, nach dem er sich sehnte. Zusammen mit Julie.
56 PORK Im Oktober trafen die Vanderhoffs in Wiesbaden ein. Es war Hochsaison, der beliebteste Monat im elegantesten Kurort Deutschlands. M. P. Vanderhoff III. war das im Grunde gleichgültig. Er hatte das Reisen bereits satt. Sie hatten bis zur Erschöpfung die Schlösser und Burgen an den Ufern des »Vater Rhein« besichtigt. Sie waren durch das Goethe-Haus in Frankfurt getrottet, den Baedeker in der Hand. Nun bezogen sie eine Drei-Zimmer-Suite in einem majestätischen alten Hotel in
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der Wilhelmstraße in direkter Nähe des Kurviertels. Die Atmosphäre in diesem Kurort war von Eleganz und Festlichkeit geprägt. In den großzügigen Räumen des Kurhauses traf man auf berühmte internationale Gäste, die auf gleicher Ebene miteinander verkehrten. Ein Hersteller gläserner Sanitäreinrichtungen aus England konnte sich mit einem österreichischen Herzog unterhalten. Ein New Yorker Transportunternehmer – oder ein Wurstfabrikant aus Chicago – konnte sich mit einem polnischen Prinzen anfreunden. Pork genoß diese gediegene Art von Demokratie der Reichen und Bedeutenden. Aber im großen und ganzen fand er Deutschland und eigentlich ganz Europa zu alt und daher zu rückständig. Zu seltsam. Zu – es gab kein anderes Wort dafür – ausländisch. Nicht weit vom Kurpark, in der Trinkhalle, konnte man die berühmteste der sechsundzwanzig medizinischen heißen Quellen Wiesbadens aufsuchen, den Kochbrunnen. Nell und Julie schliefen morgens immer lange, aber Pork, der seine alten Gewohnheiten nicht aufgeben konnte, stand bereits vor sechs Uhr auf, zog sich an und begab sich durch die zahlreichen mit Linden gesäumten Alleen zur Trinkhalle. Er legte diesen Weg stets in Gamaschen, Seidenzylinder, Gehrock mit hohem Kragen und in einem Vierspänner zurück. Von Punkt sieben an spielte die Kapelle in der Trinkhalle Marschmusik. Pork saß an einem weißen gußeisernen Tisch mit Blick auf die dampfende, zischende Quelle. Er verteilte großzügige Trinkgelder, so daß er sich darauf verlassen konnte, daß der eine oder andere der Helfer in ihren eleganten Uniformen ihm sein erstes Glas des medizinisch heilsamen Wassers kredenzte. Dieses leerte er dann mit deutlich zur Schau getragener Abscheu. Das Wasser war warm und salzig. In Wiesbaden konsultierte man stets einen Arzt, ehe man ein Kurprogramm in Angriff nahm. Porks Arzt, ein ernster Mann namens Dr. Stollknecht, legte fest, daß Pork vier Gläser von diesem vermaledeiten Wasser trinken solle, ehe er ins Hotel und zu seinem Frühstück zurückkehrte. Dieses bestand aus einem weichgekochten Ei, einer Scheibe Brot und schwarzem Kaffee. Diese Diät schien einen segensreichen Einfluß auf seine Verdauung auszuüben, allerdings nicht auf seine allgemeine Stimmung. Er war es leid zu hungern. Er war auch das salzige Wasser leid. Ihm ging auch Die Wacht am Rhein auf die Nerven. Er wollte nach Hause zurück. Seine Ungeduld erhielt zusätzliche Nahrung, weil er in Wiesbaden nichts zu tun hatte. Im Lesezimmer des Hotels saßen gewöhnlich zwei bis drei
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Leute und verschlangen Mr. Hopes Roman Der Gefangene von Zenda. Pork interessierte sich nicht dafür. Er las niemals Romane. Ebenso langweilten ihn andere kulturelle Ereignisse. Er verschlief ganze Vorstellungen im Königlichen Opernhaus, Liederabende und schwülstige Schiller-Dramen, zu denen Nell ihn mitschleifte. Die meisten Kurgäste in Wiesbaden führten lebhafte Diskussionen über das Weltgeschehen. Dieses Jahr waren die Themen von besonders bunter Vielfalt. Gesprächsstoff lieferten zum Beispiel die Persönlichkeit des neuen Zaren Nikolaus II. und seine Absichten; das mögliche Schicksal des jüdischen Artillerieoffiziers Hauptmann Dreyfus, der angeklagt war, französische Staatsgeheimnisse an den Feind verkauft zu haben; die enorme waffentechnische Macht und Überlegenheit Japans, das China im Krieg im Fernen Osten zu zermalmen drohte. Da Pork sich einerseits für derartige Dinge gar nicht interessierte und andererseits kein guter Gesprächspartner war, wollte er sich an solchen Diskussionen nicht beteiligen. Statt dessen unternahm er nach dem Frühstück häufig ganz allein Spazierfahrten und ließ zu, daß der Fahrer ihn nach eigenem Gutdünken durch den nahe gelegenen Taunus kutschierte. Eines Tages fuhren sie auf den Neroberg. Dort nahm Pork in einem Restaurant ein einsames Mittagsmahl ein. Dann kehrten sie durch dunkle grüne Wälder zurück. Sie waren so still und urweltlich, waren derart von dem Geruch modernden Laubes und fruchtbarer Erde und all den anderen Herbstgerüchen erfüllt, daß Pork aus der rollenden Kutsche blickte und sich selbst als Lebewesen mit Hörnern und Bocksfüßen vorstellte, das dralle deutsche Waldnymphen jagte, die jede Art köstlicher Unzucht praktizierten – und zwar mit Begeisterung. An diesem Nachmittag besuchte Pork ein anderes Etablissement, das ihm vom Hotelportier empfohlen worden war. Dort gab es kein medizinisches Wasser, sondern nur Bier und Champagner, die von Landschönheiten in durchsichtigen Gewändern und mit rosigen Brustwarzen serviert wurden. Pork fand, daß dies auf jeden Fall seiner Gesundheit nicht minder zuträglich war. Einer der wenigen positiven Aspekte dieser Reise war Julies Verfassung. Der Aufenthalt in Cleveland, die Seereise über den Atlantik und die ersten Wochen auf dem Kontinent schienen ihren Zweck erfüllt zu haben. Porks Tochter war gehorsam und still. Sie redete nur selten, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, obgleich sie ab und zu bissige Bemerkungen oder scharfe Kritik zu irgend etwas Nebensächlichem und Belanglosem äußerte. Es gab auch gelegentliche Weinkrämpfe. Pork fand es überaus paradox, daß diese Reaktionen seine Frau offenbar beruhigten.
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»Das ist ein typisch weibliches Verhalten, Mason. Sie erholt sich und wird allmählich wieder normal.« In Frankfurt hatte Nell ihrer Tochter Julie in einem renommierten Hundezwinger einen kleinen Spitz gekauft. Sein Name lautete Rudy. Er bewies seine Lebenslust, indem er ständig umhersprang und in einem fort fröhlich kläffte. Pork haßte ihn. Der Hund konnte ihn auch nicht leiden. An dem Tag, als Rudy zum erstenmal seine neue Umgebung kennenlernte, hob er das Bein und schlug sein Wasser auf Porks besten Anzug ab – mitten im Salon ihrer Suite. Pork gewöhnte sich an, ständig ein zusammengerolltes Exemplar von Leslie’s Magazine in Reichweite zu haben. Aber es kam nicht mehr zu derartigen Vorfällen. Julie schien sich über das Tier zu freuen. Sie lächelte sogar manchmal, wenn sie Rudy hochhob und streichelte. Am Ende der ersten Woche wurde der Aufenthalt in dem Kurort durch einen Besuch von Willis beeinträchtigt. Sie reiste per Eisenbahn aus Paris an und wurde von einem jungen Mann begleitet, den sie in New York kennengelernt hatte. Er war ein wahrer Muskelberg, fast zwei Meter groß und mit Schultern, die einem griechischen Sagenhelden zur Ehre gereicht hätten. Er lachte sehr viel und trank zwei bis drei Liter Frankenwein hintereinander, ohne daß man ihm etwas angemerkt hätte. Er hieß Boronsky. Willis erzählte, er sei Russe und Dichter. Pork hatte den Verdacht, daß er Jude und Mitgiftjäger war. Ganz gewiß war er zu jung für jede Frau, die auf ihren guten Ruf achtete. Das traf natürlich auf Willis nicht zu. Sie und Boronsky äußerten sich begeistert über eine neue Ausgabe der Salome von diesem Wilde, der immer eine Sonnenblume im Knopfloch trug und die Kunst um ihrer selbst willen predigte. Diese spezielle Ausgabe enthielt lasterhafte Illustrationen von einem Engländer namens Beardsley. An einem Abend, nach dem Essen, las Boronsky einige seiner Gedichte vor. Pork fand sie ebenso unverständlich wie schlüpfrig. Mitten im vierten Gedicht verließ er den Raum. Willis verbrachte zwei Nachmittage mit ihrer Nichte. Von dem zweiten Treffen kehrte sie voller Zorn zurück. Sie hatte mit Nell ein Gespräch unter vier Augen. »Ich habe die Einschnitte gesehen. Sie mußte die Ärmel hochschieben und sie mir zeigen. Schwester oder nicht Schwester, wenn du noch einmal veranlaßt, daß dieses Mädchen zur Ader gelassen wird, schicke ich dir die Polizei auf den Hals.« »Dr. Woodrow hat es empfohlen. Überdies wurde es schon vor einigen Wochen durchgeführt. Wir wollten nur ihr Bestes.« »Oho, wie schön. Warum habt ihr nicht irgendeine Götzenfigur aufgestellt und seid drum herum getanzt? Oder ihr hättet doch auch ein paar
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Kinder entführen und ihnen bei Vollmond die Herzen herausschneiden können!« »Willis!« »Dieses Loch in Cleveland scheint ja die Hölle zu sein. Ich würde Julie am liebsten sofort von hier mitnehmen. Aber sie ist ein anständiges, ehrenhaftes, gründlich fehlgeleitetes Mädchen, dem du und dein Mann eingeredet haben, irgendwelchen Unsinn zu glauben. Sie glaubt tatsächlich, sie sei euch etwas schuldig, weil ihr ihre Eltern seid. Nur wegen einer zufälligen Verschmelzung von Masons Samen und deiner – was immer du da unten anzubieten hast. Mein Gott, muß das primitiv sein.« Nell fiel beinahe in Ohnmacht. Sie rannte hinaus, und Willis packte ihre Sachen und reiste mit dem Sieben-Uhr-Zug nach Frankfurt ab, begleitet von ihrem imposanten Geliebten. Pork erhielt an diesem Abend, während sie zu Bett gingen, eine Zusammenfassung des Gesprächs. »Vielleicht ist es ein Segen, daß sie endlich weg ist«, sagte Nell. »Möglich, daß wir sie nie wiedersehen.« »Das wäre wirklich wundervoll«, stimmte Pork ihr zu und streifte sich unbeholfen das Nachthemd über. »Aber soviel Glück kann man wohl kaum erwarten.« Am folgenden Mittwoch besuchte Pork das Kurhaus. Ein Streichquartett spielte Kompositionen von Joseph Haydn in einem der öffentlichen Salons. In den Schachzimmern wurde gespielt. Das Kurhaus galt als internationaler Treffpunkt des Badeorts, aber Pork interessierte sich jetzt mehr für die Lesesäle. Er hatte kurz vorher Ausgaben mehrerer amerikanischer Zeitungen entdeckt, darunter auch die Chicago Tribune. Als er ein vier Wochen altes Exemplar durchblätterte, stieß er auf eine aufsehenerregende Gesellschaftsnachricht über Joe Crown. Der Bierbrauer hatte seine Villa in der Michigan Avenue geschlossen und war mit Frau und Kindern aufsein Anwesen in Carolina gezogen, wo er bis auf weiteres zu bleiben gedachte. Zufrieden gelangte Pork zu der Schlußfolgerung, daß seine schnell eingeleiteten Maßnahmen gegen Crowns Neffen für diesen Rückzug verantwortlich waren. Kurz vor der Abreise hatte er außerdem gehört, daß Crowns ältester Sohn, der Radikale, von zu Hause weggelaufen war. Pork genoß es, den arroganten, mickrigen Burschen leiden zu sehen. Er wünschte sich nur, daß Crown nie mehr zurückkommen werde. Juliette lag auf Grund ihrer monatlichen Indisponiertheit noch im Bett, als ein unerwartetes Treffen stattfand.
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Dr. Stollknecht leistete Pork an diesem Morgen beim Frühstück Gesellschaft. Er vertilgte ungeheure Mengen Ei, Brot und Wurst, während Pork ziemlich mißmutig auf seinem Gesundheitsteller herumstocherte. Trotzdem hatten sie ein angenehmes und ausgedehntes Gespräch über rassische Reinheit. Pork lernte den Arzt als den angenehmsten, einfühlsamsten Deutschen kennen, den er je getroffen hatte. Pork erklärte, er betrachte die Vergiftung des amerikanischen Blutes durch Ex-Sklaven und Einwanderer als eine potentielle Katastrophe. Dr. Stollknecht stimmte ihm darin zu. Minderwertiges Blut könne eine Nation zerstören. Er sei der Überzeugung, daß Regierungen, die sich einer solchen Gefahr gegenübersähen, eingreifen sollten. Wenn nötig auch mit aller Härte. Sie verabschiedeten sich mit Handschlag voneinander und trennten sich. Seinen Spazierstock im milden Schein der Oktobersonne schwingend, unternahm Pork einen Spaziergang im weitläufigen Kurpark. Er setzte sich am See auf eine Steinbank und sah zu, wie zwei stattliche Schwäne vorbeischwammen, gefolgt von zwei drolligen Jungtieren. Er saß noch immer dort, als er aus seiner Ruhe aufgeschreckt wurde. Ein Mann kam über den Weg auf ihn zu; ein Amerikaner – mehr noch, ein Landsmann aus Chicago. »Mr. Vanderhoff? Guten Morgen. Gestatten, William Vann Elstree.« Der Mann nahm sein Monokel aus dem Auge und streckte Vanderhoff die Hand entgegen. Der verblüffte Pork schüttelte sie. Ein schwarzer Stoffstreifen war um Elstrees linken Ärmel gebunden. »Ja, natürlich, ich weiß, wer Sie sind. Wollen Sie sich nicht setzen? Es ist mir eine Ehre. Und ein unerwartetes Vergnügen.« Elstree nahm Platz. Er streifte seine malvenfarbigen Handschuhe ab und legte sie neben seinen Stock auf die Bank. Mit dem Homburg fächerte er sich Kühlung zu. Porks kleine Augen zuckten zur Seite, glitten über Elstrees Kinn. Sein neuer Bekannter war gewiß keine Schönheit. Aber er verströmte Charme und, was noch wichtiger war, die Macht, die nur Reichtum schaffen kann. »Sie und Ihre Familie machen hier die Wasserkur, wie ich hörte«, begann der jüngere Mann. »Das stimmt. Ich glaube, es spricht sich schnell herum, wenn Amerikaner sich irgendwo aufhalten.« Pork fügte dem seinen typischen rauhen Lacher hinzu. Elstree reagierte mit einem Lächeln und einem Kopfnicken. »Was hat Sie denn hierher verschlagen, wenn ich fragen darf?« sagte Pork. »Ach, der gleiche Grund. Das Heilwasser. Aber daß wir beide uns über
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den Weg gelaufen sind, geschah rein zufällig.« Irgendwie schenkte Pork dieser Behauptung keinen Glauben, aber er hätte nicht sagen können weshalb. Elstree hätte durchaus aus Zeitungen erfahren können, daß die Familie sich in dem Kurort aufhielt. Die Zwischenstationen reisender Amerikaner, vor allem wenn es sich um Prominente handelte, wurden in ganz Europa veröffentlicht. Mrs. Astor hielt sich eine Woche lang in Brüssel auf, Mrs. Vanderbilt würde am Samstag in Florenz erwartet… »Mr. Vanderhoff?« »Sir?« »Da uns der Zufall hier zusammengeführt hat, erlauben Sie mir, ein Thema zu Sprache zu bringen, das mich seit kurzem beschäftigt. Ich hoffe, Sie reagieren nicht gekränkt.« »Nein, nein, warum sollte ich?« »Oh, es gibt einen Grund. Vielleicht halten Sie es für unziemlich angesichts der relativ kurzen Zeit, die seit dem Tod meiner Frau Marguerite verstrichen ist. Sie starb in diesen Sommer in Chicago. Ein Hitzschlag.« »Ich habe davon gelesen. Sehr tragisch. Mein Beileid.« »Vielen Dank.« Elstree blickte zu den kleinen Wölkchen am blauen Himmel hinauf. »Ich bin noch immer in Trauer und werde es wohl noch für einige Monate sein.« »Das kann ich mir vorstellen. Aber fahren Sie doch fort.« Die Schultern von Elstrees maßgeschneidertem Anzug sackten ein wenig herab. »Wo soll ich anfangen? Marguerite und ich – also, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ganz offen spreche?« »Nein, nein!« rief Pork, eifrig darauf bedacht, dem Mann, den er insgeheim als überlegen betrachtete, entgegenzukommen. Die Elstrees gehörten schon viel länger zur Schicht der Reichen als die Vanderhoffs. »Marguerite und ich hatten in den letzten Jahren nicht gerade eine Liebesbeziehung. Es gab persönliche Differenzen.« »So etwas kommt vor. Aber Sie haben Ihre Ehe aufrechterhalten –« »Aber natürlich. Das gehört sich doch so.« »Sie haben recht.« »Mr. Vanderhoff, Sie sind nicht nur mit Ihrer Frau, sondern auch mit Ihrer hübschen Tochter hier.« Wachsam sagte Pork: »Das stimmt.« »Wie Sie wissen, habe ich sie bereits kennengelernt.« »Im Auditorium, nicht wahr?« »Genau.« Elstree lächelte, charmant und voller Wärme. »Vom ersten Augenblick an habe ich ihre Schönheit bewundert und ihre Intelligenz,
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soweit ich sie bemerken konnte. Ich bin ganz offen, Sir, und ich hoffe, Sie verurteilen mich deswegen nicht. Ehe ich mich auf diese Reise begab, verbrachte ich einige Wochen zurückgezogen auf dem Familiensitz auf Long Island, Southampton. Dort kam mir des öfteren ein Bild in den Sinn. Ich empfand nicht unbeträchtliche Scham und ein Gefühl der Schuld. Sehen Sie, als Marguerite starb, schwor ich mir, für einen angemessenen Zeitraum an niemand anderen zu denken. Ich dachte an ein Jahr oder mehr.« Pork war sprachlos, als ihm klar wurde, worauf der reiche Gentleman offenbar hinauswollte. »Reden Sie weiter, Sir. Sagen Sie, was Sie beschäftigt.« »Vielen Dank. Es ist eigentlich sehr einfach. Wenn die angemessene Zeit verstrichen ist, bitte ich um Ihre Erlaubnis, Ihre Tochter etwas besser kennenlernen zu dürfen.« Pork lehnte sich zurück. Was für ein unglaublicher Glücksfall! Elstree kam aus einer der angesehensten Familien Chicagos. Er galt allgemein als freundlicher und bescheidener Mann mit den besten Manieren und einem untadeligen Ruf. Überdies war er Absolvent der Universität Princeton. Pork wagte sich kaum auszumalen, was für eine gute Partie er für Juliette bedeutete. »Mr. Vanderhoff?« Elstree schaute besorgt drein, da er das Schweigen offenbar als Zurückweisung deutete. »Oh, entschuldigen Sie. Ich bin nur etwas verblüfft.« »Aber nicht zornig, hoffe ich doch.« »Nein, nein. Es kommt nur etwas überraschend, mehr nicht. Ich will auch zu Ihnen ganz offen sein. Ihr Ersuchen ist mir durchaus willkommen. Sehr willkommen sogar. Juliettes Mutter würde sich freuen, wenn Sie bei uns vorsprechen würden. Ich fühle mich geehrt. Seit einiger Zeit machen wir uns große Sorgen, was den Stand der männlichen Bekannten unserer Tochter betrifft. Wir erhoffen uns etwas – hm, Solideres für ihre Zukunft.« Elstree lächelte gewinnend. »Daß Sie das sagen, freut mich. Auf eines muß ich Sie jedoch aufmerksam machen. Ich bin vierundvierzig Jahre alt.« »Das ist überhaupt kein Problem«, erklärte Pork. »Eine vernünftige, intelligente Frau weiß eine gewisse Reife bei einem Mann durchaus zu schätzen.« »Aber ich darf doch fragen, ob Ihre Tochter mein Interesse an ihrer Person nicht ablehnen würde.« »Ganz gewiß nicht. Außerdem behalten ihre Mutter und ich uns in diesen Dingen die letzte Entscheidung vor.« »So sollte es auch sein«, murmelte Elstree. Und er lächelte wieder. Was für ein Segen, dachte Pork. Was für ein wunderbarer, völlig
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unerwarteter Segen! Dann geriet er plötzlich innerlich in Panik. Genauso schnell, wie er aufgetaucht war, konnte dieser kapitale Fang wieder davonschwimmen. Er griff in seinen Gehrock und holte ein silbernes Etui heraus. »Wir müssen uns besser kennenlernen. Darf ich Ihnen eine Havanna anbieten? Und darf ich Sie Bill nennen?« Elstree nickte. Bill wäre ganz in Ordnung. Er nahm die Zigarre. Sie unterhielten sich über eine Stunde.
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Die Photographie ist eine wundervolle Entdeckung, eine Wissenschaft, die die bedeutendsten Köpfe angeregt hat, eine Kunst, die die scharfsinnigsten Geister beflügelt – und die auch von einem Schwachsinnigen ausgeübt werden kann … Was nicht gelehrt werden kann, ist das Gespür dafür. 1856 Gaspard Felix Tournachon (»Nadar«), französischer Photograph Ich weiß nicht, wie es mit euren Bürgermeistern ist, aber Gott hat diese Bezirke Chicagos völlig ihrem Schicksal überlassen. 1897 Dwight L. Moody, Wanderprediger im First Ward
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57 PAUL »Ich gebe dir Unterricht«, sagte Wex Rooney an jenem ersten Abend. »Du kannst hier wohnen, und ich teile mit dir jeden Krümel, der auf den Tisch kommt. Aber du mußt dir eine Arbeit suchen. Ich kann dir keine bezahlte Stellung anbieten. Ich schaffe es ja kaum, für mich allein genug Geld zusammenzukratzen.« »Abgemacht«, sagte Paul. »Eine Sache noch. Mir ist es egal, wie du dich draußen nennst, aber hier bei mir heißt du Dutch.« Er lag auf einem Strohsack unter einer alten blauen Wolldecke mit der Inschrift U.S. Army. Er hatte sich die Decke bis ans Kinn hochgezogen. Der Dachboden war feucht und kalt. Durch das Dachfenster sah Paul den Vollmond hinter vorübertreibenden Wolken, die aussahen wie Rauch von einem Holzfeuer. Vorher hatte es geregnet. Die Tropfen auf der Dachluke funkelten wie Edelsteine. Dutch. Er haßte den Namen. Es hatte nichts zu sagen, daß es eine Erklärung dafür gab, daß Deutsche Dutchmen, Holländer, genannt wurden: Dutch ließ sich einfacher aussprechen als Deutsche. Er hatte sich den amerikanischen Namen Paul ausgesucht, und er wollte nicht, daß irgendwer ihm einen anderen verpaßte, nicht einmal ein Mr. Wex Rooney. Wie konnte er Wex davon abhalten, ihn so zu rufen? Er kam zu der Überzeugung, daß er angesichts von Rooneys Großzügigkeit nicht so streng sein sollte. Er begann gerade erst ein völlig neues Leben, da konnte er es durchaus ertragen, wenigstens für eine Weile Dutch zu sein. Und vielleicht würde Wex den Namen bald leid oder ihn sogar vergessen. Wichtiger war sein neues Leben, das nun begann. Ihm boten sich hier glänzende Möglichkeiten. Zum Beispiel die Chance, ein neues, modernes Handwerk für das neue, moderne Jahrhundert zu erlernen, das bald anbrechen würde. Er würde alles lernen, was Wex Rooney ihm beibringen konnte. Er würde beweisen, daß weder Vetter Joes bittere Einschätzung Amerikas noch die düsteren Prophezeiungen des Bäckers aus Wuppertal zutrafen. Und wenn Julie von ihrer großen Reise zurückkehrte, würde er sie irgendwie für sich gewinnen – sogar gegen den Widerstand ihrer Mutter und ihres Vaters. Er bedauerte, die Familie verloren zu haben, bei der er sich so wohlgefühlt hatte, doch nun mußte er von vorne anfangen. Wenn Amerika ihn auch seiner Familie beraubt hatte, mußte er doch zugeben, daß er dort Julie gefunden hatte.
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Am Morgen bat er Wex Rooney um eine Heftzwecke und die Erlaubnis, etwas an der Wand des Dachbodens zu befestigen. Unweit seines Strohsacks heftete er das stereoskopische Panorama des New Yorker Hafens mit der Freiheitsstatue, die ihm immer noch zuwinkte, so an die Wand, daß sein Blick nach dem Erwachen darauf fiel. Rooneys Tempel der Photographie befand sich im First Ward, dem Ersten Bezirk von Chicago. Wie Rooney erzählte, war der Bezirk 1890 vergrößert worden und erstreckte sich nun im Westen vom Michigan-See bis zum Südarm des Chicago-Flusses und im Süden vom Fluß bis zur Neunundzwanzigsten Straße; die Einunddreißigste Straße lag in der äußersten südwestlichen Ecke. In dem riesigen Bezirk befanden sich die meisten großen Firmenverwaltungen der Stadt, die elegantesten Hotels und die großen Kaufhäuser. Die Crowns wohnten im First Ward. Ebenso die Vanderhoffs. Aber auch gefährliche Diebe und Mörder, verkommene Prostituierte und Zuhälter sowie einige der betrügerischsten Politiker Amerikas. Südlich der Van-Buren-Straße beherbergte der Erste Bezirk Chicagos verrufenste Vergnügungsviertel, darunter auch Little Cheyenne, wo Rooneys Tempel lag, und das Levee, das Hafenviertel, eine noch berüchtigtere Gegend. Als Mekka der Vergnügungssüchtigen nahm das Levee seinen Aufschwung, nachdem Bürgermeister Carter sich dafür eingesetzt hatte, sämtlichen Wünschen und Bedürfnissen der Besucher der Ausstellung von 1893 entgegenzukommen. Obgleich »Unser Carter« viel zu früh einem Attentat zum Opfer gefallen war, war seine offene Stadt tatsächlich offen geblieben und gedieh weiterhin prächtig. Paul begab sich ins Levee und zur Arbeitssuche in andere Bezirke. Er trottete straßauf, straßab durch Schnee und Hagel, frostigen Sonnenschein, schneidenden Wind, der das Gesicht taub werden ließ und in die Haut schnitt. Er antwortete auf Annoncen. Stieg dunkle Treppen zu schäbigen Fabrikhallen hoch, wo langweilig klingende Arbeiten bereits vergeben waren. »Das ist die Wirtschaftskrise, von der wir uns noch nicht erholt haben«, sagte Wex. »Hast du all die kleinen Läden an der Hafenpromenade gesehen? Sämtliche Rolläden waren runtergelassen, nicht wahr? Wenn der Frühling kommt, werden sie hochgezogen. Dann taucht wieder die männliche Kundschaft auf und spaziert und fährt an warmen Abenden vorbei und begutachtet die sich anbietende Ware. Wenn das Wetter wieder besser wird und mehr Huren arbeiten, gibt es auch wieder mehr Arbeit. Also verzweifle nicht.«
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Wex Rooney verlangte niedrige Preise, weil die meisten seiner Kunden arm waren. Brautpaare, die sich für ihr Hochzeitsphoto keinen besseren Porträtisten leisten konnten; Eltern, die sich von ihren Kindern möglichst billige Aufnahmen wünschten, um sie den Verwandten in der alten, fernen Heimat zu schicken. Wex war bei Kleinkindern nicht sehr gut. Irgendwie zeigten sie sich bei ihm immer von ihrer unangenehmsten Seite. Sie weigerten sich, seinen Anweisungen zu folgen. Sie beschmierten seine Kulissen mit von Süßigkeiten klebrigen Fingern. Während einer besonders schwierigen Sitzung erbrach ein solches Gör sich plötzlich auf das Sofa, den Fußboden und Wex’ Hose. Es wurde Paul sehr schnell klar, daß Wex trotz seines beträchtlichen Talents sogar nach jahrelanger Tätigkeit immer noch kein angemessenes Auskommen hatte. Er hatte stets Mühe, die Miete zusammenzukratzen, und er bat seinen Untermieter im zweiten Stock ständig um einen Vorschuß. Bestimmte kommerzielle Aufträge nahm er immer nur aus Verlegenheit an. Einer dieser Aufträge bestand darin, großformatige Photographien von gutaussehenden jungen Frauen herzustellen, die vor Musikkneipen in den Vergnügungsvierteln posierten. »Die Musik ist nicht das wichtigste in diesen Schuppen«, erklärte Wex widerstrebend, als Paul etwas über diese Bilder wissen wollte. »Gelegentlich trifft man dort auch irgendeinen betrunkenen Professor, der auf die Tasten hämmert, aber stets gibt es eine Menge Frauen, die durch die Bezeichnung Serviererin geadelt werden. Sie warten auf irgendeinen Trottel, der bei ihnen Drinks bestellt, die meistens nichts anderes sind als gefärbtes Wasser. Die Girls – wobei ›Girl‹ die Bezeichnung für jede Serviererin unter fünfundachtzig ist – arbeiten auf Kommissionsbasis. Einige von ihnen haben Visagen, die jede Uhr zum Stehen bringen, wie man hier so schön sagt. Daher locken die Betreiber der Lokalitäten die Gäste mit etwas ansprechenderen Gesichtern von der Straße herein. Mit diesen Photos zum Beispiel. Zwei Ladies dieser Serie sind Schauspielerinnen in durchaus angesehenen Tourneekompanien. Drei der Frauen sind verstorben, doch ich benutze ihre Bilder schon seit Jahren. Über die anderen weiß ich nichts. Photographen tauschen die Bilder gegen Vergünstigungen, Ausrüstungsgegenstände und so weiter ein.« »Sie meinen, diese Frauen arbeiten gar nicht in den Saloons, die ihre Bilder ausstellen?« »Leider meine ich genau das.« »Bei allem Respekt, Mr. Rooney, aber Sie haben mir doch erklärt, daß Photographien niemals lügen sollten.« »Diese Bilder lügen ja auch gar nicht, das Lügen übernehmen deren
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Besitzer! Ich stehe sozusagen in der Mitte. Ich bin der arme Teufel, der nicht verhungern will. Und jetzt verschwinde, die Bilder müssen noch vor sechs bei Hannegan abgeliefert werden!« Wex und Paul verhungerten nicht, aber die Verpflegung, die Wex nach Hause brachte, war von schlechter Qualität und von geringer Quantität. Suppenknochen, die kaum ein Hund genommen hätte. Rüben; irgendein zähes, holziges Gemüse. Das Brot stammte aus Läden, wo die Armen Schlange standen, um Ware zu erstehen, die schon mehrere Tage alt war. In dem kleinen Hinterzimmer, in dem sie ihre Mahlzeiten einnahmen, wischte Wex regelmäßig den Staub vom Bild seines Sohnes. Paul machte sich seine Gedanken über den Tod des Jungen. Wex sprach von einem beklagenswerten Unfall, einem Unfall, an dem er sich selbst die Schuld gab. Mehr äußerte er nicht darüber, und Paul hatte das Gefühl, er sollte keine weiteren Fragen stellen. Im Januar, als er fast zwei Wochen gesucht hatte, fand er einen Job als »Sandwich-Mann«. Er sollte Schilder, die auf ein billiges Café aufmerksam machten, durch die Straßen tragen. Onkel Joe hatte Sandwich-Männer den »Abschaum der Straßenhändler« genannt. Doch Paul konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Der Caféinhaber verlangte, daß Paul jeden Tag zehn Stunden lang durch die Straßen laufen sollte. Dafür bekäme er drei Cents, weniger als ein Viertel seines Tagelohns bei Crown. An seinem ersten Tag auf der Straße regnete und hagelte es abwechselnd. Er besaß keine Handschuhe, nur seine Mütze und seine Jacke schützten ihn. Die Leute in den Cafés und den vorbeirollenden Kutschen beachteten ihn nicht. Er nieste und zitterte vor Kälte, als er an diesem Abend in Rooneys Tempel zurückkehrte. Wex regte sich auf. »Den Job kannst du nicht behalten. Du holst dir ja eine Lungenentzündung.« »Doch, ich kann«, widersprach Paul. Und er behielt ihn. Am Ende des Tages mußte er ins Café zurückkehren und die Schilder abliefern. Am dritten Abend traf er den Inhaber, der sich mit einem älteren Mann, ziemlich dick und ärmlich gekleidet, angeregt unterhielt. »Das ist mein Schwager Solly. Er wurde heute aus seinem Job entlassen. Ich muß ihm die Schilder geben. Da hast du, was ich dir schulde, und als Trost einen kleinen Bonus.« Geschockt, verbittert, halbkrank trug Paul seinen üppigen Verdienst als Sandwich-Mann nach Hause. Zehn Cents. Richter William Woods verurteilte Eugene Debs zu sechs Monaten
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Gefängnis wegen Mißachtung des Gerichts. Im Januar 1895 trat Debs die Verbüßung seiner Strafe im McHenry-Bezirksgefängnis draußen in Woodstock an. Der Grund dafür, so stand in den Zeitungen, war eine totale Überfüllung des Gefängnisses von Cook County. Paul hatte Mitleid mit Mr. Debs, der ihn als ehrlicher und prinzipientreuer Mensch beeindruckt hatte. Er hatte auch Mitleid mit all jenen, die tapfer gegen Pullman auf die Barrikaden gegangen waren und ihr Zuhause, ihre Stellung oder sogar ihr Leben für nichts und wieder nichts verloren hatten. Mit Unterstützung der Regierung in Washington hatten die Eisenbahngesellschaften gesiegt. Als er sich Gedanken über den vergeblichen Streik machte, erinnerte er sich an Vetter Joe. Er fragte sich, ob sie einander wohl jemals wiedersehen würden. Manchmal befiel ihn die düstere Ahnung, daß sein Vetter längst gestorben war. Paul fand einen zweiten Job. In einem lauten Restaurant in der Van-BurenStraße, dem Brass Bull, reinigte er die Toiletten und leerte die Spucknäpfe. Die Kellner, ältere Männer in speckig glänzenden schwarzen Fräcken, begegneten jedem Neuen und Schwachen mit offener Feindschaft. Paul hatte nur einen einzigen Freund, einen rundlichen Tellerwäscher namens Murmelstein. Die Kellner nannten ihn Sheeny Bob. Eines Abends nach Feierabend legte ein Kellner, der sich ständig über zu geringe Trinkgelder beklagte, sich ohne Grund mit Sheeny Bob an und brach einen Streit vom Zaun. Zwei andere Kellner beteiligten sich. Sie drückten Murmelsteins Kopf in die große Zinkschüssel mit Spülwasser. Der Inhaber und die anderen Kellner bildeten einen Kreis, lachten und machten ihre Witze. Murmelstein ruderte hilflos mit den Armen. Paul erkannte, daß es dumm wäre, sich gegen so viele Quälgeister zu wehren. Er lief nach vorne ins mittlerweile dunkle Restaurant, hob einen kleinen Tisch hoch und schleuderte ihn gegen das Schaufenster. Die Kellner ließen Murmelstein los und kamen nach vorne in den Gastraum gerannt. Der Inhaber stürzte sich auf Paul. »Warum, zum Teufel, hast du das getan?« »Damit ihr Bob nicht ertränkt.« »Du miese kleine Ratte, was geht dich irgendein Judenschwein an? Sieh zu, daß du von hier verschwindest. Deinen Lohn behalte ich, um davon ein neues Fenster zu bezahlen.« Wex begann mit der Unterweisung. Die Lektionen wurden abends abgehalten, wenn Paul von der Arbeitssuche oder den kurzfristigen Jobs nach Hause kam. Selbst wenn er erschöpft war bis zur Bewußtlosigkeit,
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zwang er sich, wach, aufmerksam und stets begeistert bei der Sache zu sein. »In den fünfziger Jahren, der Frühzeit der photographischen Technik«, erklärte Wex ihm, »sagte ein französisches Genie, das seine Arbeiten immer mit ›Nadar‹ signierte, daß die Theorie der Photographie in einer Stunde, die Grundtechnik an einem Tag erlernbar sei. Was man jedoch nicht lernen könne, sei das künstlerische Element. Die intuitive Bewertung des Motivs und seiner Umgebung. Die Bildkomposition. Die Imagination. Ich kann dir sehr schnell alles an Technik beibringen, was du wissen mußt. Was den Rest betrifft, so entwickelst du das Geschick, eben das künstlerische Moment, aus dir selbst heraus oder gar nicht. Und in dieser Hinsicht habe ich eine ganz spezielle Auffassung.« »Und die wäre, Sir?« »In der Photographie gibt es einen Begriff, den du sehr oft hören wirst. Das latente Bild. Es ist die imaginäre Abbildung, die sich auf einer Oberfläche aus lichtempfindlicher Substanz befindet, der Emulsion. Sie entsteht dort, wo die Emulsion dem Licht ausgesetzt wird. Zu diesem Zeitpunkt kann man das latente Bild nicht sehen, aber es ist tatsächlich vorhanden und muß nur durch den Entwicklungsvorgang sichtbar gemacht werden. Analog zu diesem Prinzip sehe ich – oder besser, erahne ich – in dir ebenfalls ein latentes Bild. Du hast ein scharfes Auge. Einen wachen Geist. Und was am wichtigsten ist – schon bei unserer ersten Begegnung während der Ausstellung habe ich bei dir den enormen Eifer und Drang gespürt, alles über diese wunderbare Kunst der modernen Zeit zu erfahren. In der Photographie brauchst du natürlich keine besondere künstlerische Begabung zum Zeichnen. Du zeichnest und malst mit Licht, das seine ganz eigenen, rätselhaften Fähigkeiten besitzt, Bilder zu erzeugen, und mit deinem schöpferischen Geist. Das ist das latente Bild. Dein Talent. Es ist nun meine Aufgabe, meine Herausforderung, meine Freude, dieses Bild zu entwickeln – es sichtbar zu machen – und das Resultat anderen, der Welt, zu zeigen.« Er wandte sich langsam um und betrachtete das sepiafarbene Bild von dem hübschen Jungen mit den lockigen Haaren. »Ich tue es für dich, so wie ich es für ihn getan hätte.« Paul saß völlig reglos und stumm da. Zum erstenmal begriff er die Ursache für Wex’ Freundlichkeit und Großzügigkeit. Er erkannte die Rolle, die er in Wex’ Leben spielte. Die Rolle, die er, ohne es zu wissen, schon seit einiger Zeit ausfüllte. Nun, er würde sie bereitwillig und mit Freuden auch weiterhin spielen. Abend für Abend füllte Pauls Kopf sich mit Fakten, Namen, Daten: Louis Daguerre aus Paris, der den ersten photographischen Prozeß perfektioniert
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hatte, der seitdem seinen Namen trug; Sir John Herschel, ein Engländer, der die Begriffe »Photographie« und »Positiv« und »Negativ« geprägt hatte; Frederick Scott Archer, der Erfinder der Technik, lichtempfindliche Kristalle in nassem Kollodium auf Glasplatten aufzubringen. Wex erklärte, daß während des Bürgerkriegs alle Front-Photographen Matthew Bradys mit der nassen Platte gearbeitet hätten. Daher hätten sie auch den abgedunkelten Wagen gebraucht. »Man mußte die Platte im Wagen beschichten, dann das Motiv abbilden und sofort zum Entwickeln in den Wagen zurückkehren. Die ersten trockenen Platten, die ich sah, kamen um 1865 aus Liverpool. Es waren Silberbromidkristalle in einer trockenen Gelatineschicht. Bis 1880 wurde dieser Prozeß dank umfangreicher Mithilfe Eastmans vervollkommnet, und die nasse Platte verschwand. Auch die technische Ausrüstung hat eine Weiterentwicklung durchgemacht«, fuhr Wex fort und illustrierte diese Information mit einer kastenförmigen Carte-de-visite-Kamera aus den fünfziger Jahren. »Sie erzeugt mehrere kleine Bilder auf einer einzigen Platte. Man schiebt den Plattenhalter nur in eine andere Position. Diese Kamera mechanisierte das Verfahren, denn Studios konnten nun irgendwelche Idioten einstellen, um sie zu bedienen. Schon bald wünschte sich jeder Prominente ein Bild von sich auf einer carte – ein Papierdruck, der auf einen Papprücken in Standardgröße aufgeklebt wurde. Die Leute sammelten die Karten millionenfach. ›Kartomanie‹ wurde diese Leidenschaft genannt.« Wex hatte Tausende von alten Photographien aller Art zusammengetragen. Auf einigen posierten Photomodelle und stellten eine Allegorie dar, wie Die zwei Lebensweisen – sündige Gentlemen auf der linken Seite, die von der Sünde erlösten auf der rechten. Paul dachte bei sich, daß die Sünder, die sich inmitten üppiger Frauen mit nackten Brüsten rekelten, den besseren Teil erwählt hätten. Einige Photographien waren betont gefühlvoll. Dahingeschieden, laut Wex Ende der fünfziger Jahre ein absoluter Bestseller, zeigte eine ätherische junge Frau auf dem Sterbebett, während Familienangehörige sie voller Mitleid und Trauer betrachteten. Wex besaß zahllose Kartons von Daguerreotypien in mit Samt ausgeschlagenen Lederkisten. Einige steckten in Rahmen mit handbemaltem Glas. Er hatte verschwommene Calotypien und billige Ferrotypien, die mit Scheren aus Mutterplatten ausgeschnitten worden waren. Paul summte bald der Kopf, nachdem er so viele Gesichter betrachtet hatte. »Kennen Sie diese Leute?« fragte Paul. »Keinen einzigen. Die meisten sind tot, nehme ich an. Aber sie sind alle
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da, das ist der wesentliche Punkt, nicht wahr? Sie sind längst dahingegangen, aber sie sind trotzdem noch vorhanden, ihr Aussehen, ihr Wesen – ihr momentaner Ausdruck –, alles ist erhalten. Diese hier« – er schüttelte eine Kiste voller Ferrotypien – »würde nur ein Narr aufregend und bedeutend nennen. Es handelt sich um völlig unwichtige Menschen, genauso vergangen und vergessen, wie du und ich eines Tages vergangen und vergessen sein werden. Aber die Idee, die dem zugrunde liegt, Dutch – das Einfangen der Geschichte, das Anhalten der Zeit, die Überwindung des Todes –, das ist das Aufregende daran. Das ist grandios. Erhaben. Ein Wunder.« Er zeigte Paul Kartons voller vergilbter Landschaftspostkarten. »Nach denen besteht noch immer eine rege Nachfrage.« »Ich weiß, ich sammle sie auch.« »Mein Partner und ich haben damals eine Firma gegründet, um diese Karten zu produzieren.« Er deutete auf eine kleine Textzeile unter der Photographie von einer orientalischen Schönheit mit einem Sonnenschirm, der Hintergrund bestand aus einem blühenden Kirschbaum. Der Text lautete: EXCELSIOR ART-PHOTO CO. CHICAGO. »Wir haben Photographen engagiert. Haben sie um die ganze Welt reisen lassen. Auf die Akropolis, nach St Petersburg, in die Alpen, nach Australien, ins Heilige Land. Sechs Jahre lang hatten wir ein blühendes Unternehmen.« »Und was geschah dann?« Wex seufzte. »Ich bin einfach zu vertrauensselig. Ich kümmerte mich nur um die künstlerische Seite und achtete kaum auf meinen Partner – oder auf seine Geschäftspraktiken. Eines Tages räumte er unser Bankkonto ab und machte sich aus dem Staub. Ich glaube, er lebt zur Zeit mit irgendeiner Geliebten in Südamerika. Ich konnte mir leider nie Detektive leisten, um ihn zu suchen und zur Rechenschaft zu ziehen.« Trotz dieser Niederlagen verlor Wex nicht seine Begeisterung. »Neuartige Linsen, neue Kameraverschlüsse, neue Emulsionen, neue Papiersorten – alles verändert sich täglich mehrmals. Mr. Eastman, der Plattenhersteller in Rochester, revolutionierte die Photographie, als er eine Technik erfand, die Emulsion auf Papiergrund aufzubringen. Ein schlauer Bursche, dieser Eastman. Glaubst du etwa, daß er seine Kodak nur erfunden hat, um mehr Kameras zu verkaufen? Überhaupt nicht – zur Hölle mit den Kameras, die verschenkt er geradezu. Er will, daß die Kameras ständig benutzt werden, denn er will die Filme verkaufen.« So aufregend und hilfreich die Lektionen auch waren, sie konnten Paul
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nicht alles vermitteln. Eines Sonntags im Februar, als gerade wieder mal Tauwetter herrschte, wischte Wex den Staub von einer Kodakkamera mit genarbter Oberfläche und sagte: »Mit der Theorie reicht es jetzt, nun mußt du anfangen, praktisch zu üben. Unterbrich deine Arbeitssuche mal für ein oder zwei Tage. Das Wetter ist schön, und deshalb möchte ich, daß du losziehst und auf der Straße ein paar Schnappschüsse machst.« Paul sagte, er verstehe kein Wort. »Der Ausdruck kommt von der Jagd. Es ist wie bei einem Jäger, der einen Schnellschuß anbringt und nicht sicher sein kann, daß er auch trifft. Genauso ist es mit dieser Kamera. Man kann nicht erkennen, was die Linse einfängt. Man zielt, hofft – und schießt das Photo.« Er demonstrierte es, indem er ein paar Tanzschritte vollführte. »Schuß, Schuß, Schuß!« Er hörte auf zu tanzen und deutete mit einem Kopfnicken auf die Kamera. »Dieses Modell ist zwei Jahre alt, aber es schießt hervorragende Bilder. Bisher hat niemand sich darum gerissen, die Kamera zu kaufen. Ich schenk’ sie dir.« Paul ergriff die Kamera mit beiden Händen. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, strahlend wie ein sonniger Tag. Wex lachte schallend und fuhr Paul mit einer Hand liebevoll durchs Haar. »Mein Musterschüler.« Paul photographierte in der ganzen Stadt herum. Er brachte Bilder nach Hause von Wagen der Pferdebahn (unscharf), Kanaldeckeln (fast nicht erkennbar), Verkaufskarren (erkennbar, aber durch eine ungeschickte Bildkomposition verdorben). Er machte von verschiedenen Standorten auf der anderen Seite der Michigan Avenue aus sechs Photos von der Villa der Crowns. Wex verschwand in seiner Dunkelkammer, wo er Pauls Schnappschüsse entwickelte und Bilder daraus herstellte. »Nicht besonders einfallsreich, aber rein technisch ganz in Ordnung«, sagte er, während er die feuchten Papierbilder mit einer Schere zerschnitt und jedes mit einer hölzernen Wäscheklammer zum Trocknen an einen quergespannten Draht hängte. »Bis auf den Versuch, die Bewegung von Straßenbahnen zu stoppen. Das schafft man nicht mit einer billigen Linse und einem ebenso billigen Verschluß. Weshalb hast du so viele Ansichten von dem Haus aufgenommen?« »Ich habe mal dort gewohnt.« »Ach so.« Wex griff nach einem anderen Bild. »Dies hier ist eine Katastrophe. Sieh dir mal die beiden Händler mit ihrem Karren an. Auf Grund der Position der Kamera scheinen den Männern Telegraphenmasten aus den Köpfen zu wachsen. Wo warst du mit deinen Augen? Wo war deine
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Konzentration?« »Ich werde mich bessern«, versprach Paul und war bitter enttäuscht. »Na schön, aber das ist noch nicht alles. Die Motive, die du dir ausgesucht hast – mein Gott, wie öde. Diese Händler sehen aus wie Zombies. Konntest du sie nicht ein wenig aufmuntern? Versuch’s noch mal. Bring mir etwas, das mich nicht gähnen läßt.« Schon am nächsten Morgen zog er wieder los. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab, alle schmutzigen Schneereste waren getaut, das Rauschen des Wassers in den Rinnsteinen kündigte den Frühling an. Es war so warm wie sonst nur im Mai. Er machte sich auf den Weg zur ClarkStraße, hielt jedoch beim Anblick von drei grell geschminkten Frauen an, die auf der Eingangstreppe des Stundenhotels Wampler saßen und sich sonnten. Er erkannte die älteste, eine stämmige Frau mit einem auf ihren Mund aufgemalten roten Schmetterling. Sie trug Pantoffeln und einen zerschlissenen Morgenmantel aus Satin, der einen üppigen Busen enthüllte. Pauls Entschluß war schnell gefaßt, und er raffte seinen ganzen Mut zusammen. »Hallo, Ladies, wie geht es Ihnen?« Er schlenderte lächelnd auf sie zu. Die jüngste der Huren war mager und hatte eine lange Nase und offenbar schlechte Laune. Sie blies den Zigarettenrauch in seine Richtung. »Verzieh dich, Bübchen. Ich mach’ es nicht mit Babys.« »Ach, Floss, ich hatte schon jüngere Kunden als den«, sagte die zweite, ein Mädchen von unglaublicher Unscheinbarkeit, die aber hübsche grüne Augen hatte. »Zumindest nehme ich es an. Wie alt bist du?« »Ich bin achtzehn, das heißt fast.« »Schön, aber komm etwas später. Wir fangen erst um vier oder fünf mit der Arbeit an. Schließlich waren wir die ganze Nacht im Dienst, verdammt noch mal.« »Meine Damen«, sagte Paul schnell, »ich bin nicht aus den – äh – üblichen Gründen hier. Ich würde Sie gerne photographieren.« »Ach, das ist wohl eine von diesen Schnappschußkameras, die ich schon mal in einer Illustrierten gesehen habe«, sagte die Reizlose mit erwachendem Interesse. Zum erstenmal wandte Butterfly, die Frau mit dem Schmetterlingsmund, sich an Paul. »Dich habe ich doch schon mal irgendwo gesehen, mein Junge. Für wen arbeitest du, für die Polente?« »O nein, ich wohne in dem Laden nicht weit von hier.« »Bei ›Rooney mit den leeren Taschen‹«, sagte die Mißgelaunte. »Ja, bei Mr. Rooney. Ich bin sein Schüler.«
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»Was lernst du denn bei ihm? Wie man hungert?« »Ach, laß ihn in Ruhe, Floss, er ist doch okay«, sagte die Reizlose. »Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Butterfly. »Weshalb sollte jemand, der auch nur halbwegs vernünftig ist, uns photographieren wollen?« Paul spürte, daß diese Chance ihm zu entgleiten drohte. Seine Gedanken rasten. Er sagte zu Butterfly: »Ich erkenne Sie auch wieder. Sie haben doch damals zugesehen, als ich von vier Schlägern auf dem Gehsteig zusammengeprügelt wurde.« »Ja, stimmt, jetzt erinnere ich mich.« Sie war nun nicht mehr so mißtrauisch. Paul schenkte ihr sein einnehmendstes Lächeln. »Ich habe Ihnen an diesem Tag eine tolle Vorstellung geboten. Ich denke, dafür sind Sie mir ein Photo schuldig.« Sogar die Mißgelaunte mußte nun lachen. »Das ist ja ein ganz raffinierter.« »Na schön, warum auch nicht?« sagte Butterfly, zuckte die Achseln und hievte ihren üppigen Körper von der Treppenstufe hoch. »Dann steht mal auf und nehmt Haltung an, Ladies. Zeigen wir Junior, was wir können.« Paul begann zu schießen. Die Huren kamen schnell in die richtige Stimmung, nahmen übertriebene Posen ein, zeigten mit Kopf und Hüften eine aufreizende Haltung, rafften ihre Hausmäntel und gewährten großzügig Blicke auf Knie und Oberschenkel. Ein fliegender Besteckhändler blieb mit seinem Karren stehen, um das Schauspiel zu verfolgen, danach schaute auch der Kutscher einer Brauerei zu, die Crown Konkurrenz machte. Als Paul zwölf Bilder aufgenommen hatte und sich bei den Frauen bedankte, protestierte die Reizlose. »Du darfst noch nicht aufhören, wir müssen unseren Boß rausholen.« Und dann photographierte Paul die Huren zusammen mit dem rotnasigen Inhaber des Wampler und schließlich zusammen mit seinem blassen, gebückten Empfangschef. Zum Schluß kam sogar noch der armselige, reichlich verwirrte Koch hinzu, ein zahnloser Neger, der aussah wie neunzig. Paul schoß weitere fünfzehn Bilder, ehe er sich endgültig verabschiedete. »Na schön, Junge, aber du mußt jeder von uns mindestens ein Bild schenken«, verlangte Butterfly. »Ganz bestimmt. Das verspreche ich.« »Floss hat recht, für einen kleinen Grünschnabel bist du ganz in Ordnung. Komm irgendwann mal abends her, dann versorgen wir deine Wasserleitung.« Sie gab ihm einen dicken, feuchten Kuß, der einen roten Fleck auf seiner Wange hinterließ. Die beiden anderen Huren küßten ihn ebenfalls. Die Mißgelaunte drückte seinen Penis durch die Hose und
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flüsterte: »Ich wette, die Girls sind ganz wild auf dich, Dutchie.« Er kehrte auf schnellstem Weg zum Tempel zurück, glücklich, aber auch ziemlich verwirrt von dem Erlebnis. Wex fällte sein Urteil: »Prima, diese da sind sehr schön. Zuviel Licht, siehst du, wie ihre Gesichtskonturen verschwimmen? Aber du hast wenigstens einiges an Ausdruck aus diesen schmuddeligen Täubchen herausgeholt.« Nachdem er einige Sekunden lang nachgedacht hatte, fuhr er fort: »Ich denke, meine anfängliche Vermutung war richtig. Es ist möglich, daß du ein Händchen dafür hast. Aber du willst sicher mehr sein als ein reiner Knipser. Vergeude nicht die Zeit damit, die Photozeitungen zu lesen, die stapelweise hier herumliegen. Die sind allenfalls nützlich zum Feueranzünden, mehr nicht. Während du lernst, mit einer Kamera umzugehen, solltest du ein paar gute Romane lesen. Von Autoren, die ein Auge für wichtige Details haben. Balzac. Zola.« Wex suchte zwischen seinen Büchern herum und fand drei Zola-Romane mit vergilbten Schutzumschlägen. »Die Spießbürger behaupten, er sei schmutzig, verdorben, aber Spießbürger lehnen alles ab, was gewagt oder tiefgründig ist.« Innerhalb einer Woche las Paul Die Schnapsbude. Danach kam Die Bestie im Menschen an die Reihe und schließlich der sexuell erregende Roman Nana. Auf Wex’ Anraten las er mehrmals Zolas formvollendete Beschreibungen der Pariser Gesellschaft, der Theater und Hotels sowie der schwarzen Lokomotiven und Eisenbahnzüge, die durch die französische Landschaft dampften. Er erkannte, worauf Wex hinauswollte. Zola war wie eine menschliche Kamera, die bestimmte Aspekte der Wahrheit herausfilterte und einfing, diese Wahrheit jedoch niemals milderte oder gar kaschierte. Als Paul die Papierabzüge zum Hotel Wampler brachte, klatschten die Huren in die Hände und stießen aufgeregte Ahs und Ohs aus. Floss, die jüngste, trieb eine Flasche schalen Champagner auf, und sie tranken alle und stießen auf Paul, den bedeutenden Photographen, an. Butterfly bot ihm erneut ein kostenloses Schäferstündchen an. Paul nahm Zuflucht zu einer Ausrede und lehnte auch diesmal dankend ab. Er verließ das Wampler schwankend und mit summendem Kopf. Der schale Champagner trieb ihn auf die nächste Toilette, wo er sich übergab, aber nichts konnte das köstliche Gefühl des Erfolgs mindern. Obgleich Wex vorwiegend Landschaften und Porträts photographierte, war er überhaupt nicht engstirnig. Er begeisterte sich für jene Art von
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Photographie, die in der Ausstellung, bei der sie sich kennengelernt hatten, demonstriert wurde, die Photographie der Bewegung. Er erzählte Paul von Eadweard Muybridge, einem Engländer, der den Auftrag erhielt, zahlreiche Bilder von einem Lieblingspferd des ehemaligen Gouverneurs von Kalifornien, Leland Standford, aufzunehmen, während es sich trabend vorwärts bewegte. »Der Gouverneur wollte beweisen, daß ein laufendes Pferd zu bestimmten Zeitpunkten den Boden mit allen vier Hufen berührt. Er steckte eine Menge Geld in dieses Vorhaben. Die Bilder von Muybridge sorgten dafür, daß er seine Wette gewann.« Wex besaß alle elf Bände einer Arbeit von Muybridge mit dem Titel Bewegung der Tiere. Die Bände enthielten Hunderte von Platten von Tieren und Menschen, männlich wie weiblich, in verschiedenen Phasen des Gehens, Rennens, Springens, Bückens, Kletterns. Paul fand die Photographien verblüffend. Wex griff in einen anderen Schrank und holte eine seltsame Trommel mit Schlitzen in der Wandung hervor. Eine Serie von Muybridges Pferdebildern war innerhalb der Trommel aufgeklebt. Die Trommel selbst steckte horizontal auf einer Achse. Wenn die Trommel nun schnell gedreht wurde, blickte Paul durch die Schlitze und beobachtete einen erstaunlichen Effekt. Die einzelnen Standphotos verschmolzen zu einem einzigen Bild. Das Pferd schien zu galoppieren. »Das nennt man einen Stroboskopischen Zylinder. Ein Kinderspielzeug. Hattest du nie so was?« »Nein, Sir, nicht in Berlin.« »Na schön, dann freu dich drüber. Aber wisch lieber vorher den Staub ab.« Paul trug das Gerät auf den Dachboden. Dort, im Sonnenschein eines eiskalten Sonntages, lag er auf der Seite und fixierte die rotierende Trommel. Die Schlitze bewegten sich so schnell vorbei, daß die Trommel zu verschwinden schien. Während das Zauberpferd rannte … Im Laufe der Wochen erfuhr er weitere Einzelheiten über seinen Lehrer. Wex schien tatsächlich überhaupt kein Talent dazu zu haben, Geld zu verdienen, es festzuhalten und zu sparen. Aber, so entschied Paul, Geld war sicherlich nicht der Grund, weshalb man die Photographie lieben oder sie zu seinem Lebensinhalt machen sollte. Wex sprach reichlich dem Whiskey zu, vor allem, wenn auch nicht immer, abends. Wenn er keine Kunden hatte oder irgendwelche Werbeaufträge ausführen mußte, trank er auch tagsüber. Paul vermutete,
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daß er sich den Whiskey von dem Geld kaufte, das er eigentlich für warme Kleidung oder bessere Verpflegung hätte ausgeben sollen. Der Alkohol löste Wex die Zunge. Indem er manche Worte halb verschluckte, sprach er von »meinen zahlreichen Fehlern«. Oder von »meiner verhängnisvollen Leidenschaft, die ich überhaupt nicht zügeln kann und die schließlich zur Auflösung meines glücklichen Haushalts unten in Carolina führte«. Nach solchen Worten starrte er lange Zeit auf das sepiafarbene Porträt seines Sohnes. Um ihn ein wenig aufzumuntern, sagte Paul eines Abends, daß er eigentlich kaum Hinweise auf zu viele schlechte Gewohnheiten bemerke. Wex musterte ihn prüfend über den Rand seiner Brille hinweg. »Das wirst du aber, sobald das Wetter wieder wärmer wird und die Sportsaison begonnen hat. Das ist nämlich eine sehr gefährliche Zeit für mich, Dutch.« Und während er das sagte, schenkte er sich noch einen kräftigen Schluck ein. Mitte Februar fand Paul eine neue Arbeit: Mädchen für alles in einer heruntergekommenen Spelunke namens Lone Star Saloon and Palm Garden. Sie lag in der Whiskey Row, westlich der State- und unweit der Harrison-Straße. Besucht wurde der Laden vorwiegend von weißen und farbigen Männern und von jungen Ganoventypen, die Paul als professionelle Taschendiebe einstufte. Der Wirt des Lone Star war ein kleiner, ungehobelter Mann namens Mickey Finn. Er sagte, er sei Ire und stamme aus Peoria. Im Gürtel trug er immer einen Spundmeißel. An Pauls erstem Arbeitstag drohte er drei streitlustigen Gästen, ihn einzusetzen. »Damit hole ich Männern die Augen raus«, sagte er zu einem. »Das gleiche mach’ ich auch bei dir, wenn du nicht die Klappe hältst.« Finn bewahrte außerdem unter der Bar eine große braune Flasche auf. Sie enthielt eine milchige Flüssigkeit, mit der er die Drinks bestimmter ahnungsloser Gäste präparierte. Um Mitternacht, am Ende von Pauls zweitem Arbeitstag, wartete Paul nervös im Vorratsraum, während sein Arbeitgeber die Taschen von vier Männern durchsuchte, die auf dem schmutzigen Fußboden aufgereiht lagen. Finn ging ziemlich grob mit ihnen um, drehte sie hin und her wie Mehlsäcke. Erschrocken sagte Paul: »Wachen die nicht auf?« »Nicht nach den K.O.-Tropfen. Finns Cocktail Nummer Zwei. Da geht nichts drüber. Sobald ich fertig bin, schaffst du diese Kerle nach draußen und schleifst sie so weit wie möglich weg von hier. Ein oder zwei Straßen reichen völlig aus. Das ist übrigens jeden Tag deine letzte Aufgabe.«
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Er bemerkte Pauls Gesichtsausdruck. »Was zum Teufel ist los mit dir, mein Kleiner? Verstehst du kein Englisch? Ich will, daß du –« »Ich habe Sie verstanden, Mr. Finn. Eine solche Arbeit mag ich nicht. Ich kündige.« »Komm her, du verdammter Kraut«, brüllte Mickey Finn und riß den Spundmeißel aus dem Gürtel. Paul war längst durch die Hintertür hinausgerannt und verschwunden. Es dauerte lange, bis er an diesem Abend einschlief. Vetter Joe hatte recht, ein großer Teil seiner Vorstellungen von Amerika erwies sich als törichte Träumerei. Eines Tages, Ende Februar, ging er wie immer die Arbeits- und Stellenangebote in den tagealten Zeitungen durch, die er sich in der Halle des Hotels Wampler zusammensuchen durfte. Heute war es ein Exemplar des Inter-Ocean. Er fand keine passenden Angebote, daher blätterte er die Nachrichten- und Gesellschaftsseiten durch. Eine Meldung ließ sein Herz schneller schlagen. RÜCKKEHR DER VANDERHOFFS VON EUROPAREISE Am Ende des kurzen Textes fand er auch den Hinweis: Die beliebte und reizende Miss Juliette Fishburne Vanderhoff setzt ihren Übersee-Aufenthalt für unbestimmte Zeit fort. Er zerknüllte die Zeitung, warf sie auf den Fußboden und trampelte darauf herum. Wenn sie ihn wirklich liebte, wie sie erklärt hatte, wäre sie dann nicht so schnell wie möglich wieder zurückgekommen? Nein, er war unfair. Er kannte die Umstände nicht. Irgendein dringender Anlaß hielt sie sicherlich in Europa fest. Vielleicht war sie wieder erkrankt und mußte sich erst einmal erholen. Aber Genaueres würde er vorerst sicher nicht erfahren. Er blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Das würde er auch tun, keine Frage. Die Wartezeit würde sicherlich schwer, aber am Ende erwartete ihn der Lohn. Julie würde zu ihm zurückkehren. Dessen war er sich gewiß.
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58 JOE CROWN Zu Beginn desselben Winters ritt Joe Crown an einem Januarmorgen von Chimneys, seinem großen Haus, das nur wenige Meilen von der Küste von South Carolina entfernt lag, auf einem temperamentvollen Grauschimmel zum Atlantik hinunter. Grau war eine Farbe, die in der Kavallerie der Union nicht sonderlich beliebt gewesen war. Dieser Graue jedoch, Old Stonewall, war ein Prachtexemplar. Joe war nach einer unruhigen Nacht, in der er zeitweise in seinem Bett wach gelegen hatte, gegen vier Uhr aufgestanden. Er schlief schon seit einigen Wochen sehr schlecht, ein Zustand, den er bereits von früher kannte. Er dachte zuviel nach. Hatte zu viele Probleme. Er fühlte sich zunehmend alt. Schlug sich zunehmend mit bitteren und pessimistischen Gedanken über private wie politische Angelegenheiten herum. Er war nach unten ins Parterre geschlichen, hatte eine Lampe angezündet und zum zweitenmal eine sorgfältig gestaltete Broschüre über die Habsburg School gelesen, eine Privatschule für Jungen mit deutschen Eltern. Sie versprach eine ganze Menge. Besonderes Gewicht wurde auf gutes Benehmen und feine Lebensart gelegt. Hinzu kam ein umfangreiches Lernprogramm, in dem die Naturwissenschaften einen großen Raum einnahmen, und eine Reihe von Mannschaftssportarten. Die Akademie befand sich im Westchester County, New York, an der Grenze zu Connecticut. Das war nach Joes Meinung ihr entscheidendes Manko. Er hatte praktisch sein ganzes bisheriges Leben in Amerika im Mittelwesten verbracht. Er hatte sich die dortigen Sitten und Gebräuche angeeignet und teilte die dort herrschenden Auffassungen: Der Mittelwesten war offen, gastfreundlich, demokratisch, während der Osten ziemlich abweisend und überheblich war; eine Gegend, wo die Reichen immer neue Intrigen ersannen, um die Öffentlichkeit zu betrügen, und wo die arrogante bessere Gesellschaft sich auf Grund ihres »alten Blutes« besser wähnte als das sogenannte gemeine Volk. Ein paar Jahre vorher hatte ein kleiner Fatzke namens Ward McAllister, der so tat, als sei er der Wortführer der vierhundert angesehensten Familien von New York, öffentlich über die Vorstellung gespottet, daß Chicago jemals über eine ähnlich respektable Gesellschaftsschicht verfügen würde. Dennoch hatte der Osten unbestreitbare Vorteile. Dort befanden sich die besten Universitäten und Privatschulen wie die, die er soeben für Carl in Erwägung zog. Die Habsburg School versprach eine strenge Disziplinierung ihrer Schüler, was ungemein reizvoll klang. Joe junior und
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danach Paul hatten in den Schulen Chicagos katastrophale Abstürze erlebt. Er wollte nicht, daß sein jüngster Sohn den gleichen Weg einschlug. Unentschlossen, was seine Wahl der Schule betraf, hatte er die Broschüre auf seinem Schreibtisch liegenlassen, als der Tag anbrach. Er zog sich im ersten Stock an. Ilsa war bereits aufgestanden, wahrscheinlich um in der Küche das Frühstück vorzubereiten. Der Winter in South Carolina war bisher sehr milde gewesen, daher entschied er sich für ein weites Baumwollhemd mit langen Ärmeln und eine Hose aus Twill, die in die Reitstiefel gestopft wurde. Im Eßzimmer trank er Kaffee und verzehrte ein warmes Hefeplätzchen. Beides war von Delphine, der Frau des alten Ford, auf der Anrichte bereitgestellt worden. Das Ehepaar, Farbige, die in diesem Staat geboren waren, versorgte das Haus das ganze Jahr über. Sie waren anständige, religiöse Menschen, die lesen und schreiben konnten wie jeder Weiße. Sonnenschein und laute Geräusche drangen durch die offenen Fenster des Eßzimmers herein. Vogelgezwitscher. In der Ferne das Klirren von Eisen auf Eisen. Er erinnerte sich an den vom Blitz getroffenen Baum draußen an der Straße. Orpheus LaMotte, sein Gutspächter, hatte den Baum im Herbst gefällt und schnitt dort alle paar Tage das nötige Feuer- und Kaminholz. Joe hatte keinen Appetit auf die Plätzchen und auf eine zweite Tasse von dem starken Kaffee. Gedanken an Joe junior drängten sich in sein Bewußtsein, erfüllten ihn wie immer mit schrecklicher Wut und einem furchtbaren Schmerz, bildeten einen unentwirrbaren Knoten in seinem Innern. Oft erwachte er mitten in der Nacht von den hell leuchtenden blauen Augen seines Sohnes, die ihn aus der Düsternis seines Bewußtseins anstarrten. So zornig, anklagend … Aber wer war an all dem schuld, was geschehen war? Joe junior! Und Paul, der die Flucht seines Sohnes unterstützt hatte. Das stand für ihn außer Frage. Im Stall sattelte Joe Old Stonewall und lenkte ihn vor das Haus auf die geschwungene Zufahrt mit ihrem Belag aus hellem Muschelsand. Chimneys hatte zwei Stockwerke und eine in Muschelkalk gehaltene Fassade. An beiden Seiten ragten massive, weiß gekalkte Kamine hoch. Eine breite Veranda, nach vorne durch weiße Säulen abgeschlossen, erstreckte sich über die gesamte Hausfront. Joe winkte Ilsa zum Abschied zu. Sie kam gerade aus dem separaten Küchenanbau hinter dem Haupthaus. Er dachte bei sich, daß sie müde und ziemlich verzweifelt aussah. Sie erwiderte sein Winken. Er ritt auf dem Grauen die breite, von mächtigen Eichen gesäumte
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Straße hinunter. Die Kronen der Bäume bildeten ein dichtes Dach über der Straße. Er lenkte den Grauen durch leichte Tritte mit seinen Stiefelabsätzen. Seit er das blaue Tuch der Union abgelegt hatte, war er nicht mehr mit Sporen geritten. Das Klirren von Metall auf Metall wurde lauter. Kurz vor Ende der Eichenallee war Orpheus LaMotte mit seinem Hammer und einem Stahlkeil an der Arbeit. Er spaltete fußdicke Scheiben des Baumstamms. Er trug wie üblich schwere Schuhe, Drellhosen und ein geflicktes Jeanshemd mit großen Schwitzflecken unter den Armen. Orpheus war 1855 in Carolina geboren worden, zehn Jahre bevor die Unionsarmee den Staat befreit hatte. Nach Appomattox hatte er den Namen seines Herrn auf einer Plantage namens Resolute am Ashley-Fluß angenommen. Der Herr war irgendwann während des Krieges ums Leben gekommen. Orpheus, seine Frau Lydia und ihre drei hübschen Töchter wohnten auf dem Anwesen in einem Haus, das er Zimmer für Zimmer selbst und mit Hilfe farbiger Freunde aus der Nachbarschaft errichtet hatte. »‘n Morgen, Mist’ Crown«, sagte er, während Joe sein Pferd zugehe. Orpheus hatte eine große, deformierte Nase und pockennarbige Wangen, aber makellos gleichmäßige Zähne und ein sonniges Lächeln. »Mist’ Carl war schon in unserem Haus und hat mit Prissy gekämpft, ehe ich herkam. Das ist doch in Ordnung, oder?« »Natürlich, wenn er sie nicht gleich zu Boden wirft.« Priscilla LaMotte war so alt wie Carl, ein richtiger Wildfang. Sie hatte eine zierliche Figur und schlug ihn bei jedem Wettlauf, aber beim Ringkampf war sie ihm unterlegen. Carl spielte sehr gerne mit Prissy, und heute würde sein Lehrer aus Charleston nicht herüberkommen. Mr. Ungar erschien immer montags, mittwochs und freitags auf seinem Pferd in Chimneys. Joe winkte dem Mann zu und trabte weiter. Die Straße ging in einen Sandweg über, der durch ein Palmen- und Fichtenwäldchen führte. Er folgte dem Salzgeruch des Windes nach Osten in Richtung des Marschlandes mit seinen Strandhaferflächen, wo die Sonne aufging. Joe wollte allein sein, um nachzudenken. Er ließ in Chimneys im Grunde das gleiche unerträgliche Durcheinander zurück, das ihn aus Chicago vertrieben hatte. Joe junior verschwunden – sein Neffe verwiesen als angemessene Strafe für seine Widerspenstigkeit und Undankbarkeit. Gelegentlich empfand Joe einen Anflug des Bedauerns darüber, daß er Paul befohlen hatte, das Haus zu verlassen. Dieses Gefühl der Reue schmerzte, und daher lieferte er sich ihm niemals lange aus. Ein Mann traf seine Entscheidungen und lebte anschließend mit den Konsequenzen.
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Aber andere Probleme blieben weiterhin bestehen. Fritzi hörte nicht auf, von ihrem festen Entschluß zu faseln, die Bühnenlaufbahn einzuschlagen. Carl wuchs ziemlich schnell und wurde von Tag zu Tag reifer. Im Herbst würde er schon dreizehn. Wie lange mochte es noch dauern, bis sich auch bei ihm der rebellische Geist der Jugend regte? Ilsa lachte viel seltener. Sie sagte, er sei zu seinen Kindern immer zu hart gewesen – und er sei zu denen, die geblieben wären, immer noch zu hart. Fritzi und Carl waren aus ihren Schulen abgemeldet und für den Winter nach South Carolina geholt worden. Dort sollten sie ihre schulische Ausbildung so gut wie möglich mit Hilfe von Mr. Ungar, dem jungen Lehrer aus Charleston, fortsetzen. Mr. Ungar war Deutscher. Seine Eltern stammten aus einem Dorf in der Nähe Münchens. Ungar selbst hatte nicht das gemütliche und umgängliche Auftreten der meisten Bayern. Er war klug, aber auch überheblich und scharfzüngig. Carl und Fritzi konnten ihn nicht ausstehen. Old Stonewall trabte zügig über den Karrenweg zwischen den Dünen. Joe hörte bereits den Ozean. Oberhalb der Dünenlinie, die seine Sicht begrenzte, erfüllte strahlendes Licht einen wolkenlosen Himmel. Die Luft roch salzig und warm. Er lenkte den Grauen zwischen den Dünen hindurch zum weißen Strand, der hart und breit war und von einer schaumigen Brandung sanft überspült wurde. Soweit Joe erkennen konnte, war der Strand in beiden Richtungen völlig menschenleer. Das Boot eines Krabbenfischers trieb mit ausgebrachten Netzen in einiger Entfernung vom Ufer dahin. Ansonsten hatten Mann und Pferd die Idylle für sich allein. Ein Pelikan segelte in den leichten Aufwinden. Ein anderer stürzte sich aus dem Himmel ins Meer und ließ sich von den Wellen treiben, während er seine Jagdbeute, einen Fisch, verzehrte. Muschellöcher im Sand verspritzten Wasser, als der Grauschimmel vorübertrabte. Winzige Landkrabben flüchteten vor den Hufen. Joe Crown liebte das Low Country von Carolina. Seine Schönheit war unvergleichlich. Er liebte den Süden allgemein, und das stimmte tatsächlich, obgleich sein Dienst in der Armee von ihm verlangt hatte, die Söhne dieser Landschaft zu töten. Vor einem Jahr hatte er eine Filiale in Atlanta eröffnet und Faßbier in eigenen Kühlwagen von Chicago dorthin transportiert. Crowns Lagerbier war ein recht guter Erfolg in der Stadt, die Sherman niedergebrannt hatte. Joe dachte jetzt daran, sich nach Charleston auszubreiten und dort, falls möglich, mit ein oder zwei Gasthäusern Verträge abzuschließen. In Atlanta
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hatte er bereits drei Häuser an sich gebunden. Dort wurde ausschließlich Bier aus seiner Brauerei ausgeschenkt. Er empfand stets ein gewisses Unbehagen, wenn er in Charleston oder auch anderswo in diesem Staat Geschäfte machte – und das trotz seiner großen Sympathie für die Bewohner Carolinas. Er fand, daß sie die freundlichsten und großzügigsten Menschen waren, die er je kennengelernt hatte. Viele von ihnen, wie Ungar zum Beispiel, hatten deutsche Vorfahren. Die deutschen Staaten und Fürstentümer hatten Schiffsladungen von Siedlern über den Hafen Charleston in die Kolonien geschickt. So freundlich und entgegenkommend sie auch waren, galten die Bewohner Carolinas gleichzeitig auch als ziemlich eigenbrötlerisch. Sie waren im äußersten Maße provinziell. Sie verehrten ihre Vorfahren so sehr, daß sie sie schon beinahe zu Heiligen machten. Joe Crown hatte den Verdacht, daß sie noch schlimmere Snobs waren als die alten Familien des Nordostens. Es war völlig gleichgültig, ob eine Dynastie in Carolina wirklich reich war. Tatsächlich waren die meisten dreißig Jahre nach dem Krieg sogar bettelarm. Es kam nur darauf an, daß die Familie möglichst alt war und einen angesehenen Namen trug. Joe Crown saß ab, um den Grauen ausruhen zu lassen. Er band die Zügel an einen Balken Treibholz, zog Stiefel und Strümpfe aus und lief barfuß durch die kalte Brandung. Er mußte schon bald wieder daran denken, nach Chicago zurückzukehren. Er konnte sich durchaus darauf verlassen, daß der Betrieb in der Brauerei einen Monat lang und vielleicht auch länger ungestört weiterlief, wobei des öfteren Telegramme zwischen dem Betrieb und seinem Eigentümer hin und her geschickt wurden. Aber am Ende war es sein Charakter, seine Natur, die ihn zur Rückkehr trieb. Er wollte sichergehen, daß alles auf qualitativ hohem Standard blieb. Diesmal jedoch freute er sich gar nicht darauf. Was Chicago betraf, war er zunehmend ernüchtert. Die Stadt war ein politischer Sumpf, der von einer Bande geschmierter Persönlichkeiten, den Stadträten, geführt wurde, die ihre Gunst ganz offen gegen entsprechende Zahlungen verkauften. Von stillen Teilhabern mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet, gründeten sie Scheinfirmen und schanzten das städtische Verkehrswesen und andere Dienstleistungen dann eben diesen Firmen ganz allein in der Absicht zu, enorme Geldsummen für die Weitergabe dieser Dienste zu verlangen, falls ein gesetzlich einwandfreies Unternehmen sich im gleichen Teil der Stadt niederlassen wollte. Niemand nahm daran Anstoß. Niemand interessierte sich dafür. Joes eigenes Viertel, der Erste Bezirk, war eine Hochburg der schlimmsten Schmiergeldempfänger – Stadtrat Coughlin, ein Dreckskerl
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irischer Herkunft, der mit Kenna, einem Saloonbesitzer, gemeinsame Sache machte. Seit kurzem arbeitete der verdammte Gouverneur Altgeld ganz offen mit demokratischen Organisationen zusammen, die von Coughlin und Kenna kontrolliert wurden. Der Zweck dieser Verfahrensweise, so erzählte man sich, bestand darin, sich gegen den östlichen Flügel der Demokraten zur Wehr zu setzen. Dieser wurde von Präsident Cleveland angeführt. Jedermann wußte, weshalb Altgeld mit den Gaunern gemeinsame Sache machte; Grover Cleveland hatte sich über ihn hinweggesetzt und die Soldaten losgeschickt, um den Pullman-Streik zu brechen. Altgeld wollte sich dafür rächen. Der Gouverneur und die gekauften Politiker in Chicago äußerten, sie würden die Verfechter des freien Silberhandels unterstützen. Die unbegrenzte Ausgabe von Silbergeld war ein Thema, das die demokratische Partei gewiß spalten würde. Zum erstenmal zog Joe etwas in Erwägung, woran er noch nie zuvor auch nur gedacht hatte. Nämlich die Republikaner zu wählen. Es ärgerte ihn, daß er gezwungen wurde, eine derart extreme Position einzunehmen. Es war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie tief Chicago – und Amerika allgemein – gesunken war. Na ja, aber war es nicht im Grunde töricht von ihm, sich über Chaos und Unordnung in Chicago und im ganzen Land aufzuregen, während in seinem Hause genau die gleichen Verhältnisse herrschten? Zwei Stunden später ritt Joe nach Chimneys zurück. Nur wenige Augenblicke, nachdem er Old Stonewall in seine Box geführt hatte, flog die Stalltür auf. Ilsa stand dort. Sie war in heller Aufregung. »Joe, lauf schnell zur Hütte. Prissy ist schwer verletzt.« »Was ist passiert?« »Sie und Carl haben sich auf der Veranda gekabbelt. Carl hat sie wohl zu heftig gestoßen, so daß sie gegen ein Fenster stürzte. An den Glasscherben hat sie sich dann verletzt.« Joe berührte sie kurz, als er an ihr vorbeieilte, hinaus in den hellen Morgen und die schmale Straße hinunter. Bis zu dem weißgestrichenen Haus von Orpheus und Lydia LaMotte mußte er knapp eine Viertelmeile zurücklegen. Orpheus sah ihn kommen und lief ihm entgegen. Auf der Veranda beugte Lydie sich über Prissys schlaffen Körper. Einer der Ärmel von Prissys Kleid war abgerissen. Blut glänzte auf dem Arm und tränkte die Decke, auf der sie lag. Carl stand im Sand unweit der Veranda und beobachtete seinen Vater mit ängstlicher Miene.
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»Sie hat sich schlimm geschnitten, Mist’ Crown, aber es war nicht Carls Schuld«, sagte Lydie, während Joe die Verandatreppe hinaufstürmte. »Teufel auch«, knurrte er und kniete sich hin. Prissys Augen hatten einen völlig benommenen Ausdruck. Sie war bei Bewußtsein und wach, hatte aber offenbar schlimme Schmerzen. Der Schnitt in ihrem Arm war etwa fünfzehn Zentimeter lang und sehr tief. Als er den Arm vorsichtig berührte, schrie das Mädchen auf. »Es muß genäht werden. Calhoun Manigault in Green Fond ist der nächste Arzt. Ich habe noch nie mit ihm zu tun gehabt, aber ich bin sicher, daß er das behandeln kann. Lydia, Sie bleiben bei ihr und sorgen dafür, daß die Wunde sauberbleibt, während Orpheus und ich den Wagen anspannen.« Orpheus LaMottes verschwitztes Gesicht bekam einen furchtsamen Ausdruck. »Sir, Dr. Calhoun – er behandelt die Farbigen nicht.« »Laß das meine Sorge sein.« Dr. Calhoun Manigaults Behandlungszimmer war ein Raum, der seitlich an sein großes Haus aus Zypressenholz angebaut worden war. Kleine Eichhörnchen sprangen vor der kleinen Veranda herum und ergriffen die Flucht, als Joe die Stufen hinaufstampfte und anklopfte. Manigault war ein stattlicher, rundlicher Mann mittleren Alters. Eine schneeweiße Haarmähne verlieh ihm eine ehrfurchtgebietende Ausstrahlung. »Treten Sie ein, Sir, was kann ich für Sie tun?« Joe deutete auf den Wagen. Dort richtete Prissy sich halb auf und stützte sich mit dem heilen Arm ab. »Das Mädchen dort hatte einen Unfall. Ihr Arm muß genäht werden.« Manigault trocknete sich die Hände mit einem Handtuch ab. Mit leiser Stimme, als unterhielte er sich mit einem Gesinnungsgenossen, sagte er: »Tut mir leid, aber ich behandle keine Neger. Sieben Meilen nördlich von hier finden Sie einen –« »Ich fahre keine sieben Meilen mehr, Doktor. Sie blutet heftig.« Manigaults Augen blinzelten ihn durch rechteckige randlose Brillengläser an. »Sie sind ein Yankee.« »Ja, mir gehört Chimneys.« »Ah, Crown. Ich habe schon von Ihnen gehört. Nun, es tut mir wirklich leid, Mr. Crown, ich bin nicht für die Schwarzen zuständig.« Joe machte einen weiteren Schritt und stützte sich mit der linken Hand gegen den verwitterten grauen Türrahmen. Er war fast einen ganzen Kopf kleiner als der Arzt. »Hören Sie«, sagte er. »Sie behandeln das Mädchen, oder man muß Sie in einem Krankenhaus in Charleston zusammenflicken. Sie können dann sicherlich für mehrere Wochen nicht mehr Ihren Dienst
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versehen. Wie würde Ihnen das gefallen?« Manigault wich dem Blick Joe Crowns aus. Er winkte mit dem Handtuch und sagte kleinlaut: »Bringen Sie sie herein.« Auf der Rückfahrt zu Chimneys saß Prissy neben Joe auf dem Kutschbock. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Sie schlief nicht richtig, aber Manigault hatte ihr einen Teelöffel voll von irgendeinem Betäubungsmittel gegeben, um ihre Schmerzen zu lindern. Er hatte gute Arbeit geleistet, als er ihre Wunde gereinigt und zugenäht hatte. Und er hatte fünfzehn Dollars verlangt – die reinste Räuberei. Joe hatte bezahlt, ohne zu protestieren. Dr. Calhoun Manigault war ein Beispiel für die schlimmste Seite des Südens, dachte Joe, während der Wagen durch die Landschaft rollte. Er gehörte zu denen, die noch immer nichts gelernt hatten aus jener Vergangenheit, in der sie im Krieg geschlagen und im Frieden erniedrigt worden waren. Sie hielten an ihrem Irrglauben fest, um ihre Handlungsweise zu verteidigen und sich von ihrer Schuld freizusprechen. Bei Konferenzen mit dem Aufsichtsrat der Textilfabrik, an der Joe einige Anteile besaß, oder in Banken und Clubs in Charleston hörte er immer wieder, wie voller Sehnsucht die seligen Vorkriegszeiten heraufbeschworen wurden. Daß ihre »Blackies« es doch viel besser gehabt hätten als die Neger, die jetzt im Norden in Slums lebten – ungeachtet der Tatsache, daß sie sogar in den Slums im Norden frei waren. Nicht sehr gut bezahlt oder anständig behandelt. Aber dafür frei. Joe hatte oft genug in die leidgeprüften Augen von genügend Farbigen aus Carolina geschaut – darunter auch seine Pächter Orpheus und Lydie –, um zu wissen, daß das, was die Weißen von Carolina behaupteten, eine glatte Lüge war. Selbst jetzt, dreißig Jahre später, eiterten die Wunden des Krieges noch immer. Überall in Dixie beriefen die verbitterten Weißen sich auf das Gesetz, um freien Schwarzen wie Orpheus die hart erkämpften Rechte zu verweigern. Schwierige Lesetests, Kopfsteuer, Nachweis von Grundbesitz als Voraussetzung für das Wahlrecht. Es gab wieder Schulen für Schwarze und Ansiedlungen für Schwarze sowie Bänke und Emporen für Schwarze in den Kirchen. In den Bahnhöfen gab es Toiletten für Farbige sowie strenge Warnschilder, die die genaue Einhaltung der Regeln der Rassentrennung verlangten. Ebenso wie viele andere Nordstaatler war Joe noch nicht soweit, einen farbigen Freier für seine Tochter zu akzeptieren oder gar als Nachbarn in der Michigan Avenue. Aber er hätte bereitwillig und ohne zu zögern die besten von ihnen – einen Rechtsanwalt, einen Musiker, den prominenten Pädagogen Booker T. Washington – in sein Haus zu einem Gespräch oder
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zu einem Abendessen eingeladen. Er hielt diese Einstellung für liberal und auch moralisch korrekt. Prissys Kopf stieß sanft gegen seine Schulter. Obgleich ihre Augen geschlossen waren, fand ihre rechte Hand mit der weißen Handfläche die seine. Joe brauchte nur eine Hand, um die Zügel des dahintrabenden Pferdes zu halten. Er hielt Prissys Hand und dachte an Carl und traf seine Entscheidung. Nachdem Prissy wieder bei ihren Eltern war und Ilsa versichert hatte, daß sie sich schnell wieder erholen werde, konnte Joe sich endlich gegen zwei Uhr in sein Arbeitszimmer zurückziehen. Ein dicker Briefumschlag mit Aktennotizen und Briefen war am Vortag von Stefan Zwick eingetroffen. Ein berittener Bote hatte die Sendung nach Chimneys gebracht. Er hatte kaum den Umschlag geöffnet, als ein aufreizendes Gegacker und Geheul durch das offene Fenster hereindrang. Er schob den dünnen Vorhang beiseite und streckte den Kopf hinaus. Fritzi tanzte vor der Veranda herum, riß sich an den Haaren und kreischte wie ein Kobold. »Nimm die Schlinge von meinem Hals! Nimm sie weg!« »In Gottes Namen, hört auf damit!« Joe schwang ein Bein über die Fensterbank und sprang hinaus. Seine Tochter nahm schnell ein kleines Buch von einem weißgestrichenen Korbtisch. Irgendein Schauspiel, soweit er erkennen konnte. »Papa, ich probe. Ich bin Henry Irving in Die Glocken.« Im vorangegangenen Jahr hatten Joe und Ilsa ihre Tochter ins Theater mitgenommen, um den berühmten englischen Schauspieler in seiner besten Rolle als Bürgermeister Mathias zu sehen. Er spielte den Mörder eines älteren polnischen Juden, der auf einem Schlitten ins Dorf des Bürgermeisters gekommen war. Gepeinigt von seinem schlechten Gewissen und vom Klang der Schlittenglöckchen, wurde Mathias vor einem gebannten Publikum im dritten Akt auf höchst überzeugende Art und Weise wahnsinnig. »Schön, aber ich kann den Lärm nicht vertragen. Ich versuche mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Gib mir das Buch, ja?« »Papa, ich habe für dieses Soufflierbuch in Chicago sehr viel Geld bezahlt. Ganze fünfzig Cents! Bitte laß mich –« »Ich sagte, ich nehme es an mich.« Er griff danach, umrundete Fritzi und stürmte durch die Eingangstür zurück ins Haus. Ilsa kam vom Eßzimmer in die luftige Eingangshalle gelaufen. »Joe?« Ohne auf sie zu reagieren, rannte er in sein Arbeitszimmer und versetzte der Tür einen Tritt, so daß sie krachend zufiel.
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Eine Krise nach der anderen; hörte das denn niemals auf? Er raste vor Zorn. Er haßte das Gefühl, die Schwäche, die es verriet, aber es war unkontrollierbar. Er blickte auf das Soufflierbuch in seiner Hand. Er hatte die Absicht gehabt, es für eine Stunde bei sich zu behalten und dann zurückzugeben. Plötzlich konzentrierte sich sein ganzer Haß auf diesen Gegenstand. Er schleuderte das Buch in den Kamin und zündete es mit einem Streichholz an. Am späten Nachmittag, als die winterliche Sonne bereits unterging, betrat Ilsa leise das Arbeitszimmer. Joe saß reglos an seinem Schreibsekretär und schien den Blick auf etwas zu richten, das sich jenseits des Stapels Brauereikorrespondenz befand. Nach einigen Sekunden schaute er hoch. Er bemerkte, daß Ilsa eine Stola über ihrer Hemdbluse trug. »Würdest du mit mir einen Spaziergang machen?« fragte sie. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich habe einiges zu sagen.« »Fritzi hätte gerne ihr Buch zurück, wenn –« »Ihr Buch ist dahin.« Er deutete auf die schwarze Asche im Kamin. »O Joe«, sagte sie kopfschüttelnd. Diese schlichte Anklage fachte seine Wut erneut an. Er und Ilsa schlenderten über einen mit Muschelkalk bestreuten Weg hinter dem großen Haus. Er verlief entlang einer hohen Hecke Immergrün, die ziemlich kahl und für den Winter stark zurückgeschnitten war; dann beschrieb er einen Bogen hinunter zum Rand eines Uferwalls. Unterhalb des Uferwalls erstreckte sich eine Schilfgrasfläche fast hundert Meter weit nach Westen. Jenseits davon glitzerte das Wasser der Gezeitenmarsch, deren von der Sonne beschienene Oberfläche wie der Boden eines Kupferkessels glänzte. Ilsa faßte nach seiner Hand und drückte sie gegen ihre Seite. »Du hast etwas zu sagen, aber ich rede zuerst. Joe, ich möchte dir etwas mitteilen, was du schon längst weißt. In dieser Familie ist zuviel Unruhe, gibt es zu viele Probleme.« Er versuchte seine Hand aus ihrem Griff zu lösen. Sie lächelte flüchtig, als wolle sie damit ausdrücken, daß sie diese Reaktion erwartet hatte. Sie ließ nicht los. »Gibst du mir die Schuld?« »Ich stelle nur eine Tatsache fest. Nun komm schon, geh weiter, sei nicht so stur.« Sie setzten ihre ruhige Wanderung fort. Der Weg führte sie bis zu einer Landspitze, die ins Wasser hineinragte. An der breitesten Stelle, etwa zwanzig Meter vom Ende entfernt, warfen die fußdicken Äste einer
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mächtigen Eiche ihre Schatten auf das Wasser und auf das Land. Ilsa lehnte sich gegen den Stamm. »Unser Sohn hat uns verlassen – wer weiß für wie lange? Ich bin voller Zuversicht, daß wir ihn eines Tages wiedersehen werden, aber damit läßt sich dieser schwere Verlust nicht leichter ertragen. Pauli, der mit so großen Hoffnungen nach Amerika gekommen ist, ist auch weggegangen. Ich hoffe, nicht zu weit. Wir dürfen Fritzi nicht auch vertreiben. Oder Carl.« »Fritzi redet von nichts anderem als von ihrer schwachsinnigen Schauspielerei –« »Ich glaube, das ist nur eine vorübergehende Phase. So etwas machen alle Mädchen auf die ein oder andere Art und Weise durch.« »Was macht dich so sicher, daß es nur eine Phase ist?« Ilsa streichelte sein Gesicht, sanft, ohne einen Ausdruck des Tadels. »Ich bin ihre Mutter. Du bist sehr viel, aber das ist etwas, was du niemals sein kannst, mein Liebling.« Diese Zärtlichkeit überraschte und entwaffnete ihn. Augenblicklich verflog sein Zorn. Aus der Tasche des alten Gehrocks, den er für den Spaziergang angezogen hatte, holte er eine seiner teuren Havannazigarren, die er seit kurzem bevorzugte. Er biß das Ende ab und spuckte es aus, dann riß er ein Streichholz an seinem Stiefel an. »In Ordnung. Ich nehme meinen Teil Schuld an allem, was in letzter Zeit passiert ist, auf mich. Mehr als meinen Teil.« »Nein, du darfst nicht –« »Laß mich bitte ausreden, ich bin jetzt an der Reihe. Ich versuche, in gutem Glauben zu handeln entsprechend dem, was man mich gelehrt hat und woran ich glaube. Auf diese Art und Weise treffe ich meine Entscheidungen. Carl wird diese Schule im Osten besuchen. Er braucht die Disziplin, damit er endlich ruhig und vernünftig wird. Ich werde ihn heute abend informieren und es ihm erklären.« »So, so«, sagte Ilsa und wurde schlagartig kühl. »Trifft mal wieder nur der Ehemann die Entscheidung, oder?« »Was ist los mit dir? So war es immer Sitte in dem Land, aus dem wir beide kommen, und hier ist es genauso. So war es doch auch während unserer Ehe.« »Das war es, aber die Welt verändert sich. Und die Frauen verändern sich auch.« »Ich bin wohl zu alt«, sagte er und schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich wurde auf eine ganz bestimmte Art erzogen, und das ist die einzige Art, die ich kenne.« »Ja, ja. In Ordnung. Nun, mein lieber Joe, es wird Zeit, daß du einen
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anderen Weg einschlägst, denn dieser führt dich in die Irre. Du mußt dich – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll…« »Anpassen?« »Ja, das ist es. Wenn ein heftiger Sturm aufkommt – zum Beispiel einer dieser Hurrikane, die immer diese Küste heimsuchen –, geben die Bäume nach und biegen sich. Selbst die stärksten tun das, um zu überleben. Denn Gott schickt diese Stürme, Joe. Immer.« »Du verlangst von einem Mann in meinem Alter sehr viel.« »Was um alles in der Welt hat das Alter damit zu tun?« »Wenn du es nicht verstehst, kann ich es dir auch nicht erklären. Ich habe meine Entscheidung wegen Carl getroffen.« »Ohne mit mir darüber zu reden.« »Sieh es, wie du willst. Es ist auf jeden Fall erledigt.« Er schleuderte die Zigarre zu Boden, ließ Ilsa einfach stehen und ging davon, zurück zum Haus. Ilsa ließ durch Delphines Ehemann Ford ausrichten, daß sie müde sei und lieber schlafen wolle, als zu Abend zu essen. Fritzi und Carl redeten während der Mahlzeit kaum ein Wort. Anschließend wollte Joe in seinem Arbeitszimmer einen Schnaps. Ford brachte ihn. »Sonst noch etwas, Mr. Crown?« »Ja, bitte sag Carl, er möchte mal herkommen.« Kurz darauf erklangen die Schritte des Jungen draußen im Flur. Joe drehte an der Schraube, die den Docht in der Sekretärlampe etwas länger werden ließ, und es wurde heller im Raum. Wahrscheinlich würde es noch einige Jahrzehnte dauern, bis Elektrizität oder Gas bis ins Low Country vordringen würden. Carl Crown trat ein und blieb mit der Hand am Türknauf stehen. Die Körpergröße des Jungen und seine stämmige, kräftige Figur zeigten deutlich, daß er zum Mann heranreifte. »Carl«, sagte Joe und achtete darauf, daß seine Stimme ruhig blieb. »Vater.« »Warst du heute bei Prissy?« »Ja, Sir. Ich habe ihr gesagt, daß es mir leidtut.« »Das solltest du auch. Du bist zu rauh gewesen. Prissy ist ein Mädchen und viel schwächer als du. Du setzt deine Kraft viel zu unkontrolliert ein, Carl. Ich weiß, daß es nicht absichtlich geschieht, aber das müssen wir in den Griff bekommen. Im Herbst wechselst du auf eine neue Schule, im Staat New York. Dort legt man viel Wert auf akademische Erziehung, aber man betont auch die feine Lebensart des wahren Gentleman.« Er zeigte Carl die Broschüre und erklärte mehrere der Punkte, die darin
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angesprochen wurden. Während des Gesprächs stand Carl gerade und stumm da wie ein preußischer Soldat. Als Joe geendet hatte, antwortete Carl auf die Art und Weise, wie sein Vater es wünschte und erwartete: »Jawohl, Sir.« Joe umarmte seinen Sohn und gab ihm einen Gutenachtkuß. Carl verließ das Arbeitszimmer schweigend. Ein paar Sekunden lang war Joe zufrieden. Wenigstens war er im Begriff, ein gewisses Maß an Ordnung in seiner Welt wiederherzustellen. Er schüttelte eine Handglocke. Als Ford erschien, bestellte Joe einen zweiten Schnaps. Das überraschte den Farbigen. Sein Herr trank niemals zwei Gläser an einem Abend. »Ford, hast du Mrs. Crown gesehen?« »Sir, Delphine sagte, sie habe die Kissen und ihre anderen Sachen ins andere Schlafzimmer gebracht. Sie meinte zu Delphine, sie schlafe so schlecht, dort könne sie besser schlafen.« »Ich verstehe. Danke, Ford. Das ist alles.« Als Ford die Tür hinter sich geschlossen hatte, sackte Joe in seinem Sessel zusammen. Er bedauerte, daß er sich mit Ilsa gestritten hatte, aber er war noch immer böse auf sie. Ilsa hatte sich verändert. Gespürt hatte er das schon früher, aber heute war es ihm zur vernichtenden Gewißheit geworden. Er liebte sie natürlich. Er schätzte ihre Intelligenz, ihre Charakterstärke. Aber gerade diese Qualitäten führten sie in Bereiche, in denen Frauen nichts zu suchen hatten. Sie beschäftigte sich zu freizügig mit neuem Gedankengut. Sie würden den Streit beilegen, daran zweifelte er nicht. Ilsa hatte eine unerschöpfliche Fähigkeit zu verzeihen. Aber die grundsätzlichen Probleme blieben bestehen. Trotz ihrer Beteuerung, daß dies völlig unwesentlich sei, alterte er tatsächlich, und zwar geistig und körperlich. Am letzten Märztag würde er dreiundfünfzig. Er haßte die Steifheit, die er bereits in seinen Knochen und Gelenken spürte. Außerdem verstand er einige der verrückten Entwicklungen und Ideen nicht mehr, die über die Welt fegten. Was Erfindungen und Technologie betraf, war er durchaus modern eingestellt, aber ihm gefiel die intellektuelle und moralische Atmosphäre überhaupt nicht, die die neue Wissenschaft schuf, und das in einem Tempo, mit dem man kaum Schritt halten konnte … Er leerte sein Schnapsglas. Sein Kopf summte. Eine grundlegende Krise braute sich in seinem Leben zusammen. Er hatte gehört, daß so etwas bei Männern in seinem Alter öfter geschah. Sie verließen eines Tages ihr Zuhause und verschwanden für immer. Sie ließen Frauen sitzen, mit denen sie dreißig oder gar vierzig Jahre lang verheiratet waren, heirateten dafür
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Frauen, die nur halb so alt waren wie sie selbst, und stürzten sich in eine mitleiderregende Parodie von Jugend, indem sie sich die Haare färbten, grellbunte Kleidung bevorzugten und mit sechzig noch Väter wurden. Diese Vorstellung entsetzte ihn. Er sah vor seinem geistigen Auge ein beängstigendes Bild. Den stählernen Keil, mit dem Orpheus seine Holzscheite spaltete. Der Keil wurde tiefer und tiefer ins Kernholz geschlagen, so tief, daß er nicht mehr herausgeholt werden konnte, bis das Holz, in das er hineingetrieben worden war, auseinandergesprengt wurde. War er etwa im Begriff, solch einen stählernen Keil in ihre Ehe zu treiben? Oder tat Ilsa es? Er saß lange da und wälzte sorgenvolle Gedanken. Gegen Mitternacht entlud sich irgendwo über dem Atlantik ein Gewitter. Er schloß die Fenster im Parterre. Im Osten schossen Lichtkaskaden über den Himmel. Wahrend er die Treppe hinaufstieg, unglaublich müde, hörte er den Regen und weiteren Donner. Er schlüpfte in sein Nachthemd, schlug das gemeinsame Bett auf, zögerte und deckte es wieder zu. Er schlich über den auf Hochglanz gebohnerten Kiefernholzboden der Halle, drehte behutsam am Türknauf und schlüpfte in das Zimmer und in das Bett, in dem Ilsa schlief. Er verursachte kaum einen Laut. Nach längerem Schweigen sagte sie: »Ich bin wach.« Er drehte sich zu ihr um. Sie umarmten einander. Blitze flackerten draußen, drangen durch die Schlitze der geschlossenen Fensterläden. Sie hielten einander fest. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Und noch einmal: »Es tut mir leid.« »Es ist schon in Ordnung«, erwiderte sie, obgleich er sich fragte, ob sie das tatsächlich glaubte. »Hast du mit Carl gesprochen?« »Ja.« »Und wie hat er es aufgenommen?« »Besser als ich erwartet hätte. Vielleicht gefällt es ihm bei uns nicht mehr.« Dieser bittere Gedanke war ihm ganz plötzlich gekommen. Ilsa schwieg wieder für einige Zeit. »Ich habe gesehen, daß wieder ein neues Päckchen von Stefan eingetroffen ist. War irgend etwas von den Detektiven dabei?« »Der wöchentliche Bericht. Wie üblich nichts Neues. Was haben sie denn anderes als eine Personenbeschreibung, die auf zehntausend junge Männer zutreffen könnte? Es ist ein unendlich großes und weites Land, Ilsa. Wenn er sich entschließt, die Gesetze zu beachten, was ich von ihm hoffe, wem sollte er dann auffallen? Ganz sicher nicht irgendeiner örtlichen
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Polizeibehörde.« »Dann glaubst du also, daß er wirklich verschwunden ist?« »Ilsa, denk doch nicht –« »Antworte, Joe.« »Ja, ich denke, er ist endgültig verschwunden. Es tut mir leid. Ich nehme dafür die Schuld auf mich.« 59 PAUL Wex brachte ihm bei, wie man eine trockene Eastman-Platte in einer großen Stativkamera belichtete, sie entwickelte und dann einen Kontaktabzug vom Negativ herstellte, indem man die Platte zusammen mit einem Bogen Papier in einen Rahmen einspannte, diesen Rahmen dann aufs Dach schleppte und eine genau bemessene Zeitspanne lang der Wintersonne aussetzte. Pauls erste Platte dieser Art war eine ganz simple Kopfstudie von seinem Lehrer. Wex hatte dazu seine Brille abgenommen und ein übermütiges Grinsen zustandegebracht. Nach nervösen Augenblicken auf dem Dach – zu lange? zu kurz? – trug Paul den Abzug nach unten, spülte ihn, fixierte ihn und hängte ihn mit Wäscheklammern zum Trocknen auf. Er stand davor, drehte den Kopf hin und her. Der schnurrbärtige alte Kobold grinste ihn von dem nassen Bogen Papier an. Paul warf sich stolz in die Brust. Er hatte dieses Bild gemacht. Er hatte es aufgenommen – entwickelt – alles. Plötzlich klatschte er in die Hände, grinste und bewegte die Füße in einem kleinen Freudentanz wie ein farbiger Junge, den er an einer Straßenecke für ein paar Pennies tanzen gesehen hatte. Seine Sorgen und Enttäuschungen erschienen ihm in diesem Moment der Entdeckung und des Stolzes geradezu lächerlich. Es war wirklich ein Segen, in einem Zeitalter der Wunder zu leben. Drei treue Anhänger des First Ward Democratic Club engagierten Wex, damit er sie für die Zentrale des Clubs photographierte. Die Demokraten kontrollierten den Bezirk und vieles andere, und Wex unterhielt eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen. Vor allem zwei von ihren Chefs war er treu ergeben, einem Stadtrat namens Coughlin und einem Saloonwirt namens Kenna. Die drei, die Wex’ Dienste in Anspruch nahmen, waren kaum mehr als Handlanger; großmäulig und in elegante Kleider gehüllt, die schon wieder billig aussahen. Paul mochte sie nicht. Aber er erkannte die Bedeutung ihres prahlerischen Getues. Sie hatten die Macht in der Stadt.
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Wex nannte dreist seinen Preis – fünf Dollars für jeden. Die Burschen schluckten, fluchten, machten Anstalten, wieder hinauszugehen. Wex lachte. »Weshalb regt ihr euch denn auf, Jungs? Ihr wißt, daß der Club es sich leisten kann. Der größte Teil eures Geldes kommt doch aus dem Rathaus, und soweit ich weiß, habt ihr mehr als genug.« Der Wortführer der drei sagte, in Ordnung, fünf Lappen gingen klar. Lappen; Dollars. Paul nahm diesen Begriff in sein ständig wachsendes Slang-Lexikon auf. Wex brauchte mehr als eine halbe Stunde, um jeden der Politiker richtig zu plazieren und auf die Platte zu bannen. Wenn schon nirgendwo sonst, so war er doch in seinem Handwerk ein Perfektionist. Am Ende der Sitzung sagte der Sprecher der drei: »Schicken Sie die Bilder so schnell es geht vorbei. Stadtrat Alderman möchte selbst auch ein neues Photo von sich. Wenn diese hier gut geworden sind, legen wir ein Wort für Sie ein.« Diese unerwartete Einnahme von fünfzehn Dollars, die Hälfte als Vorschuß, versetzte Wex in Hochstimmung. »Dutch, für heute nehmen wir uns frei. Es gibt da etwas, das ich mir schon seit Monaten ansehen wollte. Jetzt kann ich es mir endlich erlauben, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.« »Und was ist es?« »Mr. Edisons Flimmerpalast. Aber zuerst gehen wir ins Palmer House Austern essen.« In einem engen Etablissement in der State-Straße Nummer 148 konnte man sich für fünf Cents pro Vorführung an der jüngsten Erfindung des Hexenmeisters von Menlo Park erfreuen. Es schneite heftig, als Paul und Wex die matschige Straße verließen und hineingingen. Wex’ Brillengläser waren zugeschneit, und Schmelzwasser tropfte von seinen rissigen Schuhen. Trotz des schlechten Wetters befanden sich vier Interessenten in dem Palast, darunter auch eine feine Dame mittleren Alters in eleganter Kleidung. Wex breitete die Arme aus wie ein glückliches Kind. »Ist das nicht toll? Es heißt, Edison habe die Absicht, solche Läden überall in Amerika zu eröffnen.« Sie gingen zur Kasse. Auf einem Podest daneben stand eine in Metall gegossene Büste des bedeutenden Erfinders. Dahinter befanden sich zehn Kabinen, Rücken an Rücken, in zwei Fünferreihen. Jede Kabine war etwa einen Meter hoch und gut einen halben Meter tief. Obgleich die Wände des Kinetoskopsalons in einem tristen Braun gehalten waren, hatte der Unternehmer ausreichend elektrisches Licht und Geländer vor den
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Apparaten installiert, damit die Kunden sich, wenn sie in den Sichtschacht blickten, bequem dagegen lehnen konnten. Der Mann, der das Eintrittsgeld kassierte, war mit Anzug, steifem Kragen und einer Krawattenschnur durchaus gediegen gekleidet. Wex wandte sich an ihn. »Sind Sie der Geschäftsführer, Sir?« »Der Inhaber. Dieser Salon wurde von der Edison Kinetoskop Company konzessioniert.« »Wie lang sind Ihre Filme?« »Ungefähr zwanzig Sekunden. Mit einem Vierteldollar können Sie sich alle fünf ansehen.« »Wie bitte? Für jeden einen ganzen Nickel?« »Sie können wohl kaum erwarten, daß ein Genie nur von der Luft lebt. Das Kinetoskop ist eine phantastische Erfindung.« Wex erstand zwei Fünfundzwanzig-Cents-Tickets und gab Paul eins davon. Während sie sich von der Kasse entfernten, klopfte Wex mit dem Fingernagel gegen die Büste Edisons. »Schwindel«, flüsterte er. »Bronzefarbe auf Gips.« Pauls Pulsschlag beschleunigte sich, als sie sich den Kabinen näherten. »Das sind also die Apparate, die Mr. Edison nicht rechtzeitig zur Ausstellung liefern konnte?« »Genau die.« Wex sah sich die Filme der einen Reihe Kinetoskope an, Paul die der anderen. Die Motive, die Edison ausgesucht hatte, waren harmlos, um nicht zu sagen langweilig. Paul sah Der Drehorgelspieler, Beim Friseur – jemandem beim Haareschneiden zuzusehen war nicht unbedingt das, was er aufregend genannt hätte –, Beim Hufschmied, Tanzbären und Der Große Sandow. Letzterer war der reizvollste Streifen. Der berühmte deutsche Kraftmensch posierte vor einem schwarzen Hintergrund, lediglich mit einem Kleidungsstück ausstaffiert, das an eine übergroße Babywindel erinnerte. Man konnte bewundern, wie Sandow die Arme anwinkelte und seine enormen Bizepse vorführte. Als Wex sich seine fünf Filme angesehen hatte, kehrte er zur Kasse zurück. »Sir, ich arbeite selbst im photographischen Gewerbe. Daher würde ich gerne mal einen Blick ins Innere eines dieser Apparate werfen.« Der Inhaber verweigerte das. Wex redete auf ihn ein und verlieh seiner Bitte mit einem halben Dollar Nachdruck. »Na schön, ich denke, Mr. Edison wird mich von New Jersey aus kaum überwachen.« Sobald die anderen Kunden den Palast verlassen hatten und sich angeregt über das unterhielten, was sie gerade gesehen hatten, trat der Mann
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an einen der Apparate, schraubte die Rückwand ab und nahm sie herunter. Wex ging in die Knie und war wie gebannt. Paul sah über seiner Schulter eine Filmschleife, die endlos über mehrere Rollen zu laufen schien. Nach mehreren Minuten stand Wex wieder auf. »Vielen Dank, Sir, sehr aufschlußreich.« Er tippte zum Gruß gegen seinen Mützenschirm, und sie gingen hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien. »Trotz der unglaublich langweiligen Motive ist dieser Kasten das Wunder des Jahrhunderts. Zumindest vorübergehend.« »Weshalb sagen Sie das?« »Weil das Bild zu klein ist. Weil immer nur eine Person es betrachten kann. Es ist ein Apparat nötig, der das Bild projizieren kann. Der das Bild für ein größeres Publikum auf eine Wand oder einen speziellen Schirm wirft. Für ein zahlendes Publikum. In den Fachzeitschriften, die im Laden herumfliegen, steht, daß Erfinder wie wild an den Entwürfen solcher Projektoren arbeiten. Auch Edison beschäftigt sich damit, obgleich er kein Hehl daraus macht, daß er sich von diesem Verfahren nur wenig verspricht. Ich sage nur, warte ein paar Jahre, und alles wird sich verändern. Dann gibt es keine engen, tristen Räume wie diesen mehr, sondern eigene Theater. Und Scharen von Menschen, die dorthin strömen. Etwas so Wundervolles muß einfach erfolgreich sein.« Wex’ Brillengläser funkelten im Licht einer Straßenlaterne, er tanzte beinahe durch den Schneematsch. »Trotzdem ist Mr. Edison nicht nur ein technisches Genie, sondern er ist auch noch geschäftstüchtig dazu. Er nutzt die Attraktion dieser Neuheit und verkauft das Anrecht für den Betrieb solcher Kinetoskopgeräte gleich staatenweise, nicht mehr und nicht weniger. Der Besitzer dieser Rechte kann die Apparate dann an andere Leute vermieten oder eigene Salons eröffnen. Es kostet wohl eine ganze Menge, wie ich hörte.« »Wie neu ist denn dieser Palast?« »Er wurde im Mai des vergangenen Jahres eröffnet. Ein schlechter Zeitpunkt. Die Eröffnung ging im Wirbel des Pullman-Streiks völlig unter. Monatelang wußte kaum jemand, daß dieser Laden überhaupt existiert.« »Ich frage mich, ob der Inhaber mit seiner Investition Gewinn macht.« »Das hoffe ich doch. Aber sag mal, du kennst ja schon tolle Wörter, Investition. Du lernst eifrig, nicht wahr?« »Klar. Ich lese in jeder freien Minute in meiner Grammatik und meinem Wörterbuch. Und ich denke überhaupt nicht mehr auf Deutsch. Na ja, fast gar nicht mehr.« »Um so besser für dich, wenn du Amerikaner wirst.« In dieser Nacht träumte Paul von den Kinetoskopbildern. In langsamen Traumsequenzen spannte der große Sandow, riesig wie ein Haus, Arme, die
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so dick wie Eichenstämme waren, und führte Bizepse vor, die größer waren als Felsbrocken. Zu seinen Füßen drängten sich zwergengroße Zuschauer und applaudierten ihm begeistert. Am Morgen erwachte Paul voll neuer Spannung und Begeisterung. Das sind die Bilder, die ich erzeugen möchte. Wenn Wex wirklich recht behält, dann sind sie eines Tages bei Millionen beliebt. Wenn ich eine Kamera bedienen könnte, die solche Bilder aufnimmt, könnte ich es mir leisten zu heiraten, und es wäre außerdem eine wahrlich anständige Tätigkeit. Ich käme damit in der ganzen Welt herum! … Ein trauriger Gedanke trübte seine Erregung. Wenn tatsächlich eintreten sollte, was er sich vorstellte, müßte er den Mann verlassen, der ihn bei sich aufgenommen und ihn unterwiesen hatte. Das wäre nicht leicht – falls er etwas Derartiges überhaupt übers Herz brächte. Aber über dieses Problem wollte er in diesem Moment lieber nicht nachdenken. Schließlich, an einem unfreundlichen, windigen Tag Ende März, fand er eine gute Stellung als Fahrer eines Lieferwagens der Illinois Steam Laundry Company, einer Dampfwäscherei, die einem gewissen Albert Grace gehörte und von ihm auch betrieben wurde. Mr. Grace hatte ein rundes, faltiges Gesicht, kleidete sich stets elegant und verbreitete um sich die Aura eines Mannes, der religiöse Waren oder etwas entsprechend moralisch Einwandfreies verkauft. Während des Einstellungsgesprächs wurden Paul ein paar Fragen gestellt. Doch die meiste Zeit redete Albert Grace. »Ich betreibe ein notwendiges Geschäft«, sagte Grace. »Biete einen wichtigen Service. Ich bin in Dutzenden von Bereichen tätig, aber diese Wäscherei ist von allen am erfolgreichsten. Wenn Sie diese Stelle bekommen, dann vertreten Sie die Illinois Steam Laundry Company, Wenn Sie liefern und abholen, sind Sie sozusagen der persönliche Stellvertreter von Albert Grace. Damit haben Sie eine hohe Verantwortung.« Am Ende des zwanzigminütigen Monologs schüttelte Mr. Grace Pauls Hand und erklärte, er sei sehr beeindruckt von Pauls Gebrauch der englischen Sprache. Angesichts der vagen Erklärungen von Mr. Grace war Paul erstaunt, als er bei seinem Arbeitsbeginn die Wahrheit über die Illinois Steam Laundry Company erfuhr. Zum einen lieferte die Wäscherei Tischund Bettwäsche an einige der kleineren Hotels in der Stadt. Aber das Hauptgeschäft machte sie mit einer langen Liste von Kunden im First Ward. Die Illinois Steam Laundry Company wusch die Bettwäsche der Bordelle. Das Hauptoperationsgebiet der Wäscherei, das Levee, erstreckte sich von der Achtzehnten Straße bis hinunter zur Zweiundzwanzigsten, zwischen der Wabash Avenue im Osten und der Clark-Straße im Westen.
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Ursprünglich auf zwei Blocks in der State-Straße beschränkt und als Abschnitt der Satan’s Mile betrachtet – von der Van Buren bis zur Zweiundzwanzigsten –, war das Levee mittlerweile enorm gewachsen und überflügelte nun alle anderen Vergnügungsviertel: Little Cheyenne, Little Hell, die Bad Lands, Coon Hollow und den ehemals herausragenden Custom House Place. Albert Graces Wäscherei befand sich in einem dreistöckigen Gebäude unweit der Vierundzwanzigsten Straße. Damit lag sie sehr günstig zu dem Betrieb, der als das Herz des Levee betrachtet wurde, nämlich Freiberg’s Dance Hall, ein Tanzlokal in der Zweiundzwanzigsten Straße. Das Einsammeln und Ausliefern mit dem Wäschereiwagen war für Paul der Beginn einer neuen und dramatischen Erziehung. Obgleich Onkel Joe sich sehr oft über das Laster aufgeregt hatte, das sich in Chicago breitmachte, hatte Paul sich niemals richtige Vorstellungen vom wahren Ausmaß dieses Gewerbes gemacht. Er war sprachlos vor Staunen über die Anzahl von winzigen Löchern, eleganten Bordellen, Musikkneipen und Tanzhallen, in denen Frauen eine Treppe höher in »Weinstuben« auf Kunden warteten. Die Namen der Etablissements ließen der Phantasie kaum einen Spielraum. Das »Chinese Delight« – »Chinesische Freuden«. Das »Dark Secret« – »Das dunkle Geheimnis«. »Mother Maude’s« – »Bei Mutter Maude«. Das »Why Not?« – »Warum nicht?«. Viele waren sowohl tagsüber wie auch nachts geöffnet. Die Wirtschaftskrise, die das Land immer noch heimsuchte, schien sich kaum auf die Nachfrage nach verbotenem Sex auszuwirken. Jeden Morgen, nach nur wenigen Stationen auf seiner vorgeschriebenen Tour, war Pauls Wagen derart vollgestopft mit Bettwäsche, daß er sich mit aller Kraft gegen die Heckklappen stemmen mußte, um sie zu verriegeln. Er be- und entlud den Wagen vier-, manchmal sogar fünfmal zwischen sieben Uhr morgens und sechs Uhr abends. Zuerst konnte er gar nicht glauben, daß an derart vielen Orten der Lust gefrönt wurde. Ein ganzer Niagarafall Alkohol strömte durch die Lasterhöhlen. Tausende Faß Bier wurden ausgeschenkt, aber keins kam von Crown. Organisierter Diebstahl war in vielen Betrieben ein wichtiges Nebengeschäft. Das Glücksspiel blühte in den benachbarten Poolhallen, in den Würfel- und Farozimmern. Alles trug bei zum wachsenden Wohlstand des Levee, aber Sex war die Haupteinnahmequelle. Zahlreiche legitime Gewerbe, Zeitungskioske, Feinkostläden, chemische Reinigungen und Brauereien, Möbelgeschäfte, Teppichhändler und Wäschereien schrieben schwarze Zahlen, oder rote, je nachdem wie die Bordellgeschäfte liefen. Paul wurde sich schon bald darüber klar, daß das Gewerbe
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Verbindungen zum Rathaus, zum Polizeipräsidium und zum örtlichen Polizeirevier unterhielt. Das war kein Geheimnis. Die Leute redeten ganz offen darüber und brüsteten sich damit. Es gab sogar Verbindungen zu den eleganten Wohnbezirken, die meilenweit entfernt waren. Mr. Grace, seine Frau und seine sieben Kinder hatten sich vor kurzem in eine solche Gegend, Evanston, zurückgezogen. Von einem gediegenen Heim in dieser absolut alkoholfreien Enklave aus spendeten die Graces an alle bedeutenden deutschen Wohlfahrtsorganisationen in der Stadt und sorgten stets dafür, daß ihre Großzügigkeit in den Zeitungen ausgiebig Erwähnung fand. Mr. Grace war ein geborener Albrecht Gerstmeier aus Schlesien, eine Tatsache, die sich aus Graces nahezu perfektem Englisch nicht mehr heraushören ließ. Paul mußte unwillkürlich lachen, wenn er an die Tausende befleckter Bettlaken und Kopfkissenbezüge dachte, auf denen die Ehrbarkeit der Familie Grace ruhte. Während seiner ersten Wochen lernte er Hunderte von Mädchen kennen. Er begegnete ihnen mittags oder später, wenn sie, noch warm und schläfrig, mit einem Champagnercocktail aufgewacht waren. Er schwatzte mit ihnen, während sie um drei oder vier zum Frühstück ein Steak mit Rührei aßen. Das Levee bot wie ein Regenbogen alle Schattierungen von Mädchen: junge Eingewanderte aus Böhmen und durchgebrannte Mädchen von den Farmen auf dem Land; Mädchen aus Polen und Irland; Mädchen mit schwarzer, glänzender Haut aus Alabama und hellbraune Mädchen von der fernen Insel Jamaica; sogar Mädchen aus China und einige Indianerinnen. Da waren Mädchen in violetten Trikots und Mädchen in roten Haremshosen; Mädchen in Schulmädchenkluft, abgesetzt mit dunkelblauer Spitze, und Mädchen, die in ihren schwarzen Netztrikots sämtliche Reize zur Schau trugen; Mädchen in Korsetts mit Strumpfhaltern und rosafarbenen Strümpfen und Mädchen in hochgeschlossenen Samtkleidern, züchtig genug, um sie sogar in der Kirche zu tragen. Er lernte Mädchen kennen, die ein College besucht hatten, und Mädchen, die nicht lesen konnten; Protestantinnen, Baptistinnen, Katholikinnen, afrikanische Methodistinnen und Agnostikerinnen oder Atheistinnen, nachdem ihnen in ihrer Kindheit ständig mit den schlimmsten Höllenqualen für ihre Sünden gedroht worden war. Einige dieser Huren waren beinahe im Großmutteralter, aber die meisten waren erschreckend jung – angelockt von professionellen Anwerbern und nun kontrolliert von den brutalsten »Kadetten«, der im Levee üblichen Bezeichnung für Zuhälter. Einige der Huren waren verschlagen und brutal, innerlich genauso häßlich wie äußerlich. Einige waren eher durch Zufall in diesem Gewerbe gelandet, manche hatten sich bewußt für diese Arbeit
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entschieden, um sich etwas für ihre alten Tage zurückzulegen. Einige wenige hegten die Hoffnung, daß irgendein reicher Kunde sich in sie verliebte. Eine traurige und vergebliche Hoffnung, dachte Paul. Paul war jung, energiegeladen und fast immer fröhlicher Stimmung. Er sah auf eine robuste Art gut aus und war stets heiter, und seine Gesichtsfarbe besserte sich zusehends, da er nun fast den ganzen Tag draußen in frischer Luft verbrachte. Die meisten Huren und »Madams« konnten ihn gut leiden, daher freundete er sich mit vielen sehr schnell an. Eine seiner liebsten Bekannten kam von einer Farm in der Nähe von Ottumwa in Iowa. Sie wog über einhundertdreizehn Kilo und wurde daher von allen nur Slim – die Dünne – genannt. Paul unterhielt sich gerne mit ihr bei einer nachmittäglichen Tasse Kaffee, und ihre Arbeitgeberin, Madam Elaine, schien nichts dagegen zu haben. Madam Elaine war bereits leicht ergraut und trat auf wie eine Fürstin. Sie hatte ein Gesicht, als singe sie in einem Kirchenchor, und redete wie ein Bierkutscher. »Trink soviel Kaffee, wie du willst«, sagte sie zu Paul. »Aber wenn du Slim die Zeit stiehlst, während sie einen Kunden hat, oder versuchst, es bei ihr umsonst zu bekommen – dann, mein kleiner Freund, hacke ich dir den Schwanz mit einem stumpfen Beil ab.« Unglücklicherweise sah Slim etwas mehr in Paul als nur einen gelegentlichen Besucher und Gesprächspartner, und sie fing an, Pralinenschachteln mit seinem Namen darauf im Flur bereitzulegen, wenn sie gerade im Dienst war. Eines Tages fand er die Süßigkeiten in einem herzförmigen Karton zusammen mit einer Nachricht. Slim teilte ihm mit, sie riskiere Madam Elaines Zorn und würde sich gerne mit Paul irgendwo treffen, wenn er mit ihr schlafen wolle. Fast eine Woche lang zerbrach er sich den Kopf, wie er Slim am besten klarmachen solle, daß er ihr großzügiges Angebot durchaus zu würdigen wisse, daß er es aber nicht annehmen könne. Diese Mühe blieb ihm erspart, als er eines Morgens bei ihr auftauchte und hören mußte, daß ein Kunde sie nach einem Streit mit einem Rasiermesser attackiert hatte. Man hatte sie ins nächste Krankenhaus gebracht, wo sie schließlich starb. Ihre sterblichen Überreste wurden in einem Sarg in Sondergröße, den Madam Elaine bezahlte, nach Iowa gebracht. Madam Elaine weinte und schluchzte heftig an dem Abend, als Paul sie begleitete, um den Sarg auszusuchen. »Sie war ein so gottverdammt gutes Girl. Der verrückte Scheißkerl, der sie aufgeschlitzt hat, ist drogensüchtig. Er wird für das, was er getan hat, bitter bezahlen müssen, dafür habe ich gesorgt. Er bekommt, was er verdient, nämlich ein zweites Luftloch unterm Kinn und ein ausgedehntes Bad im Michigan-See.
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Möge seine miese, verdorbene Seele für immer in der Hölle schmoren und verfaulen.« Das Eis auf dem Michigan-See begann zu schmelzen und zu brechen und türmte sich in mächtigen Blöcken am Ufer auf. Hagelstürme wechselten mit Regenschauern ab. Trotz des für Chicago typischen Gestanks nach Rinderdung und Pferdemist roch Paul bereits den Frühling. Wenn er morgens und nachmittags und manchmal sogar bis in die Nacht für die Wäscherei unterwegs war, in den Freudenhäusern und Spelunken aus und ein ging mit seinen Leinensäcken, die von Bettwäsche überquollen, bekam er zahlreiche Angebote, die verfügbare Ware ausgiebig zu prüfen. Er lehnte stets höflich ab und dachte sich jeweils eine passende Begründung aus. Er betrachtete sich nicht als moralisch überlegen. Er wollte ganz einfach Julie treu bleiben und sich keine Geschlechtskrankheiten holen. Deshalb hurte er nicht herum. Er trank auch nichts bis auf ein oder zwei Glas Lager am Tag. Daß er sich dazu einen Saloon suchte, in dem CrownBier ausgeschenkt wurde, war eine kleine Geste der Loyalität gegenüber seiner Familie. Eines Abends nach der Arbeit, es regnete in Strömen, stand er eine Viertelstunde lang vor der Villa. Die Fenster erstrahlten im warmen Schein der elektrischen Beleuchtung im Haus. Vertraute Gestalten bewegten sich hinter den Scheiben: Helga Blenkers; Fritzi, die mit ausgebreiteten Armen in einer ihrer Theaterphantasien durch das Haus tanzte. Er beobachtete, wie Onkel Joes Landauer aus der Brauerei zurückkam. Für einen kurzen Moment regte sich in ihm der verzweifelte Wunsch, über die regennasse Straße zu stürmen. Die Kutsche einzuholen. Gegen die Tür zu trommeln. »Sieh doch, ich gehöre auch zu dieser Familie. Können wir nicht Frieden schließen?« Statt dessen ging er davon, voll bitterer Gedanken über seinen Onkel, der ihn verstoßen hatte. Er würde seinen Weg schon ohne die Hilfe der Familie machen, ohne ihren Rat, ihr Geld und ihre Liebe. Er würde sich selbst Liebe suchen. Liebe und ein echtes Zuhause. Mit Julie. In diesem Frühling wurde er wieder zum Straßenjungen. Er war nicht mehr unschuldig. Berlin hatte ihm in sehr jungem Alter schon sehr viel beigebracht, und er sah die schmutzige, gefährliche Seite des Levee. Aber das Viertel vermittelte eine unbestreitbare Erregung und Energie, und er ließ sich durch dessen Bewohner nicht einschüchtern. Vorsichtig, aber stets freundlich, urteilte er über die Moral anderer nicht sehr streng. Er gewöhnte sich ein etwas entschlosseneres Auftreten an,
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nahm aber niemals eine bewußt herausfordernde oder gar prahlerische Haltung ein. Er steckte sich keine Zigarette in den Mundwinkel, nur um damit Eindruck zu machen. Er kostete einige Male Dukes und Caporals und hustete zu stark. Aber er hatte eine Aura von Selbstsicherheit und zurückhaltender Autorität. Die Schnorrer hielten sich von ihm fern und verlangten niemals direkt ein Almosen, obgleich er ihnen manchmal ein oder zwei Pennies gab. Sein Favorit war ein spindeldürrer, würdiger alter Gentleman in armseligsten Kleidern, aber mit den besten Manieren und einer sehr gepflegten Sprache. Er hieß Shakespeare. Als Paul ihm zum erstenmal eine Münze gab, umschloß er sie mit seiner Faust, nahm eine theatralische Pose ein und deklamierte: »O welches Übermaß an Güte! Maß für Maß, vierter Akt. Für Eure Güte steh’ ich tief in Eurer Schuld! Viel Lärm um Nichts, erster Akt.« Paul fand den alten Mann so amüsant, daß er anfing, nach ihm Ausschau zu halten, um ihm etwas zu schenken. Einmal beobachtete er, wie ein Gast aus einem Saloon kam und die bescheidene Bitte des Schnorrers nicht beachtete. Shakespeare rief ihm daraufhin nach: »Nach Geben steht mir heute nicht der Sinn! Richard III. vierter Akt. Leck mich am Arsch, Bruder!« Die Gauner mit ihren Kartenspiel-Ständen belästigten Paul niemals, weil sie ihn nicht als Bauerntölpel betrachteten, und die Kadetten, die auf den Gehsteigen für ihre Schützlinge warben, bedrängten ihn nicht. Dann waren da noch die Taschendiebe, einige nicht älter als acht oder neun Jahre. Eines Nachmittags in der Zweiundzwanzigsten Straße spürte er, wie ihn irgend etwas ganz leicht an der linken Hosentasche streifte. Er griff blitzschnell nach unten und erwischte ein Handgelenk, das die Farbe von dunklem Honig hatte. Paul riß den Dieb herum, so daß er vor ihm erschien. Es war ein brauner Junge, halb Weißer, halb Schwarzer, von zierlicher Gestalt. Er trug schmuddelige Kleider, die völlig zerfetzt waren, und machte einen halbverhungerten Eindruck. Er war höchstens zehn Jahre alt. Der kleine Wilde zog und zerrte, um sich zu befreien. Pauls Griff war zu fest. »Hör mal, ich arbeite hier, also weshalb zum Teufel versuchst du mich zu bestehlen?« »Er schert sich einen Dreck darum, wo du arbeitest«, sagte ein unsichtbarer Sprecher hinter ihm. »Er gehört zu Dummys Jungs.« Die Stimme gehörte einem farbigen Schuhputzer in akkurat gebügelter Hose und Weste. Seine Haut war viel dunkler als die des Taschendiebs. Er stand an der Straßenecke und verfolgte das Geschehen aufmerksam. Sich an einen Ausspruch Joe juniors erinnernd, sagte Paul zu dem Taschendieb: »Ich mag es nicht, wenn man mich für einen Trottel hält. Hast
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du gehört?« Der Junge warf den Kopf zurück und spuckte ihm ins Gesicht. »Ein ganz schön dreister Hurensohn, nicht wahr?« sagte der Schuhputzer. »Millard Fillmore heißt er, hält man so was für möglich? Ich denke, er hatte überhaupt keinen Namen, als irgendeine Schlampe ihn zur Welt brachte. Er würde dich für ‘nen Dime massakrieren.« Paul nahm an, daß der Taschendieb mit Prügel, wenn nicht gar mit noch Schlimmerem rechnete. Er würde ihm eine Überraschung bereiten. Mit der freien Hand griff er in die Tasche. »Zehn Cents, ist das alles, was du brauchst? Da hast du zwanzig. Kauf dir ein Glas Milch und ein paar Würstchen. Für den Rest geh ins Badehaus, und laß dir die Haare schneiden. Dann fühlst du dich schon viel besser.« Und damit gab er den Arm des Jungen frei. Der völlig verblüffte Taschendieb ließ den Blick zwischen Paul und den Geldmünzen hin und her springen. Dann grinste er. Die Hälfte seiner Zähne waren dunkelbraun von Fäule. Er warf die Münzen in die Luft und fing sie wieder auf. »Danke, Dutchie.« Er ließ die Münzen in seiner Hosentasche verschwinden und holte ein langes Schnappmesser hervor. Er öffnete es und winkte mit der Klinge, die mindestens fünfzehn Zentimeter lang war. »Na los doch, tu, was man dir geraten hat, Mr. President Fillmore«, sagte Paul. »Und hör auf, erwachsene Leute zu erschrecken.« Fillmores Grinsen wurde breiter, und er klappte das Messer zu. »Du hast wirklich Mumm, Dutchie. Bis später.« »Mein Gott, da hast du aber Glück gehabt«, sagte der Schuhputzer und fächelte sich mit der Hand Kühlung zu. »Dummys Jungs sind die reinsten Killer.« »Dummy?« »Dummy Steinbaum. Er bildet die Bande aus und führt sie an. Er nimmt sie mit sieben Jahren auf. Unterrichtet sie dann an einer Schneiderpuppe mit Mantel oder Anzug und kleinen Glöckchen, die sofort klingeln, wenn der jeweilige Junge zu unvorsichtig ist.« Paul stieg auf den Kutschbock seines Wagens und setzte seine Fahrt fort. Dies war seine einzige direkte Begegnung mit der Taschendiebbande Dummy Steinbaums, einer Organisation, die stets zwischen dreißig und vierzig Mitglieder hatte. Während seiner Touren ein paar Tage später hörte er, daß Millard Fillmore seinen Kumpanen erklärt hatte, er werde sich jeden von ihnen persönlich mit dem Messer vornehmen, der es wagen sollte, dem deutschen Wäschemann auch nur einen Penny zu stehlen. Jede Woche zahlte Paul eine kleine Geldsumme auf ein Sparkonto bei einer Bank ein. Per Post bestellte er sich aus dem dicken Katalog von Sears,
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Roebuck & Company of Chicago Teile einer neuen Garderobe. Er kaufte per Postversand, weil alle Huren meinten, daß man, solange man sich keine Luxuswaren leisten konnte, kein günstigeres Angebot finden könne. Das konnte man auch in großen Lettern auf der Titelseite des Katalogs lesen. Dort stand: BILLIGSTES WARENHAUS DER WELT! Sears vertrieb die Ware von seinem riesigen Büro- und Warenhaus in der North-Division-Straße aus. Paul erstand ein Sakko aus bestem französischem Cord in Grau; es hatte den beliebten und modernen Rückenschlitz. Preis: 7,95 Dollars. Er suchte sich eine elegante kurze Weste aus, einreihig, mit Punktmuster, 1,05 Dollars. Er kaufte ein Paar hohe, spitze Herrenschnürstiefel aus Kalbsleder für 3,75 Dollars. Hinzu kam ein Hemd mit abnehmbarem Zelluloidkragen und –manschetten sowie eine gestreifte Krawatte. Gekrönt wurde das Ganze von einer schicken jugendlichen Melone zum Preis von 1,50 Dollars. »Bist ein richtiger Genießer, nicht wahr?« stellte Wex amüsiert fest, als Paul ihm die Kleider aus dem großen Karton zeigte, der vom Expreßdienst gebracht worden war. »Du bist perfekt für die Rennbahn ausstaffiert.« »Welche Rennbahn?« »Im Washington-Park. Hawthorne. Du hast doch schon davon gehört, nicht wahr?« »Ich glaube nicht.« »Wahrscheinlich interessierst du dich auch gar nicht dafür.« Wex atmete die warme Brise ein, die durch das aufgestellte Oberlicht hereindrang. »Bald geht der Betrieb dort wieder los, Gott sei Dank.« Stirnrunzelnd erinnerte Paul sich daran, wie er Wex zum erstenmal gesucht hatte. Damals war die rätselhafte Bemerkung gefallen, daß Wex eine besondere Vorliebe für Pferde habe. Falls Wex Pferdewetten abschloß, war dies vielleicht eine Erklärung für die ständige Armut, die im Tempel der Photographie herrschte. Wex bemerkte Pauls gerunzelte Stirn. »Ich weiß, ich weiß, das Glücksspiel ist eine schlimme Angewohnheit. Ich sagte dir ja, daß ich gegen gewisse Dämonen zu kämpfen habe.« Die nächste Bemerkung kam in gequältem Ton über seine Lippen. »Die Pferde haben mich Alice, mein Studio, alles gekostet. Weil sie mich um das Leben meines Jungen gebracht haben.« Paul holte die Melone aus ihrem runden Karton. Dabei hatte er Gelegenheit nachzudenken und vorsichtig zu erwidern: »Ich habe immer mal nach ihm fragen wollen. Ich dachte, ich hätte dazu kein Recht.« »Hast du auch nicht. Ich habe es nie jemandem erzählt. Habe niemanden nahe genug an mich herangelassen. Laß uns nach hinten gehen. Uns
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hinsetzen. Wo ich das Bild sehen kann.« »Ich habe Pferde geliebt«, erzählte Wex, »seit ich in Charleston, South Carolina, aufwuchs. Charleston hatte schon eine Pferderennbahn, lange bevor es so was wie die Vereinigten Staaten überhaupt gab, wußtest du das? Es war ein feiner Ort. Sehr beliebt bei den oberen Zehntausend. So hat mich diese fatale Liebe zu schnellen Pferden schon früh gepackt. Und schon bald verspürte ich das Bedürfnis, ein wenig Geld zu riskieren, um mein Vertrauen in die Geschwindigkeit und den Mut eines besonders schönen Tieres zu beweisen. Wenn du den Drang zum Spiel, das Bedürfnis, alles zu wagen, um alles zu gewinnen, nicht begreifst – wenn du niemals von diesem ›Fieber‹ befallen wurdest, wie viele Leute es nennen –, dann kann ich dir weder das Gefühl noch die Ursache erklären, denn ersteres ist wie die wildeste Form der Liebe, und das zweitere entzieht sich jedem Verständnis. Zumindest meinem. Jenseits der Meerenge vor der kleinen Stadt Beaufort, wo ich nach dem Krieg mit meiner Frau Alice wohnte und wo ich dann mein Studio hatte und meinen Sohn zur Welt kommen sah, liegt eine wilde, fast unbewohnte Insel namens Hilton Head. Ihren Namen verdankt sie dem Navigator, der sie gefunden hat, Captain Hilton. Ein gewisser Warenhandel fand zwischen Beaufort und den Weißen und Schwarzen statt, die voneinander isoliert auf der Insel wohnten. Ein alter Neger, der in meinem Studio saubermachte, Germanicus hieß er, erzählte mir von dem Wunderpferd auf Hilton Head. Ein Fuchs, stark wie Herkules und mehr rot als braun. Tiefrot am Körper, Mähne und Schweif sogar noch etwas heller, etwa wie Honig, der mit einigen Tropfen Blut versetzt wurde. Dieses herrliche Pferd legte ein unglaubliches Tempo vor und gehörte einem Ex-Sklaven namens Alammelech Smalls, kurz Lam genannt. Lam Smalls war bekannt für seinen Stolz. Er war stolz darauf, endlich frei zu sein, und er war stolz darauf, daß er seine schwarze Haut mit Stolz trug, anstatt sich ihrer zu schämen. In dem Jahr nach dem Jubilee, dem Befreiungsfest, war es kein Wunder, daß er das herrliche Pferd Liberator – Befreier – taufte. Auf derselben Insel lebte auch dieser ruinierte Pflanzer, der praktisch alles verloren hatte. Sein stattliches Haus war völlig ausgeplündert worden und zu einer Bruchbude verkommen. Dieser Gentleman war Oberst Prospero Drayton. Oberst Drayton hatte ein schnelles Pferd, einen schwarzen Hengst. Er haßte die Vorstellung, daß Neger frei sind, er haßte auch deren, wie er es nannte, hochmütige, impertinente Art – und so überrascht es dich sicherlich
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nicht, daß er einen ungeheuren Haß auf Lam Smalls und auf Liberator entwickelte, sobald er von Lams Prahlerei mit der Schnelligkeit seines Fuchses erfuhr. Natürlich wurde sofort ein Wettrennen arrangiert. Diese Nachricht verbreitete sich im gesamten Low Country. Es war keine Frage, daß ich plante, an diesem Samstag in meinem kleinen Segelboot mitsamt Rudern an Bord – für den Fall einer Flaute – rüberzufahren. Ich wollte mir das Spektakel ansehen. Am meisten aber drängte es mich, den Inhalt der Studiokasse auf Liberator zu setzen. Das sagte ich meiner Frau nicht ausdrücklich, aber sie wußte Bescheid; sie war wütend, wie immer. Am Morgen des Renntages ging die Sonne auf und strahlte seltsam fahl und weiß vom Himmel. Die Luft war drückend und stand, und Germanicus, der die geheime Sklavensprache Gullah benutzte, die ich ein wenig verstehen konnte, sagte sinngemäß zu mir: ›Mister Wexford, heute gibt es einen furchtbaren Sturm, das verraten mir meine Knochen. Sie sollten es sich lieber nochmal überlegen, ob sie mit dem kleinen Boot auf die Insel rüberfahren.‹ Ich schenkte diesen Worten keine Beachtung, obgleich Germanicus die guten und schlechten Seiten dieser Küste viel besser kannte als ich, der nicht viele Jahre dort gelebt hatte. Aber ich war ganz wild darauf, bei diesem Rennen zu wetten. Mein kleiner Sohn, Wexford junior, war zu diesem Zeitpunkt viereinhalb Jahre alt. Und erstaunlich schlau. Er kannte schon sämtliche Buchstaben. Er redete wie ein alter Philosoph – benutzte die tollsten Wörter. Und er war hübsch wie ein kleiner Engel. Little Wex wollte das Rennen ebenfalls sehen. Alice hatte etwas dagegen, denn der Port Royal Sound ist ein ziemlich breites Wasser mit starker Gezeitenströmung. Nichtsdestotrotz, gegen den Protest meiner Frau, bestieg Little Wex mit mir das kleine Schiffchen. Unsere Überfahrt nach Hilton Head verlief zügig und ohne Probleme, denn ein Nordostwind war aufgekommen, und ich brauchte kaum auf die Segel zu achten. Little Wex und ich waren ganz schön aufgeregt, als wir an Land gingen und ich das Boot auf dem schmutzigen Strand von Hilton Head sicherte. Ich bemerkte zwar einen deutlichen grauen Schatten, der am nordöstlichen Horizont aufzog, aber das Wettfieber hatte mich zu sehr gepackt, als daß ich eingehender darauf geachtet hätte. Das Wettrennen war für Mittag angesetzt. Oberst Draytons Vetter Midian saß auf dem Hengst. Lam Smalls selbst wollte Liberator reiten. Ich setzte alles, was ich hatte, einhundertelf Dollars, auf den Fuchs und den ExSklaven. Um Punkt zwölf zerriß der Knall der Startpistole die Stille. Liberator hatte blitzschnell eine Länge Vorsprung, dann zwei Längen –
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sogar die meisten Weißen bejubelten diese Leistung. Dann, völlig unerklärlich, stürzte Liberator. Er kippte zur Seite und schrie vor Schmerzen. Simples Pech, mehr nicht. Midian Drayton jagte dem Sieg entgegen, und der Oberst schleuderte seine Whiskeyflasche gegen eine halb verfallene Ladenfassade und lachte wie wahnsinnig. Lam Smalls war unversehrt, aber Liberator nicht. Er hatte sich beide Vorderbeine gebrochen. Ich war ruiniert und wollte auch nicht, daß mein kleiner Wex miterlebte, wie der schöne Fuchs getötet wurde. Also eilte ich mit meinem Sohn zum Strand. Der Wind hatte bereits an Stärke zugenommen und schleuderte uns ganze Sandladungen in die Gesichter. Kleine weiße Schaumkronen tanzten auf dem Ozean und in der Meerenge. Ich schob das Boot, so schnell es ging, ins Wasser, denn der Himmel im Norden war mittlerweile sehr dunkel geworden. Ich hatte den Strand gar nicht verlassen sollen, aber ich dachte, daß ich die Überfahrt noch rechtzeitig schaffen würde. Wir kamen sehr gut voran, sogar bei dem heftigen Wellengang. Ich redete dauernd mit meinem Sohn, lächelte ihn so fröhlich an, wie ich es gerade vermochte, denn ich sah sehr wohl, daß er vom Heulen des Windes und dem Rauschen der Wellen Angst bekam. Wir hatten drei Viertel des Weges hinter uns gebracht, als der Sturm losbrach. Das Boot kenterte. In diesem Inferno von Wellen und Gischt konnte ich das ängstliche Rufen meines kleinen Sohnes hören. Ich hatte seine Hand in meiner rechten und die linke Hand ans Dollbord des umgeschlagenen Bootes geklammert. Die Flut stieg ständig, der Sturm trieb das Wasser vor sich her, und das arme Kind weinte. Aber wir waren beide so naß und wurden ständig von den Wogen überspült, daß man keine Tränen sehen konnte. Auf diese Art und Weise hielt ich mich fünf oder zehn Minuten lang, trieb durch den Wind auf eine der winzigen Erhebungen aus dem Meer zu, die zu klein sind, um als Insel bezeichnet zu werden. Meine Handgelenke fühlten sich an, als würden sie jeden Moment zerbrechen, in meinen Armen tobten Schmerzen wie Feuer, aber ich hielt fest und rief: ›Es ist alles in Ordnung, Wex, halte dich nur an Papa fest. Wir beide schaffen das schon.‹ Eine weitere mächtige Woge überrollte uns. Und dann war da plötzlich dieses furchtbare Gefühl –« Wex hob seine rechte Hand, spreizte die Finger, und während er sie anstarrte, flackerte das nackte Grauen in seinem Gesicht. »Nichts mehr. Er hatte losgelassen, oder ich. Oder wir waren von der letzten Welle auseinandergerissen worden – keine hundert Meter von dem bißchen Felsengrund entfernt, wo wir gerettet gewesen wären.
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Ich wurde genauso verrückt wie Drayton, brüllte den Namen meines Jungen. Blitze zuckten. Der Donner rollte. Wenn er überhaupt antwortete, wie hätte ich ihn hören sollen? Hätte ich das umgeschlagene Boot losgelassen, wäre ich selbst umgekommen. Während meine Augen von der salzigen Gischt brannten, suchte ich überall nach dem kleinen Lockenkopf, nach seiner winkenden Hand – Verschwunden. Der Sturm warf mich halb bewußtlos auf den Flecken Festland, diese armselige Zuflucht für ein wenig Sand und windgepeitschtes Seegras. Ich stand mit gespreizten Beinen da und brüllte seinen Namen in den Sturm: ›Wex! Wex!‹ Ich erhielt keine Antwort. Der Sturm tobte bis vier Uhr, und dann beschien eine golden funkelnde Sonne das Wasser, das sich wieder beruhigt hatte. Ein Krabbenfischer, der sich während des Sturms zum Schutz in einen schmalen weit landeinwärts reichenden Meeresarm zurückgezogen hatte, wagte sich wieder aufs Meer hinaus und sah mich. Er nahm mich in dem kleinen Kahn mit, den er hinter dem größeren Boot herschleppte. Siebzehn Tage später fand ein kleines Negermädchen, das bei Ebbe Austern sammelte, den halbverwesten Körper meines Sohnes in der Marsch nicht weit von Beaufort. Das ist die Geschichte, wie ich spielte und mehr als nur mein Geld verlor. Alice hat mir nie verziehen. Es war das Ende. Das Ende meiner Ehe, meines Studios – Das Ende des Mannes, der ich hätte werden können, wenn ich nicht von diesem Fieber heimgesucht worden wäre. Und willst du das Schlimmste wissen? Ich habe dieses Fieber noch immer, verdammt sei meine Seele! Erkläre das, wer kann.« Wex vergrub seinen Kopf tief in seine Hände. »Ich kann es nicht.« Nach einiger Zeit erholte Wex sich. Und seine Stimme klang ruhig. »Jetzt kennst du ihn, meinen Dämon. Und er läßt mich niemals in Ruhe. Ich gehe noch immer auf Rennbahnen.« Paul wischte die Krempe seiner neuen Melone ab, die er vorsichtig auf die sauberste Stelle des Tisches legte. »Nun, vielleicht gehe ich irgendwann auch mal hin, nur um zu sehen, wie es ist. Das mit Ihrem Sohn tut mir wirklich leid.« »Vielen Dank, Dutch. Ich fühle mich viel besser, da ich nach so langer Zeit offen darüber gesprochen habe.« Er kratzte sich an der Nase. »Jetzt verstehst du vielleicht auch, weshalb es für mich eine solche Freude ist, dich hierzuhaben. Dir das wenige beizubringen, das ich weiß –«
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»Es ist nicht wenig, sondern eine ganze Menge.« »Na schön, wir wollen uns deswegen nicht streiten. Jetzt bist du an der Reihe mit einem Geständnis. Seit der vergangenen Woche ist deine Laune viel besser als sonst. Möchtest du mir verraten weshalb?« »Ich arbeite. Ich habe Geld –« »Und deshalb hast du all die neuen Klamotten gekauft?« »Um amerikanischer auszusehen, ja, stimmt.« Wex tastete mit der Zungenspitze das Innere seines Mundes ab. »Ist das alles?« Paul errötete. »Also – nein. Ich habe ein Mädchen kennengelernt. Ich glaube, sie möchte, daß ich mal mit ihr ausgehe.« »Und was ist mit dieser höheren Tochter in Europa?« »Ich weiß, ich sollte keine andere anschauen. Aber ich fühle mich manchmal etwas einsam –« Wex umrundete den Tisch und legte Paul freundschaftlich einen Arm um die Schultern. »Mach nur weiter, es ist ganz in Ordnung, wenn du dich mit der anderen verabredest. Du bist jung, wir haben Frühling, und nur weil du einfach mal einen angenehmen Abend mit ihr verbringen willst, brauchst du sie ja nicht gleich zu heiraten.« »Das stimmt, das brauche ich nicht«, sagte Paul. Er lächelte wieder. Paul hatte des öfteren ganz harmlos mit einigen jungen Frauen geflirtet, die in elfstündigen Schichten in der Hitze und im Dampf der Wäscherei arbeiteten. Nur eine interessierte ihn ernsthafter. Sie war siebzehn, und obgleich man sie nicht unbedingt als ausgesprochene Schönheit bezeichnen konnte, fand er sie attraktiv. Sie war etwa ein Meter sechzig groß, hatte üppige rote Locken und ein besonders keckes Hinterteil, das noch nicht einmal ein formloser grauer Kittel verbergen konnte. Sie hatte auch einen ansehnlichen, wohlgeformten Busen. Er war um so auffallender, als sie recht schmal war. Sie bediente eine Dampfmangel und plättete die Bett- und Tischwäsche der Kunden, die für diesen Sonderservice zahlten. Ihre runden Brillengläser waren ständig beschlagen. Sie hieß Nancy Logan. An einem Dienstag brachte sie einen Karottenkuchen in die Wäscherei mit. Sie sagte, sie habe ihn nur für ihn gebacken. Ihre Absichten waren eindeutig. Nach dem Gespräch mit Wex und nach ein oder zwei weiteren Tagen innerer Qual und des Abwägens zwischen Julies augenblicklicher Unerreichbarkeit, Wex’ Ratschlag und seinen eigenen aufgestauten Bedürfnissen lud er Nancy ein, am folgenden Sonntag mit ihm Rollschuh laufen zu gehen. Es war ein herrlicher, warmer Tag. Die Freiluftbahn, mit grünem
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Schieferdach und weißgestrichenen Holzgittern als Sichtblenden, war gut besucht. Er und Nancy liefen eine Zeitlang getrennt, dann legte er einen Arm um ihre Taille. Eine Dampforgel spielte lautstark aktuelle und beliebte Melodien. Er trug seine neue Kluft und die Melone. Sie hatte sich eine künstliche Orangenblüte an ihre eindeutig unmoderne Turnüre geheftet. Nancy drückte sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an ihn. Daß ihre Brüste seinen Arm berührten, erregte ihn. Er fühlte sich furchtbar schuldig, genoß es aber gleichzeitig. Er versuchte, etwas mehr auf größere Distanz zwischen ihnen zu achten. Nancy kam aus Indiana. »Ich mußte zu Hause ausziehen, weil Ma und Pa dreizehn Kinder hatten und weil die Farm nicht alle von uns ernähren kann. Letzten Monat vor einem Jahr kam ich mit der Monon-Linie aus Reelsville hier an. Dabei bin ich kaum lebend aus dem Bahnhof in der Dearborn-Straße herausgekommen.« »Warum nicht?« »Da war so ein junger Kerl, der dort herumlungerte und sich mit seinem silbernen Zahnstocher im Mund herumpuhlte. Als ich mich am Zeitungsstand nach dem Weg erkundigt hatte, bemerkte ich, daß er mich beobachtete. Ich ging zur Tür, aber er kam mir zuvor und hielt sie mir lächelnd auf. Er sah nicht übel aus, war aber auch nichts Besonderes. Groß, ziemlich mager, mit einer Tolle über der Stirn.« Sie zeichnete mit einem behandschuhten Finger einen Kringel auf ihre Stirn. Ihre Beschreibung weckte in Paul eine vage Erinnerung, aber er konnte sie irgendwie nicht einordnen. »Er fragt mich, ob ich neu bin in Chicago. Ich sage ja, ich suche hier Arbeit. Er ergreift meinen Arm und meint, er kann mir vielleicht behilflich sein. Möglicherweise auch bei der Suche nach einem Zimmer. Er strahlt mich an, sagt, er heißt Jim. Irgendwas an seinem Lächeln – ich kann es bis heute nicht erklären – machte mir Todesangst. Ich rannte geradezu mit meiner Tasche aus dem Bahnhof hinaus. Ich kam acht oder zehn Straßen weit, ehe ich den Mut hatte, mich umzudrehen. Er war nirgendwo zu sehen. Ich hab’ ihn nie wieder getroffen und bin dafür dankbar.« »Du hast genau richtig reagiert. Ich würde fast wetten, daß er ein Schlepper aus dem Levee war.« »Was ist ein Schlepper?« »Das ist jemand, der an den Bahnhöfen herumlungert und versucht, junge Mädchen für« – errötend suchte er nach einer halbwegs taktvollen englischen Formulierung – »für sehr unanständige Zwecke zu rekrutieren.« »O mein Gott! Du meinst, sie suchen Mädchen für die Betriebe, für die wir arbeiten? Für Bordelle?«
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»Genau. Junge Mädchen werden angesprochen und dann in irgendeine Wohnung gelockt und eingesperrt. Dort werden sie dann – hm – Nancy, bist du sicher, daß ich weitererzählen soll?« »Ja!« »Die eingesperrten jungen Frauen werden – hm – mehrere Tage lang von einem oder mehreren Männern vergewaltigt.« Ihre grünen Augen weiteten sich. »Das nennt man Zureiten. So hat man es mir jedenfalls geschildert«, fügte er hastig hinzu. »Mein Gott. Da habe ich aber Glück gehabt, nicht wahr?« Sie schmiegte sich an ihn. Sie liefen langsam zwischen älteren Paaren und jungen Männern dahin, die allein ihre Künste vorführten. Die Dampforgel stimmte Tell Them That You Saw Me an, einen gefühlvollen Song, den fast jeder mitsummte. »Soll ich dir mal was sagen?« murmelte sie, ohne ihn anzuschauen. »Ich bin unheimlich froh, daß ich dich kennengelernt habe. Ich mag dich wirklich.« »Ich mag dich auch, Nancy.« »Hoffentlich bist du mir nicht böse, daß ich das so einfach sage. In wichtigen Dingen bin ich ziemlich direkt. Das liegt sicherlich am Leben auf dem Land. Auf einer Farm redet man immer sehr offen miteinander. Ich meine, die Tiere dort sind die ganze Zeit draußen und tun alles, was Tiere so tun.« »Ja, ich verstehe«, sagte er verlegen. Er war schon wieder erregt. Sie wiegten sich zu den Klängen von Over The Waves. »Dutch, ich muß dich etwas fragen. Hast du eine feste Freundin?« Julies Augen tauchten in seinen Gedanken auf. »Ja, Nancy. Aber sie ist weit weg von hier. Auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans.« »Hat sie dich verlassen?« »Nicht ganz. Ihre Eltern konnten mich nicht leiden. Daher haben sie sie auf eine Reise mitgenommen.« »Vermißt du sie?« »Ja, das tue ich.« »Meinst du, du kommst über sie hinweg?« Darauf konnte er keine Antwort geben. Sie studierte sein Gesicht. »Das heißt wohl nein. Mist. Mein Pech.« Sie ergriff seine linke Hand und drehte sich ganz zu ihm um und überließ es ihm, auf andere Rollschuhläufer zu achten. Die Lampen der Rollschuhbahn ließen ihre Augen wie feine Jade glänzen. »Na schön, du warst ehrlich, und wenn die Dinge so liegen, was kann ich da tun? Hier ist
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mein Vorschlag. Du kannst sie und mich lieben. Also los, gehen wir zu mir. Ich habe zwar nur ein Zimmer, aber dort sind wir ungestört.« »Nancy, ich glaube nicht –« »Ich habe sehr viel für dich übrig, Dutch. Furchtbar viel. Ich werde nicht versuchen, dich von ihr wegzuholen. Versprochen.« Er atmete die Frühlingsluft ein. Er genoß ihre Nähe. Sein Körper brannte vor Sehnsucht. Ohne ein weiteres Wort verließ er mit ihr die Rollschuhbahn. »O mein Gott«, sagte er und richtete sich ruckartig in dem engen Bett in Nancys armseligem kleinen Zimmer auf. Es lag am Jackson Boulevard, und man konnte von dort aus auf den Westarm des Chicago-Flusses blicken. »Was ist los?« Sie schleuderte das Laken beiseite und kniete sich hin. Das Licht des Frühlingsmondes versilberte ihren Bauch und ihre Oberschenkel. Im Schatten sahen ihre Brustwarzen aus wie Schwarzkirschen. »Ich bin so langsam –« »Aber nicht bei mir, bestimmt nicht«, sagte sie und faßte ihm neckend und sanft zwischen die Beine. Sie hatten sich zweimal geliebt, wobei jeder die Befriedigung ganz eigener Bedürfnisse gesucht hatte. »Ich rede von dem Schlepper. Der dich auf dem Bahnhof angesprochen hat. Ich glaube, ich kenne ihn.« Er beschrieb den Botenjungen von Frankel und den Diebstahl des wertvollen Porzellans von Tante Ilsa. »Er hieß ebenfalls Jimmy.« »Jim, Jimmy – davon gibt es in der Stadt sicherlich Tausende.« »Aber nicht groß und mager und mit einer Schmalzlocke über der Stirn.« Sie ergriff seine Hand, als er sie von seiner Stirn herabsinken ließ. »Na schön, wenn er es ist, dann hoffe ich, daß ich ihn nie wiedersehe. Einmal reicht mir völlig. Er hatte etwas Schlechtes an sich. Etwas Gefährliches, o Gott, ich fange richtig an zu frieren, wenn ich daran denke. Meinst du, du könntest dagegen etwas tun?«
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60 JIMMY Geboren wurde er als James Aloysius Daws in einem der ärmsten irischen Viertel auf der West Side. Seine Mutter, Bert, beharrte darauf, daß ihr Sohn ehelich geboren war. Daß er einen Vater hatte. Jimmy lernte ihn niemals kennen. Zumindest konnte er sich später nicht an ihn erinnern. Als er noch klein war, zogen sie zu seinem Onkel Francis in die Grand Avenue westlich des Flusses. Dies war eine irische Wohngegend, aus der die Iren wegzogen, sobald es ihnen etwas besser ging. Praktisch jede Woche kam in dem Viertel eine neue Ladung Südländer aus den Eisenbahnzügen aus New York an. Die Leute aus dem Süden krochen bei Verwandten unter, die bereits die verkommenen Häuser der weggezogenen Iren besetzt hatten. Die Iren, die zurückblieben, da sie sich keine Wohnung in einer hübscheren Gegend oder in den Vororten leisten konnten, wurden von den älteren Italienern im stillen verachtet und von den jüngeren ganz offen geschnitten, wo es nur ging. Jimmy fügte sehr bald Südländer der Liste der Menschen hinzu, die er haßte. Er haßte auch seine Verwandten. Onkel Francis hatte eine Frau, die strenger war als die meisten Nonnen, und elf Kinder. Schon mit vier und fünf Jahren mußte Jimmy um sich schlagen und treten, um seinen bescheidenen Schlafplatz auf dem Fußboden zu verteidigen. Er nahm an, daß seine Mutter in jenen Jahren einer geregelten Arbeit nachging, aber sie redete niemals darüber, weder damals noch später. Onkel Francis war Hoteldiener im Palmer House. Sein Lohn bestand im wesentlichen aus Trinkgeldern. Manchmal brachte er so gut wie gar nichts nach Hause, und wenn das geschah, ging er in die Kirche und murmelte, daß Gott sie nicht im Stich lassen würde. Was eine ziemlich törichte Auffassung war, entschied Jimmy. Man brauchte sich nur die ärmliche Kleidung anzusehen, die Onkel Francis und seine Verwandten trugen, oder die jämmerliche Verpflegung, die sie aßen. Nicht viel besser als die Abfälle eines Armenhauses. Es war Onkel Francis, der Jimmys lebenslange Abneigung gegen Gott und den katholischen Glauben begründete. Onkel Francis war gläubig und unterwürfig bis zur Selbstaufgabe. Er hatte ein besonders bevorzugtes Straf- und Folterinstrument, nämlich ein längeres Vierkantholz. Nichts, was Jimmy auf seinem mageren Hintern spürte, schmerzte mehr als dieses Brett, wenn Onkel Francis es benutzte. Sein Onkel prügelte ihn wegen Aufsässigkeit oder Faulheit, aber meistens schlug er ihn wegen Vergehen gegen die Kirche. Onkel Francis verlangte von seinen Kindern und von Jimmy, daß sie jeden
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Sonntagmorgen um neun Uhr den Kindergottesdienst besuchten. Der Priester hielt stets eine kleine Predigt über den Gehorsam – gewöhnlich in Form einer Geschichte von sanften und freundlichen Häschen, friedlichen Eseln und anderen Tieren – und über Verhaltensweisen, die Jimmy allesamt völlig fremd waren. Onkel Francis hatte Spione in der Pfarrei, die jedes Schwänzen des Kindergottesdienstes meldeten. Nach nur wenigen Predigten über notleidende Drosseln, die ihre Belohnung im Vogelhimmel erhielten, wurde Jimmy der Bummelant der Familie. Wenn Onkel Francis ihn verprügelte, protestierte Jimmys Mutter niemals. Wie hätte sie das auch tun können, wenn sie von der Mildtätigkeit ihres Bruders lebte? Onkel Francis’ tattriger Pfarrgeistlicher schien diese Art der Erziehung zur Frömmigkeit zu befürworten. Zumindest sagte er in Jimmys Hörweite nie etwas dagegen. Jimmy lernte sehr schnell, Priester und ihr gesamtes religiöses Gefasel zu hassen. Als Jimmy sechseinhalb Jahre alt war, vertiefte ein weiterer Vorfall seinen Haß auf den Onkel. Einige von den italienischen Jungen trieben Jimmy eines Nachmittags in die Enge und verlangten von ihm, er solle seine Taschen ausleeren. Alle Jungen waren älter und größer als er. Jimmy täuschte einen Angriff zur einen Seite vor, schlug einen Haken zur anderen und ergriff die Flucht. Er dachte, daß Onkel Francis, wenn er aus dem Palmer House zurückkam, ihn wegen seiner Schnelligkeit und seiner Klugheit, mit der er einer Tracht Prügel entgangen war, loben würde. Statt dessen bekam Onkel Francis, der nach Hause kam und nach Bier und Saloon roch, einen Wutanfall. Er führte Jimmy hinter die Hütte und hielt ihm einen Vortrag über die unmännliche Sünde der Feigheit. Dann brüllte er: »Du verdammter jämmerlicher Feigling, du machst dir wegen jeder Kleinigkeit in die Hose, aber das werde ich dir austreiben!« Und er verprügelte Jimmy mit dem Vierkantholz. Dieser Vorwurf der Feigheit hatte Jimmy derart erniedrigt und verletzt, daß diese Erfahrung sich tief in seine Seele eingrub. So tief, daß sie fast völlig zugedeckt wurde. Jahre später erkannte er deshalb auch nicht, daß diese Erfahrung die eigentliche Ursache dafür war, daß er viele Dinge nur unternahm, um seinen Mut zu beweisen und zu demonstrieren, daß er kein geborener Feigling war. Die Barmherzigkeit im Haus seines Onkels war alles andere als ein Segen. Dennoch bot Onkel Francis’ baufällige Hütte wenigstens ein Mindestmaß an Sicherheit. Jimmy wurde das schmerzlich bewußt, als ihm diese
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Sicherheit ohne Vorwarnung genommen wurde. Als Onkel Francis eines Abends nach Hause kam, wurde er von einer Schlägerbande überfallen. Später brachte die Polizei in Erfahrung, daß sie alle der A.P. A. angehörten, der American Protective Association, einer Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Katholiken zu verfolgen und sie, so hoffte man, aus Amerika zu vertreiben. Die Polizei fand Onkel Francis in der Gosse liegend, Blut und Hirnmasse rannen ihm aus der Nase. Er überlebte den Überfall ganze sechs Stunden. Danach brach der Haushalt völlig auseinander. Kurz danach begann Jimmys kriminelle Karriere. Er begleitete seine Mutter in elegante Kaufhäuser. Sie trug jedesmal den gleichen weiten Reifrock. Vor dem Kaufhaus, wo niemand es beobachten konnte, versteckte sie Jimmy unter dem Rock. Im Watschelgang betrat er den Laden in völliger Dunkelheit, von ihren Beinen gestoßen, von ihren Pluderhosen gekitzelt und voller Angst, entdeckt zu werden. Im Kaufhaus schob Bert verschiedene Artikel unter ihren Rock. Jimmy verstaute sie in großen Taschen, die zu diesem Zweck in ihren Rock eingenäht worden waren. Später verkaufte Bert die Gegenstände zu einem Bruchteil ihres Preises. Dank dieser »Tätigkeit« konnten sie ein Jahr lang bescheiden leben. Dann, eines Tages, wurde Bert von den Hausdetektiven bei Field erwischt, und ehe Jimmy sich versah, verschwand seine Mutter im Frauentrakt des Bridewell-Gefängnisses. Sie ließ ihn zurück, so daß seine richtige Ausbildung auf der Straße beginnen konnte. Jimmy hauste unter einem Holzstapel auf dem Gelände eines Holzplatzes, als er drei farbigen Jungen begegnete, die mit allen Wassern gewaschen und kampferprobt waren. Anstatt ihn zu verprügeln oder ihn mit ihren großen Schnappmessern übel zuzurichten, fanden sie Gefallen an ihm. Er wurde ihr Schüler. Schon bald legte er Zinkkapseln auf die Schienen, kurz bevor eine Straßenbahn vorbeifuhr. Wenn der Explosionsknall die Fahrgäste erschreckte und sie vor Angst schreiend nach draußen drängten, sprang Jimmy auf den Wagen auf und schnappte sich eine oder gar mehrere Handtaschen. Er war gelenkig, und er war schnell. Er wurde nie erwischt. Die farbigen Jungen verlangten, daß er die Beute mit ihnen teilte, aber das machte ihm nichts aus. Ein paar Cents waren immer übrig, um sich ein altes, zähes Brötchen und eine Tasse Kaffee zu kaufen. Mit acht Jahren
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verdiente er sich auf diese Weise seinen Lebensunterhalt. Nach vier Monaten wurde Bert Daws aus Bridewell entlassen. Sie zog in das Haus Nummer 441 der South-Clark-Straße, in einen dreistöckigen Klinkerbau, dessen Pracht ihren Sohn verblüffte. Das Gebäude war ein richtiger Palast. Auch andere Frauen waren dort und bewohnten mehr als zwanzig komfortable Zimmer. Die Vermieterin und Hauswirtin, Mrs. Carrie Watson, war freundlich und kultiviert. Sie trug Brillanthalsbänder, benutzte nach Parfüm duftende Spitzentaschentücher und fuhr mit einer weißen Kutsche mit eleganten gelben Rädern durch Chicago. Jimmy verabscheute dieses Gefährt. Aus ihrem Klinkerbau schickte Mrs. Watson regelmäßig Spenden zur katholischen Kirche gegenüber und zu einer Synagoge in der Nähe. Jimmy hatte einen Schlafplatz in einer gemütlichen Nische hinter der Bowlingbahn im Keller. Bei Carrie Watson brannte Tag und Nacht elektrisches Licht. Wein wurde in silbernen Kühlern serviert. Kutschen und Droschken, denen elegant gekleidete Gentlemen entstiegen, kamen und gingen in einem regen Hin und Her. Eines Abends führte ein belustigt kichernder Koch aus der Küche Jimmy im ersten Stock zu einem Guckloch und half ihm dabei, auf einen Hocker zu klettern, damit er hindurchschauen konnte. In dem Zimmer, in das er blickte, sah er, wie sich eine von Mrs. Watsons Damen unter einem Gentleman krümmte und wand. Keiner der beiden trug einen Faden am Leib. Er begriff nun, was im Haus Nummer 441 vor sich ging. Er entschied, daß seine Mutter ebenfalls dieser Beschäftigung nachging. Er war nicht schockiert. Nicht im mindesten. Die Menschen taten das ständig, wie er schon vorher hatte erfahren können. Und Bert trug wieder hübsche Kleider. Er schlief nachts immer warm und ungestört, nachdem die Kegel nicht mehr polternd umherflogen. Mutter und Sohn nahmen wieder regelmäßig gepflegte Mahlzeiten ein, die von zwei Negermammis zubereitet wurden. Allein die Reste, die auf dem Tisch liegenblieben, wären für Onkel Francis das reinste Festessen gewesen. Jimmy dachte, daß es von seiner Mutter sehr klug gewesen war, sich in Carrie Watsons Obhut zu begeben. Lange währte diese Idylle aber nicht. Bert geriet mit einer anderen Frau in einen heftigen Streit. Jimmy erfuhr niemals, um was es gegangen war. Mrs. Watson erklärte, Bert habe den Streit vom Zaun gebrochen, und wies sie aus dem Haus. Sie kamen dann nacheinander in einer Reihe kleinerer, schäbigerer Bordelle unter. Und am Ende, als Jimmy gerade zehn Jahre alt war, veränderten Pistolenschüsse sein Leben für immer. Das Haus, in dem Bert und Jimmy zu dieser Zeit wohnten, war die
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minderwertigste Form eines Bordells, nämlich ein sogenanntes panel house. Ein panel house war entsprechend konstruiert, um die Kunden um sehr viel mehr als nur um ihre aufgestauten Bedürfnisse und Begierden zu erleichtern. Der Grundriß war überall der gleiche. Zwischen zwei Zimmern befand sich eine Kammer, der operating room. Je eine Wand dieser Kammer gehörte zu einem der beiden Zimmer. In diesen beiden Wänden, die auf der Zimmerseite sehr oft mit dunklem Holz getäfelt oder mit einem eintönigen Muster tapeziert waren, um das Auge zu ermüden, befanden sich Klapp- oder Schiebetüren, die sich vom operating room aus öffnen ließen. In den Zimmern waren die Position des Bettes und des einzigen Besuchersessels genau berechnet. Wenn der Gast beschäftigt war und seine Partnerin sich im Bett herumwarf und laute Rufe ausstieß – Frauen in den panel houses wurden angehalten, Leidenschaft vorzutäuschen, um das möglicherweise verräterische Quietschen des Scharniers der Wandtür zu übertönen –, griff der operator durch die Öffnung und durchsuchte die Hose des Gentleman, die auf dem Sessel oder am Ende des Betts lag. Manchmal benutzte der operator auch einen langen Stab mit einem Haken, wenn er an die Kleidungsstücke nicht heranreichen konnte. Jimmy verdiente einen festen Lohn für seine Tätigkeit im operating room. Er war sehr geschickt im Umgang mit dem Haken. Die Besitzerin des Bordells war immerhin so taktvoll, daß sie ihn in einen operating room im Stockwerk unter seiner Mutter setzte. An dem Abend, an dem die Schüsse fielen, rannte er nach oben und fand Bert vor, wie sie an der Wand ihres Zimmers lehnte. Eine fette schwarze Hure, die mit ihr befreundet war, schüttelte ihren Arm und schluchzte. »Bert, mach die Augen auf! Bert, wach auf!« Bert sackte allmählich in sich zusammen und preßte eine Hand auf ihren Bauch. Sie trug ihren bunten Seidenmorgenrock mit gestickten Pfauen darauf, wie sie es immer tat, wenn sie im Dienst war. Der blaue Stoff des Morgenrocks färbte sich schwarz, wo das Blut hindurchsickerte. Die Wandklappe stand weit offen. Sie schwang an ihrer Angel in den operating room. Der Gästesessel war umgekippt. Im flackernden Schein des Gaslichts eilte Jimmy mit einem Schrei zu seiner Mutter. Er umschlang sie mit den Armen und hielt sie fest. Matt und fahrig strich sie ihm einmal über die Haare. Sprach seinen Namen einmal aus. Dann sackte sie kraftlos zusammen und rutschte weg. Später entschied er, daß sie in diesem Moment in seinen Armen gestorben war. Noch lange danach erinnerte er sich immer wieder lebhaft an den Anblick seiner eigenen blutverschmierten Hände. Ihr Mörder, irgendein Handelsvertreter, hatte den versuchten Diebstahl
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seiner Wertsachen bemerkt. Er war bereits von der Polizei abgeholt worden, als Jimmy Berts Zimmer betrat. Die Bordellbesitzerin bezahlte die Polizei sehr großzügig für diese Art von schneller Hilfe. Sie sagte, sie wolle die Kosten für eine schlichte Beerdigung übernehmen, aber sie müsse, wenn auch nur ungern, Jimmy bitten, das Haus zu verlassen, nun, da Bert nicht mehr arbeite und Gewinn erwirtschafte. So landete Jimmy im Alter von zehn Jahren endgültig auf der Straße. Er kam gut zurecht. Er war kein Trottel und würde nie einer sein. Er machte nur wenige Fehler. Und die, die ihm unterliefen, waren ihm eine Lehre. Er putzte Schuhe an verschiedenen Straßenecken der Stadt, und zwar bei gutem wie bei schlechtem Wetter. Er litt im Winter, wenn der Hagel wie Nadeln gegen seine Wangen prasselte. Der Winter in Chicago verlangte nach ganz speziellen Überlebenstechniken. Man meldete sich in einer öffentlichen Abendschule an und tat so, als lerne man. Tatsächlich saß man in einer der hinteren Reihen, döste vor sich hin und genoß für zwei Stunden die Wärme. Jimmy wußte genau, was er wollte. Um das zu erreichen, ließ er sich durch nichts abhalten, nicht einmal durch den Glauben, in den er hineingeboren worden war. Er räumte regelmäßig die Opferstöcke der katholischen Kirchen in der ganzen Stadt aus. Am liebsten war ihm der Opferstock in St. Stanislaus Kostka, denn wenn er diese Kirche beraubte, schadete er einer Polackengemeinde, und Polacken konnte er überhaupt nicht leiden. Er verabscheute auch Deutsche. Nein, das war viel zu milde ausgedrückt. Er haßte sie wie die Pest. Unten in der Roosevelt-Straße gab es eine vorwiegend von Deutschen besuchte Kirche, St. Franziskus von Assisi. Dort unterlief Jimmy ein sehr ernster Fehler. Nachdem er sich ein oder zwei Tage lang in der Umgebung der Kirche herumgetrieben hatte, kam ihm ein neuer und zündender Gedanke. Anstatt die Münzen aus dem Opferstock zu holen, sollte er lieber etwas mitnehmen, das einen wirklich hohen Wert darstellte. Er entschied sich für etwas Naheliegendes, nämlich für die goldene Monstranz, die der Priester während der Messe immer hervorholte, um den Gläubigen die heilige Hostie zu zeigen. Das Kirchenritual bot ihm eine hervorragende Gelegenheit, die Monstranz zu stehlen. Und zwar während der vierstündigen Anbetung. Bei diesem Anlaß blieb die Monstranz die ganze Zeit auf dem Altar stehen. Stets war der Priester derjenige, der mit den Gebeten begann, aber da das
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Ritual die ganze Nacht hindurch andauerte, mußte er natürlich irgendwann schlafen. Die Mitglieder der Pfarrei organisierten es, daß wenigstens immer eine Person in der ersten Bank saß und wachte. Jimmy versteckte sich im hinteren Teil der Kirche und hoffte, daß einer der Wächter vielleicht zu müde wäre, um dauernd wach zu bleiben. Gegen drei Uhr morgens kam es dann auch so. Jimmy schlich an den Bänken vorbei, nahm die Monstranz vom Altar, stopfte sie sich unter die Jacke und rannte davon. In Hochstimmung, von seinem neuen Reichtum und von dem Ruhm träumend, den diese Tat ihm verschaffen würde, schleppte er die Monstranz zu Glass, dem Pfandleiher. Glass lachte ihn aus. »Machst du dich über mich lustig, Jim? Meinst du, ich kann dieses Ding in eins meiner Schaufenster stellen, mit einem Preisschild daran? Glaubst du, ich kann dieses Ding verkaufen? An einen Hehler verhökern? Ich bin zwar nicht katholisch, aber ich weiß, was das ist. Jeder weiß das. Du bist ein dämlicher Goi, ich hab dir eigentlich immer mehr zugetraut. Denk in Zukunft vorher nach, ehe du was stiehlst! Bringst du das Ding zurück, oder soll ich es tun?« Gedemütigt versuchte Jimmy am selben Nachmittag, die Monstranz heimlich in die Franziskuskirche zurückzubringen. Unglücklicherweise erwischte der Küster ihn und rief den blaßgesichtigen alten deutschen Priester herbei. Indem er Jimmy am Arm festhielt, fragte der Priester ihn in holprigem Englisch: »Bist du katholisch?« »Das bin ich, aber was hat das damit zu –?« »Es macht dein Verbrechen noch schlimmer. Du bist nicht nur ein Schandfleck der Gesellschaft, du bist auch ein Sünder wider deinen Glauben. Nicht einmal unser Herr Jesus Christus kann dich noch retten. Du kommst in die Hölle, Junge, ganz gewiß.« Jimmy, damals zwölf Jahre alt, grinste ihn spöttisch an. »Nee, Vater, da war ich schon. Ich war dort und bin wieder rausgekommen.« Dann rammte er dem alten Mann ein Knie in den Unterleib. Der Priester schrie auf und taumelte gegen den Küster. Jimmy floh durch das Mittelschiff. Danach haßte er die Deutschen noch mehr als je zuvor. Aber er vergaß auch niemals die Lektion, die Glass ihm erteilt hatte. Als er älter wurde, wurde es ihm zunehmend wichtig, wie er auf Mädchen wirkte. Wenn jemand nicht abgebrüht wirkte, kein Geld hatte und
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mindestens genauso gerissen war wie seine Konkurrenten, wenn nicht sogar noch etwas gerissener, war es verdammt noch mal völlig klar, daß er durchs Leben lief, ohne von den wirklich begehrenswerten Girls auch nur eines Blickes gewürdigt zu werden. Dabei war es völlig gleichgültig, ob man tatsächlich so war – es war vielmehr um einiges sicherer, wenn man es nicht war. Es kam auf den äußeren Anschein an – der war wichtig. Wenn das Mädchen vom Anschein angelockt wurde, dann hatte man schon halb gewonnen. Wenn nicht, dann konnte man sowieso nicht bei ihr landen – dann war man aus dem Rennen. So entwickelte er auf Grund seines mehr oder weniger normalen Interesses an Mädchen eine ziemlich verdrehte Art, ihnen den Hof zu machen, und die Neigung, über sich selbst, seinen Besitz und über fast alles in seiner Vergangenheit die Unwahrheit zu sagen. Er hatte alle möglichen Jobs und versuchte gelegentlich, sich zu verbessern, indem er einer anständigen Tätigkeit nachging. Er hielt es nie lange aus. Ehrliche Jobs boten ihm keine Möglichkeit, schnell voranzukommen und mühelos viel Geld zu verdienen. Manchmal kosteten ihn irgendwelche Diebereien die Stellung, manchmal war es auch seine Reizbarkeit oder seine ausgeprägte Abneigung gegen alle Fremden, seien es Arbeitgeber oder Mitarbeiter. Jimmy haßte jeden fremdländischen Akzent, ganz gleich, ob er ihn aus dem Munde von Spaghettifressern, Krauts, Polacken oder Niggern unten aus dem Süden hörte. Er wußte, daß er vielleicht ein Bastard war, aber, bei Gott, er war durch und durch Amerikaner. Er liebte sein Land, es war ein Land der tausend Möglichkeiten. Fleisch für Frankel auszuliefern war einer dieser respektablen Jobs, den er nicht lange innehatte. Er hatte dadurch Einblick in einige sehr elegante Haushalte bekommen, aber das hatte lediglich seine Wut vertieft, weil er daran erinnert wurde, daß er nicht schnell genug vorankam. Nachdem er wertvolles Porzellan aus dem Crown-Haus in der Michigan Avenue mitgenommen hatte, war er aus Angst vor Entlarvung und Bestrafung bei Frankel ausgeschieden, ohne vorher Bescheid zu sagen. Seitdem hatte er in verschiedenen Jobs gearbeitet. Als Hilfskellner, Rausschmeißer und als Mädchen für alles in einer Tanzschule, wo er sogar Gratisunterricht erhielt, weil die Inhaberin an seiner frechen Art Gefallen fand. Er arbeitete als Hilfspolizist während des Pullman-Streiks und, als der zu Ende war, als Schlepper für einen großen Puff in der Clark-Straße, südlich der Taylor-Straße, in den Bad Lands. Die Arbeit als Romeo gefiel ihm. Vor allem wenn er sich am Zureiten in den eigens dafür gemieteten Wohnungen beteiligen durfte. Diesen Job behielt er, bis er sich einen Tripper fing. Er nahm an, daß
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eine kleine Blondine aus Rock Island ihm dazu verhelfen hatte. Er hatte sie am Bahnhof angesprochen und daran mitgewirkt, sie auf ihre neue Tätigkeit vorzubereiten. Sie hatte ständig geschrien, sie sei noch Jungfrau. So ein Quatsch; Jungfrauen verpaßten einem keinen Tripper. Mit Erlaubnis der Madam, die mit dem Girl sowieso nicht zufrieden war, besuchte Jimmy die verlogene kleine Hexe in ihrem unordentlichen Zimmer und verprügelte sie, bis sie um Gnade winselte. Ihr Gejammer brachte ihn noch mehr in Rage. Er schlug immer weiter auf sie ein. Stieß sie vom Bett und fuhr fort, sie zu bearbeiten. Riß sie an den Haaren hoch und boxte sie ins Gesicht. Trat sie, während sie auf allen vieren zur Tür kroch und ihr das Blut aus der Nase rann, das eine rote Spur hinterließ. Er trat sie erneut ins Gesäß. Sie wurde nach vorne geworfen und krachte mit dem Kopf gegen die Tür. Dann sackte sie zur Seite und rollte auf den Rücken, grauweiß im Gesicht und völlig reglos. »Na komm schon«, sagte Jimmy mit einem nervösen Kichern. »Spiel mir nichts vor! Mach die Augen auf! Ich tue dir nichts mehr.« Sie rührte sich nicht. »Ich sagte, wach auf, du Schlampe!« Er packte sie wieder am Haar, zog sie hoch. Blut tropfte aus ihrer Nase auf die kleinen weißen Brüste. Jimmy ließ sie mit einem dumpfen Laut fallen. Er hielt seine Nase dicht an ihren Mund. Kalt; kein Atem. Ein fauliger Geruch stieg von ihrem schlaffen Körper auf. »O mein Gott.« Er raufte sich die Haare, und seine Augen wurden feucht vor Angst. »O Jesus! Allmächtiger Gott!« Die Bordellbesitzerin war zornig. Die Entfernung der Leiche wäre allein seine Sache. »Und komm mir danach nicht mehr ins Haus. Am besten nie wieder.« Er schaffte die Leiche nachts in einer gestohlenen Schubkarre zum Fluß. Das tote Mädchen steckte in einem groben Sack, der früher mit Zement gefüllt gewesen war. Glücklicherweise war ihr Körper leicht. Er schleifte den Sack auf das Gelände eines Holzplatzes am Westarm. Er hatte vorher ganze fünf Bucks ausgegeben, damit der Nachtwächter das Vorhängeschloß des Eingangstores offenließ. Auf dem Pier des Holzplatzes, ständig von der Angst verfolgt, sogar in dieser verlassenen Gegend und bei totaler Dunkelheit entdeckt zu werden, beschwerte Jimmy den Sack mit Bleirohrenden, band ihn mit Draht zu und ließ ihn in den Fluß gleiten, der im Mondschein wie ein Ölteich aussah. Er stolperte davon und ließ die Schubkarre zurück. Auf der Straße vor dem Holzplatz drückte er sich in ein Gebüsch und ließ die Hose herunter, weil er
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plötzlich Durchfall hatte. Am Ende der Woche hatte sein Grauen sich verflüchtigt und wurde durch ein Gefühl der Überlegenheit und Stärke ersetzt, wie nur ein Mord es erzeugen konnte. Ein paar Tage später bekam er Besuch von einem der Kadetten, die mit der Madam zusammenarbeiteten. Er und der Kadett hatten sich schon früher gegenseitig geholfen. »Schlechte Nachrichten, Jimmy. Erinnerst du dich an die kleine Maus aus Rock Island? Ihr Bruder ist dort stellvertretender Polizeichef. Er ist in der Stadt und veranstaltet einen Affentanz. Sie haben sie nämlich gefunden, weißt du?« »Das wußte ich nicht.« »Es stand in den Zeitungen. Der Punkt ist der, daß es jetzt ein bißchen riskant wird. Du solltest dich lieber aus dem Bordellgeschäft fernhalten und dich nicht blicken lassen, und das für längere Zeit. Versteck dich irgendwo, wo die Polizisten wahrscheinlich nicht nachschauen werden. Such dir am besten was Anständiges.« Aus seinem Mund klang das Wort anständig ziemlich lächerlich. Vor allen Dingen, als er es selbst wiederholte. Anständig. So kam es, daß Jimmy Daws sich etwas Anständiges suchte und auf diese Art und Weise Paul Crown wiedersah.
61 PAUL In den Tempel der Photographie kam einer von diesen auffällig gekleideten Gecken, wie man sie häufig im First Ward sehen konnte. Der Mann war derart massig, daß er durchaus ein Bruder der guten alten Slim hätte sein können. Er stellte sich als Toots Tilson vor. »Vom Komitee.« Paul bot Toots den geflochtenen Besuchersessel neben dem staubigen Schaukasten an, rannte dann nach oben und klopfte an eine Tür. Wex kam heraus. Er trug eine Leinenschürze mit zahlreichen Taschen und Gummihandschuhe. Unten sog Toots schnüffelnd die Luft ein und sagte: »Mein Gott, das stinkt ja wie auf dem Klosett.« »Natriumschwefelsulfat«, sagte Wex. »Fixiersalz. Ich arbeite heute in der Dunkelkammer.« »Es dauert nicht lange. Ich komme wegen der Versicherung.« Toots warf einen vielsagenden Blick auf Paul. Wex senkte den Blick. »Dutch, läßt du uns mal allein?« murmelte er. Paul ging hinaus. Später, in der Küche, aßen er und Wex eine Scheibe Roggenbrot und Selleriestreifen und leerten zwei Flaschen Heimatbier.
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»Der Mann verkauft Versicherungen?« fragte Paul. »Sozusagen. Coughlin und Kenna hatten die Idee, und jeder ist begeistert. Wenn ein Teilhaber am Fonds Probleme mit dem Rathaus oder mit der Polizei hat, dann engagiert der Fonds einen Anwalt für den Betreffenden. Stellt sogar die Kaution. Mit anderen Worten, er setzt sich für ihn ein. Ich habe vor ein paar Jahren angefangen, ebenfalls meinen Beitrag zu zahlen, als ich, hm, ein paar spezielle Sachen produzierte.« Paul hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und wartete. »Ach, zum Teufel«, sagte Wex. »Ich glaube, ich brauche es vor dir nicht geheimzuhalten.« Er sprang auf und kehrte mit einem großen Faltordner aus Pappe zurück, wie er benutzt wurde, um ein Photo aufzustellen. Der Umschlag hatte einen goldenen Zierrand, der ziemlich billig hergestellt war und stellenweise abblätterte. »Ich hab dieses Photo heimlich aufgenommen und selbst entwickelt und abgezogen. Dreihundert Stück habe ich davon verkauft, das Stück zu zwei Dollars. Ich hab’s nur getan, um für die Photographie zu werben, verstehst du? Irgendein Schnösel von sechzehn oder siebzehn bekam es in die Finger und zeigte es seinem Papa. Und der war zufälligerweise ein Kirchenmann. Der dreckige Pharisäer wandte sich sofort an die Presse. Und schon saß mir die Polente im Nacken und beschuldigte mich der Verbreitung von Pornographie. Ich hab zwei Nächte im Knast verbracht. Aber das war alles. Ein Anwalt, der vom Fonds gestellt wurde, holte mich raus und schaffte es, daß es nicht mal zum Prozeß kam. Aber ich hatte auch noch einen ganzen Haufen Bilder. Mach schon, sieh es dir an. Es heißt Die Perle.« Paul schlug den Ordner auf. Das große Photo zeigte eine aufklappbare Muschel, die zwei oder zweieinhalb Meter breit war und vor einer Strandkulisse lag, die er von irgendwoher kannte. Die obere Hälfte der Muschel war aufgeklappt. In der Muschel stand eine junge Frau. Eine Hand hielt sie in gespieltem Entsetzen vor den zu einem erschreckten Ausruf geöffneten Mund, die andere bedeckte notdürftig ihren nackten Schoß. Die Frau hatte einen üppigen Körper sowie dunkle Haare und ebenso dunkle Augen. Sie trug etwas, das aussah wie eine Unionsuniform aus weißem Satin mitsamt einer Satinschärpe. Paul konnte verstehen, weshalb dieses Bild Wex zu einer Verhaftung verhelfen hatte. Derartiges Material wurde nur unter der Theke angeboten und verkauft. Wex brach sich ein Stück Brot ab. »Ein richtiges Kunstwerk, nicht wahr?« »O ja, ganz bestimmt«, log Paul. Er schloß den Faltordner. »Dann wollte dieser Gentleman, Mr. Toots« – er hatte Schwierigkeiten, diesen seltsamen
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amerikanischen Namen auszusprechen –, »Ihre Beitragszahlung für den Fonds?« »Ja, und ich habe das Geld nicht.« »Was haben Sie getan?« »Das gleiche wie früher schon mal. Ich hab’ ein Geschäft vorgeschlagen. Damit zahle ich auf einmal den Beitrag für die nächsten sechs Monate. Stadtrat Coughlin wünscht ein neues Photo von sich, das er seiner Familie schenken will. Er ist so eitel wie ein Pfau. Diese drei Burschen, die vor kurzem hier waren, haben mich empfohlen, daher kommt Coughlin morgen in einer Woche in mein Studio, um fünf Uhr. Sieh zu, daß du an dem Tag möglichst früh wieder hier bist, um ihn kennenzulernen. Du weißt nie, wann du unten im Levee einen Freund brauchst oder jemanden, der dir behilflich ist.« »Grüß dich, mein Junge. Ich bin John Joseph Coughlin.« Er zerquetschte beinahe Pauls Hand in seiner mächtigen Pranke. Mit seinen ein Meter achtzig hatte Coughlin die Figur eines Stahlarbeiters. Sein Hals war massig und gerötet, seine Schultern waren breit. Seine Brust und sein Bauch bildeten eine einzige runde Säule. Er trug sein fettig glänzendes Haar in einer kunstvollen Frisur. Eindrucksvolle Koteletten reichten fast bis drei Zentimeter unter die Ohren. Seine hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen glänzten. Die Fingernägel waren sorgfältig gepflegt und poliert, und er duftete nach Talkumpuder. In der Hand hielt er etwas Flaches, das in braunes Papier eingewickelt war. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ich bin Paul, Mr. Rooneys Assistent. Er erwartet Sie schon hinten. Wenn Sie mir bitte folgen würden?« John Coughlin, der den Spitznamen »Bathhouse-John« – Badehaus-John – trug, war nicht älter als fünfunddreißig, aber er hatte einen furchteinflößenden Ruf. Auf dem Heimweg von einer Laterna-MagicaVorführung über das Große Feuer hatte Nancy Logan ihn gewarnt: »Stadtrat Coughlin führt die Grauen Wölfe im Rathaus an. Er hat keinen ehrlichen Knochen in seinem Leib, heißt es. Laß dich nicht von ihm zu einem unanständigen Leben verführen. Du bist ein zu schlauer Bursche für so etwas. Freundlich und sehr nett dazu. Eines Tages möchtest du sicherlich das andere Mädchen in eine kleine Hütte heimführen. Also nimm dich in acht!« Wex hatte Paul erzählt, daß der Stadtrat ein stolzes und auffälliges Produkt von Conley’s Patch war, einer Enklave der ärmsten Iren Chicagos. Er hatte seine Karriere als Masseur in einem türkischen Bad in der Clark-
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Straße begonnen, hatte aber schnell Ehrgeiz bewiesen und war umgezogen ins Palmer House, dessen Bäder in ganz Amerika berühmt waren. Als nächstes kaufte er sich ein eigenes Bad in der East Madison, dann ein zweites im Breevoort Hotel. Diese betrieb er immer noch sowie einen Saloon namens Silver Dollar; er war ein den freien Silberhandel verfechtender Demokrat. Aber Coughlins eigentliches Geschäft war Chicago – die Kontrolle der Stadt aus dem Rathaus heraus und die Verteilung städtischer Aufträge und Begünstigungen als Gegenleistung für Schmiergeldzahlungen. Er war 1892 zum erstenmal in den Rat gewählt worden und wurde zwei Jahre später mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Leute, die ihn ablehnten, erzählten, er sichere seine Siege stets mit Rollkommandos von Schlägern, die andersdenkende Wähler von den Urnen fernhielten. Wex sagte, daß die Kontrolle des First Ward unanfechtbar übernommen worden war, als Coughlin sich mit dem Saloonwirt Michael Kenna, genannt Hinky Dink, zusammentat. Obgleich Hinky Dink Kenna sich in seinem Temperament völlig von Coughlin unterschied, waren sie als politische Funktionäre gleichermaßen gerissen wie abgebrüht. Hinky Dink hatte eine Mehrheit der Wahlrichter im First Ward in der Tasche. Er konnte eine unbegrenzte Schar von Wählern auf die Beine bringen, deren Namen auf Grabsteinen standen. »Hinky holt sich seine Mehrfachwähler sogar noch aus dem Lake County«, sagte Wex. »Es ist auch kein Geheimnis, was er zahlt. Fünfzig Cents pro Stimme plus soviel Wurst, Brot, Käse und Bier, wie man verdrücken kann.« Coughlin kleidete sich wie ein feiner Pinkel. Ein feiner Pinkel mit eigenwilligem Geschmack, aber immer noch ein feiner Pinkel. Zum Photographieren hatte er sich für einen Gehrock aus glänzender schwarzer Seide mit einem auffälligen Blechstern am Revers entschieden. Darauf stand Stadtrat. Zum Rock trug er ein Hemd aus hellgrüner Seide, eine himmelblaue Krawatte und eine elfenbeinfarbene Seidenweste mit gelbem Blumenmuster. Seine Gamaschen paßten farblich zu den Blumen. »Mr. Coughlin ist da, Sir«, verkündete Paul. Wex tauchte unter dem schwarzen Kameratuch auf und kam schnell herbei, um seine Hand zu ergreifen. »Herr Stadtrat. Das ist eine große Ehre für mich. Nehmen Sie nur Platz. Haben Sie irgendwelche Wünsche bezüglich Ihres Porträts? Denken Sie an eine bestimmte Pose?« Coughlins Chorknabengesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte damit das Ende einer Gartenbank ab, die Wex im Verlauf einer halben Stunde vor drei dorischen Säulen aufgestellt hatte. Wex errötete vor Scham.
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»Nee-nee«, erwiderte der Stadtrat, nachdem er seine Reinigung beendet hatte. »Es soll nur Würde ausstrahlen, denn es ist für Mary und die Kleinen bestimmt.« »Würde. Genau, was ich meine. Wie es schließlich Ihrem Stand entspricht –« »Sie haben es erkannt, Kumpel.« Strahlend raffte Coughlin die Rockschöße hoch und ließ sein Hinterteil auf die Bank plumpsen. Wex hatte sich für die Sitzung einen fußlangen braunen Kittel übergezogen. Er trat zweimal auf seinen Saum, was Paul zeigte, wie nervös er war. Er wies Paul an, einen Reflektor erst fünf Zentimeter nach links, dann wieder einen Zentimeter nach rechts zu schieben. So ging es eine Viertelstunde lang hin und her. Nach einem weiteren Aufschub durch das Putzen der Kameralinse, einem dritten zur Festlegung von Coughlins Pose und schließlich einer vierten Verzögerung, um mit einem Kamm eine widerspenstige pomadisierte Haarsträhne auf dem Kopf seines Motivs zu bändigen, drückte Wex endlich den Gummiball zusammen, um das erste Bild zu schießen. »Wir nehmen das Rembrandt-Licht«, sagte er, nachdem er zurückgetreten war. »Von oben und von der Seite.« Er schwitzte heftig. Seinem Kunden ging es genauso. Coughlin deutete befehlend auf den Tisch. »Bursche, hol mal das Päckchen. Rooney, hängen Sie das an einer der Säulen auf. Es wird zwar heißen, das sei Werbung, aber was ist schon so schlimm daran? Ich sage immer, man soll Geld verdienen, wo man kann, und lange leben.« Paul reichte ihm das Päckchen. Der Stadtrat wickelte ein gelbes Schild mit einer prägnanten schokoladenbraunen Inschrift aus. SAUBERKEIT IST GESUND. GESUNDHEIT IST DAS WERTVOLLSTE GUT. FINDEN SIE GESUNDHEIT IN COUGHLINS BÄDERN! »Oh, wunderbar, sehr geschmackvoll«, sagte Wex. Coughlin spreizte sich wie ein Pfau. »Dutch! Wir brauchen Hammer und Nagel!« Und so ging es weiter, anderthalb Stunden lang Herumbasteln und Zurechtrücken, gelegentlich unterbrochen von einer kurzen Pause, um eine Platte zu belichten. Schließlich schaute Coughlin auf eine imposante silberne Zwiebel und sagte, er müsse gehen. Er drückte dem Photographen die Hand. »Toll, ganz toll. Wir kümmern uns schon um Ihren Versicherungsbeitrag, keine Sorge.«
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»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Stadtrat, vielen Dank.« Coughlin sah sich in dem staubigen, heruntergekommenen Studio um. »Sieht so aus, als könnten die Geschäfte etwas besser laufen.« »Ja, Sir, das ist schon richtig.« »Ich nenn’ Ihren Namen mal in der Stadt. Wenn die Stadträte keine Bilder von ihren Familien haben wollen, vielleicht schicken sie dann ihre Freundinnen vorbei. Melden Sie sich bei mir, wenn ich Ihnen helfen kann. Das gilt auch für dich, Junge. Denn das ist mein Job. Zu helfen und für Wohlstand zu sorgen.« Er tippte an seine Hutkrempe und verließ das Studio, nachdem er dort einen regelrechten Wirbelsturm erzeugt hatte. Wex schäumte vor Wut, als die Abzüge aus der Dunkelkammer kamen. »Sie sind eine große Schande. Eine Beleidigung für das gesamte Gewerbe. Sieh dir nur diese Werbung an. ›Billig‹ wäre noch geschmeichelt. Ich weiß kein Wort, das schlimm genug ist, um das zu beschreiben.« Auf einem Abzug hatte Coughlin den Blick nach oben gerichtet wie ein Heiliger, der zum Himmel aufschaut. Das Schild neben dem Stadtrat verkündete ziemlich marktschreierisch seine Botschaft. Paul mußte unwillkürlich lachen. Wex fand das gar nicht lustig. »Mein Gott, ich komme mir vor wie eine Nutte! Wenn er auch nur einen winzigen Rest von gutem Geschmack hat, findet er die Bilder abscheulich.« Auf dem Weg zur Arbeit gab Paul das Paket mit den Abzügen im Silver Dollar Saloon ab. Einen Tag später brachte der Briefträger eine Nachricht auf pergamentartigem Briefpapier, dessen geprägter Kopf sehr aufwendig gestaltet war. HON.J.J. COUGHLIN Stadtrat Privatadresse: Van-Buren-Straße Nr. 165 Mitglied folgender Komitees: Finanzen Gesundheitswesen Schiffsverkehr & städtische Gelände Hafenangelegenheiten Viadukt- & Brückenwesen Straßen & Parks (South Side) Die Nachricht gab schnell Aufschluß über die Reaktion des Stadtrats.
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Schöne Bilder!! Washington-Park wird nächste Woche eröffnet. Mein Pferd First Ward startet ebenfalls. Seien Sie Gast in meiner Loge. Mit freundlichem Gruß Coughlin Am darauffolgenden Montag bat Paul darum, am Dienstag freinehmen zu dürfen. Albert Grace spielte einige Sekunden lang mit einem Bleistift herum, um ihn nervös zu machen. Dann sagte er, er gewähre ihm den Urlaub, denn Paul habe sich als zuverlässig und sehr fleißig erwiesen. »Aber dein Lohn wird gekürzt.« Die Tribünen, das Clubhaus und die künstlich geschaffene Landschaft des Washington-Parks nahmen ein etwa achtzig Morgen großes Gelände zwischen der Einundsechzigsten Straße und dem Cottage Grove ein. Warmer Sonnenschein vergoldete den Eröffnungstag. Paul und Wex benutzten dorthin die South Side Elevated und hielten sich so gut wie möglich von offenen Waggonfenstern fern. Die Lokomotive wurde mit Weichkohle geheizt, und der Schornstein spuckte dicke Rußwolken aus. Die Bahn hielt schließlich nicht weit vom Eingang zur Rennbahn inmitten einer dichten, festlich herausgeputzten und fröhlich gestimmten Menschenmenge. Paul trug seinen grauen Cordanzug und hatte eine Kodakkamera aus dem Laden mitgenommen. Wex wirkte ungewöhnlich erregt und schwitzte. Kurz vorher hatte Paul beobachtet, wie er eine Rolle Geldscheine in seine Jackentasche gesteckt hatte. Wie Wex an soviel Bargeld hatte herankommen können, war Paul ein Rätsel. Auf der dichtbevölkerten Promenade versuchte ein junger Mann, dessen blondes Haar in der Mitte gescheitelt war, ihnen Handzettel in die Hände zu drücken. Wex wehrte ihn mit einer unfreundlichen Bemerkung ab und schien ungewöhnlich nervös zu sein. Völlig überdreht. Kein Wunder, daß er Pferderennen als seinen Dämon bezeichnet hatte. An Glanz und Pracht war der Eröffnungstag des Washington-Parks kaum zu übertreffen. Die Reichen und die Prominenz Chicagos trafen in großen vierspännigen Kutschen ein. Das Kutschieren war bei den Reichen überaus beliebt, erzählte Nancy, und Paul glaubte es sofort. Noch nie hatte er so viele wunderschöne Fahrzeuge an einem Ort gesehen. »Wir treffen uns drinnen«, sagte Wex und eilte ohne weitere Erklärung davon. Paul folgte der Schlange glänzender Viktorias und Phaetons und Tallyhos durch das Tor. Federbüsche flatterten auf den Vollblutpferden.
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Kleine Silberglöckchen klingelten. Metall und Leder waren auf Hochglanz poliert und gewienert worden. Wohlgenährte Männer und Frauen saßen in den Kutschen und winkten den weniger Glücklichen huldvoll zu. Die größten Fahrzeuge hatten sogar noch Bänke auf den Dächern, und auch die waren besetzt. Einige Gentlemen trafen jeweils allein auf Rassepferden mit gestutzten Schweifen ein. Auf den verschlungenen Wegen rund um das Clubhaus ließen die Männer ihre Pferde umhertraben, seitlich ausbrechen und sich vor dem gemeinen Volk aufbäumen, das sich auf jeder Seite an die Geländer drängte. Sehr bald schienen die Reiter daran die Lust zu verlieren. Sie saßen nach und nach ab. Knechte führten die Pferde zu den Ställen. Wex tauchte wieder auf. Eine zusammengefaltete Zeitung steckte in seiner Tasche. »Alles klar, suchen wir erst mal unseren Gastgeber.« Paul folgte seinem Lehrer. Dabei konnte er einen Blick auf die Zeitung werfen. Sie beschäftigte sich ausschließlich mit Pferderennen. Am vordersten Geländer der Haupttribüne gelegen, war die Loge des Bäderkönigs eine der größten und besten. Sie verfügte über neun Sessel und zusätzlichen Platz zum Stehen. Andere Gäste hatten bereits Platz genommen. Paul bemerkte mehrere Pappkartons, die in einer Ecke aufgestapelt waren, als er mit Wex die Loge betrat. Coughlin begrüßte sie polternd. »Freut mich, daß ihr gekommen seid, Jungs. Hoffentlich habt ihr ‘ne Menge Geld mitgebracht.« Sein ansteckendes Lachen dröhnte. Er schüttelte Wex’ Hand, als betätigte er einen Pumpenschwengel. »Sie sehen aber schick aus, Herr Stadtrat«, sagte Wex, nachdem er sich befreit hatte. »Gefällt Ihnen diese Kombination?« Der Badehausbesitzer strich mit einer Hand über sein taubengraues Revers. Sein Hemd war rosafarben, Krawatte und Gamaschen waren weiß, und sein Gehrock hatte ein weißes Karomuster auf dunkelgrünem Grund. »Das hier nenne ich meine Rennkluft. Kommt, ich stelle euch die ganze Bande vor.« Der erste war ein kleiner, mürrisch dreinblickender Mann, etwa ein Meter fünfzig groß und in Coughlins Alter. Alles, was er an Kleidung trug, war schwarz bis auf sein gestärktes Hemd. Er kaute auf einer kalten Zigarre und musterte die Neuankömmlinge mit den eisigsten blauen Augen, die Paul je gesehen hatte. »Das ist mein Geschäftspartner Mr. Michael Kenna. Hink, das sind Wexford Rooney und sein Helfer, Dutch. Hab’ deinen Nachnamen vergessen, Dutch, tut mir leid. Sie sind zwei erstklassige Künstler, Hink.« »Angenehm«, sagte der mürrische Mann, ohne Anstalten zu machen,
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ihnen die Hand zu reichen. Dann setzte er sich und beachtete sie nicht weiter. »Hier drüben –« Der Bädermann deutete auf einen hochgewachsenen, athletischen Mann. »Mein Kollege aus der Zweiundzwanzigsten Straße, Oberst Shadow. Teufel, ich sollte seinen vollen Titel nennen – R. Sidney Shadow III. von den Denver-Shadows. Eine bedeutende alte Pionierfamilie! Puritaner aus Maine. Dieser Mann ist ein Genie, Jungs. Er ist Erfinder, Schausteller – von ihm werdet ihr noch eine Menge hören.« Wex nickte. »Ich kenne Ihren Namen, Oberst. Sie sind im Bildergeschäft tätig.« Mit einer huldvollen Verbeugung streckte der Mann die Hand aus. »Sehr richtig, Sir.« Die Stimme des Obersts war wie ein edles Instrument – durchdringend und unüberhörbar, zugleich aber so einschmeichelnd wie die eines Predigers. »Nennen Sie mich doch Sid, ja? Ich möchte Ihnen bei der Gelegenheit meine beiden Nichten vorstellen, Miss Waterman und Miss Akers.« Die beiden jungen Frauen machten einen Knicks und kicherten. Eine war gekleidet wie ein Admiral, sie trug eine Segelmütze, die andere sah wegen ihrer Kopfbedeckung mit hochgeklappten Ohrenschützern wie Sherlock Holmes aus. Beide hatten reichlich Lippenrouge aufgetragen. Menschen drängten sich auf den Tribünen und auf dem Innenfeld. Eine Blaskapelle musizierte. Der Himmel zeigte ein seidiges helles Blau. Ein leichter Frühlingswind ließ die Fahnen auf den Tribünen und die Federn an den Hüten der Ladies flattern und spielte mit den Seidentrikots der Jockeys, die ihre Pferde vor dem ersten Rennen durch den Führring schreiten ließen. »Oh, Sid, es geht sicher gleich los!« kreischte Miss Waterman. Wenn sie und die andere »Nichte« auch nur entfernt mit dem massigen Mann verwandt waren, dann war Paul mindestens Präsident der Vereinigten Staaten. Das Gesicht wieder gerötet, machte Wex Anstalten, die Loge eilig zu verlassen. »Ist noch Zeit genug, um zu wetten?« Der Bäderkönig sah zu den Pferden hinüber. »So gerade noch – wenn Sie sich beeilen. First Ward läuft erst im dritten Rennen. In diesem Rennen jetzt würde ich besonders auf Tinker’s Dam achten. Macht euch nicht in die Hosen, Kinder, es heiß D-a-m, nicht Dame. Es ist nichts Zweideutiges.« Er lachte noch lauter als die beiden vor Vergnügen kreischenden jungen Frauen zusammen. Wex stürzte aus der Loge hinaus. »Dutch, was hältst du von einem Photo von uns?« Paul tat dem Stadtrat bereitwillig den Gefallen, photographierte Coughlin zuerst, während er die Arme um die beiden jungen Frauen gelegt
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hatte. Dann vergrößerte er die Gruppe und lehnte sich über dem hinteren Geländer weit zurück, um sie alle auf ein Bild zu bekommen. Kenna wollte wegen des Photos nicht aufstehen. Er saß da, kaute auf seiner Zigarre und las in seiner Rennzeitung. Entweder war er der schüchternste Mensch der Welt oder der arroganteste. Wex kam zurück und drängte sich ins letzte Bild. Die Pferde standen am Start. Eine Glocke ertönte, jedermann sprang auf, brüllte, und während der nächsten zweieinhalb Minuten wurden Rennprogramme hochgehalten und Taschentücher gewedelt, während die Sonne von den Linsen teurer Ferngläser reflektiert wurde. Ein Pferd namens Prince Hal gewann das Rennen. Tinker’s Dam kam als sechstes in einem Feld von sieben Pferden ins Ziel. Wex zerriß seine Wettscheine. Paul war von Oberst Shadow fasziniert. War Wex so etwas wie ein irischer Kobold, dann war Shadow ein Standbild aus Granit. Er hatte ein faltiges Gesicht und ein ausgeprägtes Kinn. Er kleidete sich nach eleganter Western-Mode: handgefertigte Kalbslederstiefel, Twillhose und ein Frühlingsmantel aus weichem schwarzem Wolltuch. Sein Oberhemd war hellblau, und die spitzen Enden seiner Krawatte lugten über die Revers. Sein sandfarbener Sombrero hatte die gleiche Farbe wie der, den Buffalo Bill in seiner Wildwestshow trug. Als Verzierung hatte er ein rötliches Lederband, in das indianische Symbole eingraviert waren. Insgesamt bot Oberst R. Sidney Shadow III. eine imposante Erscheinung dar. Allerdings war er ziemlich bleichgesichtig, als hielte er sich zuviel in geschlossenen Räumen auf. »Entschuldigen Sie, Oberst«, sagte Paul, »habe ich es richtig verstanden, daß Sie im Bildergeschäft tätig sind?« »Das stimmt, mein Sohn.« »Er beschäftigt sich mit den bewegten Bildern«, sagte Wex. »Dem Film.« »Der großen Attraktion der Zukunft«, bestätigte Oberst Shadow. »Wie lautet Ihr Name noch mal, Sir?« »Wexford Rooney. Ich bin Photograph.« »Schön! Und das ist Ihr Assistent?« »Paul Crown, Sir. Alle nennen mich Dutch.« »Dutch. Gut.« Sie schüttelten sich die Hand. Der Oberst schlug seinen Mantel zurück, und ein scharlachrotes Innenfutter kam zum Vorschein. Er reichte Paul und Wex Visitenkarten. Auf den Karten standen sein Name und die Worte CHICAGO LUXOGRAPH COMPANY sowie seine Adresse. »Ich darf behaupten, daß ich Erfinder bin und das Patent des LuxoskopFilmbetrachters besitze. Wir sind bereits in fünf Staaten des mittleren
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Westens vertreten und expandieren mit atemberaubendem Tempo. Ich arbeite bereits an einem Luxograph-Projektionssystem.« »Wunderbar«, sagte Wex und wirkte nicht sonderlich interessiert. »Ich würde gerne mehr darüber erfahren, aber gleich beginnt das nächste Rennen. Also entschuldigen Sie mich.« Er entfernte sich, und Paul setzte sich auf den leeren Platz neben dem Oberst. Aufgeregt erzählte er: »Ich habe solche Filme während der großen Ausstellung gesehen. Es war sensationell. Meinen Sie tatsächlich, daß solche Bilder eines Tages auf großen Schirmen gezeigt werden?« »Aber ganz gewiß. Woher kommst du, Dutch? Aus Deutschland?« »Ja, aus Berlin. Aber ich lebe jetzt in Chicago und bin ein Bürger der Stadt.« »Du interessierst dich für unsere noch junge Industrie, nicht wahr?« »Sehr sogar. Mir gefällt jede Art von Photographie. Ich lerne bei Mr. Rooney. Aber am meisten interessieren mich die bewegten Bilder.« Er hoffte, daß er Oberst Shadow von der Ernsthaftigkeit seines Interesses überzeugen konnte. Er wollte ihn beeindrucken. »Sehr klug«, lobte der Oberst. »Dort liegt die Zukunft. Ich habe kein Interesse daran, mit einem Film ein Taschengeld zu verdienen. Ich träume von Tausenden von Dollars. Deshalb beeilen wir uns, einen Projektor zu bauen, und eine Kamera ebenfalls. Du solltest weiter auf uns achten.« Seine Hände zeichneten die Umrisse einer Fahne in die Luft. »Luxograph-Bilder. Riesengroß und hell erleuchtet – und weit besser als Edisons Erfindungen.« Coughlin lachte. »Das wird dem Zauberer von Menlo Park aber nicht gefallen, Sid. Ebensowenig all den Rechtsverdrehern, die er auf der Lohnliste hat, damit man ihm seine Konstruktionen nicht klaut.« »Mein Projektor wird etwas Originelles sein und durch ein Patent geschützt«, erklärte Shadow. »Mr. Thomas Alva Edison sollte lieber anfangen zu begreifen, daß er sich nicht den ganzen Kuchen einverleiben kann.« Paul wollte sich nach Möglichkeiten in Shadows Unternehmen erkundigen, dann verspürte er plötzlich ein schlechtes Gewissen. Als wäre er im Begriff, Wex zu verraten, nur weil er Interesse bekundete. Ein Trompetensignal kündigte das nächste Rennen an. Wex kam mit weiteren Wettscheinen in die Loge. »Ich habe auf Evangeline und auf Sieg gesetzt.« »Hmm, ich weiß nicht«, sagte der Badehausunternehmer. Evangeline kam als letzte ins Ziel. Kurz nach dem Rennen betraten zwei junge Männer die Loge. Paul hatte einen der beiden schon vorher gesehen – nämlich den Blonden mit dem
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Mittelscheitel. Er holte Handzettel aus den aufgestapelten Kartons, dann klopfte er seinem Begleiter auf die Schulter. Da er gerade die Zuschauermenge betrachtete, drehte der andere junge Mann sich nicht sofort um. Als er es tat, bekam Paul einen Schock. Es war der Botenjunge, der im Haus der Crowns das Porzellan gestohlen hatte. Und der wahrscheinlich als Anwerber versucht hatte, Nancy zu ködern. Er sah viel wohlhabender aus als zu dem Zeitpunkt, als er bei Frankel gearbeitet hatte. Er trug eine Melone, ein Hemd mit steifem Kragen, einen karierten Anzug und auf Hochglanz polierte, nadelspitze Schuhe. Seine unsteten Augen verrieten, daß er Paul erkannte. Shadow bemerkte die vielsagenden Blicke, hatte jedoch keine Ahnung, was sie zu bedeuten hatten. »Das sind meine beiden Assistenten, Mr. Lewis Kress und Mr. James Daws. Lew und Jimmy.« Lew Kress streckte zuerst die Hand aus. Er sah aus wie ein Galgenvogel und sprach mit schwerem Südstaatenakzent. »Es ist mir ein Vergnügen.« Jimmy Daws trat vor. Er machte ein nachdenkliches Gesicht. Erst begrüßte er Wex, dann Paul. »Hallo, Kumpel. Ist schon lange her.« »Ihr kennt euch?« fragte Shadow. »Flüchtig«, antwortete Paul und beließ es dabei. Jimmy Daws klopfte ihm auf die Schulter. »Ja, das tun wir. Ganz gut sogar. Schön, dich wiederzusehen.« »In Ordnung, genug Wiedersehensfreude«, sagte Shadow mit einem unfreundlichen Lächeln. »Ihr seid nicht zum Vergnügen hier, ihr zwei. Seht zu, daß ihr die Handzettel unters Volk bringt.« Lew und Jimmy füllten sich jede freie Tasche damit. Paul las das Wort »Luxoskop« in gezirkelter Schrift mit mehreren Ausrufezeichen dahinter. Die Assistenten wollten gleichzeitig die Loge verlassen und stießen an der Tür zusammen. Jimmy knuffte Kress gegen die Schulter. »Nimm dich in acht!« Obgleich er lächelte, war sein Blick alles andere als freundlich. Kress trat zurück. »Entschuldige.« Jimmy grüßte die Logengäste, indem er mit dem Finger gegen die Hutkrempe tippte, und ging hinaus. Zuletzt bedachte er Paul mit einem schnellen, nachdenklichen Blick. Trotz der Sonne, die auf die Tribüne brannte, begann Paul zu frieren. Das Pferd des Badehausbesitzers, First Ward, kam im dritten Rennen unter die ersten drei. Wex gewann zwanzig Dollars. Diese verlor er im vierten Rennen mit Saratoga Boy. Das Pferd stürzte und mußte auf einer Plane von der Rennbahn geschleift werden.
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Wex wühlte in seinen Taschen herum und fand noch ein paar Dollars. Er verließ die Loge mit einem gehetzten Gesichtsausdruck. Paul fragte sich, ob es ehrlos von ihm sei, wenn er sich weiter mit Shadow unterhielt. Er war brennend daran interessiert. Lew Kress und Jimmy Daws kamen zurück, um weitere Handzettel zu holen. Jimmy schwatzte und scherzte mit den beiden jungen Frauen. Kress versuchte auch, die eine oder andere Bemerkung zu machen. Jimmy brachte ihn mit einer überheblichen, angewiderten Miene zum Schweigen, mit der man vielleicht eine besonders lästige Fliege verscheucht. Kenna beugte sich zur Seite, um Coughlin etwas ins Ohr zu flüstern. Er kaute weiterhin auf der Zigarre und blickte finster wie ein böser Geist. Coughlin schlug ihm auf den Rücken. »Ach, mach dir mal keine Sorgen, Hink. Ich kümmere mich um den Kerl. Er wird wählen, wie er wählen soll, oder er bewegt sich in Zukunft nur noch auf Krücken vorwärts.« Oberst Shadow schienen die Nichten zu langweilen. Paul dachte, daß er so eine Chance sicherlich nie mehr bekäme, wenn er jetzt nicht sofort sein Glück versuchte. Er ging hinüber und ließ sich in dem Sessel neben dem Oberst nieder. »Sir? Ich würde sehr gerne irgendwo bei diesen Filmen arbeiten. Ich möchte lernen, wie man sie photographiert. Ist bei Ihnen möglicherweise eine Stelle frei?« »Ich dachte, du arbeitest bei Rooney?« »Ich wohne bei ihm, aber mein Job ist, Wäsche auszuliefern. Mr. Rooney weiß von meinem Interesse für diesen Bereich.« Shadow entspannte sich. »Im Augenblick habe ich nichts, aber melde dich ruhig noch mal, man weiß ja nie. Ich mag junge Leute mit Ehrgeiz. Jimmy zum Beispiel hat davon tonnenweise. Kress ist allerdings eine Enttäuschung. Jimmy packt ihn ein und holt ihn wieder raus, ganz wie er will. Das liegt wohl an dieser verdammten südstaatlichen Erziehung.« Eine Minute später hatte Paul wieder ein Kribbeln im Nacken. Die beiden Helfer waren zurückgekommen. Jimmy Daws lehnte sich gegen das hintere Geländer der Loge und hatte die Arme verschränkt. Er beobachtete ihn. Wex hatte während des restlichen Nachmittags kein Glück. Am Ende des siebten und letzten Rennens schleuderte er seine noch verbliebenen Wettscheine zu Boden. »Komm, Dutch, wir gehen nach Hause.« Er schüttelte reihum die Hände der Logengäste und verabschiedete sich. »Ladies, Mr. Kenna, Oberst – ich würde wirklich gerne mehr über Ihr Unternehmen erfahren.«
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»Kommen Sie, wann Sie wollen. Sie haben ja meine Karte.« Shadow streifte Paul mit einem schnellen, vielsagenden Blick. »Herr Stadtrat, vielen Dank, es war ein schöner Nachmittag.« Wex’ Gesicht erzählte etwas völlig anderes. »Mach’s gut, Dutch«, sagte Jimmy zu Paul, während er und Wex durch die Logentür gingen. »Vielleicht sehen wir uns noch mal.« »Das ist durchaus möglich«, erwiderte Paul. »Bis bald.« Jimmy tippte sich an den Hut. Jimmys Anwesenheit bei Shadow machte eine mögliche Stellung dort um einiges weniger erstrebenswert, aber Paul durfte sich von so etwas nicht aufhalten lassen. In der Bahn gestand Paul, daß er Oberst Shadow nach einer möglichen Anstellung gefragt hatte. »Aber ich fände es ganz schlimm, wenn Sie jetzt von mir denken, ich fiele Ihnen in den Rücken.« »Ach, vergiß es«, sagte Wex und winkte ab. »Du bist ehrlich, und das gefällt mir.« Der Wagen rollte ratternd über die Schienen. Rußflocken wehten herein, setzten sich in Wex’ Haar fest. »Weißt du, Dutch, ich freue mich, daß du mein Schüler warst, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich habe längst gewußt, daß du irgendwann weiterziehen würdest. Es sind die bewegten Bilder, in die du dich auf Anhieb verliebt hast – und war ich es nicht, der sie dir gezeigt hat? Ich sah das Leuchten in deinen Augen, als der Elefant tanzte. Wenn du bei einem Mann wie Shadow anfangen kannst, dann tu es! Hab kein schlechtes Gewissen, denk nicht an das, was mal war.« »Das ist sehr großzügig von Ihnen.« »Klar«, sagte Wex achselzuckend und mit traurigem Lächeln. »Ein Verlierer kann es sich leisten, großzügig zu sein, oder? Er riskiert ja nichts.« Paul versuchte das Gespräch fortzusetzen, aber Wex hatte das Interesse verloren. Er stützte das Kinn in die Hand, betrachtete die vorbeiziehenden Gebäude, die Straßen und die Grünflächen. Ob er mit seinem Dämon spricht? fragte Paul sich traurig. Wex’ Selbstlosigkeit nahm Paul eine große Last von der Seele. Die Zukunft erschien ihm nun in einem strahlenderen Licht. Er konnte es kaum erwarten, Julie alles zu erzählen, was er bei Wex gelernt hatte, und von der noch aufregenderen Möglichkeit zu berichten, schon bald das Handwerk der bewegten Bilder zu beherrschen. Wann würde sie endlich diese verdammte
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Reise beenden und zu ihm zurückkommen? Bei seiner Tour am nächsten Morgen fragte er Madame Camille, die Inhaberin der »Pleasures of Paris« – der »Freuden von Paris« –, ob er mal ihr Telephon benutzen dürfe. Weil sie ihn gut leiden konnte, gestattete sie es ihm. Er hatte diesen Anruf schon viel zu lange vor sich hergeschoben. Er klopfte ungeduldig mit dem Fuß einen Takt, während er auf die Verbindung wartete. »Hier bei Crown. Manfred am Apparat.« Paul bemühte sich, seine Stimme möglichst rauh klingen zu lassen, und dämpfte sie auch noch, indem er sich den Arm vor den Mund hielt. »Ich möchte Mrs. Volzenheim sprechen.« Manfred knurrte etwas Unfreundliches. Dann herrschte für einige Zeit Stille. »Hier ist Louise. Wer ist dort?« »Louise, sagen Sie nichts, ich bin’s, Paul.« »Master P –« »Nein! Nicht meinen Namen. Ich flehe Sie an, hören Sie nur zu. Bestellen Sie Tante Ilsa, ich hätte angerufen. Nur meiner Tante, nicht meinem Onkel. Sagen Sie ihr, mir geht es gut, sie braucht sich keine Sorgen zu machen.« »Sind Sie hier in Chicago? Bitte, alle wollen wissen –« Er unterbrach sie. »Gibt es irgendwelche Nachrichten von Vetter Joe?« »Nein. Keinen Ton. Es ist so traurig, Sie beide sind einfach weggegangen, alle sind so unglücklich –« »Onkel Joe muß doch ganz zufrieden sein.« »Oh, ich glaube, das stimmt nicht.« »Darin sind wir wohl unterschiedlicher Meinung, Louise.« Ein Mädchen in einem blaßrosa Morgenmantel näherte sich im Flur. Sie rauchte eine schlanke Zigarre. Neckend öffnete sie den Mantel, um sich zu zeigen. Dann lehnte sie sich gegen ihn, liebkoste mit der Zungenspitze seine Wange und sein Ohr. Paul befreite sich von ihr und gab dabei ein ungehaltenes Knurren von sich. »Ja, hallo? Was ist da los?« »Nichts, ich bin – an meinem Arbeitsplatz. Hier herrscht einiger Betrieb.« »Aber nie soviel, als daß ich nicht noch Zeit für dich hätte, Schätzchen«, flüsterte das Mädchen und massierte ihn durch die Hose. Als sie sein gepeinigtes Gesicht sah, lachte sie schallend und setzte ihren Weg durch den Flur fort. »Denken Sie daran, erzählen Sie es nur meiner Tante.«
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»Auch nicht Fritzi oder Carl?« »Das soll Tante Ilsa entscheiden.« »Rufen Sie wieder an?« »Vorerst nicht. Vielen Dank, Louise. Ich vermisse Sie. Leben Sie wohl.« Als Paul an diesem Abend von seiner Arbeit nach Hause kam, war Wex’ allgemeine Stimmung, wenn das überhaupt möglich war, noch trübsinniger und düsterer als gewöhnlich. Er sprach undeutlich, während er zwei Teller Bohnensuppe auf den Tisch stellte. Aus seiner Jackentasche holte er eine braune Flasche, die noch zu einem Viertel gefüllt war. Er entkorkte sie, legte den Kopf in den Nacken, trank und stellte die Flasche auf den Tisch. Er sah Paul an wie ein schuldbewußtes Kind. »Ich habe zuviel Geld auf der Rennbahn verloren. Ich brauche noch einen Mietaufschub. Ich weiß aber nicht, ob der Hauswirt sich noch mal darauf einläßt –« Ein tiefer Seufzer. »Ich sagte dir ja, daß ich unter einer schlimmen Krankheit leide.« »Weshalb hören Sie nicht einfach auf?« fragte Paul in sanftem Ton. Wex wischte sich den Mund ab. Es gab ein scharrendes Geräusch von seinen Bartstoppeln. Er hatte sich offenbar noch nicht rasiert. »Das ist ein guter Gedanke, nicht wahr? Und absolut richtig. Ich muß Schluß machen. Wenn nicht, dann müssen wir beide uns irgendein Gebüsch im Lincoln-Park suchen, wo wir in Zukunft wohnen werden.« So schlimm war es also, so verzweifelt und aussichtslos. Das hatte er gar nicht gewußt. Wex winkte mit der Flasche. »Iß deine Suppe! Es ist noch etwas da.« »Vielen Dank, aber im Augenblick bin ich überhaupt nicht hungrig.« »Dämonen«, murmelte Wex und betrachtete das Photo seines Sohnes. »Überall.« »Ja«, sagte Paul und mußte dabei an die Augen von Jimmy Daws denken. 62 JIMMY Am 1. April 1895 – am Tag, bevor er Paul auf der Rennbahn wiedersah – beging Jimmy seinen 21. Geburtstag. Er hatte eine einträgliche und, so hoffte er, sichere Stellung bei Oberst R. Sidney Shadow. Jimmy hatte etwa fünf Wochen nach dem Mord an der kleinen Blondine und nach seinem überhasteten Ausstieg aus dem Prostitutionsgewerbe beim Oberst
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angefangen. Jimmy arbeitete im Guckkastenstudio des Obersts an der Ecke Zweiundzwanzigsten und State-Straße, westlich von Freiberg’s Dance Hall und gegenüber von Buxbaums Marlborough-Hotel. Freiberg’s war einer der bestbesuchten Betriebe im Levee. Männer zahlten 25 Cents Eintritt und 40 Cents pro Highball für sich selbst oder für die Mädchen. Die Highballs, die vor allem die Mädchen tranken, bestanden aus Sprudelwasser, das leicht mit Ginger Ale gefärbt war. Falls ein Mädchen sich zu mehr bereit erklärte, ging sie mit ihrem Kunden über die Straße ins Marlborough. Ike Bloom, dem Freiberg’s zusammen mit seinem Schwager gehörte, war finanziell am Hotel beteiligt. Dort betrug der Preis für eine Matratze zwei Dollars pro halbe Stunde. Bloom erhielt einen Anteil von einem Dollar. Es war ein angenehmes Arrangement. Alles im Levee beruhte auf einem Arrangement, wie Jimmy sehr wohl wußte. Jimmy hatte den Oberst zufällig bei Freiberg’s kennengelernt. Shadow kam zu einem Schäferstündchen herein, weil seine Freundin gerade ihre Tage hatte. An der langen Bar kamen sie miteinander ins Gespräch. Shadow mußte irgendwie Gefallen an Jimmys Aussehen und an seinem frechen, selbstsicheren Auftreten gefunden haben, denn er fing an, ihn ein wenig auszufragen. Ob er Arbeit suche? Ob er noch ledig sei? Seine Vergangenheit hingegen interessierte nicht. Schließlich schlug Shadow ihm vor, doch am nächsten Morgen mal vorbeizuschauen, um sich mit ihm über einen Job zu unterhalten. Das war im Spätherbst des vorangegangenen Jahres gewesen. Damals war Shadows Etablissement gerade einige Monate geöffnet. Jimmy war schon mehrmals daran vorbeigegangen. Die Fenster waren mit Farbe undurchsichtig gemacht worden. Oben an der Hausfassade verkündeten zwei Schilder in grellen Farben, von beiden Straßen aus lesbar: Oberst R. S. Shadows LUXOSKOP-STUDIO Das größte WUNDER aller Zeiten! Bewegte Bilder! Geeignet für jedes Alter Eintritt kostenlos Neben einer staubigen Registrierkasse am Eingang des Guckkastenstudios unterhielt Sid Shadow sich mit seinem potentiellen neuen Angestellten. Er äußerte sich ganz offen. »Zur Zeit habe ich einen Helfer, Mr. Lewis Kress. Lew war in
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irgendeiner obskuren Religionsschule unten im Süden. Unglücklicherweise war er blöde genug, um mit der Tochter des Kirchenleiters herumzumachen und ihr ein kleines Brötchen in den Ofen zu schieben. Er brach seine Studien ziemlich überstürzt ab.« Jimmy begriff später, daß Shadows Wortwahl überaus formell und elegant sein konnte, wenn er es so wollte. Der Oberst hielt inne, um an einer langen Zigarre zu ziehen. Das würzige Aroma war eines jener kleinen Symbole des Erfolges, nach denen Jimmy sich sehnte und über die er eines Tages ebenfalls reichlich verfügen wollte. »Ich erzähle dir aus einem einzigen Grund von Lew Kress, Jim. Wenn ich dich einstelle, dann will ich, daß du Lew als deinen Gegner betrachtest. Das ist gut fürs Geschäft.« »Ich – Oberst – hmm – das versteh’ ich nicht.« »Es ist ganz einfach«, sagte Shadow. »Nimm an, ich besitze zwei Bulldoggen. Nimm weiter an, ich hetze sie gegeneinander. Das ist gar nicht so brutal, wie es klingt. Möglich, daß ich bei dem Kampf einen Hund verliere, aber ich gewinne wahrscheinlich dafür einen starken, erfolgreichen, zu allem entschlossenen Kämpfer. Verstehst du jetzt?« Jimmy grinste. »Ja, Sir. Ich verstehe sogar sehr gut.« Im Erdgeschoß des Luxoskop-Studios standen zehn voluminöse Guckkästen, fünf auf jeder Seite des breiten Mittelgangs. Die Maschinen machten sich, ähnlich wie der Konkurrenzapparat, der sogenannte Mutoskop, die Trägheit des menschlichen Auges zunutze, indem Standphotos von Bewegungsphasen schnell durchgeblättert wurden. Edisons Kinetoskop verwendete einen durchgehenden Filmstreifen anstelle von einzelnen Karten, aber der Effekt in allen drei Apparaten war in etwa der gleiche: die Illusion der Bewegung durch eine Aufeinanderfolge schnell durchlaufender Standbilder. Shadows Apparat zeigte Motive wie die Brandung des Michigan-Sees oder einen von Pferden gezogenen Feuerwehrwagen, der durch eine leere Straße rollte (es habe dreißig Dollars gekostet, diese Sequenz herzustellen, erzählte Shadow). Es gab auch komische Szenen: einen Mann, der heftig nieste und dabei Porzellanvasen und Geschirr zerdepperte; eine ziemlich trottelige Negermammi, die einen Kuchen backte, wobei einige Mißgeschicke passierten wie das Verstreuen von Zucker und das Verschütten von Mehl. Der Oberst erklärte, daß die meisten Bildfolgen zu harmlos seien. Er habe die Absicht, einige schärfere Sequenzen ins Programm aufzunehmen. So harmlos die augenblicklichen Bildfolgen auch seien, fuhr er fort, so gebe
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es doch eine ganze Reihe von Leuten, darunter vorwiegend Geistliche, welche die Flimmerbilder als Erfindung des Teufels betrachteten. Was für ein Glück, daß diese Leute sich nie ins Hinterzimmer verirrten. Über dem Studio im ersten Stock bewohnte Shadow einige Zimmer mit seiner Lebensgefährtin, einer blassen, üppigen Blondine namens Mary Beezer. Die beiden Assistenten teilten sich den restlichen Platz. Praktisch das erste, was Jimmy tat, nachdem Shadow ihn eingestellt hatte, war, ihre Zimmer zu inspizieren. Lew Kress hatte das größere mit Fenstern, die auf die State-Straße hinausgingen. Jimmy sollte in einer finsteren Kammer ganz ohne Fenster wohnen. An diesem Abend erklärte er Mr. Lew Kress, daß sie tauschen würden. »Paß mal auf, ich bin schon beim Oberst, seit er das Studio eröffnet hat«, sagte Lew. »Das kannst du nicht machen.« In dem Augenblick, als Lew protestierte, trat Jimmy ihn vor die Schienbeine, schleuderte ihn gegen die Wand und hielt ihm dann ein Messer unter die Nase. »Eines sollte von Anfang an klar sein, Lewie«, sagte er, während er sich über den zitternden Südstaatler beugte, »du ziehst aus und gehst mir aus dem Weg, sonst drehe ich eines Tages durch. Und das willst du doch nicht, oder?« Mit seinem freundlichsten Grinsen streichelte Jimmy Kress’ Wange mit dem Messerrücken. Lew Kress war innerhalb einer halben Stunde aus dem Zimmer ausgezogen. Jimmys Tätigkeit für Shadow bestand darin, die Kasse des Guckkastenstudios zu bedienen, darauf zu achten, daß die Kunden die Apparate nicht beschädigten, und ein wachsames Auge auf das spezielle Hinterzimmer zu haben. Manchmal mußte er auch Handzettel verteilen. Lew Kress tat das im Levee, da Jimmy sich die Peinlichkeit ersparen wollte, unter Umständen von irgendwelchen Bekannten bei Ausübung dieser primitiven Arbeit gesehen zu werden. Zu alldem hatte er auch noch Gelegenheit, etwas Geld nebenbei zu verdienen, wenn Bathhouse John oder Hinky Dink anläßlich einer Wahl Hilfstruppen zusammentrommelten. Er sah sich selbst als überzeugten, treuen Demokraten, also warum sollte er nicht mitmachen? Jimmy hatte nicht die Absicht, für immer und ewig bei Oberst Shadow zu bleiben. Man wurde nicht reich, wenn man für jemand anderen arbeitete, und Jimmy strebte nach Reichtum und nach jener Art von Macht, die von den wichtigen Leuten des Levee ausgeübt wurde. Bis er sicher sein konnte, daß der Tod der kleinen Blondine vergessen war, und bis er entschieden hatte, wo er die besten Chancen für ein Fortkommen anträfe,
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wollte er jedoch seinen Job behalten. Eigentlich war er zuerst einmal ziemlich glücklich, daß Shadows LuxoskopStudio sich im Herzen des Levee befand. Wenn jemand runter ins Levee kam, um auf den Putz zu hauen, dann lautete der Ausdruck dafür »einen Zug durch die Gemeinde machen«. Jimmy machte so oft einen Zug durch die Gemeinde und hatte soviel Spaß dabei, daß er nicht das geringste Bedürfnis verspürte, woanders zu arbeiten. Zum zweiten gefiel ihm das Geschäft mit diesen Filmen. Es hatte Zauber und eine erregende Aura der Gesetzlosigkeit, vor allem in dem mit einem Vorhang abgetrennten Hinterzimmer. Dennoch war da auch noch etwas Anspruchsvolles, Wissenschaftliches an der ganzen Sache. Jimmy hatte nur vier Jahre lang eine ordentliche kirchliche Schule besucht. Er haßte den Unterricht, und die Nonnen setzten ihn vor die Tür, nachdem er auf dem Schulhof einen schwächeren Mitschüler blutig geprügelt hatte. Die Mutter Oberin meinte, er sei verstockt, was immer das bedeutete. Sie sagte, er sei jähzornig. Jimmy konnte natürlich lesen, aber es bereitete ihm einige Mühe, und seine Lektüre beschränkte sich auf bluttriefende Geschichten in der Police Gazette oder in Mixed Drinks: The Saloon Keepers Journal. Daher war es ihm sehr recht, in einem »intelligenten« Gewerbe wie dem Geschäft mit den bewegten Bildern tätig zu sein. Sogar Mr. Thomas Alva Edison interessierte sich dafür. Und Edison war ein berühmter Mann. Schließlich gefiel ihm auch sein neues Zuhause. Es war das angenehmste, das er je bewohnt hatte. Er genoß das abwechslungsreiche Treiben auf der State-Straße, das Rumpeln der South-Side-Bahn, wenn sie vorbeifuhr, und die anderen, aufreizenderen Geräusche, die er hören konnte, wenn er den Kopf an die Wand zum Schlafzimmer des Obersts legte. Shadow und seiner Mary zuzuhören erregte Jimmy. Er liebte Sex. Und da die Angst wegen des toten Mädchens allmählich verflog, liebte er das Leben allgemein. Was eigentlich verwunderte, wenn man bedachte, wie übel es ihm bisher mitgespielt hatte. Im Keller hatte Shadow sich eine Werkstatt eingerichtet. Dort bastelte er unermüdlich herum und beschäftigte sich mit dem Bau seines großen, sperrigen Bildprojektors. Bisher funktionierte er nicht wunschgemäß. Shadow zeigte Jimmy die Werkstatt an seinem zweiten Arbeitstag. Der große Raum besaß Zementwände, die mit einer bereits vergilbten weißen Wandfarbe gestrichen waren und stellenweise Schimmelflecken aufwiesen. In den Ecken waren Spinnweben zu sehen, und überall lagen halbfertige Holzteile herum. Gezahnte Bauteile unterschiedlicher Größe, Werkzeuge
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und Gummiriemen, perforierte Filmstreifen und eine Menge Zeichnungen mit Maßangaben und Hinweispfeilen darauf bildeten ein unübersehbares Durcheinander. Zahlreiche als unbrauchbar verworfene Zeichnungen waren in eine Kiste in einer Ecke gestopft worden. Eine elektrische Glühbirne mit einem grob zurechtgeschnittenen, gebogenen Blechschirm hing über der großen Werkbank. Außerdem standen Petroleumlampen als zusätzliche Beleuchtung herum. Es herrschte ein unangenehmer, modriger Geruch. So riecht es sicherlich in einem Grab, dachte Jimmy. Shadow versuchte ihm die Arbeitsweise des geplanten Projektors zu erklären, aber Jimmy begriff überhaupt nichts. Er gestand Shadow, daß er überaus schlechte Lehrer gehabt habe, die ihm, gerade was Maschinen und »wissenschaftliches Zeug« betraf, nichts hatten beibringen können. Im stillen gratulierte er sich zu dieser überzeugenden, mitleiderregenden Ausrede. Shadow schien ein wenig enttäuscht zu sein. Im Laufe der Wochen und nachdem er seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, indem er zwei aufsässige Kunden zur Räson gebracht und auf die Straße gesetzt hatte, wurde ihm außerdem die Aufgabe übertragen, die guten Beziehungen zu den Streifenpolizisten und anderen Vertretern der Polizeibehörde zu pflegen, die gelegentlich hereinschauten. Dadurch und dank seiner regelmäßigen Besuche im Revier, wo er allwöchentlich einen dunkelbraunen Briefumschlag Shadows abgab, fand Jimmy zu seiner alten Dreistigkeit zurück und verlor jegliche Furcht, irgendwann wegen des Mordes an der kleinen Nutte und der Beseitigung ihrer Leiche verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden. Oberst Shadow schmierte das zuständige Polizeirevier aus einem ganz speziellen Grund: wegen des Hinterzimmers. Dort zeigte ein elfter Apparat eine Bildfolge mit dem Titel Ein chinesischer Traum. Jimmy sah sie sich während der ersten beiden Wochen in seinem Job mindestens ein dutzendmal an. Jedesmal erregte die Sequenz ihn derart, daß er sich selbst Erleichterung verschaffen mußte. In den fünfundvierzig Sekunden, die die »Handlung« dauerte, führte ein mandeläugiges chinesisches Mädchen, das mit nichts als ein paar Schleiern bekleidet war, einen Tanz auf. Durch die Schleier konnte man ganz deutlich ihre Brüste sehen und deren Spitzen, die rund und dunkel waren wie kleine Kastanien. Wenn man besonders scharfe Augen hatte, konnte man sogar einen kurzen Blick auf etwas Dunkles und Verlockendes zwischen ihren Beinen werfen. Das war der Grund, weshalb Jimmy und manchmal auch Lew Kress das Hinterzimmer so sorgfältig bewachten. Um sich Ein chinesischer Traum anzusehen, mußte man drei Dollars bezahlen und bekam eine speziell
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eingekerbte Metallscheibe für den Einwurfschlitz. Jimmy fragte Shadow einmal, ob er sämtliche Standaufnahmen von der Tänzerin selbst angefertigt habe. Er wußte, daß die meisten Bilder in den Apparaten im vorderen Hauptraum vom Oberst stammten. »Das kannst du wohl annehmen, Junge. Mary war damals in Detroit und besuchte ihre Schwester. Das Photographieren dieser Sequenz dauerte sieben Stunden. Anschließend habe ich es der kleinen Lotosblüte von vorn und von hinten besorgt. Ihr hat’s gefallen, sie konnte gar nicht genug bekommen. Sie war vom Opium völlig weggetreten.« Ein Schauder lief Jimmy über den Rücken. Er bewunderte Shadow – seinen ausgeprägten Geschäftssinn, seine eiskalte Skrupellosigkeit. In seinem Bereich war Shadow ein absoluter Gewinnertyp. Vielleicht kein großer, noch nicht, aber das würde sich bald ändern. Der Oberst wurde sehr bald für Jimmy zu einem Vorbild, denn Jimmy hatte einen ähnlichen Ehrgeiz. Er wollte genauso dastehen wie der Oberst, wenn er so alt war wie er. Er würde sich niemals vorn Erreichen seines Ziels abbringen lassen. Weder das Gerede von Priestern noch das Genörgel einer Ehefrau oder das Gequengel irgendwelcher Kinder würde ihn aufhalten, denn er würde gar keine Kinder in die Welt setzen. Und sollte es durch einen unglücklichen Zufall doch einmal soweit kommen, würde er ganz sicher nicht bis zur Geburt dableiben. Jeder, der sich in seinem Streben nach Erfolg durch das Gesetz oder irgendwelche Skrupel bremsen ließ, war ein Trottel. Shadow stand unter einem enormen Druck, den er sich selbst auferlegte. Jimmy hielt das für dumm, aber es war so. Der Oberst hatte ständig eine finstere Miene und redete in einem fort, während er arbeitete, aber beim Abendessen änderte sich das. Dann, wenn Mary ihm ein Bier brachte oder manchmal auch ein Glas Whiskey, dann hellte seine Miene sich auf, er legte seine abweisende Art ab und wurde gesprächig – als wolle er damit den ganzen vorangegangenen Tag wieder wettmachen. Eines Abends, als auch Jimmy sich entspannte und seiner Neugier nachgab, fragte er Shadow, wie er denn den Rang eines Obersts erworben habe. »Nun, den habe ich mir selbst verliehen, Kleiner. Genauso wie ich mir auch einen hochklassigen Namen verpaßt habe. In dieser Welt hat es keinen Sinn, immer ehrlich zu sein. Damit schindet man keinen Eindruck.« Jimmy starrte seinen Arbeitgeber verblüfft an. »Soll das heißen, Ihr Name ist gar nicht Shadow?« »Ich gestehe!« Shadow legte eine Hand auf seine Herzgegend. »Tatsächlich lautet er Sigmund Seelmeister.« Er sagte das voller Behagen.
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Während ein zweites Glas Bier von Mary gebracht wurde, erzählte er weiter, daß er nicht aus einer alten Pionierfamilie aus Denver mit puritanischen Ursprüngen in Maine stamme. Er sei auf einer Schweinefarm in der Nähe von Evansville, Indiana, zur Welt gekommen. Mit elf Jahren sei er von dort vor einem Stiefvater weggelaufen, der ihn ständig schlug. »Ich konnte auch den Gestank von Schweinemist nicht mehr ertragen. Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke«, sagte Shadow. Das Hemd hing ihm aus der Hose, er hatte einen Stiefel auf den Küchentisch gelegt und ein hohes Glas Bier in der Hand. Als Ausreißer arbeitete er dort, wo sich etwas anbot, vorwiegend als Wanderarbeiter auf verschiedenen Farmen. »Das tat ich drei Jahre lang. Es war so langweilig wie eine Kirchenandacht, und man brach sich dabei fast das Kreuz. Dann, eines Samstagabends, ich hatte gerade meinen Wochenlohn in der Tasche, kaufte ich eine Eintrittskarte für einen Wanderzirkus in Logansport, Indiana. Es waren Professor Martin’s Minstrels. Ich wurde fast verrückt, als ich sah, was auf der Bühne passierte – diese Musik, der Tanz –, es war eine ganz neue Erfahrung für mich. Anschließend drückte ich mich am Theatereingang herum und hatte unheimliches Glück. Sie brauchten einen Helfer für alle möglichen Arbeiten auf der Bühne und hinter den Kulissen. An diesem Abend sagte ich dem Maiskolben und den Heuballen und der Hühnerkacke für immer und ewig Lebewohl. Ich war ein kräftiger Bursche, zwar erst vierzehn, aber ich schaffte die schwersten Arbeiten, die sie mir aufhalsten. Sechs Monate lang baute ich die Kulissen um, schleppte die Kostümkoffer zum Bahnhof, transportierte sie in der nächsten Stadt ins Hotel – und vieles mehr. Aber ich hing Professor Martin ständig in den Ohren, er solle mich auch mal auf der Bühne ausprobieren. Ich hatte eine gute Singstimme, darf ich wohl behaupten, und ich wußte damit umzugehen. Schon mit vier Jahren habe ich in der Kirche im Chor mitgesungen. Ich war außerdem gelenkig und schnell. Schließlich verlor die Truppe einen Mann, und der Professor sagte ja. Ich trat dann fast sechs Jahre lang mit Martin’s Minstrels auf, schminkte mir jeden Abend das Gesicht schwarz, schmetterte Negerlieder von der Bühne, erzählte Negerwitze und tanzte den Cakewalk –« Er hob die rechte Hand über den Kopf und schüttelte ein imaginäres Tamburin. Ein seltsam verträumter Ausdruck stahl sich in sein faltiges Gesicht. »Ich liebte das. Ich liebte den Applaus, auch wenn es nur Bauerntölpel waren, die klatschten. Die Erregung, die man empfindet, wenn man es schafft, ein Publikum mitzureißen, kann durch nichts ersetzt werden. Ihnen zuzuhören, wie sie mit den Füßen stampfen und begeistert brüllen, weil
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man ihnen eine gute Show geboten hat –« Seine Hand sank herab. »Aber nach sechs Jahren wußte ich, daß das Ganze am Ende nirgendwohin führen würde. Dann hatte ich wieder Glück. Ich lernte Mary kennen. Damals war ich zwanzig. Sie besuchte in irgendeiner Kleinstadt in Missouri unsere Show. Sie trug einen Diamanten an der Hand, an einem Trauring, so breit wie mein Daumennagel. Der machte mir richtig Appetit, weißt du? Natürlich lief mir beim Anblick ihrer prächtigen Brüste ebenfalls das Wasser im Mund zusammen.« Er trank den Rest seines Biers und rülpste. »Ich erriet sofort, daß sie ganz heiß darauf war, zu jemand anderem unter die Bettdecke zu kriechen. Und ich hatte recht. Sie war mit so einem neunzig Kilo schweren Viehfutter- und Saatguthändler verheiratet, der ein kleines Problem hatte. Kein Pulver mehr in seiner Kanone. Sie kam nach dem Auftritt zu mir und sagte, meine Vorstellung auf der Bühne habe ihr sehr gut gefallen. Dann fuhr sie fort: ›Ich wette, Sie sind überall sehr gut, ganz egal, wo.‹ Sie brauchte es mir nicht unbedingt aufzumalen. Ich nahm sie mit ins Hotel und bearbeitete sie drei oder vier Stunden lang. Dabei veranstaltete sie einen Höllenlärm und hatte wahrscheinlich zum erstenmal in ihrem Leben richtig Spaß dabei. Das überraschte mich nicht. Große Männer sind nämlich überall groß, wenn du weißt, was ich meine.« In diesem Moment betrat Mary die Küche und hörte die letzten Worte mit. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sid! Erzählst du die Geschichte schon wieder?« »Aber klar doch. Ich hab schon viele Brüste gesehen, aber die hier sind absolut preiswürdig.« Er legte die Hände darauf, um zu zeigen, was er meinte, dann zog er die Frau auf seinen Schoß. »Du alter Satan.« Beide lachten schallend, dann gab sie ihm einen langen, feuchten Kuß auf den Mund. Jimmy schaute mit offenem Mund zu. »Ich hörte in der Show auf, und Mary und ich zogen ein paar Jahre lang durch die Lande. Ich verkaufte einige Dinge, und wir mußten nicht hungern, aber mir fehlte irgendwas, und ich hatte keine Ahnung, was es war, bis ich diese kleinen Bilder entdeckte, die sich bewegen.« Sein Blick wurde wieder verträumt und richtete sich in die Ferne. »Hast du jemals das Wort ›Epiphanie‹ gehört, Jim? Das schöne Wort ›Epiphanie‹. Ich hatte eine. Genauso wie vorher, als ich Martin’s Minstrels in Logansport entdeckte. Die reinste Zauberei…« »Jetzt aber genug gequatscht«, sagte Mary und sprang von seinem Schoß herunter. »Wir sterben noch vor Hunger, wenn ich jetzt nicht bald was auf den Herd setze.« So erfuhr Jimmy diesmal nicht, wie Shadow zum lukrativen Gewerbe
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der Filmerei gelangt war. Aber er fragte auch später nicht danach. Eigentlich interessierte es ihn gar nicht, solange er nur regelmäßig bezahlt wurde. Was Mädchen anging, so hatte er jetzt eine reichhaltige Auswahl. Trotz seiner Blässe und seiner Magerkeit war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Dank der Gratisstunden war er ein guter Tänzer. Er hatte sich eine recht flotte und schlagfertige Sprache angewöhnt und setzte sie zu seinem Vorteil ein. Eine Beziehung Anfang des Jahres hatte zwei Monate gedauert, eine ungewöhnlich lange Zeit für ihn. Seine damalige Freundin war ein Girl namens Rosie French. Rosie war von Pullman herübergekommen, seit ihr Vater während des Streiks ums Leben gekommen war. Sie war eine Amateurhure und gehörte zu keinem bestimmten Haus. Sie erfreute sich auch nicht des Schutzes durch einen Kadetten. Im Levee war es sehr gefährlich, sich auf diese Art und Weise im Geschäft zu behaupten, aber Rosie war zäh und gerissen. Er bewunderte sie. Sie bewunderte ihrerseits seinen Ehrgeiz. Sie hätte auch bestimmte Ziele, erklärte sie ihm. Sie wolle in New York Varietésoubrette werden, damit sie auf diese Art vielleicht irgendwelche reichen Männer aus dem Publikum auf sich aufmerksam machen könne. Sie wolle in den Osten gehen, sobald sie genug Geld zusammengespart hätte. Jimmy hatte wenig Ahnung von den unterschiedlichen Unterhaltungssparten, aber er konnte durchaus gute Musik von schlechter unterscheiden. Nachdem er sich angehört hatte, wie Rosie Where Did You Get That Hat? sang, entschied er, daß sie kaum Chancen hatte, sich künstlerisch hervorzutun. Sie mußte auf absehbare Zeit ihre Auftritte wohl auf diverse Betten beschränken. Aber dort war sie ein absoluter Star. Rosie war fast genauso leicht reizbar und jähzornig wie er selbst. Nach einem dummen Streit über irgendeine Kleinigkeit verlangte sie, er solle sofort ihr Zimmer verlassen. Er drohte ihr daraufhin mit einer Tracht Prügel, und sie revanchierte sich, indem sie unter ihrer Matratze eine kleine versilberte Damenpistole hervorholte und auf ihn richtete. »Schläge machen vielleicht andere Schwestern gefügig, Jimmy, aber nicht mich. Faß mich an, und ich schieß’ dir das Gesicht weg!« Zum erstenmal, soweit er sich erinnern konnte, ließ Jimmy die Fäuste vor einem Gegner sinken. Er grinste sogar verlegen und versuchte sie zu umarmen. Sie ließ es nicht zu und sperrte ihn aus. Seltsamerweise kehrte er trotz dieser Behandlung wieder zu ihr zurück.
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Ihr Zimmer war jedoch leer. Ein altes Weib im Stockwerk darunter erzählte, Rosie sei nach New York abgereist. Er war tagelang niedergeschlagen. Rosie war etwas ganz Besonderes gewesen. Er hatte weitaus mehr für sie übrig, als ihm vorher bewußt gewesen war. Er vermißte sie tatsächlich. Im Frühling, ehe er Paul wiedersah, ging Jimmy zum erstenmal zu Coughlins fliegender Wahlhelfertruppe. Es war eine angenehme Arbeit, und Shadow war froh, daß er sie auf sich nahm, weil sich dadurch die Beziehung des Obersts zu den Bezirksbossen festigte. Abend für Abend vor den Stadtratswahlen marschierte Bathhouse John durch die Straßen des First Ward und führte sein Demokratisches Pfeiferund Trommlerkorps an. Manchmal nahmen fünfhundert bis sechshundert Menschen an der Fackelparade teil, Männer und Frauen und sogar Kinder. In jedem Saloon spendierte Coughlin Bier und empfahl die von ihm bevorzugten Kandidaten weiter. Seine fliegende Helfertruppe bildete die Vorhut auf seiner Marschroute. Sie brachten jeden Gegner zum Schweigen, der dumm genug war, laut zu protestieren. Sie rissen ihm das Abzeichen vom Revers oder das Spruchband in den Parteifarben vom Hut, und wenn das nicht ausreichte, dann verabreichten sie dem Betreffenden eine schnelle und gründliche Abreibung. Sie rissen Plakate der Konkurrenten von Wänden und Telegraphenmasten, verscheuchten jeden, der Anstalten machte, neue Plakate anzukleben, und sorgten ganz allgemein dafür, daß Bathhouse John und Hink die gesamte Wahl unter Kontrolle hatten und ihren Ausgang bestimmten. Die Aktivitäten am Wahltag begannen schon sehr früh. Die Bars öffneten um fünf Uhr morgens, so daß die zusätzlichen Wähler, die Hinky Dink mitbrachte, bis sechs in wohlwollende Stimmung versetzt werden konnten. Dann nämlich begann die eigentliche Abstimmung. Bedauernswerterweise mußten die Bars um diese Zeit für den Rest des Tages schließen. Ein paar Minuten nach sechs bestieg Jimmy einen bereits ziemlich vollen Vierspänner, der von Bathhouse John gemietet worden war, um seine fliegende Truppe durch den Distrikt zu kutschieren. Zwanzig Männer saßen in und auf der Kutsche, alle halb oder total betrunken. Den ganzen Tag über jagte die Kutsche von Wahllokal zu Wahllokal, per Telephon oder Boten von Wahlbeobachtern angefordert, die den Eindruck hatten, die Opposition werde zu stark oder ließe sich unter den Namen bereits Verstorbener wählen, ein Vorrecht, das die Demokraten eifersüchtig exklusiv für sich in Anspruch nahmen. Gewöhnlich reichte der Anblick der Kutsche von Bathhouse John und der ausschwärmenden Schlägertruppe aus, um die
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Opposition zum Rückzug zu veranlassen und für günstige Bedingungen im Wahllokal zu sorgen. Manchmal tauchte sogar Coughlin persönlich auf, die Taschen seines schwarzen Gehrocks prall von Münzen. Dimes in der linken Tasche, Quarters in der rechten. Er schenkte sie den Wählern mit einem Ausdruck entwaffnender Unschuld. Jimmy verlebte einen überaus angenehmen Tag. Er schlug ein paar Schädel blutig und befriedigte sich einmal, diesmal mit einer scharfen kleinen Nutte in einer Gasse im Stehen. Nach Einbruch der Dunkelheit und als der Wahlausgang als sicher gelten konnte, betranken sich alle wieder. Huren aus allen Etablissements des Levee verteilten freigebig ihre Gunst. Jimmy suchte die Frau, mit der er schon am Tag zusammengewesen war. Sie tranken und turtelten fast die ganze Nacht heftig miteinander. Ja, Sir, dachte Jimmy, als er am nächsten Morgen aufwachte, das Levee ist wirklich der Mittelpunkt des Universums. Wen interessierte es, ob man krank war oder einen Kater hatte? Wer störte sich daran, daß die Kopfschmerzen heftig genug waren, um einem die Augen aus dem Schädel springen zu lassen? Das Levee war der einzige Ort, wo man leben konnte, und diejenigen, die nicht loszogen, um seinen Zauber und das Flirren und diese Aura der Macht zu genießen, waren armselige, dumme Narren. Nicht lange nach der Wahl, in jenem Frühling des Jahres 1895, gab es für Jimmy im Washington-Park ein Wiedersehen mit dem jungen »Kraut«. Er war wie vom Donner gerührt. Ein paar Sekunden lang dachte er daran, einfach zu fliehen, wegzurennen. Er blieb, behielt die Nerven, und als der Junge nichts von dem gestohlenen Porzellan erzählte, sondern sich geradezu freundlich verhielt, entspannte Jimmy sich. Er war aber auch einigermaßen verwirrt. Was hatte jemand, der in einem eleganten Haus wohnte, in einer Loge auf der Rennbahn zu suchen? Wer war dieser dicke kleine Mann, Rooney hieß er? Er fragte Shadow. Es stellte sich heraus, daß Rooney Photograph und der junge Kraut so eine Art Assistent war. Ein paar Tage lang wartete Jimmy unruhig ab, ob der Kraut am Ende doch die Polizei benachrichtigte. Aber kein Polizist kam zu ihm. Schon wieder Glück gehabt. Nach einer Woche verschwand dieser Vorfall aus seiner Erinnerung. Nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Lew Kress wegen der Zimmer hatte Jimmy nie mehr Grund, bei ihm handgreiflich zu werden. Aber sie führten häufig Streitgespräche. Jimmys Angewohnheit, mit seinen Besitztümern und den Erfolgen seiner Familie zu prahlen, ärgerte Lew.
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Obgleich natürlich alle drei – Besitztümer, Erfolge, Familie – überhaupt nicht existierten. Jimmy verspürte lediglich einen inneren Zwang, darüber zu reden, als gäbe es sie tatsächlich. Unten im Keller setzte Oberst Shadow seine mühselige Arbeit fort. Er hantierte mit Messinghebeln und Klammern, mit Objektiven und Holzbrettern und baute schließlich einen rechteckigen Kasten auf einem dreibeinigen Stativ. Aber er machte keinerlei Fortschritte. »Bei Gott, ich lasse mich nicht unterkriegen, ich werde nicht der Verlierer sein«, sagte Shadow eines Abends, als Mary Beezer in der Wohnung für sie alle vier ein Eintopfgericht zubereitete. Der Oberst saß in seinem Unterhemd im trüben elektrischen Lichtschein. Zwischen seinen Fingern klemmte eine Zigarre. Pomadisiertes dunkles Haar, dessen Farbe sich von Woche zu Woche änderte, hing ihm in Strähnen in die Stirn. »Die Laufbilder, die Filme – es ist mir egal, wie sie genannt werden, können uns zu einem Vermögen verhelfen, wenn wir sie in einem ganz normalen Theater vorführen könnten.« »Was wollen Sie denn aufnehmen?« fragte Lew Kress. »Etwas anderes als das, was in den Apparaten zu sehen ist?« »Lew, bist du blöde? Natürlich würde ich ganz andere Filme herstellen. Unsere Kamera könnte überall drehen –« Er kaute auf seiner Zigarre. »Das heißt, wenn genug Licht vorhanden ist und ich das verdammte Ding in Gang bringe.« »Habt ihr Hunger?« Mary stellte Schüsseln mit Eintopf auf den Tisch. Das Gericht bestand aus ein paar Erbsen und einer Menge gekochter Kartoffeln in der Hühnersoße vom vorangegangenen Sonntag. »Nehmt nur mal das Kriegsgeplänkel unten in Südamerika«, sagte Shadow. »Das ist schon mal eine Attraktion.« »Der englische Streit mit Venezuela wegen der Grenze von Britisch Guyana«, sagte Lew Kress. Jimmy hatte keine Ahnung, von was zum Teufel der kleine Wichtigtuer redete. »Richtig!« Shadow schlug mit der Hand auf den Tisch. Mary Beezer stieß einen Schrei aus und streckte die Hand nach seinem Teller aus, der vom Tisch zu hüpfen drohte. Dabei bot sich Jimmy ein ausgiebiger Blick auf ihre üppigen weißen Brüste. Er rieb sein erigiertes Glied unterm Tisch, während Shadow fortfuhr. »Die Engländer reden davon, Kriegsschiffe hinzuschicken. Das ist eine gottverdammte Verletzung unserer heiligen Monroe-Doktrin. Angenommen, es kommt zum Kampfausbruch. Angenommen, wir greifen durch. Schicken die Ledernacken runter! Zeigen endlich mal Flagge! Jagen die Scheißer zum Teufel! Wenn wir das photographieren und die Bilder hier
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zeigen könnten – überall! –, mein Gott, sie würden sich um die Eintrittskarten prügeln!« Erneut schlug er auf den Tisch. »Wir müssen einfach bald mit so etwas auf den Markt kommen. In genau einem Jahr müssen wir ein komplettes Aufnahme- und Projektionssystem einsatzbereit haben. Das ist das große Ziel, Jungs. Das müßt ihr stets im Auge haben. Und jetzt laßt uns essen.« Manchmal mußte Jimmy für den Oberst auch den Dienst im Hinterzimmer übernehmen. An einem Abend, als im Levee mal wieder Gerüchte von einem neuen Feldzug gegen das Laster umgingen und er die Police Gazette durchblätterte, kam ein kleiner Mann mit lockigen roten Haaren, zwischen denen die ersten grauen Strähnen zu sehen waren, verstohlen ins Studio. Der Mann erklärte flüsternd, er habe gehört, im Hinterzimmer gebe es »etwas Besonderes«. Jimmy bemerkte eine starke Ausbuchtung in der Tasche des dunklen, vom vielen Tragen mittlerweile glänzenden schwarzen Anzugs, doch er nahm nicht an, daß es sich um eine Pistole handelte. Eher sah es aus wie ein Buch. Er ließ es darauf ankommen. »Ja, es heißt Ein chinesischer Traum. Eine ganz heiße Sache. Kostet Sie drei Bucks. Und Sie müssen warten, bis die beiden Kerle vor Ihnen fertig sind.« Er deutete auf zwei Männer, die gerade an den Apparaten standen. »Ich warte gern. Vielen Dank, Meister.« Der Mann hatte einen seltsam kehligen Akzent. Wahrscheinlich ein Schotte, dachte Jimmy. Nach ein paar Minuten gingen die beiden Kunden hinaus. Jimmy kassierte das Geld, händigte dem Mann die spezielle Münze aus und führte ihn nach hinten. Der Mann schwitzte heftig. »Viel Vergnügen«, wünschte Jimmy ihm und zog den Vorhang der Kabine zu. Er lehnte sich gegen die Wand und zündete sich eine Zigarette an. Er hörte, wie die Münze in den Schlitz geschoben wurde, wie sie ratternd nach unten rutschte, hörte, wie sich das Laufwerk des Apparates in Gang setzte, hörte die Standbilder durchlaufen … »Der Herr im Himmel bewahre uns!« Jimmy riß den Vorhang auf. Der kleine Mann hielt ein schwarzes Büchlein mit Goldschnitt in der Hand. Er schüttelte das Buch in drohender Gebärde vor dem Luxoskop. »Diese Bilder sind schmutzig. Man hat es mir erzählt, aber ich wollte es nicht glauben!« »Was, zum Teufel, sind Sie? Von der Polizei?« »Ich bin Reverend Gypsy Kinross. Ich bin ins Levee gekommen, um die Sünde und die Scheußlichkeiten mit eigenen Augen zu sehen.« Jimmy hatte den Namen Gypsy Kinross schon mal gehört. Kinross war
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Prediger und organisierte in einer Halle der Stadt irgendeinen Glaubensfeldzug. Aus Wut über die List des Mannes, sich bei ihm Eintritt zu verschaffen, holte Jimmy aus und schlug Kinross nieder. Dann trat er ihm zwischen die Beine. Der Prediger schrie auf. »Jesus schütze mich!« »Ja, ruf nur, denn sonst hilft dir hier niemand!« Jimmy schleifte den Prediger durch die Hintertür hinaus auf die Gasse und schlug weiter auf den Mann ein. Indem er flehend die Hände erhob, um sich zu schützen, versuchte Kinross davonzukriechen. Aber Jimmy war noch nicht fertig mit ihm. Er knöpfte sein Hemd auf und nahm seine Christophorus-Medaille ab, die er an einer besonders langen und besonders stabilen Kette um den Hals trug. Aber nicht zu irgendwelchen religiösen Zwecken. Er warf die Kette über Kinross’ Kopf und schlang sie ihm um den Hals. Dann kreuzte er die Hände und zog ruckartig an den Kettenenden. »Wenn du auch nur ein einziges Wort über diesen Laden und seine Adresse von dir gibst, dann suche ich dich und bring dich um, und wenn ich dich von der Kanzel schleifen muß. Verstanden?« Kinross konnte nur mit einem röchelnden Laut antworten, während er mit fahrigen Händen an der Kette zerrte. »Okay, in Ordnung.« Jimmy beugte sich vor und spuckte Kinross ins Gesicht. Dann stieß er ihn von sich und hatte es nicht eilig, vorher die Kette von dessen Hals zu lösen. Die Kettenglieder hatten sich in Kinross’ Hals gegraben und waren blutbeschmiert. Jimmy wischte die Kette an seiner Hose ab und legte sie sich wieder um den Hals. Er kehrte ins Studio zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Seine Knöchel schmerzten heftig. Stellenweise war die Haut aufgeplatzt. Aber Jimmy fühlte sich wie ein Held. Am Morgen bemerkte Shadow die ramponierten Hände. Und erkundigte sich, was passiert war. »Ein wenig Ärger. Nichts Ernstes.« Die Episode mit Gipsy Kinross gelangte nicht in die Zeitungen. Es kam auch kein Polizist vorbei, um unbequeme Fragen zu stellen. An einem heißen Tag im August lehnte Jimmy an der Registrierkasse und leckte an einem Papierhörnchen, das mit geschabtem Eis mit Limonengeschmack gefüllt war. Lew Kress saß auf einem Hocker und stocherte mit einem Schraubenzieher in einem Getriebegehäuse herum. Er
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trug eine Brille und machte wie immer einen ziemlich jämmerlichen Eindruck. Jimmy leerte sein Eishörnchen und schleuderte dann das zusammengeknüllte Papier in Richtung Abfalleimer. Er traf daneben, machte sich aber nicht die Mühe, das Papier aufzuheben. Es lag dort, und grüne Flüssigkeit sickerte heraus, während Jimmy ein langes Schnappmesser öffnete. Er begann, sich damit die Fingernägel zu reinigen. Auf der Straße hörte er einen Pferdewagen. Er blickte zur Tür und sah einen Lieferwagen mit der Seitenaufschrift ILLINOIS STEAM LAUNDRY COMPANY. Der Fahrer kam herein. Er trug unter der Hose lediglich einen ärmellosen Einteiler. Kein Wunder, die ganze Stadt kochte vor Hitze. »Allmächtiger Gott, sieh mal da.« »Wie geht’s dir?« fragte der Kraut. »Erinnerst du dich noch an mich?« »Klar. Crown.« Jimmy streckte ihm die Hand entgegen. »Daws.« »Ja, ich weiß. Von der Rennbahn.« Lew winkte träge mit dem Schraubenzieher. »Kress.« »Hallo, wie steht’s?« Jimmy dachte, daß er dem Kraut etwas schuldig war, weil dieser ihm unwissentlich geholfen hatte, das Porzellan zu stehlen, und nachher darüber geschwiegen hatte. Das machte ihm den Akzent des Jungen trotzdem nicht sympathischer. Er war schwerfällig und unüberhörbar. »Weshalb fährst du denn einen Wäschereiwagen?« fragte Jimmy. »Ich dachte, du arbeitest für diesen Photographen.« »Nicht ganz. Er ist mein Freund. Er brachte mir die Photographie bei, ehe er seinen Laden schließen und die Stadt verlassen mußte. Darf ich fragen – ist dein Chef da? Der Oberst?« »Er müßte jeden Moment runterkommen. Er will nämlich in die Stadt.« Wie angekündigt erschien Oberst Shadow schon bald, mit Sombrero und Halstuch ausgehfertig herausgeputzt. Mary hatte sich bei ihm untergehakt. Große Rougeflecken zierten ihr Gesicht. Der Kraut versuchte, seinen verschwitzten Einteiler so gut wie möglich zu verbergen, als er sich vorstellte. »Ja, Junge. Ich erinnere mich«, sagte Shadow freundlich. »Ich möchte noch immer ins Filmhandwerk, Sir. Hätten Sie vielleicht eine –?« »Nein, ich fürchte nicht. Zwei Jungen sind alles, was ich mir leisten kann.« Er tippte gegen seinen Sombrero und ging hinaus. Mary folgte ihm und zog eine nach Eau de toilette duftende Wolke hinter sich her, die den Gestank nach Dreck und Schweiß um die Registrierkasse überdeckte. Jimmy balancierte das Messer mit der Spitze auf dem Mittelfinger. »Sorge dafür, daß einer von uns verschwindet, dann nimmt er dich
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vielleicht an.« Lew Kress ließ beinahe das Gehäuse fallen. Er war so weiß wie zu kurz gekochter Fisch. Jimmy fand das höchst amüsant. Er schnippte das Messer in die Luft und verfolgte dann leise vor sich hinsummend, wie es wieder heruntersauste und zitternd in der Theke steckenblieb. Der Kraut lächelte nicht über Jimmys kleinen Scherz. Er nickte nur. »Wir sehen uns wieder, Daws.« »Schön. Bis dann.« Er zog das Messer aus der Theke und reinigte den nächsten Fingernagel. Paul Crowns Schultern glänzten wie von der Sonne beschienenes Glas, als er hinausging. Er wischte sich das Kinn und den Hals mit einem blauen Halstuch ab, dann stieg er auf seinen Wagen und schlug mit den Zügeln auf den Rücken des Pferdes. Der Wagen entfernte sich knarrend. Jimmy griff in sein Hemd und betastete nachdenklich die geweihte Medaille. Fahrer war er, Botenjunge, hm? Kein besonders toller Job. Vielleicht fand man als Fremder nichts Besseres. Aber er wohnte doch in diesem eleganten Haus, warum also mußte er Wäsche durch die Gegend kutschieren? Jimmy kam der Gedanke, daß der Kraut vielleicht gar nicht mehr in dem eleganten Haus wohnte. Vielleicht hatte es zu Hause Streit gegeben. Ganz gleich, was geschehen war, der Kraut schien Jimmy ein ziemlich energischer Zeitgenosse zu sein. Ein Bursche mit Mumm in den Knochen; der ließ sich nicht so leicht herumstoßen. Das war ein beachtliches Lob von jemandem, der grundsätzlich alle Deutschen haßte. Natürlich würde es Jimmy in keiner Weise etwas ausmachen, selbst wenn der Kraut einen Job bei Shadow bekäme – was nicht sehr wahrscheinlich war, Kress würde wahrscheinlich für alle Ewigkeiten dableiben. Falls der Kraut oder irgend jemand anderer Jimmys Autorität anzweifelte oder ihm sonstwie Schwierigkeiten machte, dann würde er tun, was er in einem solchen Fall immer tat. Sich den Betreffenden vorknöpfen und ihm einen schmerzhaften Denkzettel verpassen. So einfach wäre das. Er war schließlich kein Idiot. 63 JOE CROWN Als der Sommer mit seinen langen Tagen und der drückenden Hitze anbrach, schienen die Gespräche mit Ilsa kürzer und kühler zu werden. Sehr oft gab es Streit, selbst wenn ihre Gespräche einträchtig begannen. Dies wurde Joe zum erstenmal klar, als sie allein zusammensaßen, sie mit ihrer Stopfarbeit, er mit Papieren aus der Brauerei. Die Kinder waren bereits zu
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Bett gegangen. »Joe.« »Ja?« »Louise hat heute morgen einen Telephonanruf entgegengenommen.« Verärgert über diese Störung senkte er den Kopf und blickte über seine Brillengläser hinweg. »Ist daran etwas Ungewöhnliches?« »Es war Paul.« Er hörte in verblüfftem Schweigen zu, während sie das Telephongespräch beschrieb. »Er bat darum, daß ich dir nicht von seinem Anruf erzähle. Louise sagte, er sei sehr höflich gewesen, aber sie habe den Zorn in seiner Stimme hören können.« »Dann hätte er nicht –« »Joe, bitte. Ich mache mir furchtbare Sorgen um ihn, um beide Jungen. Du wunderst dich, daß Paul wütend ist? Du hast ihn verstoßen wie einen Untertanen, der es wagt, seinem König zu widersprechen.« Er schleuderte seine Papiere zu Boden. »Dieser Vergleich ist lächerlich. Eines wollen wir doch mal klarstellen. Ich wünsche dem Jungen nichts Schlechtes, keine Krankheit, nichts dergleichen. Aber ich gab ihm alles, was ich ihm geben konnte, und wie hat er sich dafür revanchiert? Er hat Joes Flucht aus diesem Haus unterstützt. Dafür soll ich ihm dankbar sein? Ihm verzeihen? Es tut mir leid, das kann ich nicht.« Er erhob sich, ging dann in die Knie, um seine Papiere aufzusammeln. »Wenn du mich entschuldigen würdest, ich glaube, ich mache lieber in meinem Arbeitszimmer weiter.« Sie schwieg und konzentrierte sich wieder auf ihre Stopfarbeit. Er ging mit hochrotem Kopf hinaus. Dabei schloß er die Tür ganz bewußt mit einem lauten Knall. Sie lagen im Bett, ohne einander zu berühren. Es war zwei Wochen später. Alle Fenster waren hochgeschoben. Auch diesmal regte sich kein Lüftchen. Die stickige Hitze des Sommers hatte Chicago fest im Griff. »Bist du wach?« fragte Ilsa. »Ja.« »Du hast mir noch nicht von dem heutigen Bericht der Detektive erzählt.« »Das übliche. Nichts.« »O mein Gott. Ich mach’ mir solche Sorgen. Kein Brief, nicht einmal eine Postkarte, seit er fort ist. Ihm könnte etwas zugestoßen sein. Vielleicht ist er sogar –« Sie konnte den Satz nicht beenden.
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»Ilsa, in einer Hinsicht kann ich dich wirklich beruhigen. Was immer unser Sohn sein mag, er ist auf jeden Fall ein kräftiger, intelligenter junger Mann. Ich verurteile seine politischen Vorstellungen und auch, daß er sich so leicht von jemand wie Benno hat beeinflussen lassen. Aber ich werde niemals den guten Charakter leugnen, den du Joe in seiner frühen Jugend bereits anerzogen hast. Wenn er sich nicht meldet, dann nur, weil er es so will, und nicht, weil ihm irgendwas passiert ist.« »Verschwenden wir denn dann unser Geld nicht völlig umsonst an die Detektive?« »Ja, ich glaube, das tun wir. Es ist schrecklich teuer, sie Woche für Woche nach ihm suchen zu lassen. Aber ich werde sie weitermachen lassen, so lange du es wünschst, obgleich ich wenig Hoffnung auf Erfolg habe.« »Dann laß den Auftrag für einige Zeit ruhen. Ich denke, wir können sie später immer wieder engagieren.« »Wann wir wollen.« »In Ordnung. Laß sie aufhören.« Er griff nach ihrer Hand, vorsichtig, scheu, wie ein junger Bräutigam. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen, suchte mit der anderen Hand sein Gesicht, küßte ihn. Es war ein kurzer Augenblick der Ruhe, des Friedens in der Phase zunehmender Spannung zwischen ihnen. Er hoffte, daß diese Stimmung andauerte. Aber drei Tage später – die Temperatur betrug sogar um elf Uhr abends noch immer an die fünfundzwanzig Grad – klingelte im Parterre das Telephon. Joe Crown kniete auf der Straße. Zahlreiche Leute aus der Nachbarschaft umringten ihn. Jemand hatte die schluchzende Witwe weggeführt. Sein Landauer mit heruntergeklapptem Verdeck stand an einer Haltestange in der Nähe, wo das Pferd angebunden war. Er war nach dem Anruf quer durch die Stadt in die North-Halsted-Straße gejagt. Er trug noch immer seine Pantoffeln, und das Nachthemd hatte er flüchtig in die Hose mit den Hosenträgern gestopft. Er kam sich vor, als trüge er drei Pelzmäntel übereinander. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. In seinem Mund lag ein stechender, saurer Geschmack, als er den kleinen, unscheinbaren Mann betrachtete, der auf den Holzbohlen des Gehsteigs vor ihm lag. Sein Kopf stand in einem grotesken Winkel zu seinem Körper ab. Schwärzliches Blut und Gehirnmasse hatten sich unter seinem Kopf vermischt und waren geronnen. Fliegen umsummten aufgeregt die Blutpfütze. Elegant in seinem weißen Sommeranzug, stand Dolph Hix hinter seinem Arbeitgeber, einen bitteren Ausdruck im Gesicht.
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»Sie konnten überhaupt nichts tun, Mr. Crown, es war ein Unfall«, sagte der Streifenpolizist, der herübergekommen war, nachdem ein Junge aus der Nachbarschaft ins Polizeirevier gestürmt war und gemeldet hatte, daß ein Mann von einem Dach gefallen war. Joe stand langsam auf. Seine Gelenke schmerzten, und sein Magen war wie ein harter Kloß. »Ich bezahle die Beerdigung und das Grab auf dem Friedhof. Alles nur vom Feinsten. Jemand soll das der Frau bestellen.« »Das tue ich«, versprach Dolph Hix. »Sofern sie überhaupt mit mir redet.« Joe ging hinüber zu dem Mietshaus und setzte sich auf die Eingangstreppe. Er preßte die Handflächen gegen die Schläfen. Dolph Hix hatte gerade in einem Saloon zwei Straßen weiter nördlich eine Werbeaktion veranstaltet. Er hatte freigebig Crown-Bier spendiert, weil der Saloon gut geführt wurde und eine umfangreiche Stammkundschaft hatte. Der Inhaber bezog sein Bier zur Zeit von drei verschiedenen Brauereien, aber Joe hätte den Saloon gerne exklusiv beliefert und vertraglich an Crown gebunden. Der Mann, der dort auf dem Gehsteig unter einer mottenzerfressenen Decke lag, die jemand über ihn gebreitet hatte, hatte offenbar ein Bier zu viel genossen, war nach Hause zu seiner Wohnung gewankt, war dann wegen der Hitze aufs Dach hinaufgestiegen, um frische Luft zu schnappen, und dabei irgendwie abgestürzt. Dolph Hix ging zu seinem Chef hinüber. »Ich habe nicht gesehen, wie er den Laden verließ, Joe. Es gibt Zeugen, die sagen, er sei völlig blau gewesen.« Dolph Hix benutzte jenen seltsamen deutschen Ausdruck für »betrunken«. Er kannte ihn aus der Brauerei. Gemeint war damit ein Zustand, in dem der Betreffende kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. »Also schwankte er schon vorher«, sagte Joe. Erleichtert war er dadurch nicht. »Ja, seine Frau hätte ihn davon abhalten sollen, aufs Dach zu steigen. Hoffentlich machen Sie nicht mich dafür verantwortlich –« Joe brachte seinen Chefverkäufer mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Nein, Dolph, Sie haben nur Ihre Arbeit getan.« Aber er kannte jemanden, der ihm die Schuld daran geben würde. »Ich kann nichts dafür!« brüllte Joe zwei Stunden später in der Küche. Ilsa hatte auf ihn gewartet. Sie hatte eine Kanne Kaffee zubereitet, weil er sagte, er könne nicht schlafen. Ihr Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr auf die Schultern des schweren Morgenmantels herabhing. Er hatte erklärt, was passiert war, und erwähnt, er wolle der Witwe eine
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Art Schadenersatz zahlen – das Paar hatte schließlich fünf Kinder –, aber Ilsa wurde dadurch nicht besänftigt. Die Tragödie weckte in ihr einen Zorn, den er selten bei ihr erlebt hatte. Sie stritten sich bereits seit einer Viertelstunde. »Du kannst dich nicht aus deiner Verantwortung herausstehlen, Joe. Dein Angestellter, Dolph Hix, hat jedem Bier spendiert. Soviel hast du selbst zugegeben.« Ilsa sah müde und alt aus, und ohne Vorwarnung brach sie plötzlich in Tränen aus. »Dieser arme Mann. Genauso wie mein Papa. Umgebracht von diesem verdammten Zeug!« Verdammtes Zeug, so nannte sie sein Bier. »Ilsa«, sagte er in warnendem Ton. »Du bist schuld, Joe Crown. Gott möge dir vergeben – dir und deinem schändlichen Gewerbe, das die Menschen zerstört.« Sie rannte hinaus. Er stand am ganzen Körper zitternd da mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Unvermittelt wirbelte er herum und schleuderte die Tasse mitsamt Inhalt gegen die Wand. Dabei verfehlte er um wenige Zentimeter Ilsas Schild mit dem Sprichwort über einen zufriedenen Haushalt. Kaffee lief an der Wand herab. Steingutscherben waren auf dem Fußboden verstreut, lagen auf dem Herd, sogar auf dem Hauklotz für das Fleisch. Zum Teufel damit, dachte er, Louise kann das morgen saubermachen. Er schlief in dieser Nacht auf einem der Sofas im Parterre. Er bezahlte ein anständiges Begräbnis für den Mann und eine gute Grabstätte. Er schrieb einen Beileidsbrief, der nie beantwortet wurde. Weil der Unfall Ilsa derart schwer getroffen hatte, gab er Dolph Hix und seinen beiden Assistenten andere Jobs, in denen sie ebenfalls für die Brauerei unterwegs waren, sich aber um die im Land verteilten Filialen kümmern sollten. Er strich ihnen die Spesen, die sie immer mitnahmen, um in Saloons Freibier zu spendieren. Nach einer zehntägigen Rundreise schloß Dolph Joes Bürotür hinter sich, ließ sich in den Besuchersessel sinken und erzählte, daß Bo Stone, einer der Verkaufsassistenten, kündigen wolle. Dann fuhr er fort, auch er selbst habe schon daran gedacht, aber er sei schließlich loyal. »Loyal und unzufrieden. Eine ganz schlimme Kombination, Joe.« Zu Hause redete Ilsa nicht mehr über den Unfall. Sie entschuldigte sich auch nicht für das, was sie in der Küche gesagt hatte. Indem sie sich zu jedem anderen Thema bereitwillig äußerte, beteiligte sie sich weiterhin an den Haushaltstätigkeiten und Familiengesprächen ohne sichtbare Veränderungen in ihrem Verhalten. Aber als Joe ihr von Dolphs neuen Aufgaben erzählen wollte, bestand ihre Reaktion aus eisigem Schweigen.
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Nach ein paar Wochen gab er Dolph Hix und dem noch verbliebenen Assistenten ihre früheren Positionen zurück. Er stellte ihnen wieder höhere Spesen zur Verfügung und engagierte schließlich zwei neue Leute als Verkaufsassistenten. Davon erzählte er Ilsa nichts. Noch nie zuvor hatte er ihr irgendwelche Neuigkeiten aus der Brauerei vorenthalten, aber er entschied, daß es diesmal absolut notwendig sei. 64 JOE JUNIOR Er arbeitete sich langsam nach Westen vor. Er wollte den Pazifischen Ozean sehen. Niemand war da, der ihm sagte, welchen Weg er einzuschlagen habe, niemand gab ihm Befehle außer während der kurzen Zeitspannen, in denen er irgendwelche Arbeiten übernahm, um Geld zu verdienen. Er betätigte sich als Zimmermann, hob Entwässerungsgräben aus und zog über die herbstlichen Äcker und Felder von Illinois. Im Winter ‘94 / ‘95 schaufelte er mit einem Arbeitertrupp Schnee in den Straßen von St. Louis. Er war eigentlich immer recht stark gewesen, aber er war kleiner, zierlicher als viele Gleichaltrige, daher sah er sich genötigt, doppelt so fleißig zu arbeiten, um seinen Wert zu beweisen. Als sein neunzehnter Geburtstag im April 1895 heranrückte, erkannte er, daß er kaum mehr wachsen würde. Manchmal nannten die Leute ihn spaßeshalber einen Knirps. Um seine geringe Körpergröße zu kompensieren, ließ er sich wieder einen Bart wachsen. Diesmal sprossen Kinn- und Schnurrbart etwas üppiger. Schon bald reichte ihm der Bart bis auf die Brust. Von der vielen Zeit, die er unter freiem Himmel verbrachte, war seine Haut dunkler geworden. Seine Hände waren kräftig und an einigen Stellen vernarbt nach kleinen Unfällen mit einer Axt oder von Faustkämpfen, wenn jemand ihn geringschätzig und beleidigend als Knirps tituliert hatte. Bei einem solchen Streit in einer Schreinerei hatte sein Gegner ein Vierkantholz gepackt und ihm damit ins Gesicht geschlagen. Aus seiner gebrochenen Nase sprudelte das Blut, und sie verheilte mit einem kleinen Höcker in der Mitte. Die lange Arbeitszeit und die Schmerzen heftig beanspruchter Muskeln machten ihm nichts aus; die Erschöpfung half ihm beim Einschlafen. Und sie half ihm, die Erinnerungen an seine Familie, an Rosie und Benno auszulöschen. Er dachte sehr oft über Bennos Tod nach. Er entschied, daß er dumm und vergeblich gewesen war. Was den Kampf für die Arbeiter betraf, so hatte sein Elan nicht nachgelassen. Im Gegenteil. Jetzt war er
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wirklich einer von ihnen. Ihr Anliegen war nun auch das seine, obgleich sein Vater alles darangesetzt hatte, daß er sich deshalb vorkam wie ein Paria. Er glaubte immer noch, daß Arbeitsniederlegungen eine gute Waffe waren. Auch Streiks. Aber Bomben? Töricht. Besonders nachts fehlte ihm sein Zuhause am meisten. Er vermißte seinen Bruder, seine Schwester und Paul, vor allem aber seine Mutter. Sie würde sich schreckliche Sorgen um ihn machen. Manchmal entwickelte er deswegen bohrende Schuldgefühle. Was seinen Vater betraf, so waren seine Empfindungen zwiespältig. Er empfand großen Zorn auf Joe Crown. Aber seltsamerweise fühlte er sich ihm inzwischen wieder sehr nahe. Damit hatte er niemals gerechnet. Aber er, der Sohn, war jetzt unabhängig. Er folgte seinem eigenen Plan und nicht dem eines anderen. Sein Vater hatte das als junger Mann ebenfalls getan und später nicht begriffen, daß sein Sohn das gleiche tun mußte. Er zog nach Westen durch Missouri und nach Kansas City, während der Schnee schmolz, der Untergrund aufweichte und die Sonne jeden Tag länger am Himmel stand und allmählich wärmte. Er verdiente genug, um zurechtzukommen, und wenn er einmal ein paar Dollars zusammenhatte, bedankte er sich bei seinem jeweiligen Boß und setzte seinen Weg nach Westen fort. Er lebte nicht im Luxus, aber er mußte auch nicht hungern. Gelegentlich leistete er sich sogar an einem Samstag die Gesellschaft einer Frau. Ein paar Sekunden hitziger Leidenschaft, dann ein flüchtiges Abschiedsnicken und danach kein Gedanke mehr an das Erlebte. Es gab keine Rosies, an die man sich mit einem Gefühl des Verlustes und der Trauer erinnern konnte. In Kansas City waren Jobs sehr rar. Zwei Wochen lang arbeitete er als Sandwich-Mann und trug Reklametafeln durch die Straßen. Eines Tages gelangte er zu einem Sportplatz, auf dem Negermannschaften gegeneinander spielten. Für die Dauer von zwei Runden lehnte er am niedrigen Holzzaun und war das einzige weiße Gesicht ringsum. Er erfreute sich am Knallen des Schlägers und am Beifall der Farbigen auf den Tribünen. Er sog den Duft des Grases in sich ein, betrachtete sehnsüchtig die Staubwolken an den Bases. Er erinnerte sich an die Spiele der White Stockings, die er zusammen mit seinem Vater besucht hatte. Es machte ihn schwermütig. Er erinnerte sich auch an ein Gespräch über Sandwich-Männer. Pa hatte sie den »Bodensatz der Straße«, den »Abschaum« genannt, und nun war er einer von ihnen. Er mußte lachen. Als die Sonne unterging und er die Schilder ins Café zurückbrachte, erkundigte der Inhaber sich wie üblich nach der Route, der er an diesem
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Tag gefolgt war. Der Inhaber war ein Ire, der zwanzig Jahre zuvor aus dem County Wicklow ausgewandert war. Er hatte voller Bitterkeit von den Schildern erzählt, die ihn in Amerika begrüßt hatten. Iren unerwünscht. Joe junior erwähnte, daß er einige Minuten lang am Baseballfeld der Farbigen stehengeblieben war und das Spiel verfolgt hatte. »Und das in der Zeit, für die ich dich bezahle? Du dämlicher Scheißkerl, wir bedienen keine Neger. Wir lassen sie noch nicht mal ins Haus! Du bist gefeuert!« Er hörte, daß es in Kansas Arbeit gäbe, daher überquerte er den Missouri auf einer Drei-Cents-Fähre. Ein Farmer ließ ihn mehrere Tage lang Stacheldrahtzäune ziehen. Der Stacheldraht habe die gesamte Landwirtschaft im Westen verändert, erzählte der Farmer. Ehe der Stacheldraht in den achtziger Jahren aufkam, hatten Siedler, die Getreidefelder und Viehweiden anlegten, nur niedrige Hecken aus Osage-Orangen oder Holzzäune gehabt, die schnell verfaulten oder umkippten, um umherstreunendes Vieh von ihrem Grund fernzuhalten. Dem hatte der Stacheldraht wohl ein für allemal abgeholfen. Der Farmer erzählte außerdem, daß das Land in Kansas zwischen den Grenzen von Missouri und Colorado fast dreizehnhundert Meter anstieg. Das war für Joe junior eine besonders aufregende Information. Auch wenn er nur eine Meile weiterzog, kam er doch den Bergen merklich näher. Sie waren das einzige bedeutende geographische Hindernis zwischen ihm und dem legendären Sonnenschein Kaliforniens und der Pazifikküste. Auf dem Weg nach Westen durchquerte er Wälder aus Eichen und Hickorys, und zog über eine weite Ebene, die unsichtbar unter seinen Füßen anstieg. In den kleinen Städten sah er die ersten Indianer. Kaw, manchmal auch Kansa genannt, und Osage und Pawnee, die ganz normale Farmerkleidung trugen und ausgesprochen friedlich wirkten. Niemand in Kansas hatte noch Angst vor den wilden umherziehenden Komantschen, sie waren endgültig besiegt. Die Indianer lebten in festen Dörfern. Sie jagten und betrieben Ackerbau. Sie hatten wundervolle, tiefgefurchte braune Gesichter, und er wußte, daß Vetter Paul sie sicherlich voller Interesse betrachtet hätte. Die Bartgras-Prärie (»Früher«, so erzählte ihm jemand, »wuchs das Bartgras hier mannshoch – manchmal reichte es sogar einem Durchreitenden bis an die Schultern.«) machte einer etwas kargeren Landschaft mit niedrigem Büffelgras und vom Wetter verkrüppelten Pappeln Platz, die an den Ufern von Bächen, die kaum diese Bezeichnung verdienten, ihr kümmerliches Dasein fristeten.
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Dann kam Abilene im Dickinson County an der Eisenbahnstrecke, die den Osten und den Westen miteinander verband. Abilene war früher eine blühende Stadt gewesen, als dort noch die langen texanischen Viehtriebe endeten. Nun war es ein verblichener, staubiger kleiner Ort mit ein paar heruntergekommenen Hotels und Saloons in einem Viertel namens Devil’s Addition – Ansiedlung des Teufels –, das früher mal ein Paradies für Glücksritter und Revolverhelden gewesen war. Ein paar echte Cowboys waren noch geblieben, aber sie waren alte Männer. Er unterhielt sich mit einem, der in einem Schaukelstuhl auf der Veranda des baufälligen Drover’s Hotel in der Texas-Straße, südlich der Bahngleise saß. Der alte Cowboy trug eine Lederweste und altmodische Überziehhosen aus Leder über geflickten Jeans. Sein Hemdkragen war schwarz von Schmutz. Es mußte mindestens ein Jahr her sein, seit er sich das letzte Mal die langen, verfilzten grauen Haare hatte schneiden lassen. Er hatte außerdem billige, gelbe falsche Zähne, von denen er seinen Spitznamen hatte: Ivory, Elfenbein. Und er wußte unzählige spannende Geschichten zu erzählen, Geschichten von Viehherden, die in der Nacht ausbrachen, und von Komantschenüberfällen sowie von wunderschönen jungen Huren, die in der guten alten Zeit die Texas-Straße hinauf- und hinunterflaniert waren und einen Mann mit jeder erdenklichen Sexvariante der Hölle näher gebracht hatten. Joe junior hörte ihm einen ganzen Nachmittag lang zu. Als er sich erhob, um zu gehen, erwähnte er, daß er Arbeit suche. »Dort entlang.« Ivory deutete mit dem Daumen nach Westen. »Bei der Winterweizenernte. Dort werden jede Menge kräftige junge Männer gebraucht.« Joe junior bedankte sich bei ihm. Während er sich zum Gehen wandte, fielen dem alten Cowboy die Augen schon wieder zu. Nachdem er Abilene hinter sich gelassen hatte, gelangte er ins Weizenland. Der harte rote Winterweizen keimte im Frühling und wurde in den warmen Monaten von schwitzenden Männern geerntet, die neben ihren riesigen Erntemaschinen winzig klein aussahen. Die Maschinen, Ährenköpfmaschinen genannt, fuhren langsam durch die reifen Felder. Der rotierende Trommelmechanismus der Maschine schob das Getreide gegen eine sichelartige Mähklinge. Die abgeschnittenen Ähren fielen auf einen ebenen Sammelteller, dann wanderten sie zur Seite und auf einem Förderband nach oben. Die Halme fielen seitlich heraus auf einen Lastwagen, dessen Fahrer in gleichem Tempo neben der Mähmaschine herfuhr. Die Ährenköpfmaschine war ein riesiges, schwerfälliges Ungetüm und so schwer, daß sie von hinten mit einem Gespann, das an einen
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Spurbalken gekettet war, geschoben werden mußte. Aber der Wagen konnte direkt zum Dreschplatz fahren. Es waren keine weiteren Männer nötig, um den Weizen aufzusammeln und zum späteren Transport büschelweise aufzustellen, wie es bei älteren Maschinen notwendig war. Joe juniors erste Arbeit in einer Erntemannschaft bestand im Lenken des Maultiergespanns hinter einer Ährenköpfmaschine. Sein Boß war ein Weizenfarmer namens Edgar Jeter. Er hatte kein einziges Schlafhaus oder sonstiges Gebäude für die umfangreiche Mannschaft, die seine vier ratternden Ährenköpfmaschinen bediente. Die Verpflegung, die Jeters Frau zubereitete, war nahezu ungenießbar. Nach zwei Tagen sprach Joe mit Jeter, als er ihn nach Sonnenuntergang bei seinen Hühnerställen traf. »Wir brauchen fließendes Wasser. Sie haben doch einen Brunnen –« »Der Brunnen ist für die Familie. Geht zum Bach runter.« »Aber der ist eine Meile weit weg, Mr. Jeter.« »Na und? Ihr habt doch gesunde Beine. Lauft hin!« »Wir haben noch nicht mal eine Toilette.« »Dann erledigt das, wenn ihr unten am Bach seid.« »Mr. Jeter, es ist ja möglich, daß die anderen Leute Ihrer Mannschaft sich mit diesen Bedingungen abfinden. Aber ich habe einige Erfahrung mit Arbeiterorganisationen.« »Was bist du denn, ein Roter? Halt die Klappe, oder du bekommst keinen Lohn.« »Nein, ich halte nicht die Klappe. Sie haben schließlich auch eine Verantwortung. Und die Pflicht, den Männern anständige und –« Die mächtige Faust kam aus dem letzten Sonnenlicht des Tages angeflogen. Joe junior landete im Staub. Jeter stand über ihm und warf einen bedrohlichen schwarzen Schatten auf ihn. »Sieh ja zu, daß du schnellstens von meinem Land verschwindest, ehe ich dir sämtliche Knochen breche. Ich dulde es nicht, daß ein gottverdammter roter Sozialist für mich arbeitet.« Joe packte mitten auf dem Stoppelfeld, wo der Arbeitertrupp campieren durfte, sein Bündel mit seinen Habseligkeiten zusammen und wanderte im Sternenschein weiter nach Westen. Er fand auf anderen Farmen Arbeit. Sie lagen in der Umgebung kleiner Städte mit geradezu musikalisch klingenden Namen. Mentor, Groveland, Redwing, Pretty Prairie. Die Erntezeit war auf ihrem Höhepunkt, Hunderte von Arbeitertrupps zogen über die Felder. Er stieß zu einer Gruppe, die für einen der mennonitischen Farmer im
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Ellsworth County namens Bruno Cherry arbeitete. Mr. Cherry war Ende Vierzig. Er war 1873 aus der Ukraine nach Amerika gekommen, als er gerade drei Monate verheiratet war. Sein ursprünglicher Nachname lautete Tschermotschew. Cherry war ein fesselnder, redseliger Mann. Er sprach ein hervorragendes, beinahe biblisches Englisch mit kaum einem Anflug von Akzent. Sein Bart war genauso lang wie der von Joe junior und hatte fast die gleiche Farbe, allerdings war er stellenweise bereits ergraut. Ganz ohne Vorwarnung richtete sich sein linkes Auge schon mal nach innen, als wolle es für eine Weile die Nase betrachten. Cherry war ein strenger Boß, aber ehrlich und besonnen. Er hatte ein stabiles Schlafhaus für die Wanderarbeiter gebaut, die zweimal im Jahr auf seiner zweitausend Morgen großen Farm die Hauptarbeit verrichteten. Die Verpflegung war reichlich und schmackhaft. »Ursprünglich stammen wir aus Norddeutschland«, erzählte Cherry. Er unterhielt sich mit Joe und einigen anderen während der Pausen auf dem Feld, wenn Mrs. Cherry mit dem Wasserwagen zu den großen Ährenköpfmaschinen hinausfuhr. Es gab keinen Vorarbeiter, durch den derartige Vertraulichkeiten verhindert worden wären. Cherry gab seinen Arbeitern persönlich die Anweisungen. »Viele preußische Mennoniten gingen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in die Ukraine. Mennoniten suchen und finden stets das fruchtbarste Land«, sagte er lächelnd. »In der Ukraine gründete unsere Sekte große und erfolgreiche landwirtschaftliche Kolonien. Dann, vor zweiundzwanzig Jahren – 1873 –, erließ der Zar ein Dekret. Alle entsprechend geeigneten Männer mußten in die Armee eintreten. Mennoniten kämpfen aber nicht in Kriegen. Wir betrachten das menschliche Leben als heilig und unantastbar. Hunderte von jungen Männern verließen das Land. Ich war einer von ihnen.« Joe junior mochte Cherry gern, genauso wie er Cherrys stämmige Frau und seine drei Töchter, alle drei im heiratsfähigen Alter, gern hatte. Keine hatte bisher den richtigen Freier gefunden; Mennoniten durften nicht außerhalb ihrer Religion heiraten. Sie waren sehr einfache Menschen. Die Kleidung war schlicht, wenn nicht gar derb. Ihre quadratischen zweistöckigen Häuser besaßen keinerlei Verzierungen bis auf Blitzableiter und einen eisernen Wetterhahn. Das Äußere war in einem eintönigen Grau gehalten, das lediglich durch weiße Fensterläden aufgelockert wurde. Im Innern lieferten zahlreiche Petroleumlampen eine ausreichende, warme Beleuchtung. Nachts erstrahlte das Haus wie ein goldener Weihnachtsbaum. Joe konnte sich nicht vorstellen, daß elektrische Leitungen einmal so weit in
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die Wildnis vordringen würden. Cherry und seine mennonitischen Freunde bebauten ihr Land in einer Art und Weise, die für die meisten ihrer Nachbarn völlig neu war; sie ließen Teile ihrer Äcker jedes zweite Jahr brachliegen. Diese brachliegenden Felder nahmen eine ganze Saison lang den sparsamen Kansas-Regen auf und speicherten ihn für das darauffolgende Jahr, erklärte Cherry. Zur Überraschung vieler, aber nicht der Mennoniten, war die Ernte im zweiten Jahr immer ausgesprochen üppig. Bruno Cherry erkannte, daß Joe junior nicht so war wie die meisten Erntearbeiter. Diese waren entweder Analphabeten, die in ihrem Leben nichts anderes kennengelernt hatten als harte Farmarbeit, oder es waren hochnäsige Collegestudenten, die den Sommer damit verbrachten, Geld zu verdienen. Die Familie lud Joe mehr als einmal zum Essen in ihr Haus ein. Mr. Cherry unterhielt sich sehr gerne über seine neue Existenz und deren Vorgeschichte. »Kurz nachdem ich hierherkam, hatten wir zehn Jahre lang wunderbaren und ausreichenden Regen. Die Leute aus dem Osten drängten sich, um Land zu kaufen. Dann schlug der schlimme Blizzard von 1887 zu. Das Leid, die Entbehrung – unbeschreiblich! Nach der Schneeschmelze folgten Jahre der Trockenheit. Die Menschen sahen hier keine Zukunft mehr. Zweihundert-, dreihunderttausend verließen den Staat. Ich sah viele Wagen in den Osten zurückkehren, auf deren Seitenflächen der Slogan aufgemalt war: Trotz Gottvertrauen aus Kansas abgehauen.« Zwei der Töchter Cherrys kicherten laut und nutzten diese Gelegenheit, um Joe bewundernde Blicke zuzuwerfen. Cherry sorgte sich um das Wohlergehen der Familien, die gerade das Land bestellten. »Wir müssen unsere Zukunft selbst abschätzen und gestalten, die Reichen im Osten werden uns kaum dabei helfen. Deshalb hat Kansas die neue politische Partei hervorgebracht.« Während er der ältesten Tochter über den Tisch hinweg zunickte, sagte Joe: »Wie soll das denn funktionieren? Miss Rebekah erzählte mir, die Mennoniten würden keinem Staat die Treue schwören, sondern nur Gott.« Rebekah errötete. Ihre Schwester erdolchten sie fast mit eifersüchtigen Blicken. »Das ist richtig«, sagte Cherry. »Demnach beschäftigen Sie sich nicht mit Politik –« »In meinem Fall stimmt das nicht. Das ist auch der Grund, weshalb ich von einigen meiner Glaubensbrüder abgelehnt werde. Sie nennen mich einen verdammten Häretiker.« Mrs. Cherry schlug die Augen nieder. »Sie meinen verdammt dabei im wortwörtlichsten Sinn, verstehst du? Ich kann
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nichts dafür. Ein Mensch entwickelt und ändert sich, wie es die Umstände erfordern. Ein Mensch folgt der Stimme Gottes, die er in sich hört. Ich bin überzeugt, daß das auf den ersten Führer unserer Sekte, Vater Menno, zutraf. Er lehnte sich gegen die römische Kirche auf, die ihn in sein Amt eingesetzt hatte. Er wandte sich völlig von ihr ab, aus Gründen der Lehre – ein verdammter Häretiker, wie er im Buche steht«, sagte er lachend. »Überdies waren die Christen, auf die unsere Sekte zurückgeht, gar nicht so weltfremd. Im Gegenteil, sie waren leidenschaftliche Reformatoren. Sie wehrten sich gegen jede Unterdrückung. Kämpften gegen jeden Mißstand in der Welt des Handels und in der Gesellschaft allgemein. Indem ich diesem Beispiel folgte, habe ich den engen Pfad verlassen und mich dieser neuen Bewegung angeschlossen. Sie entstand im Grange bei den Patrons of Husbandry, den Förderern der Landwirtschaft. Kennst du sie?« »Nein, Sir.« »Das ist eine Kooperative von mehreren Farmern, die versuchen, gemeinsame Probleme vereint zu lösen. Wir beschäftigen uns mit den Schriften gesellschaftlicher Denker, gesellschaftlicher Moralisten. Mit Edward Bellamy. Mit Georges Progress and Poverty.« »Ich habe Henry George gelesen!« »Wunderbar. Aber befürwortest du, was er sagt? Glaubst du ebenfalls, daß der Reichtum einzig und allein denen gehören soll, die ihn schaffen, aber niemals jemandem, der sein Land an andere verpachtet und von deren Schweiß und Mühsal profitiert?« »Ja, das glaube ich«, sagte Joe junior voller Inbrunst. Da war endlich jemand, der seine Ideen genauso überzeugt vertrat wie Eugene Debs oder Benno Strauss in seinen weniger gewalttätigen Momenten. Cherry lehnte sich zurück. »Woher kommst du, Joseph? Du erzählst uns nichts von dir.« »Nein, Sir, da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Mrs. Cherry, würden Sie mir mal bitte die Brötchen reichen?« Das Abendessen war beendet. Mrs. Cherry und die Töchter spülten schweigend das Geschirr in einem Wasserbecken, trockneten es ab und warfen weitere neugierige Blicke auf den jungen Besucher. Dieser hörte aufmerksam zu, wie Bruno Cherry erklärte, daß aus der Grange die Kansas People’s Party entstanden und fünf Jahre zuvor in Topeka gegründet worden war. Sehr bald wurde sie in Populist Party umbenannt. Sie breitete sich aus wie ein Buschfeuer während der Trockenzeit. Die Populisten hatten zuerst Kandidaten für die Wahl der Stadträte, dann fürs staatliche Abgeordnetenhaus aufgestellt. Nun dachten sie bereits in nationalen
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Kategorien. »Unsere Forderungen sind ganz einfach und durchaus fair«, sagte Cherry. Sein Auge schielte, während er die einzelnen Punkte an den Fingern aufzählte. »Den achtstündigen Arbeitstag in ganz Amerika. Bei Wahlen die australische Art der Abstimmung, welche geheim ist. Eine Einkommenssteuer, nach der jeder seinem Verdienst entsprechend zur Kasse gebeten wird – die Reichen stärker, die Armen geringer. Wir wollen die gleichen Rechte für Frauen. Wir wollen, daß die Regierung den habgierigen Geldhaien aus dem Osten die Kontrolle über die Eisenbahn, das Telegraphenwesen und die Telephongesellschaften entzieht. Aber vor allem fordern wir den freien Silberverkehr zu einem Kurs von sechzehn zu eins.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist einfacher gesagt als getan. Wir stehen in einem schweren und verbissenen Kampf. Die Zeitungen im Osten bezeichnen uns als tollwütige Hunde. In einigen Gegenden werden unsere Kandidaten verhöhnt. Jerry Simpson, früher Matrose auf den Großen Seen, war 1892 Kandidat für die Kongreßwahlen. Sein republikanischer Gegner lachte ihn aus und erzählte, er sei so arm, daß er sich noch nicht einmal Strümpfe leisten könne. Genau, erwiderte Jerry Simpson, das sei ein Grund, weshalb er sich um einen Platz im Kongreß bewerbe. Jerry Simpson kam ohne Strümpfe nach Washington. Und ohne Strümpfe wurde er im vergangenen Jahr wiedergewählt.« »Haben Sie vor, irgendwen für die Präsidentenwahl aufzustellen?« »In der nächsten Wahl würden wir gerne Mr. William Jennings Bryan nominieren. Er nimmt in bezug auf den freien Silberverkehr und andere Angelegenheiten den gleichen Standpunkt ein wie wir.« Cherrys Auge blickte wieder geradeaus. »Jetzt weißt du, was wir in Kansas treiben, wenn wir uns nicht das Kreuz dabei brechen, unseren Lebensunterhalt zu verdienen.« »Ich würde gerne mehr darüber hören, Mr. Cherry.« »Tatsächlich? Das ist ja prima. Am Samstag nehmen wir dich mit zur Countyverwaltung. Dann wirst du eine Rede von einer unserer Besten hören, Mrs. Mary Lease. ›Die redenschwingende Lady aus dem Osten‹. Einige nennen sie sogar ›Die schreiende Mary‹.« Er lachte polternd. »Schreiende Mary. Das paßt genau. Du wirst schon sehen.« Fackeln loderten auf dem Rathausplatz von Ellsworth. Joe junior war umringt von Männern und Frauen mit hageren, abgespannten Gesichtern, Gesichtern, die nach Ehrlichkeit hungerten, die sich nach Gerechtigkeit sehnten und endlich die Botschaft hören wollten. Von der Ladefläche eines Lastwagens aus verkündete Mrs. Mary Lease sie. Sie war eine
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gutaussehende Frau mit einer weithin hörbaren Altstimme. »Wir haben es nicht mehr mit einer Herrschaft von Menschen, durch Menschen, für Menschen zu tun, sondern mit einer Herrschaft von Wall Street, durch Wall Street und für Wall Street. Die große Masse der Menschen dieses Landes besteht aus Sklaven, und unterdrückt werden sie durch Monopole.« Die schreiende Mary war die Frau eines Apothekers in Wichita und vierfache Mutter. Das hatte Joe während der Fahrt in die Stadt erfahren. »Und sie ist außerdem Rechtsanwältin.« Cherry erzählte das voller Stolz, als sei sie eine besonders berühmte und erfolgreiche Sportlerin. »Unsere Gesetze sind die Produkte eines Systems, das Schurken in Roben und Talare hüllt und ehrliche Menschen in Lumpen herumlaufen läßt. Vor zwei Jahren sagte man uns, wir sollten an die Arbeit gehen, sollten reiche Ernte einfahren. Wir haben gearbeitet. Wir haben gepflügt und gesät. Es regnete, die Sonne schien, die Natur war uns freundlich gesonnen, und wir haben diese reiche Ernte hervorgebracht. Und was war die Folge? Ich kann es euch genau sagen. Acht Cents für Mais! Zehn Cents für Getreide! Die Politiker erklärten, wir litten unter Überproduktion!« Ein Wutschrei brandete auf dem Platz auf. »Überproduktion! Während wir aus Statistiken erfahren, daß überall in den Vereinigten Staaten alljährlich zehntausend Kinder verhungern! Während Scharen junger Arbeiterinnen gezwungen sind, ihre Tugend in den Straßen der Stadt feilzubieten für das tägliche Brot, das sie sich von ihrem spärlichen Lohn nicht mehr leisten können!« Mary Lease reckte die Fäuste über den Kopf. »Dies ist meine Botschaft an euch! Es wird Zeit, daß wir weniger Mais erzeugen. Daß wir weniger Weizen ernten. Es wird Zeit, daß wir lauter schreien!« Rufe, Schreie, Pfiffe, Gejohle. Jemand feuerte eine Pistole ab. Überall vor Erregung gerötete Gesichter. Joe junior klatschte genauso begeistert wie alle anderen. Hier war endlich mal eine politische Partei, die für alles eintrat, woran er glaubte. Eine Partei von Menschen mit grundsätzlicher Wut im Herzen und nicht mit Dynamit in den Händen. An diesem Abend erhielt er seine populistische Taufe, wurde er zum Populismus bekehrt. An diesem Abend in Ellsworth, Kansas, wurde er neu geboren. Als die Ernte eingefahren war, wurde es für ihn Zeit, in Richtung Rocky Mountains weiterzuziehen; zu den Tälern Kaliforniens und des Nordwestens; zu den Ufern des westlichen Ozeans. Er verabschiedete sich von den Cherrys. Mrs. Cherry weinte, desgleichen zwei ihrer Töchter. Bruno Cherry gab ihm einen Bonus von zwei Dollars, die er selbst nur
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schwer entbehren konnte. »Keine Widerrede, Joseph, du bist ein guter Arbeiter. Und du bist ein anständiger junger Mann. Wir können leider keine Fremden durch eine Taufe in unsere Religionsgemeinschaft aufnehmen, aber wenn es möglich wäre, dann könntest du Rebekah oder Hester oder Miriam heiraten, und ich wäre in jedem Fall stolz und glücklich. Ich sage es noch einmal, du bist ein feiner Kerl. Deine Eltern sind sicherlich stolz auf dich.« Ein Schatten schien sich auf Joe juniors lebhafte blaue Augen herabzusenken. Als wolle er einen Scherz machen, sagte er: »Das bezweifle ich. Sie sind weit weg. Sehr viel wissen sie nicht von mir. Sie wissen noch nicht einmal, wo ich bin.« »Das mußt du sofort in Ordnung bringen«, sagte Bruno Cherry mit dem Ernst eines Propheten aus dem Alten Testament. »Es ist unrecht und ungut, sie in Sorge und ahnungslos zu lassen.« Joe war tief betroffen. Gepeinigt von schlechtem Gewissen, schwang er sich sein Bündel auf die Schulter und setzte seine Wanderung über die sonnenbeschienene Straße fort, die sich durch die Weizenfelder wand. In Black Wolf, einem kleinen Dorf am Smoky-Hill-Fluß im nordwestlichen Zipfel des Bezirks, wurde das schlechte Gewissen übermächtig. Cherry hatte recht. Er sollte seine Mutter nicht mit Sorgen strafen. Sie hatte schließlich mit den Gefühlen seines Vaters ihm gegenüber nichts zu tun. Es war nicht schwer, ein angemessenes Symbol zu finden: drei getrocknete Weizenkörner mitsamt den Grannen am Wegesrand, die er aufhob. Er erstand im Gemischtwarenladen von Black Wolf einen Briefumschlag. Am Postschalter im hinteren Teil des Ladens lieh er sich einen Bleistift und ein Stück Papier, auf das er nichts weiter schrieb als Joe jr. Den Zettel legte er in den Briefumschlag und überlegte es sich sofort anders. Er nahm den Zettel wieder heraus und klebte den Umschlag, in dem sich nur noch die Weizenkörner befanden, sorgfältig zu. Indem er seine Handschrift bewußt veränderte, schrieb er Mrs. I. Crown sowie die Adresse auf den Umschlag. Dann kaufte er am Schalter eine Briefmarke. 65 ILSA Ilsa lag im Bett und hatte Fieber. Sie litt unter einer schweren Sommergrippe. Ihr Flanellnachthemd war schweißdurchtränkt. Das Laken, das sie sich bis zur Taille hochgezogen hatte, lastete genauso schwer auf ihr
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wie ein winterliches Federbett. Sie haßte Krankheit. Sie setzte sie mit Schwäche gleich oder empfand sie als Strafe des Allmächtigen für irgendeine Sünde, die nur Gott als solche erkannte, aber nicht der kranke Mensch. Ilsa kannte ihre Sünde. Die Unfähigkeit, die Familie zusammenzuhalten. Möglicherweise sogar ihre Ehe. Seit dem Abend, als der Mann tödlich abgestürzt war, betrunken von Crown-Bier – es war der Abend, an dem sie eine neuerliche Diskussion über das Thema begonnen hatte, das sie am nachhaltigsten entzweite –, spürte sie, daß Joe sich innerlich immer weiter von ihr entfernte. Im unteren Fach ihres Nachttisches lag ein Buch, das sie schon lange nicht mehr aufgeschlagen hatte. Das Proceedings betitelte Protokoll des Women’s Congress von 1883. Beinahe ängstlich blätterte sie es auf. Rede für Rede, alle über »die Frauenfrage«, wie es hieß. Wie lebhaft viele der Rednerinnen des Frauenkongresses vor ihrem geistigen Auge wiederauftauchten. Sie konnte ihre stolzen und furchtlosen Ausführungen hören, denen sie aufmerksam gefolgt war. Dabei hatte sie die ganze Zeit gewußt, daß ihr Joe über die Reden und die Rednerinnen und über die Tatsache, daß sie ihnen lauschte, in Zorn geraten würde. Sie blätterte weiter. Miss Frances Willard, die Säule der Temperance Union. »Die größte Entdeckung des neunzehnten Jahrhunderts ist die Entdeckung der Frau durch die Frau.« Eine Seite weiter. Mrs. A. J. Cooper, eine wortgewandte Negerin aus Washington, D.C. »Solange Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und Lebensverhältnisse nicht als rein zufällig und nicht als Lebensurteil begriffen werden – solange wird niemand auf die Frauen hören, wird das Anliegen der Frauen nicht siegen.« Lucy Stone, eine der hartnäckigsten und frühesten Kämpferinnen. Nun alt, klein und gebrechlich. Aber noch immer voller Feuer. »Die Vorstellung, daß der Wirkungsbereich der Frau der Haushalt und die Familie und nichts anderes ist, hat die Gesellschaft von jeher wie eine Stahlfessel eingeengt. Aber das Spinnrad und der Webstuhl, die Sorge für den Haushalt und die Kinder konnten und können nicht die Bedürfnisse und Ambitionen der Frauen befriedigen.« Auf der nächsten Seite stieß sie auf Äußerungen der eifrigsten Kämpferin, die sie je gehört hatte: Laura DeForce Gordon, eine Rechtsanwältin aus Kalifornien: »Im Laufe der Jahrhunderte hat es immer ein System aus Repression, Unterdrückung und Verdrängung gegenüber Frauen gegeben. Die konservative, repressive Erziehung zur Hausfrau hat dies erst ermöglicht und unterstützt. Das gleiche gilt für die Lehren der
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verschiedenen Religionen. Es ist eine Haltung, ein Verhaltensmuster, das völlig unverständlich, niederträchtig und in jeder Hinsicht zunehmend unerträglich ist.« Tapfere Worte. Sie war davon wachgerüttelt worden, hatte die Überzeugung gewonnen, daß sie einen Weg in die Zukunft wiesen. Sie klappte das Buch zu und strich mit der Hand über den feinen Ledereinband mit der in Gold geprägten Schrift. Vielleicht waren diese neuen Ideen doch nicht so gut. Vielleicht wurden sie zu aggressiv geäußert. Im Augenblick fand sie darin weder Trost noch Hilfe für ihre Situation. Wie sollten auch Ideen, so wertvoll sie auch sein mochten, die Angst in ihrem Herzen beschwichtigen? Oder sie davon überzeugen, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauche? Wie konnten Ideen gegenüber der Liebe eines Mannes Vorrang haben, von dem sie glaubte, daß sie ihn nach und nach verlor? Ein Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie hochschrecken. »Mrs. Crown?« »Ich bin wach, Helga.« »Die Morgenpost ist gekommen. Für Sie ist ein Brief dabei.« »Bitte, geben Sie ihn mir.« Joe kam nach ihrem Telephonanruf schnellstens aus der Brauerei nach Hause. Er setzte sich zu ihr aufs Bett und drehte den Briefumschlag hin und her und betrachtete ihn eingehend. Ilsas Gesicht leuchtete vor Erregung. »Er lebt, Joe. Er hat uns Weizenkörner geschickt, um es uns mitzuteilen. Er ist im Westen.« »Woher willst du wissen, daß der Brief von ihm ist?« Joe hielt den Umschlag hoch. »Das ist nicht seine Handschrift.« »Natürlich ist sie es. Er hat versucht, sich zu verstellen, aber er kann mich nicht täuschen. Ich wäre eine schlechte Mutter, wenn ich die Handschrift meines eigenen Sohnes nicht erkennen würde.« »Nun, ich bin nicht so überzeugt.« Er stand auf. Er machte in seinem zerknautschten weißen Sommeranzug den Eindruck, als sei ihm heiß und als fühle er sich nicht sehr wohl. »Ich erkenne die Handschrift nicht, und ich glaube, du auch nicht. Du sagst es nur, weil du es dir von ganzem Herzen wünschst.« »Natürlich wünsche ich es mir und möchte es glauben! Was ist denn so falsch daran, den Jungen wiedersehen zu wollen? Ich möchte, daß er zurückkommt. Ist es falsch zu glauben, daß es ihm gutgeht und daß er eines Tages nach Hause zurückkehren wird? Ich glaube es. Ist es falsch anzunehmen, daß er uns diesen Brief geschickt hat, um uns mitzuteilen, wir
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brauchen uns keine Sorgen zu machen? Ich nehme es an.« Joe reagierte nicht auf ihren Zornesausbruch. Er legte den Briefumschlag auf das Bett. »Nun, wenn er von Joe ist, dann hat er ihn dir geschickt und nicht mir. Du mußt mich jetzt entschuldigen, ich habe heute nachmittag noch eine Menge zu erledigen.« Er beugte sich hinab und hauchte ihr einen flüchtigen Kuß auf die schweißfeuchte Wange. Er lächelte sie an und winkte ihr, als er hinausging. Sie ließ sich durch keine seiner Gesten täuschen und von ihrer Überzeugung abbringen. Sie griff nach dem Briefumschlag mit seinem ungewöhnlichen Inhalt – seinem Signal; seinem Symbol dafür, daß Joe noch lebte. Sie preßte ihn zwischen ihren schlaffen Brüsten gegen das verschwitzte Nachthemd. Die Wahrheit lag in den Augen ihres Mannes. Eine gewisse – Distanz, die völlig neu war. Eine wachsende Abneigung. Sie hatte ihren Sohn verloren. Auch ihr Neffe Pauli war weggegangen. Nun geriet sie in Gefahr, Joe zu verlieren, und dagegen hatte sie kein Mittel. Ganz sie selbst zu sein – die freundliche Ilsa, die pflichtbewußte Ilsa, die Ilsa, die immer das Essen pünktlich auf den Tisch brachte, die Ilsa, die das Haus sauberhielt- das reichte nun nicht mehr aus. Das konnte ihr nicht mehr helfen. Sie pflegte mit den falschen Frauen Kontakt. Sie verteidigte die falschen Ideen. Sie äußerte sich zu direkt und aufdringlich. Sie hatte vergessen, welchen Platz eine Ehefrau einnehmen mußte. Aber sie konnte keinen Rückzieher mehr machen, selbst wenn sie es gewollt hätte. 66 JULIE Am Ende des Sommers 1895 kehrte Julie zusammen mit ihrem kleinen Hund Rudy aus Europa zurück. Sie hatte fünfzehn Pfund verloren. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie wirkte nervös und geistesabwesend und lachte nur selten. Sie hatte ihre Reise ebenso beendet, wie sie sie begonnen hatte: wie eine Schlafwandlerin. Pork Vanderhoff hatte alle Hotels durch die Agentur Cook buchen lassen. Außerdem hatte Cook die Eisenbahnfahrkarten besorgt, die Besichtigungstouren in den alten Städten arrangiert und die Fremdenführer verpflichtet, die sie von Kathedralen über Paläste und Gesundbrunnen bis zum unvermeidlichen Andenkenladen geleiteten, mit dessen Inhaber der Fremdenführer zufälligerweise sehr gut befreundet war. Bei allen diesen Ausflügen – praktisch immer außer in ihrem Schlafzimmer – wurde Julie von einer mißmutig dreinschauenden Krankenschwester und Anstandsdame
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begleitet, die ihr Vater eingestellt hatte, nachdem er sich mit einem Dutzend Kandidatinnen unterhalten hatte. Die Auserwählte war eine Belgierin. Sie hatte sechs Schwestern, die bis auf eine alle im Kloster lebten. Sie hatte das Gefühl, ihr eigenes Leben mit einem Ehemann vergeudet zu haben, und redete von kaum etwas anderem. Als Julie nach Chicago kam, war sie nicht klüger und auch nicht anderen Sinnes als zu dem Zeitpunkt, als ihr Vater und ihre Mutter sie weggeschickt hatten. Nicht klüger, nicht anderen Sinnes – aber mindestens genauso ablehnend. An dem Tag, an dem sie zu Hause eintraf, rannte sie sofort hinunter zu dem gekalkten Briefkasten-Stein am Stall. Er war verschwunden; alle Steine waren verschwunden. Ausgegraben, weil man dort weitere Blumenrabatten angelegt hatte. Sie fühlte sich einsam und im Stich gelassen. Für einen kurzen Moment empfand sie beinahe Haß auf Paul. Zwei Wochen später, als Pork und Nell einmal außer Haus waren, griff sie zum Telephon, rief Ilsa Crown an und lud die einigermaßen verblüffte Lady zum Nachmittagstee ein. An einem kühlen, windigen und regnerischen Septembernachmittag trafen die Frauen sich an einem Tisch, der versteckt hinter künstlichen Palmen im Café Rose des Hotel Richelieu in der Michigan Avenue stand. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen«, erklärte Ilsa mit einem höflich distanzierten Lächeln. Sie war offensichtlich eine Frau mit Herzenswärme und tadellosen Manieren. Eine Frau, die sich nicht verstellte und es auch nicht nötig hatte. Sie gab sich gar keine Mühe, ihren Akzent zu verbergen. Julie konnte nicht verstehen, weshalb ihre Mutter Mrs. Crown derart leidenschaftlich haßte. »Wir sind uns schon mal bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet«, fuhr Ilsa fort, »sind einander aber noch nie vorgestellt worden. Gibt es einen besonderen Grund, daß Sie sich mit mir treffen wollten?« »Ja, ich gestehe, daß es den gibt.« Der kahlköpfige Kellner tauchte mit seinem Bestellblock neben dem Tisch auf. »Tee für uns beide, Victor. Und einen Teller mit Schnittchen, bitte.« »Sehr schön«, murmelte Ilsa. Victor entfernte sich. Auf einem kleinen Podium auf der anderen Seite des Raums spielte ein Streichtrio gerade I Don’t Want To Play In Your Yard. Julie hatte Mühe zu lächeln, aber sie schaffte es. Ihre Wangen waren so weiß wie die Serviette, die sie in ihrem Schoß mit den Händen knetete. Schlimme Krämpfe suchten sie heim. Sie hatte sich aus dem Bett hochgequält, um die Verabredung einzuhalten. Es war der erste Tag ihres
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monatlichen Unwohlseins. »Haben Sie irgend etwas von Ihrem Sohn gehört, Mrs. Crown?« »Nein. Die Polizei hat den Fall bereits zu den Akten gelegt. Wir haben sogar eine Detektei eingeschaltet, aber ohne Erfolg.« »Das ist schlimm.« »Ja – nun –, man muß sich damit abfinden. Ich vertraue darauf, daß Joe wahrscheinlich irgendwo im Westen lebt und daß es ihm gutgeht.« Den Umschlag mit den Weizenkörnern erwähnte sie nicht. Sie unterhielten sich über weniger schmerzliche Dinge, während sie auf den Tee warteten. Ilsa erwähnte den neuerlichen Kriegsausbruch in Kuba. Die Rebellen hatten ihren Unabhängigkeitskampf vor einigen Monaten wiederaufgenommen. Julie sagte, sie habe wenig Ahnung von politischen Dingen. Ilsa fragte nach ihrer Meinung über mögliche Kandidaten für die Präsidentenwahlen im Jahr 1896. Julie erwiderte, sie habe keine Meinung. Und wie wäre es mit Literatur? Ob sie schon Der Gefangene von Zenda gelesen habe? Ja, in Europa, es habe ihr sehr gut gefallen. Was sie von Mr. Cranes Buch Die rote Tapferkeitsmedaille halte, das soeben herausgekommen sei? Julie gestand, daß sie es nicht kenne. Ilsa erzählte, es sei zwar nicht gerade ein überwältigender Bestseller, aber es werde von seinen wenigen Lesern gelobt, und viele Kritiker bezeichneten es als ein kleines Meisterwerk. »Gelesen habe ich es noch nicht«, sagte Ilsa. »Ich schaffe es einfach nicht, Joe dazu zu bewegen, mir unser Exemplar auszuhändigen.« Victor erschien mit einem silbernen Servierwagen. Er schenkte aus einer Kanne, die mit silbernen Weintrauben verziert war, Earl Grey ein. Julie schob auf ihrem Teller ein kleines dreieckiges Sandwich hin und her, von dem rundum die Kruste abgeschnitten worden war. »Ich habe von dem Buch bisher nur gehört. Die Freundinnen meiner Mutter haben ihr angedeutet, es sei häßlich. Gewöhnlich haben wir nur romantische Geschichten in unserem Haus. Die liest Mutter am liebsten.« »Ich verstehe.« Ilsa war weiterhin von ausgesuchter Höflichkeit, aber Julie erkannte sehr wohl, daß sie nun ihren Gast enttäuscht hatte. Ein neuerlicher Krampf ließ sie nach Luft schnappen. Sie schob ihre Tasse und die Untertasse beiseite. Sogar der beruhigende Tee brachte ihr keinerlei Linderung. »Mrs. Crown, darf ich ganz offen reden?« »Natürlich, meine Liebe.« »Ich habe Sie eingeladen, um mich nach Ihrem Neffen zu erkundigen.« »Pauli?« Ilsa schien ein wenig in sich zusammenzusinken. »Ich fürchte, Pauli ist vor einiger Zeit endgültig aus unserem Haus ausgezogen. Kurz
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nachdem Joe junior wegging. Paulis Abschied war eine direkte Folge. Ich wußte natürlich, daß Sie mit Pauli befreundet waren.« Sie hatte genug Anstand, um es bei dieser Andeutung zu belassen und das Hotel Radigan nicht zu erwähnen. Die Krämpfe meldeten sich wieder. Sie waren so furchtbar, daß Julie beinahe laut aufgestöhnt hätte. »Ich war ihm sehr zugetan, Mrs. Crown. Und ich bin es noch immer. Wissen Sie, wo er sich zur Zeit aufhält?« »Leider nein. In unserem Haushalt hat auch sonst niemand eine Ahnung. Vor einigen Monaten rief er bei uns an und ließ mir etwas ausrichten. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt befand er sich in Chicago, aber das hat er nicht ausdrücklich gesagt. Sonst habe ich nichts mehr von ihm gehört. Natürlich« – sie hielt inne, als habe sie Angst, diesen Gedanken zu Ende zu denken – »besteht immer noch die Möglichkeit, daß er nach Deutschland zurückgekehrt ist.« »O nein, das würde er niemals tun, da wir beide sehr viel füreinander empfinden.« Julie senkte den Blick und wischte sich mit einer Hand über die Augen. »Ganz gewiß nicht.« »Meine Liebe, ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ganz persönlich halte ich es für unwahrscheinlich, daß Paul das Land verlassen hat. Nur haben wir leider keine weiteren Informationen, so daß wir diese Möglichkeit nicht grundsätzlich außer acht lassen dürfen.« Julie ließ die Hand von ihrem tränenüberströmten Gesicht herabsinken. Victor kam an den Tisch geeilt. Die offensichtliche Not seines Gastes bereitete ihm Sorgen. Ilsa Crown versicherte ihm, daß alles in Ordnung sei. Sobald er sich zurückgezogen hatte und die Ladies an den anderen Tischen in der Nähe nicht mehr herüberstarrten, beugte sie sich über den Tisch, um Julies Hand zu ergreifen. »Juliette, ich glaube, ich habe die wahre Tiefe Ihres Gefühls nicht erkannt. Pauli war – ist – ein wunderbarer Junge. Es tut mir so leid, daß ich nicht weiß, wo er ist.« »Ich frage mich nur, weshalb er für mich keine Nachricht hinterlassen hat.« »Es könnte doch sein, daß er nicht weiß, wie. Ich habe den Eindruck, daß Ihre Eltern irgendwelche Nachrichten von jemand namens Crown nicht gerade mit Freude in Empfang nehmen würden.« »Er würde wissen, wie er mich erreicht, wenn er es wirklich wollte. Es gibt immer gewisse Möglichkeiten. Und Paul ist klug.« Ilsa saß still da und sagte nichts. Julie hob den Kopf. Trotz ihrer quälenden Schmerzen zauberte sie ein halbwegs fröhliches Lächeln in ihr Gesicht. »Nun, wenigstens haben wir diese Frage geklärt, nicht wahr? Paul
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ist weg. Und er hat nicht hinterlassen, wo ich ihn finden kann. Da läßt sich nichts machen, oder? Jetzt wohl nicht mehr.« Nell nahm am darauffolgenden Montag ihre Tochter beiseite und ging mit ihr ins Musikzimmer der Villa. Farne und andere Grünpflanzen, die in großen Tontöpfen unter einem Oberlicht standen und gediehen, erfüllten den Raum mit einem Duft nach Wald und Natur. Julie nahm am Flügel Platz und klimperte eine traurige Melodie. Nell ging auf und ab und wirkte rätselhaft erregt und erfreut. »Dein Vater möchte, daß ich dir die Neuigkeit mitteile. Er sagte, jetzt sei es endlich soweit.« »Welche Neuigkeit, Mama?« »Es gibt da einen Gentleman, der dich kennenlernen möchte, Juliette. Ein Gentleman mit ernsten Absichten.« Julies Kopf fuhr ruckartig hoch. Ihre Augen weiteten sich wie bei einem Waldtier, das von Jägern in die Enge getrieben wurde. Das Geplapper und geschäftige Hin und Her des Hauspersonals drang durch die offene Tür. »Wer ist es?« »Ein sehr angesehener Witwer. Du hast ihn schon mal kennengelernt, obgleich du dich kaum an ihn erinnern kannst. Sein Name lautet William Vann Elstree.« »Die Kaufhaus-Familie?« »Ja. Seine Frau ist vor über einem Jahr verstorben, während dieser schlimmen Hitzewelle. Er hat seine Gefühle in Wiesbaden offenbart und deinen Vater um Erlaubnis gefragt, bei dir vorzusprechen. Wir bestanden darauf, daß er noch eine angemessene Zeit lang wartet, und er hatte vollstes Verständnis dafür.« Empfindungen des Schreckens und der Verwirrung tobten in Julies Brust. Nell kam zum Flügel und klatschte begeistert in die Hände. »Mr. Elstree ist zwar ein wenig älter als du, aber er ist ein Ausbund an Anstand und Sanftheit. Aus gutem Hause, wohlerzogen –« »Mama«, begann Julie und bereitete ihre Verteidigung vor. »Und natürlich ist er unermeßlich reich.« »Mama, ich möchte mit dir keinen Streit anfangen, aber –« »Wir können das Ganze nicht noch einmal durchhecheln, Juliette. Ich bin dazu nicht bereit. Und dein Vater auch nicht.« Plötzlich lächelte Nell wieder überaus freundlich. »Wenn du wieder die Fassung verlierst, du außer dir bist, müssen wir vielleicht Dr. Woodrow noch einmal bitten –« »Nein!«
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»– daß du für ein oder zwei weitere Monate das Mountjoy Hospital in Cleveland aufsuchen solltest –« »Nein, Mama, nein!« Nell begann Julies Hand zu massieren und strich ihr über das kräftige schwarze Haar. »Dann sei vernünftig, mein Kind. Und bitte, bitte, denk nicht schlecht von mir. Ich möchte auf der ganzen Welt nur zwei Dinge. Zufriedenheit für die ganze Familie und für dich. Ich möchte, daß du den richtigen Mann heiratest. Das möchte ich erleben, ehe ich meine Reise in den Himmel antrete.« Julie weinte nun. Sie konnte die Tränen nicht unterdrücken. Aber Paul war fort, was hatte denn jetzt noch Sinn? »Na schön, Mama. Ist gut. In Ordnung.« »Heißt das, daß Mr. Elstree sich bei dir melden darf?« »Ja, Mama, er kann kommen, warum auch nicht?« Nell trat zurück. Ein triumphierender Glanz lag in ihren Augen. »Danke, mein Kind. Du glaubst gar nicht, wie außerordentlich glücklich du mich damit machst. Ich denke, daß du auf diese Weise am Ende dein Glück finden wirst.« Nell strich ihr noch einmal über den Kopf, dann verließ sie den Raum. Ihre Schritte waren beschwingt. Und sie lächelte.
67 PAUL In Kuba tobte der Kampf zwischen den Aufständischen und Spanien über die ganze Insel. In Deutschland wurde ein Kanal von der Nordsee nach Kiel an der Ostsee eröffnet. In Transvaal verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den Buren und der britischen Regierung. In England strengte der Ästhet Oscar Wilde, der mit einem männlichen Liebhaber verbunden war, einen Gerichtsprozeß gegen den Vater seines Geliebten, den Marquis von Queensbury, an. In St. Petersburg in Rußland erlebte Schwanensee von Peter Tschaikowsky die erste vollständige Aufführung. In Frankreich vervollkommneten die Brüder Auguste und Louis Lumiere eine Maschine, die Bildfolgen auf einem Zelluloidstreifen sowohl aufnehmen wie auch projizieren konnte. (»Darüber wird dein Freund Shadow aber staunen«, sagte Wex zu Paul. »Ach ja, und er spürt den heißen Atem seiner Konkurrenten bei diesem Wettrennen noch stärker im Nacken.«) In Amerika nahmen Footballspieler in Latrobe, Pennsylvanien, Geld an, um weiterhin als »Professionelle« zu spielen, forderte Außenminister Olney die Anwendung der Monroe-Doktrin gegen England, dirigierte ein in Dublin geborener Musiker namens Victor Herbert die berühmte Band des 22.
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Regiments (des ehemaligen Gilmore’s), erklärte der »Silber-Flügel« im Kongreß seine Unabhängigkeit von den regulären Demokraten und stellte ein Gentleman namens King C. Gilette seine Erfindung eines völlig neuartigen »Sicherheits-Rasierapparates« vor. Aber in Chicago verblaßten in jenem Herbst 1895 Weltereignisse, nationale Ereignisse, einfach alles neben einem sensationellen Mordprozeß. Ein gewisser Herman W. Mudgett, der unter dem falschen Namen Dr. H. H. Holmes ein prächtiges dreistöckiges Haus in der Dreiundsechzigsten Straße bewohnte, wurde beschuldigt, während der vorangegangenen drei Jahre mindestens fünfzig Opfer ermordet und verstümmelt zu haben. Polizeiliche Ermittler nahmen »Holmes’ Burg« auseinander, und jede Zeitung beschrieb und zeichnete das Labyrinth von Zimmern, in denen, wie festgestellt wurde, Mord und Folter – und Wahnsinn – regiert hatten, während ahnungslose Nachbarn in dem Haus ein und aus gingen. Wex und Paul begaben sich wie viele andere Berufsphotographen an einem Sonntag zur Ecke der Dreiundsechzigsten und Wallace-Straße. Sie schossen Photos von der Außenansicht des phantastisch anmutenden Holzhauses mit seinen Türmen und zahlreichen Erkerfenstern, die innen mit Eisenplatten gesichert waren. Nachdem er tagsüber seinem Job nachgegangen war, arbeitete Paul abends noch ein paar Stunden länger und half Wex dabei, die Andenkenphotos abzuziehen und auf Papptafeln aufzukleben. Wex stellte danach drei Jungen aus der Nachbarschaft ein, die durch die Stadt zogen und die Photos feilboten. Der Verkauf lief schleppend, zu viele Konkurrenten hatten die gleiche Idee. In dieser ereignisreichen Zeit sorgte ein Unglücksfall dafür, daß Nancy die Wäscherei verlassen mußte. Bei der Ernte war Nancys Mutter von einer McCormick-Mähmaschine gestürzt, die sie lenkte und bediente. Dabei hatte sie sich einen Fuß und eine Hüfte gebrochen. »Ma fällt für mehrere Monate aus. Und irgend jemand muß für die Männer kochen.« Paul trug Nancys Reisetasche zum Bahnhof in der Dearborn-Straße. »Es macht mir nichts aus, in der Wäscherei aufzuhören«, gab sie zu, »und Chicago zu verlassen, es ist eine schlimme Stadt. Schmutzig und gefährlich – diese Geschichte mit dem wahnsinnigen Doktor kann einem angst machen. Aber ich werde dich vermissen. Wenn ich bleiben könnte, würde ich es vielleicht schaffen, daß du dieses andere Mädchen vergißt. Ich kann nämlich sehr stur sein.« Ein paar Tränen glitzerten in ihren Augen. »Wahrscheinlich werde ich da unten in meiner Heimat irgendeinen langweiligen Bauernjungen heiraten. Aber ich werde immer nur dich lieben.« Nancy stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn. »Ich tue alles
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für dich, Dutch. Wenn du jemals Hilfe brauchen solltest, dann komm zu mir. Und jetzt gib mir lieber einen Abschiedskuß, ehe ich noch richtig zu weinen anfange.« Mindestens zweimal pro Woche ging Paul in der kühlen herbstlichen Dämmerung an der Vanderhoff-Villa vorbei. Nichts deutete auf Julies Anwesenheit hin, und er vermutete daher, daß sie noch immer in Übersee weilte. Er träumte weiterhin von einem Job bei Oberst Sid Shadow, während er sich nebenher in der Standphotographie übte. Wex kritisierte seine Bilder sehr hart, häufig sogar spöttisch. Paul ließ sich dadurch nicht entmutigen und photographierte weiter. Schließlich entwickelte und stellte er einen Abzug von einem Porträt her, das ihm gefiel: eine Straßenhändlerin mit einem Kopftuch, die neben einem Verkaufswagen voller verwelkter Blumen stand. Licht fiel von oben auf ihre linke Gesichtshälfte und erhellte ihre Haut, die aussah wie eine Ebene, die von Dutzenden ausgetrockneter Bachbetten durchfurcht war. Ein Lichttupfer befand sich auf ihrem linken Auge, was einen unendlich traurigen Ausdruck bewirkte. Es war eine stumme Geschichte über Resignation, Armut und Scheitern. »Das ist gut«, sagte Wex, als er das Bild sah. »Es ist sogar besser als gut. Du machst Fortschritte. Allmählich bekommst du einen Blick fürs Wesentliche. Das wird dir bei den beweglichen Bildern sicherlich von Nutzen sein«, fügte er mit seinem typischen Schniefen hinzu. Im Laufe des Oktobers begannen Ausrüstungsgegenstände aus dem Tempel der Photographie zu verschwinden, und zwar ein Stück nach dem anderen. Dann bat Wex Paul mit verlegenem Grinsen, ihm etwas Geld zu leihen. Obgleich Wex es nicht sagen wollte, nahm Paul an, daß es für rückständige Mietzahlungen bestimmt war. Er holte das Geld von der Sparkasse und stellte keine weiteren Fragen. Als Wex ihn ein zweites Mal um Hilfe bat, räumte Paul sein Sparkonto völlig leer. Am ersten November erschien ein Schuldeneintreiber. Paul hörte lautes Stimmengewirr hinter einer geschlossenen Tür. Der Schuldeneintreiber stürmte aus dem Haus. Einen Tag später fand Paul in einem Abfallkorb einige Papierstreifen, auf die mit Bleistift seltsame Namen gekritzelt waren. Wex zahlte überhaupt keine überfällige Miete, er schloß Pferdewetten ab. Die Rennsaison in Chicago war längst beendet, daher mußte er bei Rennen in anderen Orten wetten. Vielleicht unten im Süden. Paul fragte eine seiner guten Kundinnen, Madame Camille, ob so etwas möglich sei. »Schätzchen«, sagte die Madam, »wundervolle Erfindungen wie der Telegraph und die Telephonfernleitungen sind für eine ganze Reihe anderer
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Dinge geeignet als nur zu sagen: ›Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Großmutter, wie geht es deinem Hexenschuß?‹ Willst du etwa behaupten, du seist hier noch nie in einem der Wettbüros gewesen?« »Nein, dort wird keine Wäsche gebraucht. Daher kenne ich sie nicht.« »Dann sieh zu, daß es auch so bleibt. Wenn du erst einmal regelmäßig diese Läden aufsuchst, bist du auf dem direkten Weg ins Armenhaus.« Demnach hatte Wex die Krankheit, die ihn befallen hatte, nicht besiegt. Das erfüllte Paul mit Traurigkeit. Er sagte nichts. Er hatte Wex sehr viel zu verdanken. Er vertraute darauf, daß er ihm das geliehene Geld zurückzahlen würde. Eines Abends während einer wie üblich dürftigen Mahlzeit fragte Wex: »Dutch, wann bist du eigentlich in dieses Land gekommen?« »Das Schiff legte vor drei Jahren, am ersten Juni, in New York an. Warum fragen Sie?« »Wegen der Staatsbürgerschaft. Nach fünf Jahren kannst du zu einem Bezirks- oder Kreisrichter gehen und per Eid deine Absicht bekunden, ordentlicher Bürger des Landes zu werden. Das heißt für dich, daß es im übernächsten Jahr soweit ist. Noch zwei Jahre, und du kannst den Eid ablegen.« »O ja, daran habe ich bereits gedacht. Es gibt in Amerika furchtbare Dinge, die ich niemals erwartet hätte. Diesen wahnsinnigen Doktor zum Beispiel und seine Bluttaten – von solchen Verbrechen habe ich in Deutschland noch nichts gehört. Aber es gibt hier auch wunderschöne Dinge. Die Möglichkeit, in einem aufregenden Gewerbe zu arbeiten. Damit und mit einer amerikanischen Frau werde ich ganz gewiß die Bürgerschaft beantragen.« »Ist Vanderhoffs Tochter denn noch nicht zurück?« »Ich glaube nicht. Ich bin mehrmals am Haus vorbeigegangen, ohne sie zu sehen. Ich habe sie weder angerufen noch einen Brief geschrieben. Ich möchte sie nicht in Verlegenheit bringen. Allerdings habe ich auch keine Lust, wieder ins Gefängnis zu wandern. Keine Sorge, ich melde mich schon bei ihr.« Wexford Rooney, der Photograph, war in den besseren Kreisen der Stadt nicht ganz unbekannt. Er hatte einen Ruf als guter Handwerker, wenn nicht sogar als durchaus gediegener und fähiger Künstler. So erhielt er gelegentlich einen Hochzeitsauftrag, oder er machte Gruppenphotos von den Mitgliedern eines Vereins oder einer Loge. Seine politischen Verbindungen existierten nicht nur zu den Demokraten
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des First Ward; er kannte auch einige weniger prominente Republikaner. Als ein Gesellschaftsphotograph eines Tages wegen Krankheit ausfiel, engagierte ihn einer der Republikaner. Er sollte an einem Samstagnachmittag während eines Empfangs von Mr. und Mrs. Potter Palmer photographieren. Der Ehrengast war Marcus Alonzo Hanna aus Ohio, angeblich die graue Eminenz der Republikanischen Partei, der Mann, der den republikanischen Präsidentschaftskandidaten im nächsten Sommer benennen würde. Wex war außer sich vor Aufregung. Er schnitt sich beim Rasieren dreimal. Als Paul zur Arbeit aufbrach, bügelte er sein Oberhemd. Als er gegen Abend mit einer Droschke zurückkam, war sein Verhalten völlig anders. Er schien bedrückt zu sein, war offensichtlich nervös. Paul saß im Hinterzimmer am Tisch, hatte vor sich eine Flasche Crown Lager stehen und las die Tribune. Er war ein wenig verwirrt, als Wex nichts sagte, sondern ihm nur grüßend zunickte und sich dann am Herd zu schaffen machte, wobei er ihm den Rücken zuwandte. »Wie ist es denn gelaufen?« »Oh, prima, ganz toll«, sagte Wex, immer noch mit abgewandtem Gesicht. »Mr. Palmer hat mir sogar was auf mein Honorar draufgelegt. Ich muß noch heute anfangen, zu entwickeln und Abzüge herzustellen.« »Haben die Gäste Sie anständig behandelt?« »O ja, sie waren sehr freundlich. Eine elegante Gesellschaft.« »Mr. Rooney, irgend etwas stimmt doch nicht. Was ist los?« Wex drehte sich um, nahm die Brille ab und hatte eine betrübte Miene. »Ich habe jemanden gesehen, den du kennst. Die junge Lady.« Paul fuhr hoch. »Julie? Ist sie zurück?« »Ja, schon seit dem Sommer. Ich habe extra nachgefragt.« »Reden Sie schon, und wie sieht sie aus?« »Ach – schön. Sehr schön, so wie du sie beschrieben hast. Sie ist eine ansehnliche junge Frau. Sehr gepflegt.« Dann verstummte er wieder. Sein Blick war gequält. »Sie war nicht alleine bei dem Empfang.« »Natürlich nicht. Bestimmt waren ihre Eltern dabei und –« »Das ist es nicht, was ich meine. Sie hatte einen Begleiter.« Paul stellte die Bierflasche auf den Tisch, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Das glaube ich nicht.« »Es tut mir leid, aber es ist so. Sie kam mit William V. Elstree, dem Kaufhauserben. Er ist jetzt verwitwet.« Er schnaubte mißbilligend. »Und kein junger Mann mehr.« »Er hat sie sicherlich aus Anstandsgründen begleitet oder weil es sich
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gerade so ergab.« »Ich wünschte, es wäre so, Dutch. Ich habe einige diskrete Erkundigungen eingezogen. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.« »Dann erzählen Sie schon den Rest. Sie müssen es.« »Die junge Dame tritt mehr oder weniger regelmäßig in Elstrees Begleitung bei Konzerten und anderen Anlässen auf Ich habe eine belichtete Platte, auf der sie beide zu sehen sind.« »O mein Gott, was ist passiert? Was geht da vor?« »Ich weiß es nicht. Ich hatte eigentlich vor, es dir gar nicht zu erzählen. Ich wollte dir um keinen Preis weh tun. Ich wollte schweigen, aber dann dachte ich, daß du es erfahren müßtest. Vielleicht –« Er errötete, dann wandte er den Blick ab, als er den Satz beendete. »Vielleicht solltest du aufhören, an sie zu denken. Es sieht so aus, als habe die junge Dame sich anders orientiert.« Ein paar Minuten nach elf Uhr kam Paul mit einer entwickelten Glasplatte aus der Dunkelkammer. Er inspizierte sie im elektrischen Licht. Früher war ihm ein Negativ seltsam und fremdartig vorgekommen. Nun war es ihm so vertraut wie der Geschmack von Bier oder Schwarzbrot. Seine Augen und sein Geist drehten die umgekehrten Bilder sofort um. Die Grautöne ihres Kleides, das skeletthafte Weiß seines dunklen Abendanzugs. Der Mann hatte einen Arm um sie gelegt. Beide hatten lange schlanke Gläser mit irgendeinem Inhalt in den Händen. Paul hielt die Platte schräg und studierte ihre schwarzen Zähne. Sie lächelte. Er schleuderte die Platte quer durch den Raum. Sie prallte gegen den Herd und zerschellte. Ein Regen aus Glassplittern ergoß sich auf den Fußboden. Paul wischte seine Hände an seiner Leinenschürze ab, während Wex aus der Dunkelkammer gestürzt kam. Er sah die Bescherung und stöhnte ungehalten. »Sie ist mir aus der Hand gerutscht.« »Welche Platte war es?« »Die mit meinem Mädchen.« Wex sah ihn lange an. Seine Augen hinter den Brillengläsern waren rot und groß. »Na schön, da kann man nichts machen. So etwas kann schon mal passieren.« »Ja, das kann es«, sagte Paul. Er hatte noch nie einen solchen Schmerz verspürt, noch nicht einmal in dem Augenblick, als seine eigene Familie ihn verstoßen hatte. Wex ging um Mitternacht zu Bett. Paul hebelte den Verschluß einer neuen
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Flasche Bier aus der Brauerei seines Onkels auf und saß unter der Küchenlampe und trank. Danach leerte er eine weitere Flasche und noch eine. Er versuchte, das Rätsel zu lösen. Was hatte sie dazu gebracht, sich zu verändern? Hatte sie ihn die ganze Zeit belegen? Ihn hinters Licht geführt? Wie konnte das sein nach all ihren gegenseitigen Liebeserklärungen? Ihre Worte waren mindestens genauso leidenschaftlich und innig gewesen wie seine. Wie war so etwas möglich nach ihren Gelübden ewiger Zuneigung und Treue? Und diese Nacht im Hotel Radigan … bedeutete er ihr nicht mehr als ein einmaliges nächtliches Abenteuer? »Es sieht so aus, als hätte die junge Dame sich anders orientiert …« Wie hatte es dazu kommen können? Am nächsten Morgen wählte er die Telephonnummer der Vanderhoff-Villa. Er erkundigte sich nach Miss Vanderhoff. »Wer spricht dort, bitte?« Er nannte dem Hausangestellten seinen Namen. »Sie ist nicht da.« Er bat darum, eine Nachricht zu hinterlassen. »Das ist leider nicht möglich.« Das Hauspersonal war instruiert worden. Die Mauer stand und war unüberwindlich.
68 JOE CROWN Im November hatte Joe das Pech, Oskar Hexhammer wiederzubegegnen, diesmal im Ratskeller des Germania-Clubs. Der Ratskeller war ein großzügiger, gemütlicher dunkler Raum mit eichengetäfelten Wänden und weißen Tischdecken. Überall von den Wänden blickten ausgestopfte Köpfe von Bisons, Ebern und Hirschen mit prächtigen Geweihen aus Glasaugen in die Ewigkeit. Als Hexhammer die Treppe herunterkam, war der Raum leer bis auf Joe, der auf seinen Hopfenlieferanten wartete. Er hatte sich mit ihm gegen zwölf zu einem Gespräch verabredet. Gleichzeitig wollte er mit ihm zu Mittag essen. Vor ihm auf der Bar stand ein Krug dunklen Heimat-Biers. Joe hatte schlechte Laune. Sein Lieferant hatte sich bereits um eine Viertelstunde verspätet. Während Joe auf ihn wartete, hatte er über seine Unzufriedenheit mit dem Braumeister nachgedacht, den er nach Fred Schildkrauts Tod eingestellt hatte. Heinz Freising war ein fähiger Mann, aber völlig unorganisiert, was Joe seiner bayerischen Herkunft und Jugend zuschrieb. Freising riß ständig faule Witze über die Brauerei. Joe war beinahe entschlossen, ihn durch einen neuen Mann zu ersetzen.
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Nun tauchte Hexhammer auf und kam direkt auf ihn zu. Er gab noch immer seine Deutsche Zeitung von Chicago heraus, die alles vorbehaltlos lobte, was aus dem Vaterland kam oder was der Kaiser verlauten ließ. Er hatte keine weiteren journalistischen Attacken gegen Joe oder seine Brauerei geritten. Die beiden Männer sahen einander gelegentlich in diesem Club, in deutschen Restaurants, bei gesellschaftlichen Anlässen, aber stets nur von fern, da sie sich zum Gruß zunickten. Gewohnheitsmäßig war Joe derjenige, der zuerst grüßte, aus reiner Höflichkeit. Hexhammer begleitete sein Kopfnicken stets mit einem herablassenden Grinsen, als wolle er damit Überlegenheit ausdrücken. Dieser verdammte Idiot. »Hallo, Joe. Wie geht es Ihnen?« »Gut, Oskar. Und Ihnen?« »Oh, blendend. Wie laufen die Geschäfte?« »Wir liefern Rekordmengen aus. Voraussichtlich kommen wir in diesem Jahr auf siebenhundertvierzigtausend Fässer.« »Aha.« Joe amüsierte sich im stillen. Er hatte noch gar nicht gewußt, daß in einer einzigen Silbe soviel Enttäuschung liegen konnte. »Darf ich Ihnen ein Bier spendieren, Oskar?« »Aus Ihrer Brauerei?« »Natürlich!« »Wie könnte ich das ablehnen?« Joe winkte dem Barkeeper. »Carlo, zapfen Sie noch eins für Mr. Hexhammer.« Er hoffte, daß sein Lieferant bald erschien. Zwei andere Männer, die er flüchtig kannte, kamen die Treppe herunter. Sie unterhielten sich und lachten. Joe kam sich mehr und mehr in die Enge getrieben vor. Er versuchte, das Gespräch auf neutrale Themen zu lenken. Die talentierte Mannschaft von Baltimore hatte im Herbst den Wimpel der Nationalliga gewonnen. Hexhammer erwiderte, er habe keine Ahnung von Baseball, es sei schließlich eine ziemlich primitive amerikanische Sportart. Was er denn dann von dem Bürgerkriegsroman des jungen Mr. Crane halte? »Ich hab ihn gelesen, aber er hat mir gar nicht gefallen. Englisch ist doch eine häßliche Sprache. Die klassische Dichtung in der Sprache, mit der Sie und ich aufgewachsen sind – das ist wahre Kunst.« Joes verhaltener Zorn wuchs. Er spielte mit dem Eberzahn an seiner Uhrkette; holte die Uhr heraus und klappte sie auf. Dieser verdammte Lieferant verspätete sich nun schon um fünfundzwanzig Minuten. Hexhammer begann sich lobend über die staatsmännischen Qualitäten Kaiser Wilhelms auszulassen, vor allem über seine Entscheidung, Bismarck
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vor ein paar Jahren zu zwingen, sein Amt niederzulegen. Der Kanzler hatte sich gegen den Aufbau einer Marine auf zwei Ozeanen gewandt, die der Kaiser energisch forderte, nachdem er Admiral Mahans Buch über Seemacht mehrmals gelesen hatte und als eine Art Bibel betrachtete. Dafür mißbilligte der Kaiser seinerseits den Friedensvertrag, den Bismarck 1887 heimlich mit den Russen abgeschlossen hatte. Hexhammer dachte genauso. »Siebenundachtzig, als Bismarck vor dem Reichstag sprach, gab er eine wunderbare Erklärung ab: ›Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt.‹ Danach hat er eine Stunde lang diesen verdammten feigen Friedensvertrag gerechtfertigt.« Joe blickte hilfesuchend zur leeren Treppe. »Feige? Ich habe es bisher immer als einen raffinierten Schachzug zur Schaffung des Friedens betrachtet. Rußland und Frankreich zusammen – zwei klassische Feinde Deutschlands in einem Bündnis – das wäre doch ziemlich gefährlich.« »Unsinn. Bismarck wurde wie ein alter Löwe zum Einzelgänger, Joe. Er hat seinem Führer offen widersprochen, dem er Treue geschworen hat. Der Kaiser hatte geradezu die Pflicht, ihn zu entlassen.« »Und das war dann die Belohnung dafür, daß er achtundzwanzig Jahre lang zuverlässig dem Kaiser gedient hat und stets für das eingetreten ist, was er für das beste hielt.« »Er hat Zwietracht gesät! Er hat rückwärts geblickt wie jeder alte Mann. Der Kaiser sieht in die Zukunft. Er denkt an die Schaffung eines neuen deutschen Reichs. Friedlich, so kann man nur hoffen, aber wenn nicht, dann auch mit Gewalt.« »Oskar, Sie reden wie ein Kriegstreiber. Was immer Sie von Bismarcks politischen Entscheidungen halten – und als Amerikaner haben mir viele nicht gefallen –« »Ja, wir alle wissen ja, auf welcher Seite Sie stehen.« Wütend fuhr Joe fort: »– er war und ist einer der großen Männer von Europa. Einer der großen Männer dieses Jahrhunderts. Ein wahrer Riese.« »Nein, nein – ein alter Löwe. In unserem Vaterland wächst eine neue Generation heran, die alte Löwen verdrängt. Sie haben Glück, daß Sie in diesem Land leben. Ich glaube, Sie selbst sind schon seit längerer Zeit so ein alter Löwe.« Joe hätte dem Mann am liebsten sein Bier ins Gesicht geschüttet. Glücklicherweise erschien in diesem Moment sein Lieferant im Ratskeller und winkte ihm. Joe zeichnete die Rechnung für das Bier ab und verließ schnell die Bar, um seinen Gast zu begrüßen. Die Begegnung mit Hexhammer ließ sich nicht so leicht verdrängen, und
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jedesmal, wenn er daran dachte, regte er sich aufs neue auf. Gegen Ende der Unterhaltung hatte er in seinem Kopf ein dumpfes Pochen verspürt. Er verlor allmählich die Kontrolle. Über sich selbst, die Familie, seine gesamte geordnete Existenz. Was das für die Zukunft zu bedeuten hatte – die unvorhersehbaren Gefahren und Fehlschläge –, machte ihm angst. Wie konnte er die Kontrolle zurückgewinnen? Sollte er den Braumeister hinauswerfen? Das wäre ein Anfang, aber das würde wohl nicht ausreichen. Was dann? Wo und wie könnte er seinen Einfluß auf die Ereignisse auf augenfällige Art und Weise demonstrieren, um sein schwindendes Selbstvertrauen wiederherzustellen? 69 PAUL Paul hatte Mühe, eine wasserdichte Decke über den Wäschekorb zu breiten. Der Wind peitschte ihm immer wieder seinen Schal ins Gesicht. Der Lieferwagen war in der Nähe des Lieferanteneingangs des Sherman House in der Clark-Straße angebunden. Jemand mit einer Mütze auf dem Kopf, den er wegen des Regens gesenkt hielt, kam aus der Randolph-Straße um die Ecke gestürmt. Er prallte mit Paul zusammen. Ein Haufen Handzettel flatterte durch die Luft. Paul bückte sich, um einige aufzuheben, die unter das Wagenpferd gerutscht waren. »Nicht so schlimm. Heute will sowieso niemand diese Dinger.« Diese betrübte Feststellung ließ ihn aufschauen. Er erkannte das jämmerliche Gesicht unter einer vom Regen triefenden Schiebermütze. »Hallo, erinnerst du dich noch? Wir haben uns auf der Rennbahn kennengelernt und später in Oberst Shadows Laden.« »Ja, stimmt.« Lew Kress stopfte nasse, zerknitterte Handzettel in die Taschen seines Wollmantels. Er trat in den Wind- und Regenschatten des Wäschereiwagens und hauchte auf seine nackten Hände. Der Novemberregen war eisig kalt und prasselte ohne Unterlaß heftig vom Himmel. Paul nickte mitfühlend. »Ein schlechter Tag, um für lebendige Bilder zu werben, finde ich.« »Nicht wahr? Ich hasse diesen verdammten Job. Ich hasse diese Stadt. Ich sollte eigentlich nach Hause zurückkehren.« Paul ging sofort auf das ein, was Lew Kress gesagt hatte. »Nach Hause? Wo ist das denn?« »Eine kleine Stadt in South Carolina. Branchville. Du hast sicherlich
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noch nie davon gehört, oder?« »Nein, habe ich nicht. Aber bestimmt ist es dort sehr schön. Warum fährst du nicht?« »Das kann ich dir verraten. Ich kann mir die Eisenbahnfahrkarte nicht leisten.« Er drückte sich an die Hauswand und schlug den Kragen seines schäbigen Mantels hoch. Er sah wirklich mitleiderregend aus. »Geld ist für mich genauso wie Wasser. Ich kann es nicht festhalten. Ich bin ganz verrückt auf – Huren. Ich gebe jeden Cent für sie aus.« »Und es ist wirklich nur das Geld für die Fahrkarte, das dich in Chicago hält? Wie hoch ist denn der Preis?« »In der zweiten Klasse beträgt er elf Dollars und fünfzig Cents. Das ist mehr, als ich jemals sparen kann. Aber, weißt du, ich bin völlig durchnäßt und friere jämmerlich. Ich gehe lieber.« Paul packte seinen Arm. »Ich beschaffe es.« »Was? Was meinst du?« »Ich sagte, ich beschaffe das Geld für deine Fahrkarte. Es dauert eine Weile, aber sobald ich es zusammenhabe, komme ich zu dir ins Studio.« Paul holte tief Luft. »Ich will nämlich deinen Job.« »Diesen Job? Bist du verrückt?« »Nein, ich finde ihn ganz in Ordnung.« »Shadow kann ein absolutes Ekel sein. Der reinste Sklaventreiber. Weißt du, was das heißt?« »Ich denke schon.« »Und dieser Jim, er ist ein ganz hinterlistiger Kerl. Dem würde ich niemals den Rücken zuwenden.« »Und wenn schon, ich will den Job. Ich möchte alles über die bewegten Bilder wissen. Ich bezahl’ dir die Reise nach South Carolina.« »Also, lieber Himmel –« Lew Kress’ Skepsis verflog, und seine Augen begannen zu strahlen. »Du bist ein prima Kerl, wirklich. Und du bist ehrlich. In Ordnung, abgemacht.« Sie reichten sich im strömenden Regen die Hände. »Du kommst vorbei, sobald du das Geld hast, okay? Wenn’s nach mir geht, komm so schnell wie möglich.« Er winkte Paul noch einmal zu und rannte weiter. Zum erstenmal seit Wochen vergaß Paul den furchtbaren Schock, dieses schreckliche Gefühl der Niederlage, das er nach den Neuigkeiten über Julie empfand. Er lachte und machte einige Tanzschritte auf dem regennassen Gehsteig. Chicago war ein einziger Knotenpunkt. Jede halbwegs bedeutende Persönlichkeit kam auf ihrem Weg von Ozean zu Ozean durch die Stadt. Männer mit neuen politischen Ideen, mit neuen Geschäftsvorhaben, neuen
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Erfindungen. Deshalb standen Paul und Wex an einem anderen trüben Tag fröstelnd auf der Straße. Es war der neunundzwanzigste November, der Tag nach Thanksgiving. Am Vortag war ein heftiger Schneesturm durchgezogen. Hohe Schneewehen säumten beide Seiten der Michigan Avenue. Der Wagenverkehr hatte in der Mitte eine matschige braune Spur geschaffen. Tief hängende Wolken warfen einen grauen Schleier auf alles, die wenigen Schaulustigen eingeschlossen, die auf beiden Seiten der Avenue standen. »Weshalb tun wir das nur?« war Wex’ rhetorische Frage. Er verschränkte die Arme und schlug sich mit Händen, die in geflickten Handschuhen steckten, gegen die Rippen. Er lachte nicht, schien in letzter Zeit nicht mehr er selbst zu sein und hatte dazu bisher keinerlei Erklärung abgegeben. »Wir wollen uns das Rennen ansehen. Sie haben erzählt, dies sei das erste Rennen dieser Art, das in Nordamerika veranstaltet wird.« »Ganz gewiß wird auch noch ein weiteres stattfinden. Bei besserem Wetter.« Paul lächelte, obgleich sein Gesicht steif vor Kälte war. Seine Nase war völlig taub, in seinen Schuhen stand das Wasser; seine Socken fühlten sich an wie Spüllappen. Sie warteten schon länger als eine Stunde. Mehrere dieser neuen »Motorwagen« sollten vom Jackson-Park über einen fünfundvierzig Meilen langen Kurs nach Norden ein Wettrennen fahren. Das Unwetter hatte offenbar für erhebliche Verzögerung gesorgt. Eine weitere halbe Stunde verstrich. Wex sagte, er brauche etwas zu trinken, um sich aufzuwärmen. Es gäbe nichts, was eine solche Tortur lohne. Währenddessen hörte Paul ein fernes Geräusch. »Sie kommen!« Im Süden tauchte ein seltsames Vehikel aus dem Dunst auf, gefolgt von einem zweiten. »Motorwagen!« Sie ähnelten leichten Kutschen ohne Pferde und hatten im hinteren Teil kleine Motoren. Der zweite Wagen folgte dem ersten in einem Abstand von fast einem ganzen Block. Sie näherten sich, schlingerten und schleuderten auf der heimtückischen Eisschicht unter dem braunen Schneematsch. Zwei weitere Fahrzeuge tauchten auf. Alle vier Fahrer waren bis zu den Augen in warme Kleidung gehüllt. Auf beiden Seiten der Straße brandete Applaus auf. Paul entdeckte eine kleine deutsche Fahne, die auf den zweiten Motorwagen aufgemalt war. »Benz!« brüllte er. »Los, schneller, Benz!« Wex konnte es nicht fassen. »Mein Gott!« brüllte er. »Sie fahren bestimmt acht oder neun Meilen in der Stunde! Ist so was möglich?« Der zweite Motorwagen fuhr vorbei. Der Motorenlärm der beiden Nachzügler wurde lauter. Einen identifizierte Wex als Electrobat, aber den
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zweiten erkannte er nicht. »In den Zeitungen war von acht oder neun Teilnehmern die Rede. Der Schnee muß die anderen zur Aufgabe gezwungen haben.« In diesem Moment entdeckte Paul auf der anderen Straßenseite eine vertraute Gestalt. Es war ein junger Mann in Knickerbocker, dickem Mantel, mit einer roten Strickmütze und roten Handschuhen. Paul winkte ihm. »Carl! Hier drüben!« Carl Crown rannte noch vor einem Polizeiwagen, von dessen Rädern der Schneematsch hochspritzte, quer über die Michigan Avenue. Er riß sich die Mütze vom Kopf. Seine Wangen waren beinahe genauso rot wie die Wolle. Paul machte Carl mit Wex bekannt, der dem Jungen die Hand schüttelte und dann anfing, auf der Stelle zu trampeln, um seine Füße anzuwärmen. »Du bist aber groß geworden, Carl. Wie alt bist du jetzt?« Carl grinste und war offensichtlich selig, Paul wiederzusehen. »In diesem Monat bin ich dreizehn geworden. Ich habe eine Woche Ferien und bin nach Hause gekommen. Zur Schule gehe ich in New York. Der Direktor ist ein alter Mistkerl.« Paul mußte über Carls neues Vokabular lachen. »Aber sonst ist doch alles in Ordnung, oder?« »Klar, aber nicht der Schulbetrieb. Dafür spiele ich neuerdings Football. Das gefällt mir. Und wie geht es dir?« »Ach, es läuft ganz prima. Ich habe einen guten Job. Mr. Rooney bringt mir das Photographieren bei. Danach möchte ich mich mit den bewegten Bildern befassen. Mit den sogenannten Filmen.« »Ich habe gehört, sie seien schlecht, schmutzig, verdorben. Mama sagte, daß Pastor Wunder in seiner Predigt dagegen gewettert hat. Er muß das Höllenfeuer beschworen haben.« Während er weiter mit den Händen gegen seinen Oberkörper schlug, sagte Wex: »Die bewegten Bilder sind ein neuer, wichtiger Bereich der Photographie, und die Photographie insgesamt ist eine Kunst und eine Technik, die die Welt bereichern kann. Sie kann Millionen von Menschen unterhalten und erfreuen. Sie sogar lehren –« Carl war offensichtlich ziemlich verwirrt, daher unterbrach Paul den Vortrag. »Dann erzähl doch mal, wie geht es Fritzi?« »Du kennst sie ja, Paul. Ein wenig verrückt. In diesem Monat glaubt sie, sie sei die Kameliendame. Sie hat irgendeine ausländische Schauspielerin gesehen –« »Helena Modjeska«, warf Wex ein. »Sie gastierte im letzten Monat in Chicago.« »Genau die meine ich. Fritzi imitiert sie ständig. Jeden Tag stirbt sie
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mindestens neun- oder zehnmal. Es macht einen krank.« »Habt ihr etwas von deinem Bruder Joe gehört?« Carl schüttelte den Kopf. »Niemand kann ihn finden. Ich glaube, er ist für immer und ewig verschwunden. Manchmal, wenn durch Zufall sein Name genannt wird, hören alle auf zu reden, und Ma scheint jeden Moment in Tränen auszubrechen.« Er legte Paul eine Hand auf den Arm. »Ich wünschte, du wärest nie weggegangen.« »Ich auch. Manchmal. Ich hatte keine andere Wahl.« Carl zog sich wieder die Mütze über die Ohren. »Ich gehe wohl besser nach Hause. Pa hat klipp und klar verlangt, ich solle nicht zu lange wegbleiben. Da ist er sehr streng.« »Das überrascht mich gar nicht«, sagte Paul. Er und Carl umarmten einander. »Viel Glück, Paul.« »Für dich auch. Lerne anständig, in dieser Welt mußt du nämlich etwas können, um voranzukommen.« Carl sprang mit einem verwegenen Satz über den Schneehaufen am Straßenrand und war schon bald im grauen Morgendunst verschwunden. »Ein großer Junge«, stellte Wex fest. Er nahm die Brille ab und wischte die Feuchtigkeit von den Gläsern. »Ich gehe jetzt auch endgültig. Ich brauche nämlich einen Whiskey.« »Aber wie sollen wir erfahren, wer das Rennen gewinnt?« »Ich kenne jemanden bei der Tribune. Den rufe ich später an.« Sie gingen von der Michigan Avenue zu Fuß zu einer kleinen Kneipe mit beschlagenen Fenstern. Sie betraten einen Vorraum, der wärmer war als die Straße. Dort blieb Wex stehen. Seine Nase leuchtete wie eine gläserne Erdbeere. »Hör mal, ich sage es nur, damit für dich alles klar ist. Ich weiß, daß du ganz scharf darauf bist, die Filmerei zu erlernen. Du kannst jederzeit ausziehen, wenn sich für dich eine günstige Gelegenheit ergibt. Ich würde es sogar begrüßen, ich werde bestimmt nicht traurig sein. Moment, das nehme ich teilweise zurück. Leid tun wird es mir schon, denn du bist eine angenehme Gesellschaft. Und jetzt komm mit rein zum Aufwärmen. Ich muß mit dir noch über etwas anderes reden.« »Über was denn?« »Nun – äh –« Sein Blick irrte ab. »Laß mal. Es ist nicht so wichtig.« Als die Innentür aufschwang und eine angenehme Wärme herausströmte, blieb Wex erneut abrupt stehen. »Hast du zufälligerweise Geld bei dir?« »Vierzig Cents.« »Das ist gut. Ich bin nämlich im Augenblick knapp bei Kasse.« Mit sorgenvoller Miene folgte Paul ihm in den Gastraum.
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Als er in dieser Nacht vor Kälte zitternd auf dem Speicher unter zwei Decken lag, konnte er nicht einschlafen. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Shadow, Lew Kress, seiner eigenen finanziellen Situation. Er hatte kein Geld mehr gespart, denn er hatte alles Wex geliehen. Wie sollte er an eine Eisenbahnfahrkarte herankommen? In den darauffolgenden Wochen fand er keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Eines Tages, am Montagabend vor Weihnachten, kehrte er wie üblich von seiner Arbeit zurück und sah vor dem Tempel einen Wagen stehen. Zwei Rollkutscher schleppten Möbel und Geräte aus dem Haus und luden alles auf den offenen Lastwagen. Es war eine kalte, windige Nacht mit einem sternenklaren Himmel. Wex stand auf der Straße, barhäuptig, die Hände in den Hosentaschen, und blickte zum Tempel-Schild hinauf. Paul lief zu ihm hin. »Wex, was geht hier vor?« Wex wollte ihm nicht in die Augen blicken. »Die Räumung. Meine Sachen kommen ins Lagerhaus. Morgen früh werden die Schlösser ausgetauscht.« »Aber warum?« »Weil die Miete mal wieder rückständig ist. Diesmal gleich um vier Monate. Der Vermieter war persönlich da. Er sagte, er habe einen neuen Mieter mit gutem Leumund und genug Geld. Er hat vor meiner Nase meinen Mietvertrag zerrissen.« »Ist das legal?« »Das ist es, wenn ich keinen Anwalt bezahlen kann, um mich dagegen zu wehren.« »Was ist denn mit Mr. Coughlins Versicherungsfonds?« Wex schüttelte den Kopf. »Bathhouse John hat gesagt, es täte ihm leid, aber der Fonds träte nur für Leute ein, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Er hat mich zu jemandem geschickt, der Geld gegen Wucherzinsen verleiht. Ich habe ein Schriftstück unterschrieben, das mich bluten läßt, bis ich hundert Jahre alt bin. Es war die einzige Möglichkeit, um zu bezahlen, damit ich wenigstens meine wenigen Habseligkeiten herausbekam und einlagern konnte.« Paul schäumte vor Wut. »Ich dachte, für die Miete sei genug Geld da. Ich habe Ihnen alles geliehen, was ich hatte.« Wex schien in seinem Mantel einzuschrumpfen. »Ich habe für zwei Monate bezahlt. Aber schuldig war ich die Miete für sechs. Ich hatte auf mein Glück vertraut. Den Rest des Geldes, meins genauso wie deins, habe ich bei verschiedenen Rennen unten im Süden verwettet.« »Per Telephon oder per Telegraph?«
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»Ach, du weißt schon, wie es geht?« »Ich hab’s in Erfahrung gebracht. Wieviel haben Sie verloren?« Wex schaute zu den funkelnden Sternen empor, als hoffte er auf das Erscheinen irgendeiner Gottheit, die ihn rettete. »Alles.« »Meine gesamten Ersparnisse?« »Ja, das muß ich zu meinem Bedauern zugeben.« »Wie konnten Sie das tun!« Wexford Rooney richtete sich vor ihm auf, blickte ihn wütend an. »Wer bist du eigentlich, daß du mir gegenüber diesen Ton anschlägst? Du bist nur ein Junge. Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt! Denkst du, das gefällt mir? Daß ich darauf stolz bin? Ich bin ein schwacher Mensch, Dutch. Viele schöpferische Künstler sind schwach. Du erwartest, daß ich der gute, perfekte Deutsche bin. Nun, verdammt noch mal, ich bin kein Deutscher, und ich bin nicht perfekt.« Wex drehte sich um und beobachtete, wie die Kutscher seine größte Kamera mitsamt Stativ heraustrugen. Sein schütteres Haar flatterte im nächtlichen Wind. Eine lachende Hure und ihr Kunde eilten vorbei zum Hotel Wampler. Einen kurzen Moment lang hätte Paul Wex Rooney am liebsten eine Ohrfeige verpaßt. Dann sah er, wie alt, klein, vom Schicksal geschlagen er doch war, während der Winter vor der Tür stand und damit die einträglichste Periode des Jahres, und er miterleben mußte, daß all seine Besitztümer, die Kameras, Reflektoren, Objektive wahllos auf den überladenen Lastwagen geworfen wurden. Der Kutscher, der die Aktion leitete, rückte seine Ohrenschützer zurecht und streifte sich die Handschuhe über. »Nichts mehr bei dieser Fahrt. Wir kommen morgen wieder.« Sie rollten in Richtung des hellen Glanzes der Clark-Straße davon. »Demnach werden wir also morgen auf die Straße geworfen«, stellte Paul fest. »Dutch, es tut mir leid. Es tut mir leid, daß ich dich beschimpft habe, und es tut mir noch mehr leid, daß dies alles passiert ist. Ich hatte damit gerechnet, daß es soweit kommt, ich wollte dich warnen. Ein dutzendmal habe ich dazu angesetzt, um es dir zu sagen, aber dann konnte ich es nicht. Ich bin ein Feigling. Ende der Woche verlasse ich die Stadt. Ich muß woanders einen Job antreten. Ich habe mich vor ein paar Wochen auf eine Annonce beworben, als ich das Ende kommen sah. Ich gehe als Helfer und als verantwortlicher Künstler für die Kolorierung zu einem großen Photostudio. Sieh doch, es ist keine Tragödie von Shakespeare«, sagte Wex mit seinem alten koboldhaften Lächeln. »Ich werde schon nicht verhungern. Du auch nicht. Es wird sowieso allmählich Zeit, daß du weiterziehst,
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darüber haben wir ja schon gesprochen. Vielleicht nimmt Shadow dich an. Brauchst du vielleicht ein Empfehlungsschreiben?« »Nein, das ist es nicht, was ich brauche. Ich hoffe, daß es Ihnen dort, wo Sie in Zukunft arbeiten, gutgeht. Ist es in New York oder in einer anderen großen Stadt?« »Ich wünschte, es wäre so.« Er seufzte. »Charleston, West Virginia.« »Wo liegt das denn?« »Nirgendwo. Es ist nirgendwo«, sagte Wex so leise, daß Paul es kaum verstehen konnte. Während er in der Kälte dastand und die dunkle Fassade des Tempels betrachtete, wurde Paul bewußt, wieviel ihm dieser Ort bedeutete. Wie teuer ihm dieser streitsüchtige, schwache, seltsame, widersprüchliche, idealistische, unpraktische Mann war. »Gibt es da drin noch was zu essen?« fragte er. »Nichts.« »Na dann los, kommen Sie mit, ich habe noch dreißig Cents. Wir können uns damit zum Abendessen Würstchen, Brötchen und Kaffee leisten.« Wex folgte ihm wie ein gehorsames Kind. Vereinzelte Schneeflocken schwebten durch die Spalten im Dach des Eisenbahnschuppens herab. Paul hatte Wex’ billige Koffer in den Waggon der zweiten Klasse getragen. Er wußte, daß Wex sich nicht einmal das Trinkgeld für einen Gepäckträger leisten konnte. Der Schaffner der Baltimore-Ohio-Linie legte die Hände wie einen Trichter um den Mund. »Einsteigen!« »Ich hasse das«, sagte Wex. »Bitte schicken Sie mir die Adresse des Studios. Sie haben mir versprochen, sie aufzuschreiben.« »Ja, das habe ich.« Er drückte Paul ein Stück Papier in die Hand. »Verzeihst du mir?« »Für was? Wir sind Freunde. Ich kann Ihnen das, was Sie für mich getan haben, niemals wiedergutmachen.« »O Gott.« Wex breitete die Arme aus, und die beiden Männer umarmten einander. »Ich wäre stolz, einen Sohn wie dich zu haben. Sehr stolz sogar.« Während er den alten Mann an sich drückte, gelang es Paul, ihm fünf Dollars in die Tasche zu stecken. Er hatte sich dieses Geld als Vorschuß von Mr. Graces Lohnbuchhalter geben lassen. Dampf zischte. Die Glocke erklang. Der Zugschaffner trieb die letzten Passagiere an, endlich einzusteigen. »Ich schreibe Ihnen, wenn ich weiß, wo ich gelandet bin und wo ich bleibe«, versprach Paul. Wex sprang auf das unterste Trittbrett. »Ich schreibe dir. Jemand muß
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schließlich dein Gewissen sein. Du bist viel zu schade, um unter die Räder zu kommen. Lebe wohl, Paul, mach’s gut –« Der Zug tauchte in die Winternacht ein. Schneeflocken schmolzen auf Pauls Gesicht. Genauso einsam hatte er sich damals auf dem Pier in Hamburg gefühlt. Und in der Stunde, nachdem sein Onkel Joe ihn aus dem Haus gewiesen hatte. Später ging er am Tempel der Photographie vorbei und blieb stehen, um am Vorhängeschloß und an der Kette zu ziehen, mit der die Eingangstür gesichert war. Er trottete weiter und trug seinen kleinen Koffer mit ein paar Kleidern und seinen Erinnerungsstücken: mit dem Globus, der Papierfahne, einem Päckchen Ansichtskarten, die mit einem Gummiband umwickelt waren, und mit der Stereoskopkarte. Er war zu stolz, eine der Bordellbesitzerinnen anzusprechen, ihr zu erzählen, er habe kein Zuhause mehr, und sie zu fragen, ob sie ihn in irgendeiner Ecke schlafen lassen würde. Er strich durch das Levee, bis er eine ausrangierte Packkiste aus Holz fand, die an einer Seite aufgebrochen war. Er kroch hinein und schlief dort. In seinem Traum erschien der Bäcker von Wuppertal. In seiner Prophezeiung bestätigt, lachte er über den dummen Paul und seine Not. Er erwachte halb erfroren bei Tagesanbruch. Die Dampfwäscherei öffnete ihre Tore um fünf, daher schlüpfte er schon früh hinein und erledigte seine Morgentoilette im Umkleideraum der männlichen Angestellten. Seine Hände waren so steif, daß er kaum den Rasierapparat festhalten konnte. Da er sich ohne Seife rasierte, zerkratzte er sein Gesicht, und die Haut rötete sich. Einigen Mädchen fiel das auf. Paul sagte, es sei eine Folge des kalten Winterwetters. In den nächsten Nächten schlief er überall dort, wo er unterkriechen konnte und ein wenig Schutz fand. Während der zweiten Nacht in der Packkiste erwachte er von einer Ratte, die an seinem Schuh knabberte. In einer anderen Nacht floh er aus der Kiste vor einem knurrenden Hund, der es auf sein Bein abgesehen hatte. Gegen Ende der Woche hatte er das Geld abgearbeitet, das Mr. Graces Lohnbuchhalter ihm als Vorschuß gezahlt hatte, und kündigte seinen Job. Albert Grace hörte davon und wartete am Ende des Arbeitstages auf Paul. Grace war nicht mehr der aufgeblasene Autokrat, sondern er war ziemlich zerknirscht. Alle Betriebe, die Paul auf seinen Routen anfuhr, hatten Paul gern. Der Umsatz hatte deutlich zugenommen, weil er zuverlässig und fleißig war. Der Firmeninhaber kam händeringend auf ihn zu und fragte, ob irgendeine gedankenlose Reaktion seinerseits zu diesem
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abrupten Ausscheiden geführt habe. Paul verneinte das. Grace bat ihn, es sich doch noch einmal zu überlegen, und versicherte ihm, daß ihm eine steile Karriere im Wäschereigewerbe sicher sei, er brauche nur zuzugreifen. Paul bedankte sich bei ihm und erklärte, sein Leben schlüge gerade eine ganz andere Richtung ein. Am gleichen Abend stellte er seinen Koffer bei Madame Camille unter. Um Mitternacht, im Bahnhof der MononEisenbahnlinie, sprang er auf einen Güterzug auf und rollte sich in der Ecke eines geschlossenen Güterwagens zusammen, während der Zug nach Süden in Richtung Indiana ratterte. Bei Tagesanbruch stolperte er über den harten Untergrund. Er war in Greencastle vom Zug abgesprungen. Der verschlafene Bahnhofsvorsteher erklärte ihm die weitere Route. Er wollte von dort den ganzen Weg nach Reelsville zu Fuß zurücklegen. Ein weißer Nebel hüllte die Welt ein, schluckte und dämpfte alle Geräusche. Die Bäume sahen aus wie seltsame Gebilde aus gebogenem Draht. Der Winter hatte das Land in eine Wellenlandschaft aus gefrorenem Schlamm verwandelt, die mit Schnee wie mit Puderzucker bestäubt war. Seine dahinschlurfenden Füße knickten abgestorbene Kornhalme ab, als er die brachliegenden Felder überquerte. Seine Stirn und seine Wangen brannten. Wie kam es, daß er sich im Dezember so warm fühlte? Er hatte eine gute Idee. Er wollte sich hinlegen. Er hob seinen linken Fuß und setzte ihn ein Stück weiter wieder auf den Boden. Er hob seinen rechten Fuß und machte den nächsten Schritt. Der Horizont begann zu schwanken. Er wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte, dann ging er weiter. Er durchlebte wieder seinen Marsch nach Chicago, diesmal mit einer anderen Absicht, aber mit der gleichen Entschlossenheit. Drei Schweine quiekten, als er durch das Hoftor trat. Er lehnte sich an einen verwitterten Zaun, dann stolperte er im schneidenden Wind an der Seite des Hauses entlang. Ein Licht brannte hinter einem ausgebleichten Baumwollvorhang vor dem Fenster der Hintertür. Paul klopfte gegen das Glas. Er lehnte seine Stirn gegen die Seitenwand des Hauses und schloß die Augen. Jemand hob den Fenstervorhang hoch. Die Tür ging auf. Ihre Stimme, verblüfft, verwirrt, traf ihn wie ein Segen. »Dutch! Was tust du denn hier?« Er schlug die Augen auf, konnte aber kaum etwas erkennen. »Nancy. Du sagtest doch mal, du würdest mir helfen, wenn ich es nötig hätte. Ich brauche diese Hilfe jetzt. Ich muß mir Geld leihen. Und zwar genau elf Dollars und fünfzig Cents …«
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70 ROSIE Rosie ging im Frühjahr 1895 nach New York. Sie hatte das Geld dafür in Chicago zusammengespart, aber es ergab sich, daß sie es nicht auszugeben brauchte. Sie schlief zweimal mit einem Eisenbahnschaffner in einem leeren Pullman-Abteil, und er schrieb ihr eine Anweisung für die vollständige Rückerstattung ihres Fahrpreises. Ihr Leben lang würde sie den Knoblauchgeruch seines Atems und den Gestank seiner wollenen Uniform nicht vergessen. Als sie den New Yorker Zentralbahnhof verließ und sich in die riesige, dröhnende, atemberaubend dicht bevölkerte Stadt stürzte, war sie so erregt wie noch nie zuvor. Mit ihrem billigen, mit einem Blumenmuster bedruckten Koffer in der Hand fragte sie einen Polizisten nach dem Weg und begab sich zu der einzigen Straße, die sie mit Namen kannte, zur Bowery. Sie befand sich mitten in der Stadt. Sie hatte gelesen, daß sie das Zentrum des New Yorker Theaterbezirks und eine Hauptverkehrsstraße war, die von Männern der oberen Gesellschaftsschichten besucht würde, wenn sie ganz spezielle Zerstreuung suchten. Sie war enttäuscht, als sie die Bowery sah. Es gab nur wenige Theater, und diese wenigen waren auch noch ziemlich heruntergekommen. Sie warben mit Varietéprogrammen und befanden sich zwischen Schießbuden, Kuriositätenkabinetten, türkischen Bädern und Hotels, die ihre Zimmer »für die Nacht, den Tag oder stundenweise« vermieteten. Gentlemen waren auch nicht zu sehen, dafür aber schmutzige Landstreicher mit Flaschen, die sie in Papiertüten gewickelt hatten. Ein Schlepper machte sich an sie heran. Seine Kleider stanken nach Erbrochenem, und sein Atem roch noch schlimmer. »Willste was zu rauchen, Kindchen? Ich weiß, wo du was bekommen kannst.« »Ich nehme kein Rauschgift. Verzieh dich schnellstens, oder ich rufe die Polente!« Er schimpfte sie ein Miststück, trollte sich aber. Musik drang aus vielen Spelunken, an denen sie vorbeiging. Ein Klavier hatte sogar Mandolinenbegleitung, wodurch das hektische Spiel des Solisten klang wie Hämmern auf einen Amboß. Männer in Abendanzügen rasselten vor Kuriositätenkabinetten ihre Werbesprüche herunter. Mitten zwischen den Droschken, Kabrioletts und Ponywagen rollte durch Haufen von Pferdemist ein buntbemalter offener Wagen voll elegant gekleideter Passagiere, die sich die Hälse verrenkten und angemessen schockierte Gesichter zogen. Auf der Seitenfläche des Wagens war zu lesen: BROADWAY SIGHTSEEING CO. Die sichere Art, das Straßenleben von
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New York kennenzulernen. Ein Fremdenführer, der vorne im Bus stand, brüllte seine Kommentare in ein Megaphon. Ein Säufer, der neben Rosie herwankte, schleuderte seine leere Weinflasche gegen den Wagen. »Verdammte Gaffer!« Sie befand sich ganz sicher nicht im elegantesten Viertel. Während sie müde und hungrig weitermarschierte, sanken ihre Hoffnungen nahezu auf den Nullpunkt. In einem nur dürftig beleuchteten Café kaufte sie sich für zwei Pennies ein zähes Brötchen und eine Tasse Kaffee. Und an diesem Ort kehrte ihr Glück zurück. Sie wurde von einem gutaussehenden Mann mittleren Alters angesprochen, dessen Gesicht vom Alkohol gezeichnet war. Als der Abend anbrach, hatte sie ein Bett in einer Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines Mietshauses. Das Bett und die Wohnung gehörten dem Mann, dessen Nachname Stopes lautete. Mit Vornamen hieß er Buck, die Abkürzung für Buckingham. Stopes war verrückt nach weiblichem Fleisch, je jünger, desto besser, und Rosie hatte nichts dagegen, sich ihm als Gegenleistung für ihre vorübergehende Bleibe hinzugeben. Wenigstens war Stopes sauber. Und er redete wie ein gebildeter Mensch. Seine Behausung bewies leider, daß er nicht fähig war, seine Intelligenz dafür einzusetzen, nach oben zu kommen, und zwar nicht nur stockwerkmäßig. In den obersten Stockwerken eines Mietshauses wohnten immer die ärmsten Leute, das wußte sie aus Chicago. Die Wohnung besaß keine Elektrizität. Keine Toilette. Anstelle eines Waschbeckens ragte ein Wasserkran aus einer Wand mit einem Auffangbecken auf dem Fußboden darunter. Das Hausdach diente den Hausbewohnern als eine Art Park und Promenade. Viele ähnliche Dächer, die durch schmale Luftschächte voneinander getrennt waren, bildeten eine Straße über der Straße; einen regelrechten Verkehrsweg für Einsteigediebe, Schuldeneintreiber, Mietschuldner. Rosie hatte in ihrem Leben schon viele armselige Orte gesehen, aber keinen, der so schmutzig, so dunkel und so deprimierend war wie dieser. Sie nahm sich vor, bei der erstbesten Gelegenheit wieder von dort zu verschwinden. Das verriet sie ihrem Wohltäter natürlich nicht. Buck Stopes bezeichnete sich als »Impresario«. Sie hatte das Wort noch nie gehört. Er sagte, es bedeute, daß er Unterhaltungsveranstaltungen produziere. Sie fand das aufregend, bis sie erfuhr, daß seine Produktionen sich auf verbotene Kämpfe zwischen einem Foxterrier und fünfzig bis hundert Ratten in einer mit Zinkblech ausgeschlagenen Arena beschränkten, die von Bänken umringt war. Diese Arenen befanden sich meistens in sorgfältig bewachten Lagerhäusern, die man von einer Nebenstraße aus betrat. Die Zuschauer bei diesen Veranstaltungen – die ziemlich aus der
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Mode waren, wie Stopes zugab – wetteten auf die Anzahl von Ratten, die der Hund in einer bestimmten Zeitspanne totbiß. Stopes Terrier, Boss Tweed, trug seinen Namen zu Ehren eines verstorbenen Politikers, Anführer eines Rings von geldgierigen Amtsinhabern, die die Stadtkasse von New York City um Tausende, wenn nicht gar um Millionen von Dollars erleichtert hatten. Rosie machte Stopes unmißverständlich klar, daß sie niemals eine seiner kleinen Sportveranstaltungen besuchen werde. Allein damit konnte Stopes seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Sein eigentlicher Job war der eines Schleppers für Nagle’s Dime Museum, eine Kuriositätenshow. P.T. Barnum hatte als erster mit einem solchen Museum großen Erfolg gehabt, und die vielen Nachahmungen waren noch immer sehr beliebt. Im Nagle’s konnte der staunende Bauerntrampel vom Lande alle möglichen Kuriositäten besichtigen, seien sie nun menschlicher oder technischer Natur. Das schachspielende Ägyptische Rätsel zum Beispiel, eine bunt bemalte, pharaoähnliche Figur mit goldenem Kopfschmuck, die von innen von einem Zwerg namens Archie betrieben wurde; den Panorama-Mann, auf dessen rundum tätowiertem Körper eine komprimierte Darstellung der Menschheitsgeschichte seit Adam und Eva zu besichtigen war; das Wunder ohne Gliedmaßen und Henrietta, die Vierbeinige Henne, sowie den Bartjungen (Archie, diesmal in einer raffinierten anderen Verkleidung). Die größte Attraktion war Professor Quine, der Mann mit der Wunderkehle. Viermal am Tag zerstampfte er eine Glasflasche, ein Wasserglas und eine Fensterscheibe und verzehrte sämtliche Scherben. Unten im Keller des Nagle’s gab es eine große Grotte aus Pappmache. Für einen zusätzlichen Nickel konnten männliche Besucher sich dort The Living Picture Gallery ansehen, eine Serie sogenannter »lebender Bilder«. Auf einer winzigen Bühne posierten einige Minuten lang in durchsichtigen Trikots drei Frauen, die durchweg unattraktiv und erheblich übergewichtig waren. Dazu bot der Professor Melodien auf der Violine dar. Stopes bot Rosie an, ihr einen Job in dieser Galerie zu besorgen, doch sie lehnte ab. Sie arbeitete lieber in einem Betrieb, der von Kunden der gehobenen Gesellschaftsschichten besucht wurde. In einem Etablissement, in dem sie vielleicht sogar die Chance hatte, als Sängerin aufzutreten. »Zum Teufel, Baby, ich nehm’s dir nicht übel«, sagte Buck Stopes. »Gut genug siehst du ja aus. Du solltest dich mal in den Edelschuppen oben an der Sechsten Straße umsehen. Einige der Tanzhallen wie das Haymarket sind richtige Drecklöcher, aber einige sind ganz okay. Stitch Meyers Alhambra an der Ecke der Sechsten und der Neunundzwanzigsten Straße ist einer der besten Läden.«
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Die Alhambra Dance Hall war ein zweistöckiges Gebäude mit einer Innenund Außenarchitektur, die an arabische Nächte denken ließ. Zu Rosies Überraschung rief Stitch Meyer sie schon fünf Minuten nach ihrem Erscheinen in sein Büro. Meyer war ein kleiner, kräftiger, rothaariger Mann, der einen goldenen Trauring und die adrette, konservative Kleidung eines Bankiers trug. Er unterhielt sich mit Rosie bei geschlossener Bürotür und rührte sie nicht an und machte auch keinerlei anzügliche Bemerkung. »Sie sind sehr hübsch, und ich kann immer eine schöne Frau als Serviererin gebrauchen. Ich erkläre Ihnen, wie die Dinge im Alhambra laufen, und Sie können dann entscheiden, ob es Ihnen zusagt oder nicht. Unten haben wir eine Tanzhalle –« »Ja, Sir, die habe ich gesehen.« »Tische, gutes Essen, ein anständiger Drink zu einem reellen Preis. Es gibt ein Programm, drei Shows am Abend. Nichts Unanständiges. Grundsätzlich ist das hier ein Treffpunkt. Solide Herren aus der Stadt, aus Westchester oder aus Jersey von der anderen Seite des Hudson kommen her, um sich ein wenig zu zerstreuen. Sie suchen ein wenig Vergnügen. Um hübsche junge Ladies kennenzulernen. Was nachher passiert, nachdem ein Mann eine junge Dame im Alhambra gefunden hat, ist nicht mehr meine Sache. Ich verdiene meine Prozente mit dem Essen und den Drinks und dem Eintritt von fünfzig Cents – für die Herren, natürlich, die Ladies kommen umsonst rein.« »Ich verstehe.« »Außerdem dulden wir keine engen Tänze auf der Tanzfläche. Wenn ein Herr mit einer Dame enger tanzen will, verziehen sie sich in eine der kleinen Kabinen an der Seite mit den Vorhängen. Mit anderen Worten, das Alhambra ist nicht so wie einige andere Löcher im Bezirk. Ich weiß, was Männer schon mal gerne tun, selbst wenn sie verheiratet sind, also schaffe ich ihnen eine respektable Umgebung, um es zu tun.« Er lehnte sich zurück und faltete die Hände auf seiner Weste aus goldfarbenem Satin. »Wie klingt das?« »Es klingt okay, Mr. Meyer. Sie sind ehrlich zu mir, darum will ich ehrlich zu Ihnen sein. Weshalb ich eigentlich nach New York gekommen bin, ist, um als Sängerin aufzutreten.« »Nun, ich stelle keine Serviererinnen ein, die sich auch noch als Sängerinnen produzieren. Vielleicht machen wir mit Ihnen mal einen Versuch in der Show, aber erst wenn Sie schon eine Weile hier waren. Für den Anfang zahle ich zwei Dollars die Woche, aber Sie dürfen jeden Cent Trinkgeld behalten. Da kann einiges zusammenkommen. Ach ja, noch
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etwas Wichtiges. Sie dürfen die Ladies, die jeden Abend herkommen, nicht stören. Wenn irgendein Mann sich für Sie interessiert und sich mit Ihnen verabredet, in Ordnung, das ist allein Ihre und seine Sache. Aber ich dulde es nicht, daß meine Mädchen den Stammgästen Konkurrenz machen. Ich stelle Sie ein, damit Sie für mich arbeiten. In Ordnung?« »In Ordnung.« Stitch Meyers Grinsen entblößte mehrere goldene und silberne Zähne. »Na fein. Wenn Sie wollen, können Sie schon heute anfangen.« Stitch Meyers Alhambra hatte eine angenehm warme Beleuchtung und war mit gedämpftem Lärm erfüllt. Gewöhnlich herrschte viel Betrieb dank seines Rufs als anständiges, sicheres Etablissement. Rosies Arbeit erwies sich als durchaus profitabel und freundlich. Es war nicht unbedingt eine Lebensstellung, aber ganz sicher eine sehr angenehme Zwischenstation. Sie wünschte sich, Joey Crown könnte sie in ihrem mit Fransen verzierten roten Kleid sehen; oder Jimmy, der ein phantastischer Liebhaber war, in dessen Kopf jedoch ein beängstigendes Durcheinander herrschte. Würden sie nicht denken, daß sie etwas ganz Besonderes ist, die Haare adrett hochgesteckt, das Gesicht mit Rouge geschminkt, an den nackten Armen und zwischen den Brüsten parfümiert? Dächten sie nicht, daß sie tatsächlich in dieser Welt vorankam? Sie befolgte peinlich genau die Anweisungen. Wenn sie mal mit einem Kunden flirtete, dann geschah es zurückhaltend, beinahe scheu. Dennoch verdiente sie in der ersten Woche bei vier nächtlichen Verabredungen insgesamt zwanzig Dollars, ohne den Unwillen der Geschäftsleitung oder auch nur deren Aufmerksamkeit zu erregen. Sie fand im Alhambra auch neue Freunde. Professor Spark, der das kleine Trio aus Klavier, Violine und Kornett leitete, hörte sich eines Abends nach Feierabend ihren Gesang an und sagte, sie klinge »vielversprechend«, brauche jedoch eine »formale Ausbildung«. Sie ahnte, daß der Professor damit meinte – sie wurden alle Professor genannt, diese Klavierartisten –, sie singe nicht sehr gut. Egal. Im Programm eines dieser berühmten Etablissements wie das Tony Pastor in der Vierzehnten Straße aufzutreten war nur eine Sprosse, nicht das obere Ende der Leiter. Das Ende der Leiter konnte sie kaum sehen, es befand sich hoch oben in den weißen Wolken, wo die Mauern und Türme der goldenen Villa eines reichen Mannes glänzten. Eine der Varieténummern bei Stitch Meyer war eine fünfköpfige Tanztruppe von Frauenimitatoren. Der beste von ihnen, Fanny Hawkins, interessierte sich sofort für Rosie und sie sich für ihn. An dem Abend, an
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dem sie sich kennenlernten, gestand Fanny, daß sein richtiger Name Franklin sei, der ihm aber verhaßt sei. Fanny Hawkins war ziemlich stämmig gebaut, aber eine gewisse Beleibtheit war bei Männern durchaus beliebt. Er trug eine Perücke mit blonden Locken, beherrschte die Kunst des Schminkens, hatte porzellanblaue Augen und eine weiche, nahezu unbehaarte Haut (Rosie sah ihn in seiner Garderobe sehr oft fast nackt). In Rosies Augen war Fanny noch viel schöner als Lillian Russell. Seine Männlichkeit war praktisch nicht mehr zu erkennen. Fanny freundete sich mit Rosie an und bewahrte sie vor brutalen oder geizigen Kunden, wann immer er sie erkennen konnte. Er hörte sich Rosies Pläne an – eine Gesangskarriere, die in eine Ehe mit einem reichen Mann mündete, egal wie alt. Als neuer und treuer Freund prophezeite Fanny, daß Rosie dieses Ziel ganz sicher erreichen würde. Bereits Anfang Dezember wurde sie im Alhambra allmählich unruhig und unzufrieden. Zu viele Monate waren verstrichen, in denen es nur Trinkgelder gab oder gelegentliche Abstecher auf die Matratze in einem nahe gelegenen Hotel. An einem Donnerstag kam Rosie um die übliche Uhrzeit zur Arbeit. Draußen braute sich ein Schneesturm zusammen. Es war einer jener typischen langweiligen Abende bis kurz nach halb elf. Zu diesem Zeitpunkt, als Fanny und seine Kollegen ihre Sondershow auf der kleinen Bühne beendet hatten, bemerkte Rosie eine gewisse Unruhe am Eingang. Während sie an einem Tisch bediente, reckte sie den Hals, um zu erkennen, was dort los war. Stitch Meyer begrüßte überschwenglich einen neuen Gast. Einen großen, dicken Mann mit rosigem Gesicht. Er trug einen eleganten grauen Mantel mit schwarzem Pelzkragen und hatte einen glänzenden schwarzen Zylinder in einer Hand. Geschmolzene Schneeflocken funkelten in seinem dunklen Haar wie Diamanten. Er schien von zahlreichen Gästen erkannt zu werden, die er jeweils mit tiefer, volltönender Stimme als »Kumpel« oder »alter Junge« begrüßte. Meyer geleitete den dicken Mann höchstpersönlich an einen besonders guten Tisch. Professor Spark kam herbeigeeilt, um ihm die Hand zu schütteln. Dabei verbeugte er sich vor ihm, als sei er eine königliche Hoheit. Fanny war gerade an der Bar und trank ein Bier. Rosie drängte sich mit ihrem Tablett durch die Gästeschar, reichte dem Barkeeper ihren Bestellzettel und eilte dann weiter zum Ende der Bar, um mit Fanny zu sprechen. »Wer ist denn dieser tolle Knabe? Jeder außer mir schient ihn zu kennen.«
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»Jeder südlich der Vierundzwanzigsten Straße«, bestätigte Fanny mit seiner weichen, tiefen Altstimme. »Das ist –« Aber Stitch Meyer kam ihm zuvor, kletterte auf die Bühne und bat mit einer Handbewegung um Ruhe. »Ladies and Gentlemen, das Alhambra hat heute die Ehre, einen seiner liebsten Gäste begrüßen zu dürfen. Hier vorne sehen Sie den zur Zeit erfolgreichsten Tonkünstler Amerikas – den unvergleichlichen Komponisten und Showstar – Mr. Paul Dresser. Paul, zeigen Sie sich Ihrem Publikum.« Der freundliche dicke Mann stand schwerfällig auf und winkte. Ein Brillant funkelte am kleinen Finger einer Hand. Sein Anzug und die Satinkrawatte mit der saphirbesetzten Krawattennadel waren genauso elegant wie sein Mantel und sein Zylinderhut. Er trug eine besondere Weste aus rotem Satin mit grüner Paspelierung und aufgenähten kleinen goldenen Glöckchen. Rosies Herzschlag beschleunigte sich angesichts solcher Eleganz. Aber der Name des Mannes hatte keinerlei Bedeutung für sie. Das sagte sie auch Fanny. »Nun hör aber auf. Du kennst Paul Dresser nicht? Er schrieb doch den erfolgreichsten Song des Jahres! Erzähl von mir.« »Na klar, den kenne ich.« Sie hatte ihn ständig in Chicago und New York gehört. Es war eine rührselige Ballade, gesungen von einer jungen Frau, deren Leben im Strudel einer Leidenschaft ruiniert worden war. Straßenorgeln spielten die Melodie. Zeitungsjungen pfiffen sie. Rosie hatte sogar in einem Andenkenladen ein großes Ansteckabzeichen mit dem Songtitel darauf gesehen. Erzähl von mir war gerade der beliebteste Song. »Eine halbe Million Noten wurden bereits verkauft, und die Nachfrage reißt noch immer nicht ab«, erzählte Fanny ihr. »Ich weiß nicht, wann Dresser seine Hits schreibt, er liegt nämlich die meiste Zeit mit einer Frau im Bett.« »Mit welcher Frau?« »Mit jeder, die ihm gefällt. Und davon hat er eine ganze Menge. Ich würde es ja auch gerne mal ausprobieren, aber ich fürchte, er wäre ziemlich enttäuscht, wenn er mir die Hose runterzieht.« Rosie lachte. Fanny zündete sich eine lange, dünne Zigarre an. »Es heißt, er habe mal ‘nen Tripper gehabt, aber wer weiß das schon genau? Wenn es überhaupt jemand gibt, der einem behilflich sein kann, so was wie Karriere zu machen, dann ist es Broadway Paul.« »He, Rosie, du sollst hier kein Kaffeekränzchen veranstalten!« brüllte der Barkeeper. Er knallte ein Tablett voller Drinks auf die Bar. »Ich komm gleich, Kippie. O mein Gott, Fanny – wie schaffe ich es, daß er auf mich aufmerksam wird?«
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Darauf wußte Fanny auf Anhieb keine Antwort. Während Rosie ihre Kunden versorgte, konnte sie kaum den Blick von dem Songschreiber lösen, den sie auf etwa vierzig Jahre schätzte. Er bestellte eine Flasche vom besten Hauswhiskey, und innerhalb von zwei Minuten konnte sie verfolgen, wie er zwei Doppelte kippte und sich einen dritten einschenkte. Sein Gesicht rötete sich noch stärker. »He, Paul, spielen Sie uns mal was vor!« rief ihm ein Gast von einem Tisch in der Nähe zu. Die anderen Gäste applaudierten und pfiffen. Der Komponist spielte den Bescheidenen und schüttelte den Kopf. Der Applaus wurde lauter, angefeuert von Professor Spark, der mit der flachen Hand im Takt auf sein Klavier schlug und einladend auf den Hocker deutete, den er soeben freigemacht hatte. Immer noch eine widerstrebende Haltung an den Tag legend, die Rosie sofort als totale Täuschung durchschaute, erhob Dresser sich. Eine Frau winkte ihm mit einem blauen Taschentuch zu. »Paul, spielen Sie uns was von diesem neuen schnellen Zeug.« Dresser verlor seine gute Laune. »Diesen schrägen Negermist aus St. Louis? Nicht mit mir! Ich weiß, was die Leute wollen. Die Herz-SchmerzBalladen. Richtige Lieder.« Aufbrandender Applaus bestätigte die Richtigkeit seiner Auffassung. Dresser schlängelte sich zwischen den Bewunderern an den Tischen in der ersten Reihe hindurch. Für einen Mann von seinem Leibesumfang bewegte er sich mit erstaunlicher Eleganz. Geld – Talent – ein Frauenheld – was könnte sie tun, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? Dresser drehte die Sitzfläche des Klavierhockers herunter. Rosie befand sich im Schatten, wo ein schmaler Balkon über die Bar hinausragte. Indem sie sich an einem der Balkonpfosten abstützte, um sich Mut zu machen, rief sie: »Spielen Sie uns Ihren Hit, Mr. Dresser, den will ich hören!« Dresser überschattete mit der Hand die Augen. »Wer war das?« Rosie trat aus dem Schatten. »Ich, Mr. Dresser.« Über die Köpfe der Gäste hinweg begutachtete er sie von oben bis unten. Beine, Hüften, Brüste, Gesicht. Er lächelte und verneigte sich. »Der Wunsch einer schönen jungen Lady ist mir stets Befehl.« Er drehte sich um und setzte sich. Mit der rechten Hand wischte er über die Tastatur, von unten nach oben, und intonierte ein perlendes Arpeggio. Neuer Applaus. Er zupfte die Manschetten seines Oberhemdes zurecht; der Brillant am kleinen Finger blitzte. Und dann begann er zu spielen und sang dazu mit einer angenehmen Stimme. »Erzähl von mir! So sagte sie, Sie denken sich den Rest. Flüster’s in’s Ohr meiner lieben Mama,
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daß ich gestern phantastisch aussah. Sag ihr doch, ich lieb’ sie sehr, Genauso innig wie bisher …« Er sang seinen Song vollständig bis zum Ende und schaute dabei nicht auf die Klaviertasten oder zu den aufmerksam lauschenden Gästen, sondern er sah nur sie an. Um halb zwölf zog Rosie sich in dem schäbigen kleinen Raum um, der den Serviererinnen als Garderobe zur Verfügung stand. Mit ihrem billigen Tuchmantel über dem Arm eilte sie mit zitternden Beinen durch den Flur. Kurz vorher hatte Dresser ihr eine schriftliche Nachricht zugesteckt, in der er sie bat, an seinen Tisch zu kommen. Als sie ihm den Gefallen tat, erklärte er, er habe mit Stitch Meyer »alles geregelt«. Meyer hatte die direkte Art gar nicht gefallen, mit der sie den Komponisten angesprochen hatte. »Aber da ich derjenige war, hat er sich nicht allzusehr aufgeregt.« Dresser informierte sie, daß sie das Alhambra sogar zwei Stunden vor Feierabend verlassen dürfe; auch das hatte er offenbar geregelt. Er erwartete sie am Eingang und nahm ihr den Mantel ab. Durch das gemusterte Glas der Doppeltüren sah sie ein Kabriolett im Schneegestöber am Bordstein stehen. »Das ist sehr aufregend für mich, Mr. Dresser. Wohin fahren wir?« Er half ihr in den Mantel. Als sie hineingeschlüpft war, kam er um sie herum und legte einen Arm um ihre Taille. Er streichelte die üppige Kurve ihres Hinterteils. »Meine Liebe, für jemanden, der so frisch und hübsch ist wie Sie, gibt es nur einen Weg. In die Stadt.« Er zog seinen Arm weg. Rosie knöpfte den Mantel zu. Dresser setzte sich den seidenen Zylinder auf den Kopf und bot ihr galant seinen Arm an. Sie verbrachten die Nacht in Dressers Suite im Gilsey House, einem eleganten Hotel am Oberen Broadway. Rosie hatte noch nie feudalere Zimmer gesehen, hatte noch nie derart saubere Bettwäsche gefühlt und den Duft frischer Rosen aufgesogen, die in einer Vase auf dem Nachttisch standen. Dresser war ein feuriger und perfekter Liebhaber. Nach dem zweiten Mal unterhielten sie sich eine Stunde lang. Am nächsten Tag verabschiedete Rosie sich von Stopes, ohne ihn noch einmal zu sehen. Sie holte lediglich ihre Sachen aus der Wohnung, während er bei Nagle arbeitete. Sie rief ein Taxi, um die Bowery hinter sich zu lassen. Dresser hatte ihr
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Geld gegeben, einen ganzen Zehner. Nicht als Bezahlung, so sagte er mit Nachdruck, sondern nur als kleines Geschenk für eine reizende Person, an die er im Augenblick sein Herz verloren hatte.
71 PAUL Paul suchte Shadow an einem nebligen Sonnabend auf, vierundzwanzig Stunden nachdem Lew Kress die Stadt verlassen hatte. Es war der 28. Dezember 1895. Jimmy Daws hatte Dienst im Guckkastenstudio. Paul fragte nach dem Oberst. »Oben.« Das kam so mürrisch heraus wie immer. Er traf den Oberst im ersten Stock an, allerdings in einer unerwarteten Position. R. Sidney Shadow III. lag in Hemdsärmeln auf dem Rücken unter dem Spülstein. Er fluchte laut und wortreich, während er versuchte, ein Abflußrohr zu reparieren, aus dem Wasser in sein Gesicht rann. Seine große Rohrzange war fettig, und Fettspuren befanden sich an seinen Knöcheln, seinen Ohren, seinem Kinn, seinem Hemdkragen und den Hosenträgern. Er hörte Paul hereinkommen; seine Augen befanden sich auf einer Höhe mit Pauls Schuhen. Er kroch unter dem Spülstein hervor und stieß sich beinahe den Kopf. Er schob einen Topf unter den Spülstein, um das Wasser aus dem noch immer defekten Rohr aufzufangen, und griff nach einem Handtuch. »Oberst, es tut mir leid, wenn ich Sie bei der Arbeit störe –« »Keine Entschuldigungen, Junge. Das ist kein Job für einen anständigen Gentleman. Was kann ich für dich tun?« »Da das Jahr fast zu Ende ist, dachte ich, ich frage noch mal nach wegen eines Postens.« »Mein Gott, kannst du Gedanken lesen? Sei gegrüßt, großer Meister!« Er verneigte sich. »Einer meiner Jungs hat gerade gestern das Weite gesucht und die Stadt hinter sich gelassen.« »Tatsächlich? Das ist ja wirklich ein ungewöhnlicher … hm, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll –« »Ein Zufall. Das ist es nämlich. Aber so ist das Leben nun mal. Komm mit ins Büro, wir reden darüber.« Shadow schlug mit der Faust gegen eine geschlossene Tür neben dem Herd. »Mary? Wach auf. Wir brauchen Kaffee. Zwei Tassen.« Shadow unterhielt sich mit Paul in einem fensterlosen Raum, der kaum groß genug war für zwei Stühle und einen kleinen Schreibsekretär. Stapel von Zeichnungen, Blaupausen, technischen Zeitschriften bedeckten jede horizontale Fläche bis auf die Sitzfläche von Shadows Stuhl. Paul mußte
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seinen Stuhl erst freiräumen, um sich setzen zu können. Diese Unordnung hätte bei Onkel Joe sicherlich einen Wutanfall ausgelöst. Shadow stellte Paul ein paar Fragen. Wann er aus Deutschland herübergekommen war. Nach seiner Herkunft, seiner Familie. Paul wich aus. Ohne es direkt auszusprechen, daß er in Chicago keine Angehörigen habe, vermittelte er den Eindruck, als wäre er seit seiner Ankunft fast ausschließlich auf sich allein gestellt gewesen. »Was ist denn mit deinem Freund Rooney passiert?« »Er mußte die Stadt verlassen. Wegen finanzieller Schwierigkeiten.« »Du hast doch bei ihm gewohnt, nicht wahr?« »Ja, er hat mir eine ganze Menge über die Standphotographie beigebracht.« »Ein interessanter Knabe, dieser Rooney. Ein wenig seltsam –« Er machte mit dem Zeigefinger eine Geste wie ein Korkenzieher. »Ein wenig verworren im Kopf, wenn du weißt, was ich meine. Aber ich hatte ihn ganz gerne.« »Ja, ein sehr guter Mann. Er hat mich immer gut behandelt.« »Mary, komm rein!« rief Shadow. Paul wandte sich um und sah eine üppige, lächelnde Frau mit Tasse und Untertasse in jeder Hand. Shadow stellte sie als Mary Beezer vor. Sie begrüßte Paul freundlich, während sie ihm den Kaffee reichte. Die Tasse, die auf dem Weg zu Shadow an Pauls Nase vorbeischwebte, roch deutlich nach Whiskey. »Mary kocht einen verdammt guten Kaffee«, sagte Shadow. »Rührt sogar noch zwei Eier hinein, wie die Schweden es gerne tun. Danke, Mary. Ich glaube, ich habe gerade für Lew Ersatz gefunden.« »Oh, das ist doch schön.« Mary bedachte Paul mit einem Lächeln von außergewöhnlicher, um nicht zu sagen verlegen machender Freundlichkeit. Dann ging sie hinaus. Shadow nahm einen tiefen Schluck Kaffee. »Du willst also wirklich das Handwerk der bewegten Bilder erlernen?« »Mehr als alles andere, Sir.« »Dann solltest du zuerst einige Dinge über meine Art zu arbeiten erfahren.« Mit seiner volltönenden Stimme hielt er einen kurzen Vortrag über seine Methode, eine Bulldogge gegen die andere antreten zu lassen, um am Ende den besten Kämpfer zu haben. Paul fand das überaus seltsam. Meinte Shadow damit vielleicht ihn und diesen anderen Helfer, Daws? Er hielt es für klüger, nicht ausdrücklich danach zu fragen. Aber die seltsame Ansprache machte ihn nachdenklich. Shadow kam nun zu seinen Pflichten. Paul erklärte, damit käme er schon zurecht. Shadow rechnete ihm vor, was er verdienen würde. Vier Dollars die Woche plus Kost und Logis. »Wir haben hier natürlich keine
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Stempeluhr. Wir arbeiten, wenn es nötig ist und solange es nötig ist.« Paul blinzelte, schluckte und nickte. »Okay.« »Das war’s dann. Willkommen.« Sie besiegelten die neue Partnerschaft mit einem Händedruck. Paul war begeistert. Shadow führte ihn durch die Küche, warf einen haßerfüllten Blick auf das tropfende Spülbecken und brachte ihn zur Treppe. »Wo sind deine Sachen?« »Ich besitze nur einen Koffer, und der steht bei einer Freundin.« »Dann hol ihn her. Wenn du wieder hier bist, zeigt Jimmy dir, wo du schläfst. Es freut mich, daß du bei uns bist, Dutch – man nennt dich doch Dutch, oder?« Ohne Paul die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, kehrte er in die Küche zurück. Dabei murmelte er halblaut vor sich hin. »Wenn man sich vorstellt, daß der Nachkomme einer hoch angesehenen Familie die Arbeit eines verdammten Klempners machen muß …« Eine Stunde später kehrte Paul mit seinem Koffer zurück. Jimmy schloß die Eingangstür des Guckkastenstudios ab – es waren gerade keine Kunden zugegen – und brachte ihn nach oben zu einer Tür, vor der die Treppe endete. »Das dort ist dein Quartier.« Paul warf seinen Koffer auf ein eisernes Bettgestell, das zwischen enge, nicht tapezierte Wände gequetscht worden war. Auf beiden Seiten waren knapp fünfzig Zentimeter Platz, und der Abstand vom Fußende des Bettes bis zur Stirnwand betrug höchstens sechzig Zentimeter. Eine Glühbirne mit einem Lampenschirm aus Pappe hing von einer mit Wasserflecken übersäten Decke herab. Der Raum besaß keinerlei Möbel bis auf das Bett und eine Kiste, die als Allzweckschrank dienen sollte. Paul fühlte sich sofort an die Müllerstraße in Berlin erinnert. Jimmy lehnte mit verschränkten Armen am Türpfosten. »Mary kocht zwar für uns, aber sie macht keine Betten.« »Daran bin ich gewöhnt. Mein Bett habe ich die meiste Zeit meines Lebens immer selbst gemacht.« »Dann komm weiter, ich zeige dir mein Zimmer.« Paul knipste das Licht aus und folgte ihm über den Treppenabsatz in ein geräumiges Zimmer mit Fenstern. »Das ist meins. Als ich hier anfing, hat Kress darin gewohnt, aber ich hab’ es ihm weggenommen.« Jimmy produzierte einen drohenden Blick, während er das sagte. Zwisehen ihnen entwickelte sich eine ganz besondere Stimmung. Paul spürte es ganz deutlich. Wenn er das schluckte, wenn er dieses Arrangement akzeptierte, dann hätte Daws ihn in die Tasche gesteckt.
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Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. Zog sich den Schirm seiner Mütze tiefer in die Stirn. »Du wohnst hier und ich hause in einem Schrank?« »So ist es, ja.« »Das glaube ich nicht.« Er ging hinaus, kehrte mit seinem Koffer zurück und ließ ihn vor Jimmys Füßen auf den Fußboden knallen. »Ich nehme das halbe Zimmer.« Jimmy war völlig verblüfft, dann geriet er in Zorn. Paul spreizte die Beine und bereitete sich auf eine Attacke vor. »Dutchie, mir gefällt überhaupt nicht, was ich gerade gehört habe. Es wäre besser, du machtest mir keinen Ärger.« »Das tue ich auch nicht, wenn alles fair ist. Das ist ein großes Zimmer. Ich hole das andere Bett herein, es kann dort drüben stehen, und wir haben beide genügend Platz.« »Und was passiert, wenn ich damit nicht einverstanden bin?« »Dann klären wir die Frage auf andere Art und Weise.« Er ballte die Hände zu Fäusten. Jimmy bemerkte es sehr wohl. Paul wartete mit feuchten Händen und verkrampftem Magen. Er hatte keine Ahnung, ob Jimmy nachgeben oder sich auf ihn stürzen würde. Jimmy selbst schien sich unschlüssig zu sein. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und taxierte Paul von oben bis unten ab. Paul war im Juni achtzehn geworden, aber er sah viel älter aus. Seine Zähigkeit und Kraft waren unverkennbar. Man erkannte beides in seiner Haltung, in der Art, wie er entschlossen den Kopf vorreckte und sich nachdenklich auf die Unterlippe biß. Jimmy brauchte einige Zeit, um sich darüber klar zu werden, was das alles zu bedeuten hatte. Schließlich lächelte er auf eine Art, die Paul als unaufrichtig empfand. »Fishy« lautete das amerikanische Wort dafür. »In Ordnung, Dutchie. Du hast mir früher mal geholfen. Ich denke, ich lasse es geschehen. Aber vergiß nicht, welche Position du hier hast. Die Nummer Eins bin ich. Der Chef-Nigger. Wenn du mir nicht in die Quere kommst, durften wir uns bestens verstehen.« Paul tippte gegen seinen Mützenschirm. »Dankeschön. Und du laß mich in Frieden.« Shadows Guckkastenstudio war um einiges weniger elegant als der Edison-Palast in der State-Straße. Die Beleuchtung war schlecht. Es gab keine bequemen Geländer, auf die der Betrachter sich stützen konnte. Auch der Fußboden war nicht besonders sauber, dafür aber mit Sägemehl bedeckt. Außerdem waren Shadows Motive beträchtlich heißer. Sie
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wendeten sich ganz eindeutig an ein männliches Publikum, das auf der Suche war nach verbotenen Reizen. Es gab Tierfilmstreifen: Ratten und Terrier! und Kampfhähne!. Es gab Her mit der Flasche!, eine derbe Saloonszene, in der ein Mann eine Flasche Bier bestellte und leertrank. Schlag ihn nieder! war ein simulierter Preisboxkampf, der von übergewichtigen Boxern ausgetragen wurde, die Shadow stundenweise engagiert hatte. Paul bemerkte dabei auch Shadows Vorliebe für Ausrufezeichen. Er redete ganz genauso. Opiumhöhle! hatte drei Mitwirkende, die allesamt aus einer chinesischen Wäscherei in der Nachbarschaft ausgesucht worden waren. Hawaii-Party! und Spanische Señoritas! zeigten Tänze, die von Levee-Huren mehr schlecht als recht dargeboten wurden. Während die prüdesten der Prüden sich vielleicht über die Tänze aufregten, waren die Frauen tatsächlich vollständig bekleidet bis hin zu den dichtgewebten Unterhosen unter den kurzen Röcken. Die Hast und Eile bei der Produktion der Streifen waren überall unübersehbar. Die Darsteller waren nicht sehr gut. Aber die Beleuchtung und die Bildkomposition fand Paul hervorragend, und der Zauber der Bewegung allein reichte aus, um ihn völlig in Bann zu ziehen, ganz gleich, wie groß die sonstigen Mängel sein mochten. Am Dienstagabend, Silvester, schloß Shadow das Studio schon um sechs Uhr und verkündete, daß an diesem Abend nur Saloons und Freudenhäuser Kundschaft haben würden. Er zog die Jalousie an der Eingangstür herunter, während Paul das schmutzige Sägemehl zusammenkehrte und frisches verstreute. Strähnen seines gefärbten Haars hingen Shadow in die Stirn. Er schwankte bereits merklich. Mary Beezer war am Sonntag abgereist. Ihre Mutter war erkrankt. Sie wohnte in Richmond, Indiana, wo Mary aufgewachsen war. »Ich habe Jimmy den Abend freigegeben. Wie steht’s mit dir, Dutch? Möchtest du nicht auch ausgehen auf ein paar Drinks? Oder vielleicht mit einer Frau?« »Ich glaube nicht, Oberst.« »Ich hab auch nicht die rechte Lust dazu. Komm herauf, wir trinken ein Glas, um zu feiern.« Paul lächelte und folgte seinem Arbeitgeber, der schon mehrere Gläser getrunken zu haben schien. Männer rannten durch die Straßen. Pistolenschüsse erklangen. Das Levee feierte bereits. In der Küche öffnete Shadow einen Schrank. Im mittleren Fach stand eine erstaunliche Anzahl von ganz und nur teilweise vollen
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Whiskeyflaschen. Er holte eine davon und zwei große Gläser aus dem Schrank. Auf einer Anrichte stand der jämmerliche Weihnachtsbaum, den Mary vorbereitet hatte. Eine mickrige Fichte, knapp vierzig Zentimeter hoch, die auf ein Holzkreuz genagelt und mit Popcorngirlanden, Lametta und drei kleinen Weihnachtssternen geschmückt worden war. Jedesmal, wenn Paul den kleinen Baum betrachtete, wurden in ihm Erinnerungen an den prächtigen Baum der Crowns wach, was ihn traurig stimmte. Shadow schenkte jedem von ihnen das Glas voll. Er trat gegen das Rohr unter dem Spülstein. »Hab’ dieses verdammte Ding endlich repariert.« »Ja, ich hab’s bemerkt. Gute Arbeit.« »Klar doch, ich bin ein Tausendsassa. Du weißt doch, was das heißt, oder? Ein Universalgenie.« Er zog einen Stuhl mit der Schuhspitze heran, dann setzte er sich und leerte sein Whiskeyglas zur Hälfte. Paul trank aus Höflichkeit einen Schluck. Shadow bedeutete ihm mit einer Geste, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. »Ich bin ein Autodidakt, weißt du. Ich kann alles mögliche reparieren oder zusammenbauen, ich kann verkaufen, ich habe sogar ein paar Jahre als fliegender Händler von allem möglichen gelebt. Ich kann singen, Witze erzählen und beherrsche die Niggertänze ganz gut. Für eine Weile war ich sogar bei einer schwarzen Varietétruppe.« Paul starrte ihn sprachlos an. »Ein Tausendsassa! Das Problem ist nur, daß ich mit einem ganz bestimmten Kasten offenbar doch nicht zurechtkomme. Warte mal einen Moment.« Er schlurfte in sein unaufgeräumtes Büro und kehrte zurück mit einer fleckigen Bleistiftzeichnung von einer rechteckigen Maschine voller Hebel, Walzen und paralleler Pfeile, die eine vielfach gewundene Bahn darstellten. »Das ist der Kasten. Shadows Luxograph-Projektor. Weißt du, weshalb ich so versessen auf diese Arbeit bin?« »Weshalb?« »Weil ich Shows liebe. Shows jeder Art. Jongleure, die Keulen herumwirbeln lassen. Einen Chor von Negern, die in die Hände klatschen und sich im Rhythmus der Musik hin und her wiegen. Unsere neuen Schlachtschiffe, weiß wie Mammis Hochzeitskleid, die unter wehenden Fahnen in den New Yorker Hafen einlaufen. Alles eine große Show!« Er trank wieder. »Eine Reihe von acht blonden Pferdchen, die in einem Varieté die Beine schmeißen, das ist eine Show. Große Frauen mit heißen Augen, so dicken Beinen, roten Strümpfen und schwarzen Korsetts, die tief ausgeschnitten sind, um möglichst viel Brust zu zeigen. Das ist eine Show!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Oder wie wäre es mit einem Präsidenten der Vereinigten Staaten, wie
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er dasteht und seinen Eid ablegt? Eine Show! Irgendein armer Teufel, der die Stufen zum Galgen hinaufsteigt, weil er seine Herzallerliebste in saubere Stücke zersägt hat – eine Show! Ein brennendes Waisenhaus – Feuerwehrpferde und Wagen, die zur Rettung erscheinen – eine Show! Ein Kriegstanz der Sioux – eine Show! Buffalo Bill auf seinem großen Schimmel, wie er blaue Ballons aus der Luft schießt, peng, peng, peng, eine Show! Erdbeben! Taifune! Brigaden von chinesischen Soldaten, die an der Chinesischen Mauer aufmarschieren, eine Show! Die liebe alte Königin Viktoria, die mit einem Taschentuch Zehntausenden ihrer Untertanen zuwinkt – hallo, ihr Lieben, verbeugt euch, in die Knie, und küßt mir die Füße! Die ganze Welt ist eine einzige große Show, und ich bin derjenige, der alles festhält und nach Hause mitbringt für jeden armen Teufel, der das alles nie direkt zu sehen bekommt. Noch was zu trinken?« Paul schüttelte den Kopf. Er kam sich vor wie ein Schlangenbeschwörer, der den Blick nicht von seiner Kobra lösen kann. Der hypnotisiert, verzaubert ist. »Es ist mein voller Ernst, Dutch. Mit diesen Filmen kann man Hallen füllen, so groß wie das Chicago-Auditorium, ich weiß es ganz genau. Und eine Kamera – meine Kamera – kann überallhin, zu besonders eindrucksvollen Panoramen, zu seltsamen Erscheinungen, zu wichtigen Ereignissen. Ich werde Katastrophen, politische Wahlen und Krönungen aufnehmen und im Film festhalten. Nun, ich werde sogar in einem türkischen Harem filmen, indem ich die Eunuchen besteche! Am Ende habe ich den heißesten Film der ganzen Welt aufgenommen! Achtundneunzig türkische Freuden, photographiert, während der Sultan gerade seinen alten Riemen bei Frau Neunundneunzig versteckt! Ich werde auch noch etwas anderes filmen, Dutch. Den Krieg. Jawohl, Sir, die blutigen Schlachtfelder – den Mut und das Gemetzel! Ich filme ganz vorne, wo die Kugeln umherfliegen – ich bleibe sicher nicht bei den Zelten der feigen Offiziere fünf Meilen hinter der Front.« Trotz der undeutlichen Worte und des schwadronierenden Tons, der ihn ein wenig an Rhukow erinnerte, hörte Paul aufgeregt zu. Wie oft hatte er irgendwelche Orte auf dem Holzglobus mit dem Finger berührt, den Frau Flüsser ihm in Berlin geschenkt hatte! Er hatte die Orte berührt, über sie nachgedacht, sich danach gesehnt, sie mit eigenen Augen zu betrachten, wohl wissend, daß es wahrscheinlich niemals dazu kommen würde. Hier bot sich eine neue Möglichkeit. Shadow schenkte sich ein weiteres Glas mit Whiskey voll. »Ich kann es schaffen, Junge. Ich habe ein Gespür fürs Publikum – für das, was die Leute lieben und was sie mitfühlen läßt. Du kennst doch diesen Songschreiber aus
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Terre Haute, Dresser heißt er, nicht wahr? Der diese Riesenhits schreibt, die sich tausendfach verkaufen lassen? Ich habe gelesen, was er mal gesagt hat. ›Ich schreibe für die Massen, nicht für die Klassen.‹ Nun, ich werde Filme für die Massen produzieren, nicht für die Klassen. Her mit den Kriegen! Nichts beschleunigt den Herzschlag so sehr und läßt die Drehkreuze schneller rotieren als eine Handvoll guter amerikanischer Boys, die einen Haufen verdammter Heiden mit dunkler Haut versohlen.« Er sprang auf, jagte Paul einen Schreck ein. Von der Sitzfläche des Stuhls hüpfte Shadow auf den Küchentisch und schwenkte dabei sein Glas so heftig hin und her, daß der restliche Whiskey in alle Richtungen spritzte. »Heil dir, Columbia, vorwärts, Uncle Sam! Hoch mit dir, rot-weiß-blaue Fahne der Nation! Wir zeigen es der ganzen Welt! Mit der grandiosesten Erfindung der modernen Menschheit! Der Sensation dieser Zeit! Und wenn ihr da draußen es nicht genauso seht, dann könnt ihr mich mal am Arsch lecken!« Paul brach in schallendes Gelächter aus und klatschte in die Hände. Shadow schwankte und war in akuter Gefahr, vom Tisch zu fallen. »Du verstehst mich, Junge, das sehe ich. Lew und dieser andere Dummkopf – nee, die nicht.« Er schwankte noch heftiger, streckte schnell eine Hand aus. »Hilf mir runter, ehe ich verdammt noch mal abstürze.« Paul tat ihm den Gefallen. Der Mann war unglaublich. Er war habgierig, er war unflätig, er kannte keine Skrupel. Aber er hatte eine Vision. Eine wundervolle Vision, die Paul sehen, verstehen, unterstützen konnte, denn sie sprach alles an, wonach er sich je gesehnt hatte, den Traum eines Narren, den er bisher für aberwitzig gehalten hatte. Bilder zu schaffen. Die Welt zu sehen. Am Leben teilzuhaben. Die eigene Bestimmung, seinen Platz in der Welt zu kennen. Dazuzugehören … Und nun war es da, all das fand sich in dieser armseligen, stinkenden Küche einer heruntergekommenen Wohnung über einem Studio, in dem schmuddelige Filmchen gezeigt wurden, in einem der verkommensten Viertel von Amerika oder wahrscheinlich der ganzen Welt. Hurra! Mit Pauls Hilfe landete Shadow schließlich auf seinem Stuhl. Sein Kopf sank sofort auf die Brust. Irgendwo auf der Straße stimmte eine Blaskapelle Auld Lang Syne an. Das Whiskeyglas rutschte aus Shadows Hand und rollte polternd über den rissigen Linoleumfußboden. Er schnarchte. Paul reckte die Arme in stummer Freude in die Luft. Er sah die Vision. Paul lag bis nach Mitternacht wach in seinem Bett. Er hatte die Hände
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hinterm Kopf verschränkt. Mehr als drei Jahre waren verstrichen, seit er nach Chicago gekommen war. Genau drei Jahre im Dezember. Soviel war geschehen. Soviel hatte sich verändert. Onkel Joe und Tante Ilsa, Vetter Joe, das Bombenattentat in der Brauerei und Bennos Tod. Vor allem war da Julie, auf die er nicht verzichten konnte und wollte, nun da sich ihm die ganze Welt öffnete. Er wußte, daß sie ihn noch liebte. Daß sie in der Öffentlichkeit an der Seite eines fremden Mannes auftrat, war sicherlich von ihren Eltern erzwungen worden. Sie hatte zugegeben, daß sie nicht besonders stark und standhaft war, wenn man an ihr Pflichtgefühl gegenüber der Familie appellierte, wenn man sie an das Gefühl der Schuld erinnerte, das man in ihr genährt hatte, seit sie ein kleines Kind war. Im Frühling, wenn er sich hochgearbeitet hätte, würde er Mittel und Wege finden, ihre Beziehung wiederherzustellen. Er würde ihr wieder seine Liebe offenbaren. Würde sie zurückholen, sie zu seiner Frau machen, für immer und ewig. 72 ROSIE Paul Dresser war vernarrt in sie. Er holte sie ins Gilsey House, bestand darauf, daß sie nicht arbeiten solle, zumindest vorerst nicht. Er kaufte ihr neue Kleider in den Läden auf dem Broadway, vorwiegend bei Lord and Taylor. Seine Kleidung stammte zum größten Teil von Brooks Brothers, einem eleganten Broadway-Laden für Männer. Bei Park and Tilford kaufte er körbeweise Wein und Käsespezialitäten für wilde Picknicks, die sie nackt, rund ums Bett in seiner Suite, abhielten. Sie erfuhr innerhalb kurzer Zeit sehr viel über ihn. Daß sein richtiger Name Johann Paul Dreiser jr. lautete. Daß er das Kind einer großen und streng katholischen Familie in Terre Haute war. »Ich entpuppte mich als der Wilde, der Ungezügelte in der Familie. Ich habe noch einen Bruder, Theo – das ist eine Abkürzung für Theodor –, der viel bei den Mädels herumkommt und für die Zeitung schreibt.« Dies alles erzählte er ihr, während sie in seinem großen weichen Bett mit den hohen, mit Schnitzereien verzierten Bettpfosten lagen. Sie gewöhnten sich an, zwischen dem, was Paul »die Reiterspielchen« nannte, bis tief in die Nacht im Bett zu liegen, Champagner zu trinken und sich zu unterhalten. Er hatte einen unersättlichen Hunger auf diese Spielchen. Er wußte immer ganz genau, was er wollte, einmal diesen kleinen Trick, dann wieder jene kleine Spezialität. Er war sich seiner Körperfülle durchaus
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bewußt. Sie liebten sich nur selten in der Missionarsstellung; er war sehr rücksichtsvoll. Als Paul fünfzehn war, schickte sein Vater, den er recht düster als religiösen Fanatiker beschrieb, ihn aufs St. Meinrad-Seminar im Süden von Indiana. In dieser Schule wurden junge Männer auf den Priesterberuf vorbereitet. »Ich verbrachte weitaus mehr Zeit im örtlichen Varietétheater als in der Schule. Zwei Jahre lang hielt ich durch. Ich sang immer für meine Freunde, spielte Klavier oder Orgel, erzählte Witze, blamierte mich. Also schloß ich mich den Lemon Brothers an, einer farbigen Showtruppe. Ich feilte an meiner Nummer herum und hatte stets mit mindestens einer jungen Dame in jeder Stadt, in der wir auftraten, einige heiße Reiterspielchen. Ich schrieb meinen ersten Song, als ich bei den Primrose Minstrels auftrat. Where The Orange Blossoms Grow. Nichts, was sich zu merken lohnt, muß ich zugeben.« Terre Haute blieb bis 1880 seine Heimat, die er im Alter von 23 Jahren endgültig verließ. Aber er gab es immer noch als seinen Wohnort an. Dieser dicke Mann, der so gerne trank und den Frauen nachstieg, hatte eine ausgeprägte sentimentale Ader. Rosie erfuhr von Paul eine Menge über New York, weitaus mehr, als Buck Stopes ihr hatte beibringen können. Paul war tatsächlich der König des Broadway, zumindest des Teils, der sich der Volksbelustigung verschrieben hatte, also zwischen der Vierzehnten und der Zweiundvierzigsten Straße, was der einzige Bereich war, für den sie sich wirklich interessierte. Wenn das winterliche Wetter es zuließ, steckte sie ihre behandschuhten Hände in den teuren Muff, den er ihr gekauft hatte, und sie spazierten über seine Lieblingsstraße. Er zeigte ihr die feudalen Wohnsitze, wie zum Beispiel die Goelet-Villa in der Neunzehnten Straße – »Wenn es warm ist, kann man sogar Pfauen im Garten der alten Dame herumstolzieren sehen«. Sie speisten in eleganten Hotels wie dem Bartholdi und dem Broadway Central. Er zeigte ihr auch die wichtigen Theater: Keith and Proctor’s, Koster and Bial’s Music Hall, das berühmte Tony Pastor’s in der Vierzehnten Straße – ja, er war dort aufgetreten, mehrmals sogar. Von einem gemütlichen Kabriolett aus zeigte er ihr Miner’s New Theatre in der Bowery, wo er 1891 seinen ersten Auftritt auf einer New Yorker Bühne absolviert hatte. »Ich wurde im Programm als Paul Dresser geführt, Komiker und Sänger. Ich kam in der Theaterwelt ziemlich viel herum, sang, tanzte, spielte verschiedene Rollen in Komödien und Grotesken. Tagsüber komponierte ich. I Told Her The Same Old Story. Just Take a Seat, Old Lady. Songs, von denen du noch nie gehört hast. Vier Jahre lang belagerte ich diese Stadt, bis ich schließlich ihre Bastionen
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stürmte. Es ist eine harte Stadt, aber wenn du selbst auch hart bist und nicht lockerläßt, dann schaffst du den Durchbruch.« »Wo fange ich an?« »Miner’s veranstaltet immer einen recht guten Amateurabend. Wir können zwei Nummern einstudieren und dich dort auftreten lassen – ist etwas nicht in Ordnung?« »Ich habe auf der Bowery bei einem Mann gewohnt, als ich dich kennenlernte. Ich bin ausgezogen, ohne ihm Bescheid zu sagen. Was ist, wenn er mich dort sieht?« »Das wäre ein ganz seltener Zufall, aber wenn schon? Ich bin auch da und passe auf dich auf.« Als sie seine lächelnde, selbstsichere Miene sah, glaubte sie ihm. Eines Abends dinierten sie im eleganten Hotel Metropole in der Zweiundvierzigsten Straße. Bei Rebhuhnbraten und Champagner unterhielten sie sich über die verschiedenen Arten der Liebe. Rosie hatte keine Schwierigkeiten, Paul gegenüber ganz offen zu sein. »Ich habe schlimme Zeiten erlebt. Einige schlechte Männer. Das hat mich einiges gelehrt. Tu ihnen weh, ehe sie dir weh tun, so lautet meine Devise.« »Anwesende hoffentlich ausgeschlossen, hoffe ich doch.« »Red keinen Unsinn«, sagte sie und streichelte seine Wange. »Das ist eine kluge Philosophie, wenn auch nicht gerade die freundlichste, die ich je gehört habe«, sagte er. »Ich denke, ich gehe in ähnlicher Weise mit den meisten Frauen um. Nicht mit dir, das ist etwas anderes. Desgleichen mit einer anderen Frau, die ich noch nie erwähnt habe. Sie wohnt in Evansville und nennt sich Sallie Walker.« »Ist das nicht ihr richtiger Name?« »Nein, sie heißt eigentlich Annie Brice. Sie denkt, daß Sally Walker besser klingt, mehr Klasse hat. Sal ist eine echte Lady. Immer ehrlich und geradeheraus. Ich hatte schon Hunderte von Frauen, aber sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ziemlich verrückt von mir, dir das alles zu erzählen, nicht wahr?« »Nein, Paul, wir beide – wir verstehen einander. Deshalb werden wir immer Freunde sein.« Er tätschelte ihr Bein unter dem Tisch. »Ich habe plötzlich sehr freundschaftliche Gefühle für dich. Beeil dich, daß du mit dem Essen fertig wirst.« Paul hatte ständig zu tun, denn der Verkauf von Noten war ein
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aufblühendes Geschäft. Er erklärte ihr, daß Hunderte von Titeln in Kaufhäusern und Musikläden bereitgehalten und für fünfzig Cents pro Stück verkauft wurden. Und täglich kamen neue hinzu. Er machte sie mit seinen Partnern Pat Howley und Fred Haviland bekannt, den Gründern des Musikverlags Howley & Haviland, der mehrere Etagen in einem Bürogebäude in der Zwanzigsten Straße in der Nähe des Broadway, besetzte. Zwei Blocks weiter südlich befand sich die Zentrale der angesehenen Oliver Ditson Company. Paul erzählte, der Bezirk entwickle sich rasend schnell zur Metropole der amerikanischen Musiknotenindustrie. »Ein paar Blocks von hier entfernt beginnt ein Abschnitt, den meine Kollegen ›Klimpergasse‹ getauft haben. Wenn du an einem Sommernachmittag all die Klaviere durch die offenen Fenster hörst, dann weißt du, warum.« Die Herren Howley und Haviland waren langweilige, freundliche Männer, die eher wie Buchhalter aussahen als wie Musiker. Der exaltierte Paul war eine besondere Art von stillem Partner. Er war der »Öffentlichkeitsmann«, wie sie es nannten. Abgesehen davon, daß er Songs für die Firma schrieb, suchte er neue Komponisten mit erfolgversprechendem Material, überredete die Künstler in den zahlreichen Varietétheatern, neue H & H-Songs vorzustellen, verteilte sogar Geld an die Chefs italienischer Drehorgelmänner, um zu gewährleisten, daß wichtige Titel möglichst häufig an besonders belebten Straßenecken wiederholt wurden. Darüber und über fast alle anderen Bereiche seines Lebens äußerte Paul sich Rosie gegenüber in totaler Offenheit. Ja, er hatte schon mal Syphilis gehabt. Er schwor, daß er nun kuriert sei. Er stieg weiter den Frauen nach, würde damit wahrscheinlich niemals aufhören. Das war für Rosie ein Hinweis darauf, daß ihre Zeit als seine Geliebte sicher nicht endlos dauern würde, obgleich es mit einer Freundschaft wahrscheinlich anders aussehen mochte. Und er wäre gewiß ein überaus einflußreicher Freund. Rosie mochte Paul Dresser sehr, was eigentlich ungewöhnlich war. Mit wenigen Ausnahmen verabscheute sie die Männer, die ihr nichts als Sex gaben. Paul war ungemein großzügig, verteilte ständig kleine Darlehen an diesen »alten Freund« oder jenen »guten Kumpel« am Rialto. Er war ausgelassen und immer vergnügt, ein beliebter Gesellschafter sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Er schrieb religiöse Hymnen, patriotische Lieder, Negerballaden – alles, was von der Firma verkauft werden konnte. Er war ein fleißiger Arbeiter, wenn er in entsprechender Laune war. Manchmal blieb er die ganze Nacht in der Hotelsuite wach und komponierte auf einer kleinen Balgenorgel mit
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Eichenfurnier und hübschen Messingbeschlägen. Dieses erstaunliche Instrument verfügte über Scharniere, dank derer es zusammengefaltet und in eine Kiste gesteckt werden konnte, die aussah wie ein Musterkoffer. Alles in allem wog die Orgel nur zwölf Kilo und konnte leicht transportiert werden. Er neigte auch, was kaum bekannt war, zur Rührseligkeit. Als sie ihn das erste Mal bei der Arbeit an einem seiner »Herzenssongs« erlebte, saß er vornübergebeugt vor seiner Orgel, während Tränen, echte Tränen, über seine Wangen liefen. Sie zog sich leise zurück, um ihn nicht zu stören. Das war ein Mann, dachte sie staunend, der wirklich ganz anders als alle anderen war. Paul organisierte ihr Debüt bei Miner’s am ersten Freitag im März 1896. Sie sang Daisy Belle und danach Erzähl von mir. Paul selbst hatte das Klavierarrangement geschrieben und es ihren beschränkten stimmlichen Möglichkeiten angepaßt. Sie zitterte und hatte Angst, als sie sich in den Kulissen herumdrückte und darauf wartete, an die Reihe zu kommen – als dritte in einer Folge von insgesamt acht Programmnummern. Sie kam nach den Four Singing Newsboys und einem schwarzgeschminkten Komiker, der sich als geradezu unbeliebt erwies. Seine müden Scherze riefen keinerlei Reaktion hervor – bis auf einen verzweifelten Aufschrei auf der Galerie: »Den Haken, gebt ihm den Haken!« Dutzende von anderen Zuschauern stimmten in den Ruf ein und stampften sogar mit den Füßen auf, als sie ihre Forderung hinausbrüllten. Der Haken glich einem langen Schäferstab. Paul hatte sie davor gewarnt und erzählt, daß irgendein übellauniger Inspizient bei Miner’s ihn einige Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte. Sie sah nun, wie er eingesetzt wurde. Der Inspizient rannte damit auf die Bühne und legte ihn dem glücklosen Komiker um den Hals und zog ihn regelrecht von den Brettern. Rosie zitterte sich durch zwei Nummern und beobachtete, wie der Professor bei mehreren falschen Tönen gequält zusammenzuckte. Aber sie erhielt langen und begeisterten Applaus, und aus dem Parkett wurden ihr ein paar unsittliche Anträge zugerufen. In der dritten Reihe, bekleidet mit einer üppigen rosafarbenen Federboa, saß Fanny Hawkins und klatschte wie wild in die Hände und stieß schrille Pfiffe aus. Die Reaktion bezog sich auf Rosies Aussehen, nicht auf ihre Singstimme. Sie gewann keinen der ausgesetzten Preise, noch nicht einmal einen mageren Dollar für den dritten Platz. Paul tröstete sie im Bett im Gilsey House. Sie waren in der Dunkelheit
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nackt und lagen unter zwei warmen Daunendecken. Dicke Vorhänge waren vor die Fenster gezogen worden, um die Lichter des Rialto auszusperren, die sogar noch um halb drei Uhr morgens brannten. »Wegen heute abend«, sagte Paul und strich mit der Hand über ihren Oberschenkel. »Sei nicht zu enttäuscht. Denk an das, was ich über das Durchhalten gesagt habe.« »Das tue ich. Und ich werde durchhalten.« »Braves Mädchen. Noch’n Reiterspielchen?« Sie lachte. »Klar doch. Du kannst auch nie genug bekommen!« Seit elf Uhr hatten sie schon zwei Spielchen gespielt. »Noch etwas Champagner vorher?« »Lieber nicht. Ich mag ihn, aber er macht mich immer so benommen.« »Und er bringt dich zum Reden wie ein Wasserfall«, sagte er kichernd. Sie lachte. »Ich weiß, aber bei dir ist es mir scheißegal.« »Um Himmels willen! Kind, wenn du weiter ein so loses Mundwerk hast, wirst du es in dieser Stadt nie dorthin schaffen, wohin du willst.« »Sei nicht böse, Paul. Ich versuche ja, mich richtig auszudrücken. Ein Junge, den ich sehr gerne hatte, er hat mir genau dasselbe erklärt.« »Ein kluger Junge.« »Er war reich. Aber es war völlig aussichtslos, daß wir heiraten würden. Ich hatte ihn gern.« Sie raffte ihren Mut zusammen. »Ich hab dich auch gern, Paul, wirklich und wahrhaftig. Wir beide sind uns sehr ähnlich, nicht wahr, nicht?« »Nein, ich will nicht behaupten, daß wir es nicht sind.« Diese seltsame Ausdrucksweise war scherzhaft gemeint. Auf keinen Fall wollte er sich über ihre seltsame Sprache lustig machen. Er tätschelte ihre Wange. »Möchtest du noch etwas trinken?« »Nein.« Er streichelte ihre Beine. »Ich bin zu dir ganz offen und ehrlich. Im Augenblick treffe ich mich auch noch mit einer anderen Frau.« Das verletzte sie, aber sie zeigte es nicht. »Das habe ich vermutet. Du warst heute – nicht so gut in Form wie sonst.« »Schön, daß du das richtig verstehst. Du weißt ja, daß ich nicht verheiratet und niemandem Rechenschaft schuldig bin.« »Oh, das weiß ich, ja.« »Wir müssen für dich eine neue Bleibe suchen. Ich gebe dir Geld, bis du wieder auf eigenen Füßen stehen kannst. Es war zwar kein vielversprechender Start bei Miner’s, aber ich glaube, wir werden für dich doch noch einen Job als Sängerin finden. Ich spendiere dir sogar noch ein paar Gesangsstunden. Und ich mache dich mit den richtigen Leuten
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bekannt. Aber ehe ich das tue – paß gut auf, denn das ist ein sehr wichtiger Punkt –, mußt du einiges ändern. Zuerst einmal nenn’ dich Rose. Rose French. Rosie klingt irgendwie billig.« »Rose? Rose. Klar. Von diesem Augenblick an – so und nicht anders. O Paul –« Sie schmiegte sich an ihn, an die weiche, speckige Wärme seines Bauchs, an seine behaarten Beine. »Du bist ein guter Mann. Ich wünsche dir alle Frauen, die du haben willst.« »Als ob ich jemals genug bekommen könnte.« »Wir sind doch Freunde, oder?« »Die sind wir.« »Wie lange?« »Für immer.«
73 PAUL Paul kam in einer Zeit zum Film, als das Gewerbe sich im Umbruch befand. Es war eine Zeit des schöpferischen Aufschwungs. Guckkastenmaschinen, ob mit Filmstreifen oder mit Kartenwalzen, verloren allmählich den Reiz des Neuen. Die Edison Kinetoskop Company hatte versucht, die sinkenden Umsätze durch die Einführung des Kinetophons anzukurbeln, einer Kabine mit langen, biegsamen Hörrohren und einem Edison-Phonographen darin. Die Filme wurden so mit blechern klingender Musik unterlegt. Das Kinetophon war ein Mißerfolg. In New York, Philadelphia, Paris, London beeilten Erfinder und Unternehmer sich, ein Projektionssystem für bewegte Bilder zu vervollkommnen. Fast jede Woche wurde ein neues vorgestellt – das Kineoptikon oder das Panoptiken; das Phantoskop und das Eiodoloskop; der Animatograph, der Biograph. Paul staunte über die Namen und die unterschiedlichen Konstruktionen, obgleich Oberst Shadow über alle bestens Bescheid zu wissen schien. Zuerst konnte Paul sich kaum erklären, wie er das schaffte. Dann fiel ihm auf, wie umfangreich die Postmenge war, die zweimal täglich abgegeben wurde. In Shadows schäbiges Unternehmen gelangte eine ganze Flut von ausländischen Zeitungen und auf billigem Papier gedruckten technischen Journalen sowie Filmmaterial aus Rochester, New York, mitsamt erläuternden Briefen von Mr. Eastman persönlich. Der Oberst äußerte sich freizügig über jede neue Entwicklung, und er tat das gewöhnlich während des Abendessens. Mary hörte mit einem Ausdruck verwirrter Höflichkeit zu, Jimmy Daws gezwungenermaßen, doch Paul lauschte aufmerksam und versuchte etwas von dem komplizierten
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technischen Kauderwelsch zu begreifen, das mit atemberaubender Geschwindigkeit Shadows Mund entströmte. Der Oberst war von den meisten Weiterentwicklungen begeistert, aber nicht von allen. Im Dezember hatten in Paris zwei Brüder namens Lumière einem ausgewählten Auditorium von einhundert Personen ihren Kinematographen vorgestellt. »Oh, diese verdammten Froschfresser«, stöhnte Shadow, als er die Meldung in einer einen Monat alten Londoner Zeitung las. Mary, die am Herd stand, schnalzte mitfühlend mit der Zunge. Paul saß am Tisch. Jimmy versah im Parterre seinen Dienst. Sobald Paul gegessen hätte, würde er ihn ablösen. »Sid, reg dich nicht auf«, sagte Mary. »Du schadest nur deinen Nerven.« »Wie kann ich ruhig bleiben? Diese beiden Heinis haben dreißig Minuten Film vorgeführt. Zwölf verschiedene Motive! Arbeiter beim Verlassen der Fabrik, Drei Messieurs beim Kartenspiel, Ein Bad im Mittelmeer – mein Gott, sie sind uns weit voraus!« Der Oberst sah schrecklich aus, dachte Paul. Nicht nur blaß von dem harten Winter, sondern auch verzehrt von Sorgen. Er hatte den ganzen Tag in seiner Kellerwerkstatt verbracht. Sein mehrfach geflicktes blaues Arbeitshemd war fleckig von Lack, Lagerfett, Leim und anderen nicht näher identifizierbaren Substanzen. »Und jetzt kommt das Schlimmste«, sagte er. »Sie haben die Filme im Keller eines Ladens gezeigt, der Grand Café heißt. Die ersten Zuschauer kamen gratis rein. Danach haben sie Eintrittskarten verkauft – einen Franc für das ganze Programm. Am ersten Tag nahmen sie dreiunddreißig Francs ein. Aber am nächsten Tag waren es schon über tausend! Und dabei ist es seitdem geblieben. Verdammt noch mal«, schimpfte er, knüllte die Zeitung zusammen und schleuderte sie auf den Fußboden. »Sid, Liebling, bitte reg dich nicht auf!« »Sie sind vor mir auf dem Markt! Und sie sind nicht die einzigen.« Er stützte den Kopf in beide Hände und murmelte halblaut eine ganze Kette unverständlicher Flüche. Mary verteilte recht appetitlich aussehende Rippchen, die sie gekocht hatte, um Paul eine Freude zu machen. Paul revanchierte sich mit überschwenglichem Lob. Sie lächelte herausfordernd. Shadow schlang sein Essen in sich hinein, noch viel schneller als Paul, und spülte den letzten Bissen mit einem doppelten Whiskey hinunter. Er warf seine Serviette auf den Boden und rannte sofort wieder in den Keller. Paul ging hinunter ins Studio. Er berichtete Jimmy von der augenblicklichen Verfassung des Obersts. Jimmy, der Anstalten machte,
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zum Abendessen nach oben zu gehen, drehte sich eine Zigarette. »Ich kann überhaupt nicht begreifen, weshalb er sich so aufregt. Dieses Geschäft ist doch nichts anderes als die Minstrel-Shows oder die Wundermedizinen, die er früher mal verhökert hat.« »Nein, dies hier ist ihm viel wichtiger. Viel wichtiger auch für die ganze Welt. Es könnte durchaus die größte –« An dieser Stelle verstummte er. Jimmy war längst nach oben verschwunden. Es interessierte ihn nicht. Paul streifte durch die Stadt, verteilte Handzettel oder klebte sie verbotenerweise an Hauswände und Telegraphenmasten. Besser gekleidete Leute nahmen sie gar nicht an. Wenn sie es taten, dann warfen sie sie weg, sobald sie sahen, wofür hier geworben wurde. Konnte man es ihnen übelnehmen? Wie sollten die Filme ein größeres Publikum anlocken können, wenn man, um sie sich anzusehen, eine ziemlich verrufene Gegend aufsuchen mußte? Wie sollten sie Erfolg haben, wenn Priester sie noch immer als Teufelswerk verdammten? Was im Falle des Chinesischen Traums sicherlich zutraf. Paul hatte sich den Streifen mehrmals angesehen. Er erkannte den hohen technischen Stand der Aufnahme und schaffte es, sie von dem erotischen Inhalt zu lösen. Shadows Film sollte nicht künstlerisch sein; er sollte ein Nervenkitzel sein, er sollte erregen. Und das tat er. Wenn Paul nicht in den Straßen unterwegs war, saß er an der Kasse und hatte ein wachsames Auge auf die armen Arbeiter, die Herumtreiber, die gelegentlich erscheinenden Huren, aus denen sich im wesentlichen das Publikum des Studios zusammensetzte. Wenn das Geschäft schleppend lief, vertiefte er sich in technische Fachzeitschriften, die Shadow in den Abfall geworfen hatte. Er studierte die technischen Zeichnungen und versuchte, die Beschreibungen zu verstehen. Manchmal dachte er mehr über den künstlerischen als den technischen Aspekt der bewegten Bilder nach. An wärmeren Tagen stieg er mit seinem Mittagsbrot und einem Glas Bier auf das Hausdach und saß dort im Schein der Wintersonne, studierte das Licht und fragte sich, weshalb hier oben keine Filme gedreht werden konnten. Es gab genügend Platz für künstlich geschaffene Hintergründe, wie Wex sie benutzt hatte. Vielleicht sollte er diese Idee einmal dem Oberst unterbreiten, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot. Er dachte auch an Wex. Hoffte, daß es ihm in West Virginia gutging. Er dachte an Nancy. Am Ende des ersten Monats bei Shadow adressierte er einen Brief an sie in Reelsville und legte einen Dollar hinein. Danach
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schickte er ihr alle zwei Wochen einen weiteren Dollar. Eines Abends, als Jimmy gerade Aufsicht im Studio hatte und Shadow beim Abendessen einen ruhigen und nüchternen Eindruck machte, fragte Paul ihn, ob er sich einmal die Werkstatt ansehen dürfe. Der Oberst reagierte darauf wie ein Kind, das gebeten wird, seine Spielzeugkiste zu öffnen. »Natürlich darfst du, Junge, komm nur.« Paul mußte sich genauso wie der Oberst bücken, um sich nicht den Kopf an den Balken über der engen Treppe zu stoßen. In der Werkstatt roch es nach Öllappen, Sägemehl, Moder. Früher waren die Wände mal weiß gestrichen gewesen, doch mittlerweile waren große Flächen abgeblättert und hatten schmuddelige graue Flecken hinterlassen. Weder der Schmutz noch die Feuchtigkeit, noch das schreckliche Durcheinander von Plänen und Bastelmaterial störten Paul. Im Gegenteil, er kam sich geradezu auserwählt vor, so als sei er der Besucher in der Höhle eines großen Magiers. In einer Ecke stand, auf ein selbstgebautes Stativ montiert, ein rechteckiger Kasten mit einer Handkurbel und einem Loch für eine Linse in der schmalen Vorderwand. »Das ist er, Dutch. Der Luxograph. Der Name bedeutet soviel wie ›mit Licht schreiben‹.« Er nahm einen kleineren Kasten von der Werkbank. »Das ist das Magazin. Lichtdicht. Es faßt etwa fünfzehn Meter Eastman-ZelluloidNegativfilm. Man muß den Film bei totaler Dunkelheit ins Magazin einlegen. Aber die Kamera kann man laden, wo man will.« Er öffnete die mit Scharnieren versehene Seitenklappe der Kamera und zeigte Paul, wie der kleinere Kasten hinter der Linse eingesetzt wurde. Er schloß die Klappe und betätigte die Kurbel an der anderen Seite. »Man erhält acht Bilder pro Umdrehung und muß zwei Umdrehungen pro Sekunde machen. Mit anderen Worten, sechzehn Einzelbilder pro Sekunde, genauso wie der Cinematograph der Brüder Lumiere. Mr. Edison arbeitet mit achtundvierzig Bildern. Und jetzt sag mal ehrlich, begreifst du wirklich das Prinzip dieses Apparates?« »Ich glaube schon.« Paul holte tief Luft. Er mußte jetzt vorsichtig sein, durfte keinen Fehler machen. »Der Film in der Kamera läuft hinter der Linse durch, immer nur ein Bild gleichzeitig. An der Linse wird ein Bild belichtet wie bei einem Standbild. Für diesen kurzen Moment steht der Film ganz still. Während der Film weiterläuft, um zum nächsten Bild vorzurücken, muß das Licht abgeschirmt werden. Das ist die Aufgabe der Verschlußmechanik – nein –« Er überlegte einen Moment lang. »Des Mechanismus. Des Verschlußmechanismus! Das gleiche Prinzip wird
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angewendet, wenn der Film vorgeführt wird. Standbilder werden immer einzeln nacheinander sichtbar gemacht. Aber die einzelnen Bilder laufen so schnell durch, daß das Auge überlistet wird und glaubt, eine fließende Bewegung zu sehen.« »Dutch, das ist ja ganz toll. Ich habe in einem Buch gelesen, daß es aufgrund eines optischen Prinzips funktioniert. Man nennt es die Trägheit des Auges. Wenn man ein helles Licht anknipst und wieder ausknipst, dann sieht das Auge es noch eine Zehntel- oder Zwanzigstelsekunde länger. Das gleiche geschieht auch mit Filmbildern. Das Auge hängt noch an dem einen Bild, während das nächste schon auftaucht, und sie scheinen ineinander überzugehen. Es ist nicht nur so, daß Daws dieses Prinzip nicht begreift, es interessiert ihn auch überhaupt nicht.« »Sehen Sie, Sir, das ist bei mir anders. Ich will alles darüber erfahren.« Ein Grinsen breitete sich auf Shadows bleichem, fleckigem Gesicht aus. Paul hatte die Prüfung bestanden. »Weißt du, mein Junge, der berühmte Mr. Edison spielt schon seit acht oder zehn Jahren mit beweglichen Bildern herum. Ich meine Edison in Gestalt seines Helfers, Laurie Dickson. Dickson leistet die ganze Arbeit in Raum fünf. Raum fünf, das ist der Filmraum. Der Zauberer von Menlo Park, der gar nicht mehr so viel in Menlo Park arbeitet, hat für jedes seiner größeren Projekte einen abgeschlossenen Raum. Ich weiß das, weil Marys Lieblingsbruder Benjamin – Benjy –jahrelang als reisender Zimmermann und Schreiner durch die Lande gezogen ist. Er war in Jersey, als der Zauberer sein großes neues Labor aufbaute. Benjy hat auch einige Renovierungsarbeiten in Glenmont ausgeführt. Das ist seine Luxusvilla.« »Haben Sie auf diesem Weg zum erstenmal etwas von diesen Filmen gehört?« »Ja, von Benjy. Mindestens einmal im Jahr, manchmal auch zweimal, wird Marys alte Dame krank. Sie ist jetzt zweiundachtzig, so gesund wie ein Pferd, aber sie wird regelmäßig krank, so daß man fast die Uhr danach stellen kann. Todkrank und jederzeit bereit, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten. Auf diese Art und Weise hält sie Marys Alten Herrn an der Kandare. Und die Kinder – mit Mary insgesamt zwölf – kommen für eine Woche nach Hause gerannt. Dort sitzen sie dann herum, schlagen sich die Bäuche mit Kuchen voll und heulen in ihre Taschentücher, und dann springt Marys Ma wieder aus dem Bett, steht von den Toten auf, ist so fit wie eh und je bis zum nächsten Mal. 1890 sah es wirklich so aus, als sei die alte Dame im Begriff, den letzten Schnaufer zu tun. Ich war damals als fliegender Händler auf Tour. Du glaubst ja gar nicht, was für ein Zeug ich manchmal verscherbelt habe. Medusa Haarwuchspomade. Fünf Dollars für
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ein winziges Gläschen, und es war absolut wertlos. Wie dem auch sei, ich sagte zu Mary, daß es wohl doch ziemlich ernst aussehe, und ich würde sie nach Richmond begleiten. Dort hörte ich, wie Benjy von Raum fünf erzählte. Edison hält nicht viel von den bewegten Bildern, er spielt nur damit herum, weil er es sich leisten kann. Er kann sich alles leisten, ob es sich am Ende auszahlt oder nicht. Er hat ein Filmstudio auf dem Anwesen in West Orange. Das Dach ist nichts anderes als ein riesiger Verschluß, der geöffnet werden kann, um mehr Licht hereinzulassen. Das gesamte Gebäude ist beweglich wie eine Drehbrücke, so daß man es den ganzen Tag über immer zur Sonne ausrichten kann. All das nur aus Spielerei!« »Er hat doch seine eigenen Guckkästen gebaut, nicht wahr?« »Das war eine seiner zahlreichen Tochterfirmen. Im Augenblick beschäftigt er sich mit einer Kamera. Soweit ich weiß, ist seine Kamera nicht einsatzfähig. Sie arbeitet mit Hilfe eines batteriegetriebenen Elektromotors. Zu kompliziert, zu aufwendig – und vor allem viel zu schwer. Heb mal den Luxographen hoch.« Vorsichtig faltete Paul das Stativ zusammen, hob es hoch und legte es sich auf die Schulter. »Wie leicht!« »Mein Gott, kannst du dich begeistern! Vierundzwanzig Kilo würde ich nicht gerade leicht nennen. Aber es ist auch nicht so schwer wie ein Elefant. Mit seinen vierundzwanzig Kilo kann man den Luxographen überallhin mitnehmen, wo es sich lohnt, einen Film aufzunehmen. Du mußt nur ein gutes Auge und eine ruhige Hand an der Kurbel haben. Irgendwo in diesem Durcheinander liegen zehn Meter verdorbenen Films. Möchtest du mal sehen, wie man ihn einlegt?« »Ja!« Shadow lachte. »Ich hab’ mir schon gedacht, daß ich dich nicht extra zu fragen brauche.« Das Zusatzgerät zur Kamera war der ebenfalls noch nicht ausgereifte Luxograph-Projektor. Er wurde mit einer Kurbel bedient und erinnerte an einen aufrecht stehenden Kindersarg. Im Innern des Geräts befand sich eine komplizierte Anordnung von Gummiwalzen, Riemen und Zahnrädern, die den am Rand perforierten Film durch den Metallrahmen hinter dem Verschluß zogen und dabei jedes Bild für einen winzigen Augenblick hinter der Projektionslinse anhielten, ehe das nächste vorgezogen wurde. Besonders stolz war Shadow auf einen selbst entworfenen Glaskörper, den er in den Spalt zwischen Lichtbogenlampe und Filmrahmen eingesetzt hatte. »Das Filmmaterial ist äußerst brennbar. Das Wasser in dem
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Glasbehälter senkt die Temperatur der Bogenlampe erheblich. Es kommt vielleicht zu kleineren Verzerrungen bei der Projektion, aber es ist nicht so schlimm, daß die Leute ihr Eintrittsgeld zurückverlangen. Hoffe ich jedenfalls.« Er knipste die Werkstattbeleuchtung aus und wischte sich die Hände an einem Hemdzipfel ab, während sie wieder nach oben gingen. »Möchtest du ein Bier?« »Natürlich, vielen Dank.« Es sah so aus, als sollte dies ein denkwürdiger Abend werden. In der Küche holte Shadow eine braune Flasche Crown’s aus dem Eisschrank und eine Flasche Kentucky Bourbon Whiskey aus dem Küchenschrank. Mary meldete sich mit verschlafener Stimme aus dem Nebenzimmer. »Komm bald ins Bett, Schätzchen. Gute Nacht.« Shadow füllte sein Glas bis zum Rand. Paul hebelte den Verschluß von der Flasche. »Prosit, Dutch.« Shadow trank eine beängstigende Menge mit dem ersten Schluck. »Die Kamera unten ist alles, was ich brauche, um mit der Herstellung von Filmen anzufangen. Aber ich muß für jeden Ort, wo ich sie zeigen möchte, einen Projektor bauen.« »Was für Orte könnten das denn sein?« »Varietétheater. Aber ich denke auch daran, daß ich meine eigenen Läden haben könnte, zum Beispiel aufgegebene Lagerhallen oder Kaufhäuser. Ich müßte nicht viel Aufwand treiben. Nur ein paar Bänke oder Stühle sowie eine anständige weiße Wand. Wenn ich mit einer Halle Geld verdienen würde, könnte ich mich vergrößern und in jeder Stadt, egal wie groß, so eine Halle betreiben. Man müßte Leute in der Bedienung der Projektoren ausbilden, aber dieses Problem hätte ich überall.« Die Visionen des Mannes waren erstaunlich. Vielleicht war er kein Genie wie Mr. Edison, aber er hatte Phantasie und ein Verständnis für praktische Dinge, vor allem fürs Geldverdienen. Paul sagte: »Das ist aber ein sehr ehrgeiziger Plan.« »Ja, aber ich bin noch lange nicht soweit. Die Varietétheater kommen als erstes dran. Auch die bedeuten ein Risiko. Bisher habe ich dreihundertneunundzwanzig Dollars in die Entwicklung und den Bau eines Projektors gesteckt. Wie ich genug Geld einnehmen soll, wenn die Filme mit zehn anderen Betrieben konkurrieren müssen, ist mir noch nicht so klar. Außerdem habe ich nicht einen einzigen Film, der gut genug wäre, um den Projektor vorzuführen, wenn er einsatzbereit ist. Ich weiß, daß es einen Weg gibt, um alles in Gang zu bringen, aber bis jetzt habe ich noch nicht jeden Aspekt durchdacht. Das bereitet mir schlaflose Nächte, obwohl ich
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viel eher von Marys wunderbar weißen Schenkeln träumen sollte.« »Sie sagten, Sie haben noch keine Filme gedreht?« »Ein paar kurze – ein paar Sekunden lang. Nicht genug für ein Varietéprogramm. Dort verlangt man zehn Minuten, wenn nicht gar eine Viertelstunde.« »Könnte ich Ihnen vielleicht beim Drehen helfen? Ich habe mir das Dach dieses Gebäudes angesehen. Es ist sehr groß. Wenn der Frühling anbricht, gibt es da oben noch mehr Sonne. Wir könnten einen kleinen Film mit einer Geschichte aufnehmen. Ich habe gelesen, daß sie solch einen Film in Paris gezeigt haben.« »Ja, auch ich habe diesen Artikel gesehen. Meiner Meinung nach wollen die Leute keine Geschichten sehen.« »Aber wenn wir ein oder zwei drehen würden, hätten Sie etwas zum Vorführen.« Shadow legte einen Fuß auf den Tisch. Sah Paul lange an. »Du hast recht. Wenn du irgendwelche Ideen hast, dann notier sie. Ich bin froh, daß ich dich eingestellt habe, Junge. Du hast ‘ne Menge Elan. Eine gute Eigenschaft des jungen Amerika. Jimmy ist da ganz anders. Er ist ein ziemlich harter Knochen, aber ihm fehlt der Ehrgeiz, der Wille zum Erfolg. Ich meine jene nützliche Art von Ehrgeiz, die einem einen Platz in einem warmen Bett einbringt anstatt eine Gefängniszelle. Jimmy möchte einen Haufen dieser grünen Scheine, aber er will nicht dafür arbeiten. Jedenfalls keine Arbeit, bei der er nachdenken müßte oder die längere Zeit in Anspruch nimmt als fünf Minuten. Versteh mich nicht falsch. Ich habe die Gesetze mehr als nur selten übertreten. Aber wenn du es dir zur Gewohnheit machst, dann stellen sie eines Tages einen Galgen auf, der für dich allein bestimmt ist.« Nach einer kurzen Pause sagte Paul: »Oberst, was ich mich schon länger gefragt habe – sind Sie gerne auf der Bühne aufgetreten?« »Für eine Weile schon. Dann wurde es langweilig. Jeden Abend das gleiche schwarze Gesicht. Ein paar üble Witze und Negersongs –« Dann sprang er auf, machte ein paar Tanzschritte und stellte sich in Positur. Als er sich wieder setzte, wäre er beinahe vom Stuhl gefallen. Es hielt ihn jedoch nicht davon ab, noch mehr Whiskey in sich hineinzuschütten. »Die Minstrel-Shows waren sehr lehrreich für mich. Aber die Hausiererei war viel einträglicher. Ich hab’ dir ja schon gesagt, daß ich zum Teil schreckliches Zeug verkauft habe. Farmer Brown’s Family Recipe Pep Tonic – ›das Getränk, das Frauen glücklich macht.‹ Es war nichts anderes als Äthylalkohol, Farbe und Cayennepfeffer. Ein alter Knabe ist nach zwei Gläsern gestorben, sein Herz hat gestreikt, während sein kleiner alter
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Freund fröhlich strammstand. Die Stadtväter holten für mich das Teerfaß raus. Glücklicherweise konnte ich mit dem Nachtzug verschwinden. Dann habe ich in Kultur gemacht. Die Kleine Bibliothek der Sinnenlust, zweiundzwanzig hübsche kleinen Bändchen mit einigen der schärfsten Geschichten der Welt – nun ja, du weißt schon, was ich meine.« »Von den Minstrels und dem Hausieren bis zu den Filmen ist aber ein weiter Weg. Hat Marys Bruder Ihr Interesse darauf gelenkt?« »Genau der. Ich hab’ immer auf die große Chance meines Lebens gewartet, hab’ immer danach gesucht. Es schien, als würde ich sie niemals finden. Ich war ziemlich entmutigt. Dann hatte ich erneut das Glück des Dummen.« »Wie das?« »Marys Ma legte sich mal wieder zum Sterben hin.« »Es war erst im vergangenen Jahr«, fuhr Shadow fort. »Die alte Dame hatte ihren halbjährlichen Anfall. Es sah sehr ernst aus, genauso wie 1890. Alle Beezer-Brüder und Schwestern schickten aufgeregt Telegramme – Jetzt ist es soweit, jetzt stirbt sie wirkliche Mary war völlig fertig. Ich mußte mitfahren, um sie aufzumuntern. Wie ich schon sagte, ich war ziemlich am Boden. Ich hatte im Juni dreiundneunzig dieses Studio hier eröffnet. Nein, ich hab’ das alles nicht selbst geschaffen, hab’ auch die Maschinen nicht gebaut, die kamen von einem Mann namens Eppleworth. Ich glaube, er stahl die Konstruktionspläne des Apparates von jemand anderem – alle Filmleute bestehlen sich gegenseitig –, aber ich hatte nie Gelegenheit, ihn danach zu fragen. Eppleworth wurde auf der State-Straße erschossen, sechs Wochen nachdem er den Laden eröffnet hatte. Er geriet mitten in einen Überfall und hatte Pech. Ich hatte keine Lust mehr zum Hausieren, ich sah eine Anzeige, kratzte jeden Penny zusammen und kaufte den Laden von Eppleworths Witwe. Wir feilschten wie wild. Zuerst wollte sie mit dem Preis nicht runtergehen. Genauso wie Mary, als ich sie kennenlernte, war Bessie Eppleworth sehr viel jünger als der alte Bock, der sich eine Kugel eingefangen hatte. Ich überlegte mir eine Verführungstaktik, die sie vielleicht dazu bringen würde, den Preis zu senken. Ich besprach die Angelegenheit mit Mary. Es gefiel ihr gar nicht, aber am Ende willigte sie ein, da es eine rein geschäftliche Angelegenheit war. Bessie Eppleworth unterschrieb den Kaufvertrag am letzten Abend unserer herrlichen Woche in Toronto und an den Niagarafällen. Sie kaufte die Eintrittskarten, bezahlte für das Zimmer und den Wein – es gab alles, nur keine Heiratsurkunde. Ich
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glaube, sie hoffte, daß ich davon anfangen würde. Aber von wegen! Diese Reise war rein geschäftlich zu verstehen. Ich hätte sie niemals geheiratet, egal, wer dafür bezahlt hätte. Ich hatte große Pläne mit dem Studio. Große Träume. Ich war dumm. Dies hier ist eine miese Gegend, und in Chicago gibt es zwei Studios in sehr viel besserer Umgebung. Vom ersten Tag an verdiente ich kaum genug, um etwas zu essen zu kaufen, Heizkohle zu beschaffen, die Stromrechnung zu zahlen und am Ende noch ein paar Cents in der Tasche zu haben. Daher wollte ich weg und in Ruhe über alles nachdenken. Das war der andere Grund, aus dem ich mit Mary nach Richmond fuhr. Es waren ganz sicher keine Ferien im Paradies. Richmond, Indiana, ist ein Nest mit Besenbindern und Bauerntrotteln. Nach dem ersten Tag wurde ich fast verrückt vor Langeweile, genauso wie bei meinem ersten Besuch. Ich entschuldigte mich dafür, daß ich mich nicht an der vorzeitigen Totenwache beteiligte, bummelte in die Stadt und landete in einem Saloon. Dort geriet ich mit einem Gast ins Gespräch, der nicht aussah wie ein Bauernlümmel. Eleganter Anzug, gute Manieren. Er stellte sich mir als C. Francis Jenkins vor, aber ich solle ihn ruhig Charlie nennen. Er sei zur Hochzeit der Schwester in die Stadt gekommen. Charlie war irgendein Angestellter im Schatzamt von Washington. Nebenbei betätigte er sich als Erfinder und schrieb an Jules Verne erinnernde Artikel über Stimmen und Bilder, die man ohne Drähte durch den Äther schicken könne. Du darfst mich nicht fragen, wie das gehen soll. Ich erzählte ihm, daß ich auch herumbastele und irgendwelche Dinge zusammenbaue, und ich sei ziemlich gut darin, deshalb kamen wir von Anfang an gut miteinander aus. Ich erzählte ihm, ich besäße ein Guckkastenstudio. Keine Zukunft, sagte er. Große Bilder, die für viele Menschen auf große Schirme oder sonstige Flächen projiziert würden, darin läge die Zukunft. Wie er sich dessen so sicher sein könne, wollte ich wissen. Nun, erwiderte er, einen schlagenden Beweis könne er mir noch nicht liefern. Aber er und ein Mann namens Tom Armat, ein Immobilienhändler in Washington, hätten sich geschäftlich als Partner zusammengetan und alles aufs Spiel gesetzt, was sie besäßen. Sie hätten die gesamte Farm in Filme investiert. Er erzählte dann, wie es dazu gekommen war. Zwei Jahre zuvor hatte ein Knabe namens Tabb Armats Büro betreten. Er kannte Armat flüchtig und wußte, daß er stets auf interessante Gelegenheiten wartete. Tabb war begeistert von Edisons Kinetoskop und hatte sich tatsächlich verpflichtet, mehrere Apparate zur Cotton States Exposition – einer Ausstellung der
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Baumwollstaaten – in Atlanta zu bringen und danach den Süden zu erobern. Armat sah für einen Filmapparat, den immer nur eine Person benutzen kann, keine Zukunft und keine Möglichkeit des Profits. Er war auch auf der Columbian Exposition gewesen und hatte sich ausgiebig das ElektroTachyskop von Anschütz angesehen. Ich habe es ebenfalls studiert.« Paul erwähnte, daß er auch davor gestanden hatte. »Armat witterte eine Zukunft für längere Filme, die auf größere Wände geworfen wurden. Er war überzeugt, daß die Öffentlichkeit ganz wild darauf sei. Wieder zurück in Washington, schrieb Armat sich bei einigen Kursen ein, durch die er zu einem besseren Verständnis der Filme und ihres technischen Prinzips zu gelangen hoffte. Dort, an der Bloss School of Electricity lernte er Charlie Jenkins kennen. Sie freundeten sich schnell an. Sie beschäftigten sich beide mit der Idee von projizierten Bildern und Filmen. So besiegelten sie eine Partnerschaft, um ihre Maschine zu bauen. Jenkins und ich verbrachten während der nächsten beiden Tage viele Stunden in diesem Saloon. Ich erhielt eine schnelle Ausbildung. Armat und Jenkins hatten bereits einen Projektor fertiggestellt. Er war groß und laut. Er transportierte den Film zu ruckartig, daher wackelten und flimmerten die Bilder auch. Nach einer halben Minute bekam man davon Kopfschmerzen, erzählte Jenkins. Außerdem litt das Filmmaterial. Es riß ständig. Jenkins sagte, sein Partner habe das Problem gelöst. Er hatte ein Schleifensystem entwickelt, um die Spannung zu mindern. Der Film lief so locker durch den Apparat, daß die Zahnräder ihn immer nur ein paar Zentimeter weiter beförderten, wodurch der Rest der Filmrolle nicht so sehr beansprucht wurde. Das war wirklich eine blitzgescheite Idee. Geradezu genial. Armat und Jenkins gingen mit ihrem Apparat zur Cotton States Exposition, doch es stellte sich heraus, daß die projizierten Filme nicht beliebter waren als Tabbs Kinetoskop-Studio. Es brach sogar allgemeine Panik aus, als Jenkins und Armat für die erste Vorstellung das Licht löschten. Die Leute schrien und rannten hinaus, weil sie dachten, dies sei ein Trick, durch den sie in der Dunkelheit zu leichteren Opfern von Taschendieben und Triebtätern würden. Ich hatte von der Intelligenz der Südstaatler eigentlich noch nie eine besonders hohe Meinung. Armat und Jenkins waren durch diese Erfahrung ziemlich entmutigt, aber sie wollten nicht aufgeben. Sie wußten, daß man den Leuten die bewegten Bilder unterschieben mußte, damit sie endlich zu der Überzeugung gelangten, daß Filme die Sensation der Zukunft seien. Charlie und sein Partner waren noch immer davon überzeugt, daß es dazu kommen würde, und Charlie überzeugte mich.
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Er hatte einen der in Atlanta eingesetzten Apparate und ein paar seiner kurzen Filmstreifen per Eisenbahnexpreß nach Richmond mitgebracht, um seine Familie und die Hochzeitsgäste zu unterhalten. Noch so eine Bande geschniegelter Denker. Sie interessierten sich für gar nichts von dem, was er ihnen zeigte. Aber ich tat es. Mein Gott, ich werde es nie vergessen! Er lud mich in sein Hotelzimmer ein, zog die Jalousien herunter, räumte einen dicken Stapel Zeichnungen vom Bett – er arbeitete gerade an Verbesserungen des Projektors – und führte einen kurzen Film mit dem Titel Annabelle die Tänzerin vor. Der Streifen lag auf der Linie des Chinesischen Traums, war aber weitaus sauberer. Das Bild erschien auf der Jalousie und der Wand zu beiden Seiten des Fensters fast lebensgroß. In diesem Moment wußte ich, daß Jenkins recht hatte, daß Armat recht hatte und daß Edison ein dummer, egoistischer alter Narr war, den seine eigene Berühmtheit völlig verdorben hatte. Dort in diesem Hotelzimmer im jämmerlich kleinen Richmond hatte ich eine Vision. Ich sah das neue Jahrhundert in all seiner Pracht. Ich schüttelte C. Francis Jenkins die Hand, nannte ihn einen großen Mann – der er wirklich ist – und bedankte mich bei ihm dafür, daß er mir einen Blick in die Zukunft gewährt hatte. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Zu der Zeit, als Jenkins’ Trauung stattfinden sollte, entschuldigte ich mich erneut für meine Abwesenheit von der vorgezogenen Totenwache für Marys Mutter und kehrte ins Hotel zurück. Ich gab einem alten schwarzen Hotelpagen fünf Dollars, praktisch meine gesamte Barschaft, damit er mir von der Rezeption einen Zweitschlüssel besorgte und in der Halle Wache stand. Fast vier Stunden brauchte ich, um Charlies Konstruktionszeichnungen zu kopieren. Als der Neger an die Tür klopfte und sagte, Mr. Jenkins sei zurückgekehrt und trinke noch etwas im Saloon, brachte ich alles wieder in Ordnung, verließ das Hotel über die Hintertreppe und verschwand in der Nacht. Das, mein Junge, ist die Geschichte, wie R. Sidney Shadow sich im Filmgeschäft einnistete.« Shadow lehnte sich lächelnd zurück. »Ich legte einen rasanten Start vor, wodurch ich gegenüber fast allen Heinis, die lange vor mir angefangen hatten, einen erheblichen Vorsprung gewann. Eine meiner größten Sorgen gilt im Augenblick der Patentverletzung. Ich habe einige Modifikationen am Projektor vorgenommen, aber nur sehr kleine, wie zum Beispiel den Glasbehälter mit dem Wasser. Ich hoffe inständig, daß Jenkins und Armat mich nicht aufstöbern, bevor ich genug Geld verdient habe, um mir gute Anwälte leisten zu können.«
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Aus dem Schlafzimmer drang Mary Beezers Stimme zu ihnen, gedämpft und fordernd. Shadow stand auf. »Ich glaube, Mary braucht ein wenig Aufmerksamkeit. Bis später.« Er prallte gegen die Wand, während er die Schlafzimmertür öffnete, straffte sich und drehte sich zu Paul um. »Ich glaube, du hast das Zeug zu einem Filmmann, Dutch. Ich glaube, du verfügst über das, was dafür nötig ist. Aber laß es dir nicht zu Kopfe steigen.« An einem hellen, windigen Morgen im März, im Ruß- und Funkenregen der einen halben Block östlich verlaufenden Bahn, entstand das erste extravagante Produkt der Chicago Luxograph Company, Der Einbrecher. Paul hatte ein kurzes Szenario entwickelt und es mit Bleistift auf drei kleinen Skizzen festgehalten. Shadow hatte es bearbeitet und umgeschrieben. Auf dem sonnenbeschienenen Dach saß Mary auf einem Hocker vor einer großen Leinwandfläche, die mit Nägeln auf einem Rahmen befestigt war. Jimmy hatte ein Muster auf die Leinwand gemalt, das wie Mauerwerk aussehen sollte. Er hatte ständig geschimpft und sich beschwert, während er damit beschäftigt war. Entsprechend schlampig hatte er auch gearbeitet. Die Mörtelfugen waren unregelmäßig und krumm. Oberst Shadow schlug den Mantelkragen hoch, klappte die vordere Krempe eines alten Sombrero hoch und kauerte sich hinter die LuxographKamera. Er hatte das Stativ mit Holzklötzen fixiert, so daß die Kamera ständig auf die Szene gerichtet war, die sich vor der falschen Ziegelmauer abspielte. Mary hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, eine Beschäftigung, die ihr völlig fremd war. »Also, Mary, los geht’s. Fang an zu lesen!« rief Shadow und begann, die Kurbel zu drehen. »Verdammt, Sid, ich versuche es. Mir ist was ins Auge geflogen!« »Hör auf, ich sehe die Bewegung deiner Lippen. Einbrecher!« Jimmy betrat die Szene. Mary hatte seine Maske angefertigt, indem sie Löcher in ein dunkelblaues Halstuch geschnitten hatte. Jimmy sah in seiner Rolle völlig natürlich aus. Er kauerte hinter Mary, bedrohte sie mit erhobenen Händen. Mary hörte etwas, sprang entsetzt auf und schleuderte das Buch von sich. Das Buch prallte unglücklich gegen Jimmys Kopf und landete auf dem Fußboden. »Passen Sie doch auf! Das tat weh!« »Weitermachen! Weitermachen!« rief Shadow aus und kurbelte. »Jetzt
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der Einbrecher, pack sie!« Jimmy ergriff Marys Arme härter als nötig. »Polizist!« Paul stürmte in die Szene. Er hatte sich einen von Marys breiten Gürteln umgeschnallt und trug einen Spielzeugsheriffstern aus dem Kaufhaus. Shadow hatte ihm einen alten, rostigen Armeecolt gegeben. Er war nicht geladen, und Paul hielt ihn im Anschlag, während er den Übeltäter dingfest machte. Jimmy hob die Hände, aber seine finstere Miene verriet, daß ihm dieser Teil der Handlung überhaupt nicht gefiel. Mary klimperte mit den Wimpern, schlang die Arme um Pauls Hals und küßte ihn auf die Wange. Paul nahm eine Heldenpose ein, dann packte er den Einbrecher am Kragen, um ihn abzuführen. »In Ordnung, stopp, der Film ist zu Ende. Gut gemacht, Leute!« Paul rannte ins Parterre, um das Studio zu öffnen. Shadow entwickelte den Film selbst. An diesem Abend hängte Mary im düsteren Wohnzimmer im zweiten Stock ein Bettlaken auf, während Paul und Jimmy den Luxograph-Projektor mühsam aus dem Keller nach oben schafften. Beim grellen Licht der Bogenlampe begann Shadow zu kurbeln, und auf dem Bettlaken, durch den mit Wasser gefüllten Glasbehälter nur leicht verzerrt, wurde das Drama Der Einbrecher auf magische Weise lebendig. Paul klatschte in die Hände, schaukelte auf seinem Hocker hin und her und lachte. »Das ist ja wundervoll!« »Das ist es, nicht wahr?« sagte Mary, streckte die Hand aus, um seine in der Dunkelheit zu ergreifen. Irgendwie landete ihre Hand jedoch in seinem Schoß. Paul nahm an, daß es unabsichtlich geschehen war, doch sie ließ die Hand liegen und erzielte damit eine peinliche Wirkung. »Ich finde es gar nicht gut, daß ich in den Knast geschleift werde«, sagte Jimmy zwischen heftigen Zügen an seiner Zigarette. »Das nächste Mal spiele ich aber den Guten.« Shadow schaltete die Maschine aus, und Mary zog ihre Hand zurück, nachdem sie ein letztes Mal zärtlich zugedrückt hatte. Die Zimmerbeleuchtung flammte auf. »Das sieht ja gut aus«, sagte der Oberst. »Aber es ist nur eine alberne Geschichte. Ist es das, was die Leute im Film sehen wollen, oder wünschen sie sich was Reales? Dieses Problem beschäftigt mich sehr, Freunde.« Mary sagte: »Ich mag Geschichten.« »Aber nicht so dämliche wie die«, sagte Jimmy. »Ich will was aus dem wirklichen Leben.« »Weshalb nicht beides?« fragte Paul. »Im Film kann man alles bringen. Das haben Sie selbst gesagt, Oberst.« »Ich werde mal darüber nachdenken«, versprach Shadow.
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Ende März fuhr der Oberst mit einem Nachtzug nach New York. Ein anderer neuer Konkurrent, American Vitagraph, präsentierte sein erstes Programm in Tony Pastor’s New-Fourteenth-Street Theater. »Stuart Blackton und Al Smith haben zwanzig Minuten Film gezeigt«, berichtete Shadow düster, nachdem er nach Chicago zurückgekehrt war. »Die Brandung am Strand von Long Island. Drahtseilbahnen auf dem Broadway. Feuerwehrwagen. Auf den letzten zwanzig Metern kam ein Zug der Lehigh Valley Railroad namens Black Diamond Express aus irgendeinem Tunnel herausgerast. Das halbe Publikum sprang schreiend von den Sitzen auf. Es sind die realen, die wirklichen Dinge, die sie wollen. Echte Spannung. Filme, die irgendwelche Geschichten erzählen, werden niemals Profit bringen.« Am letzten Abend im März nahm Paul als erster sein Abendessen ein. Wie üblich aß er sehr schnell. Als er die Hühnersoße mit einem letzten Stück Brot auftunkte, sah Mary ihm belustigt zu. »Ich brauch’ die Teller fast gar nicht zu spülen, wenn du von ihnen gegessen hast.« Er ging nach unten, um Jimmy abzulösen, der im Hinausgehen eine Melodie pfiff und ein paar Tanzschritte machte. »Dir geht es offenbar sehr gut«, stellte Paul fest. »Mary backt mir morgen einen Kuchen. Sie ist ein richtiger Schatz.« Es rieselte Paul kalt über den Rücken. »Du hast morgen Geburtstag, nicht wahr?« »Ja, am 1. April. He, was ist los? Du siehst aus, als hätte dich gerade die Bartlady aus der Horrorshow geküßt.« Paul fuhr sich mit der Hand nervös durch sein widerspenstiges Haar. »Komm schon, Dutchie, raus damit.« »Ich dachte nur an einen alten deutschen Aberglauben. Nichts Wichtiges.« Mit zorniger Miene kam Jimmy zur Kasse zurück. »Was für ein Aberglaube?« Keine Antwort. »Welcher Aberglaube?« Jimmy packte Pauls Hemdbrust. »Laß los. Ich sag’s dir.« Jimmys Wangen waren gerötet, seine Brust hob und senkte sich heftig. Aber er ließ los. »Erzähl«, sagte er. »Es ist ein uralter Aberglaube, vorwiegend unter Leuten, die regelmäßig in die Kirche gehen. Sie sagen, daß der 1. April der Tag ist, an dem Judas zur Welt kam. Sie sagen, es sei ein Unglückstag.« »Haha. So ein Witz.« »Jim, es tut mir wirklich leid, daß ich damit herausgeplatzt bin. Ich habe
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einfach nicht nachgedacht.« »Und es wäre besser, wenn ich es nie mehr hören würde. Ich zeig’ dir, wer Glück hat und wer nicht. Nimm dich in acht.« Er stürmte hinaus. Die Tür am Ende der Treppe fiel mit einem lauten Knall zu. Paul ärgerte sich über seinen dummen Fehler. Mein Gott, war der wütend gewesen!. Jahre später, als zwischen ihnen einiges geschehen war, erinnerte Paul sich an den 31. März 1896. Er war überzeugt, daß Jimmy zu diesem Zeitpunkt begonnen hatte, ihn zu hassen. Am Ende erwies Jimmys Geburtstag sich doch als ein schicksalhaftes Datum. In New York feierte das Edison-Vitaskop-System am Abend des 20. April in Koster and Bial’s Music Hall seine Premiere. Trübsinnig las Shadow die Meldung in der Zeitung. »Meeresbrandung, Schirmtanz, Kaiser Wilhelm bei der Truppeninspektion, Ein Boxkampf. Zwei Projektoren kamen zum Einsatz – man brauchte nicht zu warten, während der Film gewechselt wurde. Aber das ist noch nicht alles. Vier Filme waren farbig! Es war eine Sensation. Wißt ihr, was sie gemacht haben? Jedes einzelne Bild wurde von Hand koloriert –« Er zerknüllte die Zeitung und schleuderte sie unter den Spülstein. »Edison, dieser Betrüger, bekommt Riesenschlagzeilen, und dabei ist es noch nicht einmal sein Apparat. Er hat die Erfindung aufgekauft!« »Und von wem, Liebling?« erkundigte Mary sich. »Von Tom Armat. Er hat früher mit Immobilien gehandelt. Jetzt ist er Filmunternehmer.« Der Name Armat löste bei Paul einen gelinden Schrecken aus. Thomas Armat war F. Jenkins’ Partner gewesen, des Mannes also, dessen Konstruktionszeichnungen der Oberst kopiert hatte. Wenn Armat sich seine Anteile von Edison hatte abkaufen lassen, dann hatte Shadow genaugenommen Edison bestohlen, und Edison war dafür berüchtigt, seine Patente zu verteidigen wie eine Tigerin ihre Jungen. Edison beschäftigte ganze Anwaltsfirmen. »Sid«, sagte Mary, nachdem sie über alles nachgedacht hatte, »es gibt nur eine Möglichkeit. Du mußt deine Filme ebenfalls in irgendeinem Varietéprogramm vorführen.« »Ich habe schon einen Fisch an der Angel. Endlich. Er kommt am Donnerstag hierher. Wir zeigen ihm den Einbrecher.« Im Levee erschien Mr. Ishmael (Iz) Pflaum, der Eigentümer und Betreiber
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von Pflaum’s Music Hall in der South-State-Straße. Mr. Pflaum war eine imposante Erscheinung und erinnerte mit seinem weißen Vollbart an den heiligen Nikolaus. Er hatte ein kleines Notizbuch bei sich, das mit Zahlen und Dollarzeichen gefüllt war. Pflaum ließ sich in den besten Sessel des Wohnzimmers fallen und thronte genau vor dem Bettlaken. Nervös stellte Mary als Imbiß heiße Würstchen mit deutschem Senf auf den kleinen Tisch neben ihm. Paul brachte dem Gast einen Krug frisches Bier von Freiberg. Jimmy war nach unten ins Studio verbannt worden. Mary knipste die Beleuchtung aus. Shadow betätigte den Luxographen. Paul kauerte hinter ihm. Er fröstelte aufgeregt trotz der Hitze, die die Lichtbogenlampe abstrahlte. Da saß Mary und las. Jimmy kam ins Bild geschlichen. Iz Pflaums Hand tastete nach den Würstchen und stopfte alle paar Sekunden eine in seinen Mund, als würde er von einem inneren Motor angetrieben. Aber er wendete seinen Blick nicht von dem leuchtenden Bettlaken ab. Am Ende, als die Beleuchtung wieder eingeschaltet wurde, war der Imbißteller leer. »Sid –«, Mr. Pflaum fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und erzeugte einen schnalzenden Laut, »ich nehme ihn. Den Apparat dort.« »Sie wollen –? Also, Iz, das ist prima! Es gibt nur ein kleines Problem.« »Ich mag keine Probleme. Und auch keine Leute, die mir Probleme bescheren.« »Tut mir leid, Iz. Aber dieser Projektor ist ein Prototyp. Er ist nicht verkäuflich.« »Dann bauen Sie einen zweiten. Ich muß das Ding bald haben, sonst kommen wir nicht ins Geschäft.« »Bei diesem Gerät kostet allein das Material dr – vierhundertfünfzig Dollars. Für ein neues brauche ich einen Vorschuß.« »Wieviel?« »Einhundert Dollars.« »Fünfundsiebzig. Kommen Sie morgen vorbei, wir schließen einen Vertrag. Sie produzieren zehn Minuten Film, ich zeige sie als Rausschmeißer.« »Als was?« »Als Rausschmeißer, so nennen sie sie bei Koster and Bial’s. Am Ende des Programms, nach den Zwergen, dem Zauberkünstler, der Mädchentruppe und den japanischen Akrobaten, scheucht man das Publikum mit Filmen hinaus. Dafür sind sie gut, um das Haus nach der Vorstellung schnell leer zu bekommen.« Paul wollte dem widersprechen. Aber er hatte nichts zu sagen. Er
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entschied, daß Iz Pflaum ein habgieriger, dummer Mann ohne Phantasie war. Pflaum setzte seine Melone auf und ging zur Tür. »Eine Sache noch. Diese kleine Geschichte war ganz nett, aber ich wünsche echte Ereignisse. Ausschließlich.« »Natürlich, Iz, die bekommen Sie. Ich will auch nur solche Filme drehen. Der Einbrecher war ein Experiment. Realität, Tatsachen, das ist der richtige Stoff. Ich lasse unseren Kameramann sofort mit den Aufnahmen anfangen.« »Sie haben einen richtigen Kameramann, um die Filme zu drehen?« »Natürlich. Das ist er.« Shadow legte einen Arm um Paul, der Mühe hatte, nicht umzufallen. »Mr. Crown ist jung, Iz, aber er ist überaus begabt.« Paul stand da und hielt seinen Mund geschlossen. Lieber stumm als dumm. Mr. Pflaum ergriff seine Hand und drückte sie. »Sehr schön, freut mich, das zu hören. Ich wußte gar nicht, daß Sie schon soweit sind, Sid.« »Ist schon in Ordnung, Iz, die meisten erkennen nicht, daß Chicago Luxograph eine aufstrebende Firma ist. Ich bringe Sie nach unten. Ein paar Treppenstufen sind schadhaft. Wir warten schon seit einigen Wochen auf den Schreiner …« Nachdem der Oberst und Iz hinausgegangen waren, brachen Paul und Mary in ausgelassenes Gelächter aus und fielen sich um den Hals. Mary verströmte eine wundervolle Aura von Wärme und Bier. Nach einem schnellen Blick zur Tür streichelte sie seine Wange. »Du hattest neulich abends aber einen ziemlich Dicken in der Hose.« »Mary, Sie bringen mich in Verlegenheit. Sie sind schließlich die Frau des Obersts.« »Ach, aber nicht richtig. Ich könnte gleichzeitig deine Freundin sein.« Er dachte schnell nach. »Ich glaube, ich bin viel zu beschäftigt. Ich wurde nämlich gerade befördert.« Sie lachte wieder. »Paul, du bist wirklich ein Schatz.« Sie küßte ihn schnell, aber leidenschaftlich, er spürte ihre Lippen und ihre Zunge. So kam es, daß das Schicksal in der Gestalt von Ishmael Pflaum endgültig über den Werdegang der Chicago Luxograph Company und über die weitere Richtung von Pauls Leben entschied. Zwanzig Meilen südwestlich von Chicago bauten sie bei unfreundlich grauem Himmel die Kamera auf. Sie bohrten die Klauenfüße in das Schotterbett zwischen den Eisenbahnschwellen. Der wertvolle Luxograph stand mitten zwischen den Gleisen der Banner Railroad, der Wabash-St.
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Louis & Pazifik-Linie. Paul war außerordentlich angespannt. Der stürmische Wind aus dem immer dunkler werdenden Nordwesten strich durch die hüfthohen Maiskolben in den Feldern zu beiden Seiten der Bahnstrecke. Ein gelegentliches Donnergrollen ließ die beiden Pferde des Wagens scheuen. Mary hatte Mühe, sie vom Kutschbock aus unter Kontrolle zu halten. Sie hielt ihren Strohhut fest. »Ein schreckliches Unwetter ist im Anzug, Sid, beeil dich lieber.« Shadow ging mit langen Schritten neben den Gleisen auf und ab. Sein Gemütszustand war an seinen hochgezogenen Schultern und an seinen zusammengekniffenen Augen abzulesen und auch daran, daß er seine goldene Uhr immer wieder aus der Tasche seines Gehrocks herauszog und beinahe fallen ließ. »Noch vier Minuten. Der Cannonball verspätet sich nie, außer er wird durch einen Schneesturm, beschädigte Gleise oder eine eingestürzte Brücke aufgehalten.« Jeder wollte einen sensationellen Eisenbahnfilm in sein Programm aufnehmen, auch Iz Pflaum. Für den Streifen mit dem Empire State der New York-Central-Linie und den Film mit dem Black Diamond der Lehigh Valley standen die Menschen bereits in Schlangen an. Sid Shadow wollte seinem Kunden mit dem Vorzeigezug der Wabash-Linie gefallen. Paul drehte seine Mütze, so daß der Schirm nach hinten zeigte. Der Wind zerrte an seinem verblichenen blauen Hemd. Er stopfte die Hosenbeine in die schweren Arbeitsstiefel. Das war der angemessene Aufzug für einen Kameramann, verwegen, modern … »Er winkt! Er winkt!« rief Shadow und führte einen wilden Tanz auf. »Sid, er winkt!« kreischte Mary. »Ich sehe ihn winken!« rief auch Paul. Etwa eine halbe Meile weiter nördlich stand Jimmy Daws auf einer Gerätekiste neben den Gleisen und schwenkte seinen Hut. Paul biß sich auf die Unterlippe. Maishalme, Zweige von Büschen und Bäumen und anderes wirbelten vorüber. Staubwolken tanzten. Ein Blitz zuckte zum Horizont hinab. Fast augenblicklich folgte ein Donnern. Das Unwetter war ganz nah. Über die Kamera hinweg konnte Paul einen weißen Lichtpunkt erkennen. Er wurde rasend schnell größer. Shadow sagte: »Denk daran, gleichmäßig kurbeln. Ich halte das Stativ fest. Und verlier um Gottes willen nicht die Nerven!« Paul spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Ganz schwach zuerst, doch dann stärker und stärker. Jimmy sprang von der Gerätekiste herunter und brachte sich in einiger Entfernung von den Gleisen in Sicherheit. Der Frontscheinwerfer leuchtete grell. Höllische Dampf- und
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Staubwolken drangen unter der eisernen Lokomotive hervor, die auf sie zuraste. Regentropfen peitschten Paul ins Gesicht. Aber er achtete nicht auf das Unwetter. Es gab nur noch den Zug und seine Aufgabe und den Knoten in seinem Bauch … »Die Objektivkappe!« brüllte Shadow. Paul riß sie herunter. »Fang an zu kurbeln!« Paul kurbelte, zählte stumm eins-zwei, eins-zwei und vollführte zwei Umdrehungen pro Sekunde. Die Gleise summten. Die Erde bebte. Die Dampfpfeife des Cannonball heulte. Der Maschinist sah sie. Der Scheinwerfer wurde groß wie die Sonne. Direkt darunter, auf der runden Frontplatte der Lokomotive, erkannte Paul das aufgemalte Emblem der Eisenbahnlinie, ein wehendes Banner. Der Cannonball kam näher und näher. Wuchs ins Unermeßliche. Füllte die gesamte Welt aus … Eins-zwei, eins-zwei… »Weiterkurbeln, weiter«, hauchte Shadow. »O mein Gott, das ist ja sensationell! Unbeschreiblich!« Die Pfeife schrillte. Blitze zuckten. Der Donner explodierte. Eins-zwei, eins-zwei… Der Regen nahm an Heftigkeit zu. Pauls Arm und Handgelenk schmerzten vom Kurbeln, sein Rücken war vom Zusammenkauern ganz steif und verspannt. Er hätte am liebsten den Luxographen beiseite geschleudert und sich mit einem Sprung in Sicherheit gebracht. Wenn er es nicht tat, würden sie zerquetscht. Er konnte jetzt sogar den Slogan lesen, der unter dem Emblem auf der Front der Lokomotive aufgemalt war. »Follow the Flag«, immer dem Banner nach … Er kurbelte. »Sid, du wirst überrollt!« Marys hysterische Stimme klang schwach und dünn durch das Getöse des Zuges und des Sturms. Der Cannonball wurde größer, höher, breiter, näherte sich wie eine dieser Windhosen in der Prärie, von denen er schon gelesen hatte. Er dachte an Julie, an all die Dinge, die er in seinem Leben noch nicht getan hatte. EINS-ZWEI, EINS-ZWEI, EINSZWEI, EINS-ZWEI, jemand sollte ein Lied komponieren; es bei seiner Beerdigung singen … »Jetzt!« brüllte Shadow und packte das Stativ. Paul sprang nach links, ohne hinzusehen. Ein knatternder Luftsog riß an seiner Mütze und an seinem Hemd. Er stürzte keuchend in das Maisfeld. Der Cannonball jagte vorüber. Shadow blieb mit der Kamera und dem Stativ auf der Schulter dicht neben den Gleisen stehen. »Mein Gott, wir haben’s geschafft, ich glaub’,
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wir haben’s geschafft!« Er reagierte beinahe genauso hysterisch wie Mary. Die Post-, Fracht- und Personenwagen ratterten vorbei. Paul kämpfte sich auf die Füße und spürte plötzlich, daß er vom heftigen Regen völlig durchnäßt war. Sein Zittern ließ nach. Er hatte durchgehalten. Er hatte den Film aufgenommen. »Da, schütz dich damit, ich habe einen Hut«, sagte Shadow und reichte Paul eine zusammengefaltete Zeitung, die er aus der Jackentasche gezogen hatte. Paul las die Schlagzeile. MISS VANDERHOFF VERLOBT Demnächst Vermählung mit bekanntem Clubmitglied W. V. Elstree III. Brauteltern nennen August als offiziellen Hochzeitstermin.
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Alle Leute wollen sehen, Was man »Flimmerbilder« nennt, Warten und in Schlangen stehen, Weil man’s aus der Reklame kennt. Und die, die solche Bilder zeigen, Machen all die andren schlecht, Die auch mittanzen in dem Reigen Und pochen auf das Vorführrecht. Sie füllen überall die Hallen Mit ihrem Wunderapparat. Und jeder sagt, daß er von allen Die beste der Maschinen hat. Bewegte Bilder zieh’n vorbei, Quälen die Augen mit wildem Zucken, Den Menschen ist das einerlei, Niemand stört sich an dem Rucken. Denn das, was lebt und sich bewegt, Lockt neue Freunde stets herbei. Das Publikum die Hände regt, Zu feiern diesen neusten Schrei. 1896 British Journal of Photography
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74 JOE CROWN »Was liest du da, Joe?« Er drehte sich auf seine linke Seite, so daß der Schein der Nachttischlampe auf den mit Goldlettern beschrifteten Buchrücken fiel. The Red Badge of Courage – Die rote Tapferkeitsmedaille –, las Ilsa. Dann sagte sie: »Das hast du doch schon gelesen.« »Zweimal sogar. Es ist ein gutes Buch.« »Einige meiner Freundinnen meinen, es sei zu realistisch. Sie haben es schon nach wenigen Seiten wieder beiseite gelegt.« »Ich gebe zu, es ist kein Buch für Frauen. Na und?« Joe reagierte gereizt. Die schwüle, windstille Nacht verwandelte das Haus in einen Backofen. Sein Leinennachthemd – es war das leichteste, das er besaß – war durchgeschwitzt. Der Sommer hatte schon früh eingesetzt; es war gerade Juni. Viele Bewohner der Stadt schliefen jetzt viel ruhiger, seit »Bluebeard« Holmes im Mai für seine Verbrechen gehenkt worden war. Joe Crown hingegen schlief nicht besser, und das hatte nichts mit Chicagos berüchtigtem Massenmörder zu tun. »Der junge Mr. Crane war niemals im Krieg, nicht wahr?« fragte Ilsa. »Nein, aber man könnte es durchaus glauben. Er hat eine Menge Phantasie. Bei Gott, die hat er wirklich. Wenn wir dieses Gespräch beendet haben, Ilsa, darf ich dann weiterlesen?« Sie wischte sich die Stirn mit einem zerknautschten Taschentuch ab. Die Bewegung ihrer Hand verbarg den verletzten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Er bemerkte ihn trotzdem. »Ja, Joe, natürlich. Ich wollte dich auf keinen Fall stören. Gute Nacht.« Sie drehte sich von ihm weg. Seit über einem Jahr hegte Joe tief in seinem Innern feindselige Gefühle gegenüber Ilsa. Er war überzeugt, daß er derjenige war, der nicht verstanden wurde. Dem man Unrecht tat. Daher griff er diesmal nicht nach ihrer Hand und machte nicht – wie er es früher getan hätte – den Vorschlag, gemeinsam nach Wegen zu suchen, die Mauer einzureißen, die sich zwischen ihnen erhob. Er las noch eine weitere Stunde lang. Stephen Cranes kraftvoller Roman traf eine Ader tief in seinem Innern. In seiner Erinnerung hörte er den Klang von Trompeten und Trommeln. Den Marschtritt von Fußsoldaten, den Hufschlag der Kavallerie, das Gelächter und den Gesang an nächtlichen Lagerfeuern … Trotz all des Schmutzes und der Mühsal, die Crane so abschreckend schilderte, bescherte der Krieg einem Mann einen Feind, den er nach
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festgefügten Regeln angreifen und besiegen konnte. Joe Crown hatte keinen solchen Feind. Aber er wünschte sich inständig einen. In diesem Jahr, man schrieb 1896, demonstrierte Amerika seinen neuen Status in der Welt, indem es seiner Macht auf der westlichen Halbkugel Geltung verschaffte. Ende Dezember des Vorjahres hatte die Nation sich auf eine Kraftprobe mit dem mächtigen britischen Reich eingelassen. Großbritannien hatte drei Kriegsschiffe ausgesandt, um einen Hafen in Nicaragua zu sperren. Das war die Reaktion auf den Streit um eine Schuld, die England glaubte geltend machen zu können. Washington klagte Großbritannien an, die Monroe-Doktrin zu verletzen. Der Kongreß drohte mit der allgemeinen Mobilmachung. Das mächtige britische Reich machte praktisch umgehend einen Rückzieher. Diese Reaktion zog den nationalistisch gesonnenen Elementen den Boden unter den Füßen weg. Dazu gehörten Politiker, in deren Wahlkreisen sich Schiffswerften und militärische Garnisonen befanden; Professoren und Bürokraten, die Admiral Alfred Mahans Schriften über das Prinzip der Seemacht befürworteten, glühende Patrioten wie der politisch aktive Polizeichef von New York, der junge Theodore Roosevelt. Dann betrat zufälligerweise General Valeriano Weyler y Nicolau, der neu ernannte spanische Generalgouverneur von Kuba, die politische Bühne. Er hatte den Auftrag, die Aufstände im Hinterland niederzuschlagen. General Weylers vorrangige Taktik bestand in der Verfolgung einer Politik des reconcentrado, einer Politik der Umsiedlung, der Internierung der Bewohner ländlicher Provinzen in Straflagern fern ihrer Heimat. Dabei handelte es sich um die Landbevölkerung, die die umherstreifenden Banden von Freiheitskämpfern beherbergt und versteckt hatte. Diese Kämpfer waren nichts anderes als Rebellen, die Stützpunkte und Einrichtungen der Regierung angegriffen und vernichtet hatten und dann in den Dörfern untergetaucht waren, wo sie von den friedlichen Bauern nicht mehr zu unterscheiden waren. Weyler erklärte, er siedele die Menschen aus der Provinz in geräumige Häuser um, in denen sie ausreichend Nahrung und anständige sanitäre Einrichtungen vorfänden. Die Berichte ausländischer Journalisten zeichneten ein weit schlimmeres Bild. Weyler pferchte Hunderte, Tausende von Menschen in finstere Scheunen und Lagerhäuser, die von Ratten und Ungeziefer verseucht waren und die keinerlei sanitäre Einrichtungen besaßen. Es gab dort nur wenig oder gar keine Verpflegung. Kinder hungerten und starben. Erwachsene, die dagegen protestierten, verschwanden plötzlich. Korrespondenten in Havanna hörten erste Berichte
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von Grausamkeiten in den Lagern. Ein neuer Name tauchte in den Telegraphenmeldungen auf. Weyler, der Metzger. In New York bezogen Mr. W. R. Hearst mit seinem Journal und Mr. Joseph Pulitzer mit der World die Munition für ihren Zeitungskrieg aus der Not der Kubaner. Beide Zeitungen überschlugen sich mit Berichten von erschossenen und enthaupteten »jungen kubanischen Amazonen«, »vergewaltigten älteren Nonnen« und von heldenhaften Priestern, die von Weylers Soldaten »lebendig geröstet« worden seien. Reconcentrado lieferte der Klatschpresse genau das, was sie wünschte und brauchte. Joe Crown schloß sich dem Protest gegen Spanien und Weyler, den Metzger an. Er zog seinen besten Anzug aus blauem Wollflanell an und besetzte zusammen mit Hunderten anderer Kriegsveteranen während einer Protestveranstaltung mit insgesamt viertausend Teilnehmern die Central Music Hall. Eine achtzig Mann starke Blaskapelle spielte Militärmärsche von John P. Sousa. Redner verurteilten lautstark die spanischen Tyrannen und drohten mit Krieg als Reaktion auf die Grausamkeiten. Joe war Feuer und Flamme. Hier war endlich etwas, wofür man kämpfen konnte. Er erkannte sehr wohl, daß die wachsende nationale Begeisterung für ein freies Kuba nicht ausschließlich idealistischer Natur war. Amerikanische Investoren hatten an die fünfzig Millionen Dollars in Eisenbahnen und Zuckerfabriken auf der Insel gesteckt. Der Arbeiterführer Sam Gompers verurteilte die spanische Vorherrschaft mit überzeugenden Argumenten, aber man mußte auch bedenken, daß er die Vereinigung der Zigarrenhersteller vertrat. Auch Joe liebte die edle Havannazigarre, die er gelegentlich rauchte und die allmählich immer schwieriger zu bekommen war. War es denn so schlimm, daß der neue Patriotismus mit geschäftlichen Interessen einherging? War es zu verurteilen, daß Amerika wegen Zucker und Tabak Krieg führte? Die Kubaner waren ein unterdrücktes Volk, Spanien war im Unrecht, Weyler war eine Bestie. Sollte es zum Krieg kommen, und es sah so aus, könnte er daran teilnehmen? Und wenn ja, wie? Nach außen hin führte Joe Crown ein sehr ruhiges, geregeltes Leben. Die Brauerei gedieh prächtig. Ein neuer Braumeister, Samuel Ziegler, erwies sich als überaus fähig. Die beiden Kinder waren nicht übermäßig schwierig im Umgang. Fritzi war in der Schule durchaus erfolgreich, obgleich sie immer wieder von ihrer zukünftigen Karriere als Theaterschauspielerin redete. Sie hatte
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mittlerweile Shakespeare für sich entdeckt und lief dauernd mit einem Theaterstück in der Hand herum. Sie spielte die Portia oder die Beatrice, die Desdemona oder Lady Macbeth. Carl, der die Habsburg School absolviert hatte und nun wieder zu Hause war, war gewachsen und hatte breitere Schultern bekommen. Er war ein kräftiger Junge. Eines Nachmittags schlug er einen Baseball vom Seitenhof über die Michigan Avenue hinweg bis in die Haustür der Heindorf-Villa. Joe mußte zweihundertfünfzig Dollars bezahlen, um die Buntglasscheiben zu ersetzen. Joe junior war glücklicherweise kein Streitpunkt mehr zwischen Joe und Ilsa. Alle paar Monate erneuerte Joe sein Angebot, die Detektei noch einmal zu engagieren. Ilsa lehnte jedesmal ab, es sei nicht nötig, die Weizenhalme reichten ihr als Beweis aus, daß es ihrem Sohn gutgehe. Noch im Dezember hatte Joe sich ihr gegenüber damit zufriedengegeben, allerdings insgeheim die Detektive für zwei weitere Monate auf die Suche gehen lassen. Ohne Erfolg. Er verbrachte viel Zeit bei den Spielen der White Stockings, zu denen er stets Carl mitnahm. Er genoß die frische Luft und die Spannung der Wettkämpfe, erinnerte sich aber auch oft sehr traurig daran, wie vergnüglich diese Besuche mit Joe junior gewesen waren. Oder mit welcher Begeisterung Paul seinem ersten Spiel beigewohnt hatte. Manchmal sah Joe sich suchend im Stadion um in der Hoffnung, vielleicht seinen Neffen irgendwo auf den Tribünen zu entdecken. Aber er sah ihn nie. Er nutzte fast jeden Vorwand, um seinen Schreibtisch in der Brauerei zu verlassen. Anfang Juli hatte er eine hervorragende Entschuldigung, als sich die Demokraten im Coliseum von Chicago versammelten, um einen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren. Einen Monat zuvor hatte Marcus Hanna in St. Petersburg seine Streitmacht geordnet und sie aufgefordert, Gouverneur William McKinley von Ohio zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner zu küren. Da Joe Crown, so lange er zurückdenken konnte, Demokrat und aktiver Unterstützer der Partei war, nahm er an der Versammlung teil. Er traf ein, als die Türen des Coliseum morgens für das Publikum geöffnet wurden, und harrte auf der dicht besetzten Galerie aus, bis die Sitzung vertagt wurde. Während er eine Havanna paffte, beobachtete er voller Abscheu die Delegation von Illinois unten im Saal. Dort saß Gouverneur John Altgeld und hatte ständig etwas mit seinen Verbündeten von der Silber-Fraktion zu flüstern. Unter ihnen befand sich, wie Joe bemerkte, auch Michael Kenna. Mit ihm unterhielt Altgeld sich sehr oft. Verdammte Verschwörer, dachte Joe und blies ein Streichholz aus, mit dem er sich eine frische Panatela
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angezündet hatte. Verspätet bemerkte er eine Frau mit einem flachen Strohhut, die direkt vor ihm saß. Er klopfte ihr auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, aber stört die Zigarre Sie?« »O nein. Ich mag das Aroma.« »Tatsächlich. Das ist bei einer Frau ziemlich ungewöhnlich. Vielen Dank.« Er lächelte. Sie erwiderte das Lächeln und drehte sich dabei auf ihrem Platz ein wenig um. Sie hatte tiefblaue Augen, die freundlich und intelligent blickten; unter der Hutkrempe quoll dunkelrotes Haar hervor. Er bemerkte auch einen üppigen Busen, den die züchtige Kostümjacke nicht verbergen konnte. Sie war eine Frau mittleren Alters, nicht schön, aber ganz gewiß gutaussehend. Am Abend, als Ilsa neben ihm im Bett lag und leise schnarchte, stellte er sich sehr lange das Gesicht der Frau vor. Die Silber-Frage war ein beherrschendes Thema des Parteitags. Während der Wert des Goldes anstieg und der des Silbers sank, litten die Farmer auch weiterhin unter Gesetzen, die verlangten, daß jede mit Papiergeld aufgenommene Schuld in Gold getilgt werden mußte. Der Landwirtschaft betreibende Westen klagte, daß eine solche Behandlung ungerecht und destruktiv sei, während der Handel treibende Osten sich für die GoldWährung und für eine Kontrolle der in Umlauf befindlichen Geldmenge einsetzte. Joe als konservativer Geschäftsmann stand entschieden auf Seiten des Gold-Flügels. Aber zur Opposition gehörten mächtige und populäre Männer. Einer der bekanntesten war ein früherer Kongreßabgeordneter und Zeitungsherausgeber, der in Salem, Illinois, geboren worden war und nun in Nebraska lebte. Es war William Jennings Bryan. Bryan, der dem Silber zugeneigte Volkstribun, war der aufgehende Stern der Chautauqua, einer institutionalisierten Veranstaltungsreihe. Die Chautauqua New York verkündete im Hinterland des Staates die amerikanische Lebensart. Sie brachte den Glanz der Kultur – gelehrte und visionäre Redner, musikalische Darbietungen, Lichtbildervorträge – in die Provinz und aufs flache Land. Dies geschah durch Vorstellung der verschiedenen Attraktionen in angeblich fast zwanzigtausend Zelten und Stadthallen. Bryan war besonders gefragt bei Veranstaltungen im Bibelund im Baumwoll-Gürtel sowie im Orkan- und im Weizen-Gürtel – also im gesamten ländlichen Amerika. Joe unterhielt sich oft mit deutschen Geschäftsfreunden, die zu den Demokraten gehörten, über Politik. Im vergangenen Jahr war Bryans Name
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ziemlich oft genannt worden. Nach einer erfolglosen Bewerbung um einen Sitz im Senat von Nebraska hatte er während der Chautauqua-Tour eine Rede entwickelt und vervollkommnet. Sie wurde allgemein schlicht »Die Rede« genannt. In der Presse wurde sie vor allem wegen ihrer äußeren Form und ihrer Geschliffenheit gelobt, allerdings nicht wegen ihres Inhalts. Joe wollte sich den »Jungredner vom flachen Land« anhören, um sich ein Urteil über »Die Rede« und den Mann zu bilden, der dahinterstand. Das Thema Geld hatte bei der Versammlung bereits Probleme aufgeworfen. Nebraska wurde von rivalisierenden Delegationen vertreten, von Gold- und Silber-Leuten. Ehe die Versammlung begann, stimmten die Mitglieder des Nationalkomitees für die Zulassung der Gold-Delegierten. Eine hitzige Diskussion mit anschließender Abstimmung änderte diese Entscheidung, und die Sitze wurden der Silber-Delegation zugesprochen, zu der auch Bryan gehörte. Joe verfolgte die Auseinandersetzung von der Galerie aus. Daß die klugen Köpfe im Nationalkomitee von einer Bande lauter, ungehobelter Bauern überstimmt wurden, versetzte ihn in Rage. An einem glühendheißen Julitag begann die Versammlung im Rahmen des Parteiprogramms mit der Debatte über die Währungsfrage. Joe zog seine Jacke aus und zündete sich eine frische Zigarre an. Auf dem Platz vor ihm, auch diesmal ganz alleine, bewegte die gutaussehende Frau den Kopf, ohne sich zu ihm umzudrehen. Sie nahm den Zigarrenrauch und – vielleicht – auch seine Anwesenheit zur Kenntnis. Die Tribünen waren dicht besetzt. Desgleichen die Halle. An die zwanzigtausend Menschen drängten sich dort. Man hatte verlauten lassen, daß Bryan während der Debatte seine Silber-Rede halten würde. Joe hoffte, daß sie ein nicht allzu begeistertes Echo hervorrufen möge. Ben Tillman, der Politiker mit dem wilden Blick aus South Carolina, war der erste Befürworter des freien Silberverkehrs, dem das Wort erteilt wurde. Senator Hill aus New York sprach sich für die Goldbindung aus, dann folgten Senator Vilas aus Wisconsin und der ehemalige Gouverneur Russell von Massachusetts. Schließlich wurde der ehrenwerte Mr. Bryan angekündigt. Die Tribünen erzitterten von begeistertem Applaus. Der löwenmähnige junge Mann aus Nebraska betrat mit sorgfältig einstudiertem Ausdruck das Podium. Die gutaussehende Rothaarige lehnte sich erwartungsvoll nach vorne. Joe ertappte sich dabei, daß er erneut die Üppigkeit ihres Busens bemerkte und ihn bewunderte. Für einen Mann meines Alters ein verdammt unpassendes Benehmen, dachte er leicht amüsiert. Bryan war über ein Meter achtzig groß, hatte ein energisches Kinn, dunkle Augen und einen dichten dunklen Haarschopf über der hohen Stirn.
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Er war nach Joes Schätzung sechsunddreißig Jahre alt. »Verehrter Herr Vorsitzender, verehrte Mitglieder der Versammlung«, begann er und brachte den Saal mit einer Stimme, die so volltönend war wie die unteren Orgelregister, zum Schweigen. Es hätte ebensogut die Stimme eines berühmten Tragöden oder eines großen Predigers sein können. Nach ein paar Worten der Begrüßung an Delegierte und Gäste sagte Bryan: »Liebe Freunde, ich wäre wirklich unverschämt, wenn ich mich, wäre dies ein simples Messen geistiger Fähigkeiten, mit den hervorragenden Gentlemen vergleichen würde, die gerade zu euch gesprochen haben. Aber es geht hier nicht um einen Wettstreit zwischen Personen. Der geringste Bürger in diesem Land ist – sofern er eine rechtschaffene Sache vertritt – stärker als alle Verfechter des Irrtums. Ich trete hier als einfacher Mensch auf, der für eine Sache eintreten will, die heiliger ist als die Freiheit, und zwar die Menschlichkeit.« Im riesigen Coliseum war es geradezu totenstill. Bryan wußte, wie er mit seiner Stimme den fernsten Tribünensitz, die höchste Galerie ohne sichtbare Mühe erreichte. »Wir behaupten, daß eure Definition eines Geschäftsmannes viel zu begrenzt ist. Der Mann, der für Lohn seine Arbeit tut, ist genauso ein Geschäftsmann wie sein Arbeitgeber. Der Rechtsanwalt in einer kleinen Landgemeinde ist genauso ein Geschäftsmann wie der Konzernsyndikus in einer Großstadt. Der Bauer, der in aller Herrgottsfrühe aufsteht und den ganzen Tag lang seiner Arbeit nachgeht, ist genauso ein Geschäftsmann wie der Mann, der einen Sitz in der Handelskammer innehat und die Getreidepreise festlegt.« Diese kleinen Geschäftsleute seien es – diese Pioniere, wie Bryan sie nannte –, für die er sich einsetzte. Die Vertreter der wirtschaftlichen Interessen des Ostens hätten diese kleinen Bauern und Kaufleute in eine Auseinandersetzung hineingezogen, die sie nicht wünschten, die sie jedoch auszufechten bereit seien. »Wir kommen nicht als Angreifer daher. Bei unserem Krieg geht es nicht um Sieg oder Niederlage. Wir kämpfen, um unser Zuhause, unsere Familien, unsere Nachkommen zu verteidigen. Wir haben Petitionen eingereicht, doch man hat unsere Petitionen verspottet. Wir haben Gesuche vorgelegt, und unsere Gesuche wurden nicht beachtet. Wir haben gebettelt, und man hat uns ausgelacht. Wir bitten nicht mehr. Wir verzichten auf Petitionen, auf Gesuche. Nein, jetzt wehren wir uns!« Joe war völlig entgeistert, als der Lärm losbrach. Unten im Sitzungssaal sprangen Delegierte von ihren Plätzen auf, Männer und Frauen auf den Tribünen taten es ihnen nach. Die gutaussehende Frau reckte die Hände
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über ihren Kopf, während sie Beifall klatschte. Joe erhaschte einen Blick auf ihr begeistertes Gesicht, während er höflich applaudierte. Was zum Teufel geht hier vor? fragte er sich, und dachte dabei nicht nur an den Beifallssturm, sondern auch an sich selbst. Bryan ließ die Zuhörer einige Zeit lang toben. Dann hob er die Hände. Im Sitzungssaal und auf den Tribünen kehrte sofort Ruhe ein. Bryan redete nun mit leiser Stimme weiter, um, wie Joe vermutete, den Höhepunkt der Rede vorzubereiten. Bryan sprach von McKinley, nannte ihn einen anständigen und wohlmeinenden Mann, der sich bis vor drei Monaten großer Beliebtheit und Zustimmung erfreut habe. Dann sei der Umschwung gekommen. »Aber die Popularität, so groß sie auch sein mag, kann einen Mann, der offen verkündet, daß er in diesem Land die Goldwährung einführen will, vor dem verheerenden Zorn unwissender Menschen nicht schützen.« Nun nahm die Lautstärke zu, und die Worte kamen schneller. »Ihr kommt zu uns und erklärt, daß die großen Städte sich für die Goldwährung ausgesprochen haben. Wir entgegnen, daß die großen Städte abhängig sind von unseren weiten und fruchtbaren Prärien. Brennt eure Städte nieder und laßt uns unsere Farmen, und eure Städte werden schon bald wie durch ein Wunder wieder auferstehen. Wenn ihr aber unsere Farmen vernichtet, dann wird schon bald in den Straßen jeder Stadt in diesem Land das Unkraut wuchern.« Eine weitere Ovation. »Wenn sie es wagen, offen aufzutreten und die Goldwährung als etwas Gutes, Sinnvolles zu verteidigen, werden wir sie bis zum letzten bekämpfen. Hinter uns stehen die produzierenden Massen dieser Nation und der ganzen Welt. Geleitet von wirtschaftlichen Interessen, von den Wünschen der Arbeiter und der Tagelöhner, werden wir ihre Forderung nach einer Goldwährung beantworten, indem wir ihnen entgegenhalten: ›Niemals sollt ihr der Arbeit diese Dornenkrone aufs Haupt pressen! Ihr dürft die Menschheit nicht an ein goldenes Kreuz nageln!‹« Bryan trat einen Schritt zurück. Er legte die Hände auf das Rednerpult und ließ das Kinn auf seine Brust sinken. Er schloß die Augen als Zeichen, daß seine Rede beendet war. Es war still. Dann kam der Tumult. Delegierte erstürmten das Podium, zogen Bryan herunter und hoben ihn auf ihre Schultern. Die Kapelle begann wieder zu spielen, aber die Musik war bei dem Lärm kaum zu hören. Bryans Jacke wurde zerrissen. Sein weißes Taschentuch landete in der Menge und wurde von Leuten, die sich ein Souvenir sichern wollten, völlig zerfetzt. Er schwankte gefährlich auf
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den Schultern der Delegierten, die ihn durch das Gedränge in den Saalgängen schleppen wollten. Die Menschen auf den Tribünen brüllten und applaudierten und warfen ihre Hüte in die Luft. Sogar Joe Crown war erschüttert. Es war eine starke Rede. Eine eindrucksvolle Rede. Er wußte, daß sie den Verlauf der Versammlung entscheidend ändern würde. »Wunderbar! Einfach wunderbar, oder nicht?« Er bemerkte, daß die gutaussehende Rothaarige ihn ansprach. »Sehr gekonnt«, erwiderte er und war gezwungen zu brüllen. »Ich muß hinaus an die frische Luft, sonst werde ich noch ohnmächtig.« »Ja, ich auch. Gestatten Sie mir, daß ich Sie begleite. Ich gehe am besten vor, denn die Treppen sind verstopft.« Er kämpfte sich vor ihr durch das Gedränge, halb benommen von der Hitze, und fragte sich, was in Gottes Namen er beabsichtigte. Aber er machte weiter, zögerte keine Sekunde. Draußen auf der Straße, wo Zuhörer, die keine Eintrittskarten mehr bekommen hatten, mit Schildern für Bryan als zukünftigen Präsidenten warben, fächelte die Frau sich mit ihrem Strohhut Kühlung zu. Joe unterstützte sie dabei mit seinem eigenen Filzhut. »Danke, vielen Dank.« Sie ergriff seinen Arm. »Ich glaube, wir haben gerade eine Rede gehört, die in die Geschichte eingehen wird. Ich denke, wir haben auch den nächsten Präsidenten erlebt, oder meinen Sie nicht?« Die Menschenmenge, die durch die Türen nach draußen strömte, preßte die Frau gegen ihn. Er spürte die Wölbung und den Druck ihres Busens. »In der Halle ist es unerträglich heiß. Ich brauche eine Erfrischung. Nicht weit von hier gibt es ein kleines Café. Ich habe es entdeckt, als ich herkam. Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?« Ihr Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Ihre dunkelblauen Augen studierten ihn aufmerksam. Er entdeckte in ihnen ein beängstigendes Bild von sich, das ja sagte, und zwar mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Und er wollte ja sagen … »Vielen Dank, aber ich kann nicht. Meine Jacke hängt noch oben. Außerdem bin ich mit jemandem verabredet.« Wie wenig überzeugend das klang! Sie zog sich zurück, wobei die Hitze in ihren Augen schnell abkühlte. »Ja – nun –, das verstehe ich, natürlich.« Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und überquerte die Straße. Er sah ihrem Strohhut nach, bis er im Eingang des Cafés verschwand. Dann kehrte er ins Coliseum zurück, suchte in seiner Weste nach einer neuen Zigarre und wandte seine Gedanken, so schnell er konnte, von den gähnenden Abgründen des vorgestellten Ehebruchs ab.
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Der Parteitag der Demokraten nominierte William Jennings Bryan mit seiner Forderung nach unbegrenzter Silberbindung der amerikanischen Währung für die Präsidentschaftswahl. Joe Crowns Wechsel zu den Republikanern erfolgte an diesem Tag. Bryan rief die arme Landbevölkerung zu einem Klassenkampf auf. Er wollte, daß das Blut, das während des Pullman-Streiks geflossen war, erneut in jeder Stadt und in jedem Dorf und an jedem Knotenpunkt Amerikas floß. Er versprühte das Gift, das Joe junior verdorben und vernichtet hatte. Joe Crown empfand eine nostalgische Sympathie zu den Männern von ‘48, aber er war kein Revolutionär und würde auch nie einer werden. Er schrieb eine Zahlungsanweisung über dreitausend Dollars und schickte sie zusammen mit einem langen Brief, in dem er seine Unterstützung, seine Zeit und noch mehr Geld anbot, an Marcus Alonzo Hanna, den Königsmacher der Republikaner. Schon nach kurzer Zeit erreichte ihn eine freundliche Antwort Hannas. Er hieß ihn im Schoß der Republikanischen Partei willkommen und winkte mit offiziellen Einladungen zu Wahlveranstaltungen mit zahlreichen Angehörigen der Parteiprominenz wie dem ehrenwerten Mr. Schurz und dem ehrenwerten Mr. Roosevelt. Joe sah die gutaussehende Frau nie wieder. Gott sei Dank hatte sie ihm weder ihren Namen noch ihre Adresse verraten. 75 PAUL 29. August, der letzte Samstag des Monats, fünfzehn Minuten nach Mittag. Paul stand seit Viertel vor elf, als bereits die ersten Kutschen mit Hochzeitsgästen eintrafen, in der East-Huron-Straße gegenüber der St. James-Kirche. Bereits vor einigen Wochen hatten die Zeitungen das Datum und die Uhrzeit, halb zwölf, der Trauungsfeierlichkeiten veröffentlicht. Und seit Wochen kämpfte er mit sich und wollte eigentlich fernbleiben. Am Ende schaffte er es nicht. Die Sehnsucht, sie zu sehen, war viel zu stark. Mary erzählte, die St. James-Episcopalkirche sei eine alte Kirche, das feudalste aller protestantischen Gotteshäuser in der Stadt. Paul hatte sehr viel Sorgfalt auf die Auswahl seiner Kleidung aufgewendet, um so seriös und ordentlich wie möglich auszusehen. Er hatte seine schwarzen SearsTennisschuhe mit Profilgummisohlen angezogen, die gerade an Tagen, an
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denen er viel laufen mußte, sehr bequem waren. Sein latzloser Overall war aus dunkelgrauem Segeltuch mit stark abgeschabten Knieschonern aus Leder. Er trug ein leichtes Hemd mit blau-weißen Querstreifen, eine Extravaganz für achtundneunzig Cents. Um sein Gesicht teilweise zu verdecken, hatte er sich eine billige Baseballkappe aus Flanell gekauft; wie in Chicago üblich, war sie recht flach, und über dem Schirm waren die Worte »White Stockings« eingestickt. Er lungerte über eine Stunde lang im Schatten gegenüber von St. James herum, während Orgelmusik aus der Kirche drang. Die Türen standen offen, um jeden kühlen Windhauch hereinzulassen. Braut und Bräutigam mußten die Kirche durch eine Seiten- oder Hintertür betreten haben. Er bekam sie erst zu Gesicht, als der Gottesdienst beendet war und der Triumphmarsch aus Lohengrin erklang. Das war das Zeichen für die Kutscher, zu ihren Fahrzeugen zu eilen. Gäste strömten aus der Kirche die breite Treppe hinunter und stellten sich in drei oder vier Reihen seitlich auf den Stufen auf. Aufgeregte Rufe wurden laut, als das Hochzeitspaar erschien und die Treppe hinuntereilte. Julie trug ein leuchtendweißes Kleid. Ihr Gesicht war nur ein verschwommener Fleck zwischen den auf und ab hüpfenden Köpfen, den winkenden Armen, umherfliegenden Reiskörnern, geworfen von Gentlemen in eleganten Cuts und Frauen in langen Kleidern und mit riesigen, breitkrempigen Hüten. Paul sah das Mädchen, das er liebte, nur als allzu flüchtiges Bild, das fast im gleichen Moment schon wieder verschwand, als er es entdeckte. Sie stieg in eine große Kutsche, die am Fuß der Treppe wartete. Auf der Tür glänzte ein goldener Schild mit einem fremdartigen Symbol in jeder Ecke und einem Ritterhelm, der das Ganze krönte. Der Bräutigam blieb kurz stehen, um lächelnd die Hand eines männlichen Gastes zu drücken, der auf halber Treppe stand. Elstree war schon älter – bereits in mittleren Jahren –, aber das wußte Paul bereits. Während die Kutschen der Gäste nach und nach abfuhren, vergrub Paul die Hände in den Hosentaschen und ging davon. In diesem Moment haßte er William Vann Elstree, hätte ihm am liebsten physischen Schaden zugefügt. Elstree hatte ihm Julie weggenommen. Er dachte daran, wie sie ihm in jener süßen Nacht im Hotel Radigan ihre weichen Arme um den Hals geschlungen hatte. Dann stellte er sie sich mit ihrem neuen Ehemann auf dem gemeinsamen Hochzeitslager vor … »Mein Gott!« stieß er leise hervor. Er lehnte sich an einen Laternenpfahl und schloß die Augen. Etwas schlug hart auf seine Fingerknöchel. Ein Chicagoer Polizist mit verschwitztem Gesicht und einem langen Schlagstock in der Hand funkelte ihn böse an.
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»Herumlungern verboten. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wirst du für eine Nacht die Gastfreundschaft dieser schönen Stadt kennenlernen.« Paul nickte und rannte weiter. Seine Finger schmerzten. Er wanderte nach Süden, in Richtung Levee, voller Bitterkeit und Verzweiflung. Dennoch hatte er ein erfolgreiches Leben vor sich. Wex Rooney und Shadow hatten ihm dazu verholfen. Er könnte jede Menge Mädchen haben, außer der, die er eigentlich haben wollte. Hatte Magda in der Goldenen Tür ihm nicht prophezeit, daß genau das eintreten würde? »Das Leben spielt einem manch üblen Streich, Pauli…« Er würde seinen Weg weiter gehen. Das Leben spielte einem Streiche, aber es verlangte auch, daß man sie ertrug. Das war die eigentliche Aufgabe, der man sich jeden Morgen, wenn man erwachte, aufs neue stellen mußte. Wenn Träume sich zerschlugen, wenn die eigene Familie einen verstieß, wenn man den Menschen verlor, den man liebte, und damit jede Hoffnung darauf, den Partner seines Herzens zu finden … dann machte man einfach weiter. Aber, bei Gott, es tat schrecklich weh. 76 ELSTREE Der private Eisenbahnwagen Pride ofPetoskey – Stolz von Petoskey – jagte in der Dämmerung des späten Sommerabends nach Osten, gezogen vom eleganten Nachtexpreß der New-York-Central-Linie. Der große Waggon war bei Pullman nach Angaben von Elstrees Vater gebaut worden. Der Name stammte von der beliebten Sommerfrische, wo die Elstrees früher ein Haus unterhalten hatten. Da die Kompaßnadel heftig schwankte und der feinen Gesellschaft von Jahr zu Jahr eine neue Richtung anzeigte – mal Newport, mal Saratoga, mal Tuxedo –, hatte die Familie den Ort in Michigan zugunsten des neuesten sommerlichen Treffpunkts der feinen Leute, Southampton Village an der Südküste von Long Island, aufgegeben. Elstree sah seinen Flitterwochen auf dem Familienanwesen am Meer mit Freude entgegen. Er rauchte eine kleine Zigarre, während er vor einer Mokkatasse mit schwarzem, bitterem Kaffee saß. Ein Kaffee, der, wie alle anderen Dinge in seinem Leben, genau nach seinen Anweisungen zubereitet worden war. Elstree weilte an einem Eßtisch für vier Personen im offenen Teil am hinteren Ende des Waggons. Auf beiden Seiten konnte er sein Profil bewundern. Links von ihm, im Fenster mit seinen halbhohen Vorhängen,
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war das Bild klar und scharf. Auf der rechten Seite, jenseits des Ganges, erschien ein matteres, weicheres Spiegelbild auf einem Paneel aus auf Hochglanz poliertem Rosenholz, das überall im Wagen verwendet worden war. Hinter ihm erklang ein leises Rascheln und Klirren von Töpfen und Pfannen, mit denen Melton in der Küche herumhantierte. Er räumte nach dem Hochzeitsmahl auf, während der Zug durch das nördliche Indiana rollte. Melton war zweiundsechzig, schwarz. Er schlief in einer schmalen Koje neben der Küche. Unter der Koje ratterte Tag und Nacht ein Generator und sorgte im Waggon für das weiche elektrische Licht der kunstvoll geformten Lampen. Der vordere Teil des Wagens bestand aus einem großen Schlafzimmer und einem separaten Wasserklosett. Die Benutzer des Schlafzimmers betraten oder verließen es durch Türen an beiden Enden. Alle Türen im Wagen konnten mit Schlüsseln verriegelt werden. Das niedere Volk, das mit den Eisenbahnzügen reiste, an die der Pride ofPetoskey angehängt wurde, hatte keinen Zugang zu Elstrees privater Luxuswelt. Seine Ungeduld wuchs. Er nahm sein Monokel aus dem Auge und polierte es mit einer Leinenserviette, die weiß auf weiß mit dem Familienwappen verziert war. Er legte das Monokel beiseite und trank seinen Kaffee. Dann begab er sich zu einem der zwei großen Drehsessel, die durch einen persischen Teppich mit dezentem Muster hindurch am Waggonboden angeschraubt waren. Wie alle gediegenen Viktorianischen Domizile war diese kleine Wohnung auf Rädern mit Sesseln – sowohl in Leder als auch in Samt –, Ottomanen, wertvollen kleinen Taburetts, Porzellanhunden, Bücherschränken, Weidenkörben für Illustrierte und Zeitungen und sogar mit einer kompakten Orgel eingerichtet. Elstree sah nichts von alledem. Sein Auge fixierte die Tür zum Schlafzimmer. Juliette hatte sich sofort, nachdem sie ihr Stück des weißen Hochzeitskuchens mit Erdbeerglasur verzehrt hatte, dort eingeschlossen. Offenbar um sich für ihren Ehemann vorzubereiten. Aber dauerte das wirklich fast eine Stunde? Melton erschien. Er litt unter Arthritis und humpelte leicht. »Mist’ Elstree, Sir, brauchen Sie heute noch etwas?« »Nein, Melton, danke. Das Essen war vorzüglich.« »Freut mich, Sir. War ein besonderes Vergnügen, Sie zu bewirten, wie immer. Noch mal, herzlichen Glückwunsch. Ich ziehe mich jetzt zurück.« »Ich hör’ den kleinen Köter nicht mehr.« Juliette hatte darauf bestanden, ihren verdammten Hund Rudy mitzunehmen. Während der ganzen Mahlzeit hatte er in Meltons Kabine
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gejault, wo er eingesperrt worden war. »Nein, Sir, er schläft in seinem Korb. Ich hab’ ihn ganz gerne bei mir.« Elstree fächerte mit der Hand eine Wolke Zigarrenrauch fort, die auf seinen Kopf zutrieb, »öffne eins der Fenster einen kleinen Spalt. Morgen früh Kaffee um acht.« »Jawohl, Sir, Mist’ Elstree. Ich erledige alles.« Melton schob das Fenster ein kleines Stück hoch. Der Lärm des Zuges und des Fahrtwindes wurde lauter, und die einströmende Luft zerfaserte den Zigarrenrauch im Handumdrehen. Melton verschwand. Elstrees Blick lag wieder auf der Rosenholztür. Von seinem Sessel aus konnte er die quadratischen kleinen Einlegestücke zählen, die auf dem mittleren Paneel eine griechische Urne bildeten. Hundertsechsundvierzig. Er hatte sie schon zweimal gezählt. Er zupfte seinen gemusterten seidenen Hausmantel über den Knien seines Pyjamas zurecht. Seine Pantoffeln waren aus Samt und, genauso wie sein Mantel und sein Pyjama, mit dem Familienwappen bestickt. Er schlug die Beine übereinander, streckte sie wieder. Er unterdrückte ein Gähnen. Der Tag war lang und ermüdend gewesen, ganz wie er es erwartet hatte, und außerdem verwirrend, womit er nicht gerechnet hatte. Juliettes Mutter hatte einen Verdacht geweckt, der ihn schon die ganze Zeit quälte. Die morgendliche Zeremonie in der St. James-Kirche war ohne Zwischenfall verlaufen. Am Altar, der von riesigen Arrangements aus Rosen und Lilien, Orchideen und künstlichen Orangenblüten eingerahmt war, hatten Elstree und seine neunzehn Jahre alte Braut einander das JaWort gegeben. Am Ende hatte er sehr züchtig Juliettes kalte Lippen geküßt – ohne eine merkbare Reaktion. Von der Kirche begaben Braut und Bräutigam, Verwandte und geladene Gäste sich zur Vanderhoff-Villa. Dort versammelten sich dreihundert Gäste, soviel, wie das Haus gerade fassen konnte. Der Empfang hätte im Ballsaal im zweiten Stock abgehalten werden können, aber Nell Vanderhoff wollte davon nichts wissen. Der freche Ward McAllister, der die originelle Bezeichnung von den »Oberen Vierhundert« von New York kreiert hatte, verspottete die Chicagoer wegen ihrer Ballsäle in den oberen Stockwerken. Möbel aus dem Parterre der Villa waren vorübergehend in einem Lagerhaus untergebracht worden, um Platz zu schaffen für das Hochzeitsbüffet und den Champagnerbrunnen. Während Maestro Theodore Thomas und ein halbes Dutzend seiner besten Streicher in einer Ecke des Wintergartens für die Gäste musizierten, delektierten sich alle Anwesenden an Austern, Jakobsmuscheln, Kaviar auf Toast, kaltem Spargel und Fasanenfleisch, Camembert, türkischem Mokka, in Schokolade getauchten
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Erdbeeren und an einem Dutzend anderer ungewöhnlicher Köstlichkeiten. Nell Vanderhoff hatte Schweinefleisch in jeglicher Form verboten. Nell hielt sich zu Beginn der dreistündigen Veranstaltung ständig in der Nähe ihres neuen Schwiegersohns auf. Elstree gab zu, daß Nell eine reiche Frau von gesellschaftlichem Rang war, aber er konnte sie nicht leiden. Zuerst einmal kränkelte sie. Sie brüstete sich mit ihren Gebrechen und redete ständig darüber. Überdies leitete sie den Empfang mit einer verlogen wirkenden Fröhlichkeit. Sie erklärte Elstree, wie glücklich er sich schätzen könne, ihre Tochter zu heiraten. »Solange Juliette lebt, habe ich besondere Sorgfalt auf ihre Schönheit verwandt, speziell auf ihr Haar.« »Ja, es ist schön«, gab Elstree zu und sah sich suchend um. »Juliette ist ein jungfräuliches Kind, William.« Nell redete mit leiser Stimme. »Vollkommen unbefleckt. Bitte denken Sie stets daran.« »O ja, Mutter Vanderhoff, das werde ich.« Noch zweimal während des Empfangs kam Nell zu ihm, um ihm im Grunde dasselbe mitzuteilen und um sich zu vergewissern, daß er sie auch verstanden hatte. Zumindest nahm er an, daß dies ihre Absicht war, bis zum dritten Mal, als sich plötzlich ein gewisser Verdacht in ihm regte. Sie benutzte ein ganz bestimmtes Wort einfach zu oft. Nun, dachte er, während er durch das Fenster in die konturlose Dunkelheit von Ohio starrte, er würde aus seiner Braut die Wahrheit herausholen, ehe er sein Recht wahrnahm. Diese Entschlossenheit zeigte sich im Ausdruck seines Mundes und dem Funkeln seiner Augen, als er sich eine weitere kleine Zigarre anzündete und die Einlegestücke aus Rosenholz zählte … Der Pride of Petoskey schlingerte und ruckte auf den Gleisen. Die Luft, die durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster hereinwehte, ließ die Palmzweige rascheln. Dennoch, als es geschah, hörte Elstree deutlich das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Das Drehen des Schlüssels im Türschloß auf ihrer Seite, das ihn zum Eintreten aufforderte. Er war steif vor ungeduldiger Erwartung. Er wollte ihr glänzendes schwarzes Haar gelöst sehen, ihren Körper für seine Augen entblößt. Aber vorher mußte er den Verdacht ausräumen, den Nell in ihm durch die dreimalige Verwendung jenes einen Wortes geweckt hatte. Elstree ergriff die vergoldete Klinke der Rosenholztür und drückte sie kräftig mit einer hastigen Geste nach unten. Wie reizend sie aussah! Reizend und verschüchtert vor Angst, stand sie am Fuß des Bettes, das sie miteinander teilen würden. Sie hatte ihr Gesicht gewaschen, es von Rouge und Puder gereinigt. Sie
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roch frisch, nach Lilienwasser. Sie hatte sich nicht vollständig entkleidet. Unter einem hauchdünnen Mantel aus pfirsichfarbener Seide erkannte er ihr mit Brokat verziertes rosa Korsett. Das Mieder war mit Spitze eingefaßt und an den Schultern mit farbigen Bändern geschmückt. Malvenfarbene Strümpfe brachten die Form ihrer Beine aufregend zur Geltung. An ihrem rechten Knie gewahrte er ein weißes Strumpfband. Ihm schoß das Blut in die Wangen. »Meine Liebe, du bist wirklich eine atemberaubende Braut.« Er beugte sich vor, um die warme Rundung zwischen ihrem Hals und der Schulter zu küssen und ihren Duft einzuatmen. Sie entzog sich ihm. Leicht verärgert richtete er sich auf. Er bemerkte, daß sie ihr Champagnerglas ins Schlafzimmer mitgenommen hatte. Es stand auf dem Toilettentisch mitten zwischen ihren vielen Schminktöpfen und -tiegeln. Leer. Hatte sie sich Mut angetrunken? »Liebe Mrs. Elstree«, sagte er. »Du siehst bedrückt aus. Und das in dieser Nacht der Nächte? Das darf eigentlich nicht sein.« »Bill, ehe wir – Bill, da ist etwas, das ich dir gestehen muß.« Wie ein böser Kobold erschien plötzlich die kränkliche kleine Nell vor seinem geistigen Auge. Ihre häßlichen roten Lippen formten ständig das Wort »unbefleckt«. »Ein Geständnis? Du? Das kann ich nicht glauben.« »Bitte, mach keine Scherze. Das Ganze ist schon schwierig genug.« »Na schön, dann heraus damit.« Julie wandte sich ab. Hob eine der wie Brokat gemusterten Jalousien hoch. Sie sah durch das Fenster ein paar einsame Lichter, ein kleines Dorf vorbeihuschen. Er betrachtete ihr gequältes Spiegelbild in der Glasscheibe. »Meine Mutter wollte, daß ich dich in einem Punkt betrüge. Und zwar hier und jetzt. Ich weiß nicht, wie ich es hätte tun sollen. Ich habe mir ihren Plan gar nicht erst angehört. Sobald sie davon sprach, habe ich nicht mehr auf ihre Worte geachtet…« Mit vor Wut eisiger Stimme und voller Ahnung, daß er Opfer einer Intrige war, sagte er: »Red’ nur weiter.« Für sie sprach immerhin, daß sie nun die Schultern straffte, den seidenen Hausmantel über ihrer Brust zusammenzog und ihn mit ihren aufregend grauen Augen offen ansah, während sie fortfuhr. »Ich hatte bereits – ein Erlebnis. Ich bin nicht mehr das, was in Liebesromanen –« »Unberührt genannt wird?« Seine Heftigkeit erschreckte sie. Ihre Hand flog hoch zum Mund. »Nun?« »Ja, das ist es, was ich dir gestehen mußte. Ein Mann erwartet von der
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Frau, die er heiratet, gewisse Dinge. Du warst so einfühlsam und verständnisvoll, so zurückhaltend in der Zeit deiner Werbung –« Elstree grinste selbstzufrieden. »Ich darf dich nicht im unklaren lassen über das – was du bekommst.« Elstree hatte Juliette Vanderhoff ausgewählt, weil sie eine der aufregendsten Frauen war, die er je kennengelernt hatte. Nicht aufregend auf eine billige, verdorbene Art und Weise wie einige seiner Freundinnen im Levee. Ihr Reiz lag in ihrer Jugend, ihrer Frische, ihrer tugendhaften Ausstrahlung. Ein wesentlicher Teil seiner Belohnung für die ganze mühselige Zeit der Werbung, der wohlwollenden Aufmerksamkeit gegenüber ihrer nörgelnden Mutter und ihrem dummen Emporkömmling von Vater sollte der Moment sein, in dem er derjenige wäre, der ihr die Jungfräulichkeit nähme. Die nicht mehr vorhanden war. Er hatte Mühe, seine Wut im Zaum zu halten und mit ruhiger Stimme weiterzureden. »Wer war der Mann?« »Das ist nicht wichtig, Bill.« Sie holte tief Luft. »Das werde ich nicht verraten.« Beinahe hätte er sie geschlagen. »Dir ist klar, daß dies unsere Beziehung völlig verändert.« »Ich meine, sie sollte dadurch noch besser, inniger werden. Ehrlichkeit ist stets –« »Ehrlichkeit? Sie interessiert mich einen Dreck, diese Ehrlichkeit. Wenn du so etwas wie gebrauchte Ware bist, dann bist du nicht besser als eine Straßenhure.« »Aber es ist nur einmal geschehen.« »Einmal oder tausendmal, das ist das gleiche. Ich habe nun keinen Grund mehr, dich zuvorkommend zu behandeln. Zieh dich aus!« »Bill – William –, bitte. Du warst in all den Monaten so sanft und einfühlsam – in all der Zeit, in der ich meine Entscheidung traf –, ich dachte, du würdest das verstehen.« »O ja, das tue ich.« Er streifte seinen Mantel ab, dann öffnete er mit einem Ruck den Gürtelknoten seiner Pyjamahose und ließ sie nach unten rutschen. »Ich verstehe voll und ganz, du Gossendirne. Wirst du dich jetzt endlich ausziehen, oder soll ich dir die Kleider vom Leib reißen?« Elstree wankte durch die Tür hinaus. Blut verschmierte die rechte Seite seines Gesichts und sickerte aus einer Wunde am Haaransatz. Als er versucht hatte, sie ein zweites Mal zu nehmen, und sie dabei auf den Bauch
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drehte und zu sich hochzog, hatte sie nach einem Damenspiegel gegriffen, diesen zerschlagen und ihn mit einer Glasscherbe attackiert. Er hatte ihr die Scherbe aus der Hand gewunden. Sie war aus dem Bett gesprungen und hatte ihm den Hocker des Toilettentisches auf den Kopf geschlagen. Einige Sekunden lang war er zu benommen, um sich zu wehren. Sie hatte ihn zur Tür geschleift und hinausgedrängt. Er stand frierend im Wohnbereich des Waggons. Er war nackt und blutete an der Schläfe. Ein Bluterguß über der linken Niere färbte sich bereits dunkel. Sie hatte ihn dorthin getreten und geschrien, sie werde sich nie mehr von ihm so benutzen lassen wie beim ersten Mal. Er konnte es nicht fassen. Er konnte nicht glauben, daß ihre Hochzeitsnacht zu einem regelrechten Ringkampf entartet war und in einer Weise endete, die man nur als Vergewaltigung bezeichnen konnte. Der Zug quietschte und ratterte; der Waggon schlingerte. Elstrees Hand raffte die saubere, gestärkte Decke zusammen, die Melton über den Eßtisch gebreitet hatte. Er wischte sich damit das Blut aus dem Gesicht, schleuderte die besudelte Decke unter den Tisch und kehrte zur Rosenholztür zurück. »Juliette, schließ sofort auf! Ich bin dein Ehemann, und ich verlange, daß du mich hereinläßt.« »Ich weiß nicht, was du bist. Du bist nicht das, was du mir vorgegaukelt hast. Ich dachte, wir würden ein ruhiges Leben führen. Was für ein schrecklicher Irrtum. Du bist ein wildes Tier!« Er schlug mit der Faust gegen die Tür. »Laß mich rein!« »Damit du mir das antun kannst, was du gerade getan hast? O nein!« schluchzte sie. Mit beiden Fäusten trommelte er gegen die Tür. Sie hatte ihn belegen, betrogen, ihn um die ehrbare jungfräuliche Ehefrau gebracht, die er sich als Schaustück an seiner Seite gewünscht hatte. Sie war eine Betrügerin, ihre verdammte alte Mutter war eine Betrügerin … Beinahe hätte er vor Wut geheult, während er nackt und frierend in dem schwankenden Eisenbahnwagen stand. »Mist’ Elstree?« Er fuhr herum. Melton streckte den Kopf aus der Küche. Die Manschette eines abgetragenen Flanellnachthemds war zu sehen, wo Meltons schwarze Hand den Küchenvorhang zusammengerafft hatte. »Du verdammter Nigger! Was starrst du so? Verschwinde in deinem Loch – nein, Moment… Wo ist der Hund? Bring mir den verdammten Köter!« Er ging zum Fenster neben der Schlafabteiltür, löste die Verschlüsse und schob das Fenster ganz auf. Ein Schwall kalter Nachtluft wehte herein.
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Am ganzen Leib zitternd, führte Melton Rudy an seiner kurzen, mit Saphiren verzierten Leine herbei. Die Leine war ein Hochzeitsgeschenk Elstrees an Juliette, obgleich er den Hund haßte. Der Spitz erkannte Elstree sofort und wedelte mit dem Schwanz. Elstree packte das Tier, klemmte es unter den Arm und schlang schnell die Leine um den Hundekörper. »Und jetzt geh zu Bett und komm nicht mehr raus, egal was passiert, sonst kriegst du eine Tracht Prügel!« Melton neigte den Kopf und zog sich hinter seinen Vorhang zurück. Elstree trat ans Fenster. Bei Gott, er hatte schon wieder einen Steifen wie ein Eisenrohr. Und war geschockt, als er den bläulichen Bluterguß über der Niere gewahrte. Er hätte niemals geglaubt, daß das Mädchen so mutig war. Aber andererseits hatte sie sich nur verteidigt. Seine Liebestechnik war nicht gerade sanft und zärtlich zu nennen. Beim nächsten Mal würde sie noch heftiger ausfallen. Er erhob die Stimme, damit sie ihn über dem Getöse des Windes und dem Schienenrattern hören konnte. »Juliette? Hörst du mich?« Die Räder klirrten und polterten. Das traurige Pfeifen der Lokomotive erklang zweimal. »Es wäre besser, wenn du mir Bescheid geben würdest, daß du mich hörst. Ich habe nämlich deinen beschissenen kleinen Köter unterm Arm. Los, Rudy, melde dich!« Er krallte seine Hand in den Nacken des kleinen Spitz und drückte brutal zu. Rudy kläffte und jaulte. »Hast du ihn gehört? Wenn ja, dann klopf gegen die Tür!« Sie klopfte. »Und jetzt hör gut zu.« Rudy begann, sich in seinen Händen zu winden und mit den Beinen zu treten. Er wollte sich aus der Umklammerung befreien. Elstree hielt ihn fest. »Ich stehe an einem Fenster. Es ist offen. Ich werde Rudy aus dem Fenster halten. Wenn du mich nicht hereinläßt, dann – und das schwöre ich dir – lasse ich ihn fallen. In dieser Ehe gibt es nur einen, der die Regeln bestimmt und der das Sagen hat, und das bist ganz sicher nicht du, du alte Schlampe. Ich halte den Köter jetzt hinaus. Wenn ich noch eine Sekunde länger warten muß, werfe ich ihn unter die Räder.« Keine Antwort. Elstree packte den Hund mit beiden Händen am Hals und schob ihn durch die Fensteröffnung. »Ich halte ihn jetzt nach draußen. Wenn nicht sofort etwas geschieht, fliegt er auf die Gleise!« Der Schlüssel drehte sich im Schloß der Rosenholztür. Vor Erregung über seinen Sieg zitternd, riß Elstree den Hund wieder in den Wagen zurück und schob das Fenster zu. Er warf Rudy regelrecht ans
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andere Ende des Wagens. Jaulend landete das Tier in einem Ledersessel, pinkelte auf das Sitzpolster, sprang auf den Fußboden hinunter und rannte kläffend im Abteil hin und her. Elstree lachte. Das tat gut. Er öffnete die Tür und grinste beim Anblick seiner jungen Frau. Sie hatte sich unter dem Bettlaken aus Satin zu einer Kugel zusammengerollt. Ihr schwarzes Haar lag zerzaust auf ihren Schultern, und ihre grauen Augen musterten ihn mit einem Ausdruck von Todesangst. Das rechte Auge war bereits geschwollen. »Nun, das ist schon besser, Juliette. Unterwürfig. Wie es sich für eine anständige Frau gehört. Oder eine anständige Hure.« Er schloß die Tür hinter sich und ließ ihr einen Moment Zeit, um sein blutüberströmtes Gesicht, den Bluterguß in seiner Nierengegend und seine enorme Erektion zu erfassen. Dann sprang er auf das Fußende des Bettes. Draußen rannte der Spitz hin und her, biß in einen Zigarrenständer, pinkelte erneut… er war völlig außer Rand und Band. Schließlich kroch er zitternd unter den Eßtisch und gab wimmernde Laute von sich. Ein Laut, der nicht viel anders klang als der, der durch die Rosenholztür nach außen drang. 77 ROSE Im Spätsommer des Jahres 1896 ging Roses intime Beziehung zu Paul Dresser zu Ende. Aber sie blieben gute Freunde und schliefen gelegentlich noch miteinander. Mit seiner Hilfe hatte sie eine kleine und erschwingliche möblierte Wohnung in der Achtzehnten Straße im Ostteil der Stadt gefunden. Auf seinen Rat hin nannte sie sich jetzt Rose French und besaß sogar ein bescheidenes Sparkonto unter diesem Namen. Ebenfalls auf Pauls Anraten hatte sie zu lesen begonnen. Vorwiegend Klatschblätter und Frauenillustrierte. Aus ihnen erwarb sie einige Kenntnisse in Modedingen und lernte es, die nicht weniger teuren Kopien französischer Schnitte in den Kaufhäusern zu identifizieren. Sie gab sich große Mühe, beim Sprechen Grammatikfehler zu vermeiden. Das hob ihr Selbstbewußtsein. Sie schuldete Paul eine ganze Menge, darunter auch ihren Job in Tony Pastors Theater an der Vierzehnten Straße. Paul hatte persönlich mit Mr. Pastor, dem »König des Varietés«, gesprochen und ihr geholfen, zwei Nummern für einen Vorsingtermin einzustudieren. Nun war sie »Rose French, die internationale Soubrette«. Sie rangierte an vierter Stelle des Programms, trat also unmittelbar vor den dressierten Hunden oder dem Balancierkünstler, der Kopf- und Handstände
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auf Fässern und Stühlen vollführte, und direkt nach einer Truppe irischer und jüdischer Komiker mit schwarzgeschminkten Gesichtern auf. Manchmal führte Mr. Pastor persönlich das Programm an und trällerte sentimentale Balladen und lustige Songs, die er selbst komponiert hatte. Pastor veranstaltete zwei Shows für sein Publikum, das aus Touristen und Provinzlern mitsamt ihren biederen Ehefrauen und Kindern mit Zahnlücken bestand. Der stämmige, schnurrbärtige Pastor, ein ehemaliger Zirkusmann, hatte das traditionelle Varietéprogramm bereinigt, um es zu einem Familienvergnügen zu machen. Es gab nicht einen einzigen zweideutigen Song oder anzüglichen Auftritt in seinem Theater, und an der Pförtnerloge hinter der Bühne hing ein großes Schild, das die Artisten und Künstler dazu anhielt, im Theater niemals den Namen Gottes im Zorn auszusprechen. Trotz der moralischen Zwänge – die ohnehin nur recht oberflächlich waren – war das Pastor’s ein aufregender Arbeitsplatz. Es lag im Herzen des New Yorker Theaterviertels, unweit des Union Square auf der Nordseite der Vierzehnten Straße in der Nähe der Third Avenue. Die berühmte Musikakademie lag einen Steinwurf weiter westlich, und vor dem Morton House am Union Square konnte man sich bei warmem Wetter unter eine Schar arbeitsloser männlicher Schauspieler mischen, die dort herumlungerten in der Hoffnung, irgendwelche Jobs zu ergattern, ganz gleich, ob auf der Bühne oder woanders. Dieser Abschnitt der Straße wurde liebevoll »Sklavenmarkt« genannt. Pastors Theater war ein hübsches, gepflegtes Haus, das sich im ersten Stock eines Bürogebäudes aus rotem Klinker mit Verzierungen aus weißem Marmor befand. Weiße Säulen im korinthischen Stil zierten den Portikus, und Türen mit facettiertem Glas und ein Fußboden aus weißem Marmor verliehen dem Foyer einen Hauch von Eleganz. Der imposante Proszeniumbogen zeigte ein großzügiges Tiefrelief von Terpsichore, der Muse des Tanzes. Das Gebäude selbst gehörte der New Yorker Tammany Society. An vielen Abenden saßen die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Gesellschaft, elegante, stattliche Männer mit funkelnden Ringen an den Fingern und verschlagen blickenden Augen, in Logen, die Pastor, der sich als ihr Freund verstand, ihnen gerne kostenlos zur Verfügung stellte. Seit kurzem hatte man bei Pastor’s damit begonnen, am Ende des Programms eine kurze Sequenz der neuen bewegten Bilder zu zeigen, um die Leerung des Saals zu beschleunigen. Es geschah als direkte Reaktion auf ähnliche Programme bei Koster and Bial’s in der Zwanzigsten Straße. Für Rose waren die Filme eine halbwegs unterhaltsame Kuriosität, sonst
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nichts. Viel mehr interessierte sie sich für die wohlhabenden Gentlemen, die gelegentlich für fünf Dollars eine Privatloge mieteten. Roses Bühnenauftritt bestand aus schnellen und langsamen Songs. Clementine und Annie Laurie. Little Brown Jug und Old Folks at Home. Just Tell Them That You Saw Me heimste immer eine Menge Applaus ein. Als Finale brachte sie ein Potpourri aus Militärmärschen, das mit Maryland, My Maryland endete, einem Song, der stets mit einer stehenden Ovation belohnt wurde, wenn in den ersten Reihen ein paar alte Rebellen saßen. Selbst in einem so gut besuchten Haus wie Pastor’s reichte Roses Gage jedoch nicht aus, um ihr ein angenehmes Leben zu ermöglichen, wie sie es sich wünschte. Ihre Bezahlung deckte die Miete ab, jedoch nicht die kleinen Extras wie Spitzenstrumpfhalter, dunkelrote Pumps, edlen Wein. Das Geld für diese Annehmlichkeiten verdiente sie sich, indem sie den Gentlemen in den Fünf-Dollars-Kabinen ihre Gunst gewährte, die anschließend zu ihr kamen. Versicherungsmakler aus Rahway, New Jersey. Der Eigentümer eines Landmaschinenhandels in Indiana. Die meisten Männer waren verheiratet. Langweilig und harmlos, aber immerhin klug genug, um gewisse Andeutungen zu verstehen, die sie fallenließ, wenn sie mit ihnen zusammen war. Die meisten ließen morgens, wenn sie das Haus verließen, zwanzig oder dreißig Dollars zurück. Sie legten das Geld auf das leere Kopfkissen, wenn sie noch schlief, oder sie steckten es ihr in den Strumpfhalter, wenn sie aufstand, um Kaffee zuzubereiten. Das tat sie bei denen, die sie für besonders wohlhabend hielt. Sie nahm das Geld an, aber nur als Geschenk, als eine Art Anerkennung. Sie war keine Hure – und hätte jedem vehement widersprochen, der das Gegenteil behauptet hätte –, denn Huren hatten keine Chance, den richtigen Gentleman kennenzulernen. Einen, der reich und angesehen war, der sich ein angenehmes und ständiges Arrangement in New York wünschte und bereit war, dafür zu bezahlen. Bislang war ihr ein solches Prachtstück noch nicht begegnet. Allmählich verlor sie alle Hoffnung. In dieser Stimmung befand sie sich, als sie an einem warmen und bewölkten Augustnachmittag über den lauten, mit hektischer Betriebsamkeit erfüllten Herald Square zu den Büros von Howley & Haviland in der Zwanzigsten Straße spazierte. Sie hatte sich sehr sorgfältig gekleidet. Sie und Paul wollten vor ihrem ersten Auftritt bei Pastor’s gemeinsam zu Abend essen. Ihr leichtes Sommerkleid war in einem dezenten Grau gehalten, das durch einen weißen Spitzenkragen aufgelockert wurde. Ihr Sommercape war aus schwarzem Taft und plissiert. Ihr Hut, den sie keck nach links verschoben hatte, bestand aus einem schwarzgefärbten Strohgeflecht und war mit kleinen
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Taftfächern verziert. Mit weißen Glacéhandschuhen, einem schwarzen Seidenschirm und glänzenden schwarzen Schuhen war sie das Sinnbild ehrbarer junger Weiblichkeit. Zur Musik von mehreren Klavieren, die gleichzeitig spielten, stieg Rose die Treppe zu den erst kürzlich vergrößerten Büros der Musikfirma hinauf. Howley & Haviland machten prächtige Geschäfte, wie überhaupt das gesamte Musiknotengeschäft. Für Leute, die immer noch unter der Wirtschaftskrise litten, war ein fünfzig Cents teures Musikstück ein billiges Vergnügen, wenn sie ein Klavier besaßen. Howley & Haviland hatten einen Vorführ-Pianisten eingestellt, der die jüngsten Nummern der Firma in Hotelhallen, politischen Clubs und in den Klavierabteilungen großer Kaufhäuser vorstellte. Die Firma hatte sich außerdem einer ganz anderen Form der Veröffentlichung zugewandt – Ev’ry Month: An Illustrated Magazine of Literature and Popular Music. Verkaufspreis: zehn Cents. Das illustrierte Monatsmagazin für Literatur und Unterhaltungsmusik brachte Theaterkritiken, Informationen über die neueste Mode, Klatsch über die Angehörigen der »Oberen Vierhundert«, alles geschrieben von Pauls jüngerem Bruder Theo sowie einem gelegentlich engagierten zweiten Journalisten. Paul machte kein Geheimnis daraus, weshalb er daraufgedrungen hatte, daß sein Bruder eingestellt wurde: »Er ist klug und schnell. Er war Reporter, und zwar ein guter, in Chicago und anderen Städten. Aber er hat mit seiner Schreiberei niemals mehr als nur ein mageres Taschengeld verdient. Wahrscheinlich wird er auch nicht mehr damit verdienen. Er ist froh, in New York zu sein und regelmäßig seinen Gehaltsscheck zu bekommen. Theo ist ein ziemlich sturer Bursche, aber ein guter Kerl. Wir haben uns immer gut verstanden. Manchmal hilft er mir bei meinen Songtexten. Es gefällt mir, daß er hier ist.« Theo war fünfundzwanzig Jahre alt, vierzehn Jahre jünger als Paul. Rose hielt ihn für einen unscheinbaren, unbeholfenen Narren mit Hasenzähnen. Aber er war eine zuverlässige Schreibmaschine und lieferte alle Texte, die das nötige Beiwerk für die Hauptsache jeder Ausgabe von Ev’ry Month bildeten – eine Veröffentlichung von drei oder vier Howley & HavilandSongs. »Drei Nummern für einen Dirne anstatt für anderthalb Dollars«, sagte Paul. »Deshalb ist das Magazin so erfolgreich.« Im Büro herrschte wie stets ein musikalisches Chaos. Paul tauchte aus seiner winzigen Zelle auf, ergriff ihre Hand, küßte sie auf beide Wangen und sagte ihr, sie sehe wieder einmal sehr schick aus. Aus einer anderen
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Zelle erschien Theo. Rose begrüßte ihn flüchtig und gab sich Mühe, ihre Abneigung gegen ihn nicht allzu deutlich zu zeigen. Sie konnte seinen schüchtern gemurmelten Gruß kaum hören. Ein Einfaltspinsel, wie er im Buche stand! Paul zog ein paar Bögen gelbes Konzeptpapier aus seiner Gesäßtasche. »Da ist der Text für die Gedanken zur Zeit-Kolumne. Ich habe eine kleine Änderung vorgenommen.« Theo blinzelte wie eine nervöse Eule. Seine Finger waren lang, weiß und zitterten. Über Theos Schulter hinweg entdeckte Rose plötzlich ein Paar tiefblauer Augen, die sie durch die Scheibe der Pianistenkabine anstarrten. Der bleiche junge Mann in der Kabine hatte lockiges schwarzes Haar. Seine Blässe ließ seine Augen noch ausdrucksvoller erscheinen. Er war sicherlich nicht älter als achtzehn. Er war auch nicht der festangestellte VorführPianist. Offenbar von Rose sehr angetan, lächelte er. Sie reckte die Nase in die Luft und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. »Wie fandest du meine Kurzgeschichte, Paul?« fragte Theo. »Ich hab sie noch nicht gelesen. Du weißt, daß ich gegen literarische Texte im Magazin bin, Thee. Aber meine Partner haben mich überstimmt. Bist du mit dem Songtext schon weitergekommen?« »Nein«, sagte Theo schuldbewußt. »Aber ich arbeite daran. Guten Tag, Miss French.« Er entfernte sich. Paul legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich will eine neue Heimatnummer schreiben, über den Ort, wo Thee und ich aufgewachsen sind. Die Idee ist prima, aber wir sind noch nicht fertig. Thee doktert schon seit drei Monaten am Text herum. Und ich habe gerade erst den Anfang eines Refrains –« Er ging mit ihr in sein Büro, spielte ein paar Noten und sang dazu. »Oh, the moonlight’s fair tonight along the Wabash – und so weiter. Es ist noch ziemlich unausgereift.« »Es ist schön, Paul.« Das war ungefähr alles, was sie dazu sagen konnte. Sie glaubte nicht, daß ein Song über einen Ort, wo Bauern Schweine hüteten und Kuhmist schaufelten, jemals weithin beliebt sein würde. Es war eigentlich nichts anderes, als daß er mal wieder seine sentimentale Ader durchscheinen ließ. »Setz dich für einen Moment, Rose, wir können gleich gehen.« Rose streifte ihre Handschuhe ab und nahm auf dem Holzstuhl Platz. Jedes Büro bei Howley & Haviland hatte ein großes Fenster zur Empfangshalle hin. Daher schaute sie, da sie wieder die Blicke spürte, zur Pianistenkabine hinüber. Dort saß der schlanke junge Mann, beobachtete sie und grinste. Er trug ein rot-weiß gestreiftes Hemd und Ärmelhalter.
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Sie reagierte normalerweise immer freundlich, aber nicht bei einem solchen Mann, falsch – bei einem Jungen. Sie zog eine Grimasse und blickte demonstrativ in eine andere Richtung. Paul beendete seine Arbeit, zwängte sich in seinen schicken braunen Mantel mit schwarzen Samtrevers, nahm den Hut vom Garderobenständer, und sie machten sich auf den Weg zum Abendessen. Während sie den Empfangsraum durchquerten, sah sie noch einmal zur Pianistenkabine. Der Junge war verschwunden und hatte einen Stapel gedruckter Songs, Notenpapier, Bleistifte und Radiergummis auf dem Klavier zurückgelassen. Gott sei Dank brauchte sie ihm nicht noch einmal in die Augen zu blicken. Sie haßte Juden. Nach dem Essen erklärte Paul, er käme gleich nach der zweiten Show bei Pastors in ihre Wohnung. »Auf der Suche nach ein wenig Wärme und Gemütlichkeit«, wie er es ausdrückte. Rose war das nur angenehm. Sie verspürte eine Hitze, die nicht nur durch das Wetter zu erklären war. Nach dem zweiten Auftritt erwartete sie eine angenehme Überraschung in ihrer kleinen, aber aufgeräumten und hübschen Garderobe – ein großer Weidenkorb voll gelber Rosen. Sie suchte eine Karte, fand aber keine. Hinter der Bühne eilte sie zur Pförtnerloge. »Zachary, wann sind diese Blumen angekommen?« »Während Sie draußen waren. Sie wurden auch nicht von einem Botenjungen gebracht, sondern von einem Gentleman. Er hat wohl Ihren ersten Auftritt gesehen.« Sicherlich wieder ein Durchreisender, der ein wenig Gesellschaft suchte. Dennoch, es war eine ungewöhnliche Art der Annäherung. »Wie sah er aus?« »An sein Gesicht erinnere ich mich nicht, es war nicht besonders auffällig. Aber er trug elegante Kleidung. Einen Abendanzug, Zylinder, einen Stock – was eben so dazugehört. Er war wirklich höflich. Ich fragte, ob er eine Karte hinterlassen wolle, und er erwiderte. ›Eventuell ein andermal.‹ Dieses ›eventuell‹ fand ich seltsam. Bei uns heißt es ›vielleicht‹.« »Ja«, sagte Rose, plötzlich erregt. In ihrer Garderobe zählte sie die gelben Rosen. Es waren vierundzwanzig. Sie sagte Paul nichts von den Blumen. Nachdem sie eine Runde gedreht hatten und in befriedigter Ermattung in der Dunkelheit ihrer Wohnung nebeneinanderlagen, fiel ihr etwas ein. »Sag mal, Paul, im Büro – wer ist der Junge in der Vorführkabine?«
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»Unser neuer Pianist. Die Geschäfte laufen so gut, daß wir zwei brauchen. Er heißt Harry Poland. Ich hab’ ihn unten bei Nigger Mike in Chinatown gehört.« Rose war auch schon mal dort gewesen. Der richtige Name des Saloons lautete Canton Café, und Mike Raines, der Inhaber, war ein bärtiger, stämmiger russischer Jude mit einem unaussprechlichen Namen. Wegen seines dunklen Teints hatte man ihm den Spitznamen Nigger Mike verpaßt. All seine Kellner mußten singen. Das war die Grundbedingung, wenn man bei ihm eingestellt werden wollte. »Ein ziemlich seltsamer Judenjunge«, sagte Rose. »Ja, aber ein netter Kerl. Er hat auch eine gute Stimme. Als ich feststellte, daß er genauso gut singen wie auch spielen kann, habe ich ihn vom Fleck weg engagiert. Er ist ein verdammt guter Musiker. Autodidakt, genau wie ich. Er möchte komponieren. Als ich mich mit ihm unterhielt, erklärte ich ihm, die Bezahlung sei nicht besonders hoch, aber wenn er irgend etwas schreibe, würden wir es uns ansehen. Es vielleicht sogar veröffentlichen. Ich dachte schon, er sagte, fahrt zur Hölle damit, aber er war einverstanden, es sei besser, als jeden Abend Songs für ein Trinkgeld zu verschenken. Das einzige Problem mit Harry ist, daß er diesen schrägen, schnellen Mist bevorzugt. Ich hab’ ihm geraten, diese Meinung für sich zu behalten.« Paul griff nach der Champagnerflasche auf dem Fußboden neben dem Bett. Heute schenkte er ihn in ein großes Wasserglas und nicht in ein schlankes, hohes. In letzter Zeit sprach er der Flasche sehr viel reichlicher zu, stellte sie fest. Paul trank schon immer sehr gerne, aber nun fing er damit schon viel früher am Tag an, und er trank erheblich mehr. Sie fragte sich, ob er vor irgend etwas Angst hatte. Vielleicht davor, daß er keinen Hit wie Erzähl von mir mehr schreiben würde? Oder vor dieser schnellen, wilden Musik, die vorwiegend von Niggern gespielt wurde? Sie hatte sie schon ein- oder zweimal gehört. Und sie gefiel ihr irgendwie. »Nun«, sagte sie, »dieser Harry hat mich heute ganz schön dreist angestarrt.« »Vielleicht ist er scharf auf dich.« »Nach nur einem Blick?« »Bei dir, Rose –« Sie hörte in der Dunkelheit ein Zungenschnalzen, dann ein Gluckern und ein Schmatzen. Paul trank schnell noch einen Schluck Champagner. »Bei dir ist das möglich, Rose. Rutsch rüber zu Papa Paul …« Rose stellte fest, daß sich mit jedem Besuch bei Howley & Haviland das Interesse des jungen Pianisten vertiefte. Er kam aus seiner Kabine
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herausgeschossen, um sie zu begrüßen und um sich mit einer Mischung aus Schüchternheit und Nervosität vorzustellen. Er mußte bei mindestens sechs Gelegenheiten gesagt haben: »Ich bin Harry Poland.« Sie ermutigte ihn kein einziges Mal, sondern zeigte ihm stets die kalte Schulter, indem sie die Nase rümpfte oder sich abrupt abwandte, aber das ließ ihn völlig kalt. Er verfolgte sie weiterhin, tanzte umher und ruderte mit den Armen wie eine entflammte Vogelscheuche. Seine Energie und seine Hingabe schwächten ihre Widerstandskraft. Sein ständiges Lächeln war fröhlich und ansteckend. Aber das hätte sie niemals offen zugegeben. Eines Abends während des Essens teilte Paul ihr mit, daß Mr. Harry Poland ganz eindeutig in sie verliebt war. »Nun, dann sollte er sich lieber irgendeine hübsche Miss Rebecca suchen, denn Rose hat keine Lust.« Paul lachte schallend. »Das habe ich ihm bereits angedeutet. Er sagte, es mache ihm nichts aus. Er schreibt ein Lied für dich. In seiner Freizeit.« »Herrgott im Himmel!« sagte sie und war dabei so erschrocken, daß ihr die Auster von der zierlichen silbernen Gabel rutschte. Paul seufzte. »Du mußt unbedingt an deiner Redeweise arbeiten. Stell dir nur mal vor, du würdest irgendwann in der nächsten Zeit zu einer eleganten Party eingeladen! Du kannst dort keinen Eindruck schinden, indem du ständig ›Herrgott im Himmel, Mrs. Astor‹ sagst.« An einem Septemberabend etwa gegen sieben Uhr, als heftiger Regen auf Manhattan niederfiel und ein kalter Nordwind den Atem des Herbstes durch die Straßen blies, stieg Rose aus einem Kabriolett und rannte zur Tür von Howley & Haviland. Sie trat in dieser Woche nicht auf. Pastor hatte eine andere Sängerin engagiert, eine gewisse Irish Tessie. Tessie hatte eine Figur wie ein Preisringer, und ihre Altstimme war dünn, aber sie war beliebt, weil sie das Publikum zum Mitsingen animierte. Sie stand an zweiter Stelle auf dem Programm. Mr. Pastor hatte den ersten Platz den Four Cohans überlassen. Von denen gefiel Rose vor allem der junge Georgie, der ein Klugscheißer war, aber auch ein ganz guter Steptänzer. An ihrem freien Abend war sie mit Paul zum Abendessen verabredet. Während sie die enge dunkle Treppe hinaufstieg, hörte sie ein Klavier einen Marsch spielen, wahrscheinlich eine der neuen militärischen Nummern der Firma. Howley & Haviland schlossen um sechs, aber der Haupteingang war nicht verriegelt. Zwei Kabinen waren erleuchtet. In einer saß Theo und kopierte von Hand maschinengeschriebene Noten. In der anderen – Gott sei Dank mit dem Rücken zu ihr – spielte Harry Poland den Marsch. Rose setzte sich in den Sessel in der Empfangshalle und hoffte, daß niemand sie
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bemerkte, bis Paul erschien. Von der Straße fiel Licht durch die regennassen Fenster der vorderen Räume. Es zauberte wässrige Muster auf die Wände. Traurige Muster, die nicht zu Roses Stimmung paßten. Während der zwei Wochen ihres letzten Engagements waren alle drei oder vier Abende Rosen von ihrem anonymen Bewunderer eingetroffen. Stets von einem Boten überbracht. Seit dem ersten Mal war er nicht mehr persönlich erschienen. Am nächsten Montag stand sie wieder auf dem Programm. Sie war voll gespannter Erwartung. Eine Schreibtischlampe spiegelte sich grell in Theos Brille, als er sich aufrichtete und sich streckte und gähnte. Als er sie im Halbdunkel bemerkte, trat er hinaus in den Empfang und knipste die Beleuchtung an. »Hallo, Rose. Ich hab’ Sie zuerst gar nicht bemerkt.« »Wo ist Paul? Er verspätet sich.« Sie war wütend. Das grelle Licht der Deckenlampen unterbrach abrupt die Musik in Harry Polands Kabine. Er drehte sich auf seinem Hocker um, grinste und winkte. »Paul ist zum Broadway-Hotel, um mit einer Sängerin über unsere neuen Nummern zu reden. Er sagte, es könne sein, daß er sich ein wenig verspätet. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Der Kaffee steht noch auf der Gasflamme.« »Nein, danke, Theo.« »Na, dann nicht. Ich muß zurück an die Arbeit. Heute bin ich der Prophet.« Für Ev’ry Month schrieb Theo Kolumnen unter verschiedenen Pseudonymen, darunter der Prophet, der Zyniker und der Optimist. Schon bald klapperte seine Schreibmaschine wieder. Was für ein Heini. »Miss French?« O Gott, wie gerne wäre sie dem aus dem Weg gegangen! Sie wandte sich mit betont abweisender Miene um. »Mr. Poland?« »Wollen Sie mich nicht Harry nennen?« Sie erwiderte nichts darauf. »Hören Sie, wenn Sie ein wenig Zeit haben, kommen Sie doch mal kurz herein.« Er sprach mit Akzent. Wahrscheinlich ein europäischer Jude, vermutete sie. Sie kannte sich in solchen Dingen nicht sehr gut aus. Der Akzent war auch nicht so stark. Durchaus möglich, daß er EnglischLektionen erhielt. »Mr. Poland –« »Oh, bitte. Ich habe an einem eigenen Song gearbeitet. Bisher habe ich nur die Melodie. Möchten Sie nicht kurz hereinkommen und sie sich anhören?« Seine leuchtendblauen Augen und sein unerschütterliches Lächeln besiegten ihren inneren Widerstand. Wenn sie ihm den Gefallen nicht tat, dann würde er sie weiterhin anbetteln. Sie kam zu seiner Kabine herüber.
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»Bitte, setzen Sie sich«, forderte er sie auf und hüpfte fast vor Aufregung. Er raffte einen Stapel Howley & Haviland-Noten von einem Holzstuhl auf und warf sie achtlos auf den Fußboden. Er rückte den Stuhl an ein Ende des Klaviers, dann sprang er noch einmal auf und veränderte die Position ein wenig. Dann deutete er auf den Stuhl wie ein Kavalier, der seinen Federhut zieht. Was für ein Dummkopf. Aber sie setzte sich. Außer sich vor Freude ließ Harry Poland sich auf seinen Hocker sinken, blätterte hektisch in dem dicken Stapel von Papieren und Notenblättern auf dem Notenhalter des Klaviers. Er fand das Blatt, das er suchte. Eine einzelne Seite, die mit Noten und Radierflecken übersät war. »Hören Sie mal. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.« Er verschränkte seine Finger, ließ die Gelenke knacken, zupfte eine Manschette zurecht, dann die andere und begann zu spielen. Sie mußte zugeben, daß es eine hübsche Melodie war. Sehr einschmeichelnd, aber durchaus lebhaft, obgleich er sie in einem langsamen Tempo spielte. Er spielte sie einmal, wiederholte den letzten Teil und ließ sie dann pianissimo ausklingen. Das Ende des Songs wurde durch Theo markiert, als er die Tür seiner Kabine mit lautem Knall zuschlug. »Nun?« fragte Harry Poland. Sie konnte das erwartungsvolle Zittern in diesem einen Wort deutlich hören. »Es ist hübsch«, sagte sie etwa im gleichen Ton, wie sie auf eine Fliege an der Wand hingewiesen hätte. »Wieviel ist es wert?« Verblüfft sah er sie an. »Wert?« »Wieviel Geld bringt der Titel ein?« »Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß er mir gefällt.« Harry lächelte tapfer. »Wollen Sie den Titel erfahren?« Er hielt ihr das Blatt Papier hin. Sie hatte vorher gar nicht bemerkt, daß der Titel in Blockbuchstaben über den Noten stand: ROSIE »Ich habe mir noch keinen Text dazu ausgedacht, mein Englisch ist – ist nicht so gut. Aber ich werde es bald mal versuchen, und dann – Miss French! Was habe ich getan?« Sie erhob sich und schleuderte ihm das Notenblatt vor die Füße. »Sie haben mich beleidigt. Kennen Sie denn meinen Namen nicht? Er lautet Rose, Rose French, und nicht Rosie. Sie haben das für jemand anderen geschrieben.« »Nein, für Sie! Rosie ist der richtige Name. Sie sind Rosie, auch wenn Sie sich nicht so nennen.« »Hören Sie –«
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»Der Name klingt doch gut – Rosie. Er ist ebenso sprühend wie Sie.« »Sie kleiner Judenjunge, sie müssen völlig besoffen sein. Belästigen Sie mich in Zukunft nicht mehr. Behalten Sie Ihre billigen Judensongs für sich, sie interessieren mich nicht!« Sie stampfte über den Holzfußboden der Empfangshalle, wobei die Absätze ihrer Pumps einen Rhythmus erzeugten, der zu dem Marsch paßte, den Poland am Anfang gespielt hatte. Weshalb zum Teufel warfen die Herren Howley, Haviland und Dresser den kleinen Itzig nicht auf die Straße, wohin er und seine aufdringlichen, zerlumpten Freunde gehörten? Am Haupteingang drehte sie sich um. Theo blickte verwirrt durch sein Fenster. Harry Poland kauerte mit entsetztem Blick auf seinem Klavierhocker. Er sprang nicht mehr herum. Und lächelte auch nicht mehr. Sehr gut. Vielleicht ließe er sie künftig in Ruhe. Paul kam die Treppe herauf und traf mit ihr auf dem Absatz zusammen. Er trug wie gewöhnlich seinen eleganten Abendanzug mitsamt Cape. Auf seinem hohen schwarzen Zylinder glänzten Regentropfen. »Rose? Was ist los? Du siehst furchtbar aus.« »Ach, ich hatte ein kurzes Gespräch mit diesem neuen Klavierspieler.« »Hat Harry dich belästigt?« »Ich hab’ ihn ein wenig abgekühlt.« Sie ergriff seinen Arm am Kopfende der steilen Treppe. »Ich glaube, er hat begriffen, daß ich Israeliten nicht leiden kann. Laß uns endlich gehen.« Am ersten Abend, als sie wieder bei Pastor’s auftrat, kamen keine Blumen an. Am zweiten Abend auch nicht. Unbesorgt zählte sie die Stunden bis zu ihrem dritten Abend. Auch dann gab es keine Blumen. Am Samstagabend war sie völlig mutlos. Wer immer ihr Verehrer gewesen war, er hatte offensichtlich seine Bemühungen aufgegeben. Hatte wahrscheinlich jemand anderen gefunden, der seinen Vorstellungen entsprach und seine Wünsche erfüllte, sicherlich auch im Bett. Als sie während der zweiten Show nach einem ziemlich lahmen Auftritt die Bühne verließ, erwartete Zachary, der alte Pförtner, sie bereits. Er zitterte regelrecht vor Aufregung. »Er hat wieder einen Korb abgeliefert. Sprang aus einer Droschke und brachte ihn schnell an die Tür, sagte, er wolle um Vergebung bitten, er sei in Chicago einige Wochen lang aufgehalten worden. ›Um Vergebung bitten‹ – haben Sie schon mal solche gewählten Worte gehört?« »Mach Platz«, sagte Rose und war schon fast an ihm vorbei. Diesmal waren es drei Dutzend weiße Rosen in einem großen Weidenkorb. Mit einer glänzenden weißen Schleife am Griff. Und eine
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Karte. Mit einem Namen. W. V. Elstree III.
78 JOE CROWN Im Herbst 1896 wurde Joe Crown von einer einzigen Idee beherrscht. Bryan mußte bekämpft werden. Gouverneur McKinley – der Major, wie die Republikaner ihn gerne nannten – mußte die Wahl gewinnen und Amerika die vernünftige Goldwährung und die Vorteile von Schutzzöllen bescheren und der drohenden Feld-, Wald- und Wiesenrevolution ein Ende machen. Weil McKinleys Ehefrau eine angegriffene Gesundheit hatte, verkündete er, er wolle eine, wie er es nannte, »Veranda-Kampagne« führen. Er werde nur von der Vorderveranda seines weißen Hauses in Canton, Ohio, zu Anhängern und Befürwortern reden. Marcus Hanna und seine republikanischen Helfer organisierten an sieben Tagen der Woche Ausflüge nach Canton, während andere Anhänger an anderen Orten für den Kandidaten warben. Joe lernte Anfang September einen dieser eifrigen Redner während eines Empfangs in Chicago kennen. Es war Mr. Theodore Roosevelt, der Polizeichef von New York City. An diesem Abend konnte Joe sich zum erstenmal einen genaueren Eindruck von Roosevelt verschaffen. Obgleich er erst achtunddreißig Jahre alt und um einiges kleiner war als ein Meter achtzig, beherrschte er den Saal voller reicherer älterer Männer. Er lächelte nicht auf die übliche Art. Er schien viel eher seine Zähne zusammenzubeißen und dann den Mund zu öffnen, um seine zwei Reihen Zähne zu entblößen und dann diesen Ausdruck starr beizubehalten. Er trug einen Zwicker an einer Schnur und am Revers ein großes Abzeichen, das einen Golddollar darstellte. Am Rand waren die Worte eingeprägt In God we trust, in Bryan we bust – Gott vertrauen wir, Bryan schlagen wir. Es hieß, in seiner Jugend sei Roosevelt häufig krank gewesen. Davon war nichts zu bemerken. Er war stark wie eine Eiche. Seine gewölbte Brust und seine muskulösen Arme schienen seinen Anzug zu sprengen. Als Anhänger eines – wie er es nannte – gesunden Lebens hatte er sich einige Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau in die Bad Lands in Dakota zurückgezogen. Dort hatte er Rinder gezüchtet, sich mit einigen harten Burschen herumgeschlagen, die ihn »Vier-Auge« nannten, und ein Buch über Ackerbau und Viehzucht geschrieben. Er war ein Meteor am republikanischen Himmel, und das war ihm durchaus bewußt.
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Roosevelt bestieg ein kleines Podium, um sich an die Versammlung zu wenden. Sein Redestil war ziemlich theatralisch, seine Stimme klang schrill. Er schreckte einen ab, bis sein Charme und seine Überzeugungskraft einen umstimmten und auf seine Seite zogen. Nach der Rede stellte Joe sich ihm vor. Er und Roosevelt bedienten sich von dem Whiskeypunsch. Roosevelt trank nur einen Schluck, nicht mehr. Was Bryan betraf, so reagierte er überaus kämpferisch. »Ich bin entsetzt über seine Fähigkeit und seine Bereitschaft, Haß gegen die zu erzeugen, denen es gutgeht. Ich kenne die Menschen, die solche Appelle begrüßen. Es sind durchweg Leute, die entweder durch ein Unglück oder durch eigene Fehler im Leben gescheitert sind.« Roosevelts blaugraue Augen fixierten Joe, als wollten sie ihn warnen, ja nicht zu widersprechen. Joe verdrängte den Gedanken, daß Roosevelts Bemerkung unverzeihlich snobistisch war. Er sagte: »Zu solchen Vermutungen würde ich mich nicht hinreißen lassen. Es war die Frage der Silberwährung, die mich von den Demokraten zu den Republikanern überwechseln ließ.« »Ein lobenswerter Entschluß, unabhängig vom Anlaß. Wir müssen diesen Mann aufhalten, Mr. Crown. Ich ordne diesem Ziel alles unter. Im nächsten Monat unternehme ich per Eisenbahn eine Rundreise durch den Mittelwesten. Mein Freund Cabot Lodge beteiligt sich am Wahlkampf. Desgleichen Carl Schurz.« »Wenn ich für einen kurzen Moment das Thema wechseln dürfte, Mr, Roosevelt –« »Hah!« Roosevelt gab diesen Laut auf unnachahmliche Weise von sich. Es war eigentlich kein richtiges Lachen, sondern eher eine verbale Explosion. »Nicht so förmlich. Nennen Sie mich Theodore. Ich sage Joe.« »Das würde mich freuen, Theodore. Ich möchte wissen, ob Sie glauben, daß es mit Spanien zum Krieg kommt.« »Das hoffe ich inständig. Ich stelle Metzger Weyler mit Bryan auf die gleiche Stufe. Er ist auch so ein Verrückter, der ausgeschaltet werden muß. Großräumig betrachtet muß den amerikanischen Interessen Rechnung getragen werden. Der Einflußbereich der Demokratie muß ausgeweitet werden. Ich gehöre zur Pioniergeneration, wissen Sie. Ich weiß, welch heilsame Wirkung es hat, sich einer Herausforderung zu stellen. Der alte Westen existiert nicht mehr. Vor sechs Jahren erklärte unser eigenes Volkszählungsbüro das Grenzland für nicht mehr existent, und Historiker wie Francis Parkman haben dem beigepflichtet. Aber die Amerikaner brauchen ein solches Grenzland. In Kuba haben wir es. Kuba verlangt ernsthafte, entschlossene Männer, die ein großes Ziel vor Augen haben. Ich
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glaube, daß der Krieg sehr wahrscheinlich ist. Wenn er ausbrechen sollte, möchte ich in irgendeiner Funktion daran teilnehmen.« Der Whiskeypunsch rötete Joes Gesicht. Der Rauch der edlen Havannazigarren, die von zahlreichen Gästen konsumiert wurden, war berauschend – der Weihrauch der Reichen. »Ich würde auch gerne mitmachen«, sagte er. »Hah! Das ist ja toll!« Roosevelt musterte ihn anerkennend. »Sie sind nicht zu alt. Überhaupt nicht zu alt. Wir werden uns eingehender darüber unterhalten, wenn ich im Oktober wieder herkomme.« Am nächsten Morgen in der Brauerei schrieb Joe eine weitere Zahlungsanweisung für die Republikaner aus, diesmal über fünftausend Dollars. Zu Hause lobte er den jungen Roosevelt und äußerte sich bewundernd über ihn. Eines Abends während des Essens brachte er wieder Roosevelts Einstellung gegenüber Weyler zur Sprache. Ilsa faßte sich an die Stirn. »Joe, Joe – nicht schon wieder.« »Was meinst du?« »Dieses ständige Gerede von Roosevelt. Roosevelt – es ist ja schon eine fixe Idee!« Sie war in ihre Muttersprache übergewechselt. »Du meinst, es sei eine Obsession? Du hältst es für falsch, sich offen für jemanden auszusprechen, der sich durch Intelligenz und einen starken Charakter auszeichnet?« »Nein, aber du tust es so oft, und das wirkt, offen gesagt, ziemlich ermüdend.« »Vielleicht findest du alles, was ich tue, ermüdend.« »Joe, bitte. Darum geht es doch überhaupt nicht.« Fritzi, die am anderen Ende des langen Tisches saß, zeichnete nervös mit dem Finger die Muster der gehäkelten Tischdecke nach. »Ich mag es nicht, wie dieser Mr. Roosevelt und seine Freunde ständig mit dem Säbel rasseln. Weshalb sollten wir überhaupt an einen Krieg in Kuba denken?« »Weil die Kubaner für die Freiheit kämpfen.« »Und weil die Zuckerindustrie möchte, daß wir für ihre Zuckerrohrfelder kämpfen. Miss Addams sagt –« »Miss Addams! Das nenne ich eine echte Obsession. Auf die wir sehr gut verzichten können.« »Joe, ich wünschte, du würdest dich nicht ständig so abfällig über meine Freundinnen äußern. Sie sind gebildete, interessierte Frauen, deren Ansichten –« »Unpraktikabel und unrealistisch sind.« »Du läßt mich noch nicht mal ausreden!«
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»– und mit der realen Welt herzlich wenig zu tun haben.« »Denkst du das auch von mir, Joe?« »Wenn du dich ihrer Meinung anschließt, dann ja.« »Nun, das finde ich richtig nett. Als du das letzte Mal Oskar Hexhammer getroffen hast, nanntest du ihn einen Kriegstreiber. Und jetzt klingst du genauso.« »Die kubanische Angelegenheit ist doch etwas völlig anderes. Die amerikanischen Interessen verlangen –« »Um Himmels willen, verschon mich damit!« rief Ilsa aus. Sie verließ überstürzt das Eßzimmer, während Joe und Fritzi einander nur stumm anstarrten. Die Republikaner führten ihren Wahlkampf, als veranstalteten sie einen Kreuzzug gegen den Anti-Christen. Jeder Parteianhänger, der über halbwegs annehmbare rhetorische Fähigkeiten verfügte, war mit der Eisenbahn oder auf den Straßen unterwegs. Roosevelt bereiste im Oktober Michigan, Indiana und Illinois und trat am 15. auf einer Großkundgebung im Coliseum auf. Er redete vor dreizehntausend wie gebannt lauschenden Menschen. Als bedeutender Geldgeber saß Joe Crown in einem reservierten Tribünenabschnitt nur zwei Reihen von Rednerpult entfernt. Roosevelt schimpfte und schwitzte, gestikulierte und deklamierte auf dem Podium fast zwei geschlagene Stunden lang. Bryan und seine Anhänger seien die philosophischen Nachkommen jener Anführer des nackten Terrors, der beinahe Frankreich vernichtet hätte. Bryans Verbündeter, Gouverneur Altgeld, habe kriminelle Attentäter begnadigt. Zu Bryans Gefolgsleuten gehörten die unehrlichsten Politiker von Chicago. Am Ende der Rede geriet das Publikum völlig aus dem Häuschen. »Teddy! Teddy! Teddy!« Die Republikaner jubelten und feierten ihre Kandidaten genauso laut und inbrünstig, wie die Demokraten es nach der Ansprache des Jungredners vom flachen Land getan hatten. Joe fühlte sich besser, als er das Coliseum verließ. Nicht das ganze Land war in radikalem Wahnsinn versunken, Gott sei Dank. Im Oktober bedienten die Republikaner sich eines Mediums, das von Geistlichen verflucht und sogar von den Angehörigen der niedrigsten gesellschaftlichen Klasse, Schauspielern, verspottet wurde. Drei Tage vor Roosevelts Triumph im Coliseum stellte Hammerstein’s Olympia Music Hall in New York einen neuen kurzen Film der American Biograph Company mit dem Titel McKinley zu Hause – Canton, O. vor. Mit
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bereitwilliger Mitwirkung des Kandidaten zeigte der Film eine im nachhinein inszenierte Wiederholung der Szene, in der Gouverneur McKinley die Nachricht von seiner Kür zum Präsidentschaftskandidaten überbracht wurde. Geld aus der Wahlkampfkasse wurde heimlich dazu verwendet, weitere Kopien herzustellen, die im gesamten Mittelwesten gezeigt werden sollten. Dort lautete der Filmtitel Major McKinley zu Hause. Joe konnte sich nicht überwinden, sich in der Stadt ins ColumbiaTheater zu schleichen, um sich den Film anzusehen. Das war die angemessene konservative Haltung. Dennoch, wenn ein Anhänger Bryans sich den Film ansähe und dann aufhörte, Tolstoi zu lesen, sich die Haare schneiden ließe und seine Stimme dem Major gäbe, würde sicherlich niemand danach fragen, mit welch verwerflichen Methoden man ihn beeinflußt hatte. Gegen Ende des Wahlkampfs kam der alternde Carl Schurz aus seinem Heim in Bolton Landing am George-See im Staat New York nach Chicago herunter, um eine Rede zu halten. Er lockte nur einen Bruchteil der Menge an, die Roosevelt mobilisierte. Joe und sein Freund Schurz aßen nach der Rede im deutschen Restaurant Schlogl zu Abend. Joe wiederholte Roosevelts Ausspruch, daß es höchstwahrscheinlich im nächsten oder übernächsten Jahr zum Krieg mit Spanien kommen werde. Er wiederholte auch seinen Wunsch, aktiv daran teilzunehmen. »Vielleicht gibt es irgendeine Aufgabe in der Armee.« »Ich kann dir nicht behilflich sein, Joe. Ich gehöre nicht mehr zur Regierung. Ich bin schon seit Jahren draußen.« »Ich bitte dich, du hast doch Hunderte von Freunden in Washington. Einflußreiche Leute. Und schließlich wird es am Ende eine republikanische Verwaltung geben.« »Weshalb fragst du nicht deinen Freund Joe Cannon? Seit Onkel Joe vor drei Jahren wiedergewählt wurde, ist er einer der einflußreichsten Männer im Kongreß geworden. Schreib ihm einfach.« »Das habe ich in der vergangenen Woche schon getan. Aber ich frage auch dich. Ich betrachte diese Angelegenheit genauso, wie Grant und Sherman eine Schlacht betrachtet haben. Das Ziel ist zu siegen. Man zieht schließlich nicht mit einem Regiment in die Schlacht, wenn man ein ganzes Armeekorps auf die Beine stellen kann.« »Du redest trotzdem mit dem falschen Mann. Mein Verstand und meine Moralvorstellungen wehren sich dagegen, daß diese Nation kleineren und schwächeren Ländern ihren politischen Willen und ihre wirtschaftliche Überlegenheit aufzwingt.«
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»Weshalb, Carl? Expansionismus ist ein erklärtes Prinzip der Partei. Eine der Säulen des Programms. In der Mehrzahl denkt das Volk genauso.« »Dann irrt es eben mehrheitlich. Damit sind die Republikaner fast genauso verabscheuungswürdig wie Bryan.« »Lassen wir mal alle politischen Ansichten beiseite, wir werden wahrscheinlich kämpfen müssen. In allen Zeitungen steht es so.« Schurz schnaubte verächtlich. »Sie beeinflussen die Meinung. Hearst, Pulitzer – die ganze Bande.« »Und wenn schon. Wenn es zum Krieg kommt, möchte ich dabei sein. Ich bitte dich um jede Hilfe, die du mir geben kannst. Ich habe dich nie zuvor um etwas gebeten.« Schurz schwieg einen Moment lang. »Und wie denkt Ilsa darüber?« »Sie ist dagegen. Ganz entschieden sogar. Genauso wie du hat sie etwas gegen einen Krieg. Aber das ist unwesentlich.« Carl Schurz sah seinen Freund lange und fragend an. Dann lachte er. »Immer noch der hartnäckige Deutsche, nicht wahr?« »Du meinst, ich bin stur? Ja, das ist ein Privileg des Alters. Hilfst du mir?« »Natürlich. Ich kann zwar gegen den Krieg sein, aber über eine Freundschaft kann ich mich nicht hinwegsetzen. Ich werde tun, was ich kann, um der alten Zeiten willen.«
79 PAUL Iz Pflaum zeigte an einem Dienstagabend nach dem Varietéprogramm den Wabash Cannonball. Paul, Shadow und Jimmy saßen eingepfercht in eine Kabine, die vom hinteren Teil des Saals mit Vorhängen abgetrennt war, und beteten, daß der Luxograph-Projektor nicht streiken möge. Mary rutschte in der letzten Sitzreihe direkt vor ihnen aufgeregt hin und her. Iz Pflaum sagte den Film höchstpersönlich an und trat dazu in einem Frack vor den Vorhang. Er warnte das spärlich vorhandene Publikum, daß jeder in schwächlicher oder angegriffener Verfassung sich an seinem Sitz festhalten oder vielleicht sogar besser hinausgehen solle. Dies rief Kichern und Pfiffe hervor. Es erhob sich jedoch niemand, um hinauszugehen. In der Kabine legte Shadow den Schalter um und drückte die Daumen. Erstickte Schreie und unterdrückte Seufzer waren zu hören, als auf der improvisierten Leinwand plötzlich das Bild eines heranrollenden Eisenbahnzugs aufleuchtete. Der Cannonball wurde größer und größer und schien genau auf das
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Publikum zuzurasen … schon war der Kuhfänger deutlich zu erkennen – das Flaggenemblem darüber – sogar das Motto der Eisenbahnlinie. »O mein Gott!« rief Mary, als Besucher von ihren Plätzen aufsprangen, auf den Gängen wild um sich schlugen und traten und zu den Ausgängen rannten. Drei schafften es nicht, weil sie ohnmächtig wurden. »Das war sensationell, haben Sie gesehen, wie schnell der Saal sich geleert hat?« fragte Pflaum, nachdem er die drei Ohnmächtigen mit Ammoniakdämpfen geweckt hatte und auch sie hinausgestolpert waren. Shadow nickte. »Aber das nicht der einzige Zweck der –« »Hervorragende Rausschmeißer, Oberst. Ich will Ihre Filme – zehn Stück, und zwar bis Ende der Woche. Ich miete den Projektor, und Sie bringen meinem Neffen Herk bei, wie man ihn bedient. Kommen Sie morgen um elf zu mir, dann schließen wir einen Vertrag.« Die vier Angehörigen der Luxograph-Gruppe kehrten ins Levee zurück und tranken viel zuviel Bier, um den Erfolg zu feiern. Am nächsten Morgen – der Kopf dröhnte ihm – wollte Paul von Shadow wissen: »Woher sollen wir die Filme so schnell bekommen?« »Wir drehen sie, verdammt noch mal. Was meinst du denn, weshalb ich dich und Jimmy eingestellt habe? Als lebendigen Zierrat? Guck nicht so finster, Junge. Ich nenne das schöne Probleme. Wir sind auf dem Weg nach oben. Wir sorgen dafür, daß Iz Pflaum so laut nach unseren Filmen schreit, daß er sich in die Hose macht – und seine Brieftasche weit für uns öffnet.« Paul konnte sich nicht erinnern, jemals eine derart hektische Woche erlebt zu haben. Während Mary sich um das Guckkastenstudio kümmerte, rasten er, der Oberst und Jimmy in einem Mietwagen von einem Ende der Stadt zum anderen. Sie filmten Sommerregen im Jackson Park und Soldatendrill in Fort Sheridan. Dann drehten sie Die Hochbahn in einer Kurve und Professor Milos tanzender Dackel. Auf dem Dach, vor dem Hintergrund der nachgemachten Ziegelmauer, nahmen sie Ein Päckchen Niespulver auf, wobei Mary das Niesen übernahm. Sie hat eine komische Begabung, dachte Paul. Sie agierte auch graziös in Tanz der Schmetterlingsdame, ein durch und durch ehrbares Schauspiel, bei dem sie ein dreifaches Kostüm trug und nichts Aufregenderes als ihre Knie entblößte. Mit Jimmy und einem Mädchen aus dem Levee als Darstellerpaar filmten sie Brennende Lippen, die direkte Imitation eines der größten Edison-Erfolges, nämlich vierzehn Meter ununterbrochenen Küssens der Broadwaydarsteller May Irwin und John Rice. Draußen in Elgin entstand Arbeit in der Uhrenfabrik und in der Clark-Straße Die Straßenbahn kommt. Während Paul die Kamera neben den
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Gleisen aufstellte, lief Shadow los, um zwei Polizisten Geld in die Hand zu drücken, die den gesamten Verkehr bis auf die heranrollende Pferdebahn gestoppt hatten. Am Bordstein unterhielt Jimmy sich mit zwei ziemlich aufreizend aussehenden Mädchen und erzählte ihnen, was für ein hervorragender Tänzer er sei. »Komm schon her, Daws!« rief Shadow. Jimmy schlenderte widerwillig über die Straße. Shadow stampfte mit dem Fuß auf. »Beweg deinen Hintern! Ich bezahl’ dich schließlich nicht dafür, daß du mit deinen Schnallen herumpoussierst.« Mit hochrotem Kopf fragte Jimmy: »Soll ich kurbeln?« »Das erledigt Dutch, er dreht gleichmäßiger. Du hältst das Stativ fest. Und zwar jetzt, verdammt noch mal, da kommt nämlich die Scheiß-Pferdebahn!« Die erste Partie Rausschmeißer war ein voller Erfolg, obgleich sie nur mit einem einzigen Projektor und mit einer Pause von zwei Minuten dazwischen gezeigt wurden. Iz Pflaum wollte mehr – alle zwei Wochen fünf neue Filme. Und wo es die eine Möglichkeit gab, fänden sich sicherlich noch weitere. Shadow verpachtete das Guckkastenstudio an zwei Unternehmer mittleren Alters aus dem Levee. Persönlich holte er die Karten aus dem Apparat, der den Chinesischen Traum zeigte, und schloß das Hinterzimmer. Er wollte nicht, daß irgendwelche Polizisten oder Tugendwächter seine Vision störten – ein neues, größeres photographisches Imperium, in dem billige Pornographie keinen Platz hatte. Er gestaltete sein Unternehmen zur American National Luxograph Company um. Weil Shadow die Gunst der Stunde nutzen wollte, trieb er sich selbst und seine Angestellten zu bisher nicht dagewesenen Anstrengungen an. Er fand ein kommerziell arbeitendes Studio, das Filmmaterial rollenweise verarbeiten konnte. Er übertrug ihm den Auftrag, seine Negative zu entwickeln und Kopien herzustellen. Dennoch war nie genug Zeit, um zu irgendwelchen Orten zu eilen und einminütige Aktualitätenstreifen zu drehen, wie der Oberst sie mittlerweile nannte, und gleichzeitig einen zweiten Projektor im Keller zu bauen. Shadow hatte nämlich gute Verbindungen zu einem Varieté in Indianapolis, das von Pflaums Erfolg gehört hatte und mit ihm gleichziehen wollte. Während des Sommers und des Frühherbstes befand sich Paul ständig in einem trancehaften Zustand der Erschöpfung. Er schlief pro Nacht nur vier Stunden, wenn er Glück hatte fünf. Jeden Morgen um sechs Uhr früh stolperten sie hinaus, um zu filmen, bis die Abenddämmerung einsetzte und das Licht nachließ. Um ein oder zwei Uhr morgens stellten sie Listen mit möglichen
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Filmthemen zusammen. Parade der Radfahrer, Ausritt und Drill der Parkpolizei Paul hatte etwas von einem Film Lumieres gelesen, Canale Grande, Venedig, der von einer Gondel aus gedreht worden war; und von Niagarafälle, einem Edison-Film, der vom Aussichtswagen der NiagaraEisenbahn aufgenommen worden war. So entstand die Idee zu Auf der Lagune, einer vergnüglichen Bootsfahrt über das sonnenbeschienene Gewässer im Lincoln-Park. Um möglichen Protesten Jimmys vorzubeugen, sagte Paul, er werde rudern, während Jimmy die Kamera im Bug des Ruderbootes bedienen solle. Jimmy selbst hatte auch einen Einfall – Seifenblasen –, der, wie Shadow meinte, ziemlich simpel sei, dem Publikum jedoch gefiel und beklatscht wurde. Allerdings war dies Shadows Genialität zu verdanken. An einem windstillen Tag stellte er die Kamera auf dem Dach auf, so daß die Seifenblasen im Sonnenlicht funkelten und glitzerten. Für einen Autodidakten hatte er ein bemerkenswertes Auge. Aber wer in aller Welt hätte anders als auf diese praktische Art und Weise dieses neue Handwerk erlernen können? Paul lernte durch die Beobachtung seines Mentors, der seine Ziele mit Hartnäckigkeit von der praktischen Seite anging. Er dachte sich einen guten, überzeugenden Hintergrund aus, dann fügte er den Faktor der Bewegung hinzu. Er lag wach im Bett, während er eigentlich hätte schlafen sollen, und entwickelte in Gedanken Kameraeinstellungen. Mitkonkurrenten gingen dazu über, Kurzfassungen von damals aktuellen Bühnenstücken aufzunehmen. Dies erinnerte Paul an Fritzi und die Autoren, die sie bewunderte. Während einer ihrer nächtlichen Konferenzen äußerte er den Namen »Shakespeare« fast schüchtern, und Shadow reagierte sofort voller Eifer. »Ich mag zwar keine Bühnengeschichten, aber dieser Bursche scheint eine Klasse für sich zu sein. Ich habe von Schauspielern, die ich kenne, eine Menge über ihn gehört. Laßt mich mal nachdenken … Moment mal.« Er massierte seine Schläfen. »Wie heißt noch diese Show, wo der Schwarze seine Frau umbringt?« »Ich glaube, das ist Othello.« Jimmy verschränkte die Arme und senkte den Blick. »Das versuchen wir mal.« Sie engagierten einen Farbigen, William Soames, der als Hausmeister mehrere Bars im Levee betreute. Soames war um die vierzig Jahre alt, stets freundlich und etwas schüchtern, aber athletisch gebaut mit breiten Schultern und kräftigen Armen. Shadow engagierte außerdem eine Dirne aus der Nachbarschaft namens Katie Favors, ein kleines Ding mit blonden Locken. Zuerst war sie nicht besonders begeistert, sich mit einem Neger zu beschäftigen, aber sie änderte ihre Haltung, als sie hörte, daß es darum ging,
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einen dieser neuen Filme aufzunehmen. Auf dem Dach, mit einem Hausmantel bekleidet, auf den Mary gebrauchtes Weihnachtslametta aufgenäht hatte, unterhielt der Mohr von Chicago sich nervös mit einer ebenso nervösen Desdemona aus dem Freudenhaus. Katie Favors trug ein hellgraues Nachthemd mit einem Spitzenkragen, der ihren weißen Hals frei ließ. Sie sah wirklich bezaubernd aus, beinahe unschuldig, dachte Paul. Den Hintergrund bildete eine neu gemalte Ziegelmauer mit Rundbögen, die arabische Nächte vortäuschten. Das einzige Requisit war Pauls Bett. »Würge sie!« brüllte Shadow, als sie zu drehen begannen. »Ich will Ihnen nicht weh tun, Miss Favors«, sagte William Soames, während er behutsam seine rechte Hand um Katies Hals legte. Er fletschte die Zähne, sie klimperte mit den Wimpern. Sie schwankten ziemlich vorsichtig vor und zurück. Schließlich stieß Soames sein Opfer auf das Bett. Sie faßte sich an die Stirn und schied dahin. Shadow trat zurück. »Schrecklich. Mein Gott, Willie, du benimmst dich, als hättest du es mit einer Porzellanpuppe zu tun. Dieses Luder hat dich betrogen. Sie ist mit einem anderen Burschen ins Bett gestiegen – richtig, Paul?« »Nun, er glaubt es. Tatsächlich –« »Du bist wütend darüber, Willie. Schüttle sie! Verdreh die Augen! Fauche! Brülle! Filmen kostet Geld. Mach es diesmal ordentlich, oder ich zahle dir nichts.« Mit diesen Empfehlungen lieferte William Soames eine Darbietung ab, die jeden zu Beifallsstürmen hinriß. Er würgte Katie Favors mit beiden Händen und schüttelte sie so heftig hin und her, daß sie mit erstickter Stimme wütende Flüche ächzte. William verdrehte die Augen und knirschte mit den Zähnen, wie man es ihm erklärt hatte. Speichelflocken traten auf seine Unterlippe, was Shadow geradezu in Ekstase versetzte. Dann gab Katie Favors sich auch noch besondere Mühe, vollführte auf dem Bett ein paar zuckende Bewegungen mit den Beinen und bäumte sich auf, ehe sie ihren letzten Schnaufer tat. Als Paul mit dem Drehen aufhörte, kniete William Soames sich neben Katie, streichelte ihre Hände und entschuldigte sich, daß er sie so grob behandelt hatte. Sie richtete sich auf und massierte ihren geröteten Hals. »Ach, es ist schon gut, mit ein wenig Salbe läßt sich das in Ordnung bringen. Ich hab’ mich ja selbst auch hineingesteigert. Das hat richtig Spaß gemacht, nicht wahr?« Als Der Tod der Desdemona von William Shakespeare das erste Mal bei Pflaum gezeigt wurde, sorgte er für eine Sensation. Frauen bedeckten die
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Augen und schrien laut. Männer sprangen auf die Sitze und brüllten: »Lyncht den dreckigen Nigger!« Verängstigt, aber durchaus stolz, mußte der friedliche Soames durch eine Seitentür hinausgeschleust werden. Die ständige Hetze, das Verteilen von Schmiergeldern, um an Orte zu gelangen, die ihnen ansonsten versperrt geblieben wären, das Ausdenken von Themen, die Arbeit unter dem Druck der Termine, die Pflaum vorgab, all das schuf eine anhaltende Krisenstimmung, die nur ein junger Mensch oder ein Besessener wie Shadow lange ertragen konnte. Paul fiel es durch diese Situation leichter, die Erinnerung an die Szene vor der St. JamesKirche und die Beschreibungen des anschließenden Empfangs zu unterdrücken, die die Zeitungen in allen schmerzlichen Einzelheiten veröffentlicht hatten. Er verausgabte sich ganz bewußt, und im Laufe der Zeit nahm der Schmerz allmählich ab. Aber nicht vollständig. Soweit würde es niemals kommen. Nach und nach und ohne bewußt den Plan zu verfolgen, wurde Paul zum Seniorpartner der Shadow-Truppe. Der Oberst fragte Paul nach seiner Meinung, nicht Jimmy. Wenn Paul und Jimmy im Keller aushalfen und den neuen Projektor zusammenbauten, drückte Jimmy sich – indem er nach oben ging, um eine Zigarette zu rauchen oder sich auszuruhen –, wann immer er glaubte, es sich erlauben zu können. Ihn interessierte das Ganze gar nicht. Paul, der spürte, daß Jimmy ihr geänderter Status störte, staunte über das widersprüchliche Verhalten der Menschen. Jimmy war selbst dafür verantwortlich, daß er in der Gunst seiner Mitmenschen sank, doch er gab jemand anderem die Schuld daran. Als der Oberst einen Zug bestieg, um seinen zweiten Projektor in Indianapolis zu vermieten – ein dritter war bereits halb fertig –, leitete Paul zwei Tage lang die Dreharbeiten. Sie konnten sich keine Verzögerungen erlauben. Paul und Jimmy verschafften sich mit ein paar Dollars Zugang zum Baseballstadion und filmten aus einer Position in der Nähe der Bank der White Stockings, wie die Heimmannschaft gegen ihren Gegner verlor. Auf den Tribünen wimmelte es von Leuten, die McKinley- oder BryanAbzeichen und Bänder trugen. Wieder einmal erledigte Paul fast die ganze Arbeit. Jimmy verbrachte die meiste Zeit damit, auf dem Geländer einer Loge zu sitzen und eine unscheinbare, aber elegant gekleidete Frau mit großem Busen zu beschwatzen. Als das Spiel zu Ende war und die Schatten länger wurden, legten sie das Luxograph-Stativ zusammen und verpackten ihre Ausrüstung in einem leeren, stillen Stadion. »Dir gefällt dieser Job nicht besonders, nicht wahr,
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Jim?« sagte Paul. »Warum bleibst du dann hier?« »Ich muß. Es dauert noch eine Weile, bis ich wieder mitmischen kann.« »Was soll das heißen, du kannst noch nicht mitmischen?« »Du würdest es nicht verstehen. Sagen wir einfach, ich bleibe so lange, bis ich was Besseres finde.« »Wie kann ein anderer Job besser sein als dieser?« »Dieser Scheißjob für ein paar Pennies? Mein Gott, Dutch, du bist wirklich seltsam.« Dann gab er Paul einen Rippenstoß und grinste. »He, hast du gerade die Frau gesehen? Sie ist verheiratet, die Loge gehört ihrem Mann. Er konnte heute nicht mitkommen. Sie sagt, er würde ihr nicht gerade viel von dem geben, was eine Frau so braucht. Ich werde Shadow erklären, daß ich Bauchschmerzen habe und heute nicht im Keller helfen kann. Ich gehe mit der Lady tanzen, und dann nehme ich sie mit ins Hotel Buxbaum und tanze mit ihr auf ‘ne andere Art. So lange, bis sie im Himmel ist.« Paul kniete sich hin, um den Kasten zuzuschnüren. Dabei wandte er sein Gesicht ab, um seine Verachtung für diese Art von Angeberei vor dem Prahlhans zu verbergen. Auf der sonnigen Veranda saß Mrs. McKinley in einem großen Korbschaukelstuhl. Die Verandatür öffnete sich. Der Major kam heraus, gefolgt von einem zweiten Gentleman. Pfiffe und Hochrufe des Publikums begrüßten den Auftritt des Kandidaten. »Der andere Mann ist McKinleys Sekretär, George Cortelyou«, flüsterte Shadow vom Nebensitz. Der Major las Schreiben, in denen ihm seine Nominierung mitgeteilt wurde. Mit zufriedener Miene gab er die Telegramme seinem Sekretär zurück und nahm den Hut ab. Aus der Hosentasche holte er ein weißes Taschentuch. Paul saß gebannt in der Dunkelheit, während die silbernen Bilder über sein Gesicht flimmerten. Der Major wischte sich über die Stirn und die Wangen. Das Bild verschwand, und zurück blieb die leere Leinwand. Ein zusammengeraffter Samtvorhang fiel von oben herab. Im Zuschauerraum flammten die Lichter auf, der Applaus versiegte, das Publikum erhob sich und ging hinaus. Major McKinley zu Hause hatte kaum länger als eine Minute gedauert. Die Wahl sollte am Dienstag stattfinden. Wahrscheinlich würde der Film danach zurückgezogen. Paul und Shadow waren noch einmal hingegangen, um ihn sich ein zweites Mal anzusehen und die Technik zu studieren. Viel Technik zu studieren gab es nicht. Die Kamera filmte aus einer festen Position in McKinleys Vorgarten. Dennoch war Paul von der Realitätsnähe
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fasziniert. Shadow ebenfalls. Während sie durch den Mittelgang schlenderten, sagte er: »Das ist das Geniale an den Filmen, Dutch. Die Aktualität. Gesichter und Orte, die man früher nie zeigen konnte. Die Franzosen haben Die Krönung des Zaren von Rußland gedreht, Edisons Leute Die Ankunft des chinesischen Vizekönigs im Waldorf Hotel. Alle interessieren sich nur noch für Aktuelles.« »Ich wünschte, wir hätten diesen Film drehen können.« »Keine Chance. Das Recht dazu hat sich von Anfang an Biograph gesichert. Der Bruder des Kandidaten, Abner, ist doch an der Firma beteiligt. Desgleichen der ehemalige Präsident Harrison. Der Eigentümer dieses Theaters ist ein Republikaner. Vielleicht hätten wir unsere eigene Version von McKinley drehen sollen –« Shadow betrachtete eine gut entwickelte Kassiererin, die soeben mit der stählernen Geldkassette aus einem der Kassenschalter herauskam. »Wir hätten uns jemanden suchen sollen, der dem Major ähnlich sieht, dann hätten wir den Betreffenden in ein hübsches weißes Haus am North Shore setzen und das ganze Canton nennen sollen – aber hör mal, entschuldige mich kurz. Verrate aber Mary nicht, wohin ich gegangen bin.« Der Oberst eilte hinüber zu der Kassiererin, verneigte sich, zog elegant seinen Sombrero und begann, auf die Frau einzuflüstern. Die Kassiererin kicherte. Er ergriff ihren Arm. Paul kehrte allein nach Hause zurück und amüsierte sich über Shadows unbeschwerte Unmoral. Es war seltsam, daß er beim Oberst darüber hinwegschauen konnte, die gleiche Eigenschaft bei Jimmy Daws hingegen verurteilte. Er wünschte sich, Jimmy würde wieder »mitmischen«, was immer das zu bedeuten hatte. Versteckte er sich etwa vor jemandem? Das hätte Paul nicht im mindesten überrascht. William Jennings Bryan war wie ein Nebraskaorkan von Wahlveranstaltung zu Wahlveranstaltung gefegt und hatte Tausende mit »Die Rede« aufgerüttelt. William McKinley saß auf seiner Veranda in Canton und ließ andere für sich den Wahlkampf führen. Darunter sogar ein Ersatz – ein Doppelgänger auf einem Zelluloidstreifen, der Bild für Bild durch einen erleuchteten Kasten gezogen wurde. Niemand konnte entscheiden, in welchem Ausmaß die Wahl durch die wiederholte Vorführung von Major McKinley zu Hause in großen Städten drei Wochen vor dem 3. November beeinflußt wurde. Nur das Ergebnis war unmißverständlich. Bryan verlor mit sechshunderttausend Stimmen. Amerika legte die Kontrolle des Senats und des Kongresses wieder in die Hände der Republikaner. Anständige Menschen konnten wieder beruhigt schlafen. Das Gespenst der
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Doppelwährung war gebannt. Der November brachte dunkle Wolken und eisigen Regen. Paul und alle anderen Bewohner von Chicago rochen den Winter im Wind. Shadows wahnsinniges Arbeitstempo ließ kein bißchen nach. Er jagte mit glasigen Augen von der Kamera hinunter in seinen Keller und weiter zum Bahnhof. Er raste von Stadt zu Stadt, suchte neue Vorführmöglichkeiten und Filminteressenten, handelte günstige Geschäfte aus und wehrte sich gleichzeitig gegen konkurrierende Gesellschaften. Die größte war Edison Vitaskop, die von dem Gespann Raff und Gammon geleitet wurde, zwei Männer, die Edisons Guckkastenshows international erfolgreich vermarktet hatten. Shadow stellte einen dritten Projektor in einem Varietétheater in Louisville auf und schloß Verträge für einen vierten in Milwaukee ab. Er mietete einen leeren Herrenbekleidungsladen in Peoria mit der Absicht, seine eigene Show aufzubauen und zu zeigen. Er erklärte Paul, daß er gegen ein niedriges Gehalt einen örtlichen Betreiber und Geschäftsführer einstellen würde und daß jeder Gewinn der Firma gehörte. Vorausgesetzt, es fanden sich genügend Zuschauer. Die Varietétheater lockten bereits ein recht umfangreiches Publikum an, und Shadow erhielt einen kleinen Prozentsatz von jeder Eintrittskarte, die dort verkauft wurde, wo seine Filme liefen. Es war also möglich, daß das Arrangement sich nicht als erfolgreich erweisen würde. Die Abrechnung für Peoria konnte durchaus rote Zahlen ergeben. Aber er wollte es versuchen. »Wenn man untätig bleibt, kommt man nicht voran. Und diese Firma hat noch einiges vor, das kannst du mir glauben!« »Das tu’ ich«, erwiderte Paul. Für das örtliche Publikum drehten sie im Dezember Der ehrenwerte Bathhouse John. Es war ein strenger Wintertag mit diamanthartem Sonnenlicht; der Tag, an dem der festliche Ball des Ersten Bezirks, der First Ward Ball, in der Seventh Regiment Armory, der Exerzierhalle des Siebten Regiments, stattfand. Unter der Schirmherrschaft von Coughlin und Kenna war der Ball die wichtigste Veranstaltung, um vor der Wahlkampagne im Frühjahr Geld einzunehmen. Jeder, der in einem der Vergnügungsviertel von Chicago Geschäfte machte, mußte Eintrittskarten erwerben. Die ganze Nacht lang kamen Glücksspieler und Kadetten, Bordellbesitzerinnen und ihre Mädchen inmitten von Luftballons und Konfetti zusammen, tanzten auf gebohnertem Parkett, tranken und gaben sich in Privatkabinen, die mit Grünpflanzen,
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patriotischen Fähnchen, Werbeplakaten – und Vorhängen versehen waren, anderen Vergnügungen hin. Bathhouse John erschien vor der Halle in einer ganz besonderen Garderobe, die er für die Festlichkeiten der Nacht, die um acht Uhr beginnen sollten, zusammengestellt hatte. Paul wünschte sich insgeheim Filmmaterial, das auch Farben wiedergab, denn Bathhouse John sah aus wie ein Pfau: Sein Frack war grün wie ein Billardtisch, Hose und Krawatte waren blauviolett, die Weste taubengrau und die Handschuhe pinkfarben. Außerdem trug er gelbe Schuhe mit hohen Absätzen und einen glänzenden schwarzen Zylinder. Shadow stellte seine Truppe vor. Bathhouse John fixierte zuerst Paul, dann Jimmy. »Ich hab’ euch Burschen doch schon mal gesehen.« »Auf der Rennbahn«, sagte Jimmy. Paul schüttelte den Kopf. »Zum erstenmal sind wir einander in Rooneys Tempel der Photographie begegnet.« »Recht hast du. Ein ganz neues Gebiet für euch beide, nicht wahr? Bilder, die über eine Wand hüpfen. Ich liebe dieses moderne Zeug. Baut euren Kram da vorne auf!« Sie schüttelten einander die Hände. Nach Shadows Anweisungen stellte Paul den Luxographen so auf, daß er filmen konnte, wie der Ratsherr vor der Steinmauer der Exerzierhalle auf und ab ging. Es gab ständige Störungen, wenn Wagen eintrafen und Helfer kastenweise Bier und Wein ausluden. »Ist das nicht toll?« fragte Bathhouse John und deutete mit einer theatralischen Geste auf die Wagen. »Das ist Demokratie, wie man sie sich wünscht, nicht wahr?« »Gehen Sie bitte weiter, Herr Stadtrat!« rief Shadow ihm durch ein kleines Megaphon zu, das Paul vorher noch nicht bei ihm gesehen hatte. Er hielt es für übertrieben, aber so war Shadow nun mal. Der Oberst hatte sich für diesen Anlaß mit seinem feinsten weißen Sombrero, einem Frack und einer Krawatte herausgeputzt. Bathhouse John lächelte und verbeugte sich vor der Linse. Dabei legte er eine Hand auf den Bauch, die andere auf den Rücken. Paul drehte, bis das Filmmaterial verbraucht war. »Jungs, das hat mir Spaß gemacht.« Erneut schüttelte der Ratsherr jedem die Hand. »Ich werde bei Pflaums in der ersten Reihe sitzen, wenn ihr den Streifen das erste Mal vorführt. Da habt ihr Eintrittskarten für den Ball. Und ein paar Getränkebons gratis.« Paul schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber ich bin müde, Sir. Ich glaube nicht, daß ich reingehe.« »Natürlich wirst du. Der Ball ist ein sehenswertes Ereignis«,
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widersprach Shadow und winkte mit seinem Megaphon. Nach ein paar Schlucken aus der Taschenflasche, die Coughlin ihm großzügig gereicht hatte, war er ziemlich aufgekratzt. »Du wirst ein paar herrliche Stunden verbringen und dich nachher gerne daran erinnern. Vorausgesetzt, du fängst dir keinen Tripper.« Shadow hatte recht, der Ball war wirklich sehenswert. Um halb acht drängten sich mehrere tausend Menschen in der Halle. Um zehn Uhr, als Bathhouse John und Hinky Dink den großen Umzug durch den Saal anführten, herrschte ausgelassene Stimmung. Paul war mittlerweile in sein Zimmer zurückgerannt, hatte seine besten Kleider angezogen und seine Haare mit ein wenig Makassaröl geglättet. Er stand nun etwas abseits mit einem Bierkrug in der Hand und verfolgte belustigt das Schauspiel. Die Mode der Zuhälter reichte von eleganten Fräcken bis zu Anzügen in den schreiendsten Farben. Junge Dirnen trugen alle möglichen Kostümierungen: Holzschuhe und gelbe Zöpfe, indianische Gewänder und Federschmuck, Ball- und sogar Hochzeitskleider. Eine Geisha mit weißgeschminktem Gesicht gab ihm einen langen, feuchten Kuß und flüsterte ihm zu, an diesem Abend täte sie es umsonst. Er tätschelte ihr tintenschwarzes Haar, das sie mit Ziernadeln hochgesteckt hatte. »Vielen Dank. Später vielleicht.« Kellner trugen im Laufschritt Tabletts mit Bierkrügen und Whiskeygläsern durchs Gedränge. Tänzer kreisten durch den Saal, gaben sich dem Walzer, den schottischen Tänzen oder einer Polka hin. Stündlich wechselte die Musikkapelle auf dem Podium. Dabei ging es nur um Lautstärke und nicht um besonders ausdrucksvolle Spielweise. Bernhard’s German Band trat gegen Mitternacht auf. Mittlerweile hatte Paul reichlich Bier getrunken. Er ging nach unten auf die Herrentoilette. Dabei mußte er durch ein dunkles Stück Gang zwischen den Verkaufsständen der Brauereien und überraschte ein Paar, das sich im Stehen liebte. Als er in den Saal zurückkehren wollte, begegnete er einer kleinen Blondine namens Tippy, die er aus seiner Zeit als Wäschereifahrer kannte. Sie umarmten einander und begrüßten sich herzlich. Tippy war stets fröhlich aufgelegt, was ihm schon immer gefallen hatte. Sie hielten sich bei den Händen, und er stahl ihr ein paar Küsse, nachdem er ihre Bierkrüge hatte nachfüllen lassen. Als Bernhard’s German Band eine Polka intonierte, klatschte Tippy in die Hände. »Paul, weißt du, wie es geht?« »Ja, meine Tante hat es mir Vorjahren in den Berliner Biergärten
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beigebracht. Aber ich tanze nicht sehr gut.« »Nicht schlimm. Komm schon!« Jimmy, der einen billigen karierten Anzug trug, kam in diesem Moment vorbei. In seiner Begleitung befand sich ein Mädchen aus dem Levee, die Fat Marie – Fette Marie – gerufen wurde, ein Name, dem sie in jeder Hinsicht gerecht wurde. Er hörte den kurzen Dialog. Mit einem Seitenblick zu Paul sagte Jimmy: »Zum Teufel, Marie, ich war schon als Kind der beste Polkatänzer. Komm, zeigen wir ihnen, wie es geht.« »O Gott, Jim, bitte keinen Wettstreit«, sagte Paul und versuchte das Ganze scherzhaft zu nehmen. »Was ist daran so schlimm? Hast du Angst, dich lächerlich zu machen?« Paul funkelte ihn wütend an. »Verdammt noch mal, ich habe keine Angst!« Er legte einen Arm um Tippy. »Dann mal los.« »Der erste, der hinfällt, hat verloren«, sagte Jimmy. Er eilte mit seiner benommenen Begleiterin aufs glatte Parkett und schwenkte sie im Rhythmus der Band herum. Paul und Tippy folgten ihnen schnell. Die kleine Blondine lachte ausgelassen, klammerte sich an Pauls Hand und Hüfte fest. Paare schwebten vorbei, auch Jimmy und seine Partnerin. Fat Marie schwitzte, ihr Gesicht war gerötet. Paul wirbelte schneller und schneller mit Tippy herum. Es war ein Gefühl, als würden sie von Windböen hin und her getrieben. Tippy schmiegte sich selig in seinen Arm. Sie drehten und duckten sich, drehten und duckten … Plötzlich, dicht hinter ihnen, rief Jimmy: »O verdammt!« Tippy hielt die Luft an. »Er ist gestürzt!« Paul blieb abrupt stehen und führte Tippy an den Rand der Tanzfläche. Jimmy war mittlerweile aufgestanden und stützte sich auf Fat Marie. Dann humpelte er zur nächsten Kabine’ und lehnte sich dagegen. Er legte den rechten Fuß auf sein linkes Knie und massierte das Gelenk. Fat Marie legte mitfühlend eine Hand auf seinen Arm. Jimmy brüllte sie an. Paul konnte die Worte bei dem Lärm nicht verstehen. Er brauchte es auch nicht. Jimmys Augen erzählten ihm genug. »Sollen wir aufhören?« fragte Tippy. Seine Vernunft verlangte ein Ja. Aber er spürte die Wirkung des Biers und wollte Jimmy eins auswischen. »Nein. Wir tanzen weiter.« Am nächsten Morgen erwachte er in Tippys Bett. Sofort tauchte vor seinem geistigen Auge der Ausdruck von Jimmys Augen auf, als Paul und Tippy die Polka beendeten. In den Augen hatte nackte Wut gelodert. Am selben Abend sagte Jimmy im gemeinsamen Zimmer: »Ich werde dir nicht vergessen, daß du mich vor allen lächerlich gemacht hast. Und
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danach hast du sofort deinen Sieg gefeiert.« »Jim, ich entschuldige mich. Ich hatte eine Menge Bier getrunken –« »Scheiß was drauf, ich brauche deine Entschuldigung nicht! Von jetzt an arbeiten wir nur noch zusammen. Wir sind keine Freunde und werden nie mehr welche sein. Verstanden?« Er drehte sich auf die andere Seite und wühlte den Kopf in sein Kissen. Paul lag auf dem Rücken und dachte betrübt: Als ob wir jemals die Chance gehabt hätten, Freunde zu werden … Paul schrieb mehrere Briefe an Wexford Rooney und schickte sie postlagernd nach Charleston, West Virginia. Anfang 1897 bekam er schließlich eine Antwort. Sie enthielt einige Neuigkeiten. »In gewisser Hinsicht behandelt das Leben mich nicht mehr so hart wie früher. So habe ich eine Bleibe in der Pension einer gewissen Mrs. Lucille Suggsworth gefunden. Sie ist eine feine, intelligente Person und verfügt über hervorragende kulinarische Fähigkeiten, die die meisten ihrer einfältigen Gäste nicht zu würdigen wissen, und sie ist voller Fürsorge und Wärme. Lucille hat im vergangenen Jahr ihren Mann verloren und ist seitdem Witwe. Wir stehen einander sehr nahe, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.« Der Brief enthielt auch einige Klagen. »Meine Fronarbeit im Nu-Age Photography Salon in Charleston ist, wie ich befürchtet hatte, eine schreckliche Erfahrung. Bei mir scheinen all die schreienden, jammernden, aufsässigen Kinder zu landen, deren idiotische Eltern sie für die Nachwelt unsterblich machen wollen. Gestern schaffte eines der kleinen Biester – gerade vier Jahre alt –, seine winzigen Zähne in mein Handgelenk zu schlagen, als ich versuchte, seine Pose zu verändern. Gott schütze mich vor der Tollwut!! Um das Ganze noch schlimmer zu machen, muß ich anschließend die Papierabzüge dieser Zwergmonster verschönern, indem ich ihre ach so lieblichen kleinen Lippen und Wangen mit dezenter Farbe versehe. Viel lieber würde ich ihnen die Augen schwärzen und ein paar Zähne entfernen – je häßlicher das Ergebnis ausfällt, desto lebensechter ist es! Mir fehlen die passenden Worte, um meine Umgebung zu beschreiben, außer daß dieser Ort eine kulturelle Einöde ist. Die geistig anspruchsvollsten Themen, über die man in Charleston redet, sind unter
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anderem die heimliche Trunksucht des Pastors und die Eigenschaften von Haus- und Landtieren. Bete für mich, daß ich nicht dem Wahnsinn verfalle!« In dem Brief standen auch die unvermeidlichen Ermahnungen. »Bei allem, was Du in Deiner neuen Laufbahn im Film zu unternehmen gedenkst, vergiß eines nicht: Ehrlichkeit und noch mal Ehrlichkeit! Ich hoffe inständig, daß Du schon bald den Wunsch äußerst, eingebürgert zu werden. Dies ist ein großes Land – unvergleichlich –, und das sage ich in voller Kenntnis all der moralischen, gesetzlichen und allgemeinen Unzulänglichkeiten von uns Amerikanern und unseres Systems. Ich sage das, obgleich ich weiß, daß dem roten Mann sein Land geraubt wurde, daß der schwarze Mann sehr leicht um seine schwer erkämpften Rechte betrogen wird – daß sogar der weiße Mann sich sehr oft wie ein Ausgestoßener vorkommen muß, wenn er aus der falschen Ecke des Globus hierher verschlagen wird und mit einem seltsamen Akzent spricht. Dennoch bietet Amerika unvergleichliche Möglichkeiten. Diese und die Idee, die man in diesem Land zu verwirklichen versucht – falls es überhaupt jemals gelingt! –, erscheint uns weiterhin reizvoll und verlockend. Gewiß wirst Du auf mich hören, wenn Du begreifst, daß diese Worte von jemandem kommen, der niemals all die zitierten Möglichkeiten für sich selbst hinreichend hat wahrnehmen können. Trotzdem glaube ich daran. Daher verwirf nicht den Gedanken, die Staatsbürgerschaft zu erwerben, auch wenn einige Dinge im Leben furchtbar enttäuschend ausgefallen sind. In ewiger Freundschaft W. Rooney.« Paul legte den Brief beiseite. Möglich, daß auch Wex enttäuscht war. Paul würde in Amerika bleiben und in seinem neuen Handwerk soviel wie möglich lernen. Aber die Staatsbürgerschaft? Nein; seit er Julie verloren hatte, war dies etwas, woran er nicht mehr interessiert war. Was der Bäcker aus Wuppertal über Amerika gesagt hatte, schien immer mehr der Wahrheit zu entsprechen. Im Februar 1897 begann der Schwergewichtsweltmeister James J. Corbett mit dem Training für seine Titelverteidigung gegen Bob Fitzsimmons.
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Gentleman Jim sollte am 17. März in Carson City, Nevada, auf seinen Herausforderer treffen. Seit Wochen hatte jeder, der sich auch nur annähernd für Sport interessierte, von nichts anderem gesprochen. »Es ist eine Schande, daß wir nicht mit dem Zug hinfahren und den Kampf filmen dürfen«, sagte Paul eines Abends beim Essen. Shadow zuckte die Achseln. »Wir sind nicht eingeladen worden. Wir hatten eben nicht die richtigen Empfehlungsschreiben zur Hand.« Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als würde er unsichtbares Geld zählen. »Enoch Rector’s Veriscope Company hat das Exklusivfilmrecht für den ganzen Kampf erworben.« Er wickelte eine von Marys zerkochten Spaghetti um seine Gabel und sog sie mit einem deutlichen Schmatzen in seinen Mund. »Aber keine Sorge, wir drehen trotzdem.« »Häh?« Dieses eine Mal sah sogar Jimmy ihn gespannt an. »Sie haben doch gerade gesagt –« »Was wir filmen werden, Freunde, nenne ich ein Gegenstück. Ich habe bereits einen Drehort angemietet. Eine Farm draußen in der Nähe von Wheaton. Ich war auf den Piers am Chicago-Fluß und habe nach möglichen Doppelgängern Ausschau gehalten. Unseren Corbett habe ich schon gefunden, unseren Fitzsimmons allerdings noch nicht. Aber ich werde ihn finden. Ich habe immer noch drei Wochen Zeit.« »Sie meinen, wir sollen eine falsche Reportage drehen?« fragte Paul. Shadow schien durch seine Frage verletzt zu sein. »Wer bestimmt hier die Firmenpolitik, du oder ich? Glaub ja nicht, daß unsere American National Luxograph die einzige Firma ist, die so was tut. Ich bekam einen Brief von Sig Lubin in Philadelphia. Er plant das gleiche. Rectors Film wird ausschließlich in einem Theater in Chicago gezeigt. Was soll Iz Pflaum da tun? Still dasitzen und jammern? Er ist ein Stammkunde – er verdient ebenfalls einen Boxfilm. Wir gestalten unsere Version genau und den Tatsachen entsprechend, hundertprozentig.« Shadow schlug mit der Faust auf den Tisch. Paul war sprachlos, und Jimmy amüsierte sich. Im April, zwanzig Tage nach dem Kampf und eine Woche vor der geplanten Premiere der authentischen Version Rectors, fuhren sie mit einer Wagenladung Ausrüstung und Bauholz nach Wheaton. Auf dem Acker errichteten sie einen wackligen Boxring. Spät am nächsten Tag, während Jimmy, Paul und der Oberst die Seile spannten, erschienen die beiden Hafenarbeiter. Einer schien ziemlich einfältig zu sein, der andere stank, wenn er ausatmete, wie ein altes Weinfaß. Am folgenden Morgen zogen die Hafenarbeiter in der Scheune, wo sie alle schliefen, Trikots und Boxhandschuhe an. Die Männer hatten nur
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entfernt Ähnlichkeit mit den Bildern von Corbett und Fitzsimmons, obgleich der Mann, der den Herausforderer darstellen sollte, zumindest teilweise kahl war. Die Kamera wurde auf eine Plattform gehievt, die auf Pfählen neben dem Boxring stand. Shadow agierte und brüllte, als handele es sich um einen echten Kampf mit ungewissem Ausgang. Unter einer Ulme, die noch nicht zu blühen begonnen hatte, bewachte Mary den Korb mit Rindfleischsandwiches und Apollinaris Mineralwasser, das sie gekauft hatten, damit die Kämpfer sich erfrischen konnten. Diesmal stand Shadow selbst an der Kurbel. Paul saß auf einem Hocker am vorderen Rand der Kameraplattform und hielt eine Ausgabe der Tribune in der Hand. Er hatte den langen Bericht aus Carson City ein halbes dutzendmal gelesen und einige Passagen unterstrichen. Jimmy stand in einem gestreiften Hemd und mit einer Mütze auf dem Kopf bereit. Eine silberne Ringrichterpfeife hing an einer Schnur um seinen Hals. Der Bauer und sein Sohn mimten die Betreuer der beiden Kämpfer. Shadow hatte sie im Gebrauch von Wassereimern und Schwämmen zwischen den Runden unterwiesen. Shadow begann zu kurbeln. »Action. Fang an zu lesen, Dutch!« »Runde eins. Gentleman Jim tanzte leichtfüßig aus seiner Ecke heraus, während der Mann aus Cornwall schwerfällig in die Ringmitte schlurfte. Fitzsimmons setzte zu einem Schwinger an, der danebenging. Corbett erwischte ihn mit einer linken Geraden.« Der Hafenarbeiter, dessen Haar für die Corbett-Rolle schwarz gefärbt worden war, schlug gehorsam zu. Der falsche Fitzsimmons taumelte. Paul dachte an Wex’ Ermahnung zur Ehrlichkeit. Sein Gewissen krümmte sich gepeinigt. »Ein weiterer vergeblicher Schlag traf die Luft und sonst nichts. Dann antwortete der Champion mit einer florettartig geschlagenen Geraden …« So ging es weiter, Runde für Runde, mit Pausen, um neues Filmmaterial einzulegen und den Darstellern Gelegenheit zu geben, sich auszuruhen. Wahrend des eigentlichen Kampfes hatte Jim Corbett in der vierzehnten von fünfzehn angesetzten Runden achtlos seine Deckung sinken lassen, und der angeschlagene Mann aus Cornwall war mit einem linken Körperhaken durchgekommen. Der Schlag, danach nur noch Solar-Plexus-Haken genannt, warf Corbett bis zehn auf den Rücken und kostete ihn die Weltmeisterschaft. Sie filmten den nachgestellten Treffer um zehn nach eins am Nachmittag. Sie beglückwünschten einander und feierten den Abschluß der Dreharbeiten mit mehr als drei Litern billigen Whiskeys. Der »exklusive« Film vom Corbett-Fitzsimmons-Kampf, »eine dramatische Darstellung« der American National Luxograph, hatte Ende
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April bei Pflaum Premiere. Obgleich auch der offizielle Rector-Film gezeigt wurde, verzeichnete Shadows achtzehnminütige Version mit den Höhepunkten recht gute Einnahmen, die Iz Pflaum mehr als zufriedenstellten. Und Paul um so mehr desillusionierten: »Merkt das Publikum denn den Unterschied nicht?« »Natürlich merken sie den Unterschied«, sagte der Oberst. »Dir entgeht das Wesentliche, mein Junge. Es macht ihnen nichts aus. Jeder Film ist für die Leute immer noch etwas Neues und Sensationelles.« »Nun ja, wie Sie mir ja schon klargemacht haben, als ich das erste Mal etwas dagegen geäußert habe, das Ganze ist allein Ihre Angelegenheit. Aber ich muß einfach loswerden, was mir durch den Kopf geht. Ich denke, wir sollten diese nachgestellten Filme nicht mehr drehen. Wir sollten dorthin gehen, wo etwas geschieht, und sollten Bilder vom echten Ereignis mitbringen, keine Imitation.« Mary hatte ihre Mahlzeit beendet und polierte ihre Fingernägel. Jimmy spießte drei weitere Schweinswürstchen mit seiner Gabel auf. Voller Spott sagte Shadow: »Erinnerst du dich vielleicht noch daran, daß wir nicht nach Nevada eingeladen wurden?« Er wiederholte seine Geste des Geldzählens. »Aber es gibt sicherlich Orte, wo wir hinkommen, und wir sollten auch hingehen. Das haben Sie selbst an dem Tag geäußert, an dem Sie mich einstellten. Das hat mich sehr beeindruckt.« »Hat es das.« Shadow betrachtete seinen Helfer amüsiert. »Du denkst also, wir sollten niemals einen inszenierten Film drehen?« »Es sei denn, es handelt sich eindeutig um ein Spiel oder eine kleine Geschichte. Wenn das so dumm ist, dann tut es mir leid, aber es ist nun mal meine Meinung.« »Mein Gott, Dutch«, sagte Jimmy. »Du immer mit deinem vornehmen Getue.« »Moment mal, denken wir einmal weiter«, sagte Shadow. »Dutch, ich bin sicher, daß es mir durchaus ernst war, als ich diese Rede gehalten habe, obgleich ich mich offen gesagt kaum erinnern kann, was ich alles gesagt habe. Ich glaube noch immer, daß der Luxograph überallhin kommt und auch hingehen sollte. Das Problem ist nur, daß wir es uns im Augenblick nicht leisten können, viel weiter als nur bis zur Countygrenze zu reisen. Wir sind knapp bei Kasse. Jeder Penny, der reinkommt, geht für Rohmaterial und Bauteile drauf, die für den Bau eines weiteren Projektors nötig sind. Diese Nachinszenierungen – Fälschungen, wie du sie nennst – bilden unser Einkommen. Und ich versichere dir noch einmal – jeder stellt sie her. Smith und Blackton bei Vitagraph haben irgendeinen kleinen Wasserfall bei
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Passaic, New Jersey aufgenommen. Sie zeigen den Film überall an der gesamten Ostküste und nennen ihn Die Niagarafälle. Das Publikum ist begeistert. Soweit ich gelesen habe, hat bisher niemand – nicht ein einziger Mensch – die Hand gehoben und gesagt: ›Meine Herren, Moment mal, ich bitte Sie, ist das denn nicht Passaic? Ich gehe!‹ Wenn die Leute glauben, daß die Fälschung echt ist, und wenn die Fälschung leichter herzustellen ist, wem tut man damit weh?« »Wem? Ich weiß es nicht. Aber die Ehrlichkeit leidet.« »Na schön, wir schicken dich und Jimmy und die Kamera an alle wichtigen Orte auf dieser ganzen verdammten Welt, wenn wir dazu in der Lage sind. Und nur dann – merk dir diese Worte!« Paul sagte nichts darauf. Shadow sah völlig erschöpft aus. Dunkle Ringe lagen um seine Augen. Dies war nicht der Zeitpunkt, um über das Filmen zu philosophieren. Vielleicht glaubte Shadow ja doch an das Richtige und konnte es sich nur nicht leisten, wie er angedeutet hatte. Shadow gähnte. »Mary, könnte ich noch ‘nen Kaffee haben? Ich muß runter in den Keller, aber vorher sollte ich richtig wach werden.« »Was tust du denn? Arbeitest du an einem neuen Projektor?« fragte Mary. »Ja, an einem Modell mit mehr Leistung. Paul, hilfst du mir wieder?« »Klar.« Jimmys Augen verbargen seine Gefühle nicht. Wie lautete der amerikanische Ausdruck? Böses Blut? Paul konnte nicht leugnen, daß es da war. Zwischen ihnen war böses Blut. Mary brachte dem Oberst seinen Kaffee und pflegte dann wieder ihre Fingernägel. Nach ein paar Sekunden warf sie plötzlich das Polierleder auf den Tisch. »O Gott, Sid, ich hab’s völlig vergessen. Hast du schon die Post durchgesehen?« »Wann soll ich denn dazu Zeit gehabt haben? Ich bin schon froh, wenn ich eine halbe Minute erübrigen kann, um auf die Toilette zu gehen.« »Da war ein wichtiger Brief für dich. Zumindest sieht er wichtig aus.« »Ja, und von wem kommt er? Von ihrer Majestät, der Königin Viktoria?« »Er ist von der Edison Manufacturing Company in New Jersey.« Shadow erbleichte. »Mein Gott. Was meinst du, was die wollen?« »Vielleicht hat der große Mr. E. von deiner Arbeit gehört und ist so beeindruckt, daß er ein Autogramm haben möchte.« »Mary, das ist nicht mehr witzig.« Paul hatte Shadows Stimme noch nie so verschüchtert gehört und ihn selbst noch nie so erschrocken erlebt. »Wo ist der verdammte Brief?«
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80 JULIE An einem Junimorgen im Jahr 1897 nahmen Julie und ihr Ehemann das Frühstück auf der Marmorterrasse von Belle Mer ein, der Sommerresidenz, die Elstrees Vater in Southampton Village gebaut hatte. Das Haus stand zwischen der Kreuzung von First Neck Lane und Dune Road im Westen und der St. Andrew’s Dune Church, einer Kirche, in der während der Sommermonate regelmäßig Gottesdienste abgehalten wurden. Obgleich die Uhr erst halb neun zeigte, war der Tag bereits schwül. Der Himmel war bedeckt. Überall im Garten und im Wald ihres fünf Morgen großen Anwesens zwitscherten Vögel. Unterhalb des abfallenden Rasens, hinter der Düne und jenseits ihres Privatstrandes mit seinen »Durchgang verboten!«-Schildern warf der Ozean, der wunderbar laut rauschende Ozean, seine Brecher vom anderen Ende der Welt an den Strand. Julie trug einen Morgenmantel aus wattiertem Satin, der für die Jahreszeit eigentlich zu schwer war. Ihr kleiner Hund, Rudy, lag auf ihrem Schoß. Elstree hatte sich in seinem eigenen Schlafzimmer angekleidet und war in weißer Flanellhose und dunkelrotem Rock erschienen, der ihn als Mitglied des Shinnecock Hills Club auswies, wo er Golf zu spielen pflegte. An diesem Vormittag war er gegen zehn Uhr im Southampton Club zu einer Bridgerunde verabredet. Man spielte um die üblichen zwei Cents pro Punkt. Elstree sah sonnengebräunt und fit aus. Julie hingegen war blaß und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Es gab offenbar nichts, womit man sie hätte vertreiben können, nicht einmal wenn sie zehn bis zwölf Stunden in der Nacht schlief. Ihr schwarzes Haar hing ihr bis zur Taille herab. Es war gekämmt und gebürstet und in halber Länge mit einer weißen Schleife zusammengerafft. Sie trug ihr Haar immer lang, außer wenn irgendein gesellschaftlicher Anlaß verlangte, daß sie es hochsteckte. Es schien eine Möglichkeit zu sein, einen stummen, wenn nicht bitteren Kommentar zu ihrem Leben abzugeben: »Ich bin eine reiche Frau, von der nichts anderes erwartet wird als Gehorsam, feine Lebensart, ein ansprechendes Äußeres und die Geburt von einem oder mehreren Babys, vorzugsweise männlichen Geschlechts.« Er hatte in letzter Zeit ziemlich oft dieses Thema angeschnitten. Sowohl mit Worten wie auch auf andere Art. Sie hatte bereits eine Fehlgeburt hinter sich, im dritten Monat. Nachdem sie aus der Narkose erwacht war, in die der Arzt sie mit Hilfe eines Opiats versetzt hatte, hielt die Dumpfheit ihres Geistes mehrere Wochen lang an. Weinkrämpfe, Visionen von Paul oder
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tagsüber stundenlange Bettruhe bei zugezogenen Vorhängen. Sie trauerte um das arme namenlose Baby, das sie verloren hatte, doch ein Teil von ihr dankte Gott, daß das Kind niemals einen Vater wie Bill kennenlernen müßte. Ohne seinen Blick von seiner New York Times zu lösen, klopfte Elstree mit seiner goldgeränderten Kaffeetasse auf die goldgeränderte Untertasse, so daß sie klirrte. Eine junge Hausangestellte mit einer silbernen Kanne verließ sofort ihren Platz neben der nächsten Terrassentür. Während das Mädchen sich wieder zurückzog, sagte er: »Meine Liebe, gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Nach meiner Berechnung müßte es an der Zeit sein, daß –« »Nein«, unterbrach sie ihn. »Auch in diesem Monat keine Veränderung.« Und Gott behüte, daß sich etwas verändert, während diese neue Sache zwischen uns steht. »Du weißt genau, wie sehr ich mir einen Sohn wünsche. Am liebsten mehr als einen. Trifft es nicht zu, daß Probleme, wie wir sie im Augenblick haben, im allgemeinen von der Frau ausgehen?« »Ich bin keine medizinische Expertin, Bill.« Und du bist ein Mann, fehlerlos, und daher schnell bereit, für jedes Versagen deine Frau verantwortlich zu machen. Genauso wie all deine ach so anständigen Freunde. »Nun, ich wünschte mir wirklich, daß du einen Spezialisten aufsuchst. Ich bin sicher, es gibt ganz hervorragende in der Stadt. Soll ich mich mal darum kümmern?« »Nein, das tue ich schon.« Lieber ließe ich mich bei lebendigem Leibe rösten, als dir ein Kind au schenken. Ich werde ganz bestimmt nicht deine Zuchtstute sein. Seit dem alptraumhaften Erlebnis in dem privaten Eisenbahnwagen im vergangenen Herbst war sie wenigstens vor weiterer Brutalität verschont geblieben. Ohne sich richtig dafür zu entschuldigen, hatte Bill gesagt, sein Verhalten in der Nacht sei eine Folge der Hochzeitsaufregungen und des zu reichlich genossenen Champagners gewesen, der bei ihm stets eine verhängnisvolle Wirkung entfaltete. Einen Monat später erklärte er ihr, er würde sich in getrennten Schlafzimmern wohler fühlen, und er nehme an, ihr ginge es genauso. Wenn er irgendwelche Bedürfnisse hatte oder den Vorgang der Empfängnis beschleunigen wollte, kam er für eine Stunde zu ihr. Er hatte ihr seit jener ersten Nacht nicht noch einmal weh getan. Doch verstand er es, sie allein mit seinen Augen einzuschüchtern, denn sie kannte den Zorn, der hinter dieser kontrollierten und ziemlich durchschnittlichen
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Fassade auflodern konnte. Ihre Hand bewegte sich hin und her, als sie Rudy streichelte. Der Brillant ihres Verlobungsrings glitzerte. Wie spreche ich ihm gegenüber das neue Problem an? Wie soll ich überhaupt davon anfangen? Für eine Stunde vor dem Frühstück hatte sie sich Mut zugesprochen und sich gesagt, die Angelegenheit sei einfach zu wichtig, um ignoriert zu werden. Dann bedrohte ein Gefühl der Niedergeschlagenheit diese Überzeugung. Die Depression war mächtig und hinterhältig. Sie verglich sie in Gedanken mit einem Raubtier, das in einem Winkel ihrer Seele kauerte und darauf wartete, bis sie am schwächsten war, um sie anzugreifen. Sie schob ihre Hand in die Tasche ihres Mantels. Berührte das Notenpapier. Sie gewann ihre Kraft daraus. Sie durfte die Angelegenheit nicht einfach übergehen. »Hör dir mal diesen verdammten Blödsinn an«, sagte Elstree. Er schüttelte die Zeitung, um sein Mißfallen zu demonstrieren. Unterhalb der massiven Marmorbrüstung der Terrasse klapperte die Heckenschere von Henry Prince. Henry Prince war ein Shinnecockindianer, ein kleiner, stämmiger Mann mit schwarzem krausem Haar und einer Nase und einem Mund, die auf ein oder zwei Neger als Vorfahren hinwiesen. Er war als Prince Henry geboren worden, ein Stammesname, hatte aber schon vor langer Zeit entschieden, daß eine Umkehr des Namens ihn für seine reichen Arbeitgeber annehmbarer machte. Henry lebte mit seiner Frau und seinen beiden Jungen draußen im Shinnecock-Reservat. Im Gegensatz zu den anderen Indianerhütten, die verstreut in den Fichtenwäldern standen, fand man auf Henrys Anwesen kein Unkraut oder zerbrochene Fensterscheiben. Elstree las laut vor: »›Die Herrschaft des Nero des neunzehnten Jahrhunderts, König Weyler I. muß um jeden Preis beendet werden.‹ Ist das nicht ein Haufen Blödsinn?« Er warf die Zeitung auf den grünen Korbtisch. Henrys breites Gesicht tauchte zwischen den marmornen Geländersäulen auf und befand sich auf einer Höhe mit Julies Pantoffeln, die mit silbernen Stickereien verziert waren. Henry zwinkerte ihr zu und lächelte. Unter den zweiundzwanzig Hausangestellten war er ihr einziger Freund. Manchmal fuhr sie ganz allein mit dem Einspänner hinaus, um seiner Familie einen Korb voller Lebensmittel zu bringen. Das tat sie immer dann, wenn Bill in einem seiner Clubs war oder in der Stadt blieb. Sie wußte, daß er ihre Handlungsweise nicht billigen würde. Elstree griff nach seiner Tasse in der Erwartung, daß sie gefüllt war. Sie war es. Julie fragte: »Wen hast du zitiert, Bill?«
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»Joe Wheeler, den Kavalleriegeneral der Rebellen. Er war einer der letzten, der nach Appomattox kapituliert hat. Er gehört schon seit Jahren dem Kongreß an. Vertritt irgendeinen Distrikt mit Kleinfarmern und Rednecks unten in Alabama. Trotzdem habe ich ihn bisher immer für einen der etwas vernünftigeren Politiker aus diesem Teil der Welt gehalten. Bis jetzt.« »Weyler ist der Gouverneur von Kuba?« »Ja. Ich bin zwar Republikaner, aber ich unterstütze auf keinen Fall eine Intervention in Kuba. Soll Weyler doch da unten alle Revolutionäre und Bauern aufhängen, wen interessiert’s? Wenn wir auf Wheeler und die anderen Nationalisten hören – wenn wir also eingreifen –, geraten wir in einen Krieg, und das wäre eine Katastrophe fürs Geschäft. Wir würden in Blut ertrinken. Und zufälligerweise hat Blut die gleiche Farbe wie rote Tinte, mit der die Verluste aufgeschrieben werden.« Julie hörte seine heftigen Ausführungen mit einem Gefühl trauriger Amüsiertheit. William Vann Elstree III. spielte keine aktive Rolle im Management der Kaufhäuser seiner Familie, sondern lebte lediglich von dem Gewinn, den sie abwarfen. Dennoch liebte er es, sich als regelrechter General im Kampfeinsatz aufzuspielen, der die Unternehmensstrategie der Kaufhauskette entwickelt hatte und durchsetzte. Während ihrer Hochzeitsnacht hatte er sie eine Schwindlerin genannt. Er war es nicht minder. Julies Hand tauchte wieder in die Tasche. Ihr Mund war ausgetrocknet. Der starke Kaffee brannte in ihrem Magen. Henry Princes Schere klapperte, als er sich zum Ende der Terrasse vorarbeitete. Zwei andere Männer gingen mit breiten Rechen über den Rasen. Elstree betrachtete seine Frau aufmerksam. »Du hast gar nicht zugehört, was ich über Joe Wheeler gesagt habe. Stimmt etwas nicht?« Das zusammengefaltete Notenpapier in ihrer Tasche brannte heißer als ihre Angst. Sie warf einen Blick nach hinten. Die Hausangestellte mit der Kaffeekanne war im Haus verschwunden. »Bill, wer ist die Person, die den Buchstaben R als Unterschrift benutzt?« »Ich fürchte, ich weiß nicht, was du –« Sie holte das Papier hervor und hielt es hoch. Diese abrupte Bewegung verscheuchte Rudy aus ihrem Schoß. »Ich fand diese Nachricht mit der Unterschrift R. Es ist die Handschrift einer Frau. In der Nachricht wird eine Einladung zum Abendessen bei Rector’s bestätigt.« Elstree starrte sie an. Ihr Mut, der von vornherein schon nicht sehr groß gewesen war, schrumpfte schnell. »Ich nehme an, die Nachricht gilt dir. Unsere Angestellten können
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sich einen Besuch bei Rector’s kaum leisten.« »Wo hast du das gefunden?« »Auf dem Fußboden neben dem Barschrank in der Bibliothek. Es ist dir wahrscheinlich aus der Tasche gefallen.« »Bitte gib den Zettel her.« Er streckte die Hand aus, schnippte mit den Fingern. »Bitte.« »Habe ich nicht das Recht auf eine Erklärung?« »Nein. Gib her, Juliette. Sofort.« Das Beste, was sie tun konnte, um ihren Zorn zu zeigen, war, die Nachricht auf den Tisch zwischen ihnen fallen zu lassen. Elstrees Sessel knarrte, als er sich vorbeugte, den Zettel an sich nahm und aufstand. »Bill, triffst du dich in New York mit einer Frau?« »Du hast kein Recht, mir eine solche Frage zu stellen.« »Ich denke, ich habe jedes Recht dazu. Ich bin mit dir verheiratet.« Er kam um den Tisch herum und legte ihr sanft seine weiche, sorgfältig manikürte Hand auf die Schulter. Er jagte ihr damit eine namenlose Angst ein. »Meine Liebe, du mußt eins begreifen. Männer haben gewisse Rechte und Privilegien. Von Frauen erwartet man, daß sie Nachsicht üben.« »Ich verstehe. Ist es das, was man doppelte Moral nennt, Bill?« »Ich weiß nicht, wie es genannt wird, Liebes. Ich weiß nur, daß ich so lebe und daß ich nicht die Absicht habe, es zu ändern.« »Nun, das solltest du aber lieber, Bill, sonst werde ich –« Elstrees Lächeln war so eisig, daß sie verstummte. Er ergriff ihr linkes Handgelenk fest genug, um ihr weh zu tun. Er beugte sich zu ihrem linken Ohr hinab, als wolle er es küssen. »Droh mir nicht. Droh mir niemals. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt. Du bist meine Frau, du erbst irgendwann mein Vermögen, also was willst du noch mehr?« Dann küßte er sie auf die Wange, »Nach dem Bridge fahre ich mit dem Zug in die Stadt. Falls du mich heute abend erreichen willst, bin ich wie immer im Princeton Club.« »Nehmen sie dort auch eine Nachricht entgegen, während du bei Rector’s bist?« Er ließ seine bleichen Hände herabsinken. Mit einem drohenden Blick, aber gleichzeitig mit vollendeter Höflichkeit sagte er: »Auf Wiedersehen, meine Liebe.« Und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Julie suchte ihr Zimmer auf, schloß die Tür ab, knipste die beiden elektrischen Lampen mit ihren mit Fransen versehenen, gemusterten Schirmen aus, zog die Vorhänge zu und legte sich bis nach Mittag ins Bett.
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Belle Mer war ein Haus mit vierzig Zimmern, das von seinem Architekten einem französischen Landschloß nachempfunden worden war. Julie und ihr Mann wohnten seit Anfang Juni darin. Nach den Flitterwochen auf dem Anwesen während des vergangenen Herbstes hatten sie den Winter in Elstrees Stadthaus in Chicago verbracht. Im Januar und im Februar residierten sie in Palm Beach. Im Juni fuhren sie mit Elstrees privatem Eisenbahnwagen von Chicago nach Long Island. Von allen Orten gefiel Julie Long Island am besten. Sie liebte die rauhe Moorlandschaft, die sich im Osten bis nach Montauk erstreckte. Die vom Wind gebeugten Bäume, die Teiche, die weidenden Schafe und Rinder, die mit Teerpappe gedeckten Hütten der Fischer, die kleinen ungestrichenen Holzhäuser der Kartoffelfarmer. Je weiter man zum Ende der Halbinsel vordrang, desto einsamer und kahler wurde die Landschaft. Der Wind und der Himmel, Klippen und Strände in ihrer Urwüchsigkeit und Leere spiegelten ihre eigene Einsamkeit wider. Eine verfallene Windmühle stand in Montauk, deren Flügel sich langsam im Seewind drehten. Man hätte meinen können, sich in der Alten Welt aufzuhalten, wo Trolle sich im Dickicht des Waldes versteckten und Prinzessinnen an unerfüllter Liebe litten … Southampton Village, das Zentrum des Bezirks Southampton, sah völlig anders aus. Es war mondän und versnobt. Die ersten Angehörigen des Geldadels waren um 1875 dorthin gezogen. Die noch lebenden Mitglieder dieser Gründergruppe betrachteten sich als etwas ganz. Besonderes. Zum Beispiel Mrs. Goodhue Livingston von Old Trees. Sie hatte eine kleine Gefolgschaft von Freundinnen mit ähnlichem Status und langjähriger Zugehörigkeit zur Gemeinde. Die Leute nannten sie die Dreadnaughts, und es traf durchaus zu. Wie graue Schlachtschiffe beherrschten sie die gesellschaftliche See und hielten Ausschau nach Eindringlingen. Das einzige Mal, als Julie zum Tee bei Mrs. Livingston eingeladen war, erklärte die alte Dame ihr: »Wenn man die stinkenden Entenfarmen in Riverhead und Quogue sowie die genauso abstoßenden Tammany-Demokraten, die Hampton Bays erbaut haben, hinter sich gebracht hat, dann ist das, was wir hier haben, ein richtiges kleines Paradies. Wir haben vor, es so zu erhalten, wie es ist, ganz allein für uns.« Julie verstand sehr schnell, daß sie nicht zu diesem erlesenen Kreis gehörte und vielleicht auch nie dazugehören würde. Sie war die Tochter eines Mannes namens Pork, dessen Ursprünge in Connecticut längst vergessen waren und dessen Referenzen im Osten noch nicht anerkannt wurden. Mit Bill schien es ganz anders zu sein. Er schloß schnell Bekanntschaften und wurde von anderen Clubmitgliedern und deren
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Frauen, von denen einige Wurzeln in Chicago hatten, bereitwillig akzeptiert. Julie vermutete, daß die Ablehnung ihrer Person vorwiegend durch ihr Alter ausgelöst wurde oder vielleicht auch durch die Aura der Traurigkeit, von der sie befürchtete, daß sie sie ständig ausstrahlte, ohne es zu wollen. Da sie sich immer tiefer in sich selbst zurückzog, schien all das nicht von Bedeutung zu sein. Als die Elstrees aus Palm Beach zurückkehrten, besuchte Nell ihre Tochter mindestens zweimal pro Woche. Sie äußerte sich begeistert über den Luxus des Elstreeschen Stadthauses. Sie lobte Julies Entscheidung, einen so feinen und edlen Menschen geheiratet zu haben. Nells Auftreten während dieser Besuche war durchaus energisch und frisch. Ihre Augen leuchteten wie die eines Vogels beim Anblick einer gut gefüllten Futterstelle. Julie hatte sie außerordentlich glücklich gemacht. Julie hatte ihre Gesundheit wiederhergestellt. Und Julies gelöstes Haar – oh, wie schön es doch war! Nell betrachtete es als ein Symbol der Anerkennung ihrer Tochter für alles, was ihre Mutter für sie getan hatte. Gehorsame Kinder wurden am Ende immer vernünftig, oder nicht? Nells glückliche Verfassung wurde kurz beeinträchtigt, als Pork Ende März seinen kleinen Unfall hatte. In der Fleischfabrik rutschte er auf einer Blutlache auf dem Fußboden aus und brach sich den Fuß. Gezwungen, zwei Wochen zu Hause im Bett zu verbringen, betrieb er seine Geschäfte von dort aus und beklagte sich ständig. Er kehrte eher zur Arbeit zurück, als es Dr. Woodrow lieb war, und der Bruch heilte nicht richtig zusammen. Er bediente sich daraufhin einer Krücke und installierte in der Villa in der Prairie Avenue einen Treppenfahrstuhl. Auf dem konnte er relativ bequem die große Haupttreppe überwinden. Er beklagte sich aber weiterhin. Pork erholte sich nur sehr langsam. Er humpelte noch immer, als Elstrees Bedienstete insgesamt sechsundvierzig Kisten, Kartons, Reisetaschen und Hutschachteln zusammenpackten, die das Paar zu seinem Sommeraufenthalt in Belle Mer mitnahm. Nell weinte, als Julie sich von ihr verabschiedete. »Sich um deinen Vater zu kümmern ist wirklich eine große Last. Als ob ich in letzter Zeit nicht schon genug am Hals hätte.« Dennoch vergaß sie ihre Tochter nicht. Kaum eine Woche verstrich, ohne daß irgendein kleines teures Geschenk per Expreß auf Long Island eintraf. Mal war es ein ausgestopfter Vogel, mal eine Brosche, mal eine goldene Schachtel für Schmucknadeln. Symbole der Fürsorge einer Mutter für ein Kind, das endlich den Sinn des Lebens erkannt hatte.
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Julie folgte dem Verlauf einer Schutzhecke aus Myrte unweit der Landgrenze des Anwesens. Es war früher Nachmittag. In der Zeit, die sie in ihrem Schlafzimmer verbracht hatte, war die Sonne herausgekommen. Sie hatte aber einen seltsamen gelben Schimmer, als sei es eine Herbst- und keine Sommersonne. Die ersten Moskitos kamen heraus, tanzten um Julies Gesicht und ihren Hals. Auf der anderen Seite der Hecke hörte sie einen kleinen Motor brummen. Sie ging durch eine Lücke im Myrtengebüsch, klopfte an und betrat das scheunenähnliche Gebäude. Es roch dort nach Erde und Moder und dem Menhadendünger, der von der Fabrik auf der anderen Seite Long Islands in groben Säcken verkauft wurde. Henry Prince blickte vom Schleifrad hoch, auf dem er die Schneiden seiner Schere schärfte. »Henry, fahren Sie mich nach Montauk? Ich würde mich über die Gesellschaft freuen.« »Bin in fünf Minuten fertig, Mrs. Elstree.« Obgleich Henry stets angemessene Distanz zur Ehefrau seines Arbeitgebers demonstrierte, standen er und Julie sich sehr nahe aus Gründen, die bisher keiner von ihnen ausgesprochen hatte. Tatsächlich konnte Julie es nicht einmal sich selbst gegenüber zufriedenstellend erklären. Sie fand ganz einfach Henrys breitflächiges Gesicht, seine flache Nase und die dunkelbraunen Augen durchaus liebenswert und den Mann selbst vertrauenswürdig. Henry lenkte den Einspänner über unbefestigte Straßen, die mit jeder Meile schmaler und ausgefahrener wurden. Sie drangen in Hither Woods ein, ein Wald, so tief und dicht, daß sie beinahe erwartete, sehr bald Trolle zu sehen. Aber das Ziel, Montauk Point, lohnte die Mühe. Henry band den Wagen am Fuß des Hügels an, der von dem 30 Meter hohen Leuchtturm gekrönt wurde. Während er seine Maiskolbenpfeife stopfte, sagte er: »Ich warte hier, wenn Sie ein wenig umherstreifen wollen.« »Das tue ich.« Julie stieg aus. Das Meer tobte laut. Ihr langes Haar flatterte in der Brise, umwogte ihre Schultern. Ein Wind aus Nordost war aufgekommen, der schwarze Wolkenbänke vor sich herschob. Im Westen war die Sonne im Sommerdunst fast nicht zu sehen. Das Petroleumlicht im Leuchtturm erstrahlte. »Möglich, daß ein schlimmes Unwetter aufzieht«, sagte Henry und deutete mit einem Kopfnicken auf das Meer. »Die Straßen verwandeln sich in einen Sumpf, wenn es regnet.« »Ich gehe nur ein wenig spazieren«, versprach Julie und rannte den Hügel hinauf. Der Atlantikwind riß ihr fast die Stola von den Schultern. Wahrend sie um den Leuchtturm herumging, entdeckte sie hoch über
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sich den Wärter. Er winkte ihr; sie winkte zurück. Sie lehnte sich gegen die östliche Seite des Leuchtturms und blickte auf die schäumenden Wogen. Julie wußte, daß sie ganz sicher nicht zu den sogenannten neuen Frauen gehörte, die trotzig ein Recht, und nur eins, für beide Geschlechter forderten. Sie war verheiratet. Nicht glücklich, aber sie hatte ihr Gelübde abgelegt. Dennoch, sie konnte hierherkommen zu dem einsamen Leuchtturm, wo der Wind heulte und die Wellen zu weißen Gischtschleiern gepeitscht wurden, und sie konnte tief in ihrem Herzen die Wahrheit aussprechen. Paul, ich liebe dich, ich werde niemals einen anderen lieben, ganz gleich, wessen Namen ich trage. Gott ist mein Zeuge, ich werde aus diesem Labyrinth entfliehen, in das ich auf Grund meiner eigenen Feigheit hineingeraten bin. Es kann Monate oder gar Jahre dauern, aber ich werde ihm entkommen. Und dann suche ich dich. Etwa einmal im Monat besuchte Julie ihren Onkel in der Stadt. I.W. Vanderhoff wohnte in herrschaftlicher Pracht in einem vierstöckigen Stadthaus an der oberen Fifth Avenue, wo Telephon- und Telegraphenleitungen wie Fäden eines Spinnennetzes den Himmel über den Straßen durchzogen und Bauern Schweineherden inmitten des Droschkenund Kutschenverkehrs zum Markt trieben. Onkel Ike war eine Vogelscheuche, ein alter Trunkenbold und Schürzenjäger, aber Julie mochte ihn schon allein wegen seines Mangels an Ehrbarkeit. »Ich würde gar nicht zu diesem hochnäsigen Haufen passen«, sagte er und meinte Southampton und seine Bewohner. »Zwei Gläser Prickelwasser, und schon würde ich einer alten Witwe in den Hintern kneifen.« Julie spielte immer Gin Rommé mit Onkel Ike. Sein Kartengedächtnis ließ sie fast immer verlieren. Daher lief das Spiel beinahe automatisch ab, während sie sich unterhielten. Während eines Spiels Ende Juli kratzte Onkel Ike plötzlich seine tiefrote Nase und sagte: »Julie, was treibt denn dein Kerl? Macht er dich glücklich?« »Onkel Ike, würdest du bitte austeilen?« »Ich nehme an, das heißt soviel wie nein.« Onkel Ike hatte seine ländliche Herkunft nie vergessen. Er war so enorm reich, daß er sogar offen damit protzen konnte. Das tat er sehr gerne. »Bill Elstree ist der typische Clubmensch«, fuhr er fort. »Früher hätte man so was Lebemann genannt.« »Spiel«, forderte Julie ihn auf.
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Onkel Ike legte den Kopf leicht schief und sah sein Gegenüber verblüfft an. »Aber, aber – das ist nicht die Juliette, die ich bisher kannte. Du klingst so hart, so bitter, Kind.« »Die Dinge ändern sich, Onkel Ike. Die Menschen ändern sich ebenfalls. Das ist alles, was ich dazu sagen will. Würdest du bitte spielen?« Dies war einer ihrer seltenen Tage. Ein Tag, an dem sie sich sicher fühlte und voller Selbstvertrauen war. An dem sie jenes Maß an Mut entwickelte, von dem Paul gemeint hatte, daß er in ihr steckte. Sie brauche ihn nur zu suchen und hervorzuholen. Aber es gab auch andere Tage. Die Tage der weiblichen Beschwerden, wenn furchtbare Schmerzen sie aufs Bett warfen. Die Tage, an denen sie voller Angst an Bill dachte und an die Gewalttätigkeit, die in ihm schlummerte. Tage, an denen der raubtierhafte düstere Schatten in der Ecke kauerte und darauf wartete, sie anzuspringen und jedes Stückchen Selbstsicherheit, das sie zusammengerafft hatte, gierig zu verschlingen … Wahrend einer längeren Phase dieser düsteren Tage sah sie Tante Willis wieder. Es war Anfang August. Elstree war zum Rennen nach Saratoga abgereist. »Falls es sehr dringend ist, telegraphier mir ins Grand Union Hotel. Ich denke, ich werde zwei bis drei Wochen wegbleiben.« Julie fragte sich, ob R wohl auch im Grand Union wohnte. Sie hatte in Erwägung gezogen, einen Detektiv zu engagieren, der Bill beschatten sollte. Vielleicht brachte sie so die wahre Identität von R in Erfahrung. Dann entschied sie, daß sie eigentlich gar nicht so genau Bescheid wissen wollte. Der Zeitpunkt für Elstrees Ausflug ins Monte Carlo von Amerika erwies sich als günstig gewählt. Julie erhielt dadurch die Gelegenheit, Tante Willis in New York zu treffen, ohne eine Konfrontation zwischen ihr und Bill befürchten zu müssen. Sie trafen sich in Willis’ Suite im Waldorf und fuhren mit einem Kabriolett zu Delmonico’s zum Essen. Willis war klapperdürr, und ihre Haare waren grauer geworden, aber ansonsten erschien sie völlig unverändert. Sie redete begeistert über ihre neue Leidenschaft, das Kunstsammeln. »Ich bin auf einen wunderbaren Maler namens Claude gestoßen. Claude bezeichnet sich selbst als Impressionisten. Es ist ein seltsamer Begriff, aber er beschreibt seine Arbeiten ziemlich genau. Einige meiner geschmacklosen Freunde sagen, Claude spritze und kleckse die Farbe auf die Leinwand. Na und? Seine Werke sind wunderschön, sehr aussagekräftig. Ich habe drei seiner Gemälde gekauft und verhandle wegen eines vierten. Sie werden niemals
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einen besonderen Wert haben, aber das ist mir egal.« Sie erzählte von ihrer langjährigen Freundin Miss Clara Barton, die das Amerikanische Rote Kreuz gegründet hatte und immer noch leitete. Vor sechs Jahren war Willis nach einem furchtbaren Hurrikan an die überschwemmte Küste von South Carolina geeilt und hatte sich dort Miss Bartons Hilfstruppe angeschlossen. Sie hatte tagelang nur von dürftigen Rationen gelebt und kaum geschlafen, bis sie vom Fieber niedergestreckt wurde. »Falls es in Kuba zum Krieg kommen sollte, erklärt Clara, daß sie ebenfalls dorthin will«, berichtete Willis ihrer Nichte. »Die Frau ist sechsundsiebzig Jahre alt. Ich habe noch nie soviel Entschlossenheit und Energie bei einem Menschen gesehen. Sie sagte, sie nehme auch Freiwillige mit. ›Na schön, hier bin ich‹, habe ich zu ihr gesagt. Cuba libre!« Willis schlug derart heftig auf den Tisch, daß der Oberkellner angerannt kam, um nachzusehen, ob einer seiner Untergebenen irgend etwas fallengelassen hatte. Willis betrachtete ihre Nichte prüfend. »Du siehst ziemlich spitz aus, Juliette.« »Ich glaube, ich halte mich zuviel im Haus auf.« »Hast du für den Strand da oben nichts übrig?« »Eigentlich nicht. Ich gehe viel spazieren, aber vorwiegend an bedeckten, trüben Tagen.« »An dunklen Tagen also, ich verstehe.« Auf Julies Empfehlung hin bestellten sie die Spezialität des Hauses, Long-Island-Ente. Der Kellner brachte einen silbernen Behälter und öffnete eine grüne Flasche Riesling, den Willis ausgewählt hatte. Aus ihrer Handtasche zog Willis ein kleines, in Silberpapier eingewickeltes Päckchen. »Das ist das jüngste Werk von Mr. Kipling, Captains Courageous. Das mußt du lesen.« »Vielen Dank, das werde ich tun. Ich habe nämlich viel Zeit. Bill ist für ein paar Wochen zum Kartenspielen und zu den Pferderennen nach Saratoga gefahren.« Ihre Tante blinzelte sie durch den Rauch an, der von ihrem Zigarillo aufstieg. »Du kommst mit ihm nicht gut aus, nicht wahr?« Julies erster Impuls war, es einfach zu leugnen und sich eine lange und wahrscheinlich sinnlose Diskussion zu ersparen. Dann erinnerte sie sich an den stummen Schwur, den sie am Leuchtturm abgelegt hatte. Sie würde niemals ihr Problem lösen können, wenn sie es ständig versteckte. »Nein, wahrhaftig nicht. Ich glaube, es gibt eine andere Frau.« Sie erzählte, wie sie die Nachricht mit der Unterschrift R gefunden hatte.
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Willis seufzte. »Mein Gott.« Sie reichte über den Tisch und ergriff Julies Hand. »Ich weiß, daß diese Entdeckung dich tief verletzt haben muß. Bist du dir absolut sicher?« »Als ich Bill die Nachricht zeigte, weigerte er sich, mir ihren Namen zu nennen, aber er leugnete nichts. Er sagte, Männer und Frauen lebten nach unterschiedlichen Moralvorstellungen und daß ich das zu akzeptieren hätte.« »Ach, dieser alte Quatsch. Paß bitte gut auf, was ich nun sage. Du bist nicht verpflichtet, still zu leiden, nur weil er dir diesen dicken Brillanten geschenkt und dich in eine Kirche geschleift hat, um vor einem Priester ein paar leere Worte zu wiederholen. Ich empfehle dir, Beweise gegen ihn zu sammeln. Engagiere einen guten Anwalt. Der wird Detektive kennen, die er auf den Fall ansetzen kann. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann. Ganz gleich, was es dich kostet, sei es an Geld oder an Nervenkraft, laß dich von diesem verlogenen Burschen scheiden. Er verdient einen feinen Menschen wie dich überhaupt nicht.« Julie stocherte mit ihrer Gabel im Salat herum. »Es ist leicht, darüber zu reden. Jeden Tag lassen die Leute sich scheiden, aber es ist immer ein Skandal und eine Schande.« »Es dürfte ein größerer Skandal und eine größere Schande für meine Schwester sein als für dich. Und du bekämst deine Freiheit zurück. Außerdem vergessen die Menschen sehr schnell.« Julie schwieg. Willis drückte wieder ihre Hand. »Du hast jedes Recht, so zu handeln, Kind. Und du hast den Mut dazu, du brauchst ihn nur aufzubringen.« Julies Gesicht verdunkelte sich und bekam einen seltsamen Ausdruck. Sie glich nun einem Kind, das über etwas nachdachte, das reizvoll und abschreckend zugleich war. »Das hat auch Paul immer gesagt.« »Paul. Das ist wohl der Junge, den du geliebt hast?« »Paul Crown. Ja. Ich liebe ihn noch immer.« »Wo ist er?« »Das weiß ich nicht.« »Was wirst du tun?« »Das weiß ich auch nicht«, erwiderte sie mit einem hilflosen Achselzukken. Die düstere Stimmung senkte sich wieder auf sie herab. Julie fragte sich, ob dies ein Zustand war, den einer dieser neuen Nervenärzte behandeln und heilen konnte. Wie sehr sie es sich doch wünschte. Sie wünschte sich viele Dinge … »Bleibst du lange in New York?« fragte sie. »Ich kehre am Dienstag nach England zurück. Ich habe einen jungen
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Musiker kennengelernt. Einen Cellisten. Halb so alt wie ich, aber er gibt die unglaublichsten Vorstellungen mit seinem Instrument.« Julie schaute hoch, um sich zu vergewissern, ob ihre Tante einen zweideutigen Scherz gemacht hatte. Doch Tante Willis’ Gesicht wirkte wie zementiert. »Im Konzertsaal, mein Kind. Im Konzertsaal. Was hast du denn geglaubt, das ich meine?« Dann zwinkerte sie. Als Julie das nächste Mal mit Onkel Ike Gin Rommé spielte, fragte sie ihn: »Kennst du irgendwelche guten Anwälte in der Stadt?« »Ich kenne die üblichen Winkeladvokaten, Aasgeier und Blutsauger. Weshalb?« »Könntest du mich mit einem bekannt machen, der auf Scheidungen spezialisiert ist?« »Scheidung? Das ist eine schmutzige Angelegenheit, mein Schatz. Du mußt die gegnerische Partei praktisch mit heruntergelassener Hose erwischen, während er –« »Ja, das weiß ich. Ich brauche einen Anwalt, dem es nichts ausmacht, sich die Finger zu beschmutzen.« Nach längerem Schweigen und einem eindringlichen Blick sagte I.W.: »Ich will sehen, was ich tun kann.« Bei ihrem nächsten Besuch konnte er ihr einen Namen nennen. Rubin Silverjack. Sein Büro lag im unteren Teil der Fifth Avenue. Ende der Woche saß sie in Silverjacks Besuchersessel. Rubin Silverjack ähnelte einem ernsthaften und frommen Priester. Er war in den Vierzigern und trug konservative Kleidung. Julie hatte das Gefühl, daß Onkel Jack sich gründlich geirrt hatte, bis sie Silverjacks feurige schwarze Augen eingehender betrachtete. Silverjack lehnte sich in einem gut geölten Drehsessel zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Entspannen Sie sich, Mrs. Elstree. Diese Unterhaltung ist streng vertraulich.« »Vielen Dank.« Julies Mund war staubtrocken. »Sie sagen, Sie glauben, daß Ihr Mann mit einer anderen Frau eine ehebrecherische Beziehung unterhält.« »Ich habe gute Gründe, das anzunehmen, ja. Er –« Schamröte schoß ihr in die Wangen. Sie mußte sich einen großen Ruck geben, um fortzufahren. »Er hat mir außerdem bei einer anderen Gelegenheit körperliche Gewalt angetan.«
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»Bitte schildern Sie den Vorfall. Wenn es Ihnen nicht zuviel ausmacht.« Zögernd folgte sie der Aufforderung. Silverjack griff in eine Westentasche. Ein goldener Zahnstocher blinkte. Er verdeckte seinen Mund mit der linken Hand, während er den Zahnstocher benutzte. Als sie ihren Bericht beendet hatte, fragte er: »Wurden Sie schlimm verletzt?« »Ja. Ich hatte Todesangst.« Silverjack dachte einen Moment lang nach. »Ich fürchte, das wird Ihnen nicht viel nützen, außer daß es Ihre Entschlossenheit stärkt weiterzumachen. Die Scheidungsgesetze im Staat New York wie auch in praktisch allen anderen Staaten sind sehr eng gefaßt und eindeutig. Empörend einseitig und stets zu Gunsten des Ehemannes, wie ich hinzufügen darf. Nur wenn ein beweisbares ehebrecherisches Verhältnis mit einer anderen Frau existiert, haben Sie ein schlagendes Argument. Waren Sie sich darüber im klaren?« »Nein.« Ihre Stimme war kaum zu hören. »Sie müssen Ihren Ehemann in einer kompromittierenden Situation ertappen. Das ist sehr oft eine teure und zeitaufwendige Prozedur, obgleich ich hervorragende Beziehungen habe, um eine Überwachung zu organisieren.« »Wie lange würde es nach Ihrer Schätzung dauern?« »Eine Woche, vielleicht auch ein Jahr.« Julie wurde mutlos. Sie wollte am liebsten noch nicht einmal einen ganzen Tag warten. Sie hatte Angst vor ihrem Mann. Sie schlug die Hand vor die Augen. Gerade als sie fast schon ihre ganze Hoffnung schwinden sah, sagte Silverjack: »Es gibt natürlich auch noch eine zweite Möglichkeit.« Er griff in eine Schreibtischschublade und reichte ihr ein sauberes weißes Taschentuch. Er mußte davon einen ganzen Vorrat für verzweifelte Klienten bereitliegen haben. Der goldene Zahnstocher erschien wieder, während sie sich die Nase putzte und ihre Wangen abtupfte. Die schlängelnde Bewegung von Silverjacks rechter Hand wirkte irgendwie unanständig. »Sie können das Taschentuch behalten, Mrs. Elstree. Ich weiß, daß es unangenehm ist, deshalb werde ich mich so kurz wie möglich fassen. Es gibt gewisse Frauen, die bereit sind, gegen entsprechende Bezahlung in den Zeugenstand zu treten und die Rolle der anderen Frau zu spielen. Sie sind bereit, sich selbst zu belasten und auszusagen, daß sie mit dem Ehemann geschlafen haben. Sie sind sehr erfahren darin, Einzelheiten zu schildern. Der Richter weiß, daß ihm eine Komödie vorgespielt wird, aber er erhält dadurch die Möglichkeit, die Frau zu begünstigen. Der Ehemann weiß
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ebenfalls, daß es nur eine Komödie ist, aber sein Wort steht gegen das der Zeugin, die bestens präpariert ist, um jedes Kreuzverhör zu überstehen. Es gibt da speziell zwei Frauen, die ich für solche Zwecke engagiere. Beide sind Schauspielerinnen mit – sagen wir mal – trauriger Vergangenheit. Jede kann Verletztheit, Trauer, Zorn mimen, was immer gerade gewünscht wird. Ich bitte Sie, mich nicht so schockiert anzusehen, Mrs. Elstree. Diese Strategie wird immer wieder verwendet, um Frauen aus unerträglichen Ehen zu retten. Sie funktioniert. Bis die Statuten einer Reform unterzogen werden, gibt es keine andere Taktik.« Erneut lehnte er sich zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Ich kenne außerdem ein paar Richter ganz gut. Das hilft auch manchmal.« »Mr. Silverjack, wollen Sie damit sagen, daß ich, um frei zu sein –« Er unterbrach sie, indem er eine Hand hob. »Um auf die schnellste und sicherste Art und Weise frei zu kommen.« »Aber Sie deuten doch an, daß ich dazu die Gesetze übertreten muß.« »Daß Sie sich an einem Betrug beteiligen, ja.« »Nein, das kann ich unmöglich. Ich –« Und dann dachte sie wieder an die Nacht, ihre Hochzeitsnacht, an die Fahrt im Pride of Petoskey nach New York. Sie erinnerte sich daran, wie Bill sie immer wieder geschlagen hatte. Wie er sie brutal vergewaltigt hatte, so daß sie noch Tage nachher blaue Flecken am ganzen Körper hatte. Je länger sie wartete, desto größer war ihr Risiko … und ihr Leiden. »In Ordnung, Mr. Silverjack«, flüsterte sie. »Tun Sie, was nötig ist. Ich lege meinen Fall in Ihre Hände.« »Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Mrs. Elstree.« Rubin Silverjacks Augen funkelten vor Erregung. Er sah nun nicht mehr aus wie ein sanfter Priester. Sondern eher wie ein eifernder, hämischer Prälat der Spanischen Inquisition. Sie fuhr auf schnellstem Wege mit einer Mietdroschke zu Onkel Ikes Stadthaus zurück. Sie jubilierte innerlich. »Er hat den Fall übernommen!« Sie schlang die Arme um I.W.’s Hals und küßte ihn. »Vielen Dank.« »Sollen wir zur Feier des Tages ein wenig Karten spielen?« »Das würde mir gefallen.« Während ihres letzten Spiels ertönte im Zimmer nebenan das laute Klingeln des Telephons. Es klang wie eine Mischung aus Feuerglocke und Ratsche. Onkel Ike sprang auf. »Ich bin gleich zurück.« Fünf Minuten später kam er offensichtlich erschüttert wieder herein. »Das war ein Ferngespräch. Deine Mutter. Soweit ich verstanden habe, wollte dein Vater mit seinem Treppenfahrstuhl nach oben fahren, um einen
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Mittagsschlaf zu halten. Der Mechanismus klemmte und ließ ihn vom Sitz kippen. Er stürzte zwanzig Stufen weit hinab. Er befindet sich im Koma. Es ist möglich, daß er nicht wieder aufwacht.« Am 15. Tag nach seinem Unfall starb Mason Putnam Vanderhoff III. um 7:10 Uhr morgens. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Die lange Krankenwache war eine qualvolle Zeit für Julie. Sie saß jeden Tag am Bett ihres Vaters. Er wachte nicht auf, erkannte sie nicht. Obgleich sie innerlich auf seinen Tod vorbereitet war, wurde sie von Trauer und Verzweiflung übermannt, als Dr. Woodrow das Bettlaken über Porks Gesicht zog. Sie und Nell standen am Fußende des Bettes. »Es tut mir so leid«, sagte der Arzt. Nell begann plötzlich zu weinen und zu jammern und schlug mit den Fäusten auf das Fußbrett des Bettes ein. Julie trauerte um ihren Vater, übte aber gleichzeitig die ersten Schritte ihrer Flucht vor ihrem Ehemann. Ehe sie Chicago verließ, telephonierte sie mit Silverjack, um ihm mitzuteilen, was geschehen war, und ihm zu sagen, er solle in der Weise weitermachen, wie er es für nötig halte. »Soll ich eine Klage einreichen?« »Ich möchte meinen Ehemann vorher persönlich informieren.« »Dazu sind Sie nicht verpflichtet, Mrs. Elstree. In Anbetracht dessen, was Sie mir über ihn erzählt haben, rate ich Ihnen davon ab.« »Mr. Silverjack, das ist etwas, das ich selbst erledigen muß.« »Wie Sie wollen.« Nell war untröstlich und kaum zugänglich, wann immer Julie mit ihr zu reden versuchte. Auf eine Art war der leicht verwirrte Zustand ihrer Mutter ein Segen. Es war, als sei ein zusätzliches riesiges Hindernis für Julie aus dem Weg geräumt worden. Allein in ihrem Schlafzimmer im Chicagoer Stadthaus, schlief Julie in der Nacht vor der Beerdigung unruhig. Und in der St. James-Kirche hörte sie kaum die fünfundvierzigminütige Totenrede, die der Priester für ihren Vater hielt. Über dreihundert Trauergäste hatten sich versammelt. Die Palmers und die Armours, die Swifts und die Pullmans, die Fields und die McCormicks und all die kleineren Könige der Chicagoer Geschäftswelt. Es regnete während des ganzen Weges hinaus nach Graceland, einem feudalen Friedhof, der sich im Norden von der Irving-Park-Landstraße bis nach Montrose erstreckte. Dort wurden die Honoratioren von Chicago unter ihresgleichen zur ewigen Ruhe gebettet. Julie fuhr mit ihrem Ehemann in seiner vierrädrigen Kutsche, dem größten und teuersten seiner vier
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Fahrzeuge. Die Kutsche hatte fast viertausend Dollars gekostet. Er hatte sie für die Beerdigung ausgesucht, weil sie vollständig schwarz lackiert war und nur einen einzigen horizontalen Streifen in Grau aufwies. Elstree hatte einen Arm um Julie gelegt und murmelte Beileidsbekundungen, die sie kaum wahrnahm. Sie hatte Magenschmerzen. Ihr Kopf pochte. Sie schwor sich, nicht schwach zu werden. Sie hatte diesen Tag ausgewählt, um mit ihm zu reden, und sie war entschlossen, um ihre Freiheit zu kämpfen. Die Prozession gelangte durch den Eingang in der North-Clark-Straße auf den Graceland-Friedhof. Am Grab schluchzte Nell haltlos, während der Priester über dem protzigen Sarg seine Gebete sprach. Mit seiner silbernen Farbe und den Rosenreliefs kam Julie der Sarg ausgesprochen feminin vor. Er war von ihrer Mutter in einem ihrer halbwegs lichten Augenblicke ausgesucht worden. Pork hätte ihn gehaßt. Julie fragte sich, was Nell tun würde, wenn sie von ihrer Entscheidung erfuhr. Sich wieder in Krankheit flüchten? Sie enterben, wahrscheinlich. Einerlei. Sie wollte keinen Penny vom Vermögen ihres Vaters. Oder von Bills. Sie wollte nur ihre Freiheit und Paul. Onkel Ike legte einen Arm um sie, während der Sarg ins Grab sank. Er roch nach Gin. Er trat hinüber zu Nell und führte sie weg wie ein Vater, der ein verzweifeltes Kind tröstet. Elstree berührte Julies Arm. »Komm«, sagte er leise. Julies Magen rebellierte und brannte. Ihr Gesicht hinter dem schwarzen Schleier war leichenblaß. Der Kutscher hielt einen schwarzen Regenschirm über sie, als sie über einen glitschigen Pfad zur Schlange der Wagen und Kutschen hinaufgingen. Die Tür ihrer Kutsche fiel mit einem satten, endgültigen Geräusch zu. Julie lehnte sich zurück und schloß für einen Moment die Augen. Elstree begann: »Du hast dich glänzend gehalten, meine Liebe. Ich weiß, wie schwer –« »Bill. Bill«, wiederholte sie flüsternd. Sie drehte sich um und sah ihn an. Wenn sie wartete, zögerte, dann war sie verloren. »Bill, ich verlasse dich. Ich will eine Scheidung.« Er starrte sie an. Lang und hart. Ihre Hände begannen zu zittern. Das Zaumzeug klirrte. Die Kutsche setzte sich auf der mit Schotter bestreuten Friedhofsstraße ruckartig in Bewegung. Elstree legte seinen schwarzen Zylinder auf sein Knie und streifte seine schwarzen Handschuhe ab. »Hast du schon mit einem Anwalt darüber gesprochen?« »Ja. Rubin Silverjack heißt er. Er ist auf Fälle wie meinen spezialisiert. Ich möchte wieder frei sein, Bill.«
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»Ich antworte darauf mit einem einzigen Wort. Niemals. Ganz gleich, wie deine Gründe lauten, was du gegen diese Ehe einzuwenden hast – niemals.« »Bitte, Bill, hab wenigstens den Anstand und sei ehrlich. Du bist mit anderen Frauen zusammen, das ist kein Geheimnis.« »Ich leugne es nicht«, sagte er freundlich. »Dann denk doch nur daran, wie du mich seit dem Tag unserer Hochzeit behandelst.« »Eigentlich doch sehr nett, würde ich meinen.« Er streckte den Arm aus, um ihre beiden Hände mit seiner großen, starken linken Hand zu ergreifen. Irgendwie, als sie sich um ihre schwarzen Handschuhe legte, erinnerte seine Hand sie an eine weiße Spinne. Sie wollte sie schlagen. Ihn schlagen … »Eine Scheidung ist etwas, worüber ich noch nicht einmal nachdenken will. In unseren Kreisen ruiniert so etwas das Ansehen eines Mannes. Wenn eine Frau die Klage einreicht, dann beleidigt und verunglimpft sie damit den Ehemann, weil sie ihn damit als Ehebrecher brandmarkt. In aller Öffentlichkeit. Du begreifst nicht, nach welchen Regeln die Gesellschaft funktioniert. Man kann alles tun, solange es sich im Privatbereich abspielt. Ich werde dir in jeder Phase, bei jedem Schritt, den du tust, widersprechen, Julie.« »Es gibt Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich werde sie nutzen. Das schwöre ich dir.« »Julie, Julie«, sagte er. »Wie alt bist du?« »Ich bin im Mai zwanzig geworden, das weißt du.« »Ich bin doppelt so alt, noch älter sogar.« »Du erinnerst mich oft genug daran.« »Um dich auf meine größere Erfahrung hinzuweisen. Auf die Weisheit, die mit den Jahren kommt. Laß mich jetzt noch einmal darauf zu sprechen kommen, um einer Krise vorzubeugen. Ich will dir einen Rat geben. Vergiß diesen schmierigen Anwalt. Vergiß, daß du jemals das Wort ›Scheidung‹ auch nur ausgesprochen hast.« »Aber ich liebe dich nicht, Bill.« »Was hat das denn damit zu tun?« Sein Lächeln war verwirrt, fast jungenhaft naiv. »Wenn du weiterhin dieses Verhalten an den Tag legst, dann lasse ich dich in ein Sanatorium einweisen. Ich brauche nur etwas Derartiges verlauten zu lassen. Dazu ist lediglich meine Unterschrift auf einigen Dokumenten nötig, die von meinen Anwälten aufgesetzt und von hilfsbereiten Ärzten bestätigt werden. Ich schaffe das an einem Tag, wenn es sein muß. Irrenanstalten sind die reinsten Höllenlöcher, und das gilt
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sogar für die besten. Ich wäre sehr traurig, wenn du mich zwingen würdest, dich dorthin zu schicken. Aber ich würde es tun.« Die Kutsche rollte knarrend durch den Regen, der inzwischen heftiger geworden war. Die Welt draußen versteckte sich hinter grauen Schleiern. »Bill, das ist schrecklich. Grausam. Du lächelst und sprichst solche Dinge aus – was für ein Mensch bist du eigentlich?« »Nun, ein besorgter Mann. Ein Ehemann. Bis zu dem Zeitpunkt, falls es überhaupt dazu kommt, an dem ich mich anders entscheide.« »Demnach kannst du also jederzeit frei sein und ich nicht?« »Du hast es durchaus richtig verstanden«, sagte er mit mildem Lächeln. Sie sank nach hinten gegen das braune Rückenpolster. Die Niederlage bereitete ihr Übelkeit. Elstree legte einen Arm um sie und drückte sie fester als nötig an sich. Er ließ sie so die gefährliche Kraft in seinem Arm spüren. »Also wirklich, es wäre jetzt besser, du würdest dich wieder sammeln. Du mußt dich für den Empfang zu Hause bereithalten. Deine arme Mutter kann die vielen Besucher ohne deine Hilfe sicherlich nicht bewältigen. Wir reden nicht mehr über diese Sache. Wir vergessen sie. Ich bin sicher, daß du kein Wort ernst gemeint hast. Es war wirklich ein schwerer, schwerer Tag.«
81 SHADOW Der kurze und höfliche Brief der Edison Manufacturing Company in West Orange, New Jersey, bat Oberst Shadow, den Erfinder auf seinem Anwesen Glenmont innerhalb von sechzig Tagen aufzusuchen. Es war die Rede von »geschäftlichen Neuigkeiten, die Sie sicherlich interessieren werden«, aber es gab keine weitere Erklärung dazu. Die Unterschrift stammte von Mrs. M. Edison. Shadow hatte gelesen, daß der Erfinder und seine zweite Ehefrau bei der Kontrolle und Leitung der verschiedenen Unternehmungen und Tochterfirmen Edisons sehr eng zusammenarbeiteten. Shadow unternahm die Reise erst, als die Frist schon fast verstrichen war. Der Grund für sein Zögern war Angst. Thomas Edison war weltweit eine lebende Legende, verehrt von Schulkindern, von der Presse praktisch heiliggesprochen. Er war der »Zauberer«, das autodidaktische Genie, das Amerika die Erleuchtung geschenkt hatte mit seiner brennenden Lampe, seinen Energieversorgungssystemen, die dieses Licht möglichst weit verbreiten sollten, und mit seinen Produktionstechniken, mit denen Glühbirnen billig und einfach herzustellen waren. Im Jahr 1877 hatte sein sensationeller
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Phonograph alle möglichen Geräusche und Klänge aus einem rotierenden Zylinder hervorgezaubert. Edison hatte Dutzende von Patenten auf Kommunikationseinrichtungen von telegraphischen Geräten bis hin zu Börsentickern angemeldet. Er spielte seine eigene erstaunliche Kreativität mit dem Spruch herunter: »Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration.« Er war, kurz gesagt, eine Persönlichkeit, die einem das Rückgrat aufweichte, die Knie zittern ließ und das Gehirn zu etwas reduzierte, das eher einer Fruchtkonserve ähnlich war. Shadow wartete so lange wie möglich. Dann zog er seine besten Kleider an, packte einen Koffer, setzte seinen Sombrero auf und küßte Mary, als wäre es ein Abschied für immer. Zwei Tage später stand er vor dem Eingang von Glenmont. Es war eine Villa mit einer großzügigen Steinveranda, zahllosen Schornsteinen und Dachgiebeln. Sie stand auf zehn oder zwölf Morgen wunderschön bewaldeten Grundes in der Nähe des Llewellyn-Parks in West Orange, von wo Edison nur einen kurzen Weg bis zu seiner Fabrik zurückzulegen hatte. Shadow schätzte, daß das Haus über zwanzig oder dreißig Räume verfügte. In der letzten Nacht schlief Shadow kaum und wälzte sich im Bett des billigen Hotels hin und her. Beim Rasieren schnitt er sich zweimal mit seinem Rasiermesser und konnte die Blutung nur durch die massive Anwendung eines Alaunstiftes stillen. Sein Haar war mit Pomade gebändigt, seine Wangen waren leicht gepudert, und sein Herz klopfte wie wild. Als er die Klingel betätigte, ertönte im Haus ein vielstimmiges Glockengeläut. Er wurde von einem englischen Butler eingelassen, der ihn um seine Visitenkarte bat. Er wartete unter einem funkelnden Kristalleuchter. Direkt vor ihm erhob sich eine Marmortreppe. Auf dem ersten Absatz, wo sie sich teilte, drang vielfarbiges Licht durch bunte Glasfenster. Innerhalb von ein oder zwei Minuten zählte er insgesamt sieben verschiedene Hausangestellte, die an ihm vorbeieilten. Er war geradezu eingeschüchtert von soviel Überfluß. Aber auch schamlos neidisch. Der Butler kehrte zurück. Er geleitete Shadow in eine große Glasveranda und teilte ihm mit, Mr. und Mrs. Edison würden bald erscheinen. In dem Raum war es heiß. Zahlreiche Fenster ließen das Sonnenlicht herein. Unzählige große und kleine Grünpflanzen in Tontöpfen füllten den Raum bis auf die Mitte aus. Als Shadow sich in einem von mehreren bequemen Sesseln niederließ, erschrak er über ein Augenpaar, das ihn
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feindselig musterte. Die Augen bestanden aus Glas und befanden sich im Schädel eines ausgestopften Tigers, dessen Fell als Bodenteppich diente. Mit der Schuhspitze schob Shadow den Schädel ein wenig zur Seite, damit der Tiger in eine andere Richtung blickte. Eine Hausangestellte rollte einen kunstvoll gearbeiteten Teewagen aus Holz mit einem silbernen Service und feinen Porzellantassen herein. Sie hob einen silbernen Deckel hoch, um ihm eine Platte mit kleinen Sandwiches zu zeigen. Sogar die Brotkruste war entfernt worden. Sie forderte ihn auf, sich zu bedienen. Ehe sie hinausging, zog sie den Teppich zurecht. Der Tiger fixierte ihn wieder. Die Edisons ließen ihn nur ein paar Minuten lang warten. Mrs. Edison kam als erste herein. Sie war eine angenehme, kräftige Frau mittleren Alters, die ihn mit festem Händedruck begrüßte und sagte: »Hallo, Oberst, ich bin Mina Edison. Und das ist mein Mann Thomas.« Und da war er, der berühmte Zauberer im zerknautschten Anzug, mit dem vertrauten weißen Haar und dem Gesicht eines Boxerhundes. Shadows Hand schoß nach vorne, als würde sie von einem Motor angetrieben. »Eine große Ehre, Sir. Ich darf wohl behaupten – die größte Ehre meines Lebens.« »Ja, danke«, sagte Edison beinahe schüchtern. Zweifellos hat er diese Worte in den fünfzig Jahren seines Lebens schon mehrere tausendmal gehört. »Bitte, setzen Sie sich.« Er hatte eine laute, rauhe Stimme. Mrs. Edison setzte sich in einen Sessel zwischen Shadow und ihrem Mann. »Tee, Oberst? Wir bekommen ihn direkt aus London.« »Sehr schön. Danke«, sagte Shadow. Er haßte das Zeug. »Milch oder Zucker?« »Wie Sie wollen, Ma’am.« Mrs. Edison sah ihn verwirrt an, dann fügte sie einen Schuß Milch und einen halben Löffel Zucker hinzu. »Ich hoffe, so ist es richtig.« Shadow kostete von dem widerlichen Getränk. »Das reinste Ambrosia.« Er wußte nicht, wie er den Rest hinunterwürgen sollte. Unvermittelt sagte Edison: »Mina wird uns Gesellschaft leisten für den Fall, daß ich Sie nicht richtig höre oder verstehe.« Jeder Amerikaner, der lesen konnte, kannte die Geschichte von Edisons Taubheit. Als unternehmungslustiger Junge von zwölf Jahren hatte er – ein regelrechter Horatio-Alger-Typ – als Süßwarenhändler in den Zügen der Grand Trunk Railway gearbeitet, die in Michigan verkehrten. Eines Tages versuchte er, mit einem Stapel Zeitungen, die er neben seinen Süßwaren, Erdnüssen und anderen Waren in den Waggons verkaufen wollte, einen Zug zu besteigen. Der Zug fuhr bereits. Er hatte keine Hand frei. Er rief um Hilfe. Von der
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Plattform des letzten Waggons zog ein Schaffner ihn an Bord. An den Ohren. Wenig später bekam er heftige Kopfschmerzen. Dann trat eine leichte Taubheit ein, die nach und nach zunahm, obgleich, wie Shadow es verstanden hatte, Edison immer noch teilweise hören konnte. Wenigstens fuchtelte er nicht mit so einem verdammten Hörrohr herum. Edison faltete die Hände und legte sie auf seine dunkelgraue Weste. Er hatte einen leichten Bauchansatz. Der Anzug, den er trug, war aus bestem Stoff. »Sie können sich in Minas Gegenwart völlig frei äußern«, sagte er. »Vielen Dank, Sir.« »Ich bin ein einfacher Mann, Oberst. Ich wurde in einer einfachen Stadt geboren, in Milan, Ohio, und ich bin in einer anderen einfachen Stadt aufgewachsen, nämlich in Port Huron, Michigan. Mein Vater war ebenfalls ein einfacher Mann. Er stellte Dachschindeln her. Später verkaufte er Getreide und Viehfutter. Meine Ausbildung erhielt ich auf dem Schoß meiner Mutter und an den Lesepulten der öffentlichen Bibliothek in Detroit, jeweils zwischen den Zügen. Als Junge waren meine besten Freunde Telegraphenbeamte und Eisenbahnschaffner. Einfachheit, wohin man blickte. Sie bestimmt auch heute mein Leben. Ich habe meine Arbeit, meine Frau und meine sechs Kinder. Ich lese viel und unternehme gelegentlich einen Waldspaziergang. Ich habe alles, was ich brauche. Auch hier leben wir sehr einfach.« Ach ja? dachte Shadow. Ich wünschte, ich lebte in einem so »einfachen« Palast, du verdammter Schwindler. Edison trank einen Schluck Tee aus der Tasse, die Mina ihm reichte. »Ich will ganz offen mit Ihnen reden, Oberst.« »Das freut mich, Sir. So ist es immer am besten.« »Wahrscheinlich denken Sie etwas anders darüber, wenn Sie hören, was ich mitzuteilen habe.« Shadow saß reglos da. »Mina, ich kann ihn gut hören. Du kannst uns allein lassen. Bitte bedank dich bei der Köchin für die Erfrischungen.« Sie deutete eine Verbeugung an und ging wortlos hinaus. Schiebetüren wurden geschlossen. Shadow fühlte sich dazu animiert, die Intitiative zu ergreifen, sonst säße er noch bis zum Einbruch der Dunkelheit dort. »In Ihrem Brief war von irgendwelchen Geschäften die Rede, Sir. Geht es um die Filme, die ich herstelle? Haben Sie sie zufälligerweise gesehen?« »Das habe ich nicht. Aber ich habe von ihnen gehört.« Edisons Gesicht und seine rauhe Stimme verrieten überhaupt nichts. »Ich habe Sie zu einem freundschaftlichen Gespräch über das Filmgeschäft ganz allgemein eingeladen. Sind Sie reich, Oberst?«
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Wachsam erwiderte er: »Noch nicht, Sir. Aber ich hege gewisse Hoffnungen.« Zum erstenmal lächelte Edison. »Nun, wenn Sie weiterhin Teile meiner Konstruktionen in Ihren Projektoren verwenden, dann können Sie Ihre Hoffnungen vergessen, denn dann wird die American National Luxograph Company nicht mehr lange existieren.« Aus einer Innentasche seines Jacketts holte er ein Dokument in einem blauen Umschlag hervor. »Ich überreiche Ihnen hier eine Klage, die beim Bundesgericht erhoben wird. Ich verklage Sie, Ihre Partner, Filmverleiher, Angestellten, Erben und Teilhaber in vierzehn Punkten wegen Verletzung der Patentrechte der Edison Manufacturing Company.« Shadow saß da und riß den Mund genauso weit auf wie der ausgestopfte Tiger sein Maul. »Sie haben meine Konstruktionen gestohlen, Oberst. Die Konstruktionen, die ich zusammen mit Mr. Thomas Armat erarbeitet habe.« »Nein, nein, Mr. Edison! Ich kenne Armat nicht. Ich habe mit seinem Partner Charlie Jenkins verhandelt, mehr nicht.« »Sie haben mit ihm verhandelt? Und er hat Ihnen freien Zugang und die Verwendung jedes noch so kleinen Details seiner Arbeit gestattet? Irgendwie habe ich da meine Zweifel, Sir. Allerdings interessieren mich die Umstände Ihres Diebstahls überhaupt nicht, sondern nur die Ergebnisse, die Folgen. Ich habe eine geschäftliche Partnerschaft mit Thomas Armat geschlossen, der, wie Sie sagen, der Partner von Mr. Jenkins ist. Daher haben Sie von Armat, von mir und von den Edison-Firmen gestohlen.« Shadow verspürte den plötzlichen und schmerzhaften Drang, die nächste Toilette aufzusuchen. Er drehte seinen Sombrero hektisch in den Händen. »Sie haben tatsächlich die Absicht, mich vor ein Gericht zu zerren?« »Ja, und Ihnen wird nichts mehr bleiben, dafür werden meine Anwälte sorgen. Sie haben schon stärkere, bedeutendere Männer als Sie ausradiert. Sie hätten nicht meine führende Position in einem profitablen und rasch expandierenden Bereich angreifen dürfen.« »Um Gottes willen, Sir, können wir diese Sache nicht auf andere Art und Weise regeln?« Zum zweitenmal lachte Edison. »Nun, ja, das können wir. Deshalb habe ich Sie persönlich eingeladen. Wir können eine außergerichtliche Regelung vereinbaren, wenn Sie bereit sind, mir Tantiemen für jeden Projektor zu zahlen, den Sie verkaufen oder vermieten, und wenn ich von all Ihren Einnahmen aus dem Filmgeschäft einen prozentualen Anteil erhalte. Die Beträge werden von meinen Buchhaltern überprüft. Ich verlange das uneingeschränkte Recht, jederzeit
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Ihre Geschäftsbücher zu prüfen. Sollten wir uns jetzt nicht etwas zum Schreiben nehmen und ein wenig rechnen? Wie Gentlemen?« Shadow brachte nur ein Murmeln zustande. »Ich habe nichts zum Schreiben bei mir.« Edison griff in eine andere Innentasche seines Jacketts. »Da. Ich nehme stets etwas Derartiges zu Besprechungen wie dieser mit.« Das Tageslicht verblaßte, und die Schatten der Topfpflanzen wurden länger. Sie verhandelten etwa zwei Stunden lang. Shadow hatte das Gefühl, ihm würde ein Unglück passieren, wenn er nicht bald die Toilette aufsuchen konnte. Gnädigerweise sagte Edison nun: »Wir sind fertig. Vielen Dank, Sir. Meine Anwälte werden die entsprechenden Schriftstücke aufsetzen und Ihnen zur Unterschrift vorlegen.« Shadow sprang auf die Füße. Ein Fehler, der seine pralle Blase schmerzhaft reizte. »Sie sind ein harter Verhandlungspartner, Mr. Edison.« »Ja, aber auf diese Art und Weise bleibt man im Geschäft und hat Erfolg. Ehrlichkeit ist immer die beste Geschäftspolitik. Wenn Sie mit der Edison Manufacturing Company zu tun haben, dann ist es die einzige Politik, denn die Alternative ist der totale Bankrott.« Er reichte seinem Besucher die Hand. »Vielen Dank, daß Sie mich besucht haben. Wir werden zusammen sicherlich sehr gut vorankommen. Darf ich Ihnen das Kompliment machen, daß Sie eine sehr gute Stimme haben, Oberst? Kräftig und volltönend. Soll ich Sie hinausbegleiten?« »Ich finde den Weg schon«, erwiderte Shadow. Mit glasigen Augen stolperte er in die Eingangshalle und stürzte beinahe über den großen chinesischen Schirmständer. »Hurensohn«, flüsterte er und meinte damit Edison, während der Butler ihm die Haustür öffnete. Er rannte die Auffahrt hinunter und suchte krampfhaft nach einem passenden Baum. »Geiziger, geldgieriger Hurensohn«, murmelte Shadow, während er auf dem Bahnhof stand und auf den Zug wartete. »Und jeder gottverdammte Schuljunge glaubt, er ist ein Engel. Ein harmloser alter Erfinder, der seine Ideen der Öffentlichkeit aus reinster Menschenfreundlichkeit zukommen läßt. Mein Gott!« Wie sehr sich die Situation doch gewandelt hatte! Jahrelang hatte Edison sich nicht für Filmprojektoren interessiert und es öffentlich kundgetan. Nun konnte man meinen, er habe die Filmbranche erfunden, nur weil gewisse Kreise der Öffentlichkeit dafür bezahlten, sich solche lebenden Bilder ansehen zu können. Was der Zauberer gesagt und ihm angetan hatte, war
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unerhört! Aber jetzt würde er Shadows Geschäfte nicht mehr stören, wenigstens das war sicher. Bald begann Shadow zu lächeln, und dann kicherte er. Er stellte fest, daß sich seine Meinung über Thomas Alva Edison allmählich änderte. Der alte Knochen war eigentlich gar nicht so übel. Viele Leute, die ebenfalls in der Branche tätig waren, sagten, er sei ein großer Förderer des Films, und sie hatten recht. Er wußte, was er wollte, und kämpfte hart dafür, aber das hätte Shadow genauso getan. Er entschied, daß er und Mr. Edison sich ähnelten. Beide waren sie Banditen. Außer, natürlich, daß Mr. Edison ein verdammt genialer, ihm überlegener Bandit war. All diese kleinen Schuljungen und Schulmädchen, die andächtig Bilder von dem freundlichen alten Erfinder betrachteten, wie er seinen Kopf in die Hand stützte, würden niemals etwas von der dunklen Seite der Wahrheit erfahren. Nun ja. So war das Leben nun mal. 82 FRITZI Im Spätsommer des Jahres 1897 wurde Fritzi von ihren Eltern auf eine Reise in den Staat New York mitgenommen. Papa mußte mit einem Geschäftsmann in White Plains über die Eröffnung einer Crown-Filiale irgendwo in Westchester verhandeln, und Mama und Papa mußten sich mit dem Direktor von Carls Schule über die sinkenden Leistungen ihres Sohnes und seine Football-Blessuren unterhalten. Nicht die Blessuren Carls, sondern die Blessuren, die er anderen Spielern zufügte, wenn er mit dem Ball unterm Arm gegen eine Verteidigungslinie anstürmte oder zu einem Touchdown durchstartete. Papa brachte sie in einer Suite in einem Ferienhotel am Ufer des Long Island Sound in der Nähe von Larchmont unter. Fritzi bat darum, an den Aktivitäten des ersten Tages nicht teilnehmen zu müssen. Sie versicherte ihrer Mama, daß sie sich anständig benehmen werde, und verfolgte ihre Abfahrt in einem gemieteten Einspänner. Am Vormittag sonnte sie sich auf den Felsen über dem Sund. Sie träumte von magischen Orten und bedeutenden Persönlichkeiten, die im Dunst im Südwesten verborgen waren. Von den berühmten Theatern des New Yorker Rialto. Von den Idolen der Matinées. Tagträume waren Fritzis Rezept gegen das Leben in Chicago. Sie war im Januar sechzehn geworden und wurde noch immer durch einen flachen Busen gedemütigt. Kaum ein Tag verstrich, an dem sie nicht an ihren älteren Bruder und an Paul dachte. Sie vermißte sie schrecklich.
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In Chicago hatte sie nur einen Verehrer, einen jungen Mann, den sie aus unendlicher Verzweiflung ertrug. Miles Pilbeam lautete sein Name. Er besuchte ihre Kirche. Seine »Sportart« war das Damespiel. Er las zu seiner Zerstreuung mathematische Texte. Insgeheim nannte sie ihn »Miles Pea Brain«, Miles Erbsenhirn. Gegen Mittag, als sie sich zu langweilen begann, ging sie hinunter an den Strand. Es wehte ein kräftiger Wind. Die Wellen trugen weiße Gischtkämme. Ein paar wagemutige Segelboote tauchten tief in die Wellentäler hinab. Sie kam an einer Reihe heruntergekommener Wohnhäuser vorbei, dann folgte ein großes, verschachteltes weißes Gebäude, das sie an ihr eigenes Hotel erinnerte. Nur eine Person saß auf der breiten Veranda in einem Schaukelstuhl. Eine zierliche alte Frau in glänzender schwarzer Seide mit einer schwarzen Stola und einem schwarzen Schal, der ihren Hals bis zum Kinn verhüllte. Auf einer karierten Decke, die um ihre Beine gewickelt war, lag ein zugeklapptes Buch. Die Frau schaukelte sanft und blickte hinaus auf den Sund. Fritzi erinnerte sich an ihre guten Manieren und nickte der alten Dame zum Gruß zu. Erst als sie etwa zehn Meter weiter gegangen war, traf sie der Schock. Sie machte kehrt und rannte mit wild klopfendem Herzen zurück. Sie stieg die breiten, mit Sand bedeckten Verandastufen hinauf, als führten sie zu einem Altar. Die alte Dame mußte an die Siebzig oder gar älter sein. Aber niemand, der das Theater liebte, konnte das prägnante Gesicht übersehen, auch wenn es vom Alter gezeichnet war. Das ausgeprägte Kinn, die strahlend blauen Augen, an die man sich von der Bühne so lebhaft erinnerte. Fritzi hatte gelesen, daß andere berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen sie »die Herzogin« genannt hatten, und zwar aus Angst und Respekt. Sie erzeugte sogar jetzt eine gewisse Furcht, obgleich sie nur sanft schaukelte und vor sich hin lächelte, weil sie sich wahrscheinlich gerade an eine besonders gute Darbietung erinnerte. »Ma’am? Entschuldigen Sie.« »Ja, mein Kind? Was ist?« »Verzeihung, sind Sie nicht« – sie umklammerte die Verandasäule aus Angst, daß sie ohnmächtig wurde –, »sind Sie nicht Mrs. Drew?« Die alte Frau freute sich, daß sie erkannt worden war. Mrs. John Drew hatte in Philadelphia viele Jahre lang das Theater in der Arch-Straße geleitet und dort auf der Bühne gestanden. Sie war die erste Frau, die ihre eigene Schauspieltruppe hatte. Sie war eine Legende. Und da saß sie, in
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Larchmont, klein, alt und müde. »Das ist richtig, mein Liebes. Louisa Drew. Wie heißt du denn?« »Fritzi Crown. Frederica.« »Wohnst du in Larchmont? Ich lebe in diesem Hotel. Es ist für alte Menschen reserviert. Meine Familie hat mich hierhergebracht, als ich mich von der Bühne zurückzog«, sagte sie ohne Bitterkeit. »Ich wohne in Chicago. Aber ich habe Sie einmal auf der Bühne gesehen. Und zwar während Ihrer letzten Tournee zusammen mit Mr. Jefferson in Rivalen.« »Joe«, murmelte die alte Frau und lächelte. Sie wischte sich über die Stirn, als wolle sie eine widerspenstige Haarsträhne bändigen. Das Haar von Mrs. Drew war vollständig unter der Stola verborgen. Keine Strähne war zu sehen. Sie wischte weiter. Fritzi hielt sich an der Säule fest und fuhr aufgeregt fort: »Ich möchte Schauspielerin werden. Ich wünsche es so sehr.« »Tatsächlich? Bist du denn begabt?« »Ich glaube schon. Aber das müssen andere beurteilen.« »Aber du hast den innigen Wunsch.« »O ja.« »Ich weiß nicht, was ich dir in dieser Angelegenheit raten soll.« Eine zerbrechliche Hand deutete auf das Wasser. Es war eine perfekte Bühnengeste – winzig, aber sie fesselte Fritzis Aufmerksamkeit, was auch ihre Absicht war. »Wellen und Schauspieler. Sie sind einander so ähnlich. Sie erscheinen für kurze Zeit, steigen in unterschiedliche Höhe auf und bewegen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Kraft vorwärts. Dann sind sie wieder verschwunden und vergessen.« Die blauen Augen, die in ihrem alten Gesicht leuchteten, durchbohrten Fritzi geradezu. »Begreifst du, was ich sage?« »Ja, das tue ich.« »Und du bist noch immer entschlossen?« »Sehr entschlossen sogar.« »Dann gehe deinen Weg. Es ist ein Gewerbe voller Herzeleid, Zweifel und Verrat, aber insgesamt doch sehr edel. Es gibt nichts, was sich damit messen kann.« Sie streckte die Hand aus und berührte Fritzi, als wolle sie das Mädchen segnen. Mrs. Drews Fingerspitzen fühlten sich an wie altes, trockenes Papier. »Ich wünsche dir Glück bei deinem Bemühen.« Die Fliegentür flog mit einem Knall auf, aufgestoßen von einem Mann in weißem Flanell. Die weiße Linie eines Scheitels teilte sein dunkles Haar
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genau in der Mitte. Sein Kinn hatte ein tiefes Grübchen, seine Zähne waren nahezu makellos. Fritzi schätzte, daß er in ihrem Alter war oder vielleicht ein wenig jünger. Er wirkte auch gar nicht wie ein Junge. Mit seinem teuflisch guten Aussehen ähnelte er viel eher einem Lebemann in einem Bühnendrama. »Mum-mum, geht es dir hier draußen gut? Ist dir nicht zu kalt?« »Nein, nein, es ist alles bestens«, erwiderte Mrs. Drew. Der Junge zupfte ihre Stola zurecht, dann die karierte Decke, auf der das Buch lag. »Miss Fritzi, das ist mein Enkel Jack. Er verbringt mit mir den Sommer hier. Jack hat auch schon auf der Bühne gestanden. Seine Mutter, meine Tochter Georgie, ist Schauspielerin. Sein Vater Maurice Barrymore ist auch Schauspieler –« »Maurice Barrymore? Oh, den habe ich schon mal gesehen.« Fritzi hatte das Gefühl, sie würde keine fünf Sekunden mehr aufrecht stehen können und bei Bewußtsein bleiben. Maurice Barrymore wurde von Frauen wegen seines guten Aussehens und seiner starken Bühnenwirkung angehimmelt. Dieser Junge, Jack, war fast genauso beeindruckend wie sein Vater. Auch er weckte schwärmerische Gedanken an d’Artagnan, an Mondlicht und heimlich ausgetauschte Küsse. »Jack, das ist Miss Crown. Aus Chicago.« Seine dunklen Augen funkelten vor Verachtung für ein derart unscheinbares Wesen. Mit gelangweilter Stimme sagte er: »Nett.« Er ergriff Fritzis Hand und küßte sie. Sekunden später verschwand er wieder im Hotel. Mrs. Drew wünschte Fritzi noch einen schönen Nachmittag. Wenn Fritzis Füße während des Rückwegs den kiesigen Sandstrand berührten, so erinnerte sie sich nicht mehr daran. Ihre Zukunft lag vor ihr und zeichnete sich so klar ab wie ein Maihimmel nach einer Regennacht. Bis zu diesem Tag hatte sie häufig gezweifelt. Ihre Zweifel verstärkten sich jedesmal, wenn Papa sich ablehnend über ihre Pläne äußerte. Aber plötzlich war das, was Papa über Schauspieler und über das Theater äußerte, nicht mehr von Bedeutung. Joe junior war weggegangen. Vetter Paul war nicht mehr da. Falls es nötig wäre – falls Papa es erzwang –, könnte auch sie weggehen. Nach diesem Morgen, diesem magischen Vormittag, gab es für sie keinen anderen Weg. 83 JOE JUNIOR Tage-, wochen-, monatweise drang er nach Westen vor. Mit harter
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körperlicher Arbeit, im Freien, unter einfachen Männern, von denen häufig viele nicht einmal lesen und schreiben konnten. Er hatte sich wieder einen Bart wachsen lassen, der jetzt so lang und dicht war wie der eines Bürgerkriegs-Veteranen. Seine Haut hatte die Farbe von dunkelbraunem Leder. Zwischen seinen verschiedenen Jobs lernte er Entbehrung, Hunger, Heimatlosigkeit kennen. Trotzdem entwickelte er sich weiter; das Leben war ihm freundlich gesonnen. Die majestätische Landschaft westlich des Weizenlandes belohnte ihn mit unglaublicher Schönheit. Und wiederholt mit der gleichen Wahrheit: Die alten menschlichen Eigenschaften Niedertracht und Habgier waren von den Pionieren nicht abgestreift und zurückgelassen worden. Die schwerste Arbeit mußte er an sich selbst leisten, und das ständig aufs neue. Es war das Bemühen, sich von schmerzlichen Empfindungen des Verlustes und des Zorns, des Heimwehs und dem Wunsch nach Rache zu befreien. Es gab einige Erinnerungen, von denen er sich nicht trennen wollte. Erinnerungen an Fritzi, deren Überschwenglichkeit, aus der Entfernung betrachtet, nicht mehr störend, sondern eher reizend erschien. Oder an den bulligen Carl, der immer stärker sein würde, als ihm bewußt wäre, und der so unendlich liebenswert war. An Vetter Paul, den Joe junior fast genauso liebgewonnen hatte wie Carl. Am stärksten war die Liebe zu seiner Mutter. Sie war der Grund, weshalb er ihr immer wieder kleine Symbole seiner Pilgerreise schickte, ohne einen Ort oder ein Ziel anzugeben. Aus Denver sandte er die kleine funkelnde Hälfte einer Geode in einem stabilen Holzkästchen. Der Expreßbote verlangte von ihm nachdrücklich, daß er seinen Namen und seine Adresse daraufnotierte, zumindest eine postlagernde. Genauso nachdrücklich weigerte er sich. Sie würde schon wissen, wer der Absender war. Er wanderte und benutzte Eisenbahnwagen, um die Rockies und die Sierra zu durchqueren. Aus letzterer stieg er hinab in das flache Central Valley von Kalifornien. Es erschien ihm genauso bemerkenswert wie Illinois, jedoch noch beeindruckender durch die spektakulären Berge, die hinter ihm aufragten, und die flacheren, sanfteren Hügel, die vor ihm lagen. Obgleich nur dünn besiedelt, schien das Central Valley ein idealer Ort für den Getreideanbau zu sein. Er erfuhr, daß hier nur wenig Regen fiel, außer in einer kurzen Zeitspanne während des Winters, jedoch immer häufiger künstliche Bewässerungssysteme zur Anwendung kamen. Er stieß im Tal von San Joaquin auf Weizenfarmen, bot sich als erfahrener Arbeiter an und feierte den 4. Juli, indem er mit der Ernte anfing. Dabei arbeitete er mit Wanderarbeitern zusammen, wie er selbst einer war, darunter Iren und sehr viele Ungarn.
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Er zog weiter und verbrachte einige Wochen beim Unkrautjäten auf Zuckerrübenfeldern, die so groß waren, daß ihre Grenzen im Dunst verschwanden. Dort traf er auf Dutzende von chinesischen Arbeitern mit Kulihüten aus Stroh. Zuvor hatte er Chinesen nur auf Photographien gesehen oder in den dampfenden Hallen einer Wäscherei in Chicago. Der eine konnte die Sprache des anderen nicht verstehen, dennoch verständigten sie sich untereinander durch Lachen und Gestikulieren. Als er nach Südwesten vorstieß, legte er eine Zeitlang Eisenbahnschwellen für einen neuen Schienenstrang der Southern Pacific. Abends teilte er sich eine Kanne Kaffee oder eine halbe Flasche Whiskey mit anderen Bahnarbeitern. Er erzählte, er wolle nach Los Angeles. Sie warnten ihn, daß Arbeiter dort nicht willkommen seien, wenn sie mit den Gewerkschaften sympathisierten, was er ganz offen tat. Die örtliche Handelskammer und eine auflagenstarke Zeitung, die von einem gewissen Oberst Otis herausgegeben wurde, warben für ihre Stadt als gewerkschaftsfreies Paradies für Industrie und Wirtschaft in Kalifornien. Er setzte seine Wanderung trotzdem fort. In Los Angeles badete er im Pazifik und stand mit ausgebreiteten Armen am Strand und schmeckte den salzigen Wind aus dem Orient. Er bildete sich ein, exotische Düfte aus den Ländern jenseits des Horizonts riechen zu können. Während der gesamten Reise, sogar im entlegenen Colorado, besuchte er eine öffentliche Bibliothek, wenn er nicht zu schmutzig war und genug Geld in den Taschen seiner Jeans hatte, um sich einen Tag frei zu nehmen. Dort setzte er sich an einen der Tische und verbrachte Stunden mit Lesen. Er vergeudete seine Zeit nicht mehr mit politischen Theoretikern, mit denen Benno ihn bekannt gemacht hatte. Er drang tiefer in die Materie ein aus irgendeinem Bedürfnis heraus, das er weder in Worte fassen noch verstehen konnte. Er versuchte bedeutende Werke zu lesen, um aus ihnen wichtige und wertvolle Gedanken und Ideen zu gewinnen, die für sein entwurzeltes Dasein von Bedeutung sein könnten. Es war ein Leben, dessen Sinn und Zweck, falls es überhaupt so etwas haben sollte, noch nicht klar umrissen war. Er las die Bibel und die großen englischen Dichter, weil er den Wunsch dazu verspürte. Diesmal gab es keinen Joe Crown senior, der ihn dazu anhielt. Keinen pedantischen Lehrer, der sagte, daß er eine dumme Auswahl treffe – »Wie können Sie nur so einfältig sein, Master Crown? Wahrscheinlich gehören Sie an eine ganz andere Schule.« Die Bibliothek, jede Bibliothek, war eine Schule, die er lieben konnte. Wenn die Bibliothekare ihn wegen seines wilden Aussehens oder seines Schweißgeruchs nicht abwiesen, besuchte er die Schule, bis sie für die
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Nacht geschlossen wurde. Er begann ein persönliches Tage- und Notizbuch zu führen. Es war nichts weiter als ein billiges Schulheft aus einem Kaufhaus. Dort trug er Textzeilen und Zitate ein, die eine besondere Bedeutung zu haben schienen. Erst nach einigen Monaten, als er eines Tages die vielen mit Bleistift beschriebenen Seiten durchblätterte und alles noch einmal las, erkannte er, daß er die notierten Passagen nach einem ganz bestimmten Gesichtspunkt ausgewählt hatte. Aus dem Matthäus-Evangelium hatte er ein paar Worte aufgeschrieben, die der Herr im Gleichnis von den Talenten zum dritten Diener sprach. Der dritte Diener hatte sein einziges Talent in der Erde vergraben aus Angst, es zu verlieren, während sein Herr nicht da war. Die anderen beiden Diener hatten mit ihren Talenten gearbeitet und sie vermehrt. Sie wurden vom Herrn gelobt, als er zurückkehrte. Der dritte Diener erwartete ebenfalls ein Lob, erhielt jedoch einen Tadel. Aus der Aeropagitica des blinden John Milton schrieb er den Satz auf: »Ich kann die flüchtige und klösterliche Tugend nicht preisen, die sich niemals hervorwagt und ihrem Feind stellt.« Aus Shakespeares Maß für Maß stammte eine Ermahnung des Grafen: »Dein Ich, und was du sonst besitzen magst, ist nicht dein Eigentum.« Es gab noch weitere Eintragungen dieser Art. Und er begann zu begreifen, weshalb er sie sammelte. Er wollte seinen Mut stärken, um zu protestieren, wenn er erlebte, daß einfachen Arbeitern, zu denen auch er gehörte, schlimmes Unrecht widerfuhr. Die Verhältnisse in Chicago und bei Pullman, aber auch Benno, seine Mutter und sogar sein herrischer Vater hatten in ihm ein Feuer entzündet. Die Worte, die er scheinbar wahllos aufschrieb, sollten ihn daran erinnern, daß große Männer der Vergangenheit, große Denker, überzeugt waren, daß ein solches Feuer nicht in der Dunkelheit des Herzens verborgen bleiben dürfe, sondern hervorgeholt werden müsse, um Menschen zum Handeln und zum Kampf gegen Unrecht und Irrtum zu bewegen. Er ließ dem Feuer bereitwillig freie Bahn, aber nicht ohne einen manchmal hohen Preis. Zweimal wurde er furchtbar verprügelt und einmal, in der Nähe von Ventura, sogar geteert, als er einem Farmer erklärte, er zahle Sklavenlöhne. Er bedauerte durchaus seine Handlungsweise, wenn er nach einer Tracht Prügel Schmerzen litt und blutete und kaum stehen konnte – ja, er bedauerte sie sogar sehr. Aber er bedauerte niemals, dem Heilsruf gefolgt zu sein, den er in sich hörte. Kurz gesagt, er wurde ein Unruhestifter.
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Nicht überall. Nicht in jeder Arbeitsstelle. Manchmal war es nicht nötig. Gelegentlich wurden die Männer ordentlich bezahlt und anständig behandelt. In Riverside, in den wundervollen und idyllischen Orangenhainen, von denen er gelesen hatte, half er bei der Winterernte der Washingtoner Navelorangen auf dem Gut eines Mannes namens J. M. Chance. Er bekam den Eigentümer nie zu Gesicht, aber der Mann brachte seine Pflücker in einfachen, aber sauberen Baracken mit Toiletten und ausreichend fließendem Wasser unter, und er verpflegte sie ordentlich. Riverside war eine der vielen Kleinstädte, die in Südkalifornien während eines großen Baubooms in den achtziger Jahren für Besucher und Spekulanten geplant worden waren. Die Werbung für den Verkauf von Baugrundstücken in diesen neuen Städten wurde von den großen Eisenbahnfirmen bezahlt, wie er in Erfahrung brachte. Sie beschäftigten Schreiber, damit sie Jubelbücher über Kalifornien schrieben, um potentielle Kunden aus dem Osten anzulocken und sie zu überreden, sich doch an der »Mittelmeerküste Amerikas« niederzulassen. Je mehr Siedler kamen, desto besser liefen die Geschäfte der Eisenbahnen. Der Boom war schließlich zusammengebrochen, aber die Städte blieben zurück und existierten mehr schlecht als recht weiter. Genauso wie Riverside war Redlands ein weiteres Zentrum in den »Hainen«. Die Stadt wirkte erstaunlich wohlhabend, besaß mehrere Geschäftsviertel, ein großes Hotel, und eine Eisenbahn, die San-Bernardino-Valley-Linie, verkehrte dort. Joe junior wußte, daß viele Zugereiste Südkaliforniens aus dem Mittleren Westen kamen. Redlands, so erfuhr er, war im wesentlichen von ehemaligen Bürgern Chicagos aufgebaut worden. In Redlands war er in jenem extrem heißen Sommer des Jahres 1897. Er fand eine Arbeit als Pflücker bei der Ernte der Valencia-Orangen, die im Sommer reif wurden. Der große Orangenhain gehörte einem Engländer mit einem Adelstitel. Joe junior arbeitete mit vielen Mexikanern zusammen, die über die Grenze geholt worden waren. Es waren dunkelhäutige Männer mit freundlichen Augen, die sogar in der entsetzlichen Hitze lachten und eine musikalische Sprache hatten, von der er nach und nach einige Brocken aufschnappte. Es gab auch ein paar Chinesen. Sie redeten nur selten. Sie lächelten nie. Ein Mexikaner, der ein wenig Englisch sprach, erklärte Joe junior, daß die Chinesen von allen Fremden am geringsten geachtet wurden. Sie würden ständig ausgenutzt und mißbraucht. Tausende waren aus kleinen »Chinatowns« in ganz Südkalifornien vertrieben worden, weil weißhäutige Arbeiter ihre Jobs wollten. Die weißen Arbeiter haßten die mexikanischen Arbeiter, aber sie verabscheuten die chinesischen Arbeiter noch mehr. Joe
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junior erlebte dies ganz direkt, als ein rothaariger und mit Sommersprossen übersäter Vorarbeiter einer Pflückermannschaft einem chinesischen Jungen einfach die Leiter unter den Füßen wegriß. Als der junge Mann auf den Erdboden prallte, versetzte der weiße Boß ihm mehrere Fußtritte. Für Gott weiß was für ein Vergehen. An seinem vierten Morgen im Redlands-Hain entdeckte Joe weiße Würmer im Haferschleim, der als Frühstück aufs freie Feld gebracht wurde, wo die Arbeiter schliefen. Dazu gab es blau emaillierte Kannen mit Kaffee, der bereits kalt war. Er spuckte einen Mund voll Würmer aus und beschwerte sich beim Vorarbeiter. Die Reaktion auf seine Beschwerde war simpel und kurz. »Wenn dir das Essen nicht schmeckt, dann pack dich. Damit verlierst du auch den Lohn, der deinem Konto gutgeschrieben ist.« »Auch wenn ich aufhöre, haben Sie kein Recht –« »Schnauze.« Der Vorarbeiter, der einen Kopf größer war als er, packte Joe juniors schlanken Arm. Die Finger fühlten sich an wie stählerne Handschellen. »Wenn du weiterhin herummeckerst, dann bekommen wir beide ziemlich viel Ärger miteinander. Mit so was wie dir düngen wir hier den Boden.« Er ließ Joes Arm los und gab ihm einen Stoß. »Was bist du denn, ein Collegejüngelchen, das hier seinen Spaß haben will? Ich hab’ gesehen, wie du in dein Heft geschrieben hast. Was steht da drin?« »Ich glaube nicht, daß Sie das interessiert«, erwiderte Joe und entfernte sich. Er wußte, daß dieser Job genauso enden würde wie einige andere vorher. Am Nachmittag mißhandelte der Vorarbeiter einen anderen Chinesen. »Gottverdammter schlitzäugiger Hurensohn« beschimpfte er den Mann, dessen Zopf, der unter dem Strohhut hervorschaute, schneeweiß war. Der Vorarbeiter schlug dem Chinesen brutal ins Gesicht. So alt und zerbrechlich er war, der kleine Mann wehrte sich. Traf mit zwei entschlossenen, aber matten Boxhieben den Bauch unter dem verschwitzten Hemd des Weißen. Das war genau der Vorwand, den der Vorarbeiter brauchte. Er schleuderte den alten Mann zu Boden, packte seinen Zopf und schleifte ihn ein paar Meter weit als Vorbereitung auf das, was er eine »anständige Abreibung« nannte. Auf der obersten Sprosse seiner Leiter sah Joe junior sich um. Jeder andere Pflücker kümmerte sich ausschließlich um seine Arbeit. Der Chinese heulte und jammerte, als der Vorarbeiter ihn mit Tritten und Hieben traktierte. Joe stieß einen leisen Seufzer aus. In den Hainen lag immer ein wundervoller Duft. Die Orangenblüte war lange vorbei, aber es war immer
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noch eine schwere Süße wahrzunehmen, weil Orangen immer wieder auf dem Erdboden zertreten wurden oder weil sie schon mal mit einem Daumennagel aufgerissen wurden, um an den Saft heranzukommen. Es war ein Duft, den Joe liebte. Er wünschte, er brauchte nicht schon bald wieder darauf zu verzichten. Ich kann die flüchtige und klösterliche Tugend nicht preisen, die sich niemals hervorwagt… Der alte Chinese schrie lauter. Ein deutlich hörbares Knacken ertönte, als ein Knochen brach. Joe kletterte schnell die Leiter hinunter. Achtundvierzig Stunden später ging – stolperte – er in den kleinen Kaufmannsladen gegenüber dem Bahnhof von Redlands. Seine Handrücken waren dunkel von Blutergüssen. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und hatte erst zu bluten aufgehört, als er längere Zeit einen Stoffetzen darauf gepreßt hatte. Sein rechtes Auge war geschlossen, verklebt mit Blut und Augenmasse. Das Lid war geschwollen, das Fleisch drum herum dunkel verfärbt. In dem kleinen Laden war es heiß, staubig und still. Offene Fässer voller Nägel, Rechen und Hacken in einer Tonne, Jutesäcke voll Hühnerfutter, die im spärlichen Sonnenlicht standen, das durch das Schaufenster hereindrang, all das erinnerte ihn an altmeisterliche Stilleben. Er klopfte behutsam mit seinen geschundenen Fingerknöcheln auf die Theke. Ein kleiner Mann mit abfallenden Schultern und mißmutiger Miene kam aus dem Hinterzimmer. »Ich möchte ein Andenken kaufen. Aber ich habe nicht viel Geld.« Der Ladeninhaber wischte seine sauberen Hände an seiner ebenso sauberen weißen Leinenschürze ab. »Wer hat denn dein Gesicht so hergerichtet?« »Ein Mann draußen in den Dorset-Hainen. Er hat einen der anderen Pflücker mißhandelt.« »Einen Weißen oder einen Chink?« »Macht das was aus?« »Eine ganze Menge.« »Ich wüßte nicht, warum.« Der Ladeninhaber wich ein Stück von der Theke zurück. »Bist du etwa einer von diesen roten Aufrührern? Es scheint, als kämen jedes Jahr mehr von der Sorte in unsere Haine.« »Ich gehöre keiner Arbeiterorganisation an, wenn Sie das meinen.« Noch nicht. »Du kommst aus dem Osten.« »Chicago.«
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»Das ist das gleiche. Östlich der Sierra auf jeden Fall.« Er wischte erneut seine Hände an der Schürze ab. »Ihr kommt hierher, kauft uns das Land weg und glaubt, ihr hättet damit das Recht, uns vorzuschreiben, wie alles getan werden muß. Ich wurde in Los Angeles geboren, als dort noch Wüste war und höchstens ein paar Lehmhütten herumstanden. Jetzt gibt es jede Menge Baustellen und Stadtrundfahrten, und ihr gottverdammten Leute aus dem Osten erklärt uns, wie man lebt.« »Vielleicht muß man es Ihnen erklären. Es ist doch möglich, daß Sie hier draußen noch ziemlich unzivilisiert sind.« Der Ladeninhaber spuckte aus. Joe junior hörte das Klirren eines versteckt stehenden Spucknapfs. Er hätte sich eigentlich denken können, daß dieser ordentliche Mann mit der ordentlichen Krawattenschnur und dem schütteren, geölten, sorgfältig gekämmten Haar niemals auf den Fußboden spucken würde. »Wenn du so weiterredest, dann passiert dir schnell wieder was Schlimmes.« »Damit rechne ich.« »Ich meine etwas wirklich Schlimmes. Das Schlimmste. Geh nach San Francisco, da werden Leute wie du geduldet. Rote. Willst du jetzt was kaufen oder nicht?« »Ich hätte gerne ein kleines Geschenk für meine Mutter.« »Das da ist sehr beliebt.« Aus einem Regal hinter sich nahm er die kleine Nachbildung einer Orangenkiste, die mit dunkelblauen Buchstaben beschriftet war. SOUVENIR aus den berühmten Orangenhainen von REDLANDS, KALIFORNIEN »Wo das ganze Jahr die Sonne scheint.« »In der Kiste sind Bonbons«, erklärte der Ladeninhaber. »Ich hätte auch keine richtigen Orangen erwartet. Wieviel?« »Fünfzehn Cents.« »Auf dem Schild im Regal steht aber zehn Cents.« »Ich hatte noch keine Zeit, ein neues zu schreiben. Also willst du, oder willst du nicht?« Joe junior bezahlte das Geschenk und verließ den Laden. Er fand ein Postamt, schrieb mit dem Federhalter und der Tinte im Schreibpult die Adresse auf die kleine Kiste und kaufte dann eine Briefmarke. »Wir verschicken viele von diesen Dingern –« Der Postangestellte verstummte, als er Joes mißhandeltes Gesicht bemerkte. »Kein Absender?«
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Joe schüttelte den Kopf. Er ging zum Bahnhof und setzte sich auf den Deckel einer Gerätekiste auf dem Bahnsteig, wo er den heilsamen Sonnenschein auf seinem Gesicht genoß. Er holte das abgegriffene Notizbuch aus dem Rucksack, den eine freundliche Farmersfrau in der Nähe von Merced für ihn aus vier alten Halstüchern zusammengenäht hatte. Während er in dem Buch herumblätterte, fragte er sich, ob die Autoren der verschiedenen Textpassagen überhaupt wußten, wie schwierig es war, ihre Ratschläge zu befolgen und sie nicht nur zu verkünden. Er fühlte sich müde und niedergeschlagen; und es wurde auch nicht besser, als der Bahnhofsvorsteher herauskam und ihn von seinem Sitzplatz verscheuchte. Er verließ Redlands gegen Abend zu Fuß und marschierte nach Norden.
84 PAUL Paul wünschte sich, Jimmy würde seine Drohung aufzuhören endlich wahrmachen. Mit ihm ein Zimmer zu teilen war nie besonders angenehm gewesen, doch jetzt wurde es zu einer Qual. Jimmy verbreitete rund um die Uhr schreckliche Unruhe und brachte manchmal sogar ein Mädchen mit. In jenen Nächten war Pauls einziger Trost eine Trennwand aus einem Bettlaken, das er und Jimmy über einen Draht gehängt hatten. Auf vielfältige andere Art und Weise demonstrierte Jimmy weiterhin seine Abneigung gegen Paul. Gegen seinen wachen Geist, seine Bereitschaft zu arbeiten, sein Bestreben, jeden Bereich des Geschäfts zu beherrschen. Shadow erwies sich dabei nicht als hilfreich. Er gab sich überhaupt keine Mühe, seine zunehmende Sympathie für Paul zu verbergen. Gewöhnlich stellte er Paul als seinen »Assistenten« vor, und Jimmy blieb weiterhin »mein Helfer«. Es kam Paul so vor, als gehörte Jimmy nicht ins Filmgeschäft oder in irgendein anderes vernünftiges und ehrbares Gewerbe. Jimmy war habgierig und kannte kaum Skrupel. Weshalb er nicht eine der lukrativeren Tätigkeiten aufnahm, die es im Levee gab, konnte Paul nicht begreifen. Und dann verliebte Jimmy sich. Eines Abends im Januar 1898 brachte er eine üppige blauäugige Göttin von einem Mädchen mit. Nicht um mit ihr ins Bett zu gehen, sondern um damit am Abendbrottisch zu prahlen. Sie war siebzehn, vielleicht auch schon achtzehn, und Jimmy war außerordentlich nervös, als er sie vorstellte. Miss Honoria Fail. Sie sagte, »Honey« sei ihr lieber. Ihre Stimme klang hoch und dünn. Es war eine
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Kinderstimme in einem Körper, der alles andere als kindlich war. Sie hatte eine reife Lillian Russell-Figur. Ihr strohblondes Haar war aufgetürmt und mit Nadeln festgesteckt. Und sie trug weiße Handschuhe. »Wo haben Sie denn diesen jungen Hüpfer kennengelernt, Miss Fail?« erkundigte Shadow sich. »Doch hoffentlich nicht in dieser Gegend hier, oder?« »O nein, Sir, wir sind uns in Pflaum’s Music Hall begegnet. Meine Tante Maureen hat mich dorthin mitgenommen, um sich die lebenden Bilder anzusehen. Sie hatte Angst, allein hinzugehen, sie ist nämlich eine alte Jungfer. Ich hatte die Bilder auch noch nicht gesehen. Ich fand es aufregend. Nachher, in der Halle, haben wir doch tatsächlich Tante Maureens Freundin Sally Phelan getroffen. Die beiden fingen eine Unterhaltung an. Dabei haben Jimmy und ich uns kennengelernt.« Miss Fail lächelte ganz reizend. »Ich glaube nicht, daß ich reagiert hätte, als Jim mich ansprach, wenn Tante Maureen nicht auf der anderen Seite der Vorhalle gestanden und Sally ihr Beileid zum Tod ihres Mannes kurz nach Weihnachten ausgesprochen hätte. Jimmy war ziemlich dreist.« Sie kicherte. »Er kam auf mich zu, nannte seinen Namen und sagte, er habe die Filme gedreht, die sie im Saal gezeigt hatten. Ich war beeindruckt! Als er mich nach meiner Adresse fragte, bekam ich richtig weiche Knie. Ich wußte, daß ich es eigentlich nicht tun sollte, aber ich gab sie ihm.« »Ihre Telephonnummer auch«, fügte Jimmy hinzu. »Ihre Eltern haben in ihrem Haus gleich zwei Apparate.« Honey Fail kicherte wieder, errötete und griff schutzsuchend nach Jimmys Hand. Während des Abendessens erzählte sie eine Menge von ihrem Priester und ihrer Kirchengemeinde auf der South Side. Es schneite leicht, als Jimmy Miss Fails Muff holte, um sie mit der Bahn nach Hause zu bringen. Sie verabschiedete sich rundum mit Handschlag. »Oberst Shadow. Mary. Paul. Es war mir ein Vergnügen, Sie alle kennenzulernen. Ich hoffe, ich sehe Sie in Zukunft häufiger. Und das werde ich bestimmt, wenn Jimmy mich wieder mal einlädt. Ihr Geschäft ist ja so aufregend.« »Genau meine Meinung«, sagte Jimmy und setzte seinen Hut auf. Er wünschte allerseits eine gute Nacht und geleitete mit sichtlichem Stolz Honey Fail zur Treppe. Als sie gegangen waren, sagte Shadow: »Ich kann’s kaum fassen. Zum erstenmal zeigt der junge Spund an irgendwas Interesse.« »Ich würd’ sagen, der Liebespfeil hat ihn getroffen«, meinte Mary. Shadow lockerte seine Krawatte. »Jim sollte lieber vorsichtig sein. An seiner Stelle würde ich mir bei diesem kleinen Prachtstück keine Freiheiten
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herausnehmen.« »Ist sie denn was Besonderes?« wollte Paul wissen. »Kleiner, dieses hübsche kleine Ding ist nur die Tochter des mächtigsten Ratsherrn der Stadt. Eines Mannes, der gleich neben Bathhouse John und Hinky Dink rangiert. Francis X. Fail von der South Side. Er trägt den Spitznamen ›Hot Stove Fail‹, Heißer Ofen –, denn er stiehlt einfach alles, sogar glühende Öfen. Doch er zieht eine klare Trennlinie zwischen öffentlichen Betrügereien und häuslicher Moral. Er ist ein strammer Katholik. Hat fünf Töchter. Die älteste ist dreiundzwanzig, und soweit ich gehört habe, ist jeder seiner kleinen Lieblinge noch Jungfrau. Falls es eine nicht mehr ist und Ratsherr Fail dahinterkommt, dann tut mir der verantwortliche junge Mann jetzt schon leid.« So kam es, daß Jimmy Daws weiterhin beim Oberst angestellt war und eine positivere Einstellung an den Tag legte. Er beschwerte sich seltener. Manchmal tat er sogar so, als machte die Arbeit ihm Spaß. Honey Fail kam mindestens einmal in der Woche zum Abendessen, redete dabei über ihre Schwestern, ihren Priester, ihre Pfarrei und über die Filme – »So aufregend, die tollste, wunderbarste Erfindung, die je gemacht wurde!« Sie war einfältig auf eine harmlose, unschuldige Art. Paul mochte sie sehr gerne. Am Mittwoch, dem 16. Februar, schoß Paul aus seinem Bett hoch, als er den Oberst auf der anderen Seite der Wand zwischen Schlafzimmer und Küche »O mein Gott!« rufen hörte. Er schlüpfte hastig in seine Hosen, dann in sein Unterhemd. Jimmy schlief weiter. Paul huschte auf Zehenspitzen über den eiskalten Fußboden und klopfte an die Küchentür. Shadow saß am Tisch und war mit einem alten Hausmantel aus Samt bekleidet, der an einem Ellbogen ein Loch aufwies. Mary klapperte mit der blau emaillierten Kaffeekanne auf dem Herd. Eisblumen bedeckten mit bizarren Mustern die Fensterscheiben. Paul bemerkte die Stiefel des Obersten, die triefnaß auf einer Zeitung standen. Er war bereits durch den Schnee gestapft, um sich seine morgendliche Tribune zu holen. »Dutch, es gibt tolle Neuigkeiten. Die tollsten überhaupt. Lies!« Er hielt die Titelseite hoch. EXTRABLATT! 3:30 UHR MORGENS MAINE IN HAVANNA GESPRENGT
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Amerikanisches Schlachtschiff vermutlich durch schreckliche Explosion an Bord zerstört Zahlreiche Todesopfer und Schwerverletzte Alle Rettungsboote des spanischen Kreuzers Alfonso XII. eilen den Offizieren und der Mannschaft des zerstörten Kriegsschiffs zu Hilfe. »Wie kann so etwas passieren? Sie haben doch nur einen Freundschaftsbesuch gemacht.« Paul hatte jede Meldung aus Key West und Kuba aufmerksam gelesen. Die Maine hatte ihren Liegeplatz in den Dry Tortugas vor fast drei Wochen verlassen und war nach Havanna gedampft. »Na sicher, ganz freundschaftlich«, sagte Shadow und verdrehte die Augen. »Aber es wird doch immer noch gekämpft. Vielleicht hatte unser Konsul, dieser alte Rebell Fitzhugh Lee, die Absicht, den Spaniern die schweren Geschütze eines amerikanischen Kriegsschiffs vorzuführen. Hast du schon mal daran gedacht?« »Selbst wenn, auf jeden Fall steht in den Zeitungen, daß die spanischen Offiziellen den amerikanischen Seeleuten einen Empfang bereitet haben, der« – er suchte nach dem richtigen Wort – »herzlich war.« »Sie haben das Schiff verdammt noch mal in die Luft gesprengt. Ist das herzlich?« »Gibt es einen Beweis dafür, daß die Spanier es getan haben?« »Zum Teufel, nein, es ist einfach passiert. Aber ich verwette mein ganzes Geld, daß die Spanier dahinterstecken.« »Wann genau ist das Schiff gesunken?« »Zwischen halb zehn und zwanzig vor zehn gestern abend. Die Telegraphenmeldung sagt, daß das Schiff vor Anker lag und daß alles ruhig war. Dann – Peng! Ich bin der gleichen Meinung wie Mr. Hearst – wir sollten diese verdammten Spanier gründlich verdreschen und sie für immer aus diesem Teil der Welt verjagen.« Marys Pantoffeln schlurften über den Linoleumboden. Sie nahm mit einer randvollen Kaffeetasse in der Hand neben Shadow Platz. Ihr Dekolleté war so weiß wie Milch und wurde von ihrem roten Hausmantel nicht ausreichend verhüllt. Sie wischte sich über die Augen. »Die armen Matrosen. Wie viele sind umgekommen?« »Das weiß niemand genau. Wahrscheinlich an die zweihundert.« »O mein Gott, Sid, das ist furchtbar. Denk doch nur an all die trauernden Mütter und Ehefrauen.« Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre. Shadow ließ die Zeitung fallen. Seine Augen glänzten. »Bedenkt doch mal, was für einen Film man daraus machen könnte!«
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Die Maine-Katastrophe ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als Amerika kaum gewillt war, gegenüber der Regierung in Madrid Nachsicht zu üben. Anfang Februar hatte Enrique Dupuy de Lôme, der spanische Botschafter in den Vereinigten Staaten, einen persönlichen Brief an einen spanischen Zeitungsreporter geschickt, der sich in Kuba aufhielt und Material sammelte. Irgendwie fiel dieser Brief in die Hände der revolutionären Junta in New York. Die Revolutionäre gaben ihn an sensationshungrige Journalisten des Journal von William Randolph Hearst weiter. Ein Faksimile des Briefs erschien, zusammen mit einer Übersetzung, auf der Titelseite. Präsident McKinley wurde als »schwach und dem Pöbel hörig« charakterisiere, weil er, wenn auch widerstrebend, die Unabhängigkeit Kubas befürwortete. Er wäre »ein kleiner Politiker, der sich die Nationalisten seiner eigenen Partei gewogen stimmen will«. Die Leitartikler Hearsts nannten das die schlimmste Beleidigung der Vereinigten Staaten seit ihrem Bestehen. Als die Einzelheiten der Maine-Katastrophe bekannt wurden, gab es kaum ein anderes Thema auf den Titelseiten der Chicagoer Zeitungen. EXTRABLATT! EXTRABLATT! 253 TOTE Vernichtung des Schlachtschiffs Maine schlimmste Katastrophe aller Zeiten für die Marine der Vereinigten Staaten Chicago von Verrat überzeugt Patriotismus in aller Munde Spanien soll Unschuld beweisen. Spanische Granden zeigen Zähne. Kriegsdrohungen gegen General Lee nach Ankündigung des Besuchs der Maine in Havanna Kommandeur kannte Gefahr heimtückischen Überfalls, mußte jedoch dienstlichem Befehl widerspruchslos gehorchen. Hauptstadt kriegsbereit, Regierung wachsam Roosevelt bedauert, daß gesamte Flotte zur Zeit nicht in Havanna. Präsident McKinley bittet um Geduld, genaue Untersuchung angeordnet
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Marineexperten sollen klären, ob Versenkung des Schlachtschiffs Komplott der Spanier oder Unglücksfall Sobald Fakten bekannt, wird Reaktion erfolgen, die der Würde der Nation entspricht. Bereit für Kuba! Siebtes Regiment der Nationalgarde von Illinois bis Sollstärke aufgefüllt Irische Jungs begeistert von der Nachricht, bieten bereitwillig ihre Dienste an. Zwei Tage nach Erscheinen des Extrablatts der Tribüne nagelte Shadow einen 40 Zentimeter großen Fahnenmast auf einen hölzernen Sockel, den er zusammengezimmert hatte. Der Mast war aus einem dicken Balken geschnitten worden und trug eine Winde am oberen Ende. Paul besorgte in einem Laden eine kleine Dose Goldfarbe, mit der er den Mast strich, während Mary eine kleine spanische Flagge zusammennähte. Amerikanische Flaggen fand man überall. Sie wurden in der ganzen Stadt an den Straßenecken zusammen mit Photos von der Maine verkauft, ehe sie im Schatten der Burg El Morro in einen Haufen verbogenen Stahls verwandelt worden war. Sie drehten den Film auf dem Dach an einem eisigen, windigen Tag. Shadow hatte die Kamera mit fester Brennweite so aufgestellt, daß sie den nackten Fahnenmast einfing, aber nicht seinen Sockel. Jimmy kniete sich mürrisch neben eine Feuerstelle, die behelfsmäßig aus einer Bratpfanne und einigen Ziegelsteinen zusammengebaut worden war. In der Pfanne zündete Paul Zunder und Holzkohlestücke an, dann spritzte er Bratfett ins Feuer, um Rauch zu erzeugen. Shadow wies Paul an, sich hinter die Kamera zu stellen, dann kniete er sich außerhalb des Blickfelds der Kamera neben das Stativ. »Qualm, ich brauche Qualm.« Jimmy betätigte einen alten Kaminblasebalg. Mary schwenkte einen Kissenbezug über der Pfanne hin und her und ließ den stinkenden Qualm in Richtung Fahnenmast treiben. Jimmy bekam daraufhin einen Hustenanfall, und seine Augen tränten. »Mein Gott, das ist ja furchtbar!« »Sei still, betätige den Blasebalg!« Shadow zog an einer Leine, die Paul gespannt hatte. Die improvisierte spanische Flagge stieg am Fahnenmast hoch. »In Ordnung, los geht’s!« »Ich bin bereit!« rief Paul und begann, die Kurbel zu drehen. Shadows kräftige Hand mit ihrem entblößten Handgelenk sauste auf die
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Spitze des Fahnenmastes herab. Im fertigen Film würde sie aussehen wie die Hand eines Riesen. Mary hatte für die Ösen der Fahne nur ein paar Fäden verwandt. Shadow raffte die spanische Flagge zusammen und riß sie mit einer heftigen Bewegung ab. »Drehst du noch?« rief er, ohne sich umzudrehen. »Ich drehe.« Shadow befestigte die amerikanische Flagge an der Leine und zog sie hoch. Jimmy pumpte wie wild mit dem Blasebalg. Mary wedelte mit dem Kissenbezug. Der winterliche Wind ergriff die Stars and Stripes und entfaltete sie. »Das ist wundervoll!« rief Paul. »Einfach perfekt!« Und als die Zuschauer bei Pflaum’s den einminütigen Streifen mit dem Titel Amerikas Antwort an die Despoten! zu sehen bekamen, war die Reaktion überwältigend – Leute drängten sich auf den Gängen, sie brüllten und reckten die Fäuste in die Luft, andere stiegen auf die Sitze, verfluchten die Latinos und brüllten nach Krieg. Iz Pflaum befürchtete ernsthaft, die Polizei rufen zu müssen. In der Küche feierten sie mit Bourbon und einigen Flaschen Crown’s den Erfolg ihres voraussichtlichen Verkaufsschlagers. Sogar Jimmy war stolz auf den kurzen Film. Shadow wischte Marys Komplimente mit einer Handbewegung beiseite. »Das ist noch gar nichts verglichen mit dem, was ich jetzt vorhabe. Ein richtiges Ausstattungsdrama. Wir fangen morgen mit dem Kauf und der Herstellung von Requisiten und Kulissen an.« Die endgültige Zahl der Todesopfer in Havanna betrug 268. Die Klatschpresse forderte: »Denkt an die Maine!« Massenweise versammelten Amerikaner sich nun unter den Fahnen, die vorher nur die säbelrasselnden Nationalisten geschwungen hatten. Am 8. und 9. März verabschiedete der Kongreß im Eilverfahren ein Gesetz zur Bereitstellung von Kriegsgeldern in Höhe von 50 Millionen Dollars. McKinley unterzeichnete es, obgleich er offen zugab, über die Aussicht auf einen Krieg nicht sehr glücklich zu sein, und auch wenig Lust bekundete, eine Position einzunehmen, die einen solchen provozieren könnte. Ein Untersuchungsausschuß der Marine trat zusammen, um den Untergang eingehender zu untersuchen. Dabei ging es im wesentlichen um die Klärung der Frage: War die Katastrophe durch eine spanische Mine oder durch eine Staubexplosion in einem Kohlebunker ausgelöst worden? Ende März übersandte der Ausschuß seinen Untersuchungsbericht dem Kongreß. Der Untergang der Maine war höchstwahrscheinlich durch eine Treibmine unbekannter Herkunft ausgelöst worden.
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Die rote Linie auf dem Kriegsthermometer stieg ruckartig weiter nach oben. Der Unterstaatssekretär im Marineministerium Roosevelt sagte, ein Krieg sei unausweichlich und der Präsident solle endlich einmal Entschlossenheit beweisen. Tausende gewöhnlicher Durchschnittsamerikaner schlossen sich dieser Sicht an. Aber auch herausragende Persönlichkeiten äußerten sich zustimmend, unter ihnen Buffalo Bill Cody und der längst pensionierte Bandit Frank James. Auf dem Dach schuf Oberst Shadow seinen Film mit dem nicht gerade von Originalität strotzenden Titel Denkt an die Maine!!! Das dreifache Ausrufezeichen war die persönliche kreative Note des Obersten. Er und seine Assistenten bauten einen Holzrahmen. Es war im Grunde eine große rechteckige Kiste ohne Seitenwände. Sie bespannten sie mit einem dicken Leinenstoff, den Mary zusammennähte. In diesen Stoffeinsatz schütteten sie Wasser. Das Gebilde sollte den Hafen von Havanna darstellen. An einer der Längsseiten befestigten sie eine Papptafel als Hintergrund. Diese bemalte Paul mit blauer Wasserfarbe, und Jim dekorierte das Ganze mit Wolken aus Baumwollwatte aus der nächsten Drogerie. An den unteren Rand des Hintergrunds, dicht über das Wasser, klebten sie Bilder von Gebäuden mit Ziegeldächern, die sie aus Ansichtskarten von Lissabon in Portugal ausgeschnitten hatten. Eine aus einer Illustrierten entnommene Zeichnung der Festung El Morro wurde an einer Seite hinzugefügt. Mary bastelte ein paar mickrige Palmen aus Draht und braunem und grünem Kreppapier. Diese wurden in Löcher im Hintergrund eingesteckt, so daß es aussah, als wüchsen sie vor den Gebäuden. Paul dachte, daß das Ganze lächerlich aussah und niemanden täuschen würde. Shadow prophezeite fröhlich, daß es nicht das geringste ausmache, und fragte Paul, ob er seine Bemerkungen nicht für sich behalten könne. Jimmy sägte kleine rechteckige Holzklötze zurecht. Mary schnitt ein großes Photo von der Maine aus. Sie hatten insgesamt drei dieser Bilder bei Straßenhändlern erstanden. Die beiden zusätzlichen Photos hatten sie als Reserve vorgesehen. Mit Hilfe von Polsternägeln befestigte Paul das Bild der Maine an einem der Holzklötze. Die kleineren Klötze versah er auf ähnliche Art und Weise mit ausgeschnittenen kleinen Krabbenbooten. (»Gibt es überhaupt Krabbenboote im Hafen von Havanna, Oberst?« »Dutch, mein lieber Freund, glaubst du im Ernst, die ungebildeten Itaker und Pollacken, die gerade mit dem Schiff rübergekommen sind und sich zu Pflaum’s verirrt haben, zerbrechen sich darüber den Kopf?«) An den Krabbenfängern befestigte Mary dünne Fäden, an denen sie durchs Wasser
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gezogen werden konnten. Als alles bereit war, warteten sie auf einen sonnigen und wolkenlosen Vormittag, dann stürmten sie in aufgeregter Erwartung aufs Dach. Paul plazierte sorgfältig vier Prisen Schießpulver auf dem Holzklotz, an dem die ausgeschnittene Maine befestigt war. Dann legte er hinter der Kulisse eine Flasche Alkohol, einen langen Draht, dessen Spitze mit Watte umwickelt war, und Zündhölzer bereit. Shadow rieb sich die Hände und begutachtete die Vorbereitungen. Jimmy fachte wieder das Holzkohlenfeuer mit dem Blasebalg an. »Wir brauchen noch mehr Qualm als das da.« Shadow griff in seine Manteltasche und reichte Mary eine Zigarre. »Zünd sie an!« »Sid, ich rauche doch nicht.« »Aber jetzt. Denk daran, du tust es für die Kunst.« »O mein Gott, das wird mich umbringen.« Shadow beachtete ihr Jammern nicht. Paul leerte Eimer für Eimer in das Stoffbecken, bis der Wasserstand den unteren Rand des Hintergrunds erreichte. »Fixier das Schlachtschiff!« befahl Shadow. Paul hatte zwei gebogene Nägel in der Hand und tauchte den Arm bis zur Schulter ins Wasser. Er bohrte die Nägel wie Angelhaken in den Beckenboden. Die Wirkung war beeindruckend. Fäden, die von den Nägeln zum Schlachtschiff gespannt waren, ließen es sacht auf den Wellen tanzen. Paul hoffte nur, daß das Wasser nicht zu schnell durch die Nagellöcher im Boden hinaussickern würde. »Los geht’s, ich drehe!« Paul stellte sich vor, daß man Shadow noch eine Straße weiter hören konnte. Der Oberst schien Lautstärke mit Kreativität gleichzusetzen. »Qualm, verdammt noch mal!« Jimmy arbeitete wie ein Verrückter mit dem Blasebalg. Mary sog an der Zigarre und blies den Rauch aus, sie sog und blies. »Die Krabbenboote!« Paul kroch zu einem Ende des Beckens, löste zwei Fäden von einem Nagel und zog zwei ausgeschnittene Boote hinter der Maine vorbei über das Wasser im Becken. »In Ordnung, sie sind nicht mehr zu sehen. Laß sie los!« Paul eilte hinter das Becken. Shadow verlangte mehr Qualm. Mary stöhnte und schwankte bereits. Sie sah richtig krank aus, aber sie paffte weiter. Paul beeilte sich, das mit Watte umwickelte Ende des Drahtes in den Alkohol zu tauchen, dann zündete er es an. Er schob einen Arm durch eine vorbereitete Öffnung im Hintergrund und betete im stillen, daß er mit der
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brennenden Watte die Schießpulverhäufchen erreichte. Mit einem kleinen Knall explodierte die Maine. »O mein Gott! Das ist sensationell!« brüllte Shadow und hörte sofort auf zu drehen. Er schlang beide Arme um Marys Taille und tanzte mit ihr herum. Mary stöhnte. »O Sid, hör auf, bitte, oder ich muß brechen.« Sie schwankte zum Dachsims, setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Sie drehten die ausgeschnittene Maine um, spannten neue Fäden und fachten wieder den Qualm an. Paul mußte dann das Schlachtschiff mit dem Bug zuerst unter Wasser ziehen. Er ging etwas zu hastig vor, als er neue Haken im Beckenboden befestigte, und der Leinenstoff zerriß. Der Wasserspiegel des Hafens von Havanna sank sehr schnell, während die Maine »unterging«. Shadow versicherte ihnen, daß der Effekt so phantastisch sei, daß niemand etwas merken würde. »Vertraut mir nur.« Als Paul an diesem Abend zu Bett ging, fragte er sich, ob alle Leute im Filmgeschäft verrückt wären. Wenn ja, dann war auch er nun einer dieser Verrückten. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte daran, wieviel Spaß ihm alles gemacht hatte. Tatsächlich fing er an, dieses Geschäft zu lieben. Denkt an die Maine!!! sorgte für eine Sensation in der Branche und für endlos lange Warteschlangen vor Pflaum’s Music Hall. Obgleich deutlich als Fälschung erkennbar und völlig ohne Musik präsentiert, war das Publikum wie gebannt. Paul ging dreimal zu Pflaum’s, saß in der von einem silbernen Flackern erhellten Dunkelheit und dachte nach. Jeder Trick und künstliche Effekt in dem Film war unglaublich primitiv. Nur ein kleines Kind oder ein Idiot würde die ausgeschnittenen Schiffe und den Hintergrund für echt halten. Dennoch geschah dort oben auf der zehn Meter großen Leinwand etwas Magisches. Die Szene lebte, weil sie sich bewegte. Das Wasser glitzerte im Sonnenschein – dabei war völlig gleichgültig, daß die Maine nach neun Uhr an einem Winterabend gesunken war. Der Qualm wallte durch das Bild, und das ausgeschnittene Schiff verschwand mit erstaunlicher Abruptheit unter Wasser. Am Ende des Films erschien eine Karte, auf die Paul den Titel des Films noch einmal aufgeschrieben hatte: Es war die Ermahnung, immer an die Maine zu denken. Die Reaktion des Publikums war immer die gleiche. Die Leute brüllten, stampften mit den Füßen, trommelten auf die Rückenlehnen und demolierten in einem Zustand patriotischer Raserei manchmal sogar Iz
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Pflaums Sitze. Paul war noch immer unzufrieden. Er verglich den Film über die Maine mit dem Streifen vom heranrasenden Cannonball. Der eine Film war ein Trick und ein Schwindel, der andere war ehrlich und echt. Die Leute waren nicht so dumm. Sie sahen sicherlich die Unterschiede, und wenn der Reiz des Neuen an den Filmen verflogen wäre, würden sie sich gegen alles Falsche wehren. Wieviel besser wäre es doch gewesen, hätte die Luxograph-Kamera an jenem Abend auf der Hafenpromenade in Havanna gestanden. Natürlich war es unmöglich, eine Katastrophe vorauszusagen. Und der Untergang der Maine hätte wegen der Dunkelheit sicherlich nicht mit dem zur Verfügung stehenden Filmmaterial festgehalten werden können. Aber wie wäre es denn mit einem größeren Ereignis, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckte? Viele Amerikaner rechneten mit Krieg. Sie sprachen sich sogar vehement dafür aus. Falls es wirklich Krieg geben würde, warum sollte man nicht mit der Luxograph-Kamera hinfahren und die wirklichen Ereignisse aufnehmen? Diese Möglichkeit reizte ihn. Hatte Shadow nicht genau das gemeint, als er Paul damals eingestellt und ihm, betrunken, wie er war, einen visionären Vortrag über die spektakulären Möglichkeiten für die lebenden Bilder gehalten hatte? Einer Sache war er sich absolut sicher. Wenn die Filme sich weiterhin auf Tricks und Fälschungen verließen und nicht dazu übergingen, reale Orte und Ereignisse zu zeigen, dann würde Iz Pflaums Prophezeiung sich zweifellos bewahrheiten. Dann würden die Filme für immer und ewig nichts anderes sein als Rausschmeißer in billigen Varietétheatern. Oberst Shadow hatte keine Zeit, mit seinem Helfer über derartige philosophische Feinheiten zu diskutieren. Infolge des sensationellen Erfolgs des gefälschten Films war er überarbeitet und erschöpft. Er jagte im Mittelwesten umher und schloß Verträge mit vierzehn neuen Theatern, die in Zukunft Luxograph-Programme zeigen würden. Sechs dieser Theater gehörten dem angesehenen Orpheum Circuit an. Sie verfügten bereits über Edison-Projektoren, aber Shadow hatte mit dem berühmten Mann ein Abkommen getroffen und konnte daher Filme liefern, ohne irgendwelche Schwierigkeiten befürchten zu müssen. Er konnte außerdem seine eigenen Schauräume mit Luxograph-Projektoren in anderen Städten eröffnen. Dies tat er in Cincinnati und in Milwaukee, wo er außerdem je einen Geschäftsführer einstellte, der gleichzeitig als Vorführer fungierte. In Chicago suchte er ein weiteres Grundstück. Er mietete einen alten
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Stall eine halbe Meile südlich der Firmenzentrale im Levee und nahm ein Bankdarlehen auf, um holzverarbeitende Maschinen zu installieren. Dann stellte er einen Schweden mittleren Alters ein. Er hieß Gustav Wennersten und war ein hervorragender Tischler. Er redete zwar sehr langsam, begriff aber sehr schnell das Prinzip und die Konstruktion von Shadows Projektionsapparat. Gus Wennersten sorgte für den Bau neuer Projektoren. Paul half ihm dabei, wenn er nicht gerade für Pflaums und Shadows ständig wachsende Zahl von Theatern und Schauräumen Filme produzierte. Jimmy führte einen Teil der schwereren Arbeit für Wennersten aus – er hobelte und sägte Holz und nagelte die Gehäuse zusammen –, allerdings erledigte er das ziemlich unbeholfen und unter heftigen Klagen. Nach zwei Wochen hatte Gus Wennersten genug von Jimmy. Er sagte, er werde kündigen, falls er keinen qualifizierten Assistenten bekäme. Shadow schimpfte und fluchte und sagte, er ginge noch pleite, doch er gestattete Gus, einen Mann für möglichst geringen Lohn einzustellen. Dann ergab sich ein neues Problem. Der Geschäftsführer von Shadows Schauraum in Peoria überwies jede Woche verdächtig geringe Beträge als Einnahmen nach Chicago. In einer Woche kam sogar überhaupt nichts. Shadow schickte ein Telegramm an einen alten Bekannten, der in der Nähe von Peoria wohnte. Er kannte den Mann noch aus der Zeit, als er selbst als schwarzgeschminkter Sänger auf der Bühne gestanden hatte. Der Mann telegraphierte zurück und berichtete, er habe sich an vier aufeinanderfolgenden Tagen den Betrieb im Schauraum des Obersten angesehen. Jeden Abend habe sich ein durchaus zahlreiches Publikum eingefunden. Jeweils zehn bis fünfzehn Leute bei den ersten beiden Vorführungen, fünf oder sechs bei der letzten. Shadow nahm einige schriftliche Berechnungen vor, erhielt am Ende eine Gesamtsumme und bat Jimmy, mit der Eisenbahn hinzufahren und abzuholen, was der Mann noch schuldig war. Zwei Tage später kam Jimmy zurück. Er hatte eine Tasche voller Geld bei sich, und die Knöchel seiner Hände waren dunkel verfärbt. »Ich hatte mit dem Burschen ein eindringliches Gespräch, Oberst. Ich zeigte ihm die Kette an meiner heiligen Medaille, aber das beeindruckte ihn nicht sehr, daher wurde ich etwas deutlicher. Ich weiß nicht, wie er seiner Frau und seinen drei Kindern die schwarzblauen Flecken und einen gebrochenen Arm erklären will, aber wenn Sie ihn weiter beschäftigen wollen, betrügt er sie ganz bestimmt nicht mehr. Ich habe ihm nämlich versprochen, wieder vorbeizukommen, wenn er es noch mal versuchen sollte.« »Hervorragende Arbeit. Ich behalte ihn. Er ist ein guter Mann, wenn man seine Geldgier einmal außer acht läßt. Ich nehme an, die Reise war
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nicht zu beschwerlich?« »Nee.« Jimmy grinste. »Mir hat sie Spaß gemacht.« Sie alle arbeiteten sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag. Eines Abends, als sie gerade gegen halb elf ein hastiges Abendessen einnahmen, stopfte Shadow sich ein halbes Brötchen in den Mund und sagte: »Mary, ab Montag gehst du auf die Abendschule.« »Was tue ich?« »Du besuchst einen Buchhaltungskursus. Ich schlage mir die Nächte mit all dem Rechnungskram um die Ohren. Es wird Zeit, daß jeder von uns sein Arbeitspensum leistet.« Mary stand am Herd und briet dicke Speckstreifen. Sie deutete auf ihre Eisenpfanne. »Ich schütte dir mein Arbeitspensum gleich über den Schädel, Sid. Ich habe die Schule immer gehaßt.« »Mary –« Shadow nahm einen großzügigen Schluck aus seiner Whiskeyflasche. »Wenn du mir nicht hilfst, dann verliere ich noch den Verstand und hänge mich wahrscheinlich auf.« »O nein, nicht Sid Shadow. Sid Shadow hat mir mal erklärt, nichts könne ihn davon abhalten, seine Million zu machen.« »Ich will jetzt nicht mit dir streiten. Ich bin zu hungrig. Wir reden im Bett darüber.« Sie sah ihn etwas verwirrt an, als sie mit der Bratpfanne zum Tisch kam. Wegen der Hitze hatte sie ein Handtuch um den Eisengriff gewickelt. »Wir besprechen das im Bett?« Er strich ihr mit der Hand über das Hinterteil, während sie den Speck verteilte. »So wie ich mich im Augenblick fühle, werden wir wohl dreioder viermal darüber reden.« Mary errötete tatsächlich. Jimmy kicherte. Paul hatte sich mittlerweile an die schlüpfrigen Andeutungen gewöhnt und lachte ebenfalls. Es Paul und Jimmy überlassend, das Geschirr zu spülen und abzutrocknen, begaben Shadow und Mary sich ins Schlafzimmer und schlossen die Tür. Nicht lange, und die Bettfedern quietschten. Am Montagabend setzte Mary ihren besten Hut auf und ging zur Abendschule. Der April brach an. Erneut weigerte Spanien sich, den Forderungen der Vereinigten Staaten nach Unabhängigkeit für Kuba Folge zu leisten. Präsident McKinley sah sich wachsendem Druck ausgesetzt, eine entschlossene Haltung einzunehmen und zu intervenieren. Er verhielt sich zögernd. Die Klatschpresse schlug auf ihn ein. Angehörige der Regierung kritisierten ihn öffentlich. Er gab schrittweise nach. Am 11. April sandte er
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eine Botschaft an den Kongreß, in der es unter anderem hieß: »Ich bitte den Kongreß, den Präsidenten zu autorisieren und zu unterstützen, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um die Feindseligkeiten zwischen der spanischen Regierung und dem kubanischen Volk ein für allemal zu beenden … und zu diesem Zweck die Land- und Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten einzusetzen, falls es sich als notwendig erweisen sollte.« Der Kongreß reagierte mit einer Resolution, in der einerseits die Freiheit Kubas gefordert wurde und andererseits der Präsident, als Oberbefehlshaber der Armee, angewiesen wurde, entsprechende militärische Maßnahmen zu ergreifen, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Am 20. April wurde die Resolution durch die Unterschrift McKinleys zum Gesetz erhoben. Damit herrschte zwischen Amerika und Spanien Krieg. Neben all seinen anderen Pflichten eilte Shadow immer wieder in seinen Keller, um die neue Kamera mit gesteigerter Leistung zu vervollkommnen. Er redete schon seit Monaten voller Eifer davon, hatte es aber nicht für notwendig gehalten, die Arbeit abzuschließen. Nun gab die schnelle, beinahe atemberaubende Expansion der American National Luxograph Company ihm den Antrieb dazu. Sie mußten immer noch regelmäßig neue Filme drehen, und die verbesserte Kamera wäre ihnen dabei eine bedeutende Hilfe. Gus Wennersten kam aus dem anderen Produktionsbetrieb herüber und löste ein paar kleine, aber lästige technische Probleme. Außer sich vor Freude, zahlte Shadow Wennersten einen Bonus von zwanzig Dollars und verkündete seiner kleinen Familie voller Stolz, daß die Kamera fertig sei. Sie faßte hundertdreißig Meter Negativfilm aus Zellulosenitrat in einem separaten lichtdichten Magazin, das auf dem Gehäuse der Kamera saß. Nach dem Belichten wurde der Film auf einer Spule in einem zweiten lichtdichten Magazin aufgewickelt, das an der Rückwand der Kamera befestigt war. Über und ein wenig hinter der Kurbel befand sich ein Filmzählwerk, das Shadow selbst entworfen hatte. Ein solches Zählwerk war nötig, weil nun mehrere Sequenzen mit einem einzigen Magazin gefilmt werden konnten. An dem Abend, nachdem die Kriegserklärung in den Zeitungen gemeldet wurde, fragte Paul den Oberst, ob er ein paar Minuten erübrigen könne, um eine wichtige Angelegenheit zu besprechen. »Für dich, Dutch, habe ich immer Zeit. Gehen wir ein wenig spazieren.« Shadow zündete sich eine lange Zigarre an. Sie schlenderten in Richtung Freiberg’s, wo der Professor am Klavier
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Animal Fair so laut herunterhämmerte, daß die Musik mehrere Straßen weit zu hören war. Reklamelichter tauchten die Fünfundzwanzigste Straße in grelle Farben. »Was hast du auf dem Herzen, Kleiner? Ich kann deinen Lohn nicht erhöhen. Du hast es weiß Gott verdient, aber im Augenblick habe ich mich völlig verausgabt.« »Nein, es handelt sich nicht um die Bezahlung.« Paul blieb am Bordstein stehen, hob den Kopf und sah dem Oberst in die Augen. »Ich wünsche mir, daß Sie mir die neue Kamera geben.« »Hast du etwa eine Idee für einen längeren Film?« »In gewisser Weise. Ich würde die Kamera gerne nach Kuba mitnehmen.« »Nach Kuba? Na sicher, warum nicht? Zum Teufel, wenn wir schon mal dabei sind, nehmen wir sie doch gleich mit zum Mond. Hat Mary dir zum Frühstück dein Gehirn gebraten?« »Oberst, hören Sie mir bitte kurz zu. Ich möchte für unsere Filmfirma die amerikanischen Soldaten begleiten. Wenn sie gegen die Spanier kämpfen, wird man wahrscheinlich Szenen filmen können, die völlig neu und erstaunlich sein werden.« »Dutch, das ist die gottverdammt verrückteste, riskanteste Idee, die ich jemals –« »American Mutoskop schickt auch jemanden los.« Shadow nahm die Zigarre aus dem Mund. »Was hast du gesagt?« »American Mutoskop beabsichtigt, einen Kameramann namens Blitzer aus New York zu schicken. Ich habe es gestern in einer der Illustrierten gelesen. Vitaskop geht vielleicht auch hin. Wir sind eine wichtige, aufstrebende Gesellschaft, genauso wie die anderen. Man kann uns nicht einfach übergehen.« »Weißt du, worum du mich bittest?« »Ich bitte um die neue Kamera.« »Quatsch, neue Kamera, ich rede von dir.« »Ja, ich weiß, daß es gefährlich werden kann. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Ich verweise noch einmal auf den Tag, an dem Sie mich eingestellt haben. Sie haben lange und voller Leidenschaft über die Filme gesprochen. Was sie bewirken können und sollten. Sie könnten die Wunder der Welt zeigen. Die Dramatik. Jetzt ist es soweit, es gibt kein größeres Drama als den Krieg. Auch das haben Sie gesagt.« »Ich weiß, aber ich erinnere mich nicht mehr! Hör mal, Dutch, ich mag dich. Ich will dich nicht losschicken und dann erleben, wie du auf einer Bahre zurückkehrst, voller Blei von diesen Latinos. Das ist nicht nötig. Wir
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haben mit den Filmen, die wir auf dem Dach gedreht haben, eine Menge Erfolg gehabt.« »Das war aber nichts Reales, Sir. Die Kameras können die Wahrheit zurückbringen. Das ist unsere – unsere Pflicht.« »Diesen Satz höre ich von dir, seitdem wir den Boxkampf auf dem Land nachgestellt haben. Wo hast du all diese edlen Ideen aufgeschnappt?« Pauls Gesicht hatte sich gerötet. »Vorwiegend von Mr. Rooney. Er sagte, eine Kamera kann lügen, sie darf es aber nicht.« »Und du hast keine Angst, deine Sachen zu packen und nach Kuba zu gehen? Da unten wird mit echten Patronen geschossen.« »Natürlich habe ich Angst. Aber ich bin auch aufgeregt und gespannt. Genauso habe ich mich in Hamburg auf dem Pier gefühlt, als ich auf mein Schiff nach Amerika gewartet habe. Die Leute auf dem Pier warnten mich, ich könne während der Überfahrt sterben. Ich wußte, daß es passieren konnte, aber es machte mir nichts aus. Ich mußte dieses Schiff besteigen. Ich mußte den Ozean überqueren und in dieses Land kommen, um ein Zuhause zu suchen. Es gab für mich niemals eine andere Wahl.« »Dutch, du bist ein seltsamer Junge. Du hast Ehrgeiz, aber das ist nicht alles. Irgend etwas anderes treibt dich an. Ich kann nicht erkennen, was es ist.« Shadow kratzte sich am Kinn. »Kuba, hm? Kriegsreportage.« »So was hat es auf der ganzen Welt noch nicht gegeben, Oberst.« Shadow blickte über die Lichter des Levee hinweg auf einen großen und glänzenden Berg aus Gold, von dem er sich bestimmt einen beträchtlichen Anteil sichern könnte, falls Szenen von echten Schlachten bei Pflaum’s und in seinen übrigen lizenzierten Theatern und Schauräumen gezeigt würden … »Du wirst Hilfe brauchen. Jimmy müßte dich begleiten.« »Das wird ihm nicht gefallen.« »Wenn ich es ihm befehle, dann geht er mit.« »Oder er kündigt.« »Schon möglich, aber ich vermute, daß er das nicht tut. Er ist noch immer hinter Fails Tochter her. Sie hält nach wie vor seine Arbeit für unheimlich aufregend.« Er imitierte ihren Augenaufschlag. »Ich glaube nicht, daß sie ihm schon einen Blick auf ihre Schätze gestattet hat. Er wünscht es sich so sehr, daß es schon weh tut. In den Krieg zu ziehen dürfte auf Miss Fail einen erheblichen Eindruck machen. Es könnte sie vielleicht dazu bringen, ihre Höschen fallen zu lassen, wenn er heil nach Hause kommt. Zum Teufel, vielleicht sogar schon, ehe er abreist. Wenn ich in diesem Moment zehn Silberdollars hätte, würde ich sie darauf verwetten, daß Jimmy mitfährt.«
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»Dann geben Sie mir also die Kamera?« »Wenn du bereit bist, Kopf und Kragen zu riskieren, riskiere ich die neue Kamera, Filmmaterial, deine Spesen – und so weiter. Komm, wir gehen zu Freiberg’s. Ich spendiere dir ein Bier und ein Steak. Mein Gott, man stelle sich das vor! American National Luxograph zieht in den Krieg! Hatte ich tatsächlich diese grandiose Idee, als ich betrunken war?« »Aber klar! Deshalb wollte ich doch für Sie arbeiten.« »Als ich dich kennenlernte, entschied ich, daß du das Zeug dazu hast. Ich will verdammt sein, wenn ich nicht recht hatte.« Er legte einen Arm um Paul auf eine Art und Weise, die beinahe väterlich war, und sie betraten die Tanzhalle mit ihrer verrauchten Luft. »Was hältst du davon, wenn ich ein paar Visitenkarten drucken lasse? Paul Crown, Kameramann – nein, warte ab, wir nehmen auch deinen Spitznamen. Paul ›Dutch‹ Crown –, das gefällt mir. Es klingt« – seine Hand zeichnete eine große Figur in die Luft – »verwegen. Nach einer Menge Mumm. Und dazu echt amerikanisch. Dutch Crown, Chef-Kameramann, American National Luxograph Company. Das ist großartig, das gefällt mir.« 85 JOE CROWN »Ich wünschte, du würdest nicht weggehen«, sagte Ilsa. »Wie wird die Brauerei ohne dich auskommen?« »Ganz einfach. Stefan und mein Braumeister Sam Ziegler können alles alleine regeln, zumindest für einige Zeit.« Joe tauchte das Paddel ein, und das Kanu glitt über den Teich im Lincoln-Park, der den Spitznamen »Schwanensee« trug. Nach der Kirche und einer dieser ermüdend langen Predigten Pastor Wunders hatte Ilsa auf diesem kleinen Ausflug bestanden. Kanufahren war nie eine ihrer besonderen Leidenschaften gewesen, daher war er ein wenig verwirrt. Bis zu diesem Moment. »Aber Joe, ich habe noch immer das Gefühl –« »Ilsa, wir befinden uns offiziell im Krieg. Ich habe schon früher gedient, ich kann wieder dienen. Es ist meine patriotische Pflicht.« Er legte das Paddel auf die Knie seiner grauen Kammgarnhose, die viel zu dick war für die unerwartete Wärme dieses Aprilnachmittags. Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Er schob sich seinen Strohhut etwas tiefer in die Stirn, um seine Augen zu überschatten. Ilsa hatte ihm den Hut zu Weihnachten geschenkt. Er hatte ihr gesagt, er fände ihn wunderschön.
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Insgeheim fand er ihn für einen Mann seines Alters lächerlich. Sie tupfte sich die Oberlippe mit einem Spitzentaschentuch ab. »Es mag ja auch so was wie Patriotismus dahinterstecken. Aber ich denke, du tust es im wesentlichen deshalb, weil du zu Hause so unglücklich bist. Unglücklich mit mir.« »Ich bitte dich, ich wehre mich dagegen –« »Sei bitte so gut und laß mich dieses eine Mal ausreden. Wenn sie in ein bestimmtes Alter kommen, werden Männer rebellisch. Das ist allgemein bekannt. Ich weiß, daß meine persönlichen Einwände gegen Alkohol und Bier dich erzürnt haben, und es tut mir aufrichtig leid. Ich wünschte, ich könnte dir erklären, ich würde alles, woran ich glaube, widerrufen, um dir zu einem glücklicheren Leben zu verhelfen. Aber das kann ich nicht. Vor zwanzig Jahren vielleicht, aber nicht jetzt. Ich bin nun mal der Mensch, der ich bin, ich kann nicht anders.« »Eine wundervolle Ehefrau, das habe ich immer gesagt, und dabei bleibe ich.« »Vielen Dank, aber ich weiß auch, daß dir nicht gefällt, wie ich über diesen Krieg denke.« »Du und deine Freundinnen.« »Ja, Miss Addams ist genauso leidenschaftlich dagegen. Aber das spielt hier keine Rolle. Oder das sollte es nicht. Ich denke nur an dich. Und ans Geschäft.« Er sah sie skeptisch an. »Du hattest enormen Erfolg, Joe. Du expandierst wie nie zuvor. Sechs neue Filialen allein in diesem Jahr.« »Sieben. In der vergangenen Woche habe ich ein Grundstück in Omaha gekauft.« »Jetzt sogar schon in Nebraska! Bist du nicht stolz darauf?« »Natürlich.« »Du hast alles, was ein Mann sich wünschen kann.« »O ja. Alles.« Er warf das Paddel vor sich auf die Bank. »Ich habe einen Sohn in einer Privatschule, den ich nur selten zu Gesicht bekomme. Ich habe eine Tochter, die närrischerweise entschlossen ist, sich in einem Gewerbe zu betätigen, dessen Ausübende bestenfalls als Gesindel betrachtet werden. Ich habe einen anderen Sohn, der wahrscheinlich spurlos verschwunden ist –« »Nein! Denk doch an all die kleinen Dinge, die er geschickt hat. An die Orangenbonbons aus Kalifornien –« »Sie waren an dich adressiert, nicht an mich. Dann ist da noch unser Neffe, den wir verloren haben –« »Es war nicht Pauls Wunsch, unser Haus zu verlassen, du hast ihn verstoßen. Ich muß dich ständig daran erinnern.«
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Er ignorierte ihren Zornesausbruch. »Nun, wenn es das ist, wofür ich gearbeitet habe – wenn ich also ein Mann bin, der alles hat – dann bete ich zu Gott, daß ich niemals gezwungen sein möge zu erleben, wie es ist, nichts zu haben.« Er nahm den Hut vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die schweißtriefende Stirn. »Es ist verdammt noch mal zu heiß. Wir machen kehrt.« Am darauffolgenden Dienstagabend, dem 26. April, reiste Joe mit der Baltimore & Ohio-Linie nach Washington ab. Er hatte ein Pullman-Abteil gebucht. Doch als der Schlafwagenschaffner ihn fragte, ob er ihm das Bett machen solle, schüttelte er den Kopf. Er blieb die ganze Nacht lang wach und schaute aus dem Fenster, nachdem er die Abteillampe gelöscht hatte. Die amerikanische Nacht, die draußen vorbeijagte, war genauso dunkel und unergründlich wie sein eigenes Leben in diesem, seinem fünfundsechzigsten Jahr. Es regnete, als er in der Hauptstadt eintraf. Er suchte sofort sein Zimmer im Willard Hotel auf, eine Bleibe für Generäle, Politiker und Lobbyisten schon seit der Zeit vor Lincoln. Von dort aus rief er in Joe Cannons Büro auf dem Capitol Hill an. Er hatte ihm schon vorher telegraphiert und seinen Besuch angekündigt. Die beiden Männer trafen sich zu einem Mittagessen aus Bohnensuppe, Brot und Bier im dunklen und verrauchten Old Ebbitt Grill. Onkel Joe sah noch mehr als sonst wie ein Hinterwäldler aus. Während er lautstark schlürfend seine Suppe löffelte, fragte Joe, wie es ihm ginge. »Viel zu tun.« Onkel Joe kratzte sich seinen zerzausten Bart, ohne daß Brotkrumen herausfielen. »Der Vorsitz im Bewilligungsausschuß ist heutzutage ein verdammt wichtiger Job. Kurz nachdem Bill mich um vier Millionen für die Marine gebeten und ich ihm bei der Beschaffung geholfen hatte, rief er mich erneut an. An einem Sonntag sogar! ›Onkel Joe‹, sagte er. ›Ich habe entschieden, daß ich sofort weitere fünfzig Millionen brauche für den Fall, daß wirklich Krieg ausbricht.‹ Ich bin ein guter Republikaner, er ist ein guter Republikaner, daher sagte ich: ›Mr. President, betrachten Sie alles als erledigt.‹ Ich ließ sofort einen entsprechenden Gesetzesantrag formulieren, und er bekam sein Geld.« »Ja, aber ich habe gelesen, daß du nicht alle Mitglieder deines Ausschusses konsultiert hast und daß einige ziemlich wütend waren.« »Na und? Ich sitze nicht faul auf meinem Hintern herum, ich arbeite mit meinem Ausschuß. Wenn den anderen Jungs nicht paßt, wie ich es tue,
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dann sollen sie doch die Brocken hinschmeißen und nach Hause zurückkehren.« Ehe sie sich mit einem kräftigen Händedruck voneinander verabschiedeten, flüsterte Onkel Joe: »Ich weiß, weshalb du in der Stadt bist. Ich lege bei Bill ein gutes Wort für dich ein.« Joes Termin bei der Regierung sollte erst um acht Uhr stattfinden. Am späten Nachmittag, als ein weiterer Frühlingsschauer einsetzte, suchte er sich einen Weg durch den dichten Verkehr in der Pennsylvania Avenue, um den jungen Roosevelt zu besuchen. Dreißig Tage vorher hatte Joe in einem Brief an den Verteidigungsminister Russell Alger seine Dienste angeboten. Danach hatte er an Roosevelt, Onkel Joe und Carl Schurz geschrieben und jeden um ein Empfehlungsschreiben und um Hilfe gebeten. Einer von Algers Assistenten ließ ihm eine höfliche Nachricht zukommen, in der er ihm mitteilte, zwei Briefe seien bereits eingegangen – Onkel Joe hatte sich nicht die Mühe gemacht –, und Joes Angebot werde wohlwollend in Erwägung gezogen; man werde sich mit ihm unterhalten. Der Assistent fügte dem Brief eine Einladungskarte für das Weiße Haus bei, auf der die Zeit handschriftlich eingetragen worden war. Genauso wie bei Cannon hatte Joe schon vorab telegraphiert und Roosevelt zum Abendessen eingeladen. Der Unterstaatssekretär im Marineministerium ließ ihn nur zehn Minuten warten. Der Regenschauer hatte sich mittlerweile zu einem tobenden Unwetter gesteigert. Regentropfen peitschten gegen die Bürofenster. Das elektrische Licht brannte. Die Glühbirnen spiegelten sich in Roosevelts Brillengläsern wider, als er hinter seinem Schreibtisch aufstand. »Joe, mein Freund. Willkommen in Washington.« Sie reichten sich die Hände zum Gruß. »Sie wollen zu Präsident McKinley?« »Ja, heute abend.« »Dann sollten wir schon bald essen gehen. Nehmen Sie bitte Platz, während ich noch ein oder zwei Dinge erledige.« Roosevelt zog einen Federhalter aus einem imposanten Tintenfaß und nahm einen Stapel Schriftstücke in Angriff. Einige las er mit finsterer Miene, zu anderen murmelte er halblaute Kommentare. Joe sah sich im Büro um. An einer Wand hing eine Landkarte von Asien mit einem großen roten Malteserkreuz, das Hongkong markierte. Ein roter Kreis umgab Manila auf den Philippinen, ebenfalls eine spanische Besitzung. Im Dezember hatte Commodore George Dewey den Hafen von San Francisco verlassen, um sich zum Asiengeschwader der Marine zu
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begeben. Man nahm an, Dewey habe den Befehl, im Falle eines Krieges Manila anzugreifen, und es wurde erwartet, daß die Philippiner einen solchen Angriff begrüßen würden. Sie hatten ihre eigene, allmählich wachsende Freiheitsbewegung. Auf einer Staffelei in einer Ecke stand ein großes Photo von einem eisernen Kriegsschiff. Roosevelt bemerkte, daß Joe es eingehend betrachtete. »Ja, das ist die Maine. Ich behalte das Bild als Erinnerung an die Demütigung, die uns durch die Spanier zugefügt wurde.« »Weiß man jetzt endgültig, wie viele Opfer zu beklagen sind?« »Zweihundertachtundsechzig.« Roosevelt biß seine Raubtierzähne zusammen. »Tragisch. Desgleichen der Verlust des Schiffs. Sechstausendsiebenhundert Tonnen. Vier Zehn-Zoll-Kanonen mit gepanzerten Geschütztürmen vorne und hinten. Dazu Sechs-Zoll-Geschütze und vier Torpedorohre –und sogar damit galt sie nur als zweitklassiges Schlachtschiff. Wir haben neuere, größere Schiffe, aber die Maine war eine echte Schönheit.« »Spanien hat sich einiges zuschulden kommen lassen«, sagte Joe. »In der Tat. Der diensthabende Kommandeur ist endlich auch zu dieser eindeutigen Auffassung gelangt. Ich bezeichne ihn nicht mehr als ›Wobbly Willie‹ – wankelmütigen Willy.« Dann wechselte er abrupt das Thema: »Ich bin hier fertig. Wir können gehen. Aber ich muß noch kurz im Funkraum vorbeischauen.« Joe wartete im Büro und lauschte dem melancholischen Klang des Regens. Als Roosevelt zurückkehrte, hatte er eine finstere Miene. »Dewey ist mit geheimem Befehl unterwegs. Seit Tagen haben wir nichts mehr von ihm gehört. Nun gibt es einen Bericht aus Madrid von einem Gefecht in Manila Bay. In dem Bericht steht auch die Formulierung ›schwere Verluste‹. Hearst und ein paar andere werden sich darüber freuen, ich aber nicht. Ich muß sofort hierher zurückkehren, sobald wir unsere Mahlzeit beendet haben.« Der Regen hörte auf, und Nebel zog auf. Die Pennsylvania Avenue war noch immer in beiden Richtungen mit Droschken- und Kutschenverkehr verstopft. Roosevelt ging voraus und eilte in einem aberwitzigen Tempo über die Straße. Joe war in bester körperlicher Verfassung, aber er mußte sich anstrengen, um Schritt zu halten. »Sicherlich haben Sie schon gehört, daß wir ein Kavallerieregiment aus Freiwilligen aufstellen.« Joe verneinte. »Vorwiegend Leute aus dem Westen. Erfahrene Reiter und Schützen. Es war ein Deutscher, der mir diese Idee unterbreitet hat. Baron von Sternburg. Er kam vor ein paar Jahren zum
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Schießen nach Sagamore Hill. Ich kann es kaum erwarten.« »Heißt das, Sie gehören auch zu dieser neuen Einheit?« Roosevelt grinste. »Ich wurde zum Stellvertretenden Befehlshaber von Leonard Wood ernannt. Wir sammeln uns in San Antonio. Mein Vorgesetzter, Staatssekretär Long, hat gerade Nachwuchs bekommen, aber ich will verdammt sein, wenn ich diesen Kampf versäume. Soviel steht auf dem Spiel. Außerdem ergibt sich eine hervorragende Gelegenheit, es dem Land heimzuzahlen, in dem Sie geboren wurden.« »Deutschland? Weshalb?« »Weil Kaiser Bill, der mir persönlich recht sympathisch ist, in der Karibik nicht gerade zu unseren Freunden zählt. Und auch nicht in Asien.« Joe wollte um nähere Erläuterungen bitten, aber Musik fesselte nun ihre Aufmerksamkeit. Martialische Musik, die von einem Mann auf einer Drehorgel gespielt wurde, der vor Willard’s auf sie zukam. Roosevelt schwenkte seinen Stock durch die Luft, als dirigiere er, und summte ein paar Töne mit. »Ein richtiger Ohrwurm, nicht wahr?« »Ich habe es schon oft gehört, aber ich weiß nicht, was es ist«, gestand Joe. »Von Sousa. Im letzten Jahr herausgekommen. El Capitán war mein Lieblingsstück, bis er dies schrieb, The Stars and Stripes Forever – Die amerikanische Flagge soll nicht untergehen. Ist das nicht ein herrlicher und passender Titel? Er beschreibt treffend, was wir alle fühlen.« Mit seinem Daumen rieb Joe die Unterseite seines Traurings an seiner rechten Hand. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich es fühle. Wenn Ilsa nun recht hat? Wenn ich nur vor der Katastrophe fliehe, die ich in der Familie ausgelöst zu haben scheine? Wenn ich vor ihr davonlaufe? Während des ersten Gangs, kleine Pastetchen mit feingehackten und gewürzten Krabben aus dem Meer bei Baltimore, erklärte Roosevelt die Sorgen, die Deutschland ihm bereitete. Im vorangegangenen November hatte der Kaiser als Reaktion auf die Ermordung von zwei deutschen Missionaren in der Provinz Shantung seine Asienschwadron unter Admiral von Diedrichs in Marsch gesetzt und fünftausend Mann in China an Land gehen lassen. »Dann, im gleichen Monat, hatten wir einen häßlichen kleinen Zusammenstoß mit Herrn Lüders, und zwar etwas näher vor unserer eigenen Tür. In Port-au-Prince, Haiti. Lüders ist Deutscher. Er besaß da unten einen kleinen Mietstall. Er bekam Streit mit der örtlichen Verwaltung, und man verwies ihn des Landes. Nun, der deutsche Minister, von Schwerin – ich kann ihn nicht leiden, er ist einer von der ganz arroganten Sorte –, also
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von Schwerin verlangte eine augenblickliche Wiedergutmachung für Lüders und eine Art Schadensersatz in Höhe von zwanzigtausend Dollars. Während dieser diplomatischen Auseinandersetzung erschienen zwei Ausbildungsschiffe des Kaisers und gingen im Hafen von Port-au-Prince vor Anker. Den Rest erzähle ich ihnen vertraulich – und mit großem Bedauern. Der Präsident von Haiti erkundigte sich über geheime Kanäle, ob mit der Unterstützung durch die amerikanische Marine zu rechnen sei. Er erfuhr, daß das nicht der Fall sei. Die Entscheidung wurde über meinen Kopf hinweg gefällt. Das Geld wurde ausgezahlt. Lüders durfte Haiti wieder betreten, und ich bin sicher, daß Kaiser Bills kleine Machtdemonstration ihn ziemlich überheblich gemacht hat.« Roosevelt nahm seine Brille ab, um seine Ernsthaftigkeit besser demonstrieren zu können. »Ich habe ganz einfach Angst um unseren Freund, den Kaiser. Er betreibt eine expansionistische Politik. Er glaubt an die Doktrin von der Zwei-Meere-Marine. Ich vertrete die Theorie, daß er in dieser Hemisphäre nur deshalb operiert, weil er auf den westindischen Inseln einen Kohlehafen anlegen will. Eines Tages, früher oder später, müssen wir unsere Trümpfe auf den Tisch legen und seinen Bluff entlarven. Das könnte einige Schwierigkeiten für anständige Deutsch-Amerikaner nach sich ziehen, deren einziges Gefühl für ihre Heimat verständlicherweise eine völlig unpolitische Zuneigung ist. Also auch für Leute wie Sie.« Das war ein neuer Gedanke und ein entmutigender dazu. Aber doch nicht so ganz neu, wie er Sekunden später erkannte, als er sich an die unangenehmen Diskussionen mit Oskar Hexhammer erinnerte. »Demnach erwarten Sie, daß wir tatsächlich mit Deutschland aneinandergeraten werden, Theodore?« »Ja, es sei denn, der Kaiser ändert seinen Kurs. Was ein weiterer überzeugender Grund für eine Demonstration amerikanischer Entschlossenheit und Stärke in Kuba ist.« Er bemerkte Joes Teller. »Sie haben Ihr Essen ja kaum angerührt: Was ist los?« »Ich habe keinen Hunger. Ich bin wegen heute abend nervös, nehme ich an.« »Wann sollen Sie dort sein?« »Um Punkt acht.« »Dann ist es wenigstens still. Ich hasse den Ort tagsüber. Bittsteller, Bewerber, Touristen treiben sich dort herum, betatschen Tiffanylampenschirme und hüpfen auf den Sofas im East-Room herum – wir werden dagegen etwas unternehmen müssen. Nachdem wir Generalissimo Weyler zu Hackfleisch verarbeitet haben«, fügte Roosevelt mit einem weiteren raubtierhaften Grinsen hinzu.
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Sich um strammste militärische Haltung bemühend, betrat Joe die Regierungsvilla. Vor hohen, farbigen Tiffanyglasscheiben in der Vorhalle zeigte er seine Einladungskarte einem Wachtposten. Dieser sagte: »Die linke Treppe.« Oben, im Korridor des Ostflügels, trat ein älterer Türsteher auf ihn zu. »Guten Abend, Sir. Bitte setzen Sie sich, der Präsident kommt gleich zu Ihnen.« Er deutete auf eine geschlossene Tür. »Dort, im Kabinettraum. Das ist sein inoffizielles Büro.« Der Türsteher trottete durch den matt erleuchteten Korridor, der mit ramponierten Holzbänken und -stühlen gesäumt war, die offenbar für all die Arbeitssuchenden und Bittsteller gedacht waren, die das Dienstgebäude während der Bürozeiten bevölkerten. Joe polierte sein kleines Bronzeabzeichen am Revers mit einem Anzugärmel. Er hatte es angesteckt, weil er wußte, daß auch McKinley ein Anhänger der republikanischen Armee war. Er rieb eine Zeitlang den Eberzahn. Ein junger Mann kam pfeifend aus einem Büro. Er trug einen Anzug aus Sommerleinen und einen Strohhut mit einer Karte im Hutband, auf der »Presse« zu lesen war. Er schaute von seinem kleinen Notizbuch hoch und musterte Joe. Dann ging er weiter zur knarrenden Treppe und pfiff. Es war wieder der neue Sousa-Marsch. Eine Tür in der Nähe öffnete sich. Ein Büroangestellter winkte ihm. »Mr. Crown? Wenn ich bitten darf …« Und so traf Joseph Crown, ein eingewanderter Bürger, mit dem Inhaber des höchsten Staatsamtes zusammen. Er war vor Aufregung ganz benommen. Der Kabinettraum glich dem Konferenzzimmer einer schäbigen Bank in einer ländlichen Kleinstadt. Alte Porträts gänzlich unbekannter Männer hingen an den Wänden. Die Möbel waren dunkel, schwer, schlicht. Unter einem großen, aber stellenweise blind gewordenen Bronzeleuchter hatte William McKinley, der fünfundzwanzigste Präsident der Vereinigten Staaten, sich am Ende des Konferenztischs einen kleinen Arbeitsbereich eingerichtet. Vor ihm lagen mehrere Schreibstifte und Federhalter sowie ein Tintenfaß, ein fleckiger Tintenlöscher und ein Behälter für Schreibpapier. McKinley erhob sich schnell. Er sah in natura viel besser aus als auf seinen Bildern, die sein stumpfes, wuchtiges Kinn, seine dicken Wangen und sein glattes Haar unvorteilhaft betonten. Er hatte eine freundliche, offene Art, lebhafte graue Augen und zeigte ein Lächeln, das echt wirkte. Er begrüßte Joe mit einem kräftigen Händedruck.
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»Mr. Crown. Herzlich willkommen, Sir. Ihre hervorragenden Produkte sind hier sehr gut bekannt, sogar bei denen, die völlig abstinent sind.« »Vielen Dank, Mr. President.« Joe stellte fest, daß seine Nervosität sich verflüchtigte. Die Situation war der auf einem Schlachtfeld nicht unähnlich. Sobald der Kampf begonnen hatte, war man viel zu beschäftigt, um sich vor dem Tod zu ängstigen. Zwei Männer standen hinter dem Präsidenten, einer in voller Uniform. McKinley wandte sich zu ihm. »Ich darf Sie mit Verteidigungsminister Alger und General Miles bekannt machen, dem kommandierenden General der Armee. Gentlemen, Mr. Joseph Crown aus Chicago.« »Guten Abend, die Herren.« Joe wußte eine ganze Menge über Nelson Miles und fast gar nichts über den Zivilisten. Miles war ein großer, stämmiger Mann Ende Fünfzig. Er hatte ein rotes Gesicht und einen Schnurrbart, der geschwungen war wie die Hörner eines Texasstiers. Obgleich er keine Militärakademie besucht hatte, trug er seit dem Krieg die Uniform und hatte erfolgreich gegen Rebellen, Komantschen und Apachen gekämpft. Miles begrüßte Joe erfreut, Alger etwas reservierter. Der Minister war ein wenig älter als der General. Er war ein gepflegt wirkender, eleganter Mann. Neben seinem Ministeramt war der ehemalige Gouverneur von Michigan auch noch Holzmagnat. Ein weißer Schnurr- und ein Kinnbart verbargen die untere Hälfte seines Gesichts. In seinen Augen fehlte die Wärme. Er hielt einen Schnellhefter in der Hand, auf dem Joe seinen eigenen Namen erkennen konnte. »Nehmen Sie Platz! Und lassen Sie uns zur Sache kommen«, sagte McKinley. »Wir haben weniger als sechzig Tage Zeit, um die umfangreichste militärische Expedition in der Geschichte unseres Landes vorzubereiten.« General Miles sagte zu Joe: »Sechzig Tage, weil dann die Regenzeit beginnt und mit ihr wieder das Gelbfieber grassiert.« McKinley wandte sich an Alger. »Haben Sie Mr. Crowns Bewerbungsbrief zur Hand, Russell?« »Aber ja, Mr. President.« Alger schob den Schnellhefter über den Tisch. McKinley nahm Joes Brief heraus, überflog ihn schnell und legte ihn dann umgedreht auf den Tisch. Als nächstes studierte er eine Reihe rechteckiger Karten und briefgroßer Blätter, die ebenfalls in dem Ordner lagen. Joe erkannte seine eigenen Lazarett- und Soldkarten aus dem Krieg sowie die Einsatzberichte, die er geschrieben hatte. »Eine bewundernswerte Laufbahn, Mr. Crown.« »Vielen Dank, Sir.«
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»Die 5. Ohio, Freiwillige Kavallerie. Die Cincinnati-Boys.« Der Präsident klappte den Hefter zu. »Was bringt Sie dazu. Ihrem Heimatland wieder Ihre Dienste anzubieten?« »Ich verfüge über eine Menge Erfahrung. Außerdem ist dieses Land immer gut zu mir gewesen, seit ich vor vielen Jahren eingewandert bin. Meine Brauerei läuft gut, und ich bin durchaus für eine Weile abkömmlich. Insgesamt, Mr. President, denke ich, daß ich qualifiziert bin. Außerdem glaube ich an die Richtigkeit dieses Krieges und daran, daß Amerika es auf sich nimmt, die unglücklichen Menschen zu befreien. Und überdies habe ich mehrmals gelesen, daß Männer gebraucht werden.« »Weiß Gott, das ist wahr«, murmelte Miles. Der Präsident nahm mit einem Stirnrunzeln die Anrufung des Schöpfers zur Kenntnis. Es war bekannt, daß er ein durch und durch christlicher Mensch war: keine Rauschmittel, keine Flüche, kein unmoralisches Benehmen. Miles entging die Reaktion völlig, und er fuhr fort: »Als die Entscheidung für den Krieg vom Capitol Hill zu uns kam, hatten wir etwa sechsundzwanzigtausend Soldaten und etwas mehr als zweitausend Offiziere in der Friedensarmee. Die meisten waren im Westen. Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, innerhalb von zwei Monaten zu mobilisieren.« »Ja, ich kann sicherlich –« Alger unterbrach ihn. »Sind Sie fit genug, um den Dienst anzutreten, Mr. Crown? Keine Gesundheitsprobleme?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Kuba ist im Sommer wahrscheinlich ein Pestloch. Wir würden Ihnen empfehlen, sich noch einmal gründlich untersuchen zu lassen.« »Das werde ich sofort tun, wenn dies der einzige Punkt ist, der Sie abhält, über mein Angebot nachzudenken.« »Das ist nicht der einzige, Sir. Nicht ganz.« Algers Lächeln fiel knapp und herablassend aus. Joe waren General Miles und der Präsident weitaus sympathischer, obgleich der Minister sich wahrscheinlich auch diesen beiden überlegen fühlte. Der Präsident nickte. »Sie erscheinen uns durchaus geeignet, Mr. Crown. Ich habe geradezu Lobeshymnen auf Ihren Charakter vom Abgeordneten Cannon von Illinois und vom Unterstaatssekretär im Marineministerium Roosevelt erhalten. Wie Sie sicherlich wissen, wird letzterer schon bald ebenfalls freiwillig dienen. Ich habe außerdem vom ehrenwerten Carl Schurz gehört. Mr. Schurz befürwortet zwar die kubanischen Aktivitäten dieser Regierung nicht« – Alger berührte seine Nasenspitze, eine vielsagende, mißbilligende Geste –, »aber sein Lob für Sie und Ihre Qualifikation könnte nicht begeisterter ausfallen. Ich würde Ihre
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Verpflichtung als seltenen Glücksfall betrachten.« Die letzte Bemerkung gab Joe Rätsel auf. McKinley warf einen vielsagenden Blick auf Miles, der nun das Wort ergriff: »Der Präsident hat recht, Ihre Qualifikationen sind außerordentlich. Wenn Ihre Gesundheit dem entspricht, besteht die große Chance, daß Ihnen eine Aufgabe übertragen wird. Zuerst jedoch müssen wir uns in einer entscheidenden Frage Klarheit verschaffen. Wären Sie auch bereit, unter einem ehemaligen Konföderierten zu dienen?« Joe war wie vom Donner gerührt. Er konnte auf die Frage nicht direkt antworten. Alger lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lächelte amüsiert. »Ein Rebell aus Alabama, der ebenfalls Joe heißt«, sagte er. Leicht gereizt sagte General Miles nun: »Der Minister spricht von Kongreßmitglied Joe Wheeler. Auch er hat den Wunsch, seinem Land zu dienen. Er erhält den Posten des Generalmajors der Freiwilligenarmee.« »Ich nehme an, Sie kennen seine Leistungen während des Krieges«, sagte Alger. »Ich weiß, daß er in West Point war, aber dann die Seiten gewechselt hat. Er hat die Kavallerie der Konföderierten den ganzen Krieg hindurch geführt.« »Das hat er wirklich getan, und zwar bis zum Ende, als er Jeff Davis durch Carolina verfolgte in der Hoffnung, ihn in sicheren Gewahrsam zu bringen. Davis wurde in Georgia festgenommen, ehe er fliehen konnte. Danach schnappte man Wheeler.« »Ich selbst habe den Befehl unterschrieben, auf den hin Wheeler ins Gefängnis von Fort Delaware gebracht wurde«, sagte Miles. Er lachte mit leisem Spott. »Und jetzt sitzen wir hier zusammen und sind ganz wild darauf, ihn in die Union zu holen.« Alger legte seine gefalteten Hände auf den Tisch. »Das gleiche tun wir auch für unseren Generalkonsul in Kuba, Fitzhugh Lee. Er ist Robert E. Lees Neffe.« »Ich kenne Mr. Lees Herkunft und Familie«, sagte Joe vielleicht ein wenig zu brüsk, aber Algers Überheblichkeit war unerträglich. Falls der Minister etwas bemerkt hatte, dann reagierte er nicht. »Mr. Lee hat ebenfalls einen Posten als Generalmajor der Freiwilligen angenommen. Wahrscheinlich war dies für ihn nicht so schwer wie sein Eintritt ins Außenministerium, wo er unter einem Bruder von General Sherman arbeitet.« McKinley übernahm wieder das Wort. »Wir kommen allmählich zum springenden Punkt, Mr. Crown. Zum Grund für unsere Frage. Sehen Sie, in diesem Krieg bietet sich uns weitaus mehr als nur die Gelegenheit, den
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Kubanern, die von ihren spanischen Herren aufs Schlimmste unterdrückt und mißbraucht wurden, die Freiheit wiederzugeben. Ich will den moralischen Wert eines solchen Unternehmens nicht herunterspielen. Aber ich erkenne auch die Gelegenheit, die Männer und Frauen in Amerika in einer Weise zu vereinen, wie sie es 33 Jahre lang nicht mehr gewesen waren. Die Blauen und Grauen sollen wieder zusammenkommen. Deshalb bitten wir Sie um eine strenge Gewissensprüfung. Sie haben gegen die Konföderierten gekämpft. Sind Sie nun in der Lage, noch bestehende Haßgefühle vollends auszumerzen und Seite an Seite mit Männern ins Feld zu ziehen, die früher gegen die Union rebelliert haben? Die zumindest ideell mit schuld sind am Tod Ihrer Freunde und Kameraden?« Joe wollte nicht zu bombastisch und unaufrichtig klingen, als er antwortete. Gleichzeitig wollte er ausdrücken, was er in seinem Herzen empfand. Er sagte: »Mr. President, ich habe damals für die Freiheit gekämpft, für die Freiheit der Neger. Es wäre mir eine Ehre, jetzt für die Freiheit Kubas kämpfen zu dürfen.« Alger nickte. »Sehr schön, aber auch unter Joe Wheeler?« »Joe Wheeler hatte damals einen hervorragenden Ruf. Ich kenne den Mann nicht persönlich, aber ich weiß, wie hoch sein Ansehen war. Er kämpfte in Shiloh, und ich auch. Nach mehr als dreißig Jahren dürften wir sicherlich –« Alger unterbrach ihn. »Heißt das ja oder nein, Mr. Crown?« Joe legte seinen Hut auf den Tisch. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. »Ja, Herr Minister.« Er wandte sich schnell zu den anderen beiden Männern um, eine kleine, aber deutliche Geste, daß er Alger nicht mehr beachtete. »Ja, General. Ja, Mr. President. Reichen Ihnen diese Antworten?« McKinley sprang auf, um Joe besonders kräftig die Hand zu schütteln, eine Geste, die Politiker besonders geschätzten Gefolgsleuten vorbehalten. »Voll und ganz, Mr. Crown. Voll und ganz.« Endlich meldete Commodore George Dewey sich in Washington. Am Morgen des 1. Mai war seine Asienschwadron in Manila Bay eingetroffen. Sechs Schiffe der Vereinigten Staaten, geführt von Dewey auf seinem Flaggschiff, dem Panzerkreuzer Olympia, hatten sieben spanische Schiffe besiegt, die ebenfalls in Kampflinie angedampft kamen. Die Schlacht begann um 5:41 Uhr morgens mit einem Befehl, der den Commodore auf einen Schlag berühmt machte. »Sie dürfen feuern, wenn Sie soweit sind, Gridley.« Die amerikanische Flotte zerstörte insgesamt zehn spanische Schiffe und nahm den Marinehafen Cavite ohne nennenswerte Schäden an
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amerikanischen Schiffen ein. Dewey war der Held der Stunde. Zeitungen brachten sein Porträt auf den Titelseiten. Songschreiber komponierten Lieder auf ihn. Politiker bezeichneten ihn als jemanden, der das Zeug zum Präsidenten habe. Amerika trieb auf einer Woge des Triumphs. Desgleichen Joe. Neun Tage nach seiner Rückkehr aus Washington und nach Zusendung der Ergebnisse seiner ärztlichen Untersuchung in Chicago an das Verteidigungsministerium erhielt er einen Brief von Verteidigungsminister Russell A. Alger. Darin wurde ihm mitgeteilt, daß er für einen Posten als Brigadegeneral der Freiwilligenarmee vorgesehen sei. 86 PAUL Das Verteidigungsministerium brauchte hundertfünfundzwanzigtausend Mann. Eine Million wollte sich melden, obgleich ein Goldrausch Tausende hinauf an den Yukon lockte. Die Sensationspresse jubelte. Fahnen und Wimpel tauchten an öffentlichen Gebäuden auf, leuchteten im Sonnenschein und flatterten im Wind. Tanzkapellen und Symphonieorchester spielten Märsche anstelle von Walzern und Konzertmusik. Ein paar Stimmen gegen den Krieg meldeten sich zu Wort, aber diese Protestler wurden in der Presse gegeißelt, ja, man drohte ihnen sogar an, sie zu lynchen. Welche Art von Patriotismus konnte man schon von einem sozialistischen Universitätsprofessor aus New York oder New England und von kurzhaarigen Frauen erwarten, die die freie Liebe propagierten? Eine plötzliche Panik erfaßte die Ostküste. Irgendwo im Atlantik kreuzte Admiral Cerveras spanische Flotte. Savannah und andere Küstenstädte verlangten Schutz vor einer Invasion. Die Marine schickte einige ihrer knarrenden alten Wachboote, die genauso aussahen wie der alte Kahn, der gegen die Merrimac gekämpft hatte. Als Shadow Jimmy davon informierte, daß er mit Paul in den Krieg ziehen würde, verfärbte sich Jimmys Gesicht, aber er äußerte sich erst, als er mit Paul allein war. »Er sagte, du hättest ihm diesen verdammten Plan verkauft. Bist du total verrückt?« »Nun komm schon, das wird das reinste Abenteuer. Vielleicht das Abenteuer unseres Lebens.« »Aber nicht, wenn mich so ein Spanier mit ‘ner Kugel erwischt. Du kannst allein hinfahren.« Aber Jimmy machte seine Drohung doch nicht wahr, tatsächlich aus dem
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Grund, den Shadow bereits genannt hatte: »Ich hab’ Honey von dieser verdammten Reise erzählt. Sie hat sich fast in die Hose gemacht.« Er imitierte ihre hohe Stimme. »›Oooh, Florida. Dort ist es so warm, dort kann man wunderbar Urlaub machen.‹ Ich hab’ ihr erklärt, daß wir ganz bestimmt nicht am Strand herumliegen werden, sondern daß wir nach Kuba gehen. Kugeln! Kämpfe! Ich sagte auch, ich wolle eigentlich gar nicht hin. Ein großer Fehler. Sie sagte, sie werde mich keines Blickes mehr würdigen, wenn ich mich vor meinen Pflichten drückte. Herrgott, sie muß erst zu mir aufschauen, ehe ich sie endlich aufs Kreuz legen kann. Du bist vielleicht bescheuert«, sagte er kopfschüttelnd und mit wütender Miene. Am 1. Mai, einem Sonntag, trafen Paul und Jimmy Vorbereitungen, um nach Tampa abzureisen, wo die Armee sich bereithielt. Sie packten Kamera, Stativ, Reflektoren und Gestelle in zwei Holzkisten, deren geschätzte Frachtraten Shadow beinahe um den Verstand brachten. Jede Kiste war mit einer schwarzen Aufschrift versehen. ZERBRECHLICH! Empfindliches Filmgerät von American National Luxograph Co. Chicago, Illinois, USA Wieviel Ausrüstung sie nach Kuba würden mitnehmen können, konnte Paul zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Shadow gab ihm ein Paket mit 50 Visitenkarten, die er bei dem billigsten Drucker hatte herstellen lassen, den er auftreiben konnte. Auf allen Karten stand Pauls Spitzname wie auch sein richtiger Name. Mary stibitzte eine der Karten und war so töricht, sie Jimmy zu zeigen. Ob er sie nicht hübsch fände? Am Abend hielt Jimmy in ihrem Zimmer Paul die Karte unter die Nase. »Was soll dieser Blödsinn von wegen Chef-Kameramann?« »Das war nicht meine Idee. Frag den Oberst.« Paul zog sein Hemd aus. Er war müde und wollte endlich schlafen. »Ich soll also den Oberst fragen, häh? Das werde ich auch. Sofern er mal fünf Minuten Zeit haben sollte, in denen du ihm nicht in den Arsch kriechst.« Paul wirbelte herum und packte Jimmy bei den Schultern. »Wenn die Karte dir nicht gefällt, dann bleib hier, verdammt noch mal!« Er rechnete damit, daß Jimmy zuschlug, als er ihn anfaßte. Statt dessen klappte Jimmys Mund auf. Ein mattes Lächeln schlich sich in sein Gesicht. »Laß mich los. Nun komm schon. Mein Gott, Dutch, ich wußte gar nicht,
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daß du so schnell an die Decke gehst. Ich hab’ dich noch nie so wütend gesehen.« »Wenn du so weitermachst, dann wirst du es immer wieder erleben.« Paul verschwand hinter dem aufgehängten Bettlaken, zog es ein Stück weiter in die Mitte und ließ sich ins Bett fallen. Schlafen? Er war gespannt wie eine Violinsaite. Er hörte Jimmy in seinem Zimmerteil herumschimpfen und fluchen und erinnerte sich plötzlich an dessen Geburtstag. Der 1. April. Der Judastag. Sie sollten am Dienstag aufbrechen. Am Vorabend ging Jimmy mit Honey aus. Beim Abendessen überraschte Mary Paul mit einem Geschenk. Ein geflochtener Strohhut mit einer breiten und verwegen hochgerollten Krempe und einem Schmuckband in Königsblau. »Es geht doch nicht an, daß unser Chef-Kameramann neben all den Generälen schäbig aussieht«, sagte sie mit einem warmen, liebevollen Blick. Shadow murmelte eine Zustimmung. Paul war gerührt. »Das ist ein schöner Hut. Er bietet bestens Schutz vor der Sonne.« »Ich habe auch einen für Jimmy«, sagte Mary. »Nicht ganz so hübsch, aber ich durfte ihn nicht vergessen.« »Da bin ich aber froh. Das erspart mir nämlich ‘ne Menge Ärger.« Shadow nickte. »Zwischen euch ist böses Blut.« Genau diese Worte waren Paul schon vor Monaten in den Sinn gekommen. Paul nickte. »Manchmal. Hoffentlich nicht bei dieser Reise.« Niemand konnte ihn in diesem Punkt aufmuntern. Nach dem Abendessen ging Paul in den Keller, wo der Oberst die Farbe zum Beschriften der Projektorgehäuse aufbewahrte. Er suchte sich eine Dose mit roter Farbe und einen kleinen Pinsel aus und ging damit nach oben auf sein Zimmer. Dort malte er sorgfältig einen roten Punkt auf den Globus, und zwar auf die Stelle, die Shadow ihm als die ungefähre Lage von Tampa angegeben hatte. Er brachte die Farbe und den Pinsel zurück und packte dann eine kleine Reisetasche. Plötzlich wurde er traurig. Dies war kein Zuhause. Es war nur ein Zimmer – billig, schäbig, trist. Würde sein Zuhause immer so aussehen? Wäre es immer nur ein Ort, wo er sich gerade aufhielt, und nicht mehr? Er holte die Stereoskopkarte hervor, die immer stärker vergilbte. Er wußte, daß Joe junior ihm die Wahrheit gesagt hatte, daß Amerika nicht das Paradies war, das die Einwanderer sich erträumten. Zumindest teilweise traf zu, was der Bäcker aus Wuppertal gesagt hatte. Dennoch, einer seiner
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Berliner Träume war eingetreten, und manchmal kam es ihm wie ein unerklärliches Wunder vor, daß er zuerst Wex Rooney und dann Shadow getroffen hatte und schließlich noch auf ein drittes Wunder gestoßen war, das sie alle zusammenbrachte. Das Wunder der Photographie. Das wiederum auch nur eins der zahllosen Wunder war, die die neue Zeit bereithielt … Er war im Begriff, zu einem großen Abenteuer aufzubrechen. Verzweiflung war jetzt nicht am Platze. Er warf einen letzten Blick auf die Karte und verstaute sie in seiner Reisetasche. Am nächsten Morgen, dem 3. Mai, brachten Shadow und Mary sie zum Bahnhof. Honey Fail begleitete Jimmy, was immerhin dazu beitrug, daß er seine Wut im Zaum hielt. Die gleiche Wirkung hatte der neue Strohhut, den Mary ihm geschenkt hatte. Er erkannte sehr wohl, daß er nicht so edel und teuer war wie der des Chef-Kameramanns, aber er schien wenigstens dadurch besänftigt zu werden, daß jemand ihm eine Freude machte, wenn es auch nur eine kleine war. Paul sah richtig schick aus in seiner Jacke mit Gürtel und mit seinem neuen Hut. Auf der Schulter trug er einen Leinensack, selbstgeschneidert, in dem sich ein Reserveobjektiv und ein Magazin mit Eastman-Filmmaterial befanden. Shadow wollte den wertvollen Film auf keinen Fall überheizten Gepäckwagen anvertrauen, obgleich er dieses Risiko mit weiteren Magazinen eingehen mußte, die von Rochester direkt nach Florida geliefert wurden. Shadow hatte seine Helfer angewiesen, die kleinsten Zimmer im Tampa Bay Hotel zu buchen. Es war das Hauptquartier des amerikanischen Expeditionsheers. Der Oberst zupfte seine Manschetten zurecht und ergriff Pauls Arm. Er mußte wegen des Bahnhofslärms sehr laut reden. »Dutch, ich verlaß mich darauf, daß du und Jim tolle Bilder mitbringt.« »Seht nur zu, daß ihr euch keine Kugel einfangt«, jammerte Mary. »Ich hab’ gelesen, die Mauserpatronen summen wie Bienen.« Während sie sich an Jimmys Arm klammerte, stieß Honey Fail einen ängstlichen Schrei aus. Der blasse Jimmy tätschelte ihre Hand. Shadow wandte sich ab, um einen Reporter der Inter-Ocean zu begrüßen, den er überredet hatte, von der Abreise der einzigen Chicagoer Filmcrew ins Kriegsgebiet zu berichten. Shadow sah in seinem braunen Frack, den blanken Stiefeln und dem Sombrero wirklich aus wie der Chef eines bedeutenden Unternehmens. Jimmy und Honey steckten die Köpfe zusammen, flüsterten miteinander und hielten sich fest. Zwei ältere Männer, beide betrunken, wankten vorbei und sangen: »Dewey, Dewey, Dewey,
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he’s the hero of the day. And the Maine has been remembered in the good old-fashioned way … – Dewey, Dewey, Dewey, er ist der Held des Tages. Und an die Maine ist auf die gute alte Art erinnert worden.« Mary nutzte die Ablenkung und schlang Paul die Arme um den Hals. Sie versüßte ihren Abschiedskuß, indem sie ihre Zunge in seinen Mund schob. Der Zugschaffner rief sein »Alles einsteigen!« »Wir müssen los«, sagte Jimmy. Honey umarmte ihn. Die Aufregung ließ ihre Stimme noch schriller klingen als sonst. »Oh, du bist ja so tapfer. Geh hin und verpaß diesen schmierigen Spaniern eine Tracht Prügel!« »Nein, nein, sie sollen sie filmen!« rief Shadow. »Ich will Bilder und keine Leichen.« Jimmy zog ein Gesicht, als sei ihm todschlecht. Der Zug nach Atlanta fuhr eine Minute später ab. Jimmy hatte sich bereits in den Wagen der zweiten Klasse begeben. Shadow rannte neben der Plattform her und rief Paul etwas zu. »Du hast ja das Spesengeld in der Tasche. Um Gottes willen vergeude es nicht, aber spar auch nicht beim Telegraphieren. Ich wünsche regelmäßige Berichte.« »In Ordnung, Oberst.« Der Zug beschleunigte. Shadow rannte schneller. »Ich vertraue dir, Dutch. Du hast die Verantwortung. Paß auf Jimmy auf. Nimm dich vor ihm in acht! Halt die Ohren steif, bring was Gutes zurück, eines Tages wirst du vielleicht mein Partner –« Er blieb stehen, als der Zug zu schnell fuhr. Er hob die rechte Hand. Paul verstand kaum das letzte Wort, das er ihm zurief. »Viel Glück!« Paul ließ sich neben Jimmy auf dem dürftig gepolsterten Sitz nieder. Jimmy löste seinen Schlips, den er sich Honey zu Ehren umgebunden hatte, und stopfte ihn in die Hosentasche. Ein fliegender Händler kam mit einem Tablett voller Obst, Nüsse, Romanhefte und Spielkarten vorbei. Jimmy kaufte sich einen NickCarterRoman und einen Apfel, den er sogleich mit großen, krachenden Bissen verzehrte. Paul legte den Leinensack neben seine Füße auf den Boden und holte eine Ausgabe der Daily News aus seiner Seitentasche. Ein örtlicher Politiker hatte bei einer Kundgebung im Auditorium für den Krieg gesprochen. »Mit diesem edlen Kreuzzug, der unseren Einfluß ausweiten und unseren notleidenden lateinamerikanischen Brüdern die Segnungen der
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Freiheit bringen soll, wird Amerika erwachsen und zum erstenmal die Weltbühne betreten …« Ich könnte das gleiche sagen, dachte Paul, immer noch in Hochstimmung von der morgendlichen Aufregung, vom Lärm und der Bewegung des Zuges, der Mischung aus gespannter Erwartung und unbestimmter Angst vor dem Unbekannten, das sie in Florida und danach erwartete. Sie schliefen im Sitzen oder versuchten es wenigstens. Sie verließen den Zug zu schnellen Mahlzeiten in schäbigen Bahnhofsgaststätten und nahmen manchmal Blechkannen mit starkem schwarzem Kaffee mit ins Abteil. Jimmy beklagte sich ständig über irgend etwas. Der Zug raste durch die Landschaft, läutete und heulte, um sein Erscheinen anzukündigen, und zog eine dichte Rauchfahne hinter sich her. Sie überquerten die riesige Roeblingbrücke, die den Ohio bei Cincinnati überspannte, wo Onkel Joe zuerst gelebt hatte, nachdem er in Amerika gelandet war. Auf den von weißen Zäunen umfriedeten Pferdefarmen in Kentucky rannten Vollblutstuten und -hengste neben dem Zug her, überholten ihn sogar, ehe sie zu ihren sonnenbeschienenen Weiden zurückgaloppierten. Dann kam Tennessee. Kalksteinfelsen, Wasserfälle, die in dunklen Nischen funkelten, bewaldete Berge, die man von steilen Streckenabschnitten und gelegentlichen Wartegleisen aus sehen konnte. Während sie durch den südlichen Teil des Staates dampften, stellte Jimmy eine seltsame Frage: »Meinst du, wir verdienen auf dieser Reise etwas Geld?« »Das ist keine Expedition, um Geld zu verdienen. Nun, vielleicht für die American National Luxograph, aber nicht für uns. Es sei denn, du zählst unsere Bezahlung mit.« »Mitzählen? Meistens habe ich Mühe, überhaupt was davon zu entdecken. Unten in Florida will ich ein wenig nebenbei anschaffen. Ein Bursche im Levee erzählte, in einem Armeelager gibt es jede Menge Bauerntölpel. Die such’ ich mir.« Jimmy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und eines sag’ ich Ihnen gleich, Mr. Chef-Kameramann. Es kann ab und zu vorkommen, daß ich nicht da bin, wenn Sie mich brauchen.« »Paß mal auf, wir haben einen Auftrag zu erfüllen –« »Ach, vergiß diesen Quatsch! Ich tu’ meine Arbeit. Aber ich erledige auch noch ein paar Dinge nebenbei. Und du hältst darüber den Mund.« Er klopfte Paul auf die Schulter und mimte Freundschaftlichkeit. »Sei kein Frosch!«
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Verärgert schaute Paul aus dem Fenster. »Mein Gott, ihr Deutschen seid wirklich lammfromme Kerle.« Damit zog Jimmy sich den Strohhut über die Augen und streckte sich aus, um zu schlafen. Bei Anbruch der Morgendämmerung erwachte Paul plötzlich, als der Zug mit einem Ruck stoppte. Er hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und gedöst. Er öffnete es ein wenig und roch den kühlen, frischen Morgen. Er hörte Grillen und Frösche. Er entdeckte einen kleinen Bahnhof. Dann hörte er das Trampeln von Füßen und rauhe Stimmen, die Befehle brüllten. Eine Laterne hing über einem Schild, auf dem der Name des Ortes zu lesen war. CHICKAMAUGA STATION. Soldaten aus dem Camp Chickamauga stürmten den Zug. Junge Rekruten mit hohen Khakihüten, blauen Felduniformen und roten Tüchern um den Hals. Sie trugen saubere Hosen und führten als Gepäck eingerollte, saubere weiße Decken mit sich. Etwa zwanzig kamen auch in Pauls Wagen und fanden Platz zwischen dem halben Dutzend ziviler Passagiere. Ein barscher Feldwebel mit einer Lederklappe über dem linken Auge führte sie an. Er verteilte seine Männer, dann nahm er selbst Platz. Er schlief bereits, als der Zug den Bahnhof verließ. Am Morgen erreichten sie Atlanta. Sonnenstrahlen drangen zwischen den überdachten Bahnsteigen auf die Gleise. Paul gähnte und kratzte die Bartstoppeln auf seiner Wange, während er die roten, weißen und blauen Wimpel und Fähnchen betrachtete, die um die eisernen Stützpfeiler des Dachs gewickelt waren. Er hörte Musik. Eine Blaskapelle spielte A Hot Time In The Old Town Tonight. Ein paar Neugierige hatten sich eingefunden, um zuzusehen, wie der Truppentransporter durchfuhr. Ihm kam eine Idee. Auf dem Gang sprach er den Zugschaffner an. »Wie lange haben wir hier Aufenthalt?« »Eine Dreiviertelstunde.« Im Wagen schüttelte er Jimmy, damit er aufwachte. »Wir drehen hier. Warte auf mich.« Er rannte zurück zu dem schläfrigen Feldwebel, der ihm zuhörte und sofort ablehnte. Aber Paul redete auf ihn ein. »Sie müssen uns helfen, wir sind die American National Luxograph Company. Sicherlich haben Sie den Namen der wichtigsten Firma im Filmgeschäft schon einmal gehört, oder?« Der Feldwebel wagte nicht zuzugeben, daß er den Namen nicht kannte. »Dies ist eine Werbung für den Krieg. Hunderttausende werden Sie und Ihre Männer auf der Leinwand
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sehen. Sie können stolz daraufsein.« Zwanzig Minuten später sorgten Paul und Jimmy für eine Sensation, als sie ihre Kamera auf dem Bahnsteig aufbauten. Sie filmten die Rekruten, wie sie vorbeimarschierten, dann wechselten sie den Kamerastandort, um aufzunehmen, wie die Soldaten in den Zug stiegen. Paul war sich nicht ganz sicher, ob er auf dem Bahnsteig genügend Licht hatte, aber wenn die Sequenzen herauskämen, wären sie sicherlich wundervoll. Jimmy meinte, er hätte lieber weitergeschlafen. Auf einem Rangiergleis unweit des Bahnhofs wurden die Waggons an eine Lokomotive des von Plant Florida entwickelten Typs angehängt. Schon bald flog eine überraschend neue und fremde Landschaft am Fenster vorbei. Mächtige, mit spanischem Moos bewachsene Eichen, Felder und kahle Berghänge aus rostrotem Geröll. Zerlumpte Farmer blieben hinter ihren Pflüge ziehenden Maultieren stehen und sahen müde zu den Soldaten herüber, die ihnen aus dem Zug zuwinkten. Ein junger Rekrut holte eine Maultrommel hervor und begann, The Stars And Stripes Forever zu spielen. Die Musik ließ Paul vergessen, wie lang und ermüdend ihre Reise war. Sie munterte seine Lebensgeister auf. Das wird eine ganz tolle Sache. Ich lerne eine Menge, und wenn ich wieder heil nach Chicago zurückgekehrt bin, dann werde ich darüber nachdenken, was als nächstes kommt. Aber nicht vorher. O Gott, wie sehr wünschte er sich, daß auch Julie zu dieser Zukunft gehören möge. Nun, er konnte nichts tun, sie war für ihn wohl verloren. Er konnte sein Leben weiterleben. Wie immer hatten die Deutschen auch dafür einen passenden Spruch: Andere Städtchen, andere Mädchen. Der Zug dampfte weiter und verdunkelte den Himmel mit rußigem Qualm. Die Soldaten beklagten sich über die Gewehre, die sie erhalten sollten. Alte Springfield-Karabiner, die mit herkömmlichem Schwarzpulver schossen. Die Standardwaffe der Spanier, ein in Dänemark hergestelltes KragGewehr, war schon für die Verwendung des neuen rauchlosen Schießpulvers konstruiert worden. »Zur Hölle, das ist ein Todesurteil«, sagte ein Soldat. »Wenn ein Scharfschütze keinen Mündungsrauch entwickelt, wie soll man dann sehen, wo er sitzt? Er erwischt dich, ehe du ›piep‹ sagen kannst.« Auf einem Landbahnhof in Georgia sprangen acht junge Mädchen aus ihren Pferdekutschen und Farmwagen und liefen durch den Zug. Sie baten um Souvenirs – Messingknöpfe und Patronenhülsen. Viele der jungen
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Soldaten erfüllten ihnen den Wunsch. In Florida wurden die Orte seltener und ärmlicher. Baracken aus Abfallholz direkt neben den Gleisen boten ganzen Negerfamilien Unterschlupf. Mit dunklen und traurigen Augen blickten sie dem Zug nach. Longhornrinder weideten auf Wiesen im gnadenlos brennenden Sonnenschein. Paul hatte schon längst seine Jacke ausgezogen, zusammengerollt und auf die hölzerne Gepäckablage über seinem Platz geworfen. Er stank, weil er sich länger nicht gewaschen hatte. Der ganze Wagen stank. Seine Haut glänzte vor Feuchtigkeit. Sie mit einem feuchten Taschentuch abzuwischen nützte nicht viel. Er fühlte sich gleich wieder klebrig. Der Feldwebel mit der Augenklappe hatte sich vorne im Wagen einen Doppelsitz gesichert. Mit Hilfe des Zugschaffners fand er ein Holzbrett, das als Kartentisch diente. Er begann, Poker zu spielen und die jungen Männer um ihr Taschengeld zu erleichtern. Die Maultrommel erklang wieder. Ein Soldat mit kräftiger Baritonstimme begann in spöttisch jammerndem Ton zu singen: »Am Abend vor der blut’gen Schlacht denk ich, Mutter, viel an dich …« Ein Lied aus Chicago, an das Paul sich erinnerte. Fritzi hatte es an einem dieser glücklichen Tage gespielt, kurz nachdem er angekommen war. Die Melodie hallte aus dem Musikzimmer herüber, als er zufrieden am Kamin saß. Onkel Joe erzählte damals, ein Mann aus Chicago habe das Lied während des Bürgerkriegs komponiert; er selbst sei damals in der Kavallerie geritten, und Tausende von Soldaten – Soldaten, die so jung waren wie diese Jungen in ihren blauen Uniformen und so jung wie er, Paul, wären gefallen. Andere fielen in das Lied ein, laut, aber nicht mit jenem spöttischen Gefühlsüberschwang des ersten Sängers. »Wir liegen hier und halten Wacht, und seh’n des Todes Angesicht.« Mit finsterer Miene nahm Jimmy seinen Strohhut ab und fächelte sich Kühlung zu. »Im Kreise mut’ger Kameraden zu Dir, mein Gott, ich bete. Wenn bald aufs neu die Sonn’ aufgeht,
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ich vielleicht vor Dich trete.« Jimmy sprang auf und beugte sich über die Rücklehne seines Sitzes. »Haltet endlich die Klappe! Ich will, daß Ruhe herrscht.« Paul schüttelte den Kopf. »Jimmy, setz dich hin.« Die Soldaten verstummten. Zwei von ihnen standen auf. Jimmy schlug mit dem Strohhut auf das Sitzpolster. »Ich versuche zu schlafen, da habe ich keine Lust, mir irgendwelchen Scheiß über den Tod anzuhören.« »Sir, achten Sie auf Ihre Sprache«, sagte ein Geschäftsreisender auf der anderen Seite des Ganges. Der einäugige Feldwebel sprang von seinem Platz auf und kam herbeigerannt. Er funkelte Jimmy wütend an. »Mister, diese tapferen Jungs ziehen in den Krieg, und sie haben ein Recht zu singen. Ich kann nicht behaupten, daß Sie das gleiche Recht haben. Ich sehe jedenfalls keine Soldatenuniform an Ihnen.« »Leck mich, Blödmann.« Der Feldwebel ballte die Fäuste. Paul warf sich an Jimmy vorbei und breitete die Arme aus. »Es ist heiß hier drin, alle sind müde. Wir wollen keinen Ärger.« Alle Soldaten waren nun auf den Beinen und bereit zu kämpfen. Jimmy wurde bleich, als ihm die Dummheit seiner Herausforderung klar wurde. Der Feldwebel wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Zu Paul sagte er: »In Ordnung, aber er sollte lieber den Mund halten.« Er starrte in Jimmys Gesicht. »Hast du gehört? Verhalte dich still, sonst verläßt du diesen Zug ziemlich plötzlich. Mit dem Hintern zuerst durch eins der Fenster.« Er entfernte sich und scheuchte seine Männer auf ihre Plätze zurück. Dabei konnte er einem vorkommen wie eine besorgte Glucke. Die wenigen Passagiere in Zivil musterten Paul und Jimmy mit einem offenen Ausdruck der Mißbilligung. Paul hatte heiße Wangen vor Scham. »Jetzt sitze ich mal am Fenster«, knurrte Jimmy. Paul widersprach ihm nicht. Im Laufe der Nacht, als die Petroleumlampen heruntergedreht waren, Jimmy neben ihm leise schnarchte und bis auf das rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen im Wagen Stille herrschte, verspürte Paul plötzlich den Drang, eine der billigen gedruckten Visitenkarten hervorzuholen. Er griff in die Tasche, fand eine und hielt sie ans Licht der hin und her pendelnden Lampe vor ihm, damit er den Text lesen konnte. PAUL (»DUTCH«) CROWN
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Chef-Kameramann Mithin war er wieder einmal ein neuer Mensch. Er war erneut wiedergeboren. Und wieder raste er in eine Dunkelheit hinein, deren Grenzen, deren Zentrum, deren geheime Fallen er nicht sehen, sich noch nicht einmal ausmalen konnte. Wieder einmal waren da Verwunderung und Gespanntheit, ein Gefühl der Unausweichlichkeit und mehr als nur eine Spur von Angst. Die Amerikaner hatten einen Ausdruck dafür, wenn man in den Krieg zog und sich seinen Gefahren stellte. Sie sagten, man machte sich auf, um »den Elefanten zu sehen«. Er schlief unruhig in dem schlingernden, ruckenden Zug. Er hielt die Karte, den Beweis für die neueste Umwälzung in seinem Leben, vorsorglich fest. Ein- oder zweimal, als er erwachte, erinnerte er sich verschlafen, wer er war und wo er sich aufhielt, und dann staunte er. Dutch Crown. Alter zwanzig, einundzwanzig im nächsten Monat. Unterwegs, um den Elefanten zu sehen. 87 ILSA Am Abend, bevor Joe in den Krieg zog, bügelte Ilsa seine Unterwäsche. Sie befand sich in einem Zimmer hoch oben unterm Dach. Es war ein Raum, der ausschließlich zum Bügeln bestimmt war. Gewöhnlich kamen zwei Wäscherinnen, die schon seit mehreren Jahren für die Familie arbeiteten, jeden Samstag ins Haus, um zu waschen, was sich in der Woche angesammelt hatte. Diese Teile wollte Ilsa jedoch selbst bügeln. Als könne dieser Akt die Wäschestücke mit einem ganz besonderen, schützenden Zauber ausrüsten. An diesem Nachmittag war sie zu Elstree’s gegangen, um die Unterwäsche zu kaufen. Sieben Garnituren, jede mit Hemd und fußlanger Unterhose. Die Unterwäsche war aus sommerlich leichtem Baumwollstoff genäht, grau gefärbt und mit zahlreichen kleinen, umstickten Luftlöchern versehen. Obgleich sie sehr teuer war, versicherte der Verkäufer ihr, daß es die beste und kühlste Herrenunterwäsche war, die man kaufen konnte. Er wies besonders auf die verstärkten Bündchen der Unterhemden und Unterhosen sowie auf den runden Halsausschnitt und die kleinen Perlmuttknöpfe hin. Ilsa hatte Angst um ihren Mann, der sich in den Sümpfen der Tropen
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aufhielt, sie machte sich Vorwürfe, ihn dorthin getrieben zu haben. Sie würde alles tun, ihn zu beschützen und ihn unversehrt zurückzubringen. Die Granitfassade von Elstree’s war mit patriotischem Zierrat geschmückt wie die meisten Läden in der State-Straße. Aus einem Laden drang Klaviermusik, Sousas El Capitán. Sie schaute durch das Fenster und sah einen Mann in Anzug und Weste auf einer kleinen Bühne hinter einem Klavier sitzen und auf die Tasten einhämmern. Ein Dutzend Erwachsene und mehrere Kinder drängten sich um das Podium, klatschten und marschierten im Takt auf der Stelle. Ein großer Teil Chicagos und der gesamten Nation war mit patriotischem Geist erfüllt. Als sei der Krieg ein ganz großer Spaß. Joe verhielt sich genauso; er lief fröhlich durch das Haus und sang und summte vor sich hin. Aber nicht jeder Amerikaner bejubelte die Ankündigungen aus Washington, die Rekrutierungsbroschüren und -plakate, die Kapellen und Paraden – bei einer war Joe sogar in einer Einheit aus dem Bürgerkrieg mitmarschiert. Die Kriegsbegeisterung war im Mittelwesten und im Westen sehr ausgeprägt, im Osten weniger stark. Dort erhoben nach und nach ein paar Professoren, Künstler, Schriftsteller, Zeitungsredakteure die Stimmen gegen die Nationalisten, seien sie nun in der Regierung oder nicht. Ilsa wußte von dieser Opposition, denn Joe hatte einen langen Brief darüber von Carl Schurz erhalten. Joes Freund wetterte vehement gegen militärische Abenteuer in Kuba oder auch anderswo. Er versuchte einen öffentlichen Widerstand zu organisieren, was Joe ärgerte. Er besaß einen großen Karton, in dem er Carls Briefe im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Diesen letzten jedoch vernichtete er. Ilsas Freundin, Miss Addams, machte sich große Sorgen wegen des Krieges. Sie hatte in der vorangegangenen Woche während einer ihrer zwanglosen Teestunden mit Ilsa und gleichgesinnten Frauen, die die Stiftung unterstützten, darüber im Hull House gesprochen. 1896, erinnerte Miss Addams ihre Freundinnen, hatte sie eine ihrer geistigen Pilgerfahrten unternommen, diesmal zu einem Ort namens Yasnaya Polyana, der ungefähr hundert Meilen von Moskau entfernt war. Dort lebte das gefeierte literarische Genie Graf Leo Tolstoi, der auf den Luxus und die Annehmlichkeiten der Welt verzichtet hatte, jeden Morgen Bauernkleidung anzog und den ganzen Tag auf seinen eigenen Feldern arbeitete. Durch dieses spartanische Leben stärkte und propagierte er seine christliche Vision von einer besseren Welt. »Graf Tolstoi glaubt fest daran, daß der Staat, jeder Staat, anti-christlich ist«, sagte Jane Addams. »Daher muß ein echter praktizierender Christ den Staat und all seine Forderungen ablehnen. Wenn man sich an der Lehre des
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Grafen orientiert und sie konsequent durchdenkt, kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß der Krieg gegen die Spanier unmoralisch ist.« Sie schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Der Graf ist ein heiliger Mann, nur wenige würden das in Frage stellen. Dennoch können Heilige einfach zu hochfliegend in ihren Gedanken und Forderungen sein, um den alltäglichen Realitäten gerecht zu werden. Edle Prinzipien und Forderungen reichen manchmal nicht aus, wenn der Wind des Bösen bläst. In unserer direkten Nachbarschaft bewirkt das nationalistische Gerede schlimme Dinge bei den Kindern. Früher erfreuten sie sich an einfachen Spielen. Nun spielen sie Krieg. Sie ›befreien keine Kubaner‹, sondern sie ›töten Spanier.‹ Der Graf könnte auf der Straße einen Vortrag halten, und sie würden nicht damit aufhören. Und ihre Eltern würden weiterhin die Fahnen und Wimpel kaufen. Der Krieg kann ein schönes, verführerisches Gesicht haben. Die Menschen kosten die Leidenschaften aus, die er ihnen gestattet. Das kann man sehr gut verstehen. Der Ursprung liegt im raubtierhaften Wesen der menschlichen Natur. Es lauert dicht unter der Oberfläche, jederzeit bereit, hervorzubrechen und seine zerstörerische Wirkung zu entfalten –« Sie verstummte. Die Frauen sahen einander unbehaglich an. Ilsa sagte: »Der Freund meines Mannes, Carl Schurz, schreibt, er wolle eine öffentliche Opposition organisieren. Wenn ein solche Gruppe gegründet würde, dann glaube ich nicht, daß ich ihr beitreten könnte – aus persönlichen Gründen. Könntet Ihr das denn?« Miss Addams schien auf einmal zusammenzuschrumpfen. »Das weiß ich nicht. Mein Ruf als Radikale ist schon schlecht genug, und die Arbeit im Hull House muß weitergehen. Wenn ich Mr. Schurz’ Gruppe beiträte, würde ich damit so viel Feindseligkeit und Abneigung erzeugen, daß unser Einkommen hier, die Spenden, die uns im Leben erhalten, völlig versiegen würden. Daher weiß ich es nicht«, wiederholte sie düster. »Ich glaube, daß ich mich, genauso wie du, zurückhalten würde.« Ilsa erzählte Joe nichts von diesem Gespräch. Sie verriet ihm noch nicht einmal, daß sie daran teilgenommen hatte. Wenn sie sich offen gegen den Krieg aussprach, opponierte sie gegen ihn. Und das wollte sie nicht, nun da seine Entscheidung gefallen war und die entsprechenden Dokumente mit seiner Unterschrift bei den militärischen Dienststellen vorlagen. Ihr Schweigen war feige. Das wußte sie. Aber sie hatte ihren Sohn verloren. Sie hatte auch ihren Neffen verloren. Sie würde es niemals ertragen, auch die Liebe ihres Mannes zu verlieren. Ilsa hatte alle sieben Garnituren Unterwäsche gewaschen und sie während des Abendessens zum Trocknen aufgehängt. Joe hatte hastig gegessen und
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erklärt, er müsse unbedingt noch mal alles kontrollieren, was er zum Einpacken bereitgelegt hatte. Sie nickte zustimmend, aber er sah es gar nicht. Er hatte das Eßzimmer bereits verlassen. Sie hatte Helga dabei geholfen, das Geschirr zu spülen, abzutrocknen und aufzustapeln. Auf dem Weg nach oben trat sie ins große Wohnzimmer und ging zu dem kleinen Regal, das früher in Pauls Zimmer gestanden hatte. Sie nahm es mit nach unten und stellte darauf eins der anonymen Symbole, von denen sie sicher war, daß Joe junior sie ihr geschickt hatte. Die kleinen Bonbonorangen in der Kiste hatten einen bräunlichen Schimmer. Auf der obersten Ablage des Regals lag die halbe Geode, deren winzige Quarzkristalle blinkten und funkelten wie die Sonne und der Mond und die Planeten eines Elfenuniversums. Wo ist er? fragte sie sich, während sie den Finger in die rauhe, glitzernde Höhlung steckte. Lieber Gott, laß ihn in Sicherheit und glücklich sein, auch wenn ich ihn nie wiedersehen sollte. Sie hatte um ein paar Minuten nach neun mit dem Bügeln begonnen. Sie war immer noch damit beschäftigt, als die Uhr im Parterre leise zehn schlug. Im Bügelzimmer war es heiß und stickig. Sie hatte eines der beiden kleinen, runden Fenster geöffnet, aber kein Lüftchen regte sich in der Mainacht. Schweiß sammelte sich an ihrem Kinn, während sie arbeitete. Ab und zu fiel ein Tropfen herunter. Sie bügelte voller Eifer und Sorgfalt, glättete jedes Teil perfekt, faltete es und drückte es sanft zusammen, damit es sich leichter einpacken ließ. Obgleich sie manchmal innerlich gegen die Pflichten rebellierte, die die deutsche Erziehung den Ehefrauen aufzwang, erledigte sie an diesem Abend die eintönige Arbeit mit wilder Entschlossenheit. Weshalb muß er von dannen ziehen? fragte sie sich, während sie das Bügeleisen hin und her schob. Natürlich wußte sie es. Er war ein patriotischer Mensch, ein Mensch mit Prinzipien. Der Rebellenkrieg war eine wesentliche Erfahrung in seinem Leben gewesen, ein Kreuzzug, der mit einem hohen moralischen Ziel unternommen worden war. Etwas von diesem gleichen Geist war nun in ihm wieder aufgeflackert. Aber es gab auch noch andere Motive. In den vergangenen Jahren war sein liebendes Herz zu oft und zu heftig mit seiner deutschen Neigung zu Autorität, Ordnung, Kontrolle in Konflikt geraten, mit schlimmen Folgen für die Familie. Und sein schlechtes Gewissen mußte eine furchtbare Last sein. All seine militärischen Bestrebungen könnten der Versuch sein, diese Schuldgefühle zu überwinden, die Kontrolle über eine aus den Fugen gegangene Welt zurückzugewinnen, sie wieder zusammenzufügen und zu
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beweisen, daß seine geliebte Ordnung überhaupt nicht zerstörerisch war. Ilsa glaubte auch, daß Joe enttäuscht und gelangweilt war vom ereignislosen Auf und Ab seines Lebens zu Hause. Was bedeutete, daß er von ihr enttäuscht war und sich langweilte. Er war sicherlich zornig auf sie, obgleich er immer versucht hatte, das zu verbergen. Zu oft hatte sie ihre Prinzipien, ihre Meinung offen geäußert. Vor allem, wenn es um sein Geschäft ging. Sie fand nur einen kleinen Trost in dem, was geschah. Lieber eine blaue Uniform für ihren Joe als eine andere Frau. Aber auch dieser Gedanke war nicht sonderlich beruhigend. Joe brach nicht zu irgendeiner Armeeübung auf, zu einem fröhlichen Treffen mit Kriegsveteranen, die sich gegenseitig am Lagerfeuer irgendwelche Lügen auftischten und deren größtes Risiko darin bestand, daß sie zuviel tranken und umkippten. Ihr Joe zog die Uniform für einen neuen Krieg an. Dort würde geschossen und getötet. Männer würden für ihr ganzes Leben verstümmelt oder in hastig ausgehobene Gräber geworfen, um nie mehr zu ihren Familien zurückzukehren. Ein unglücklicher Zufall – wenn man im falschen Moment auf dem falschen Platz stand, sich auf einem Dschungelpfad vielleicht nach rechts anstatt nach links wandte –, jedes von den tausend Dingen, die man in den Wirren des Krieges ausführte, konnte einem die tödliche Kugel einbringen, ihn ihr für immer wegnehmen. Ihr den endgültigen Verlust bescheren, den sie niemals ertragen könnte … Und es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können. Nichts, als in der Hitze und im Licht einer grellen elektrischen Glühbirne auf dem harten Hocker zu sitzen und voller Liebe und unbeirrbarer Hingabe seine Unterwäsche zu bügeln.
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Und wann, Herr Senator, können wir mit dem Krieg beginnen? 1898 Theodore Roosevelt, Unterstaatssekretär der Marine Was halten Sie vom Krieg des Journal? 1898 Schlagzeile in einer Hearst-Zeitung
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88 DUTCH Es war fast dunkel, als der Zug in Tampa einfuhr. Soweit das Auge reichte, fiel der Blick auf armselige, farblose Häuser entlang schäbiger Straßen, deren Sandbelag von Furchen durchzogen war. Hin und wieder bewegten sich vertrocknete Palmwedel im feuchten Wind, der von der Bucht herüberwehte. Paul gähnte wieder. Er war erschöpft, hungrig und schmutzig. Der Zug kam im Zentrum der Stadt, dem Geschäftsviertel, zum Stehen. An einer nahe gelegenen Ecke war ein kleiner Bahnhof zu sehen. Alle Soldaten stiegen aus dem Waggon aus. Als sich Paul zum Fenster hinauslehnte, sah er, daß sich auch die anderen Wagen leerten. Berittene Männer und Verpflegungswagen bahnten sich bei zunehmender Dunkelheit ihren Weg durch den Sand. Der Schaffner steckte den Kopf durch die Tür. »Nächste und letzte Station ist das Hotel. Noch fünf Minuten.« Der Zug überquerte eine Eisenbahnbrücke über dem Fluß, dann ratterte er durch Zwergpalmenhaine und eine weitere heruntergekommene Häusergegend, die von schwachen Straßenlaternen in großen Abständen ein wenig erhellt wurde. Als Jimmy sagte: »Mein Gott, was für eine erbärmliche Stadt«, stimmte Paul sofort zu. Die mächtige Armee der Vereinigten Staaten schien sich in einem Hinterhof der zivilisierten Welt eingefunden zu haben. Dann fuhr der Zug durch reichverzierte Eisentore auf ein Nebengleis. Jimmy richtete sich grinsend auf. Paul sah hinaus und traute seinen Augen nicht, denn plötzlich schien ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht lebendig geworden zu sein. Er starrte auf das grandiose Tampa Bay Hotel. Henry B. Plant, Gründer des Imperiums gleichen Namens, das Eisenbahnen, Schiffahrtslinien und Hotels vereinigte, hatte eine luxuriöse Winterherberge westlich des Hillsborough-Flusses errichtet. Das Hotel stand inmitten eines riesigen Grundstücks, das auf das Verschwenderischste mit Palmen, Orchideen, Weiden, Bougainvillen, Orangen-, Zitronen- und Grapefruitbäumen, Linden und Bananenstauden bepflanzt worden war. Das langgestreckte, rechteckige Hauptgebäude mit seinen fünf Stockwerken war ein dunkelroter Backsteinbau. Über jeder Ecke erhob sich ein riesiger silberner Zwiebelturm, dazwischen ragten mit silbernen Halbmonden verzierte Minarette auf. Maurische Bögen schmückten die Eingangstüren, kleinere gleichen Stils die Fenster der darüberliegenden Gästezimmer. Eine Veranda von der Breite einer zweispurigen Straße, von vielfarbigen
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elektrischen Birnen angestrahlt und mit Holzschnitzereien verziert, umrundete das ganze Gebäude. Paare spazierten über den Rasen; Männer in Uniform saßen in weißen hölzernen Schaukelstühlen und genossen die frische Luft. Aus den Fenstern drang gedämpftes Lachen und Musik. Die angeleuchteten Minarette strahlten heller als der dunstverschleierte Mond. Pauls erster Gedanke war: Ich muß unbedingt eine Postkarte kaufen, sonst glaubt mir das kein Mensch. Jimmy war gleichermaßen beeindruckt. »Wie viele Zimmer hat das Hotel?« rief er dem Schaffner zu. »Fünfhundertelf. Sieht aus wie ein Sultanspalast, stimmt’s? Aber Sie werden noch mehr staunen, wenn Sie das Ganze erst bei Tageslicht sehen. Mindestens ein Dutzend zahmer Pfauen stolzieren hier auf und ab.« »Pfauen? Ich hab’ in meinem ganzen Leben noch keinen einzigen Pfau gesehen.« »Um diese Jahreszeit ist das Hotel für gewöhnlich geschlossen, aber weil Mr. Plant Patriot ist, hat er sofort geöffnet, als Washington ihn hat wissen lassen, daß man es braucht. Tja, ihr beiden, ihr schaut auf das Hauptquartier des 5. Armeekorps.« Während sie ihr Gepäck durch den Mittelgang schleppten, blieb Paul stehen, um noch eine Frage zu stellen. »Wieviel Einwohner hat Tampa, Sir?« »Ich würde sagen vierzehn-, fünfzehntausend, einschließlich der Spics – der Kubaner – in West Tampa und Ybor City. Aber mit den Soldaten, die jetzt hier stationiert sind, sind es wahrscheinlich doppelt so viele. Die lagern überall. Und ihr beide, wohnt ihr hier im Hotel?« »Ja. Wir sind Kameramänner.« »Da habt ihr aber Schwein, daß ihr hier übernachtet und nicht draußen im Freien mit den Sandflöhen und was da sonst noch so kreucht und fleucht.« Paul mußte sich beeilen, um Jimmy einzuholen, der bereits ausgestiegen und wenigstens einmal zufrieden schien. »Mein Gott, Dutch, hier gibt’s ja jede Menge Frauen.« »Dafür ist später noch Zeit. Zuerst sollten wir unsere Ausrüstung aus dem Gepäckwagen holen.« »Ja, gut, ich hab’ ganz vergessen, daß du jetzt das Kommando führst.« Paul wirbelte herum. »Also ich will dir was sagen, ich bin deine spöttischen Bemerkungen leid.« »Dein Pech. Solange ich diesen miserablen Job hier zu machen habe, solltest du gefälligst darauf verzichten, mich wie einen dummen Nigger zu behandeln. Wenn du das weiterhin tust –«
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»Was dann?« »Das sag’ ich nicht. Aber spiel dich hier nicht auf! Laß mich einfach in Ruhe, dann kommen wir bestens miteinander aus.« »Ich werd’ mich bemühen, es nicht zu vergessen.« Verärgert drehte sich Paul um und marschierte in Richtung Lokomotive. Er sollte seinem sogenannten Assistenten am besten sofort eine Rückfahrkarte nach Chicago kaufen. Seine Arbeit würde er allein sicherlich besser schaffen. Er hatte bereits zwei der Kisten vom Gepäckwaggon in den Sand gehievt, als Jimmy pfeifend auf ihn zugeschlendert kam. Paul mußte sich beherrschen, um ihn nicht zu schlagen. Farbige livrierte Hoteldiener kamen mit vierrädrigen Wagen und markierten die Kisten, um sie anschließend in den Gepäckraum des Hotels zu schaffen. Nachdem Paul ihnen ein Trinkgeld gegeben hatte, fragte er: »Wo schreiben wir uns ein?« »Dort, Sir.« Der schwarze Mann zeigte auf Türen an der ihnen zugewandten Ecke des Gebäudes. »Der Westeingang ist für die Bahnreisenden und der Eingang auf der Ostseite für die Kutschen, die von der Brücke her kommen. Wenn Sie drinnen sind, folgen Sie einfach dem langen Korridor bis zur Rundhalle. Dort ist die Rezeption.« Sie folgten einem Kiesweg bis zur Veranda, wo sie eine Vielzahl verschiedener Uniformierter und attraktive junge Damen in wunderschönen Kleidern trafen; junge Damen mit goldbrauner Haut und hinreißend schwarzem Haar. »Wenn das kubanischer Zucker ist, dann will ich auch was davon haben«, murmelte Jimmy. »In deiner Freizeit, wenn’s recht ist«, fuhr Paul ihn an. Drinnen erstreckte sich ein langer Korridor bis zur Rundhalle, wo winzige Figuren zu sehen waren. Die Halle war reich dekoriert mit hohen, geschnitzten Stühlen, chinesischen Vasen, kleinen Statuen, Topfpalmen. Durch offene Türen sah man in mehrere angrenzende Räume. In einem davon spielten Damen Karten, in einem anderen saßen Offiziere und Zivilisten an Schreibtischen. Die Türen zu diesen jedermann zugänglichen Zimmern waren aus feinstem Mahagoni mit glänzenden Einlegearbeiten. Vor lauter Ehrfurcht riß sich Paul seinen Strohhut vom Kopf, als hätte er eine Kathedrale betreten. Die Rundhalle hatte einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern, sie war mit feinen Teppichen ausgelegt und erstrahlte im Glanz elektrischer Lampen. An den Wänden hingen Teppiche, riesige Gemälde und Spiegel aus rosarot schimmerndem Glas. Säulen aus Granit trugen eine offene Empore im zweiten Stock. Die Halle war voller Menschen. Männer und Frauen in Abendkleidung; Offiziere der Marine in kühlem weißem Leinen neben ihren Kollegen von
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der Armee in dem schweren Blau, das in Alaska eher am Platz gewesen wäre. Einige der Offiziere trugen das lässigere Khaki und dazu zum Teil Sombreros im Westernstil. War es möglich, daß sie zu der 1. Freiwilligen Kavallerie gehörten, der Einheit aus Cowboys, Sozialisten und Universitätssportlern, von der er gelesen hatte? Ihr Kommandeur war ein gewisser Oberst Wood, ein erfahrener Kämpfer gegen die Indianer. Er bemerkte zwei finster dreinblickende Offiziere, die eben aus einer Tür mit der Aufschrift »Telegraphenamt« heraustraten. An einem Abschnitt der Wand hing eine lange Nachrichtentafel mit Zeitungsausschnitten, Telegrammen, allerhand offiziellen Anweisungen und Berichten. Einer der Offiziere heftete ein gelbes Telegramm an die Tafel, aber dennoch herrschte eine festliche und keineswegs kriegerische Atmosphäre. An der Rezeption schob Paul seine Karte über den grünen Marmor. Der Empfangsangestellte, mittleren Alters und barsch, meinte: »Die Luxograph Company. Ihre Zimmer sind fertig. Fünfter Stock. Zweiter und dritter Stock sind für hohe Offiziere und solche mit Familien reserviert. Das Zimmer kostet vier Dollars pro Tag, im Preis inbegriffen sind die Mahlzeiten, jedoch keine alkoholischen Getränke. In der Reservierung für Sie heißt es, daß alle Auslagen zu Lasten Ihrer Firma in Chicago gehen.« »Ja, genau«, antwortete Paul, während er sich eintrug. Jimmy hatte den Ellbogen auf die Marmorplatte gestützt und beobachtete die Frauen. Manche waren beleibt und grauhaarig und wurden von älteren Offizieren begleitet. Aber zahlreiche andere waren ohne männliche Begleitung. Ein paar mütterlich wirkende Frauen trugen die Uniform der Heilsarmee. Die jüngeren schienen zu denen zu gehören, die sie draußen gesehen hatten, attraktive junge Damen aus Tampa oder vielleicht sogar aus Kuba. Paul versetzte seinem Partner einen leichten Rippenstoß. Jimmy nahm den Füller und versah das sonst saubere Blatt tatsächlich mit einem dicken Tintenkleks. »Den Speisesaal finden Sie in dieser Richtung, am Ende des Ostkorridors, durch den Wintergarten und dann zu Ihrer Linken«, klärte der Empfangsangestellte sie auf. »Die normale Essenszeit ist schon vorbei, bei uns wird pünktlich um sechs Uhr serviert. Aber unten im Ratskeller oder im orientalischen Flügel bekommen Sie auf jeden Fall noch etwas. Der Flügel befindet sich zwischen diesem Gebäude und dem Bootshaus am Fluß. Tagsüber ist der ganze Flügel besetzt, weshalb es ratsam ist, daß Sie in unserem Pool baden.« Jimmys Antwort bestand aus einem erstaunten »Heiliger Jesus!« Der brüskierte Empfangsangestellte ließ ein silbernes Glöckchen ertönen. Ein weiterer schwarzer Diener – davon schien es jede Menge zu geben – lud ihre Koffer auf einen kleinen Handkarren und nahm ihre Zimmerschlüssel.
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Der Mann war mindestens sechzig und hatte müde braune Augen. »Zum Aufzug geht’s hier lang, Gent’men.« Sie kamen an einem kleinen japanischen Offizier in einer farbigen Uniform vorbei, der sich mit einem Zivilisten in einem Frack unterhielt. Der Zivilist machte eifrig Notizen. Beide Männer pafften an stark riechenden Zigarren. Paul fand es erstaunlich, daß er den Geruch mochte. Der Hauptfahrstuhl befand sich in der Nähe der großen Treppe. Weitere, so erklärte ihnen der Diener, befänden sich an beiden Enden des langen Korridors. Der offene Fahrkorb war mit bogen- und spiralförmigen Blattgoldarbeiten verziert. »Schöne Arbeit«, meinte Paul. »Otis«, sagte der Diener. »Mr. Plant kauft nur das Beste.« Der Fahrstuhl beförderte sie in den fünften Stock, in einen gleichfalls langen Korridor. Der Diener blieb stehen und zeigte auf eine verschlossene Tür. »Das ist Ihr Badezimmer. Drei Gäste teilen sich jeweils ein Badezimmer, das gibt es in ganz Florida nicht noch einmal.« Er ging auf die nächste Tür zu und schloß sie auf. »Bitte, Sir«, sagte er zu Jimmy. Selbst Mr. Plants kleinstes Gästezimmer war, obwohl entsetzlich heiß, mit einem Orientteppich, einem Einzelbett mit blütenweißem Leinen und einem Toilettentisch gut ausgestattet. Auf einem kleinen Nachttisch stand ein Telephon neben einem Papierfächer, auf dem der Name des Hotels aufgedruckt war. Das Zimmer wurde beleuchtet mittels einer Deckenlampe mit drei Birnen sowie zwei weiteren über dem Toilettentischspiegel. Es verfügte darüber hinaus über einen Heizkörper und einen kleinen Kamin, die jedoch beide heute abend nicht benötigt wurden. »Legen Sie meinen Koffer auf das Bett, Boy.« Mit abgewandtem Blick tat der Diener, wie ihm geheißen. Paul erkundigte sich, ob in Tampa immer solches Wetter herrschte. Der Diener versicherte ihm, daß dem nicht so sei. Temperatur und Luftfeuchtigkeit seien für den Monat Mai viel zu hoch; es würde jedoch besser werden. Paul hielt die Auskunft für die normale aufmunternde Propaganda einer Luxusherberge. Jimmy fächerte sich Kühlung zu. »Bis es soweit ist, werden wir hier oben wahrscheinlich braten.« Jimmy folgte in Pauls Zimmer, das mit dem seinen identisch war. »Hier, und danke.« Paul gab dem Diener fünfundzwanzig Cents. Der Mann lächelte und dankte ihm wärmstens. Als der Diener hinausgegangen war, meinte Jimmy: »Das wäre ja wohl das Letzte, wenn ich einem Nigger auch noch ein Trinkgeld dafür gäbe, daß er seine Arbeit tut.« Paul warf seinen Strohhut auf das Bett. »Hast du Hunger?« »Nein. Ich seh’ mich lieber noch mal in der entzückenden Rundhalle um.«
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»Dann eben nicht.« Paul knöpfte sein Hemd auf, das ihm auf der Haut klebte. »Wir sollten morgen früh als erstes die Kisten auspacken und dann, sobald wir können, mit dem Filmen anfangen.« »Ja, ja, klar, kein Problem. Du kannst ja an die Tür klopfen, und wenn du eine Frauenstimme hörst, verziehst du dich einfach wieder.« Als Paul darauf nicht lächelte, fuhr er fort. »Es muß ja nicht unbedingt in aller Früh sein. Sieben, halb acht –« »Sechs.« »Sechs? Du kannst ja um sechs aufstehen, ich tu’s bestimmt nicht. Wir werden schon irgendwann zusammenkommen.« Er verließ das Zimmer. Bald hörte Paul, wie er seine Tür abschloß und den Flur hinunterging. Paul wusch sich im separaten Badezimmer. Er kämmte sein unbändiges Haar mit Wasser, zog ein frisches Hemd an und machte sich auf, seine Umgebung zu erkunden. Er nahm die Treppe anstatt des Fahrstuhls. Auf dem Absatz zwischen der Empore und der Rundhalle befand sich ein Spiegel, der so groß war, daß sich darin leicht ein halbes Dutzend Damen und Herren in voller Länge begutachten konnten. Am Zeitungsstand nahm er sich eine kostenlose Broschüre über das Hotel und kaufte eine farbige Ansichtskarte, auf der das Hauptgebäude abgebildet war. Zu dem Angestellten sagte er: »Ich würde gerne eine gute Tampa-Zigarre erstehen.« »Ich empfehle Ihnen diese, Guerra y Diaz. Die Fabrik ist in Ybor City. Nur 25 Cents das Stück, aber ausgezeichneter kubanischer Tabak und Deckblatt. Sind Sie Zigarrenraucher?« Paul verneinte. »Ziehen Sie den Rauch nicht in die Lungen, kosten Sie ihn im Mund und blasen Sie ihn dann wieder aus. So genießt man eine Zigarre am besten.« Paul machte sich auf den Weg ins Untergeschoß, wo er den Barbier, die Masseuse, das Mineralbad für Frauen, die Praxis des Hausarztes und schließlich das fand, was er suchte, den Ratskeller. Man gelangte entweder durch einen Eingang vom Korridor oder durch eine eigens dafür angelegte Treppe direkt von oben hinein. Träge Rauchschwaden und das Klicken von Billardkugeln drangen aus einem Gewölbe neben der Bar. Als er die Speisekarte studierte, fand er zu seinem Erstaunen ArmourRind und »Big V«-Schweinswürste. Der Barkeeper informierte ihn, daß Armour, Swift und »Big V« jeweils Niederlassungen in Florida besaßen. Die Fabrik von Vanderhoff befand sich in Ocala. Paul bestellte ein Lagerbier. Der Barkeeper zapfte das Helle der Florida Brewing Company von Tampa aus dem Hahn. Zu essen bestellte Paul Lammkoteletts mit gedämpften Tomaten und Bohnen und dazu eine kleine
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Portion scharfes Chowchow, eine amerikanische Vorspeise, die er im Laufe der Zeit schätzen gelernt hatte. »Und zum Nachtisch Nougateis und schwarzen Kaffee, bitte.« »Sie können jeden Tisch nehmen. Der Kellner bringt Ihnen alles.« Er wählte einen kleinen Tisch in der Ecke. Das Bier war nicht schlecht, aber kein Vergleich zu dem von Crown. Selbst als Verbannter konnte er zugeben, daß sein Onkel ein weit besseres Bier braute. Sein Essen kam, und während er aß, studierte er die Broschüre. Plant hatte das Hotel 1891 eröffnet, die Baukosten hatten 2 Millionen betragen. Weitere 500000 waren für Mobiliar aufgewandt worden, »das von Mr. und Mrs. Plant während einer ausgedehnten Reise durch Europa eigenhändig ausgewählt wurde«. Eine Suite kostete 75 Dollars pro Tag. Er beschloß, die Broschüre zur Seite zu legen und sich statt dessen seiner Guerra y Diaz zuzuwenden. Er bat den Barkeeper um einen Zigarrenanschneider und schnitt das Mundstück ab. An einem Zündholzschachtelhalter aus Keramik entfachte er ein Streichholz und zündete die Zigarre an. Weil er auf unangenehme Folgen vorbereitet war – kratzen, husten, würgen –, sog er ein kleines bißchen Rauch in den Mund und kostete. Vorsichtig, um nicht zu inhalieren, ließ er den Rauch ganz langsam entströmen. Sein Duft und seine Wärme erschienen ihm angenehm und beruhigend; ansonsten spürte er nur ein winziges Brennen im Mund, aber weiter nichts. Er nahm die Zigarre zwischen die Lippen und preßte sie zusammen. Als er den Ratskeller verließ, warf er einen Blick in den Spiegel über der Bar. Der Mann, den er erblickte, gefiel ihm. Die Zigarre verlieh ihm zweifellos eine große Reife. Morgen früh würde er mehr Zigarren kaufen. Die Luft draußen duftete süß, aber die Schwüle war erdrückend und hüllte alles in einen Dunstschleier. Der Abend war bereits fortgeschritten, die Spazierwege fast leer. Er machte sich auf den Weg zum Bootshaus. In der Broschüre hatte er gelesen, daß die Gäste des Hotels von dort aus mit dem »elektrischen Boot neuester Bauart« eine Fahrt unternehmen konnten, um die malerische Uferlandschaft zu besichtigen. Er spazierte an Tennisplätzen vorbei; am orientalischen Flügel, einem großen hell erleuchteten Pavillon, aus dem Tanzmusik an sein Ohr drang, blieb er einen Moment lang stehen. Die traurig-süße Walzermelodie erinnerte ihn an Julie. Er ging zurück. In seinem Zimmer packte er seinen Koffer aus, seine Kleider, seine Stereoskopkarte und die Papierflagge. Die Karte stellte er an den Spiegel, und davor legte er die Flagge. Die Ansichtskarte des Hotels vervollständigte das kleine Arrangement.
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Er zog sich aus und versuchte zu schlafen. Selbst nackt war dies in der Hitze fast unmöglich. Irgendwann überkam ihn doch der Schlaf, aber Punkt fünf Minuten vor sechs wachte er auf. Schmunzelnd dachte er, daß selbst ein schlafender Deutscher nur selten seine Pünktlichkeit vergaß. Als er an Jimmys Tür klopfte, blieb drinnen alles still. Er klopfte noch einmal, lauter. Keine Antwort. Ziemlich verärgert kaufte er im Untergeschoß zwei Zigarren, verließ das Hotel und sprang auf eine Straßenbahn, die über die Lafayette Street-Brücke fuhr. Der Morgen war grau und dunstig. Im Tageslicht wirkte die Stadt sogar noch trostloser und erbärmlicher als bei ihrer Ankunft am Abend zuvor. Es waren auch viel weniger Menschen unterwegs. Die Hauptstraßen waren verstopft durch vierspännige Maultiergefährte und dazu gefährlich, denn berittene Uniformierte galoppierten ohne Rücksicht auf Fußgänger durch die Stadt. Soldaten bevölkerten die hölzernen Gehwege. Die meisten trugen die Standarduniform aus schwerem blauem Flanell. Paul staunte, denn es waren auch Neger darunter. Die schwarzen Soldaten bildeten eine Gruppe, standen in sichtbarem Abstand zu den Weißen. In einem kleinen Café, das mit amerikanischen und kubanischen Flaggen bestückt war, nahm er ein schnelles Frühstück, bestehend aus Maismehlbrei und Kaffee, zu sich. Der Mann hinter der Theke, ein dunkelhäutiger Kerl mit Akzent, ließ zwei Kunden mit lauter Stimme wissen, daß Tampa Ende nächster Woche von spanischen Kriegsschiffen bombardiert und daraufhin von der feindlichen Infanterie zerstört würde. Einer der Kunden meinte: »Ach, Emilio, das ist in den letzten zwei Wochen doch schon das neunte oder zehnte Mal, daß dieses Gerücht umgeht. Ich schnapp’ mir erst mein Gewehr, wenn ich einen von den Dreckskerlen dabei erwische, wie er sich an meine Angetraute ranmacht.« Als Paul hinausging, bemerkte er einen winzigen Sandhügel auf der Innenseite der Türschwelle. Tampa, Florida, war tatsächlich eine vollkommen neue Erfahrung. Dort gab es Hitze, Schwüle, tropische Gewächse, aber vor allem Sand. Trotzdem war er gerne hier. Hier bot sich ihm genau die Art von Erfahrung, von der er als Junge in Berlin geträumt hatte. Er paffte im Gehen an seiner Zigarre. Fast in jedem Schaufenster war mindestens ein glänzendes Poster zu sehen. KAUFEN SIE BEI GESCHÄFTSLEUTEN IN TAMPA, DIE »DIE MAINE NICHT VERGESSEN HABEN«! SOLDATEN DES FÜNFTEN KORPS WILLKOMMEN! SONDERPREISE FÜR UNSERE TAPFEREN HELDEN!
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In dem rechteckigen, staubigen Glas spiegelte sich eine Gestalt, die sich im gleichen Tempo bewegte wie er. Mr. Dutch Crown. Mit Zigarre. Das Bild gefiel ihm mehr und mehr. Er fand das Büro der Plant-Spedition im Bahnhof an der Ecke der Polk- und Tampa-Straße. Die Kiste mit dem Filmmaterial von Eastman war eingetroffen. Er setzte seine Unterschrift unter ein Papier und arrangierte den Transport zum Hotel. Eine halbe Stunde später sah er Jimmy, der wie ein sorgloser Urlauber in einem Schaukelstuhl auf der vorderen Veranda lag. Zu seiner Linken, am Haupteingang, wurde jeder zweite oder dritte Offizier, der das Hotel betrat, von einem Armeewachposten begrüßt, der ebenfalls lässig in einem Schaukelstuhl ruhte. Der Wachposten hatte eine Rasur nötig und gähnte viel. Jimmy hatte große dunkle Ringe unter den Augen. Auf Pauls Frage nach der letzten Nacht winkte er ab. »Ich muß dir doch nicht alles auf die Nase binden, oder, Mister Boß?« frotzelte er in nachgemachtem Negerakzent. Sie holten ihre Ausrüstung aus dem Gepäckraum. Nachdem um zehn Uhr der Film eintraf, bauten sie ihre Luxograph-Kamera auf dem Rasen vor dem Hotel auf. Paul schritt auf und ab, ein Strohhut schützte seine Augen, als er seine erste Einstellung vorbereitete – einen langen Blick auf die Veranda. Die Kamera lockte die Menschen an, darunter auch zwei Armeeangehörige. Der größere hatte auffallende Bänder an seinem Hemd, einen Tropenhelm, ein Offiziersstöckchen. Er stellte sich als Hauptmann Lee, Militärattaché Seiner Majestät aus Washington, vor. Der andere Offizier trug hohe Stiefel, eine einfache khakifarbene Uniform und eine Schirmmütze. Die Vorderseite der Mütze wurde von einer Anstecknadel mit rotem Punkt in weißem Kreis geziert. Er stellte sich vor als »Oberst Yermoloff, Attaché der Kaiserlichen Russischen Botschaft«. Paul sagte: »Ich heiße Dutch Crown, und das ist mein Assistent, Mr. Daws.« Yermoloff schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich. Er trug einen winzigen graumelierten Spitzbart und verströmte eine kühle Eleganz. Sein Englisch mit dem unüberhörbaren Akzent bestand aus: »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Oberst Yermoloff zog eine kleine Klapp-Kodak aus seiner Jackentasche und entfernte sich dann, um die Pfauen, die mit ihren eleganten Schwanzfedern über den Rasen stolzierten, im Bild festzuhalten. Hauptmann Lee stellte Fragen zu der Kamera, die Paul höflich beantwortete. Jimmy stand daneben, rauchte eine Zigarette nach der anderen und nahm dabei jede Frau, die in ihre Nähe kam, in Augenschein.
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Ein Mann in einem Leinenhemd, weißen Flanellhosen und mit einem Schläger in der Hand kam mit zügigen Schritten von den Tennisplätzen auf sie zu. Die Ärmel seines weißen Pullovers waren um seinen Hals geschlungen. Er blieb stehen, um den Attaché zu begrüßen. »Ein schönen guten Morgen, Arthur.« Seine klare, starke Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß er Amerikaner war. »Hallo, Dickie. War’s ein gutes Match?« »O ja, ich hab’ gewonnen.« »Hier ist einer der Burschen vom Film. Mr. Crown, hätten Sie vielleicht noch eine Minute Zeit?« »Gewiß.« Paul lernte gern andere Menschen kennen, und die Ehrerbietung des Hauptmanns ließ darauf schließen, daß der Mann wichtig war. »Zur Zeit halten sich in Tampa eine ganze Reihe von Journalisten auf, aber hier vor Ihnen steht sicherlich der berühmteste und angesehenste.« Das Lachen des Amerikaners klang mißbilligend. »Erlauben Sie mir, Ihnen Mr. Richard Davis vorzustellen, derzeit Beauftragter von Mr. William Randolph Hearst mit seinem New York Journal. Höchstwahrscheinlich kennen Sie Mr. Davis’ Verfasserzeile und seine Bücher.« »Sicher, ja. Es ist mir eine Ehre, Mr. Davis. Soldiers of Fortune ist ein wunderbarer, lehrreicher Roman. Ich habe ihn letztes Jahr gelesen.« Hauptmann Lee lächelte. »Sie und die halbe Welt. Dieser junge Bursche heißt Dutch. Der andere Herr ist sein Assistent, Mr. – es tut mir leid, ich habe nicht –« »Daws«, brummte Jimmy. Der über die Maßen gut aussehende, ungefähr fünfundvierzigjährige Davis war von einer ausgesuchten Höflichkeit sowohl Paul als auch Jimmy gegenüber. Sein Händedruck war hart und kräftig. Leutselig meinte Davis: »Seid ihr Burschen vom Film darauf aus, uns arme Schreiberlinge arbeitslos zu machen? Zwei von euch sind im Hotel, und zwei weitere sind, wie ich höre, noch auf dem Weg.« »Meinen Sie damit, daß noch eine Gesellschaft außer der unseren hier ist?« Paul war bestürzt. »Ganz richtig. Ein Bursche namens Bill Paley. Kam mit einem Eilboot letzte Woche hier an. Filmt seit ein paar Tagen in Key West. Stämmiger Mann – Durchmesser wie ein Faß. Man kann ihn nicht verfehlen.« »Seinen Geruch auch nicht«, fügte Hauptmann Lee abfällig hinzu. »Anmaßender Kotzbrocken, dieser Paley.« »Aber, aber, Arthur, seien Sie nicht zu hart. Er ist nicht gesund.« Davis wandte sich Paul zu. »Ich weiß aus gutem Grund über Ihren Konkurrenten
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Bescheid. Mein Arbeitgeber, Mr. Hearst, hat ihn persönlich eingestellt. Paley und ich haben offiziell nichts miteinander zu tun, nur unser Gehalt kommt aus der gleichen Schatulle. Paley macht ansonsten Filme für das Eden-Museum, ein Kuriositätenmuseum in der Dreiundzwanzigsten Straße in Manhattan.« »Und Sie sagen, daß noch zwei Filmgesellschaften hier erwartet werden? Können Sie mir sagen, welche das sind?« »Zum einen American Biograph. Die andere kenne ich nicht. Aber meine mangelnde Neugierde in dieser Sache werden Sie sicher verstehen, Dutch. Ich schlage mich den ganzen Tag und die ganze Nacht mit Substantiven und Adjektiven herum, während ihr Burschen nur an der Kurbel dreht.« Hauptmann Lee trat schmunzelnd zur Seite, um den russischen Attaché zu beobachten. Yermoloff hüpfte in der Hocke den aufgebrachten Pfauen hinterher, die weder etwas mit ihm noch mit seiner Kamera zu tun haben wollten. Davis legte sich den Schläger auf die Schulter. »Sie sind Deutscher, hab’ ich recht? Ich meine gebürtiger.« »Ja. Ich bin vor sechs Jahren auf Ellis Island angekommen.« »Ihr Englisch ist gut. Wie heißt Ihre Firma?« »American National Luxograph of Chicago.« »Begleiten Sie uns bis nach Kuba?« »Das hoffe ich. Ich möchte vom Schlachtfeld aus berichten und werde deshalb beim Generalstab meine – äh –« »Akkreditierung beantragen.« »Danke.« Paul mochte diesen Mann. »Weiß irgend jemand, wo die Armee die Spanier angreifen will?« »General Shafter weiß es wahrscheinlich. Oder General Miles, falls er sich überhaupt blicken läßt. Der Generalstab hält es nicht für nötig, uns arbeitende Menschen über seine Pläne zu unterrichten. Wir sind dazu verurteilt, an Schlüssellöchern zu horchen oder Gespräche an der Bar zu belauschen. Manchmal heißt es, das Ziel sei Santiago, dann ist es wieder Puerto Rico.« »Können sie sich nicht entscheiden?« »Noch nicht, mein Junge«, warf Hauptmann Lee ein, der sich wieder zu ihnen gesellt hatte. »Wir befinden uns in der Gewalt von Admiral Cervera und seiner spanischen Flotte.« »Unsere Marine ist derzeit auf hoher See und macht Jagd auf Cervera«, erklärte Davis. »Aber anscheinend kann sie weder ihn noch seine Schiffe finden. Solange man nicht weiß, wo er sich aufhält, werden unsere Soldaten
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aus diesem Hafen nicht auslaufen. Ich persönlich glaube – ach, entschuldigen Sie mich bitte, dort drüben steht ein Herr, den ich gern sprechen möchte.« »Wer ist das, Dickie?« »Crane. Dort auf der Veranda. Entschuldigen Sie mich bitte. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dutch. Wir sprechen uns noch.« Mit energischen Schritten wandte sich Davis in Richtung Hotel. Paul und Hauptmann Lee beobachteten, wie der gutaussehende Journalist die Stufen hinaufsprang, um einen jüngeren Mann mit steifem Strohhut und fleckigem weißem Staubmantel zu begrüßen, einen Mann, der in seiner schlampigen und lethargischen Art das krasse Gegenteil zu Davis’ schmucker und lebhafter Erscheinung bildete. »Es heißt, daß Hearst Dickie dreitausend im Monat zahlt«, sinnierte der Hauptmann mit leidlich neidvoller Stimme. »Zuzüglich Spesen natürlich. Dazu kommt sein Honorar für seine Beiträge in Harper’s Monthly. Er ist viel reicher als der komische Vogel, mit dem er sich gerade unterhält. Und viel kultivierter obendrein. Mr. Crane ist einer, der gegen den Strom schwimmt. Man könnte ihn sogar als Abtrünnigen bezeichnen.« »Es tut mir leid, aber ich kenne den Herrn nicht.« »Stephen Crane? Hat ziemlich viel Aufhebens verursacht mit seinem Roman über den Sezessionskrieg.« »Das ist Mr. Crane! Die rote Tapferkeitsmedaille. Ein unglaublicher Roman.« »Das entzieht sich meiner Kenntnis, ich lese nur selten Romane. Ich lese auch nie unanständige Sachen. Mit seinem ersten Buch hat er doch nur schmutziges Prostituiertenzeug verbreitet. Und dann gibt’s tatsächlich Menschen, die ihn als Genie bezeichnen! Ich halte ihn für taktlos, arrogant und endgültig reif für ein Bad. Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit, Mr. Crown. Guten Tag.« Das ganze Gespräch langweilte Jimmy. Er lag inzwischen im Gras, paffte lässig an einer Zigarette und starrte auf die Fenster der Gästezimmer. »Jim, sollen wir uns an die Arbeit machen, was meinst du? Das Licht ist gut, ich würde gern anfangen zu drehen.« »Okay, alles klar.« Jimmy erhob sich und strich seine Kleider glatt, aber er ließ sich Zeit. Paul trat an die Kamera. Er bemerkte, daß Jimmys Blick wieder auf den Fenstern ruhte. In den nächsten Tagen eilten Paul und Jimmy mit der Luxograph-Kamera von einem Ort zum anderen und schossen Bilder, die, wie sie hofften, Shadow zufriedenstellen und das Publikum begeistern würde. Während sie
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knöcheltief in der Bucht von Tampa in der Brandung standen, filmten sie Die 1. Artillerie beim Baden der Pferde. Der Oberst konnte, falls er wollte, noch ein oder zwei Ausrufezeichen hinzufügen. Im Nordosten der Stadt filmten sie in einem Küstensumpfgebiet mit Fächerpalmen Die 2. Infanterie beim Exerzieren im Schützengraben. In Kiefernwäldern filmten sie bei erbarmungsloser Hitze eine tausend Mann starke Kavalleriekolonne beim Manöver – einige Reiterschwadronen galoppierend, andere trabend –, und bei jedem Tritt flog den sich nach Kräften bemühenden Kameramännern der Sand ins Gesicht. Während die sengende Sonne auf den stählernen Säbeln blitzte und blinkte, drohte Jimmy wieder einmal mit Kündigung. Es wurde allmählich zur Gewohnheit, und Paul schenkte ihm keine Beachtung. »Ich hab’ eine andere Idee, komm, hilf mir, verdammt noch mal!« Jimmy stapfte hinter ihm her bis zu einer Stelle, an der vier Fächerpalmenstämme von beträchtlicher Dicke in einigem Abstand am Boden lagen. Sie schleiften die Stämme zusammen und hievten die Enden übereinander, eine niedrige Feldschanze also. Paul kauerte mit der Kamera kaum hinter einem der Palmenstämme, als eine Abteilung der Kavallerie unter großem Geschrei auf ihn zugestürmt kam, um sich erst im allerletzten Moment zu teilen. Jimmy kniete zwei Meter hinter Paul, er biß vor lauter Angst fest die Zähne zusammen. Die Kavalleristen galoppierten auf beiden Seiten ganz dicht an ihnen vorbei, aber als gute Reiter vollendeten sie die Übung ohne Zwischenfall. Paul nahm die Kamera hoch und richtete das Stativ aus. »Wenn diese Bilder gut werden, wird das eine Sensation.« Jimmy holte eine Zigarre aus seinem Hemd. »Das Ganze hätte auch eine sensationelle Beerdigung für dich werden können. Es wird allmählich ziemlich gefährlich in deiner Nähe.« »Hast du schon eine Spanierin vernascht?« fragte Jimmy am Abend, als sie bei Bier und Käse an der Bar im Ratskeller saßen. »Ich brauche keine Frauen« – eine Lüge, denn das Verlangen schmerzte bereits –, »ich brauche Alligatoren.« »Alligatoren? Ich würde nicht einmal in die Nähe dieser lederhäutigen Mistviecher gehen. Was ist bloß in dich gefahren?« »Dieses Telegramm, das vorhin an der Tafel hing. Der Oberst will Bilder von Alligatoren in Florida, und deshalb müssen wir einen auftreiben.« Jimmy leerte sein Bierglas. »Du kannst ja zu Bett gehen und über Alligatoren nachdenken, auf mich wartet jemand, der ganz wild drauf ist, meine Zigarre zu rauchen. Bis morgen also.«
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Jeden Tag rollten neue Truppenzüge in Tampa ein, die immer noch mehr Soldaten brachten. Paul und Jimmy durchstreiften die Lager auf der Suche nach Motiven. Das erste Lager befand sich auf Tampa Heights, einem leeren, nur mit Buschwerk bewachsenen Gelände ungefähr eine Meile oberhalb des Stadtzentrums, doch es blieb nicht lange leer. Inzwischen schlugen die Neuankömmlinge ihre Zelte auch im DeSoto-Park und Ybor City, Palmetto Beach und Port Tampa, neun Meilen weiter an der Küste auf. Manche Einheiten saßen dreißig Meilen östlich in Lakeland fest. Das neueste Lager war in einem Park auf der Westseite des Hotels entstanden. Auch Zivilisten drängten in Massen in die Stadt. Die Firma Plant versetzte sämtliche Büroangestellten aus Sanford dorthin – Paul und Jimmy hielten die Ankunft am Bahnhof mit der Kamera fest – und stellte dazu noch schwarze Tagelöhner ein, die mitunter von weit her kamen, manche sogar aus Ocala. Es kamen naturgemäß auch die, die die Gelegenheit nutzten, in Kriegszeiten bekannte und geschätzte Dienste anzubieten. Zeltspelunken wurden in den ärmeren Gegenden, überall dort, wo Platz war, aus dem Boden gestampft. Die meisten boten Huren und Glücksspiel an. Es kam kaum zu Zwischenfällen; die Lizenzgesetze in Tampa waren nicht allzu streng und wurden zudem locker gehandhabt. Paul konnte sich nicht vorstellen, daß Iz Pflaum Szenen aus diesem Milieu zeigen würde, und verschwendete deshalb auch keinen Film damit. Eine dreißig Meilen lange Schlange von Güterzügen – aus vielen Waggons drang der Gestank fauliger Lebensmittel – hatte sich gebildet, weil die beiden in Tampa verkehrenden Eisenbahngesellschaften Plant und Florida Central & Pensinsular erbitterte Konkurrenten waren. Die PlantEisenbahngesellschaft untersagte das Befahren ihrer Schienen durch Güterzüge der Florida Central. Schlimmer noch, Plant war im Besitz des einzigen Schienenstrangs von der Stadt zum Old-Tampa-Bay-Hafen. Jimmy schlug vor, einige Güterwaggons zu filmen, aber Paul, der sie für häßlich und uninteressant hielt, entschied dagegen. Beide Eisenbahngesellschaften boten zu einem besonderen Preis Rundfahrten im ganzen Land an. Für nur acht Dollars konnte man eine Rundreise von Jacksonville aus erstehen. Wie sollte sich da jemand nicht dazu durchringen können, eine solche Fahrt zu unternehmen, um die tapferen Männer Amerikas zu bewundern, die sich auf den Krieg vorbereiteten? An einem einzigen Wochenende beförderten die beiden Eisenbahngesellschaften mehr als zwanzigtausend Ausflügler; Paul und Jimmy filmten einige beim Verlassen der beflaggten Waggons.
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Wenn Paul in seinem unerträglich heißen Zimmer nach einem meist achtzehn- oder gar neunzehnstündigen Arbeitstag die Tampa Times durchblätterte, fand er sowohl Anregungen für mögliche Motive sowie die neuesten Nachrichten. Die Zeitung informierte ihn darüber, daß städtische Einrichtungen viel zu hoch besteuert wurden, daß die Wasserversorgung nur noch möglich war, weil einheimische Firmen ihre Quellen zur Verfügung stellten. Aber die Bewohner von Tampa sahen über die Menschenmassen und die Unannehmlichkeiten hinweg, denn sie schwelgten in neuem Reichtum. Dem Einzelhandel war es noch nie so gutgegangen. Zeitungsjungen verdienten die unerhörte Summe von dreißig Dollars pro Woche, Limonade- und Erdnußverkäufer sogar bis zu fünfzig. Während Offiziere ausschweifende Bälle in Plants Hotel besuchten, verwöhnten Bürgervereinigungen die einfachen Soldaten beim Picknick. Jede Kirche bot Gospelkonzerte, Eis- und Erdbeerfeste, wo Soldaten unter entsprechender Aufsicht junge Damen kennenlernen konnten. Kirchliche Damenkränzchen buken Hunderte von Kuchen, ebenso wie die Vereinigten Töchter der Konföderation. Patriotismus lag in der Luft; der drohende Krieg führte Amerika wieder zusammen. Es gab keine Mißstimmungen zwischen den Soldaten und den Einwohnern von Tampa, bis die Freiwilligen in großer Zahl in der Stadt erschienen. Die Tampa Times berichtete, daß die erfahrenen Soldaten vom stehenden Heer ein vorbildliches Benehmen an den Tag legten, daß jedoch gewisse Freiwillige anscheinend mit der Absicht gekommen seien, sich zu betrinken und zu krakeelen, und dies hauptsächlich im Umkreis der neuen Spelunken, Hurenhäuser und Spielhöllen. Paul und Jimmy waren ungefähr zehn Tage in der Stadt, als der berühmte Prediger Dwight L. Moody nach Tampa zurückkehrte, wo er erst Wochen zuvor eine Erweckungsversammlung abgehalten hatte. Er wurde begleitet von Ira Sankey, einem bekannten Organisten. In einem öffentlichen Park hielten Moody und Sankey sowie ein dritter Erleuchteter, ein ehemaliger General namens Oliver O. Howard, Tag und Nacht Gottesdienste ab. Das Luxograph-Team schleppte eines Nachmittags seine Kamera dorthin. O.O. Howard las, als sie ankamen, aus der Bibel. Der bekannte Veteran aus dem Sezessionskrieg hatte an einem Ort mit Namen Fair Oaks den rechten Arm verloren, trotzdem hatte er bis zur Kapitulation Dienst getan. Er hatte dafür die Ehrenmedaille bekommen, das meinte wenigstens ein Zeitschriften-Zeichner namens Frederic Remington, ein knochiger, untersetzter Mann mit kurzen, dicken Beinen, der auf den ersten Blick recht umgänglich schien.
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Remington stand, während er Howard zeichnete, weit hinten, eben dort, wo Paul und Jimmy ihre Kamera aufgestellt hatten. Paul fiel auf, daß die meisten Anwesenden Soldaten waren, hauptsächlich aus dem Norden. Wahrend sein Assistent kurbelte, ging Paul nach hinten zu Remington, der einen Fuß auf einem Stuhl und seinen Skizzenblock auf dem Knie hatte, und fragte den Zeichner, warum die Einheimischen den Gottesdienst boykottierten. »Nach dem Krieg war Howard Leiter der Organisation für Freigelassene. Er gründete oben in Washington eine Universität für Farbige. Aber er kann noch so sehr mit der Bibel winken und von Frieden und Nächstenliebe predigen, hier unten im Süden ist er nichts weiter als ein verdammter Yankee und Niggerfreund.« Der Gottesdienst endete, als die Sonne hinter den Palmen unterging. Mr. Remington klappte seinen Zeichenblock zu und machte ein paar Schritte auf die Kamera zu, um sie in Augenschein zu nehmen. Er war nicht beeindruckt. Er nannte die lebenden Bilder »ein Geschäft für Lumpensammler und andere New Yorker Juden«. Paul erklärte, daß Oberst Shadow kein Jude sei, auch Edison nicht, aber selbst wenn sie es wären, spiele das doch gar keine Rolle. Remington sah ihn beleidigt an, drehte sich um und ließ ihn stehen. Sooft ihn Paul danach im Hotel sah, erwiderte Remington seinen Gruß höchstens mit einem fast unmerklichen Nicken, aber niemals mit einem Lächeln. Paul trank eine Menge Bier und verschlang viele Würste im Ratskeller, hatte jedoch nur selten Zeit für eine ausgedehntere Mahlzeit. Ende der zweiten Woche in Tampa hatte er bereits merklich abgenommen. Manchmal verließ er sein Zimmer schon vor Tagesanbruch, oft vergaß er sogar, sich zu rasieren. Es spielte kaum eine Rolle; er fühlte sich schmutzig, ganz gleich, ob er glattrasiert war oder mit Bartstoppeln umherlief. Das Hotel glich mit seinen hochrangigen Offizieren, ihren Frauen und Kindern und der wachsenden Schar von Journalisten einem Tollhaus. Paul genehmigte sich auch weiterhin einen Krug Bier oder auch zwei im Ratskeller, bevor er sich am Abend zu Bett begab. Inzwischen hatte er erkannt, daß bei den Journalisten eine klare und strenge Hierarchie herrschte. Ganz unten standen die Kameramänner wie er selbst, Jimmy und der widerwärtige William Paley vom Eden-Museum, den Richard Harding Davis erwähnt hatte. Paul hatte Paley mehrere Male aus der Ferne gesehen. Er hätte ihn gern kennengelernt, aber leider hatte sich bisher keine Gelegenheit ergeben.
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Eine Stufe über den niederen Vertretern eines unbekannten und verachtungswürdigen neuen Mediums standen die Zeitungsreporter, die zum großen Teil außerhalb ihrer Redaktionen völlig unbekannt waren. Darüber wiederum thronten die Journalisten mit einer im ganzen Land gelesenen Verfasserzeile. John Fox, Frederick Palmer, George Kennan, E.F. Knight von der London Times, der Zeichner für The Century und Harper’s, Frederik Remington, den Paul nicht mochte. An der Spitze der Pyramide aber standen die beiden, die als Schriftsteller zu internationalem Ruhm gelangt waren: Mr. Davis und Mr. Crane. Beide genossen hohes Ansehen als Journalisten. Aber damit war die Ähnlichkeit auch schon zu Ende. Wie Hauptmann Lee Paul hatte wissen lassen, repräsentierte Mr. Davis die feine Gesellschaft und die Salons, Mr. Crane dagegen die Straßen und die Slums. Crane pflegte Umgang mit Kollegen und gewöhnlichen Soldaten, Davis dagegen mit Generälen und Admirälen. Davis war gleichbleibend freundlich, niemals überheblich. Aber alle, wahrscheinlich einschließlich Davis selbst, waren sich des Abgrunds bewußt: Richard Harding Davis allein und strahlend auf der einen Seite, und auf der anderen das Heer der Schlechtbezahlten mit ihrem Anführer, den manche von ihnen Sankt Stephen nannten. Eines Abends, es war schon spät, schleppte sich Paul vom Ratskeller nach oben in die Rundhalle. Es war ruhig; nur wenige Paare wandelten durch die Halle, und zwei Armeeleutnants studierten die Nachrichten auf der Tafel. Auf dem Weg zum Fahrstuhl auf der Ostseite betrat er den Wintergarten, einen großen Raum mit hohen Fenstern, weißen Korbstühlen und tropischen Pflanzen in reichverzierten Kübeln. Auf einem der Stühle saß ein Mann; er war allein und las die Tampa Times. Der Mann war Paley. Trotz seiner Müdigkeit entschied Paul, daß dies der ideale Zeitpunkt war, sich vorzustellen. Er trat näher. Nach wenigen Sekunden faltete Paley die Zeitung zusammen und geruhte, ihn zu bemerken. Paul war schockiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Die Augen des Mannes schienen krank und lagen tief in ihren Höhlen, seine Haut war gelblich gefärbt. »Mr. William Paley? Ich möchte Sie schon lange kennenlernen. Ich heiße Crown und bin wie Sie Kameramann.« »Ach ja, ich habe gehört, daß noch einer im Hotel wohnt. Für wen arbeiten Sie?« »Für die American National Luxograph Company of Chicago. Der Besitzer ist Oberst Sidney Shadow.« »Noch nie von ihm gehört.« Paley rülpste laut, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Sein Atem roch schrecklich. »Aber Mr. Edison persönlich hat ihm die Konzession erteilt.«
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»Das gleiche gilt für das Eden-Museum und darüber hinaus noch für ein Dutzend andere. Also, wenn das jetzt alles ist –« »Nein, bitte, ich würde Sie gerne auf ein Glas Bier unten im Ratskeller einladen. Ich hatte gehofft, daß wir vielleicht ein paar Ideen austauschen könnten. Ich weiß, daß Sie ein erfahrener Mann sind.« Paley warf seine Zeitung auf einen Korbtisch. »Ich habe keine Zeit, um Lehrlingen gute Ratschläge zu erteilen, und ich bezweifle ernsthaft, daß ich von Ihnen etwas lernen kann. Gute Nacht.« Er verließ den Wintergarten mit langsamen, wankenden Schritten. Offensichtlich war er krank. Aber selbst unter diesen Umständen schmerzte die Abweisung. Paul fühlte sich auf einmal klein, dumm und eindeutig als Außenseiter. Am nächsten Morgen erwachte er wie immer noch vor Tagesanbruch. Da sich sein Zimmer auf der sonnigen Seite des Hotels befand, schätzte er die Temperatur am Ende eines Tages auf gut dreißig Grad. Selbst bei Nacht kühlte es sich im Zimmer nur wenig ab. Er schwitzte bereits, als er Rasiermesser, Seifenschale und Bürste unter dem immer größer werdenden Haufen auf dem Toilettentisch herausgekramt hatte und sich auf den Weg ins Badezimmer machte. Nachdem er rasiert und angezogen war, frühstückte er in dem riesigen Speisesaal mit seiner dreißig Meter hohen Kuppel und seinen großen Bogenfenstern aus Mahagoni. Um halb acht riß er Jimmy durch hartnäckiges Klopfen aus dem Schlaf. Während Jimmy frühstückte, lud Paul ihre Ausrüstung auf einen gemieteten Wagen. Noch vor neun fuhren sie auf einer gewundenen, sandigen Straße in Richtung Bucht, um weitere Übungen zu filmen. Plötzlich streckte Jimmy die Hand aus. »Heiliger Strohsack. Sieh dir das an!« Shadows Alligator sonnte sich auf der Sandbank einer schaumbedeckten Lagune neben der Straße. Es handelte sich um ein großes zähes Exemplar, drei bis vier Meter vom Maul bis zum Schwanz. »Endlich!« rief Paul leise. »Ein prächtiges Exemplar.« Er hielt den Wagen an. Mit ängstlichem Blick in Richtung Echse band Jimmy das Pferd an einem Strauch fest. Paul schritt mit der Kamera leise in Richtung Lagune. Er entfaltete das Stativ und steckte die Beine ohne das kleinste Geräusch in den Sand. Nachdem er sich vergewissert hatte, wieviel Film ihm noch zur Verfügung stand, begann er zu kurbeln. Der Alligator spürte die Eindringlinge in seinem Reich. Er rührte sich, riß sein riesiges Maul auf, entblößte seine scharfen Zähne und setzte sich in
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Bewegung. In Richtung Kamera. Jimmy suchte Schutz hinter der nächsten Palme. »Dutch, pack zusammen, das Ding frißt dich sonst bei lebendigem Leib!« Paul kurbelte weiter. Er spürte, wie sein Herz in der Brust hämmerte. Der Alligator bewegte sich langsam, fast würdevoll, sein weißlicher Bauch schleifte auf dem Boden und hinterließ beim Näherkommen eine Spur aus Kiefernnadeln im Sand. Paul neigte das Stativ mit einer Hand nach vorne, um den Alligator im Visier zu behalten. Er kam näher. Paul stellte die Kamera ab und ließ die Kurbel los. Während er auf einem Fuß hüpfte, gelang es ihm, einen Schuh abzustreifen und ihn zu werfen. Der Schuh landete auf dem Maul des Alligators, der daraufhin seinen Bauch in den Sand grub und stehenblieb. Kleine halbrunde Augen richteten sich mit unheilvollem Blick auf Paul. Behutsam nahm er das Stativ hoch, dann setzte er vorsichtig einen Fuß nach hinten. Machte einen Schritt rückwärts. Und noch einen. Der Alligator riß sein Maul auf … Und machte kehrt und kroch eilig in Richtung Lagune davon, wo er mit einem großen Platscher im Sumpf untertauchte und den Blicken entschwand. »Gottverdammich, das war knapp.« Jimmy trat der Schweiß aus allen Poren. »Du hast vielleicht Nerven. Wenn dieses Viech seine Lichter auf mich gerichtet hätte, hätte ich mir in die Hosen gemacht.« »Bei mir war’s fast auch soweit.« Gemeinsam brachen sie in ein – seltenes – kameradschaftliches Lachen aus. Paul sah auf die Kamera. Er hatte, wenn alles gutging, fünfundzwanzig Meter im Kasten. Für jeden einzelnen davon hatte er reichlich bezahlt – mit Anspannung und Angst. Außerdem hatte ihn der Spaß einen Schuh gekostet. Er erinnerte sich an den Augenblick in Indiana, als er geglaubt hatte, vom Wabash Cannonball überrollt zu werden. Er hatte die gleiche Angst verspürt und danach dasselbe Hochgefühl. Das Fazit war klar: Wollte man aufregende Bilder, mußte man Kopf und Kragen riskieren. Und genau aus diesem Grund würde sich Jimmy in diesem Geschäft nie halten können. Am Spätnachmittag überquerte er in seinen neuen Schuhen, die er auf Rechnung seines Arbeitgebers gekauft hatte, die Lafayette-Street-Brücke mit einer kleinen Holzschachtel unter dem Arm; die ersten beiden Hundertmeterrollen belichteter Negative. Er hatte sie mit Holzwolle umwickelt und die Schachtel mit der Aufschrift »zerbrechlich« und
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»hitzeempfindlich« versehen. Am Bahnhof half ihm der Angestellte, die Papiere für eine Nachnahmesendung nach Chicago auszufüllen. Er sah genau hin, als der Angestellte telegraphierte. Mit dem Kleber des Angestellten befestigte er einen Briefumschlag des Hotels auf der Schachtel. Auf dem Blatt Papier, das im Umschlag steckte, hatte er die Motive anhand der Zahlen auf dem Film gekennzeichnet. Als nächstes ging er zum Büro der Western Union in der FranklinStraße, wo er sorgfältig Shadows Name und Adresse und dann die Nachricht in Druckbuchstaben zu Papier brachte. SCHICKE SENSATIONELLES FILMMATERIAL PER EXPRESS UND NACHNAHME. Er befeuchtete die Spitze des Bleistifts mit der Zunge. Er zögerte nur einen kurzen Augenblick, bevor er mit Dutch unterschrieb. Paul wußte bald, wer die wichtigsten Offiziere waren, die im Hotel ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Besonders auffallend war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann, der sich nur in schnellen Sprüngen vorwärts zu bewegen schien. General Joe Wheeler war einer von mehreren ehemaligen Konföderierten, die nun wieder Blau trugen. Ein weiterer war der ehemalige amerikanische Konsul in Havanna, General Fitzhugh Lee, ein großer Brummbär, der ebenso beliebt war wie Wheeler. Der kommandierende General der gesamten Streitkräfte, General William Rufus Shafter, wurde zwar mit dem gebührenden Respekt behandelt, aber nur wenige mochten ihn. Sein Spitzname war Pecos Bill. Er genoß hohes Ansehen als Offizier im Sezessionskrieg und als Kämpfer gegen die Indianer, aber von den Journalisten war zu erfahren, daß er sich seit jenen Tagen völlig verändert hatte. Mit seinen jetzt dreiundsechzig Jahren wog er schätzungsweise gute einhundertdreißig Kilo. Seine Uniform erinnerte an ein Zelt und saß furchtbar schlecht. Sein graues Haar und sein Schnurrbart machten immer einen ungepflegten Eindruck. Wenn er sich bewegte, aber auch wenn er still stand, atmete er schwer und laut. Seine Mitarbeiter hielten sich stets dicht hinter ihm, als befürchteten sie, daß er jede Minute einem Herzanfall erliegen könne. Die Journalisten meinten, Shafter sei zu alt und zu dick und den Anstrengungen in diesen Breitengraden nicht gewachsen. Eines Abends, als Jimmy wieder unterwegs war, begab sich Paul hinunter in den Ratskeller. Man behandelte ihn inzwischen als Stammgast; er mochte den Ratskeller wegen der Menschen, die sich dort einfanden. Hier saßen Offiziere im Range eines Leutnants und Hauptmanns, zuweilen
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auch ein Major, bei einem Bier zusammen, aber die höheren Ränge zogen kleine private Feiern vor oder verbrachten ihre Abende gar in Konferenzen. Auf jeden Fall hatte er bisher weder einen General noch einen Oberst hier unten gesehen. Der heutige Abend bildete die Ausnahme. Paul saß in der Nähe eines Obersten. Sein Gesicht kam ihm bekannt vor, doch er konnte nicht sagen, wer es war. Der Oberst hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und beklagte sich lauthals bei einigen jüngeren Offizieren. »Natürlich handelt es sich um eine Regierungsverschwörung, die dazu noch politisch motiviert ist. Man hat die Absicht, mich für meine Ansichten zu bestrafen, indem man mich hier in Florida schmoren läßt, weit ab vom Schuß.« Die jüngeren Offiziere gaben zustimmende Laute von sich. Paul trank sein Bier aus und entschied sich dann für einen Spaziergang. Erst jetzt fiel ihm ein, wer der Sprecher war. Sein Gesicht und sein großer löwenartiger Kopf hatten vor zwei Jahren in Chicago die Plakate der Demokraten geziert. Seine Erkundigungen am nächsten Tag bestätigten dies. Ja, Oberst William Jennings Bryan diente in einem Regiment der Nebraska Silver Soldiers. Bryan war fast nie im Hotel zu sehen. Ganz im Gegensatz dazu stand ein auffallender Oberstleutnant namens Roosevelt von der 1. Freiwilligen Kavallerie. Der Regimentskommandeur Leonard Wood war ein altgedienter Veteran, doch die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf seinen Stellvertreter. Als Paul eines Morgens seine Kamera aufbaute, um Flamingos zu filmen, die sich in einem langgestreckten Teich auf dem Hotelgrundstück spiegelten, kam Oberstleutnant Roosevelt des Weges. Er trug khakifarbene Kleidung und ein blaues Halstuch mit Tupfen. Paul hatte ähnliche Halstücher an anderen Männern im Regiment gesehen, das von den Journalisten mit unterschiedlichen Namen bedacht wurde: Wood’s Wild Westerners –Woods wilde Weststaatler –, The Cavalry Cowpunchers – die Kavalleriecowboys –, Teddy ‘s Terrors – Teddys Terrorbande – oder Rough Riders – Rauhe Reiter. Roosevelt grüßte Paul mit einem breiten Grinsen und einem lauten Hallo. Er blieb stehen, um Paul beim Ausrichten seines Stativs zu beobachten. Jimmy war unterwegs, um eine neue Filmrolle zu holen. Roosevelt zeigte auf den Namen auf der Kamera. »Sind Sie das, American Luxograph?« »Ja.« »Ich kenne mich ein kleines bißchen aus im Filmgeschäft. American
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Biograph ist vor zwei Jahren an mich herangetreten, kurz nachdem Präsident McKinley sich in Canton vor die Kamera gestellt hat.« »Ja, Sir. Ihr Landsitz in New York, ich habe den Film gesehen.« »Faszinierend, diese Streifen. Mit ihnen lassen sich viele Menschen erreichen und beeinflussen. Da stecken ungeahnte Möglichkeiten drin. Zu schade, daß die Moral zu wünschen übrig läßt.« »Herr Oberstleutnant, da möchte ich gern widersprechen – Sie haben da einen falschen Eindruck. Ich gebe zu, daß bis jetzt die meisten Motive alltäglich sind, trivial.« »Genau.« »Die Filme sind trivial, aber das wird sich ändern. Ernsthafte Filme, Filme über aktuelle Ereignisse wie zum Beispiel diesen Krieg werden das ändern.« »Ich mag Männer, die optimistisch sind. Und vielleicht haben Sie ja recht. Schließlich haben diese Streifen Bill McKinley zum Wahlsieg verholfen.« Mit nachdenklichem Blick rieb Roosevelt die Gläser seiner Nickelbrille an seinem Ärmel. »Wie heißen Sie, mein Junge?« »Paul Crown. Aber alle nennen mich Dutch.« »Nun, Dutch Crown, Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Egal wie.« Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck. Roosevelt packte kräftig zu. Als Paul ihm nachblickte, war er sich nicht sicher, ob die Freundlichkeit echt war. Im Ratskeller hatte er vernommen, daß der Oberstleutnant ehrgeizige politische Pläne hatte und stets bemüht war, ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Während er diesen Gedanken nachhing, mußte er sich über sich selbst wundern. Was für ein Zyniker war er doch mit seinen einundzwanzig Jahren. Die Offiziere im Hotel redeten mit ziemlicher Offenheit. Am Abend war man zwar bei Musik und Tanz ausgelassen, aber es gab auch Probleme, gewaltige Probleme, die den ganzen Tag über diskutiert wurden. Die Schlange der Güterzüge erstreckte sich jetzt bereits fünfzig Meilen nach Norden. Weitere Güterwaggons warteten auf Anschlußbahnhöfen, einige sogar in Columbia, South Carolina. In den Waggons befanden sich unentbehrliche Waffen, Munition, Lebensmittel. Aber die Abteilung des Quartiermeisters konnte die Waggons nicht entladen und ihre Fracht auf schnellstem Wege in entsprechende Lagerräume schaffen lassen, weil sich die Abteilung außerstande sah zu entscheiden, ob die Ladung für die Verpflegungsausgabestelle, das Zeugamt, die Pioniereinheit oder die Abtei-
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lung des Quartiermeisters selbst bestimmt war. Es lagen keine Frachtbriefe bei, keinerlei schriftliche Anweisungen, nichts außer der gleichen Aufschrift, die Paul auf jedem Waggon gesehen hatte. MILITÄRBEDARF –EILT! Der dringend benötigte Nachschub konnte nur zugeteilt werden, indem der Bestand eines jeden einzelnen Waggons aufgenommen wurde, eine Aufgabe, die Tausende von Arbeitsstunden erfordert hätte. Paul hörte Klagen über das miserable Essen, das von den Vertragsfirmen geliefert wurde, sowie die Unvernunft der Mitarbeiter des Kriegsministeriums, die Männer in Uniformen in die Tropen schickten, die eher in arktischen Gefilden angebracht gewesen wären. Eines Abends hörte er in einem der Salons im Erdgeschoß, wie eine kleine Gruppe von Offizieren und Zivilisten den Worten Roosevelts lauschte. »Kriminell, das ist der richtige Ausdruck!« Roosevelt trommelte auf ein zerbrechliches Tischchen, fast wäre eine Porzellanfigur umgefallen. »Wir von der 1. Freiwilligen haben uns geweigert, diese blauen haarigen Hemden anzuziehen. Wir lassen uns auf eigene Kosten unsere Khakiuniformen anfertigen. Wenn das dem Herrn Minister Alger nicht paßt, dann kann er uns ja vors Kriegsgericht zerren. Aber zuerst werde ich diesem kleinen Wiesel noch alle Zähne ausschlagen, darauf können Sie sich verlassen, meine Herren.« Seine Zuhörer applaudierten, und sogar einige Hurrarufe waren zu hören. Er wußte genau, wie man Menschen für sich gewinnen konnte. Das Kriegsministerium versagte nicht nur an dieser Stelle. So hatten Schlamperei und Unfähigkeit dazu geführt, daß das Ministerium nicht in der Lage gewesen war, die für moderne Ausrüstung bewilligten fünfzig Millionen Dollars auch entsprechend einzusetzen; deshalb wurden keine Krag-Jorgensen-Gewehre gekauft, die mit dem neuartigen rauchfreien Pulver geladen wurden. Der Hafen von Tampa stellte eine weitere mögliche Katastrophe dar. Paul und Jimmy fuhren eines Tages hin, um zu erkunden, welche filmischen Möglichkeiten sich dort boten. Es gab jedoch nichts, was sich auch nur annähernd zu filmen gelohnt hätte. Von einem Güterladeplatz am Ende eines Gleises, das der Firma Plant gehörte, verliefen zwei Schienen zu den beiden hölzernen Landungsstegen, die etwa eintausend Meter weit in die Bucht von Tampa hineinragten. Der südliche Landungssteg verfügte über drei Gleise, der nördliche über eines. Die Plant-Eisenbahngesellschaft gab an, daß die Landungsstege das Gewicht von zwei Dutzend Schiffen tragen könnten. Der britische Attaché Hauptmann Lee klärte Paul darüber auf, daß ein Dutzend wohl realistischer sei. Und dreißig bis fünfunddreißig Schiffe würden für die militärische Unternehmung notwendig sein. Hinzu
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kam, daß der Kanal schwierig zu befahren war; er war schmal und kaum tiefer als sieben Meter. Die schwersten Schiffe hatten einen Tiefgang von sechs Metern. In der ganzen Gegend gab es nur vier Lotsen, die mit einheimischen Gewässern vertraut waren. Vier Regimenter schwarzer Soldaten waren nach Tampa geschickt worden: zwei Infanterieregimenter, das 24. und 25. sowie die fremder anmutenden 9. und 10. Kavallerieregimenter. Letztere waren die berühmten BuffaloSoldaten, die seit Ende des Sezessionskriegs zum Schutze der weißen Siedler in der weiten Prärie stationiert gewesen waren. Die Freiwilligen aus den Südstaaten und ein Großteil der Einwohner von Tampa mochten die Schwarzen nicht. Es kam zu Zwischenfällen, höhnischen Wortwechseln, Duellen mit Fäusten, Steinen und Holzscheiten. Dann wurde einem der Soldaten des 10. Regiments draußen in Lakeland, am Stationierungsort, beim Barbier eine Rasur verweigert. Der schwarze Soldat protestierte. Er wollte sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen. Die Schmähreden des Besitzers und die Drohungen anderer Kunden trieben ihn schließlich zur Tür hinaus. Bald danach marschierten mehrere Soldaten des 10. Regiments mitten auf der Hauptstraße bis vor die Tür des Barbiers, wo sie ihre Pistolen zogen, die Scheiben des Geschäfts zerschossen und zudem noch in die Luft ballerten. Bevor sie entwaffnet abgeführt wurden, lag ein weißer Zuschauer tot am Boden. »Dabei war er nur neugierig«, stieß Jimmy hervor. Er stand auf Seiten der Einheimischen. Eines Spätnachmittags genehmigten sich er und Paul eine kleine Ruhepause in den Schaukelstühlen auf der vorderen Veranda, nachdem sie den ganzen Tag mit der ergebnislosen Suche nach geeigneten Motiven zugebracht hatten. Jimmy hatte die Tampa Times aufgeschlagen und begann, Paul Auszüge aus dem Leitartikel vorzulesen. Er hatte Schwierigkeiten beim Lesen. »Die Aufnahme des Negers in die Armee hat ihn seinen angestammten Platz vergessen lassen. Schwarze Soldaten haben die Bürger von Tampa beleidigt. Sie wollen wie weiße Bürger behandelt werden und zeigen sich unverschämt, wenn dies nicht geschieht. Die weißen Offiziere, denen die Neger unterstehen, haben bisher nichts unternommen, um dieses arrogante Verhalten zu unterbinden.« Er senkte die Zeitung. »Das trifft’s doch genau, meinst du nicht auch?« »Nein. Warum sollten schwarze Männer, die ihrem Land treu dienen, soviel Aufsehen und Zorn erregen?«
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»Mein Gott, Dutch, begreifst du denn Amerika nie? Das sind doch bloß Nigger, halbe Affen, die höchstens als Sklaven zu gebrauchen sind.« »Meinst du? Sie waren Sklaven vor dem großen Sezessionskrieg, und alle haben sie für niedrige Wesen gehalten, die höchstens zur Feld- und Hausarbeit taugen, und selbst nachdem der Norden den Krieg gewonnen hat, denkt man immer noch so über sie? Das halte ich für dumm. Sie haben sich doch nicht freiwillig in Ketten legen lassen und minderwertige Arbeit verrichtet, oder? Und außerdem sagt mein Onkel, daß der Krieg sie befreit hat und sie deshalb gleichberechtigt sind –« »Puh, diesen Quatsch solltest du lieber wieder vergessen. Frei vielleicht, aber gleichberechtigt? Niemals. Ein Nigger ist es nicht wert, auch nur im Schatten eines Weißen zu stehen.« »Aber die schwarzen Soldaten sind Amerikaner! Sie tragen die gleiche Uniform wie die weißen. Auch sie riskieren ihr Leben. Und deshalb haben sie auch die gleiche Behandlung verdient.« »Wenn du diese Meinung allzu laut kundtust, werden dich ein paar von diesen Hitzköpfen hier noch teeren und federn.« »Ach was. Das ist doch lächerlich.« Paul schaukelte ein paarmal nachdenklich vor und zurück. »Ich glaube, die schwarzen Kavalleristen wären ein interessantes Thema für einen Film.« »Aber klar, nichts lieber als das. Und wenn sie den Film zum erstenmal bei Iz Pflaum vorführen, werden die Iren und Polen die Sitze herausreißen und den ganzen Laden anzünden. Um Himmels willen, kein Mensch will sich Niggersoldaten ansehen. Hier steht, daß die Armee weißen Offizieren praktisch mit dem Kriegsgericht drohen muß, damit sie den Befehl über eine dieser Einheiten übernehmen. Am besten war’s, man schickte die verdammten Nigger an die vorderste Front, um die weißen Jungs zu schonen.« »Wie kannst du so was sagen?« »Weil ich ein Weißer bin und mich in erster Linie um mich selbst kümmere. Jeder, der Jim Daws dabei in die Quere kommt, ist selbst schuld.« Als Paul an diesem Abend an der überfüllten Bar im Ratskeller sein Bier trank, kam ein kräftiger junger Mann mit einer karierten Mütze auf ihn zu. »Entschuldigen Sie, Sie sind Crown, stimmt’s?« »Ganz genau.« Der Fremde gab ihm seine Visitenkarte. »Billy Bitzer vom American Biograph in New York. Hab’ gedacht, ich sag’ mal guten Tag.« Billy Bitzer war ungefähr fünf Jahre älter als Paul; ein gutgekleideter
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Bursche mit einem eckigen, sympathischen Gesicht. Er legte seine Mütze auf die Theke. »Noch ein Bier? Das geht auf mich.« Er gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Ich hab’ so das Gefühl, daß wir uns in Kuba vielleicht gegenseitig helfen können. Die Zeitungsfritzen helfen uns nämlich ganz bestimmt nicht. Sie halten nicht viel von uns.« »Das hab’ ich auch schon festgestellt, obwohl Mr. Davis sehr freundlich ist.« »Sie sind Deutscher«, stellte Bitzer gerade fest, als das Bier kam. »Ich auch.« Er blies den Schaum weg und nahm dann einen kräftigen Schluck. »Ich habe gehört, daß der alte Paley Ihnen die Snobbehandlung hat angedeihen lassen.« »Woher wissen Sie das?« Bitzer lehnte sich zurück und stützte seine ledernen Ellbogenflecken auf die edle Mahagonitheke. »Er erzählt allen Leuten, daß irgend so ein junger Hüpfer ihn auf ziemlich aufdringliche Weise angesprochen habe. Wer Paley kennt, weiß, daß das nur bedeuten kann, daß Sie höflich waren und er wie immer unausstehlich. Bill Paley ist ein Schweinehund. Wenn wir Glück haben, wird er krank und muß nach Hause.« »Schrecklich genug sieht er ja aus.« »Hat ziemlich lang Röntgenapparate vorgeführt und verkauft. Er behauptet, daß seine Krankheit damit zusammenhängt. Ich bin gern nachsichtig, wenn jemand Pech gehabt hat, aber nicht, wenn dieser Jemand ein ekelhafter Ker! ist. Noch ein Bier?« »Ja, gut. Aber diesmal bin ich dran.« »Wie heißen Sie mit Vornamen?« »Man nennt mich Dutch.« »Schlag ein, Dutch.« Sie schüttelten sich die Hand. »Jetzt sind wir schon zwei gegen solche Schweinehunde wie Paley. Klingt wie ein Geheimbund. Darauf müssen wir anstoßen.« Sie tranken darauf. Sofort bestellte Paul noch eine Runde, und sie prosteten sich noch einmal zu. Sie waren einander vom ersten Augenblick an sympathisch. Sie unterhielten sich über Mädchen. Bitzer mochte die in New York am liebsten; Paul war der Meinung, daß die kubanischen Mädchen in Tampa sehr feurig und anziehend seien. Sie redeten über Bier und waren sich einig, daß das einheimische Gebräu einzig wegen seiner Wirkung und keineswegs wegen seiner Qualität getrunken wurde. Sie sprachen über Kameras. Bitzer beneidete Paul, denn der seinen von der Biograph Company fehlte ein entscheidendes Merkmal und damit gleich mehrere gute Eigenschaften. »Läuft mit Batterien, und meine vielen Ersatzbatterien wiegen fast zweitausend Pfund. Ich hab denen in New York meine Meinung gesagt,
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aber es hieß, entweder ich oder ein anderer. Ich sitze meist stundenlang auf meinen Kisten, bis sich endlich ein Fuhrmann findet, der bereit ist, sie zu transportieren. Deine Luxograph dagegen ist ein wahrer Schatz. Vielleicht sollte ich sie stehlen.« Er gab das Zeichen für eine weitere Runde. Bald darauf verabschiedeten sie sich unter weitschweifigen Freundschaftsbeteuerungen und nicht ohne sich gegenseitig zu versichern, daß sie auch in Zukunft zusammen ihren Durst stillen würden. Mit dem flüssigen Inhalt von vier Krügen des Florida Brewing Extra Pale im Bauch war Paul, als er im Fahrstuhl in den fünften Stock fuhr, mehr als wacklig auf den Beinen. Wie immer hatte er beim Verlassen des Fahrkorbs das Gefühl, aus einer kleinen heißen Vorkammer in einen großen heißen Backofen zu treten. Er hatte sich daran gewöhnt, tagsüber draußen im Freien und bei Nacht im Hotel zu schwitzen. Er versuchte den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken, doch es wollte ihm nicht gelingen. Am anderen Ende des Korridors ging eine Tür auf. Ein Mann schoß aus einem Zimmer neben der Treppe und stülpte sich seinen Derby auf. In der anderen Hand hielt er eine brennende Zigarette. Der Mann war ziemlich groß und schlank. Elegant gekleidet, mit einem sauber gestutzten Bart. Er warf einen Blick in den Korridor, sah Paul und bog dann ohne irgendeine Reaktion geschwind um die Ecke zu der nach unten gehenden Treppe. Paul hatte nicht bemerkt, daß ihm der Zimmerschlüssel aus der Hand gefallen war. War er betrunken? Ein bißchen. War er verrückt? Mit Sicherheit nicht. Er sah das Gesicht in aller Deutlichkeit vor sich. Lebhafte dunkle Augen. Goldumrandete, runde Brillengläser, die kaum größer waren als Pfennige … diesen Mann, den er zum ersten Mal auf dem Bahngelände in Berlin gesehen hatte, hätte er überall wiedererkannt. Aber der Mann, der so eilig verschwunden war, war rasiert, gut gekleidet, sauber. Paul vergaß seinen Schlüssel, der auf dem Boden lag, rannte den Korridor entlang bis zu der Tür, aus der der Mann gekommen war, und merkte sich die Zimmernummer. Dann jagte er dem Mann nach. Auf jedem Absatz stieg ihm ein anderer verwirrender Duft in die Nase. Eine Spur von Rasierwasser, ein Hauch von Puder … Mikhail Rhukov hatte zwar Gerüche verströmt, aber nicht solche. Unten angekommen, konnte er den Mann nirgendwo entdecken. Mit eiligen Schritten stürzte er an mehreren verwunderten Marineoffizieren vorbei in die Rundhalle. Der Nachtportier war schläfrig und schlecht gelaunt.
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»Ich bin Mr. Crown aus Zimmer fünfhundertelf. Können Sie mir sagen, wer in Zimmer fünfhundertsechsunddreißig wohnt? Es ist sehr wichtig.« Der Portier öffnete seinen Mund, um zu verneinen. Paul schob einen Dollar über den grünen Marmor. Der Portier legte seine Hand auf den Schein und schob ihn dann mit ruhiger Bewegung in seine Tasche, dann drehte er das ledergebundene Gästebuch um hundertachtzig Grad. Er blätterte langsam durch. Er warf einen Blick auf die Holzfächer hinter sich, ordnete der Nummer einen Namen zu. »Es ist die Frau eines amerikanischen Offiziers, der mit seinen Männern bei Tampa Heights stationiert ist.« »Ich danke Ihnen. Noch eine Frage. Oben, da hab ich kurz gedacht, ich hätte einen alten Freund gesehen. Vielleicht ist er auch Gast hier. Er ist Russe und heißt Mikhail Rhukov.« »Wenn Sie bitte den Nachnamen buchstabieren?« Paul tat sein Möglichstes. Der Portier blätterte wieder in dem ledergebundenen Buch. »Wir haben keinen Gast mit diesem Namen.« »Sind Sie sicher? Sein Akzent ist noch stärker als meiner. Er wäre Ihnen bestimmt aufgefallen.« »Bestimmt, aber ich erinnere mich nicht.« »Aber ich habe ihn gesehen, da besteht gar kein Zweifel. Mikhail Rhukov –« »Wir haben keinen Rhukov aus Rußland, auch nicht aus Rumänien, Bulgarien, der Schweiz oder sonstigen europäischen Ländern. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Dieses Hotel ist sehr um Diskretion bemüht. Wir haben viele berühmte Herrschaften, die hier den Winter verbringen.« Paul wandte sich ab und fragte sich, ob er sich vielleicht doch geirrt hatte. Oder einer Fata Morgana erlegen war? Nein, auf keinen Fall, so betrunken war er gar nicht. Es war Rhukov gewesen. Herausgeputzt; inzwischen ganz elegant – aber nichtsdestotrotz Rhukov. Vorausgesetzt, ein Armeeoffizier hatte seine Frau hier im Hotel untergebracht und verbrachte selbst die Nächte bei der Truppe, dann konnte man sich doch leicht vorstellen, warum Rhukov es so eilig gehabt hatte, das Zimmer zu verlassen. Aber damit hatte er noch keine Antwort auf die anderen Fragen, die ihm auf der Zunge brannten. Woher war er gekommen? Wohin war er verschwunden? Wo war er jetzt? Welcher Teufel hatte das Wunder vollbracht, ihn so zu verwandeln? Der Mai ging ins Land. Es passierte mehrere Male, daß Pferde oder Maultiere
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der Armee aus ihren Koppeln ausbrachen und mit donnerndem Hufschlag durch die Stadt galoppierten und die Bürger erschreckten. Paul und Jimmy waren leider nie rechtzeitig zur Stelle, um eines dieser Pferdespektakel zu filmen. Statt dessen nahmen sie Die Feuertaufe eines neuen Rekruten und Kubanische Flüchtlinge warten auf ihre Rationen auf. Hunderte dieser Flüchtlinge waren via Key West nach Tampa gekommen. Als nächstes war Freundliche Feinde an der Reihe, ein Baseballspiel zwischen einem einheimischen Team und den Iren der 69. Freiwilligen aus New York. Crane saß auf einem billigen Platz und stieß bei jedem Fehler der beiden Parteien Flüche und Beleidigungen aus. Falls Crane ein Genie war, war dies seinem Äußeren in keiner Weise anzumerken. Er war ein Mann von mittlerer Größe, hatte strohblondes Haar, ein bläßliches Gesicht und einen großen Schnurrbart. Seine Leinenhosen und sein weißes Hemd waren schmutzig. Er rauchte Pfeife und verließ seinen Platz ungefähr einmal pro Inning, um sich ein weiteres Bier zu holen. Gegen Ende des Spiels, als die 69. vierzehn Gesamtläufe verzeichnen konnten, die Heimmannschaft dagegen nur einen einzigen, schwenkten Paul und Jimmy die Kamera auf den Baseballfan Crane, um auch ihn ins Bild zu setzen. Die Zuschauer neben ihm wunderten sich über die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit; er sah aus wie ein schmutziger Penner. Als Crane die Kamera bemerkte und sah, daß Paul kurbelte, zog er höhnisch seinen Hut, streckte die Zunge heraus und brach in lautes Gelächter aus. Paul nahm an, daß der Streifen Shadow nicht gefallen würde, auch wenn der Abgelichtete noch so berühmt war. Da unerwartet viel Zeit gebraucht wurde, um den Truppentransport zu organisieren, wurden die Motive immer rarer und nach Pauls Ansicht auch langweiliger. Sie mußten mit der Trolleybahn durch Tampa und der Morgentoilette der 1. Freiwilligen Kompanie Floridas vorliebnehmen. Florida hatte zwanzig Kompanien aufgestellt, aber weil laut Armeevorschriften ein Regiment aus zwölf Kompanien bestand, wurden acht wieder nach Hause geschickt. Paul wünschte, man hätte den ganzen Haufen nach Hause geschickt. Er und Jimmy filmten die Escambia Rifles aus Pensacola, eine ungehobelte, laute Bande. Mehrere machten sich lauthals über Pauls Akzent lustig. Diesmal war es Paul, der sich schlagen wollte, was sonst ganz und gar nicht seine Art war, und Jimmy derjenige, der ihn wegzog. »Keine Chance«, meinte Jimmy später. Er hatte recht. In den Kompanien aus Florida dienten viele Farmer; riesige Kerle mit sonnengebräunten Nacken und kräftigen Armen. Der Abend bescherte Paul zwei weitere Schocks, den ersten, während er
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mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, um sich eine Mahlzeit und ein Bier zu genehmigen. Der volle Fahrkorb hielt in jedem Stockwerk an. Im zweiten Stock stieg ein ausländischer Offizier in Khakiuniform ein. Ein Militärattaché, den Paul noch nicht gesehen hatte. Doch dann dämmerte es ihm. Doch, ich habe ihn schon irgendwo gesehen. Er hatte nur einen winzigen Blick auf das Gesicht des Mannes erhaschen können – während sich der Aufzug nun nach unten bewegte, sah er nichts als den Hinterkopf –, aber trotzdem war er sich sicher. Als sich die Fahrstuhltür im Erdgeschoß öffnete, bewegte er sich nicht. Der Attaché trat dagegen schnell hinaus, und er sah ihn einen Augenblick lang von der Seite. Ja! Da waren sie wieder, diese grauen Augen, die dem ansonsten gewöhnlichen Gesicht eine besondere Kälte verliehen. Da war sie, die hakenförmige Duellnarbe auf der linken Wange. Er hatte den Leutnant mit dem goldenen Zigarettenetui auf dem Berliner Bahnhofsgelände nie vergessen. Ein Journalist, den er flüchtig kannte, verließ zusammen mit ihm den Fahrstuhl. »Kennen Sie diesen Offizier?« fragte Paul. Der Attaché beugte sich über die behandschuhte Hand der Frau eines amerikanischen Offiziers. »Klar. Hauptmann von Rike. Deutsche Botschaft, Washington.« Seine Vergangenheit schien über ihn hereinzubrechen wie ein Sturmwind; es war etwas ganz Persönliches, jenseits des Krieges und seiner unwichtigen Rolle darin. Er spürte ungeahnte Kräfte, die zu einem Wirbelsturm anwuchsen; Kräfte, die er weder benennen noch verstehen konnte. Sie trieben ihn unweigerlich in einen Orkan, zogen ihn in einen Strudel und zu einem unbekannten Ende. Der zweite Schock ereilte ihn im Ratskeller, kurz nachdem er bemerkt hatte, daß Mr. Crane in einen Streit verwickelt war. Mr. Crane maß sich mit einem anderen Reporter. Cranes strohfarbenes Haar hing ihm über die Stirn in die Augen. Sein fleckiges Hemd hatte keinen Kragen. Sechs leere Bierflaschen standen in Reih und Glied neben seinem Ellbogen. Sein Gegner war ein Reporter namens Sylvanus Peterman. Er arbeitete für das New York Journal, aber nie war er in Gesellschaft von Davis zu sehen, dem Star des Journal, und nur selten in der der anderen Männer, zwei oder drei Dutzend, die Mr. Hearst nach Tampa entsandt hatte, um die unwichtigeren Aufgaben zu übernehmen: das Entgegennehmen von Anweisungen des Herausgebers, das Abfassen von kleineren Artikeln und Zeilenfüllern, die Anfertigung von Zeichnungen, das Übermitteln von
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Kopien, das Begleichen von Rechnungen. Paul hatte gehört, daß sich Hearsts tägliche Ausgaben beim Telegraphenamt oftmals auf weit über tausend Dollars beliefen. Peterman war dick, blaß, gut gekleidet; er trug eine Brille mit Perlmuttumrandung und roch nach Eau de toilette. Obwohl er kaum älter war als Crane, zeigte sich bei ihm schon der Ansatz einer Glatze. Er frisierte sein pomadisiertes Haar so zur Seite, daß die blanke Kopfhaut verdeckt war. Die meisten Journalisten mochten ihn nicht. Crane sah aus, als wolle er ihn erwürgen. Paul rückte näher. Petermans Stimme klang belehrend. »Kipling hat es brillant ausgedrückt. ›Ergreift die Last des weißen Mannes, gebt der Welt die Besten, die ihr habt…‹« »Nein, nein, nicht dieser Mist«, murmelte Crane durch den Rauch der Zigarette, die in seinem Mundwinkel hing. »Freddy, noch eine Flasche.« »›Zögert nicht, verbannt eure Söhne ins Exil, um euch die Welt untertan zu machen.‹« »Verdammte Scheiße! Freddy, verdammt noch mal, etwas Tempo, nüchtern halt’ ich das nicht länger aus.« »Crane, was ist bloß los mit Ihnen? In welche Richtung denken Sie denn? Wenn wir die rückständigen Schwarzen nicht erziehen und demokratisieren, wer soll es dann tun? Wir müssen diese neuen Märkte erschließen – neue Länder erobern, sofern nötig. Wir sind die Beherrscher der Welt von morgen. Wir sind eine siegreiche Rasse!« Freddy stellte Crane eine neue Flasche hin. Crane legte seine Zigarette auf die Theke und nahm einen großen Schluck. Er hob die Flasche. »Ich salutiere vor Ihnen« – ein nasser, schleimiger Husten zwang ihn eine Sekunde lang nieder –, »Salut, Bruder Peterman. Oder sollte ich sagen: Bruder Hearst?« »Machen Sie sich ruhig lustig, ich bin trotzdem stolz darauf, für einen echten amerikanischen Visionär zu arbeiten, der –« »Seien Sie still und beantworten Sie die Frage, die ich Ihnen vor fünf Minuten gestellt habe! Ich möchte zu gern wissen, wie Sie und der wilde Bill diese glorreiche Eroberung bewerkstelligen wollen, wenn die anderen nicht erobert werden wollen?« »Was für ein Heuchler Sie doch sind! Wie können Sie nur Geld von World annehmen?« »Ganz einfach. Ich schicke der Zeitung keine Artikel, die nur vorgefaßte Meinungen befriedigen.« »Wie edel. Aber Sie vergessen, daß Mr. Pulitzer und Mr. Hearst das glauben, was ich sage.«
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»Zum Teufel! Mr. Hearst und Mr. Pulitzer glauben nur an ihre Auflagenzahlen. Und jetzt antworten Sie mir. Wie wollen Sie Ihr großartiges amerikanisches Credo verbreiten und durchsetzen? Mit Peitschen und Ketten, während Sie rote, weiße und blaue Raketen aus Ihrem Hintern schießen?« »Sie sind abscheulich.« »Und ihr Chauvinisten macht mich krank.« Crane schleuderte seine Zigarette in Richtung des nächstbesten Spucknapfs und traf daneben. »So selbstgerecht«, knurrte Peterman. »Sie und Ihre schmutzigen Romane und Ihre Arroganz. Die traditionellen Werte verspotten, das können Sie. Auf ihnen herumtrampeln wie ein verdammter gottloser Heide. Ehrliche Amerikaner sind da anderer Meinung – und wir sind die Mehrheit!« »Dann helfe uns der allmächtige Gott, Bruder Peterman, denn dann ist er unsere letzte Hoffnung. Ich habe genug Propaganda für heute abend. Gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich Sie aus dem Weg blase mit einem Furz, denn mehr braucht es dazu nicht.« Er drehte sich weg. Sylvanus Peterman ließ seinen Blick über die Theke schweifen, vorbei an Paul, mehreren Journalisten, zwei Leutnants, die ihren Zorn zu verbergen suchten. Mit dem Gesichtsausdruck eines Märtyrers schritt er auf die Treppe zu. »Noch eine, Freddy!« rief Crane, während er die leere Flasche in der Luft schwenkte. Sie fiel ihm aus der Hand und zerbrach hinter der Theke. »Mr. Crane, vielleicht hatten Sie schon etwas zuviel«, belehrte ihn der Barkeeper. »Zuviel ist nie genug. Ist Joe Pulitzers Geld in diesem Rattenloch vielleicht nichts wert, oder?« »Sie sollten etwas essen –« »Aber ja. Morgen oder übermorgen. Dafür ist noch genug Zeit.« Der Husten zwang ihn wieder, sich zusammenzukrümmen. Er klammerte sich mit beiden Händen an die Theke, bis der Anfall vorüber war. Der Barkeeper öffnete seufzend eine weitere Flasche, stellte sie Crane hin und fing dann an, mit einem Besen die Scherben zusammenzukehren. Mit aufgestützten Ellbogen und trübem Blick rollte Crane den Kopf von einer Seite zur anderen. Irgendwann bemerkte er Paul zu seiner Linken. »Ich kenne Sie. Der Bursche mit der Kamera. Sie haben versucht, mich auf dem Baseballplatz für die Nachwelt zu erhalten.« »Gut, daß Sie das getan haben, Dutch«, warf Freddy ein. »Wenn er so weitermacht, wird er nicht mehr viel länger unter uns weilen.«
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»Sie mich auch«, lallte Crane fröhlich. »Wie heißen Sie, mein Junge?« »Dutch Crown. American National Luxograph Company in Chicago.« »Graph dies, graph das – jeder von denen ist ein Graph. Die verdammten Dinger werden’s nie weit bringen.« Er steckte sich eine neue Zigarette in den Mund, versuchte es zumindest. Beim ersten Versuch zerdrückte er das Ende an den Lippen. »Ein Bier für Sie?« »Ja, danke.« Freddy servierte ein Florida Brewing Extra Pale. Crane hob seine Flasche, um anzustoßen. Paul tat es ihm mit seinem Krug nach. »Lassen Sie uns auf die unerfüllte Liebe trinken. Haben Sie eine unerfüllte Liebe, Dutch?« »Ja«, antwortete Paul leise. »Mmm. Meine ist Miss Cora Stewart. Besitzerin des Hotel de Dream, Jacksonville. Sollte es ein Freudenhaus in Amerika geben, das geschmackvoller und eleganter ist, dann kenn’ ich es nicht. Ein Hoch auf Cora.« »Auf Cora.« Sie tranken. »Ziemlich langweilig hier, oder?« brummte Crane. »Läßt sich nicht viel schreiben. Das Ganze ödet mich an. Ich arbeite zur Zeit an einer neuen Kurzgeschichte.« »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Ich habe zwar Maggie nicht gelesen, aber Die rote Tapferkeitsmedaille. Damit haben Sie sich ein Denkmal gesetzt.« »Danke. Danke vielmals.« Er schien auf einmal müde. »Darf ich Sie noch etwas anderes fragen?« »Tut mir leid, ich weiß weder etwas über Joe Pulitzers Freundin noch über seine Verdauungsgeschichten.« Ein seltsamer Mann, unwiderstehlich, dachte Paul. Aber selbstzerstörerisch. Crane ließ die Zigarette weiterhin aus seinem Mund baumeln und blinzelte durch den blauen Rauch ins Nichts. »Es hat damit nichts zu tun. Vor kurzem habe ich gedacht, ich hätte hier im Hotel einen alten Bekannten gesehen. Ich sah ihn aber nur aus der Ferne, im fünften Stock. Ich wollte ihm winken, aber er hatte es leider sehr eilig. Und jetzt ist er verschwunden. Er heißt Mikhail Rhukov. Er ist wie Sie Journalist.« Crane schüttelte den Kopf. »Vielleicht, wenn Sie ihn beschreiben –« »Groß, schlank. Hat einen Bart. Wenn er lächelt, schimmern seine Zähne weißer als Klaviertasten.« Crane richtete sich auf, blinzelte. »Seine Brillengläser sind klein. Kaum größer als so.« Paul formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Er ist sehr unverblümt.« Crane zog die Zigarette aus dem Mund, warf sie auf den Boden und trat
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sie aus. »Und wie soll er heißen?« »Mikhail Rhukov.« »Dann hat er einen Zwillingsbruder. Sie haben soeben Michael Radcliffe beschrieben. Er ist Journalist. Aber – er ist Engländer.« »Engländer?« »Hören Sie etwa schlecht? Der Mann, den Sie beschrieben haben, ist Michael Radcliffe. Sehr hochwohlgeborener Typ. Wenn er nicht in Blighty geboren und in Oxford oder Cambridge studiert hat, zahle ich Ihnen tausend Dollars. Sobald ich sie habe.« »Ein englischer Journalist – wie ist das bloß möglich?« »Keine Ahnung, Jungchen, aber so ist es nun mal.« »Ich habe ihn einigen Ihrer Kollegen beschrieben. Ein paar haben sich erinnert, aber keiner wußte seinen Namen.« »Er hat nur zwei Nächte hier im Hotel gewohnt. Ist mit dem Dampfer nach Charleston gekommen, dann mit dem Küstenschiff nach Fernandina und schließlich mit dem Zug hierher. Wir haben genau hier an dieser Theke Champagner getrunken, bevor wir uns an einen Tisch gesetzt haben. Haben uns verdammt gut verstanden. Haben uns stundenlang unterhalten. Ich habe ihm jedes Wort, das er über sich selbst gesagt hat, geglaubt, aber gleichzeitig gingen in meinem Kopf sämtliche Alarmlichter an! Er war alles, was er vorgab zu sein, aber er war noch mehr. Schon mal von Otto Hartstein alias Lord Yorke gehört?« »Nein.« »Einer der großen Zeitungszaren in England. Michael Radcliffe ist Korrespondent für Hartsteins London Light. Das renommierteste Blatt. Er ist verheiratet mit Lord Yorkes einzigem Kind, Cecily Hartstein. Das nennt man Absicherung.« Radcliffe? England? Verheiratet? Kein russischer Akzent? Paul war ganz schwindlig. »Wissen Sie, warum er aus dem Hotel ausgezogen ist, Mr. Crane?« »Tja –« Crane hustete und zündete sich gleich darauf eine weitere Zigarette an. Er musterte Paul jetzt aufmerksam, mit klareren Augen, konzentrierterem Blick. »Eine Angelegenheit des Herzens. Oder wenigstens des Schlafzimmers. Es hat mit einer Dame zu tun, die eine Zeitlang regelmäßig im Speisesaal zu sehen war. An der linken Hand der Dame funkelten zwei große, teure Ringe, ein Verlobungs- und ein Ehering.« »Mr. Crane, ich muß den Mann finden. Ich muß herausfinden, ob er Mikhail Rhukov ist.« »Sie behaupten also, Sie seien sein Freund.« »Rhukovs Freund, ganz genau.«
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»Ich mache Kleinholz aus Ihnen, wenn sich das als Lüge herausstellen sollte.« Crane zog an seiner Zigarette. »Er hat mich in meinem Zimmer angerufen, kurz bevor er um zehn nach drei in der Nacht das Hotel verlassen hat. Am darauffolgenden Nachmittag rief er wieder an, und ich habe ihm seine Koffer nachgeschickt. Ich schaue auch für ihn auf die Nachrichtentafel. Telegramme, Anweisungen, kleine Liebesbezeugungen von seiner Frau. Verbindlichkeiten unter Kollegen. Ich bin sicher, daß er das gleiche für mich tun würde –« »Bitte. Wo ist er?« Ihre Blicke trafen sich. Cranes harte Augen machten Paul verlegen. »Irgendeine Klitsche in Ybor City. Ich schreib’ Ihnen die Adresse auf. Freddy? Ein Blatt Papier. Und noch ein Bier. Und etwas dalli, wenn ich bitten darf.«
89 DER GENERAL Eine Stunde nachdem Joe dem Schlafwagen der PlantEisenbahngesellschaft entstiegen war, traf er seinen unmittelbaren Vorgesetzten zu einer Unterredung im Hotel. Eine Nachricht am Empfang unterrichtete ihn von dem Treffen. Es sollte nicht im ungefähr zwei Kilometer entfernten Hauptquartier der Kavalleriedivision stattfinden, sondern in einem Salon des Hotels. Er warf seine Sachen in seine kleine Suite im dritten Stock, benetzte sein Gesicht mit Wasser und nahm dann die Haupttreppe nach unten. Er war in voller Uniform: schwerer blauer Waffenrock mit Brigadestern auf der Schulter, Zierdegen. Der Reichtum, der in diesem Hotel zur Schau gestellt wurde, erstaunte ihn maßlos. Mitten in dem geschäftigen Treiben der Rundhalle fragte er in der Nähe der Bronzestatue von Rotkäppchen und dem Wolf einen Diener nach dem Weg zum Salon. Er befand sich in der langen Halle, die zum Osteingang führte. Im Telegraphenamt schrieb er schnell eine Nachricht an Ilsa, um sie wissen zu lassen, daß er gut angekommen war. Dann eilte er den Korridor entlang. Vor dem Salon strich er sich nervös mit einer Hand übers Haar, dann über den Bart. Auf sein Klopfen forderte eine leise Stimme ihn auf, einzutreten. Selbst diesen kleinen Raum hatte Mr. Plant verschwenderisch ausgestattet. Ein wunderschön gemeißelter Kaminsims, eine lackierte japanische Vitrine mit Einlegearbeiten aus Perlen und Schmetterlingen, ein Lesepult mit einem riesigen Atlas. An einem großen Tisch mit grünem
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Tischtuch saß Generalmajor Joseph Wheeler. Joe war verdutzt, als General Wheeler aufsprang, um ihn zu begrüßen. Ein vorgesetzter Offizier blieb in der Regel sitzen. Joe nahm an, daß Wheeler die sprichwörtliche Höflichkeit des Südens demonstrieren wollte. Er galt als feiner Herr; frei von Gehabe. »General Crown. Ich bin froh, daß Sie hier sind. Ich habe Ihre Anweisungen schon vor Tagen gesehen. Ich wollte Sie unbedingt kennenlernen.« »Ich freue mich ebenfalls, Sie kennenzulernen, General Wheeler.« Sie schüttelten sich die Hand. Wheeler war ein kleiner und lebhafter Mann, nicht so groß wie Joe. Er wog höchstens fünfzig Kilo und war Anfang Sechzig. Seine Schnurrbartenden waren sorgfältig gezwirbelt, sein weißer Bart hätte auch Rip van Winkle alle Ehre gemacht. Der blaue Rock mit den zwei Sternen schien zu groß für ihn, er saß wie ein Sack. Joe bemerkte, daß die Taschen voller Papiere waren. Ein schwarzer Schlapphut, keine dienstliche Kopfbedeckung, lag auf dem grünen Tischtuch. »Bitte setzen Sie sich«, forderte Wheeler ihn auf, »ich kann Ihnen leider nichts Stärkeres als Wasser anbieten, aber es kommt wenigstens aus der Flasche.« »Danke, Sir, aber ich bin nicht durstig.« Sie saßen sich an einer Ecke des Tisches gegenüber. Ein Fenster zur vorderen Veranda stand offen. Leise Musik wehte herein; ein Orchester spielte La Paloma. Paare spazierten unter den farbigen Lichtern auf und ab. Sowohl die Stimmen der Männer wie die der Frauen waren leise, und hin und wieder erklang heiseres Lachen. Lachen, das Geheimnisse vermuten ließ, Vertraulichkeiten hinter verschlossenen Türen. Joe hatte Verständnis dafür. Auch er spürte, wie sich in dieser süßen, heißen Mainacht etwas regte. Eine gewisse Spannung lag in der Luft, die Würze des drohenden Krieges … Er bat darum, eine seiner langen Havannazigarren anzünden zu dürfen. Wheeler sagte freundlich: »Aber natürlich.« Was für eine trügerische Fassade, dachte Joe, als er das Streichholz an der Schachtel rieb. »Fighting Joe« erinnerte ihn an einen Großgrundbesitzer, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, oder auch an einen Schulmeister, der durch eine Erbschaft sein gesichertes Auskommen hatte. Man sah ihm gewiß nicht an, daß er seit fast zwanzig Jahren ein energischer Kämpfer im Kongreß war. Jedes zweite Jahr wurde er in seinem Wahlbezirk in Alabama buchstäblich ohne Gegenstimmen wiedergewählt. »Ich bin froh, daß Sie jetzt bei der Kavalleriedivison sind«, erklärte
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Wheeler. »Wie Sie wissen, untersteht Ihnen die 2. Brigade, die sich aus der 1. und der 10. Kompanie des Stehenden Heeres sowie Oberst Leonard Woods komischem freiwilligem Haufen zusammensetzt. Glauben Sie, daß Sie mit den Berufssoldaten fertig werden?« »Während der letzten Feindseligkeiten bin ich ja auch mit ihnen fertiggeworden, General. Auf jeden Fall waren sie am Schluß Berufssoldaten.« »Ja, ja, war’s nicht auf beiden Seiten dasselbe?« meinte Wheeler mit einem melancholischen Lächeln der Erinnerung. »Meine Frage war eher rhetorisch zu verstehen. Sie würden hier nicht in dieser Uniform sitzen – oder Sie unterstünden wenigstens nicht meinem Kommando –, wenn ich nicht der Meinung wäre, daß Sie dieser Aufgabe gewachsen sind. Die Liste Ihrer Verdienste ist beeindruckend.« »Ich danke, Sir. Aber ich kann das Kompliment weitergeben. Die Ihren sind legendär.« Wheeler schmunzelte und winkte beschwichtigend ab. Aber seine Wangen hatten mehr Farbe bekommen. »5. Ohio-Kavallerie«, sagte er. »Ich habe die 19. Alabama-Infanterie befehligt.« Joe nickte. »Ich weiß, Sir. Wir sind uns einmal in Shiloh begegnet, aber wir wurden einander nicht vorgestellt.« »Stimmt, wurden wir nicht, stimmt genau.« Diesmal lachte Wheeler lauter. »Unsere Seite hätte vielleicht den Sieg erringen können, wenn wir unsere Überlegenheit vom Vortag hätten halten können. Meine armen Burschen haben im Lauf des Tages an vier verschiedenen Fronten gekämpft. Sie hatten Mut, aber sie waren nicht aus Eisen. Die schlimmste Schlacht war die am Hornet’s Nest. Vorstoß gegen Prentiss’ Infanterie, Hickenloopers Artillerie … die Überlebenden waren total am Ende. Sie hatten zwar den Willen, weiterzukämpfen, aber nicht die Kraft. Und am nächsten Tag rückten Sie, die Yankees, mit der Verstärkung an. Crittenden, Nelson, Lew Wallace … nach diesem Tag war unser Rückzug nur mehr eine Flucht. Wir sind fast bis nach Corinth, Mississippi, zurückgerannt.« Joe wähnte sich plötzlich und auf unheimliche Weise an einen anderen Ort versetzt. Er hörte Trommelschläge, alte Signalhörner. Sah durchlöcherte Standarten fallen, die von anderer Hand wieder hochgerissen wurden … »Auch ich habe in Mississippi Abenteuer erlebt«, sagte er. »Gute und schlechte.« »Ah, aber war es nicht eine grandiose Zeit, General Crown? Eine grandiose Zeit, und eine unvergleichliche Erfahrung.« »Der Krieg ist besser in der Erinnerung als in Wirklichkeit, das ist meine Meinung. Aber Sie haben recht, der Krieg läßt sich mit nichts vergleichen.«
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Das ferne Orchester spielte Marching Through Georgia. Wheeler trat zum Fenster und schloß es leise. »Ich habe das Ende gehaßt. Jeff Davis in Ketten und entehrt. Ich wurde in das verdammte Fort Delaware geworfen, mitten im Fluß, in eine Zelle zwei Meter unter Wasser. Immer naß. Gegessen haben wir Küchenabfälle. Die Waschtische durften jeweils nur zwanzig Männer benutzen, und dann auch nur bei Nacht. Manchmal standen fünfhundert in der Schlange. Unmenschlich.« »So schlimm wie Libby und Andersonville, nehme ich an«, sagte Joe. Wheeler warf ihm einen eisigen Blick zu. »Und unsere Gefangenenlager im Norden.« »Ich hatte Glück, ich wurde bereits nach zwei Monaten frühzeitig entlassen. Juli ‘fünfundsechzig. Ich hatte beschlossen, so lange wie nötig zu überleben. Die innere Einstellung hilft in solchen Fällen, mir jedenfalls. Ich habe das Gefühl, daß ich es geschafft habe, weil ich gottverdammt sein wollte, verzeihen Sie den Ausdruck, wenn ich mich von der miserablen Yankeeverpflegung, dem Yankeeungeziefer und der Yankeeunhöflichkeit unterkriegen lassen würde.« »Ich wurde nie gefangengenommen, aber ich habe mir die gleiche Einstellung zu eigen gemacht. Sie half mir damals, und sie hilft mir heute als Zivilist.« Joe hielt inne. »Darf ich mir eine Frage erlauben? Ich vermute, Sie sind sie schon leid, aber ich würde gern wissen, wie man sich in der alten blauen Unionsuniform fühlt. Unwohl?« »Nein, Joe … Ich darf Sie doch Joe nennen?« »Aber bitte.« Seine Augen funkelten schelmisch wie die eines kleinen Jungen. »Wissen Sie, es kommt mir fast so vor, als wäre ich nie weggewesen. Als wäre ich drei Wochen lang beurlaubt gewesen und sei jetzt wieder zu meinen eigenen Farben zurückgekommen, erholt und bereit. Ich bin stolz darauf, hier dienen zu dürfen. Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde und der Schmerz über die Niederlage allmählich nachließ, begriff ich, daß das Land von beiden Seiten wiederaufgebaut werden mußte. Dafür habe ich mich im Kongreß eingesetzt. Der Süden mußte aufhören, seine alten durchlöcherten Fahnen zu schwenken und seine hochmütigen Parolen zu verkünden, und sich statt dessen an den Wiederaufbau seiner Eisenbahnen und Fabriken machen. Viele waren gegen mich, manche haben mich verflucht, einer oder zwei haben sogar auf mich geschossen, aber ich habe recht behalten. Auch mein Sohn dient im 5. Armeekorps, Hauptmann Joe Wheeler junior. Ich bin stolz, daß er bei mir ist, bei uns, unter der alten Fahne. Ebenso stolz wie darauf, daß Sie hier sind. Blau und grau zusammen – vielleicht können wir den Karren, den Alger und seine Schreiberlinge in
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den Dreck gefahren haben, doch noch herausziehen. Nun, Sir. Ich nehme Ihre Zeit schon viel zu lang in Anspruch. Wenn es sonst nichts mehr gibt –« »Noch eins, Sir. Ich würde gern so bald wie möglich eine genaue Aufstellung über die Anzahl der Männer, Wagen, Pferde, Maultiere haben. Desgleichen über Waffen, Munition, Verpflegung. Genaue Zahlen.« »Die sollen Sie haben, morgen nachmittag. Ich schätze einen Mann, der Wert auf Genauigkeit legt.« »So halte ich es in allen Dingen, General. Ich wüßte nicht, wie man sonst erfolgreich sein sollte, ganz gleich, welches Unterfangen man in Angriff nimmt.« Wheeler schätzte auch das. Joe erhob sich und salutierte vorschriftsmäßig. Wheeler erwiderte den Gruß etwas lässiger. Joe hielt seinem Vorgesetzten die Tür auf. Wheeler verließ den Salon mit leichten Schritten und drückte sich seinen Hut auf den Kopf, während er um eine Ecke bog. Joe fand den Ratskeller und bestellte ein einheimisches Bier. Seine Anwesenheit schien die Stimmung in dem langen, dunkelgetäfelten Raum zu verändern. Das Lachen verklang. Die Stimmen wurden gedämpfter. Während er seinen Krug ansetzte, bemerkte er die Ränge der anwesenden Offiziere. Kein höherer als Hauptmann. Deshalb also. Die hohen Tiere glänzten durch Abwesenheit. Das war ihm recht; das Bier war ein blasses, dünnes Gebräu. Er ließ drei Viertel davon stehen und spülte den Geschmack mit einem Glas Eistee hinunter, der überall auf den Tischen in Krügen bereitstand, die stets nachgefüllt wurden. Er trank gern Eistee. Auf seinen Reisen nach South Carolina trank er ihn literweise. Er schlenderte nach draußen, um sich den Schluß des Konzerts anzuhören, das in der Nähe des Westendes der vorderen Veranda gegeben wurde. Von einem Leutnant erfuhr er, daß die Kapelle der 33. Freiwilligen Kompanie Michigans spielte. Joes Blick fiel auf eine Zuhörerin, eine attraktive Kubanerin, die viel zu jung war für die Aufmerksamkeit eines Mannes in seinem Alter. Er hielt sie für einen wohlhabenden Flüchtling; keine andere kubanische Klasse konnte sich das Plant Hotel leisten. Die junge Frau war rundlich, in den Augen mancher vielleicht sogar drall. Sie trug ein enges weißes Kleid mit einer roten Rüschenborte und einen weißen Schal mit langen Fransen. Ihr Busen war groß und rund, was ihn an die jugendliche Ilsa erinnerte. Ein hoher Perlmuttkamm steckte in ihrem glänzenden schwarzen Haar, das am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefaßt war.
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Die junge Frau mußte gespürt haben, daß sie beobachtet wurde, denn sie drehte sich ganz plötzlich zu ihm um. Errötend lächelte Joe. Sie lächelte ebenfalls und wandte dann den Blick wieder ab. Als das Konzert zu Ende war, trat sie am Arm eines schlanken Mannes, der die Uniform der kubanischen Flüchtlingseinheit trug, von der westlichen Veranda aus in das Hotel. Joe freute sich, daß die junge Frau sein Interesse ohne Zorn oder sichtbaren Unwillen über sein Alter entgegengenommen hatte. Er ging nach oben in sein Zimmer; er fühlte sich wohl und rechnete damit, gut zu schlafen. Er mochte Fighting Joe Wheeler; sie würden gut miteinander auskommen. Vielleicht hatte der Präsident recht gehabt mit seiner Bemerkung in Washington, vielleicht war der Bürgerkrieg endlich vorbei. Anstelle eines Wecksignals im Hotel klopfte einer der Bediensteten um fünf Uhr an die Tür. Während der ersten Tage meinte Joe, das frühe Aufstehen würde ihn umbringen, vor allem angesichts der vielen Arbeit, zu der er sich sofort entschlossen hatte; er mußte die Offiziere, die seinem Kommando unterstanden, kennenlernen, Besprechungen mit Shafter, Wheeler und den anderen Generälen beiwohnen, sich mit den Formalitäten und Gepflogenheiten des Divisionshauptquartiers vertraut machen, die Bestandsaufnahmeliste, die er verlangt hatte, studieren. Aber bald fühlte er sich kräftiger und lebendiger als seit langem. Das Hotel, das auch »Plants Narretei« genannt wurde, versetzte ihn immer wieder in Erstaunen. Warum hatte H.B. Plant, bekannt als kluger Geschäftsmann, eine derart verschwenderische Herberge an einem derart unpassenden Ort erbaut? Joe nahm an, daß er vorausgesehen hatte, daß immer mehr Menschen aus dem kalten Norden den Winter in Florida verbringen würden, trotz der Eintönigkeit der Stadt Tampa. Offensichtlich hatte Plant recht gehabt. Auf jeden Fall entwickelte Joe eine Vorliebe für diese seltsame maurische Hütte. Sie verlieh dem Krieg, der in jeder anderen Hinsicht gewiß unerfreulich werden würde, wie dies Kriege eben so an sich hatten, eine seltsam festliche Note. Sie bot dem 5. Armeekorps eine geräumige und zweckdienliche Unterkunft. Und bei Nacht ging es hier fröhlicher zu als in jedem anderen Feldlager und Hauptquartier, das ihm in den Sinn kam. Im heißen Salon und im Schlafzimmer seiner Suite fühlte er sich ziemlich unwohl, aber er genoß das geschäftige Treiben in der Rundhalle sowie die Entspannung bei einer Zigarre auf den Veranden. Er mochte die Orchestermusik und die Anwesenheit solcher Berühmtheiten wie Richard Harding Davis, weltberühmt ob seiner Berichterstattung und seiner
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Geschichten von Gallegher und Van Bibber. Der Zeichner von Harper’s, Frederic Remington, hielt täglich hof im Hotel, und jeden Tag kursierten neue Gerüchte über das Eintreffen des großen Hearst auf einer Jacht, die sich allerdings nie bewahrheiteten. Am interessantesten war jedoch das junge Genie Crane, dessen Roman über den Sezessionskrieg er so bewunderte. Er wollte Crane unter allen Umständen kennenlernen und ihm gratulieren. Eines Abends hatte er das Glück, dem Schriftsteller auf dem Korridor von der Rundhalle zu begegnen. Joe trat näher, grüßte und roch unverzüglich den Whiskey. Blaß und unordentlich, auf unsicheren Beinen schwankend, blickte Crane über Joes Schulter, während Joe ihn in den Himmel lobte. Am Ende murmelte Crane ein paar unverständliche Worte und stakste weiter. Joe war gekränkt und enttäuscht. Große Talente, so schien es, waren nicht immer umgängliche Menschen. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit klemmte sich Joe ein Bündel unter den Arm und verließ das Hotel zwischen zwei Besprechungen. Draußen war es schwül und heiß wie in einem Backofen, die Temperatur bei dreißig Grad. Er hatte das Gefühl, in seiner Uniform zu brutzeln wie ein Hummer auf dem Grill. Ein Empfangsangestellter hatte ihm den Weg aufgeschrieben. Den ersten Teil legte er mit der Trolleybahn zurück, dann stapfte er durch die sandigen Straßen in West Tampa, bis er zu einem großen weißen Zelt kam. Auf dem Holzschild davor stand zu lesen: GEBRAUCHTWAREN FÜR FLÜCHTLINGE Jedermann willkommen Das Zelt war leer; niemand stöberte in den schnell zusammengezimmerten Regalen mit gebrauchter Kleidung, Schuhen und Gebrauchsgegenständen. Eine stämmige Frau mit schöner olivfarbener Haut und einer Hasenscharte begrüßte ihn in gebrochenem Englisch. Er legte die braune Papiertüte auf den Tisch. »Das möchte ich verschenken. Sieben Paar Herrenunterwäsche für den Sommer. Balbriggan, gute Qualität. Nie getragen.« Joe fand einige seiner Offizierskollegen sympathisch, andere beschränkt oder von Vorschriften besessen, einige wenige schlichtweg widerlich. Es war im Grunde nicht viel anders als vor fünfunddreißig Jahren. Sein ihm zugeteilter Adjutant, Leutnant Tyree Bates, war ruhig und intelligent.
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Diente bereits seit neun Jahren. Joe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn er daran dachte, daß Bates’ Hauptaufgabe wahrscheinlich darin bestand, nach Möglichkeit die Unzulänglichkeiten und die Unwissenheit eines Generals auszugleichen, der aus politischen Erwägungen ernannt worden war. Nichts in Bates’ Verhalten deutete jedoch darauf hin. Er bewies stets korrekte militärische Höflichkeit. Wenn Joe eine Frage stellte, dann wußte Bates entweder die Antwort selbst oder beschaffte sie innerhalb weniger Minuten, ohne auch nur mit einem Augenblinzeln anzudeuten, daß Joe dies hätte wissen müssen. Das interessanteste Studienobjekt aber war vielleicht der Kommandierende General William Rufus Shafter. Obwohl er ungefähr gleich alt war wie Wheeler, besaß er nichts von dessen Lebendigkeit. Er wankte und keuchte beim Gehen. Sein Haar glich einem grauen Staubbesen, das jedem Kamm widerstand. Sein Schnurrbart verlangte stets danach, gestutzt zu werden. Er war schwerfällig, langsam und vollkommen uninteressiert an den Feinheiten menschlicher Umgangsformen. Vielleicht hatte er zu viele Jahre in den Kasernen im einsamen Wüstengebiet des Südwestens zugebracht. Der Umfang des Generals führte zu praktischen Problemen. So brauchte er beispielsweise während der Stabsbesprechungen einen besonderen Stuhl. Joe bezweifelte, daß Shafter den Anstrengungen des Kampfes in den Tropen gewachsen war. Zu seinen Gunsten ließ sich sagen, daß Shafter ein willensstarker, um nicht zu sagen starrsinniger Vorgesetzer war. Nur wenige Untergebene ließen sich auf eine Diskussion mit ihm ein oder zeigten auch nur den leisesten Widerspruch. Sein fliehendes Kinn legte die Vermutung nahe, daß er schwach und schlapp war, aber das Feuer in seinen blauen Augen war alles andere als schwach. Es konnte einen Mann innerhalb von wenigen Sekunden zu einem Nichts zusammenschmelzen. Wenn Shafter schlecht gelaunt war, was häufig vorkam, nahm er Zuflucht zu einer sehr groben Sprache. Joe bemerkte dies, als er und Leutnant Bates Shafter und die anderen Generäle, deren Adjutanten und einige Attachés während einer Inspektion der beklagenswerten Einrichtungen im Hafen von Tampa begleiteten. Sie fuhren vierzehn Kilometer in einem schmutzigen Eisenbahnwagen, der von einer Plant-Lokomotive gezogen wurde, und gingen zu Fuß weiter, als die Gleise endeten. Plant hatte ursprünglich nur einen schmalen Kanal ausheben lassen, ausreichend für kleine Küstenfahrzeuge. In der Bucht zählte Joe
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zweiundzwanzig zum Teil sehr große Handelsschiffe, die auf dem öligen grauen Gewässer schaukelten, auf dem sich außerdem ganze Schwärme von Möwen auf der Suche nach Abfall niedergelassen hatten. Die Regierung besaß keine eigenen Transportmittel; sämtliche Schiffe mußten von privaten Schiffahrtsgesellschaften angemietet werden. Die Besitzer hatten die Schiffe ausgeräumt, Kajüten sowie Pferdeboxen auf den unteren Decks installiert und die oberen Decks von den meisten Annehmlichkeiten für Passagiere befreit. Auf den beiden Piers legten Arbeiterkolonnen unter lautem Gebrüll zusätzliche Gleise neben die ursprünglichen vier, aber auch das konnte nicht viel nützen. Die Piers verfügten weder über Kräne noch Hebemaschinen zum Be- und Entladen der Schiffe. Die einstigen Ingenieure waren davon ausgegangen, daß jeder Pier nicht mehr als zwei große Ladungen auf einmal würde bewältigen müssen und der ausgehobene Kanal nicht mehr als sechs oder höchstens sieben. Alle fürchteten die Verwirrung bei der Einschiffung. Entlang der Piers waren eine Reihe von Zelten und Bretterbuden errichtet worden; Orte, an denen die scheidenden Soldaten bereitwillig um ein paar Dollars erleichtert wurden. Dieser trostlose Anblick in Verbindung mit der Bucht, die mit Marineschiffen und Torpedobooten, einheimischen Fischerbooten und privaten Jachten verstopft war, führte zu einem Wutanfall Shafters. Er wurde kurzatmig und mußte sich auf eine Kiste setzen und sich Luft zufächern. »Dieser gottverdammte Henry Plant, was hat dieser vermaledeite Hundesohn sich bloß dabei gedacht, seine Gleise nur bis zur Mitte des Landungsstegs zu bauen, anstatt bis zum Wasser? Die gottverdammten Schauermänner müssen das ganze Zeug mindestens zusätzliche zwanzig Meter weit schleppen, bevor sie die Schiffe beladen können. Zusätzliche Arbeit, vergeudete Zeit – meine Herren, manchmal glaube ich, wir sollten das verfluchte Kriegsministerium in die Luft sprengen, damit es endlich in der Wirklichkeit landet.« »Herr General, bitte regen Sie sich nicht auf«, flüsterte einer der Adjutanten. »Lassen Sie mich, mir geht’s bestens, helfen Sie mir nur hoch. Lassen Sie uns zurückfahren, meine Herren, ich kann den Anblick dieses verdammten Ortes keine Minute länger ertragen.« Der deutsche Militärattaché, der neben Joe stand, verdrehte die Augen. Seit sie vor ein paar Tagen miteinander bekannt gemacht worden waren, hatte Hauptmann von Rike keine Gelegenheit verstreichen lassen, Joes Nähe zu suchen, um mit dem Landsmann deutsch zu sprechen oder sein
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ausgezeichnetes Englisch vorzuführen. Der Attaché war Preuße, mittelgroß, vielleicht 25 Jahre jünger als Joe. Er war schlank, hatte weit auseinanderstehende graue Augen und helle Sommersprossen auf beiden Wangen. Eine hakenförmige Narbe entstellte die linke Seite seines Gesichts. Er hatte sich, wie er Joe stolz erzählt hatte, als Student duelliert. Joe wußte nicht recht, ob er ihn mochte. Am folgenden Abend kam der Attaché auf die Veranda, wo Joe eine Zigarre rauchte und der Musik zuhörte. An diesem Abend spielte die Kapelle des II. Infanterieregiments. Der gefühlvolle Dirigent schwenkte seinen Taktstock wie einen Säbel. Er war offensichtlich wohlbekannt in der Armee – er hieß LaGuardia –, und sein Orchester klang um Klassen besser als das aus dem Freiwilligenlager. Joe beabsichtigte, das Ende des Konzerts abzuwarten, um danach einen Spaziergang oder eine Rikschafahrt zu machen in der Hoffnung, einen weiteren Blick auf die junge Kubanerin zu erhaschen. Es ärgerte ihn, als sich von Rike in makellos weißer Leinenhose und schwarzen Reiterstiefeln im nächsten Schaukelstuhl niederließ. Hauptmann von Rike polierte ein Monokel an seinem Ärmel. »Ich habe heute mehrere Regimenter inspiziert. Ich habe noch nie eine solche Nachlässigkeit und Schlamperei gesehen.« Er klemmte sich das Monokel ins rechte Auge. »Wo bleibt die Zucht, mein lieber Herr General? Wo die Disziplin?« Er zündete sich wieder eine Zigarette aus seinem flachen goldenen Etui an; er war Kettenraucher. Joe dachte einen Moment über die Herausforderung des Attachés nach und antwortete mit Bedacht. »Die Amerikaner sparen sich ihre Disziplin für das Schlachtfeld auf.« »Ach ja? Sie werden sie ganz plötzlich und auf magische Weise entdecken, sobald die Schlacht beginnt? Verzeihen Sie, Herr General, aber ich habe da meine Zweifel. Siege basieren auf Disziplin, die durch monatelange, um nicht zu sagen jahrelange Übung eingeschliffen wird.« Von Rike rauchte und hielt dabei die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, die Handfläche nach oben gekehrt. Rosafarbene und weiße Lichter entlang der Dachtraufe spiegelten sich in seinem gewölbten Brillenglas. »Und dieses Hotel? Ein Hauptquartier mit einer fürstlichen Speisekarte? Pfauen und Tennis auf Grasplätzen? Abendliche Tanzveranstaltungen? Ich finde das alles vollkommen unangemessen.« Er zog wieder an seiner Zigarette, äußerst zufrieden mit sich selbst. Joe entschied, daß er den Attaché nicht mochte. »Aber Hauptmann von Rike, wollen Sie damit sagen, daß Sie vor und während der Schlacht leiden wollen? Dafür kann ich sorgen.«
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»Oh?« Von Rike war verwirrt; feiner Spott war nicht seine Sache. »Ja, gewiß. Ich könnte Ihnen mehrere Dosen aus unserer neuesten Verpflegungsladung anbieten. Was unser Kriegsministerium als Dosenfrischfleisch anpreist. Ungesalzen. Schrecklich. Irgendein schlauer Unternehmer hat es Washington untergeschoben.« Rike entging auch dieser Sarkasmus. Er runzelte die Stirn. »Untergeschoben?« »Ja, hat Washington dazu überredet. Vielleicht durch Täuschung oder Bestechung.« »Soso, Bestechung.« »Nehmen Sie das nicht so ernst, Hauptmann. Das Zeug ist einfach ungenießbar.« »Aber gut, um den Charakter zu schulen, oder nicht? Wir Deutschen – die echten Deutschen –« Joe registrierte den Seitenhieb und kämpfte gegen den aufkeimenden Zorn an. »Wir würden schlucken und im stillen leiden.« »Dann wird aus Ihnen nie ein Amerikaner werden, fürchte ich.« »Ganz gewiß nicht. Das ist auch nicht meine Absicht.« Trotz der lächelnden Gesichter hatte das Gespräch eine unangenehme Wendung genommen und der Ton sich verschärft. Joe stand auf. »Es ist spät. Bitte entschuldigen Sie mich.« »Natürlich, Herr General. Wir unterhalten uns ein andermal.« Hoffentlich nicht zu bald. Während er mit schnellen Schritten auf die nächste Eingangstür des Hotels zuging, spürte er, wie sich von Rikes Augen in seinen Rücken bohrten. Preußen, dachte er. Immer noch die alten, die ändern sich nie. Am Tisch mit dem Eisteekrug schenkte er sich ein großes Glas ein. Mit dem Glas in der Hand ging er durch eine andere Tür wieder hinaus und blieb dann im Schutz der Dunkelheit stehen, um eine Zigarre und seinen Tee zu genießen. Das Gespräch mit von Rike hatte ihm den Abend verdorben. Auch die Regimentskapelle heiterte ihn mit ihrem letzten Stück namens Vesti la giubba nicht auf. Joe konnte italienische Opern nicht ausstehen, denn seiner Meinung nach waren sie eine Beleidigung der genialen Kunst Richard Wagners. Joe trank seinen Tee aus, dann klemmte er sich seine Zigarre zwischen die Lippen. Sein Blick fiel auf General Shafter und dessen Frau im Gespräch mit einem anderen Paar. Es dauerte nicht lange, bis der General weiterging, im Trampelschritt eines Elefanten. Und dann sah Joe sie. Sie trug dasselbe enganliegende weiße Kleid; vielleicht hatte sie Kuba nur mit dem Allernotwendigsten verlassen. Das Kleid war betörend, schmiegte sich an ihre Brüste, die rund und voll im
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Ausschnitt zu sehen waren. Sie ging wieder am Arm des Mannes von der Flüchtlingseinheit. Enttäuschend. Ein Zivilist, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, stand nicht weit zu seiner Linken und kritzelte Notizen auf einen Block. Er war vor kurzem von der Marinestation in Key West heraufgekommen. Als Journalist hatte er jedoch auch Verbindungen zu Miss Barton vom Roten Kreuz, die Joe vom Hotel her kannte. Ihr gemietetes Krankenhausschiff, die SS State of Texas, lag in Old Tampa Bay vor Anker. »Verzeihen Sie, Kennan, kennen Sie die junge Dame dort drüben auf der Veranda? Die in Weiß.« »Ich kenne sie flüchtig«, antwortete Kennan. »Eine Exilantin. – Sie heißt Estella Rivera. Attraktiv, was meinen Sie?« »Sehr sogar.« Joe zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. »Ist das ihr Mann?« »Ihr Bruder. Er gehört der Rebelleneinheit an. Ich habe gehört, daß ihr Vater immer noch in Havanna ist. Ein alter Herr, der meint, die Spanier seien vollkommen im Recht mit –« Den Rest hörte Joe nicht mehr. In seinem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander. Nervös paffte er an seiner Zigarre. Du bist zu alt, außerdem bist du verheiratet, flüsterte die warnende Stimme, die er allmählich verabscheute. Er schenkte ihr keine Beachtung. Er verabschiedete sich von Kennan, trat auf die Veranda und steckte seine Zigarre in eine Sandurne. Dann strich er die zugeknöpfte Vorderseite seines doppelreihigen dunkelblauen Rocks glatt. Er würde sich der jungen Dame vorstellen. Er würde sie zum Tanz in den orientalischen Flügel einladen. Er spürte diese Macht in sich, die ihn antrieb, die darauf bestand. Er war keineswegs zu alt… Am Arm des schlanken uniformierten Mannes ging die junge Dame auf den Eingang mit den maurischen Bögen zu. Joe stieß einen Fluch aus, so laut, daß ihm der vorbeigehende österreichische Attaché einen stirnrunzelnden Blick zuwarf. Estella Rivera blieb stehen, wandte den Kopf leicht zur Seite, dann über ihre Schulter. Sie suchte Joes Blick. Und lächelte. Und war verschwunden. Sie hatte gewußt, daß er da war! Sie hatte ihn ebenfalls gesucht. Glückseligkeit erfaßte Joe Crown. Er fühlte sich wie verwandelt; fühlte sich wieder wie Zwanzig. Er war sicher, daß er die halbe Nacht tanzen könnte, ohne müde zu werden. Und das würde er, mit Señorita Rivera in seinen Armen. Jetzt war es unvermeidlich, zum Teufel mit den Konsequenzen! Er hoffte nur, daß auch solche darunter sein würden, die er sich so sehnlichst wünschte.
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90 DUTCH Für die Fahrt nach Ybor City zog er seine besten Kleider an, die er mit neu erstandenen Accessoires noch verschönerte. Er hielt es für nötig. Der Mann, den er im Hotel gesehen hatte, war nicht der schmutzige, abgerissene Rhukov alter Tage. Paul war sparsam in Tampa – eine Notwendigkeit angesichts Shadows widerwillig gewährten Tagesspesen in Höhe von zwanzig Cents. Aber er war auch Journalist, und als Einheit ließen die Journalisten viel Geld in den Ladenkassen in Tampa klingeln. Die meisten verfügten über ein angemessenes Spesenkonto, weshalb sie, ohne viel nachzudenken, aßen und tranken und schmucke Kleider kauften. Paul folgte ihrem Beispiel. Mit seinem sorgsam gesparten Spesengeld kaufte er ein neues Hemd aus blauem Baumwollstoff bei Davis Brothers, dem besten Herrenausstatter der Stadt, für einen Dollar. Dazu beige elastische Hosenträger mit silbernen Schnallen für fünfzehn Cents; die Hosenträger paßten zu seiner Leinenhose in der modischen Farbe namens »welkes Gras«. Als letztes Stück erstand er eine waschbare Krawatte aus Madras in den Farben Blau, Pink und Braun für sieben Cents. Mit alldem und seinem Strohhut fühlte er sich, als er sich auf den Weg machte, vorzeigbar, vielleicht sogar ein klein wenig verwegen. Er fand das Gebäude auf Anhieb. Blechziffern hefteten auf der Verkleidung am unteren Ende der Treppe auf der fensterlosen Seite des Eckhauses in der Vierzehnten Avenue. Im Erdgeschoß befand sich der Lebensmittelladen Mantiqueria Estefan. Ein Mann in einer Schürze fegte sorgfältig die Holzplanken, die ohnehin schon sauber aussahen. Sein krauses schwarzes Haar und sein breiter Mund bildeten einen seltsamen Kontrast zu seiner sandfarbenen Haut. Paul hatte festgestellt, daß es in Tampa viele Afrokubaner gab. Der Mann lächelte und grüßte auf spanisch. Paul sprach englisch. Jemand rief lauthals etwas, der Mann ließ seinen Besen fallen und stürzte hinein. »Al instante, Señor Estefan!« Paul ging um die Ecke zur Treppe, die jetzt im Schatten lag. Ein heißer Wind wehte ihm entgegen, der, als er seinen Strohhut abnahm, für den gewohnten Struwwelkopf sorgte. Der oberste Knopf seines Hemds war offen, und seine Madraskrawatte hing schief. Er stieg die Treppe hinauf zu der ungestrichenen Tür, die Wind und Wetter abwaschwassergrau gefärbt hatten. Er klopfte an. Drinnen brummte eine Männerstimme. Paul war verdutzt, im gleichen Augenblick auch eine Frauenstimme zu hören. Der Mann rief durch die geschlossene Tür. »Crane? Sind Sie das? Hätten sich wahrlich eine bessere Zeit aussuchen
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können.« Die Stimme jagte Paul einen Schauer über den Rücken. Es war die von Rhukov. Aber der Akzent war, genau wie ihm jedermann im Hotel versichert hatte, englisch. »Zum Teufel, Crane, so antworten Sie doch.« »Ich bin nicht Mr. Crane, ich bin Paul Crown aus Chicago. Ich suche Mr. Michael Radcliffe.« Gedämpftes Stimmengemurmel. Füße ohne Schuhe näherten sich der Tür. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Die Tür ging auf. Vor ihm stand Mikhail Rhukov, wie er leibte und lebte und wie Gott ihn erschaffen hatte. »Der Himmel stehe uns bei. Du bist das. Komm herein, alter Knabe, komm herein!« Die Wohnung bestand aus einem einzigen großen Zimmer mit einigen wenigen, billigen Möbelstücken, einem Waschbecken, einem kleinen, eintürigen Eisschrank aus Eschenholz, einem zerwühlten Doppelbett in einer Schlafecke. In dem Bett lag eine schlanke, gutaussehende junge Frau, die ihren Unterleib mit einem Laken bedeckt hatte; ihre runden braunen Brüste waren unbedeckt. Immer noch verwirrt, fragte Paul: »Wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet. Könnte gar nicht besser sein. Stevie Crane hat dir offensichtlich genügend vertraut, um dir diese vorübergehende Adresse zu nennen. Aber bitte, setz dich doch.« Er wies auf einen Stuhl neben einem kleinen Kartentisch an einem offenen Fenster mit wehenden dünnen Vorhängen. Dann griff er nach einem Paar weißer Leinenhosen, die über der Lehne eines anderen Stuhls hingen, und schlüpfte hinein. »Ich bin absolut gespannt, Paul. Was machst du hier in Tampa? Beim Allmächtigen, doch nicht etwa beim Militär, oder?« »Nein, ein neuer Beruf. Ich bin Photograph.« »Du meinst Journalist, wie ich?« »So ungefähr. Ich bediene Kameras. Ich mache bewegte photographische Bilder für Projektionstheater im Norden.« »Ein Kameramann! Natürlich. Glänzende Lösung!« Er klatschte in die Hände. Paul verstand erst, als sein Freund sagte: »Du zeichnest noch immer. Nur mit dem Unterschied, daß es jetzt nicht mehr unproportionierte Kritzeleien sind. Ich nehme doch an, daß man auf den Bildern tatsächlich etwas erkennen kann.« Paul lachte. »Tja, das hoffe ich wenigstens. Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht so recht, wie ich Sie nennen soll?« »Radcliffe. Jetzt und für alle Zeiten Michael Radcliffe. Stammt aus einem Buch, auf das ich im Britischen Museum gestoßen bin.
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Familienname der Grafen von Sussex. Könnte gar nicht englischer sein – in früheren Zeiten, unter Königin Elizabeth, war es noch Ratclyffe.« Er buchstabierte den Namen. »Ich ziehe die moderne Version vor. Ach, was bin ich doch für ein jämmerlicher Gastgeber. Kann ich dir etwas Limonade anbieten? Ein Wasser?« »Ein Bier war’ ganz schön.« Michael öffnete den Eisschrank und nahm eine Flasche Bier mit einem spanischen Etikett heraus. Er goß sich selbst ein großes Glas Limonade ein. »Weshalb starrst du denn so?« »Weil Sie so verändert sind, Mr. Radcliffe.« »Michael.« »Also gut – Michael. Ich kann es immer noch nicht glauben.« »Das kannst du aber.« Er streckte seine linke Hand aus, um ihm seinen breiten goldenen Ring zu zeigen, der zwischen den erhöhten Rändern mit winzigen gewundenen Goldreifen verziert war. »Und verheiratet.« »Ja, das hab’ ich schon gehört.« Er konnte nicht umhin, einen Blick auf das Bett zu werfen. »Luisa? Eine liebe Freundin, das ist alles. Ich habe ein starkes und häufiges Bedürfnis nach der Art von Freundschaft, die Luisa gewährt. Solltest du einmal ein solches Bedürfnis haben, dann kann ich dir versichern, daß Luisa eine zuvorkommende, liebevolle und erfahrene Dame ist.« Das braune Mädchen lächelte. »Der Mischling, der für Estefan arbeitet, weiß immer, wo sie zu finden ist. Du brauchst nur im Laden anzurufen und Tomaso zu verlangen.« Er ging zum Bett, setzte sich neben Luisa und sagte etwas auf spanisch zu ihr, während er zärtlich ihre rechte Brust streichelte. Sie nickte und lächelte. »Ich habe sie gebeten, etwas frische Luft zu schnappen. Wir beide müssen uns erst einmal ausgiebig unterhalten.« Luisa sprang aus dem Bett, das große schwarze Dreieck zwischen ihren Beinen gut sichtbar, während sie unter dem Bett nach Kleidungsstücken fischte. Sie küßte Michael und fuhr ihm durchs Haar, dann beugte sie sich zu Paul und gab ihm einen keuschen Kuß auf die Stirn. Nachdem sie gegangen war, öffnete Michael eine Vitrine und nahm ein Wasserglas heraus, in dem sich Zigarren befanden. »Die machen sie hier in der Straße. Ganz ausgezeichnete Qualität – willst du eine?« »Ja, gern.« Michael schmunzelte. »Da schau an. Der kleine Bengel ist erwachsen geworden.« »Das stimmt. Ich habe mich in vielerlei Hinsicht verändert. Ich habe sogar einen Spitznamen.« »Nicht schlecht! Und wie nennen sie dich?«
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»Dutch.« »Nicht sehr originell. Aber er paßt zu dir.« Sie blieben einen Moment lang so sitzen und pafften ihre Zigarren, während sie versuchten, in dieser seltsamen Umgebung die alte Vertrautheit wiederherzustellen. »Jetzt möchte ich dir die gleiche Frage stellen«, sagte Paul. »Wie bist du dahin gekommen, wo du jetzt bist? Ich meine nicht Florida, ich meine die teure Kleidung, dein vorzügliches Englisch –« Michael wedelte mit seiner Zigarre, bis blaue Rauchschwaden in der Luft hingen. »Eigentlich ganz einfach. Ich war es leid, arm zu sein. Arm ist widerlich. Arm bedeutet, daß dich keiner ernst nimmt. Keiner lädt dich zu einem anständigen Essen ein oder macht dich mit wichtigen Leuten bekannt. Keiner mag, wie du riechst – selbst in einem schmutzigen Pub im East End von London will niemand neben dir sitzen. Das überrascht uns beide natürlich nicht, ich hab’s immer schon gewußt. Aber vor vier Jahren in London – ein Jahr nach unserem Treffen in Chicago – hatte ich endgültig die Nase voll von der Armut. Ich hab’ immer noch meine üblichen sauren Ergüsse ausgespuckt, tausend Wörter auf einmal, aber immer weniger Herausgeber wollten sie haben. Ich begriff, daß ich kein junger Mann mehr war. Mein Stern sank kontinuierlich. Eines Nachts, als die Stadt wieder einmal mit dem scheußlichsten aller Wetter vorliebnehmen mußte, kam mir die Erleuchtung. Ich nächtigte in der einzigen Herberge, die ich mir leisten konnte, unter der Towerbrücke. Es goß in Strömen. Ich hatte Fieber. Eigendiagnose, denn einen Arzt konnte ich mir nicht leisten. Es muß hohes Fieber gewesen sein, denn ich schlief selig, obwohl ich triefnaß war. Ich wachte auf, als mir ein Polizist seine Laterne ins Gesicht hielt. ›Beweg dich, hau ab!‹ herrschte er mich an und verlieh seinen Worten mit der Stiefelspitze Nachdruck. Gehen? Wohin? Ins Savoy? Windsor Castle? Ich konnte es mir nicht leisten, irgendwohin zu gehen. Ich hatte nicht einmal einen Viertelpfennig. Meine letzten vier Artikel waren auf der Fleet Street abgelehnt worden. Zu reizbar und unhöflich, um von anständigen Leuten gelesen zu werden. Blitzartig erkannte ich, daß mir nur noch ein erklärbares Ziel blieb – der Tod. Finis. Das Ende. Die Themse lag vor mir. Ich konnte mich aber auch auf die nächsten Gleise und unter die Räder einer Lokomotive stürzen. Es gab mehrere Möglichkeiten! Aber ich konnte noch Jahre leben. Ich wollte mehr Frauen. Inzwischen mochte ich Fisch und Chips. Ich verließ die Towerbrücke, und in jener Nacht, während ich naß und krank und ohne zu wissen, wo ich war, umherwanderte, öffnete sich der Himmel und goß mehr als Regen auf mich herab, er gab mir die Antwort: Ich muß mich verkaufen.«
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Vor lauter Stolz und Heiterkeit in Hochstimmung, schlug er auf den Tisch. »Und das habe ich! Von diesem Moment an habe ich meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Ich begann unverzüglich damit, einen ehrbaren Menschen aus mir zu machen. Ich holte mir Rasierklinge und Seife von der Heilsarmee. Ich brach in einen Trödelladen ein, der mit einem schwachen Schloß gesichert war, um mich ohne Geld neu einzukleiden. Ich klaute Zeitungen – rannte den alten Burschen, die sie an den Straßenecken feilboten, einfach davon –, und durch eine Anzeige fand ich eine Stellung. Nächtlicher Tellerwäscher im Hotel Claridge. Mein Englisch war annehmbar – Wortschatz und Grammatik wohlgemerkt –, aber mein Akzent? Grauenhaft! Dank meiner Arbeit im Untergeschoß des Claridge ließ sich das jedoch beheben. Ich nahm zwei Stunden Sprecherziehung pro Woche bei einem armen alten Schauspieler, der die Pubs um Covent Garden frequentierte. Er war ein meisterhafter Redekünstler, aber zu betrunken, um noch engagiert zu werden. Ich selber trank nur kaltes Wasser oder heißen Tee. Ich brachte mein Geld auch nicht mit Huren durch, diesen Dienst gab es entweder gratis oder gar nicht.« Er seufzte. »Ich will dir nicht verschweigen, daß es dazwischen auch lange, trockene, schwierige Phasen gab. Aber irgendwann konnte ich die Flohkiste, in der ich Monate verbrachte, hinter mir lassen und zog in ein billiges Zimmer in einer scheußlichen Gegend. Aber es gehörte mir, solange ich die Miete bezahlte. Ich fing an, einen Roman im Stil von Walter Scott zu schreiben, ich hatte zwar keine große Lust, hoffte aber, daß er mir Geld einbringen würde. Bitte mich um Himmels willen nicht um ein Exemplar, ich habe das Manuskript verbrannt, als die Göttin Fortuna mir zulächelte. Das war ungefähr zwei Jahre nach meiner Erleuchtung unter der Towerbrücke.« »Und irgendwann dazwischen hast du die Tochter eines Verlegers geheiratet.« »Ja, genau. Und die Zeitung meines Schwiegervaters hat mich hierhergeschickt, um Hauptmann Lee auf der Spur zu bleiben und einige glänzende Artikel über ihn und diesen ehrenhaften Krieg zu schreiben – sofern er je stattfindet. Wie du zweifellos schon erkannt hast, herrscht hier nichts als Verwirrung, Hitze und Langeweile. Man kann schließlich nur eine begrenzte Anzahl von Telegrammen mit der Beschreibung der Orangenbäume Floridas schicken. Es gibt in England viel Marmelade von viel besseren Orangen.« Er inhalierte den Rauch seiner Zigarre. »Über eins bin ich mir noch nicht ganz im klaren. Wie hast du mich gefunden?« Paul beschrieb den Augenblick im Korridor. »Aha. Ich kann mich nicht erinnern, dich gesehen
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zu haben, obwohl es natürlich möglich ist. Um die Wahrheit zu sagen, wollte ich überhaupt niemanden sehen, ich wollte nur so schnell wie möglich verschwinden. Ich war, wie du vielleicht vermutest, in Gesellschaft einer Dame.« »Verheiratet«, warf Paul grinsend ein. »Aber ja. Genau vor unserem dritten Höhepunkt in ebensoviel Stunden klingelte das Telephon. Ihr idiotischer Mann saß in einem Keller in West Tampa. Er hatte eine Menge billigen Wein getrunken und hielt es nun für eine mordsmäßige Idee, ins Hotel einzulaufen und seine ehelichen Pflichten zu erfüllen, bevor er wieder in sein Lager zurückkroch. Ich war natürlich nicht scharf darauf, ihm zu begegnen, ich hatte schon den einen oder anderen Blick auf ihn werfen können. Der Verstand einer Fliege, aber die Muskeln eines Gorillas. Und an seiner Hüfte ein solches Kaliber.« Er zeigte die Länge der Pistole mit den Händen. »Da der Militärattaché Ihrer Majestät kaum etwas anderes tut als Tennis spielen und jedem, der so närrisch ist zuzuhören, eine öde Beschreibung von Sandhurst liefert, hatte ich das Gefühl, mich diskret verabschieden zu können, ohne meine Herausgeber unnötig darauf hinzuweisen. Ich küßte die Hand meiner Liebsten und riet ihr, um weiteren Aufmerksamkeiten von seiten ihres Mannes aus dem Weg zu gehen, sich hinzulegen und einen Anfall von Nervenschwäche vorzutäuschen, ein beim schwachen Geschlecht weitverbreitetes Leiden. Ich hoffe aufrichtig, daß meine Strategie geholfen hat. Ich werde den Mann der lieben Margo in Kuba bestimmt nicht wiedersehen, darauf kannst du wetten. Mich findest du nie in der Nähe eines Schlachtfeldes. Im Geiste lassen sich sehr viel lebhaftere Schlachten schlagen als in Wirklichkeit. Mr. Crane hat es geschafft, warum also nicht dein bescheidener und gehorsamer Diener?« Jetzt konnte Paul sein Lachen nicht länger zurückhalten. »Du hast dich nicht verändert, kein bißchen.« »Verrat mich nicht, alter Junge!« »Ich kann es einfach noch nicht glauben. Ich höre jedes Wort, das du sagst, aber ich weiß nicht, wie so was möglich ist. Es gibt Märchen, in denen sich Frösche in Prinzen verwandeln – deine Geschichte ist solch ein Märchen, Mikhail – Entschuldigung – Michael.« Die dünnen Vorhänge flatterten. Ein Getränkeverkäufer ging unter dem Fenster vorbei und pries seine süßen Limonaden in Spanisch und Englisch an. Michael blickte nachdenklich auf das Ende seiner Zigarre. Die von Paul war nur mehr ein kurzer Stummel; exzellenter, ausgereifter Tabak, angenehm beruhigend auf der Zunge. »Möglicherweise hast du recht«, meinte Michael schließlich. »Aber es
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war kein Kuß, der den Frosch verwandelt hat, sondern eine kostenlose Eintrittskarte.« »Zufällig«, erzählte Michael weiter, »hatte ein Bekannter meines Sprechlehrers eine Theaterkarte, die er selbst nicht nutzen konnte. Er konnte sie nicht verkaufen, weil es sich um eine besondere Art von Karte handelte, eine Art Abonnement für eine Reihe von besonderen Matineevorstellungen am Independent Theatre Club. Nicht der übliche West-End-Schund, sondern anspruchsvolle Stücke. Provokative Werke. Sie nennen es auch »Inspirationstheater«. Die Clubaufführungen finden im Royalty statt, einem hübschen kleinen Theater in der Dean-Straße in Soho. Immer am Sonntagnachmittag, damit auch Theaterleute zugegen sein können. Natürlich gibt es auch andere Abonnenten. Eine davon saß zufällig auf dem Platz neben mir in meiner Loge. Sie machte eine Bemerkung über die Abwesenheit des gewohnten Besuchers. Ich machte eine Bemerkung über seine Verhinderung. Ich stellte mich als Michael vor. Sie stellte sich als Cecily vor. Sie war gepflegt, wenngleich einfach angezogen. Keineswegs eine Schönheit. Meine neue Bekannte war freundlich, wenn auch etwas schüchtern. Sie errötete sogar, als ich sie in der Pause an die Bar einlud. Sie trank eine Limonade und sagte so gut wie gar nichts. Nach der Vorstellung bummelten wir noch ein kurzes Stück die Straße entlang. Als wir uns zum Abschied die Hand gaben und ein paar Nettigkeiten austauschten, lud ich sie, einer spontanen Eingebung folgend, auf eine Erfrischung ins J. Lyons-Teehaus in Picadilly ein. Vergiß bitte nicht, daß ich nur ihren Vornamen kannte, Cecily. Ich war einfach einsam. Nein, ich litt! Ich war seit vier oder fünf Tagen nicht mehr mit einer Frau zusammengewesen. Die zweite Einladung wurde von keiner unnötigen Bescheidenheit begleitet. Sie nahm, ohne zu zögern, an. Es wäre mir lieber gewesen, hätte ich meine Nummer im Café Royal abziehen können, aber ich hatte kaum genug Geld für eine Kanne Lapsong Suchong und ein paar Scones. Wir plauderten angeregt über Theater, Bücher, Politik. Sie war unverkennbar gebildet und eigentlich eine anregende Gesprächspartnerin. Als wir J. Lyons verließen, hatte ich eine weitere Eingebung. Ich lud sie in mein Zimmer in die Brompton Road ein. Wieder nahm sie an. Und nicht einmal unwillig. Im Handumdrehen lag ihr Höschen auf dem Boden. Um ungefähr halb acht am Abend entjungferte ich sie. Einunddreißig Jahre alt und noch unberührt, kannst du dir so etwas vorstellen? Zuviel Fürsorge fügt einer Frau weitaus mehr Schaden zu als ein ausschweifendes Liebesleben, das ist meine Meinung.
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Wir vergnügten uns ein zweites Mal. Dann zogen wir uns an, und ich begleitete sie hinunter, um ihr eine Droschke für die Heimfahrt zu besorgen. Das Wetter war scheußlich. Dichter Nebel. Sie umarmte und küßte mich, dann flüsterte sie mir ihren Nachnamen ins Ohr: Cecily Hartstein. Doch nicht etwa die Familie Hartstein? Doch, genau die. Ich gab mir alle Mühe, meinen Schrecken und mein Entsetzen nicht zu zeigen, half ihr in die Droschke und bereitete mich darauf vor, Hals über Kopf das Land zu verlassen. Ich handelte aber nicht mit der gebotenen Eile. Am späten Vormittag des nächsten Tages überbrachte mir ein Bote ihres Vaters eine kurze knappe Nachricht, eine Aufforderung vielmehr, mich um acht Uhr am selben Abend in seinem Haus einzufinden. Er würde mich abholen lassen. Mit Handfesseln und anderen überzeugenden Mitteln, zweifellos für den Fall, daß ich vorhatte zu kneifen. Die arme, törichte, dankbare junge Frau hatte alles Papa gebeichtet. Ich überlegte kurz, ob es nicht sinnvoll wäre, sofort zu verduften, aber es war zu spät. Ich war sicher, daß ihr Vater bereits Dutzende von Schurken an den Bahnhöfen postiert hatte, um jeden Versuch meinerseits zu vereiteln. Nur meiner vollständigen Verwirrung ist es zuzuschreiben, daß ich vergessen habe, das Claridge zu informieren, daß das Montagsgeschirr von einem anderen abgewaschen werden mußte. Ich war mir sicher, daß Rhukovs letztes Stündlein geschlagen hatte. Natürlich stellte sich heraus, daß es nicht das letzte Stündlein war. Otto Hartstein … Otto Hartstein ist Jude und stammt aus Dublin. Wenn das keine Minderheit ist! Der Vater Lumpensammler. Geradezu wie aus einem Roman von Dickens. Das Lumpensammeln war gut und schön in Romanen, aber nicht für den kleinen Otto. Der kleine Otto wollte mehr vom Leben. Wahrscheinlich war er ein einsames Bürschchen, seine einzigen Kameraden die Bücher, die er sich borgen oder stehlen konnte. Er verließ das Familienunternehmen in einem zarten Alter, überquerte die Irische See und fegte fortan die Fußböden bei irgendeinem Provinzblatt im Lake District. Nach neun Jahren gehörte es ihm. Er war zweiundzwanzig. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Lord Yorkes Diener erschienen auf die Minute pünktlich. Ohne sichtbare Waffen. Sie waren die Höflichkeit in Person – einstweilen. Ich wurde aus West London hinaus, etwa dreizehn Kilometer aufs Land kutschiert, bis vor dieses erhabene Anwesen mit einer Krone auf den Eisentoren und dem eingravierten Namen auf dem Sturz der Vordertür. Claddagh House. Claddagh ist gälisch und bedeutet Freundschaft. Eine teure kleine Freundschaft bekomm’ ich hier, dachte ich im stillen – wahrscheinlich
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einen glühenden Schürhaken in den Arsch, und dann ab in den Ententeich in einem mit Gewichten beschwerten Sack. Ich wurde in eine dunkle, feuchte Halle geleitet, die nur von einem Kamin beleuchtet wurde, in dem sechs Leute Platz zum Schlafen gefunden hätten. Der Butler zog sich zurück, und seine Lordschaft sah mich lange und eindringlich an. Dann sagte er: ›Brandy?‹ Zu meinem Erstaunen hörte ich mich sagen: ›Danke, gern.‹ Der Brandy beruhigte meine Nerven. Sorgte dafür, daß mein Verstand beziehungsweise das, was noch davon übrig war, wieder auf den Pfad der Vernunft zurückfand. Soweit ich sehen konnte, hatte Papa drei Möglichkeiten. Zum einen konnte er mich töten oder töten lassen oder – was vielleicht noch schlimmer war – mich zum Krüppel machen, aber für so beschränkt hielt ich ihn nicht; deshalb, so argumentierte ich, würde er diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Zum anderen konnte er mich bestechen, was er denn auch versuchte. Er bot mir eine Summe in schwindelnder Höhe. Aber da erinnerte ich mich an Cecilys leidenschaftliches, lustvolles Stöhnen in meinem billigen kleinen Liebesnest. Ich blickte ihm deshalb in sein schielendes Auge – ich wußte damals nicht, welches das richtige war, und fand später heraus, daß ich das falsche gewählt hatte – und sagte: »Lord Yorke, es gibt nicht genügend Geld im ganzen Land, um mich zu einer solch liederlichen Tat zu verleiten. Ich lehne Ihren ungehörigen Bestechungsversuch ab. Sie haben nie von einem solchen gesprochen, ich habe nie etwas dergleichen gehört.‹ ›Sie sind Ausländer‹, sagte er. ›Sind Sie auch Jude?‹ ›Nein‹, antwortete ich. ›Ursprünglich Russe, aber ich habe für Zeitungen und Zeitschriften in der ganzen Welt geschrieben. Aber was macht das schon?‹ Einen Augenblick lang hatte ich ihn in der Gewalt. Hartstein war ein gerissener alter Fuchs, aber kein Narr. Schließlich und endlich hatte sich noch niemand angeboten, die Verantwortung für sein einziges Kind zu übernehmen, und jetzt stand jemand vor ihm, der vielleicht in Frage kam. Und dazu ein Journalist! Da waren sie also, die drei Möglichkeiten. Er konnte mich töten, mich abfinden oder mich in den Schoß der Familie aufnehmen. Er nahm mich auf. Die Sache entwickelte sich erstaunlich zufriedenstellend. Cecily ist ein einfaches Wesen, aber sie hat eine rundliche Figur, und das ist etwas, was mir an Frauen immer schon gefallen hat, und sie verfügt über einen scharfen Verstand. Sie ist liebenswürdig, darüber hinaus eine vollendete Hausfrau und niemals nachtragend. Wenn man mit einem Mann wie mir
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verheiratet ist, ist das von entscheidender Bedeutung. Natürlich hat der Alte Herr auch Bedingungen gestellt. Keine Techtelmechtel in London. Gepflegteres äußeres Erscheinungsbild, einschließlich besserer Kleidung. Weniger, wie er es nannte, unanständige Sprache‹. Und, ganz wichtig, ein neuer Name, vorzugsweise mit anglosächsischem Hintergrund. Seine Lordschaft läßt mir pro Jahr vierzigtausend Pfund auf mein Privatkonto überweisen. Ich arbeite für seine wichtigste Zeitung. Auf dem Papier bin ich Reporter, aber behandelt werde ich wie der Kronprinz. Hin und wieder schreibe ich immer noch im echten Rhukov-Stil, bitter und zynisch, aber jetzt schenkt man mir Beachtung. Die Grafen und Vicomtes und ihre parfümierten Mätressen, die Schreiberlinge von Whitehall und ihre öden Frauen, die Diplomaten, die den Ruhm einheimsen, und die Beamten, die die Arbeit tun – ich habe festgestellt, daß sie eben nicht in die andere Richtung rennen, wenn du richtig sprichst, gut tanzt und eine angesehene Frau mit den richtigen Verbindungen hast. Dann lesen sie, was du schreibst! Sie schleppen dich ins Arbeitszimmer zum Brandy und zum vertraulichen Tete-à-tete. Sie bitten um deine Meinung zur Rüstung, zu Zöllen und zum Kandidaten der Oppositionspartei. Wer überrumpelt wen? Wer hüpft mit welchem leichten Mädchen ins Bett? Wer schließt welche geheimen Abkommen, und werden sie vielleicht zum Krieg führen? Ich habe ihnen alles verkauft. Und ich habe es genossen. Türen öffnen sich, ohne daß ich sie berühre. Ich sehe ungeahnte Möglichkeiten für die Zukunft. Meine eigene Zeitung. Viele Zeitungen! Aber unter der Oberfläche – Dutch, du mußt schwören, mich nicht zu verraten – bin ich immer noch derselbe verdorbene, sarkastische, mißtrauische Taugenichts, der ich immer war. Ist das nicht eine wunderbare Regelung? Schau nicht so verächtlich! Du bist doch auch kein Unschuldsengel. Du rauchst Zigarren. Du gehst einem unehrenhaften Beruf nach. Ich habe gesehen, wie du Luisas hübschen nackten Arsch betrachtet hast.« Nachdem Michael seine Geschichte beendet und sich ein Hemd übergezogen hatte, weil es in dem dunklen Zimmer langsam kühl wurde, bat er Paul nun seinerseits um Berichterstattung, und zwar über die Jahre seit der Weltausstellung. Paul berichtete wahrheitsgemäß. Er versuchte, ruhig zu sprechen und bei den Tatsachen zu bleiben, aber es fiel ihm schwer; die Zeit war mit zu
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vielen Enttäuschungen verbunden. Er erzählte Michael, daß er gehofft hatte, in Amerika, bei den Crowns, ein neues Zuhause zu finden. Er berichtete, daß man ihn hinausgeworfen hatte, daß er Julie gewonnen und wieder verloren hatte. Eine Geschichte voller Gefühle, die in der Erzählung durcheinandergerieten. Aber Michael verstand und nickte hin und wieder. Jedesmal, wenn Onkel Joe erwähnt wurde, runzelte er die Stirn. Paul fragte sich, warum. Zum Schluß erwähnte er den Bäcker von Wuppertal, dessen Worte nun einer Prophezeiung glichen. Michael schüttelte den Kopf und sagte leise: »Was für Träume … zerstört durch zwei schreckliche Schläge, das Mädchen und deine Familie. Das Mädchen konnte vielleicht nichts dafür, aber deine eigene Familie? Dich hinauszuwerfen wie einen Hund, der auf Mutters Teppich –« »Ich würde sagen, es war der Teppich meines Onkels.« Und wieder dieses Stirnrunzeln. Paul starrte aus dem Fenster. Eine milde tropische Dämmerung brach an, purpurne Wolken, durchzogen von bernsteinfarbenen Lichtstrahlen. Plötzlich erhellte ein grüner Blitz den Himmel, Ybor City, den dunklen Raum. Einen Augenblick später war alles wieder beim alten; Paul fiel es schwer zu glauben, daß er es tatsächlich gesehen hatte. »Du warst so glücklich in Chicago«, murmelte Michael. »Es tut mir wirklich leid. Du hast in Amerika nicht alles gefunden, was du dir erhofft hattest.« »Nein. Nur einen kleinen Teil. Tja, man hat mich gewarnt. Ein Mann, den ich in Hamburg getroffen habe. Er war zehn Jahre lang hier. Dann ist er voller Abscheu zurückgekehrt. Ich will nicht bestreiten, daß ich auch wunderbare Menschen kennengelernt habe –« Er dachte an Tante Ilsa und Wex Rooney; Fritzi, Carl, Vetter Joe. Der fröhliche, unehrliche Shadow und seine Mary … Das Gesicht seines Onkels drängte sich ihm auf. Er verbannte es. »Vor allem Julie«, gestand er. Nach einer Pause fragte Michael: »Wirst du bleiben?« Paul hob den Blick; nahm noch eine Zigarre aus dem Glas. Er schnitt das Mundstück mit Michaels goldenem Anschneider zu und zündete an seiner Schuhsohle ein Streichholz an. Der würzige Rauch hüllte ihn in eine kühle Gleichgültigkeit. Es war das erste Mal, daß ihm jemand diese Frage stellte. »Ich weiß nicht. Ich habe einen großartigen Beruf erlernt, den ich außerdem liebe. Aber ich lese auch Zeitschriften und weiß, daß Filme in vielen Ländern groß im Kommen sind. Ich glaube, daß ich durch das Filmemachen eines Tages die ganze Welt bereisen werde. Eigentlich könnte
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ich überall leben.« Auch diesen Gedanken hatte er bisher nicht laut ausgesprochen. »Selbst in deiner alten Heimat.« »Ja, warum nicht. Es wäre wahrscheinlich nicht besser, aber zumindest vertraut. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich bis zu diesem Augenblick kaum darüber nachgedacht.« Aber er wußte, daß er noch viel darüber nachdenken würde. Am unwahrscheinlichsten aller Orte, in Ybor City in der Dämmerung, war ein Same gesät worden. Er stand auf. »Ich muß gehen.« »Ja, Luisa ist wahrscheinlich schon wütend auf mich. Ich bat sie, bei Flores, nicht weit von hier, auf mich zu warten. Andererseits hat sie vielleicht in der Zwischenzeit ein paar Dollars verdient, sie ist sehr unternehmungslustig, mußt du wissen. Ich werde dich ein Stück begleiten.« Er schlüpfte in seine Stoffsandalen, öffnete die Tür eines Schranks in der Ecke und entnahm ihm einen dicken Spazierstock mit großem Knauf. »Luisa hat mir beigebracht, daß ein einsamer Spaziergang im abendlichen Ybor City ein nicht unerhebliches Risiko beinhaltet, wenn man zufällig die falschen Leute trifft.« Der Laden an der Ecke war hell erleuchtet. Wieder fegte Tomaso den sauberen Gehsteig. Er winkte Paul und Michael zu. Michael winkte mit seinem Spazierstock zurück. Ein scheckiger Hund vollführte auf der Straße einen Tanz um seinen eigenen Schwanz. »Ich bin froh, daß du mich gefunden hast, Pau … Dutch, tut mir leid. Ich verspreche, daß ich deinen Namen nicht mehr allzuoft vergessen werde. Und wir werden uns mit Sicherheit wiedersehen. Crane ruft immer im Laden an, wenn er mir etwas auszurichten hat. Und vielleicht schleiche ich mich sogar ins Hotel zurück, um mir selbst ein Bild zu machen. Ich kann doch schließlich meinen Herausgebern die Telegramme nicht allzu lange vorenthalten. Und du und ich können uns ernsthaft über den Sinn dieses Krieges unterhalten. Sofern es den gibt.« An einer dunklen Ecke streckte er ihm seine saubere, blasse, gepflegte Hand hin. »Ich gehe wieder zurück. Hoch lebe Kuba!« »Auf Kuba! Ich freue mich für dich, Michael. Ich mag das, was aus dir geworden ist. Aber als ich dich zum ersten Mal so sah – ein Schock.« Nüchtern erwiderte Michael: »Es steht dir vielleicht noch einer bevor. Kennst du die hochrangigen amerikanischen Offiziere?« »General Shafter. General Wheeler. Ich kenne sie nicht alle. Ich habe sie noch nicht gefilmt, weil sie ständig in irgendwelchen Besprechungen sind. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie ich einen solchen Film interessant
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machen sollte.« »Ich habe das ganze Namensverzeichnis studiert. Es gibt da etwas, mein Freund, was du wissen solltest.« Er legte eine Hand auf Pauls Schulter. »Es gibt da einen Brigadegeneral aus Chicago. Zweifellos wird er sich im Hotel einmieten. Er dient freiwillig, genau wie Wheeler. Von Crane weiß ich, daß er Brauereibesitzer ist. Er heißt Joseph E. Crown.« 91 DER GENERAL Wie schnell er sich wieder an alles gewöhnt hatte. An das Salutieren, die Dienstvorschrift, den vertrauten Klang der Signalhörner, der jeden Tag in kleine, überschaubare Einheiten gliederte. Ordnung. Bequem, wohltuend – die Essenz seiner deutschen Seele. Das Durcheinander in Tampa gefiel ihm gar nicht. Es erzürnte ihn. Es war wohl wahr, daß zum großen Teil Washington dafür verantwortlich war, aber seine Konsequenzen zu spüren bekamen aufs Unbarmherzigste diejenigen, die versuchten, die größte militärische Unternehmung aller Zeiten außerhalb der Vereinigten Staaten zu organisieren. Das Durcheinander der Frachtzüge war nach wie vor ein riesiges Problem. Die verschiedenen Bestandteile der Feldration eines Soldaten – Dosenfleisch, Zwieback, Brot – mußten aus verschiedenen Waggons zusammengesucht werden, die zum Teil meilenweit voneinander entfernt waren und die nur mit der Aufschrift gekennzeichnet waren, die Joe und alle anderen Stabsmitglieder langsam, aber sicher verzweifeln ließ. MILITÄRBEDARF-EILT! Die privaten Schiffahrtsgesellschaften, die ihre Schiffe an das Kriegsministerium vermieteten, verlangten Spitzenpreise für die bis auf ein Minimum an Komfort ausgeräumten Seefahrzeuge. Die Besitzer erzählten, dies seien notwendige Maßnahmen, um Reparaturund Neuausstattungskosten nach dem Krieg möglichst gering zu halten. Minister Algers Männer in Washington hatten die Verhandlungen geführt und die Verträge geschlossen, aber die Armee mußte sich mit den einzelnen Kapitänen herumschlagen. General Shafters Strategie ließ sich in einem Wort zusammenfassen. »Eile.« Er wollte in Kuba einfallen und möglichst viele spanische Stellungen erobern, bevor der Regen und das Gelbfieber zu einer ernsthaften Gefahr wurden. Minister Alger schien seinerseits alles zu tun, um diese Strategie zu vereiteln. Fast täglich sorgte ein Telegramm aus Washington für neue Anweisungen:
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Zuerst sollte die gesamte Kriegsmacht am Kap Tunas an der Südküste Kubas landen, die aufständischen Truppen von General Máximo Gómez mit Nachschub versorgen und dann wieder auf ihre Schiffe zurückkehren. Dieser Befehl wurde jedoch schnell rückgängig gemacht zugunsten einer Landung in Mariel mit dem Ziel, Havanna einzunehmen. Dann stieß Kommodore Winfield Scott Schleys Flying Squadron im Hafen von Santiago de Kuba auf Admiral Cerveras Flottille. Kommodore Schley meldete: »Drei bewaffnete Kreuzer, drei Zerstörer und das Schlachtschiff Cristobal Colon an ihrem Ankerplatz gefangen.« Dies führte zu zwei weiteren Telegrammen und einem neuen Ziel – Santiago mit seinem Hafen und seinen Festungsbauten. Der Angriff auf Havanna wurde auf den Herbst verschoben. Als zweites sah sich der Stab mit einem Kapazitätsproblem konfrontiert. Man stellte irgendwann fest, daß das Kriegsministerium nicht genügend Schiffe angemietet hatte. Im Höchstfall konnten 20000 Männer transportiert werden anstatt der geplanten 25000. »Wissen Sie, was das bedeutet?« schäumte Wheeler, als er Joe davon in Kenntnis setzte. »Sie transportieren genügend Maultiere für die Wagen, Pferde für die Munitionswagen und die Offiziere, aber alle anderen in unserer Division müssen zu Fuß kämpfen. Eben war Roosevelt hier und hat getobt und geflucht. Er hat kein gutes Haar an denen gelassen.« Joe schüttelte den Kopf. »Die reinste Katastrophe.« »Das haben wir Algers verdammten Beamten zu verdanken. Sie sind echt die Größten, die Größten, was Dummheit anbetrifft.« So wurden in den letzten Tagen des Monats Mai eilige Besprechungen abgehalten, Anweisungen geschrieben und umgeschrieben, Papiere hin und her geschoben, Telegramme, die denen vom Vortag widersprachen – die wiederum die vom Tag davor widerriefen –, allabendlich an die Nachrichtentafel in der Rundhalle geheftet. Die wütenden und oftmals nutzlosen Bemühungen ermüdeten Joe rasch und förderten seine schlechte Laune. Wenn sein Arbeitstag vor acht Uhr zu Ende war, genehmigte er sich eine Mahlzeit im Speisesaal, wenn er dagegen gegen zehn oder elf endete, was häufig vorkam, ließ er sich einen kalten Imbiß und eine Flasche des grauenhaften einheimischen Biers aufs Zimmer bringen. Er mied die öffentlichen Räume, in denen sich die Offiziere einfanden, um zu trinken und zu diskutieren. Der deutsche Attaché hatte eine blutegelartige Anhänglichkeit entwickelt und versuchte überall und ständig, ihm die neuesten Lehrsätze aus der Berliner Reichskanzlei in der WilhelmStraße auf die Nase zu binden. »Napoleon hat uns gelehrt, daß ein Volk mit
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einem Nationalbewußtsein ein siegreiches Volk ist.« »Die Schaffung eines neuen, geeinigten Deutschlands ist das wichtigste politische Ereignis dieses Jahrhunderts.« »Bisher war das Vaterland lediglich eine Bühne. Jetzt ist es der Hauptdarsteller.« Und so weiter, und so weiter. Joe verabscheute die Vorstellung, daß sein einstiges Heimatland solchen Männern wie von Rike und dem Kaiser anheimfallen sollte, der sich als halsstarriges, überhebliches, möglicherweise sogar gefährliches Oberhaupt erwies. Eines Tages ritt Joe zum Lager der 1. Freiwilligen Kavallerieeinheit. Es grenzte an der Straße zum Hotel an das Divisionshauptquartier. Als er sich dem Lagereingang näherte, sah er einen Mann, der hinter einer dieser neumodischen Filmkameras kauerte und kurbelte, um eine Gruppe von Soldaten aufzunehmen. Die Soldaten übten sich in der Nähe einiger Kokospalmen im Umgang mit ihren Waffen. Ziemlich schlampig nach seinem Dafürhalten. Joe gab seinem Pferd die Sporen und ritt näher. Kurz vor den Kokospalmen hielt er an. Der kommandierende Unteroffizier der Gruppe konnte bei seinem Anblick vor lauter Eifer gar nicht genug salutieren. Joe stieß einen unfreundlichen Gruß aus und fauchte dann den Mann an, der immer noch über die Kamera gebeugt war. »He, Sie. Wie heißen Sie?« Der Kameramann drehte sich um. Er war jung und trug eine karierte Mütze, deren Schirm nach hinten gekehrt war. Joe hatte ihn noch nie gesehen. Während er eine Visitenkarte aus der Tasche seines Staubmantels zog, sagte er: »Billy Bitzer. American Biograph, New York.« Joe streckte die Hand aus und nahm die Karte. »Nun, Bitzer, Sie befinden sich im Moment auf dem Gelände von Oberst Woods Regiment. Der Oberst hat strikte Order erlassen – keine Kameras in der Nähe der Rough Riders. Sie stören die militärische Ordnung.« »Das habe ich gehört. Das gefällt mir nicht sonderlich«, fügte Bitzer mit einem frechen Grinsen hinzu. »Das ist unerheblich. Sie werden der Order Folge leisten, Mr. Bitzer.« Joe riß die Zügel herum und ritt im leichten Galopp die Straße hinauf. Die Armee brauchte keine solchen Männer in ihrer Nähe. Hatte es nicht nötig, daß ihre Unzulänglichkeiten auf Leinwänden in drittklassigen Theatern zur Schau gestellt wurden. Die Dinge standen ohnehin nicht zum besten. Joe war jetzt bereits zwei Wochen in Tampa. Die anfängliche freudige Erregung über die Rückkehr zur Uniform verblaßte bereits, obwohl er es genoß, von seinen Untergebenen mit »Herr General« angesprochen zu
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werden. Das klang selbst in seinen Ohren eindrucksvoll. Er entdeckte erneut Aspekte des militärischen Lebens, die er in der glücklichen Erinnerung vergessen hatte; zum einen die starre Einstellung mancher Militärs, die auch Major Rollinson Gilyard, einer der Offiziere, die Shafter unterstanden, bewies. Gilyard war Berufssoldat mit Erfahrung in der Prärie. Aber er war nicht in West Point gewesen. Seine Kollegen tuschelten hinter seinem Rücken, daß ihn dieses Manko zum Exzeß treibe. Gilyard war ein unerbittlicher Perfektionist, und jeder seiner Männer bekam dies unweigerlich zu spüren. Joes Bursche, Obergefreiter Willie Terrill, warnte ihn. »Ich rate dem Herrn General, Major Gilyard aus dem Weg zu gehen. Er haßt alles, was gegen die Vorschrift ist, und manchmal haßt er sogar die Vorschrift.« Willie war ein stämmiger, braungebrannter Berufssoldat. Seine Mutter war Indianerin von Stamm der Cherokee. Major Gilyard war mittelgroß, pausbackig und blaßrosa; fast ein Albino. Seine unruhigen Augen wurden von dicken Brillengläsern vergrößert. Er klagte über schlampiges Salutieren, über die getupften Halstücher der Rough Riders anstatt der vorgeschriebenen roten, über die Leinenstaubmäntel, die Joe Wheeler den blauen Uniformröcken mit Zierband vorzog – über alles. Joe befolgte den Rat des Obergefreiten Terrill und ging ihm, so gut es ging, aus dem Weg. Manchmal war es jedoch unmöglich. Am ersten Junitag, als General Miles endlich aus Washington eintraf, erhielt Joe einen Inspektionsbericht über die Percival, ein Frachtschiff der White Arrow-Linie, das die halbe 9. Kavallerie transportieren sollte. Der Bericht kam von Gilyard und war von ihm abgezeichnet worden. Joe stülpte seine Mütze auf und machte sich schnurstracks auf den Weg zu Gilyard. »Major, dieser Bericht ist in jeder Hinsicht unzureichend.« »Ich bedauere, Herr General, aber daran ist nichts mehr zu ändern.« Gilyards Augen schienen wie riesige blasse Fische hinter seinen Brillengläsern zu schwimmen. »Der Vertrag mit White Arrow wurde in Washington ausgearbeitet und unterzeichnet.« »Das ist mir egal. In diesem Bericht steht, daß die Männer von der 9. in umgebauten Frachträumen auf den zwei untersten Decks transportiert werden sollen.« »Ganz richtig, Sir. Getrennt von den weißen Infanterieeinheiten, die ebenfalls an Bord sein werden. Die Neger werden auf dem Hauptdeck exerzieren, auf der Backbordseite, die weißen Männer auf der Steuerbordseite. Eine weiße Trennlinie auf dem Deck wird die beiden Gruppen –«
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»Ich rede von den Bedingungen unter Deck. Wenn unsere Soldaten wie die Hühner zusammengepfercht werden, sollten sie in ihren Kojen wenigstens Licht und Luft haben. Ihrem Bericht zufolge ist das Unterschiff der Percival neu gestrichen worden, einschließlich der Bullaugen und so weiter. Das heißt, daß die Bullaugen nicht zu öffnen sind. Das muß geändert werden. Ich werde mich sofort auf das Schiff begeben und mit dem Kapitän sprechen.« »Bei allem Respekt, Herr General, im Falle eines unzureichenden Berichtes sieht die Vorschrift vor, daß zuerst eine formelle schriftliche Beschwerde eingereicht wird mit Durchschlägen für die entsprechenden Abteilungen im Kriegsministerium. Erst dann –« Außer sich vor Wut, fiel ihm Joe ins Wort. »Und was ist, wenn wir den Befehl bekommen, morgen auszulaufen? Und gibt es eine Vorschrift, die erklärt, warum wir solche unsinnigen Dinge zulassen? Guten Tag, Major.« »Herr General, ich ersuche Sie mit allem Respekt, dies nicht –« Joe ließ den Major stehen und schlug die Tür hinter sich zu. Aus dem Koffer unter seinem Bett nahm Joe einen alten Revolver aus früheren Kriegstagen, den er die ganzen Jahre über geölt und eingewickelt aufbewahrt hatte. Das Leder des Patronengurts war spröde und rissig, aber noch gut zu gebrauchen. Er lud den Revolver und befestigte ihn unter seinem Uniformrock. Die Zivilkapitäne waren rauhe Burschen, manche galten sogar als streitsüchtig. Er legte die neun Meilen bis zum Hafen zu Pferd zurück. Schon aus der Ferne erkannte er Hauptmann von Rike und seinen Kollegen von der Kaiserlichen Marine, Kapitänleutnant Paschwitz, die mit ihren Schnappschußkameras Bilder schossen. Alle ausländischen Attachés liefen emsig mit ihren Kameras auf und ab und schossen Photos für ihre jeweiligen Regierungen. Der ernsthafteste unter ihnen war vielleicht Major Shiba aus Japan; er trug stets zwei Kameras bei sich und photographierte alles von der Wagenachse bis zum Fahnenmast. Joe band sein Pferd an einem Pflock fest, trat um einen Stapel von Munitionskisten und bestieg über die Treppen ein kleines Beiboot, das ihn über die Bucht zur Percival brachte, wo Kapitän Squires ihn an der Landungsbrücke mit einem Stirnrunzeln erwartete. Kapitän Squires war um die Vierzig und hatte seit Tagen keine Rasierklinge benutzt. Seine Schlaghosen waren schmutzig, sein Unterhemd voller Löcher. Er schob Joe in seine unordentliche Kabine, in der es nach schalem Sperma und süßem Gin roch. »Ich kann nicht behaupten, daß uns Ihr Besuch willkommen wäre,
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General, wir sind hier verdammt unter Druck. Können wir es kurz machen?« »Das liegt ganz bei Ihnen, Kapitän. Ich möchte die unteren Kojenschlafplätze sehen.« Squires fuhr sich mit abgebrochenen Fingernägeln über das bärtige Gesicht. »Warum, stimmt was nicht?« »Ich habe einen unbefriedigenden Bericht über die Unterbringungsmöglichkeiten der Soldaten bekommen. Sie sollen erstens unzureichend und zweitens nicht fertig sein. Außerdem habe ich dem Bericht entnommen, daß sich die Bullaugen nicht öffnen lassen.« »Da läßt sich nichts machen, wir haben das Schiff eben erst streichen lassen.« »Ich möchte mir gern selbst ein Bild machen.« Squires maß Joe von Kopf bis Fuß, während er seine Zunge hinter der Unterlippe hin- und herrollte. »Vielleicht kann mein Erster Offizier Ihnen – « »Sie werden mir die Quartiere zeigen, Kapitän Squires. Und sonst niemand.« Squires ergriff eine Laterne. Hintereinander stapften sie eine Eisentreppe hinunter in einen dunklen Raum. Joe hustete und bedeckte seinen Mund; die Mischung aus Farbgestank und durchdringendem Desinfektionsmittel war stark genug, um ein Maultier zu vergiften. »Halten Sie das Licht hoch.« Squires kam der Aufforderung brummend nach. Das Licht brachte enge vierstöckige Kojen zum Vorschein. Die Kojen waren neu, rauhes, rohes Kiefernholz, schlecht zusammengezimmert. »Die sind ja jämmerlich.« »Na und? Hier schlafen doch ohnehin nur die Nigger.« »Entschuldigen Sie, aber das sind amerikanische Soldaten.« Joe schritt auf dem Mittelgang bis zum Rumpf, wo die Umrisse der runden Bullaugen verschwommen sichtbar waren, gleich einer Reihe von Vollmonden in einer nebligen Nacht. Er versuchte eines davon aufzudrücken, aber es war von innen eingerostet und von außen mit Farbe verklebt. »Kapitän, sorgen Sie dafür, daß die geöffnet werden. Jedes einzelne.« In dem dunklen Mittelgang erinnerte Kapitän Squires an einen schmutzigen Troll in einer Höhle. »Unmöglich. Dafür habe ich keine Zeit, und die Männer auch nicht. Und außerdem steht kein einziges verdammtes Wort über Bullaugen im Vertrag.« Joe drehte sich wieder zum Rumpf zurück. Er knöpfte seinen Rock auf, faßte nach unten, zog seinen Revolver, hob ihn bis in Schulterhöhe hoch, streckte seinen Arm aus, zielte und feuerte drei Schüsse ab. Das Bullauge
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zersprang, die Splitter fielen nach außen. Die Schüsse hallten krachend durch das Unterschiff. Die stark riechenden Pulverschwaden verzogen sich. Draußen funkelte das Sonnenlicht auf den Wellen. Auf Deck hörte man schreiende Männer hin und her rennen. Joe hielt den heißen Revolver vom Körper weg, während er auf Kapitän Squires zuging. »Sehen Sie, Kapitän, ich hab’ eines für Sie geöffnet. Und Sie tun den Rest. Wenn nicht, dann komme ich wieder, und dann unterhalten wir uns noch einmal. Aber die Unterhaltung wird dann nicht allzu angenehm sein.« »Sie alter Klugscheißer, Sie, wenn Sie glauben, daß ich –« Joe fuhr mit seiner linken Hand hinter Squires’ Kopf und stieß ihn nach vorne. Der Lauf seines Revolvers befand sich plötzlich direkt unter dem Kinn des Kapitäns. »Ganz genau das glaube ich, Kapitän Squires, und Sie werden die Anweisung schnell und genauestens befolgen. Zeigen Sie mir jetzt den Weg nach oben, hier unten stinkt es ja zum Himmel.« Joe stand am Heck des kleinen Beiboots, das ihn wieder an Land brachte. Er fühlte sich großartig. Jung, zuversichtlich – überzeugt von sich. Er hatte die Grenzen der Vorschriften gesprengt. Hatte sich in der Tat verhalten wie ein Junge mit scheinbar unbegrenzter Tapferkeit und dem sorglosen Gefühl der eigenen Unsterblichkeit. Der tapfere, ehrgeizige Freiwillige einstiger Tage … bevor er »den Elefanten gesehen hatte«. Er klemmte sich die Mütze unter den Arm, so daß der heiße Wind sein silbergraues Haar zerzausen konnte. Während das Beiboot in Richtung Pier tuckerte, überkam ihn ein weiterer, ebenso zwingender Grund für sein jungenhaftes Verhalten. Er hatte sich entschieden. Morgen abend, Samstagabend, würde er mit Señorita Rivera sprechen.
92 JIMMY Das rötliche Licht des Sonnenuntergangs spiegelte sich auf den Messingkugeln, die an einem einzigen Stiel baumelten. Das bekannte Symbol hing an einem Ende des handgeschriebenen Schilds. I. MELNICK Ankauf – Verkauf – Pfandleihe Mit einer langen, schlanken einheimischen Zigarre zwischen den Fingern
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stand Jimmy mit der Sohle seines linken Schuhs an der Wand eines Geschäftshauses direkt gegenüber. Ein geschniegelter Anwalt in Anzug und Derby verließ sein Büro im Erdgeschoß. Während er die Tür abschloß, warf er Jimmy einen verwunderten Blick zu. Jimmy starrte zurück. Der Mann drehte sich um und entfernte sich mit schnellen Schritten in die andere Richtung. Der Laden auf der anderen Seite der Nassau-Straße war schmal, mit einem einzigen Schaufenster und einem etwas zurückversetzten Eingang direkt daneben. Die Tür war hinter dem Glas vergittert. Jimmy war bereits Anfang der Woche in West Tampa gewesen. Er hatte zuerst den Laden entdeckt, dann das Schmuckstück im Fenster, genau das richtige schicke Geschenk für Honey in Chicago. Eine zarte kleine Halskette aus Gold oder eher vergoldet, deren kurze Glieder mit winzigen roten und grünen Glassteinen besetzt waren. Auf dem Preisschild neben der Kette stand die stattliche Summe von neun Dollars. Ganz schön unverschämt, der Itzig; das Ding war wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte wert. Die Juden waren doch alle gleich. Blutsauger. Er war noch zweimal dagewesen, um die Arbeitsweise des Besitzers auszukundschaften. Sie war immer gleich. Sobald das geschäftige Treiben auf der Straße nachließ, leerte Melnick, ein kleiner, schwacher Mann, sein Schaufenster und ließ die Jalousie herunter. Beim zweiten Mal trug Jimmy ein kurzes Brecheisen unter seinem Mantel. Als Melnick herauskam, bewegte er sich langsam in Richtung des einsamen Gäßchens hinter dem Laden. Die Tür widerstand dem Brecheisen. Jimmy hatte genügend Türen aufgebrochen, um den Grund zu kennen: eine Eisenstange auf der Innenseite, die in zwei Halterungen an beiden Seiten der Tür ruhte. Um hineinzugelangen, hätte er eine riesige Axt gebraucht. Doch die kam wegen des Lärms nicht in Frage. Die Sonne sank tiefer, verfärbte die Wolken, warf rote Strahlen auf die Straße, hüllte aber die verriegelten Läden und Büros in dunkler werdende Schatten. Jimmy schlug auf eine Schnake, die sich auf seinem Hals niedergelassen hatte. Angewidert spuckte er auf den Boden, als er den blutigen Fleck auf seinen Fingern bemerkte, und wischte die Hand an der hellen Stuckwand hinter sich ab. Er hatte diese Stadt mit ihrem Ungeziefer und den hochnäsigen Armeeoffizieren satt. Genauso wie den ganzen stinkenden, klebrigen Süden und seine näselnden Bewohner. Und nicht zuletzt seinen Partner – einfach alles. Er mußte zugeben, daß er in Sachen Geld nicht klagen konnte. Er hatte mehrere kleine Beutezüge durch das Hotel gemacht und war für seinen Wagemut zweimal überaus reichlich belohnt worden. Einen Teil der Beute hatte er in einem ähnlichen Laden
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wie diesem hier versetzt, nur auf der anderen Seite der Stadt, in Ybor City. Mit dem Erlös vergnügte er sich mit Huren, von denen es bereits jede Menge gab, und mit jedem ankommenden Zug wurden es noch mehr. Trotzdem ließen sie sich nicht mit dem schönen, hingebungsvollen katholischen Mädchen in Chicago vergleichen. Wahrscheinlich war er ein Dummkopf, sich in sie zu verlieben, aber er war nicht der erste, dem so etwas passierte. Sobald dieser blödsinnige Krieg vorbei war, würde er das von Miss Honoria Fail bekommen, was er wollte – ohne sie zu heiraten, denn das kam nicht in Frage. In der Zwischenzeit mußte er nur dafür sorgen, daß er mit heiler Haut hier herauskam. Sollte sein dummer und eifriger Partner ruhig sein Leben riskieren, er würde sich den Helden für Chicago aufsparen, Honey die Unschuld rauben und Shadow und seinem miesen Filmgeschäft ein für allemal den Rücken kehren. Es gab schließlich unzählige bessere und schnellere Möglichkeiten, um an Geld zu kommen. Möglichkeiten, bei denen man nicht dauernd Ehrlichkeit beweisen oder zumindest mimen mußte. Mit diesen Möglichkeiten war er groß geworden, und bei diesen wollte er auch bleiben. In der Zwischenzeit, dessen war er sich sicher, würde ihn niemand mehr mit dem Mord an der Dirne in Verbindung bringen. Hastig richtete er sich auf. Auf der anderen Seite beugte sich jetzt der Jude in sein Schaufenster, um die Ausstellungsstücke herauszunehmen. Der Mann war kaum mehr als ein Schatten – er hatte bereits das elektrische Licht ausgeschaltet. Er hielt sich genau an seinen Zeitplan. Er stieg in das Fenster, um die Jalousie herunterzuziehen. In wenigen Sekunden würde er mit seinen Schlüsseln vor der Tür stehen. Jimmy schleuderte seine Zigarre auf die Straße, nahm seinen Strohhut ab, zog sich die geweihte Medaille an der langen Kette über den Kopf und ließ sie in die linke Tasche seines leichten Leinenmantels gleiten. Die Ladentür ging auf. Jimmy war bereits auf dem Weg über die Straße, mit wachsamen Blicken nach links und rechts. Ein paar Betrunkene krakeelten vor einem Wirtshaus einen Block weiter westlich, ansonsten war alles ruhig. Die Sonne, die fast schon am Horizont versunken war, tauchte die Häuserfronten in ein tiefes Rot. Mit dem Rücken zur Straße blickte der Ladenbesitzer hinauf in den dunklen Alkoven. Er hatte Schwierigkeiten mit seinem Schlüssel. Weil er vor sich hin brummte, hörte er nicht, wie Jimmy sich heranschlich. Einen Augenblick lang starrte Jimmy auf das komische gehäkelte Käppchen, das mit Haarnadeln auf dem Kopf des kleinen Mannes befestigt war. Dann klopfte Jimmy ihm auf die Schulter.
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»Entschuldigen Sie.« Der Mann japste und wirbelte herum. Er hatte ein dreieckiges Gesicht und die Augen eines Menschen, der ständig in Mißtrauen und Angst lebte. Er hatte an einer Zimtstange gekaut, ein angenehmer Geruch. »Haben Sie noch auf?« »Sieht das vielleicht so aus? Ich hab’ schon geschlossen, kommen Sie am Sonntag wieder.« »Aber ich hab’ in Ihrem Fenster ein Schmuckstück gesehen, das ich unbedingt für mein Mädchen kaufen muß. Sie hat morgen Geburtstag.« »Geschlossen!« sagte der Mann mit Nachdruck. »Sabbat.« Keine Ahnung, was das sein sollte. »Gehen Sie und kommen Sie Sonntagmorgen wieder, da habe ich wieder geöffnet.« »Tja, zu dumm, daß ich zu spät dran bin«, murmelte Jimmy nachgiebig, während er einen Schritt nach hinten machte. Nervös und ungeschickt steckte Melnick den Schlüssel ins Schlüsselloch. Die Tür war noch immer leicht angelehnt. Wie eine Katze, die auf der Lauer liegt, setzte Jimmy zum Sprung an und schlug seine Hände gleich Krallen in den Rücken des Ladenbesitzers. Der Mann stieß die Tür auf, während er nach drinnen fiel. Jimmy sprang hinter ihm hinein, ließ jedoch die Tür wegen des hereinfallenden Lichts einen Spaltbreit offen. Im Ladeninneren roch es nach Sägemehl auf dem Fußboden, staubigen Tüchern über den Vitrinen. »Bitte, Mister –« Während sich Melnick hochrappelte, streckte er die Hände aus. »Bitte tun Sie mir nichts. Ich habe Ihnen doch nichts getan.« »Ganz richtig, aber ich will etwas von Ihnen.« »Was?« »Eine Halskette, die mit den kleinen roten und grünen Steinen. Sie war im Fenster.« »Sie ist eingeschlossen. Ich hol’ sie, Sie können sie haben, aber bitte tun Sie mir nichts.« »Jetzt werden Sie endlich vernünftig. Aber was ist, wenn Sie sich später doch entschließen sollten zu plaudern?« »Das werde ich nicht, ich schwör’s.« »Also gut, holen Sie sie!« Melnick stolperte durch den dunklen Laden in Richtung der geisterhaft eingehüllten Schachteln. Jimmy bemerkte, wie der Mann den Kopf ganz leicht zum rückwärtigen Teil des Ladens drehte, und ließ vorsichtshalber seine Hand in die Tasche mit der geweihten Medaille an der Kette gleiten. Melnick bewegte sich früher als gedacht, er warf sich fast gegen die hintere Tür.
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»Du miese kleine Ratte«, raunzte Jimmy und riß die Kette aus seiner Tasche. Der fliehende Ladenbesitzer sah über die Schulter zurück und stolperte. Kniend hörte er Jimmy auf sich zukommen und schrie: »Nein!« Jimmy warf die Kette über den Kopf des Mannes, rammte ihm das Knie in den Rücken und zerrte, so fest er nur konnte. »Du hättest nicht versuchen sollen, mich reinzulegen«, stieß Jimmy hervor, während er den Druck auf Knie und Hand verstärkte. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben, hast du gehört?« Der Kopf des Ladenbesitzers sackte nach vorne, sein Körper wurde schlaff und hing in der Kette, von der Blut tropfte; der kleine Mann hörte Jimmy nicht mehr. Jimmy zog noch etwas länger an der Kette, dann ließ er los, so daß der Mann mit einem Plumps zu Boden fiel. Jimmy lächelte. Tief drinnen, das mußte er zugeben, war ihm nicht ganz wohl gewesen bei dem Gedanken, die Halskette zu stehlen und den Juden am Leben zu lassen. Insgeheim war es so gekommen, wie er es sich gewünscht hatte. Das Gefühl der Macht war so berauschend wie Alkohol. Jimmy warf einen kurzen Blick auf die Eingangstür. Alles ruhig. Er ließ den Ladenbesitzer im Sägemehl liegen, während er scharf überlegte. Wie sollte er finden, wonach er suchte? Er biß sich auf die Lippen. Er fand den Lichtschalter, schaltete jedoch das Licht nicht ein. Erst schloß er die Eingangstür ab, schob den Riegel vor und zog die Jalousie herunter. Dann machte er Licht. Melnick bot einen schrecklichen Anblick, seine Augen waren offen, seine Gedärme hatten sich entleert und verbreiteten Gestank. Jimmy arbeitete schnell, riß die Tücher nacheinander von den verschlossenen Vitrinen. Er sah, was er suchte, im dritten Kasten, in der langen, samtenen Schachtel. Er zerriß ein Tuch, wickelte es dann mehrmals wie einen Boxhandschuh um die Hand, hielt den Atem an und schlug mit aller Kraft und abgewandtem Blick zu. Sekunden später befand sich die Schachtel mit der Halskette in seiner Tasche, und der Laden war wieder dunkel. Während er die Eisenstange aus der Halterung hob und den Laden durch den Hinterausgang verließ, verstaute er die geweihte Medaille unter seinem Hemd. In bester Laune machte er sich auf den Weg zum Hotel. Sein laut pochendes Herz beruhigte sich allmählich. Es war sehr viel leichter gewesen, ein zweites Mal zu töten. Und niemand würde ihn mit dem Tod eines billigen jüdischen Pfandleihers in Verbindung bringen, warum auch? Er pfiff den
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neuesten Marsch von Sousa, The Stars And Stripes Forever. Er fühlte sich sicher, viel sicherer als damals in Chicago, nachdem er das Mädchen in den Fluß geworfen hatte. Er zündete sich noch eine Zigarre an und mußte wieder lächeln, wenn er an die gut gelungene Arbeit dachte. Wenn er nur alles Dutch hätte erzählen können, Dutch, der so verdammt klug war. Dutch war der Meinung, daß man sich nur krummlegen und wie ein Esel arbeiten – kurzum ehrlich sein – mußte, um vorn Leben belohnt zu werden. Aber was wußte schon dieser Krautkopf, der noch vor kurzem auf dem Schiff gewesen war? Der Gedanke an Dutch erinnerte ihn an etwas anderes. Sein Partner war Shadows Goldkind, Shadows Liebling. Obwohl Jimmy nicht die Absicht hatte, länger als unbedingt nötig im Filmgeschäft zu bleiben, ärgerte er sich darüber, daß Dutch ihm vorgezogen wurde. Manchmal hätte er am liebsten Dutch seine geweihte Medaille und seine Kette gezeigt. Ihm bewiesen, daß all die Belohnungen, für die er, dumm, wie er war, arbeitete, in einem Atemzug ergattert werden konnten. Na, sei kein Dummkopf, ermahnte er sich, während er durch die feuchte Dunkelheit stapfte, die Tampa eingehüllt hatte und die Häßlichkeit der Stadt verbarg. Kein Grund, verrückt zu spielen. So sehr haßte er Dutch nun auch wieder nicht. So sehr nicht.
93 DUTCH Am gleichen Freitag, an dem Jimmy Daws nach West Tampa fuhr und General Joe Crown der Percival einen Besuch abstattete, kehrte Paul immer noch im Schock über Michaels letzte Enthüllung aus Ybor City zurück. Im Hotel begab er sich schnurstracks in den lauten, überfüllten Ratskeller. Billy Bitzer winkte ihm von einem Tisch aus zu. Er hatte einen Krug Bier und einen Teller mit Würsten und Sauerkraut vor sich stehen. Paul setzte sich zu ihm und stellte ihm Fragen, die ganz beiläufig klingen sollten. »Aber klar«, antwortete Bitzer, »es gibt einen Brigadegeneral namens Crown unter Wheelers Kommando. Er hat mich vor ein paar Tagen vom Lager der Rough Riders verscheucht. Harter Brocken. Joseph E. Cro –« Er wollte eben den Bierkrug ansetzen, als ihm die Erkenntnis dämmerte. »Crown! Seid ihr beiden verwandt?« »Entfernt. Wir sind entfernt verwandt.« »Das klingt so, als seist du nicht gut auf ihn zu sprechen.« »Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?«
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»Wie du willst, Kumpel. Willst du was essen?« »Jetzt nicht. Hab’ keinen Hunger.« Er fand kaum Schlaf in dieser Nacht. In aller Frühe schob er am nächsten Morgen einen Zettel unter Jimmys Tür, um ihn wissen zu lassen, daß sie nicht vor Mittag filmen würden. Er fügte keine Erklärung hinzu. Es war immer noch dunkel, als Paul sich mit einer Zeitung in einem Polstersessel in der Rundhalle niederließ. Er wählte den Platz sorgfältig aus. Er war teilweise verdeckt durch eine Palme im Kübel, und trotzdem konnte er von dort aus die Treppe sowie den Korridor überblicken, der zum Fahrstuhl führte. Niemand, der nicht direkt in das Dunkel sah, in dem er saß, würde ihn bemerken. Um halb sieben kamen drei Offiziere mit dem Fahrstuhl nach unten. Das Gesicht und das Auftreten des älteren Mannes mit dem Stern eines Brigadegenerals waren unverkennbar. Unverkennbar auch die Haltung, der forsche Schritt, das kurze Haar, silberfarben wie Stahl. Paul hob die Zeitung vor sein Gesicht. Seine Hände waren kalt. Als die drei im Speisesaal verschwunden waren, sprang er auf, warf die Zeitung an der Rezeption in einen Papierkorb und rannte fast auf die Veranda. Das Atmen in der feuchten, blassen Dämmerung fiel ihm schwer. Der Himmel im Osten war mit flamingofarbenen Streifen überzogen, der Rasen naß vom Tau. Er fing an zu laufen, ohne darauf zu achten, wohin ihn seine Füße trugen. Was sollte er tun? Das Tampa Bay Hotel war riesig und beherbergte unzählige Gäste und Besucher. Wenn er wachsam blieb, nicht im Speisesaal aß – und ein bißchen Glück hatte –, konnte er seinem Onkel wahrscheinlich aus dem Weg gehen. Oder sollte er seinen Onkel wissen lassen, daß er hier war? Sollte er den ersten Schritt tun zu gegenseitigen Verzeihen, möglicher Versöhnung? Die Stimme der Familie, des Blutes, drängte ihn, ja zu sagen. Aber sein Onkel hatte ihn hinausgeworfen. Wenn er ihn nun ein zweites Mal zurückwies? Er betrat das Hotel durch den Osteingang und nahm die Treppe hinauf in sein Zimmer, das mit der wachsenden Sammlung von Andenken immer kleiner zu werden schien. Durch das Fenster drangen das ferne Schmettern eines Signalhorns und die Geräusche des erwachenden Hotels. Er saß auf der Bettkante. Schloß die Augen und führte die Daumen an die Stirn. Der Druck half ihm beim Denken. Er erinnerte sich an den Schmerz, als er das Haus an der Michigan Avenue verlassen hatte. Dann dachte er an seinen Vetter. Der unbesonnene
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und eigensinnige junge Joe hatte kein anderes Verbrechen begangen, als sich für die Unterdrückten einzusetzen. Er hatte sich leichtsinnigerweise dem Einfluß Bennos ausgesetzt, und es waren Menschen ums Leben gekommen. Aber Joe hätte niemals absichtlich dabei mitgewirkt. Doch sein Vater hatte ihn behandelt, als sei das Gegenteil wahr. Aus diesem Grund hatte Paul seinen Vetter Joe verloren. Auch seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder hatten ihn verloren, weil Onkel Joe unnachgiebig und dumm gewesen war. Und Paul hatte kein Zuhause mehr in Chicago, keinen Platz in Amerika, wo er hingehörte. Er begriff, daß sein Onkel gut zu ihm gewesen war, bis das ganze Unglück seinen Lauf genommen hatte. Paul zollte seinem Onkel in vielerlei Hinsicht echte Bewunderung. Er bewunderte ihn dafür, daß er allein nach Amerika gekommen war, daß er soviel Idealismus besessen hatte, um im großen Krieg für die Befreiung der Neger zu kämpfen, daß er soviel Ehrgeiz besaß, um es danach zu Ruhm und Reichtum zu bringen. Aber Paul konnte nicht verzeihen, was sein Onkel getan hatte, als sie gegensätzlicher Meinung gewesen waren. Mit diesem Gedanken kämpfte er sein starkes Verlangen nach Versöhnung nieder. Verhöhnte es, bis es nachließ. Zu Onkel Joe gehen? … Nein, auf keinen Fall.
94 DER GENERAL Sie saß allein an einem der kleinen weißen Tische. Sie wußte, daß er sie beobachtete, sie beobachtet hatte, während er mehrmals die Tanzfläche umrundet hatte. Die Musik und die Hitze machten ihn ein wenig schwindlig. Wie schön sie war in ihrem enganliegenden weißen Kleid mit den roten Rüschen! Sie wartete auf ihn … Auf ihn. Ein plötzlich aufflackerndes Schuldgefühl nagelte ihn in der Nähe des Haupteingangs fest. Du darfst das nicht tun. Du darfst Ilsa nicht betrügen. Er drängte den Gedanken beiseite. Stärkere Einflüsse – der bevorstehende Krieg, die Entfernung von Chicago, die wiedergefundene eigene Stärke, ihre Schönheit – brachten sein Gewissen zum Verstummen. Er glättete seinen Uniformrock und näherte sich ihr mit schnellen, energischen Schritten. »Guten Abend, Herr General. Geht es Ihnen nicht gut?« Die unerwartete Stimme schreckte ihn auf. Er wirbelte herum. Er hatte
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Major Gilyard nicht bemerkt. Gilyard saß ebenfalls allein an seinem Platz. Seine geweiteten Augen blickten Joe mit einem gewissen Argwohn an. »Doch, Major, es geht mir gut. Warum fragen Sie?« »Ich bitte um Vergebung, Sir, aber Sie sehen blaß aus.« »Ich schlafe in letzter Zeit schlecht, das ist alles. Dieses Hotel mag ja im Winter ganz angenehm sein, aber jetzt ist es in den Zimmern verdammt heiß.« »Dem kann ich nicht widersprechen, Herr General. Ich hoffe, Sie schlafen in Zukunft besser, Sir.« »Das hoffe ich auch. Danke für Ihre Anteilnahme«, murmelte Joe und wandte sich ab. Sie sah ihn kommen. Ihre Augen, dunkelbraun und strahlend, wurden mit jedem Schritt, den er näher kam, noch größer. Am Tisch angekommen, verbeugte er sich wie ein unsicherer zwanzigjähriger Verehrer. Seine Augen hefteten sich eine Sekunde lang auf den wunderschönen Brustansatz im Ausschnitt ihres Kleides. Er spürte, wie er errötete. »Señorita Rivera, ich bin General Joe Crown.« »Guten Abend, Herr General, ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte sie lächelnd. Ihr Englisch war trotz ihres schmeichelhaften Akzents perfekt. Plötzlich schämte er sich wieder; sie konnte höchstens fünfundzwanzig sein. »Möchten Sie sich setzen?« »Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob Sie mir die Ehre erweisen und mit mir tanzen?« »Ich muß leider ablehnen.« »Señorita, bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie beleidigt –« »Nein, das haben Sie nicht. Als ich Havanna letztes Jahr verließ, habe ich geschworen, erst wieder zu tanzen und zu singen, wenn die Revolution die Spanier endgültig aus dem Land getrieben hat.« »Soso. Ein lobenswerter Idealismus.« Wie viele Augen im Saal starrten bereits zu ihnen herüber? Wie viele Münder tratschten bereits? Aber sie war so schön, daß ihm alles gleichgültig war. »Nun dann – würden Sie vielleicht gern einen Spaziergang im Garten machen?« Ihr Lächeln kehrte zurück. Sie hatte einen herrlichen, vollen roten Mund. »Ein wunderbarer Vorschlag.« Beim Aufstehen streifte sie mit ihrem Busen unabsichtlich seinen blauen Ärmel. Er fühlte sich wie ein Planet, der aus seiner Umlaufbahn geschleudert wird und durch das Weltall gleitet. Im Garten legte sie auf einem der dunklen Pfade, auf dem auch andere
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Paare spazierten, ihre Hand auf seinen Arm. »Ich habe bemerkt, daß Ihr Bruder heute abend nicht hier ist.« »General Shafter hat eine Sondersitzung einberufen. Es gibt Probleme mit den aufständischen Truppen. Almovar war bis letzten Monat bei ihnen in den Bergen. Er gehörte dem Stab von General Calixto Garcia an.« Darauf folgte ein Schweigen, das mit zunehmender Dauer immer peinlicher wurde. Mit dem Mut der Verzweiflung sagte Joe: »Ich wollte schon seit Tagen Ihre Bekanntschaft machen, Señorita.« Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend: »Die Ihres Bruders natürlich ebenfalls.« »Natürlich.« Die leise Ironie war kaum herauszuhören. »Sie sagten, Sie sind aus Havanna geflohen –« »Nach einem schrecklichen Familienstreit. Die Riveras leben seit mehr als hundert Jahren in Kuba. Unser Vater importiert Sherry und Wein vom Mutterland. Er glaubt an die Königin und an Weyler – kurz, an die spanische Oberhoheit. Man kann nichts anderes erwarten, er ist Kastilianer und siebzig Jahre alt. Alter, Reichtum und Herkunft sind ein starkes Gebräu. Jeder, der es trinkt, wird fast unweigerlich conservativo. Sind Sie mit dem Wort vertraut?« »Bestens«, antwortete Joe, überrascht über seine eigene Ironie, die ihr verborgen blieb. »Sie und Ihr Vater haben sich also zerstritten?« »Ja. Almovar und ich haben schrecklich mit ihm gestritten. Ober diesen Krieg wie auch über unseren älteren Bruder Ernesto. Ernesto verließ die Universität vor zwei Jahren, um sich den Rebellen anzuschließen. Er starb auf der trocha. Es war ein grauenhafter Tod.« »Ich muß noch einmal um Entschuldigung bitten. Ich kenne das Wort nicht, das Sie gebraucht haben.« »La trocha. Der Pfad. Ein Pfad im Dschungel, eine Art flacher Graben. Vielleicht hundertfünfzig, zweihundert Meter breit und achtzig Kilometer lang. La trocha ist ein Graben, in dem die Rebellen gefangengehalten wurden. Der erste wurde während des Zehnjährigen Krieges von Móron bis hinunter nach Júcara ausgehoben. Eine Zeitlang wurde er nicht benutzt. Als Weyler ins Land kam, ließ er ihn wieder herrichten und dazu einen zweiten ausheben von Mariel, westlich von Havanna an der Nordküste, bis nach Majana im Süden.« Sie fuhr fort und erklärte, daß la trocha nicht einfach ein Graben sei, sondern vielmehr eine befestigte Barrikade. Die Bäume, die während der Aushebung gefällt wurden, habe man auf beiden Seiten aufgeschichtet – »Eine Sperre aus Baumstämmen und Wurzeln, breiter als eine Allee und viel höher, als Sie groß sind, Herr General.« Im Abstand von ungefähr einem Kilometer seien kleine Forts, Blockhäuser und Wachtürme errichtet
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worden, von denen aus der Dschungel beobachtet werden könne. »Überall dort, wo la trocha nicht bemannt ist, wurden Bollwerke aus spitzen Pfählen errichtet und mit Stacheldraht zusammengefügt. Im westlichen trocha hat der Metzger Weyler kleine Artilleriegeschütze und elektrisches Licht installieren lassen. Aber das ist noch nicht alles. Er hat Bomben gelegt, von denen jede einzelne mit einem ganzen Netz von Falldrähten verbunden ist. Ernesto stolperte über einen dieser Drähte, als er la trocha mit einer Nachricht von General Antonio Maceo verlassen wollte. Die Bomben sind so konstruiert, daß das Opfer durch unzählige Eisensplitter zerfetzt wird. Der verwundete Ernesto war ein gefundenes Fressen für los cangrejos – Landkrabben. Sie leben in der Nähe des Wassers und gehen im Dunkeln auf Nahrungssuche. Wenn sie blutiges Fleisch wittern, wagen sie sich sogar ins Licht. Viele sind so groß wie Untertassen, manche sogar so groß.« Im Schein der Verandalichter breiteten sich ihre Hände zu der Größe eines Suppentellers aus. »Grausame Viecher«, fuhr sie fort. »Sie wetzen ihre Scheren, und wenn sie fertig sind, sind nur noch die Knochen übrig. Los cangrejos will niemand begegnen, Herr General, und schon gar nicht, wenn man unfähig ist, sich zu wehren. Sie verzehren das Opfer bei lebendigem Leib. Vorausgesetzt, daß das Opfer hilflos ist. Ernesto war hilflos.« »Mein Gott«, flüsterte Joe. »Das ist ja schrecklich. Wie haben Sie davon erfahren?« »Ein Leutnant ritt kurz nach Sonnenaufgang auf seinem Pferd an der Stelle vorbei. Ernesto war noch nicht tot, aber auch nicht mehr zu retten. Die Landkrabben labten sich immer noch an ihm. Der Leutnant vertrieb sie mit einigen Pistolenschüssen. Dann gab er dem, was von unserem Bruder noch übrig war, den Gnadenschuß. Ernesto trug seine Papiere bei sich. Der Leutnant war anständiger als andere und schrieb an unseren Vater. Ernestos Tod beschwor den Streit mit unserem Vater herauf.« »Wie das?« »Unser Vater behauptete, die Tragödie sei ausschließlich Ernestos Schuld, weil er die Freiheit höher bewertete als sein eigenes Leben. Almovar und ich konnten dem nicht zustimmen. Wir verließen unser Elternhaus am nächsten Morgen.« Estella Riveras Stimme klang bitter. Joe war erschüttert von der Ähnlichkeit der Vorfälle mit denen in seiner eigenen Familie. An einer Wegbiegung, wo das Strauchwerk dicht und hoch wuchs, blieb sie stehen. Die hell erleuchteten Minarette und Zwiebeltürme glänzten im silbernen Licht, aber Joe und das Mädchen waren in Dunkelheit eingetaucht. Estellas weißes Taschentuch leuchtete schwach, als sie es zum
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Mund führte. »Nun, Herr General –« »Bitte nennen Sie mich Joseph, oder Joe.« »Also Joseph. Ich habe genug von meiner Vergangenheit erzählt. Erzählen Sie mir etwas von sich.« Die Dunkelheit und ihr süßlicher Duft, der an Mandeln und tropische Blumen erinnerte, erregten ihn. Mit belegter Stimme sagte er: »Was ich Ihnen erzählen will, ist, daß Sie meiner Meinung nach die hübscheste junge Frau sind, die mir je begegnet ist. Die begehrenswerteste –« Seine linke Hand berührte ihre rechte Schulter, seine rechte umfaßte ungeschickt ihren Busen. Gleichzeitig beugte er sich vor, um sie zu küssen. Sie drehte ihren Kopf, und er küßte nur ihren Mundwinkel. »Bitte nicht, wir müßten uns beide schämen. Sie für den Versuch. Und ich für meine Nachgiebigkeit.« Bestürzt, gedemütigt durch sein törichtes Verhalten – sein Alter kam ihm wieder zu Bewußtsein –, trat Joe zurück. Seine Hände sanken nach unten. Wieder verblüffte sie ihn: »Kommen Sie in mein Zimmer. Dort sind wir allein. Zimmer vierhundertfünfundzwanzig. Kommen Sie in zehn Minuten.« Sie drehte sich schnell um und verschwand in der Dunkelheit. Die Militärkapelle spielte Animal Fair, begleitet vom stürmischen, rhythmischen Klatschen der Umstehenden. Joe stolperte zu einer Bank und sank nieder. Hatte sie ihn abgewiesen oder ermuntert? Er wußte es nicht. Er schlich sich durch den Korridor im vierten Stock und kam sich vor wie ein Dieb. Auf der Haupttreppe hörte er die Stimmen eines Mannes und einer Frau, sie redeten und lachten. Er versteckte sich geschwind in einer Nische, drückte den Rücken flach an die Wand. Die Stimmen wurden leiser, ein Schlüssel drehte sich im Schloß, eine Tür fiel zu. Er spähte durch den Korridor. Leer. Er eilte weiter, fand die Tür. Ein leises Klopfen, und sie machte ihm auf. Sie hatte sich umgezogen und trug einen hochgeschlossenen, dunkelroten Morgenmantel aus Seide. Sie hatte ein Einzelzimmer, kleiner als das seine, aber hübsch eingerichtet und genauso heiß. Sie deutete auf einen Stuhl. »Bitte, Joseph, setzen Sie sich. Möchten Sie vielleicht Ihren Rock ablegen?« Während er seinen schweren Uniformrock auszog, öffnete sie den Schrank. »Ich habe noch eine halbe Flasche ausgezeichneten spanischen Rotwein. Der Rest dessen, was ich von zu Hause mitgebracht habe. Möchten Sie vielleicht probieren?« »Gern, danke. Ich trinke normalerweise Bier, ich braue Bier, müssen Sie wissen – in Chicago –, aber Wein wäre sehr schön.« Sie goß großzügig Wein in ein bauchiges Hotelglas, aber sich selbst
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schenkte sie nichts ein. Sie setzte sich aufs Bett und schlug anmutig die Beine übereinander. Für eine Frau ihres Alters war sie sehr selbstsicher und gelassen. Dazu gebildet, natürlich, betörend schön … »Ich hielt es für das beste, daß wir hier reden.« Trotz ihrer Liebenswürdigkeit setzte sie Grenzen. Die Vertrautheit galt nur für die Unterhaltung. Das Bett war ein Sitzmöbel, nichts weiter. Er begehrte sie gerade deshalb umso mehr. Er nahm einen kleinen Schluck von dem schweren, blumigen Rioja. »Reden? Gewiß, ich möchte gern mehr über Sie wissen. Aber zuerst muß ich Ihnen etwas gestehen. Ich wollte es verheimlichen, aber ich kann es nicht.« Er spielte mit dem Trauring an seiner rechten Hand. »Ich bin verheiratet.« »Das wußte ich bereits, als Sie mich zum erstenmal ansahen. Ich wußte es, noch bevor ich Ihren Ring sah. Aber ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit. Sie bestätigen damit meinen Eindruck, daß Sie ein ehrenhafter Mann sind. Und was wollten Sie mich fragen?« »Ihre Vergangenheit. Havanna –« »Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Erzogen wurde ich anfänglich in einem Kloster, später dann in einer Privatschule.« »Es muß für Sie und Ihren Bruder sehr schwer gewesen sein, Ihre Heimat zu verlassen.« »Nicht unter den gegebenen Umständen. Es war eigentlich ganz leicht.« »Aber Sie haben Ihren Vater zurückgelassen.« »Es war unsere Pflicht, uns der Regierung zu widersetzen. Er wollte sich nicht widersetzen.« »Und wie stehen Sie jetzt zu ihm? Macht ihn die Tatsache, daß er immer noch Loyalist ist, nicht irgendwie zum Verräter?« »An mir und meinem Bruder? Joseph, Joseph, in Ihrem Gesicht steht Weisheit geschrieben, aber ist es nur eine Maske? Blutsbande sind stärker als der reißendste Fluß, immer. Wir haben mit unserem Vater gestritten, Almovar und ich, aber wir haben ihn wegen seiner törichten Einstellung verurteilt und nicht ihn in seiner Person. Nicht ihn in seiner Seele. Man streicht nicht einfach das Wort ›Vater‹ aus seinem Wortschatz oder verneint seinen Einfluß und seine Bedeutung, indem man den Mantel zurückweist, den er zu einer bestimmten Zeit trägt, die Grundsätze, die er vertritt, den Irrtum, in den er sich verrennt. Wir werden zu unserem Vater zurückkehren, sobald der Krieg gewonnen und Kuba frei ist. Zweifellos wird er das neue Regime hassen. Vielleicht wird er sogar Almovar und mich hassen, er ist alt und starrsinnig. Mit Sicherheit werden wir nie seine Gefühle gegenüber Ernesto ändern können. Aber wir lieben ihn trotz allem. Welcher Mensch
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würde ein Elternteil oder einen anderen Verwandten für immer aufgeben, nur weil er die falschen Ansichten vertritt? Irregeleitet ist? Menschliche Fehler begeht?« Joe spürte die Feuchtigkeit zwischen seiner Hand und dem Glas. »Ich.« Sie sagte zunächst gar nichts. »Sie? O Joseph. Erzählen Sie mir, wie es dazu gekommen ist.« »Da ist noch mehr«, stammelte er, die Worte schienen plötzlich nicht mehr aufzuhalten zu sein. »Ich habe noch einen zweiten Menschen aus dem Haus getrieben, meinen Neffen, weil er dem ersten half – meinem Sohn.« »Joseph. Kein Wunder, daß Ihre Augen voller Trauer sind. Ist das der Grund, warum Sie freiwillig in den Krieg ziehen?« »Nein, ganz sicher nicht, ich –« Er räusperte sich. Sein Blick traf den ihren. Mit leiser Stimme sagte er: »Vielleicht. Nachdem es passiert war, nachdem ich beide aus dem Haus getrieben habe, ist die Beziehung zu meiner Frau – sie ist eine gute Frau, müssen Sie wissen –, aber unsere Beziehung –« Seine Kopf sank auf seine Brust. Er ließ die Schultern hängen. Er hob das Weinglas einen Zentimeter hoch; eine winzige Geste. »– hat sich sehr verschlechtert. Vielleicht bin ich deshalb weggelaufen.« Sie stand vom Bett auf und kniete sich neben ihn. Ihr Busen drückte gegen sein Bein, aber diesmal waren keine erotischen Gefühle im Spiel. Sie hob ihre Hand, um über seine feuchte Stirn zu streichen, ihre Finger waren überraschend kühl und trocken. »Die Katholiken gehen regelmäßig zur Beichte. Das lindert den Schmerz und reinigt die Seele, so kommt man zur Ruhe und kann neue Wege finden. Heute höre ich Ihre Beichte, Joseph.« »Ich bin Protestant, Estella.« »Heute abend nicht, nicht bei mir. Warten Sie! Ich sehe noch mehr in diesen wunderbaren Augen. Das erlaube ich nicht. Erzählen Sie mir alles.« Kniend wie ein Bittsteller, drückte sie seine Hand, die merkwürdigerweise zitterte. Dabei fühlte er sich wie der Bittsteller. Sie nahm das Weinglas und stellte es auf den Toilettentisch. »Alles«, sagte sie. Den Rest der Nacht, von Mitternacht bis zum Morgen, verbrachte er auf dem Stuhl mit der hohen Rückenlehne unter der elektrischen Beleuchtung. Er legte seine Krawatte ab, dann Hemd und Unterhemd; saß mit nacktem Oberkörper, die Hosenträger auf den Hüften – merkwürdigerweise wieder, ohne sich zu schämen. Es schien vollkommen natürlich, so dazusitzen und mit ihr zu reden. Vollkommen unverfänglich und sehr beruhigend. Sie nahm einen der Papierfächer zur Hand, die das Hotel zur Verfügung
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stellte. Dann kehrte sie zum Bett zurück und fächelte die Luft zwischen ihnen, um etwas Kühlung zu bekommen. Der langsame Rhythmus des Fächers verführte ihn; lockerte seine Zunge. Der Monolog, der aus Joe hervorsprudelte, handelte von seiner Jugend, von Aalen, Cincinnati und Chicago. Von Ilsa, dem Krieg, dem Ringen und Streben nach Anerkennung und Reichtum. Von seinen Kindern – wie er sie liebte und wie sie sich auflehnten. Selbst die süße Fritzi mit ihrer verrückten Idee, den verruchten Beruf einer Schauspielerin zu ergreifen. Er sprach lange über seinen ältesten Sohn Joe, der sein Zuhause verlassen hatte; und über seinen Neffen Paul, der ihm gefolgt war. »In unserer Familie gelten bestimmte Regeln –« »Sie haben Ihren Sohn aus dem Haus getrieben, weil er gegen Ihre Regeln verstoßen hat?« »Estella, das verstehen Sie nicht. Im Geschäftsleben sind Regeln absolut notwendig.« »Ihre Familie ist doch kein Geschäft. Das Leben ist kein Geschäft.« »Sehen Sie mich bitte nicht so an. Ich bin ein Mensch, ich habe meine eigenen Ansichten und Überzeugungen – feste Überzeugungen.« »Ich nehme an, daß man das gleiche von Ihrem Sohn sagen könnte. Genauso von meinem Vater. Eigentlich von jedem Menschen.« »Sie verwirren mich. Mein Leben, mein ganzes Leben beruht auf Ordnung. Wir Deutschen halten viel von Ordnung. Damit und mit meinen eigenen Händen habe ich es zu Erfolg gebracht. Zu Reichtum –« »Und alles wird gestützt durch diese Regeln, die jeder einhalten muß, wenn er Ihre Liebe nicht verlieren will?« »Hören Sie auf, um Himmels willen, hören Sie auf!« Sie trat wieder neben ihn, strich ihm mit ihren trockenen, kühlen Händen über den feuchten Nacken. Sie goß ihm noch einen Schluck von dem Rioja nach. Er trank, ohne sie anzusehen. Er trank alles aus. Nach wenigen Augenblicken setzte er die Beichte fort. Er sprach von seinem Bedürfnis, sich allen Gefahren zum Trotz wieder in die Dienste der Armee zu stellen, weil er an Amerika und an die gerechte Sache glaubte, aber auch, weil er davon überzeugt war, in Chicago sterben zu müssen, wenn er es nicht täte. Er beschrieb seine Auseinandersetzungen mit Ilsa, die nach dem Weggang von Joe und Paul in immer kürzeren Abständen zu erfolgen schienen. »Sie hat diese radikal eingestellten Freundinnen, und sie fällt auf ihre Ideen herein.« »Die falschen Ideen, wie Sie glauben.« »Ganz genau. Sie begreift es nicht. Sie meint, ich befände mich im
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Unrecht.« »Aha. Eine Frau mit Rückgrat. Eine Frau, die ihre Meinung vertritt. Noch ein Verstoß gegen die Regeln. Ich sehe diese Frau förmlich vor mir. Sie ist nicht unterwürfig. Wenn sie jünger wäre – wenn sie beispielsweise die politischen Ansichten ihres Vaters nicht teilen könnte –, wäre sie höchstwahrscheinlich zu allem möglichen in der Lage. Sie würde vielleicht für eine Zeitlang sogar ins Exil gehen.« Er warf ihr einen wütenden Blick zu. Sie streichelte seine Hand und bat leise: »Erzählen Sie mir den Rest.« Er sprach von dem Mann, der vom Dach stürzte und starb. Von seiner wachsenden Abneigung gegen Ilsa, weil sie ihn dafür verantwortlich machte. Verantwortlich für den Tod, verantwortlich dafür, daß sie ihren Sohn und ihren Neffen verloren hatten. Estella hörte aufmerksam zu, hin und wieder murmelte sie ein Wort, ob in Englisch oder Spanisch, vermochte er nicht zu sagen. Er saß unter den drei elektrischen Glühbirnen und sprach Worte, Gedanken, Gefühle aus, die er noch nie jemandem mitgeteilt hatte. Am Ende sank er erschöpft auf seinem Stuhl in sich zusammen. »Eine außergewöhnliche Geschichte, Joseph. Ich habe viel Schönes herausgehört. Ich glaube, daß Sie jetzt begreifen, sofern Sie es nicht schon vorher begriffen haben, wer dafür verantwortlich ist, daß Ihr Sohn und Ihr Neffe Ihr Haus verlassen haben. Es steht mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Trotzdem werde ich es tun, weil ich es bereits in meiner Kindheit von den Nonnen gelernt habe. Sie waren gute Frauen, auch wenn sie etwas herrschsüchtig waren.« Sie lächelte. »Sie sollten sich mit Ihrer Frau versöhnen, sowie Sie wieder zu Hause sind. Desgleichen mit Ihrem Sohn und Ihrem Neffen.« »Dazu ist es zu spät. Die beiden Jungen sind fort.« »Nein, solange sie nicht tot sind, haben Sie die Möglichkeit zur Versöhnung. Tun Sie ‘s. Ergreifen Sie die Gelegenheit, sonst werden Sie nie wieder ein intakter Mensch sein. Sie werden nur einen neuen Krieg suchen, einen neuen Grund, um Ihre Frau, Ihr Zuhause, Ihren Beruf und nicht zuletzt Ihr Gewissen zu vergessen.« Er starrte auf seine verkrampften Hände. Als er sich im Spiegel ansah, sah er Fehler und Torheiten und verabscheute den Anblick, aber sie zwang ihn, sich ihm zu stellen … die nächtliche Beichte hatte ihn heraufbeschworen. Seine Augen erforschten und bewunderten schweigend ihr Gesicht. Sie legte den Fächer zur Seite, saß nur still auf dem Bett und ließ den prüfenden Blick über sich ergehen. Beide spürten die mächtige, stumme
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Strömung, die zwischen ihnen wogte. Das Wissen um das körperliche Verlangen, das beide verzehrte, das Bewußtsein um ihre Einsamkeit in der Abgeschiedenheit eines Hotelzimmers mitten in der Nacht. Irgendwie, es war ihm unerklärbar, hatte Joe das Gefühl, sie bereits genommen zu haben, sie genau zu kennen. Das war jedoch nicht genug: »Ich möchte dich lieben, Estella. In diesem Bett hier.« »Ich möchte dich auch lieben, Joseph. Aber wir werden es nicht tun.« »Du weist mich zurück?« »Es bricht mir das Herz, ja – heute nacht weise ich dich zurück.« »Und wenn ich nun darauf bestehe?« »Joseph, mach dir nichts vor! Du bist nicht von der Sorte. Außerdem kannst du nicht für alles Regeln aufstellen.« Er bückte sich, um sein Unterhemd aufzuheben, das auf dem Boden neben dem leeren Weinglas lag. »Dann sollte ich jetzt wohl gehen.« »Ja. Es ist fast fünf Uhr.« Nachdem er angezogen war, nahm sie seinen Arm und begleitete ihn zur Tür. Sie berührte ihn mit ihrem Körper, ihr Mund, der immer noch die faszinierende exotische Mischung verschiedener Düfte verströmte, war nur wenige Millimeter von seinem entfernt. »Ich möchte dir, bevor du gehst, ebenfalls etwas beichten. Wenn du nicht verheiratet wärst, würde ich dich jetzt sofort in dieses Bett ziehen. Und dann würde ich dich ganz langsam und lange lieben.« Ihr roter Mund, warm und süß, fand den seinen in einem langen Abschiedskuß. Er meinte, sein Herz müsse zerspringen. »Du bist ein guter Mensch, Joe Crown. Wir werden uns nicht wiedersehen.« Im Korridor tat er ein paar Schritte, dann machte er kehrt, um sie noch einmal zu küssen. Der Schlüssel drehte sich auf der anderen Seite der geschlossenen Tür. Sein blauer Uniformrock schleifte über den Teppich, als er sich langsam entfernte. Am nächsten Morgen überreichte er dem Angestellten an der Rezeption eine Nachricht. »Für Ihren Gast Señorita Rivera.« »Rivera. Rivera.« Der Mann suchte in der Kartei. »Herr General, es tut mir leid, aber die Dame ist abgereist. Nach Key West.« »Hat sie eine Adresse hinterlassen?« »Es tut mir leid, sie hat keine hinterlassen. Aber Sie könnten ihren Bruder fragen.« Aber das würde er nicht tun. Sie hat es gewußt, dachte er traurig und
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dankbar zugleich. Sie hat gewußt, daß wir letzte Nacht beide in Gefahr waren. Sie hat uns vor uns selbst bewahrt und vor lebenslanger Scham. Aber nicht nur davor hatte sie ihn bewahrt.
95 ELSTREE In den dunkelsten Stunden desselben frühen Sonntagmorgens streckte Elstree im Tausende von Meilen entfernten New York in einem Plüschsessel seine Beine aus. Der Sessel gehörte zu den wenigen guten Stücken, die er in diese Wohnung gebracht hatte, nachdem er Rose aus der Achtzehnten Straße herausgeholt und hier untergebracht hatte. Rote und gelbe Reklameschilder auf der Sixth Avenue warfen Schattenmuster auf die Tapeten an der Wand. Er hörte das Rascheln ihrer Taftröcke. Irgendwann einmal war ihm dieses Geräusch sinnlich vorgekommen. Nicht jedoch heute nacht. Und sie konnte sich nicht von bestimmten alten Gewohnheiten trennen. Von billigem Parfüm beispielsweise. Ein abscheulicher Duft. Irgendwo im Norden tutete eine Hochbahnlokomotive auf ihrem Weg in die Stadt. Der Schatten von Roses behandschuhter Hand an der Wand bewegte sich in Richtung Schalter. »Laß bitte das Licht aus. Du hast dafür gesorgt, daß ich diese gräßlichen Kopfschmerzen habe.« »Das – das tut mir leid. Das tut mir schrecklich leid. Was soll ich denn tun?« Ihre Stimme klang trotzig und weinerlich zugleich. »Rose, bitte halt für eine Weile den Mund, und laß mich nachdenken!« »Wieso glaubst du eigentlich, daß du mich so herumkommandieren kannst?« Ihre Stimme war jetzt schwächer als ihre Worte. Sie ließ sich auf das quietschende Bett sinken. Streifte ihre Lederhandschuhe ab, dann ihren Huf, einen kleinen Strohhut mit künstlichen Veilchen, einer Satinschleife, einem fleckigen Schleier. Neben ihr lag eine dieser neumodischen flachen Handtaschen. Sie wollte immer schick aussehen, und es gelang ihr nie, weil man ihr als Kind keinen Geschmack beigebracht hatte, den man wie Anmut und Grazie unbewußt durchs Leben trägt. Julie hatte Geschmack. Alle, mit denen er verkehrte, hatten ihn. De rigueur. Unerläßlich. Man mußte sich nur seine Kleidung ansehen, die er für einen Anlaß, der nicht einmal wirklich offiziell zu nennen war, gewählt hatte. Lacklederschuhe mit Knöpfen im sommerlichen Halbschuhstil. Leinengaloschen und an der Seite gemusterte Socken. Mitternachtsblaues Abendjackett mit passender Seidenfliege, weiße Pikeeweste. Alles
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konservativ, elegant und teuer. Sie waren in einer Droschke von einem späten Abendessen bei Delmonico zurückgekehrt. Rose trat wieder bei Tony Pastor in der Vierzehnten Straße auf, auf den Plakaten stand ihr Name in der dritten Reihe von oben. »Rose French, die internationale Soubrette.« Aber er hatte sie zu oft gesehen, und irgendwann hatte er angefangen, ihre drittklassige Stimme zu hassen. Ihr Aussehen hatte ihn eine Zeitlang bezirzt, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie ihre billigen Reize ihn so lange hatten betören können. Letztendlich erklärte er es damit, daß er eine Schwäche hatte für Frauen, die ihm in jeder Hinsicht, ausgenommen einer, weit unterlegen waren. Die Ausnahme war das sexuelle Verlangen; das ihre war unersättlich. Die Hochbahn ratterte vorbei, ihre Lichter rasten über Wände und Decke. Elstree spürte plötzlich ein Häufchen Asche in seinem Haar. Er streckte die Hand aus und warf das Fenster zu. »Du meine Güte, diese Wohnung ist ein einziges Drecksloch.« »Wer hat sie denn gemietet? Ich nicht, Billy.« »Verdammt noch mal, du sollst mich nicht Billy nennen.« Er klopfte mit dem Ende seines Spazierstocks auf den Boden. Der Stock war nach der neuesten Mode aus feinstem Malakkarohr und hatte einen schweren, gekrümmten Griff. Mit einem vorsichtigen Blick in seine Richtung knöpfte sie ihren halblangen Spitzenumhang auf und legte ihn zur Seite. Elstree fuhr mit Daumen und Zeigefinger am Spazierstock auf und ab. »Laß uns über die kleine Überraschung reden, die du mir heute beschert hast, Rose. Wie kann ich wissen, daß es von mir ist?« »Das weißt du verdammt gut, ich bin mit niemandem sonst zusammengewesen – mit niemandem. Und manchmal bist du nicht allzu vorsichtig.« Der Spazierstock fuhr in die Luft und verharrte dort wie ein anklagender Zeigefinger. »Wir. Ich bin nicht allein schuld. Wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann.« »Hör mir zu, du Bastard. Hier gibt es genügend Schuld. Du brauchst nur die Hand auf meinen Bauch zu legen.« »Das ist ja widerlich.« Er war wütend. Er wollte einen Erben, aber nicht von einem Flittchen. Er mußte sich beherrschen, um das Frauenzimmer nicht auf der Stelle zu erwürgen, um sie nicht zu bestrafen für diese abscheuliche Geschichte, die sie ihm voller Ironie aufgetischt hatte. Rose schmollte. »Bevor wir ficken, hast du doch auch nichts gegen’s Anfassen. Ich sag’ dir eins, Bill, das ist kein Scherz. Ich weiß es, weil ich
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das Ganze schon einmal durchgemacht hab’.« »Ach so? Wer war’s, etwa dieser schmierige Heini namens Dresser?« »Nein, der nicht, aber das ist auch egal. Und red bitte nicht abfällig über meine Freunde.« Elstree seufzte. »Tja, überraschen dürfte mich das eigentlich nicht. Bevor ich dir zum ersten Mal Blumen in die Garderobe schickte, habe ich geahnt, daß du nicht das jungfräuliche Mädchen vom Theater bist. Aber gerade das hab’ ich ja so geschätzt – eine gewisse erprobte Qualität. Dein Repertoire an speziellen Künsten, viel interessanter als dein Repertoire an Liedern.« Er sang ein paar Zeilen aus Maryland, My Maryland in der falschen Tonart. »Du bist grausam.« Er lachte und strich sich übers Haar. Im Licht der Leuchtreklamen funkelte ein Stein an seinem Finger. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du einmal gesagt, daß du das ab und zu ganz gern hast.« »Ich hab’ viel gesagt, irgendwann, und du auch.« Elstree klopfte wieder mit dem Spazierstock auf den Boden. In der Wohnung unter ihnen beschwerte sich jemand mit lauter Stimme. »Also gut, was willst du?« »Ich will Hilfe. Deinetwegen habe ich diesen Schlamassel am Hals. Ich muß meine Karriere eine Zeitlang an den Nagel hängen.« »Deine Karriere. Deswegen wird niemand eine Träne vergießen, am allerwenigsten das Publikum. Ich übernehme die Kosten, um es loszuwerden. Und keinen Pfennig mehr.« »Und was ist – wenn ich es nicht loswerden will?« Mit belehrender Stimme antwortete er: »Wenn ich der Vater bin, dann entscheide ich. Und ich will das Balg nicht haben.« Rose stürmte zum Fenster und wieder zurück zum Bett. »Bill, ich kann es nicht machen. Das erste Mal war’s ein normaler Abgang, nach sieben Wochen. Aber ich hatte bereits einen dieser Kurpfuscher mit den dreckigen Fingernägeln. Hab’ ihn dann Gott sei Dank nicht gebraucht. Letztes Jahr dann ist eine Freundin, eine Tänzerin bei Tony, in dieses Haus im Moor bei Throgs Neck gefahren, um eins wegmachen zu lassen. Sie ist verblutet.« Aufgeregt rieb sie sich die Hände. »Ich hab’ Angst. Ich will nicht.« Elstree nahm sich eine kleine Zigarre und zündete sich an seinem Schuh ein Streichholz an. Im flackernden Licht wirkte sein Gesicht ruhig; vollkommen normal, ausgenommen das Monokel in seinem rechten Auge. Es war wie ein schwarzes Loch in seinem Schädel, eine offene Tür, hinter der das Feuer wütete. Er blies das Streichholz aus. Das Feuer erlosch. Wütend und verärgert zündete er sich im letzten Moment die Zigarre
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nicht an. Er warf das schwarze Streichholz auf einen Vorleger in der Nähe seines Sessels. »Du und deine Freundin habt euch höchstwahrscheinlich die falschen Männer ausgesucht.« »Egal, ich tu’s nicht. Ich werde das Kind austragen, und ich will fünftausend – nein, zehntausend –, bis ich meine Figur und meine Karriere wieder im Griff habe.« »Auf dem Rücken liegen und die Beine breit machen, das ist deine wahre Karriere, Rose. Das ist die Karriere, für die alle Frauen bestimmt sind.« »Ich bin ja schon einigen fiesen Typen begegnet, aber du bist der schlimmste.« Elstree stand auf und holte aus seiner Hosentasche einen Geldklipp aus Silber mit einem kleinen Diamanten. In dem Klipp steckten nur Einhundertdollarscheine. Er ließ zwei davon aufs Bett fallen. »Das ist für die Auslagen. Laß es wegmachen und mach weiter wie bisher, und komm nie wieder in meine Nähe.« »Und damit, meinst du, ist es getan? Du meinst, du kannst mich so einfach loswerden?« »Ich möchte gern im guten auseinandergehen, aber das liegt ganz bei dir.« »Bill, du kannst vielleicht mit Huren und feinen Damen so umspringen, aber nicht mit mir. Ich mach’ dir die Hölle heiß.« Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Das würde ich an deiner Stelle lieber bleiben lassen.« »Zum Teufel mit dir, nichts lass’ ich bleiben! Ich nehm’ mir einen Anwalt und gehe an die Öffentlichkeit und zerre deinen Namen in den Schmutz. Ich fahre bis nach Long Island und statte deiner keuschen kleinen Frau einen Besuch ab und –« Er machte einen Satz auf sie zu, drückte ihre rechte Hand mit seiner linken nach unten, während er auf sie einschlug. Sein Ring riß ihre Wange auf. Er drückte sein Knie auf sie und schlug wieder zu. Und noch einmal, und noch einmal… Irgendwann hielt er inne. Blut rann über ihre Wangen und floß aus ihrer Nase. Zwei untere Zähne wackelten. Es mißfiel ihm, daß er sie auf diese Weise hatte zurichten müssen, das Ganze war ekelig und ärgerlich, ohne den kleinsten Nervenkitzel. Aber irgendwie trieben ihn die Frauen am Ende einer Beziehung immer dazu. Sie rollte hin und her, weinte und stöhnte leise. Er nahm seinen Stock und seinen Hut und schaltete das Deckenlicht an. Im Spiegel sah er, daß sein feiner weißer Schal, ein hübsches Stück aus chinesischer Seide, mit
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ihrem Blut bekleckert war. Der Schal war ruiniert. Wütend zerrte er ihn vom Hals und rieb sich damit die Hände ab. Erst als er wieder halbwegs präsentabel aussah, ließ er den Schal auf den Teppich fallen. Er warf einen Blick auf Rose, die mit rotz- und blutverschmiertem Gesicht auf dem Bett lag und jede seiner Bewegungen mit haßerfüllten Augen verfolgte. Sie lag auf der Seite gleich einem Kind, das sich zusammenrollt aus Angst vor den Schlägen gewalttätiger Eltern. Was war er bloß für ein Dummkopf gewesen, sich überhaupt mit ihr einzulassen! Trotz allem rührte ihn ihr Anblick und erweckte eine Art Mitleid in ihm. Er zog noch einmal den diamantbesetzten Geldklipp aus der Tasche und ließ einen weiteren Schein neben die beiden ersten fallen. Sie preßte die Lippen zusammen auf eine Art, die an eine in die Enge gedrängte, verängstigte Katze erinnerte. »Das war’s dann also, Rose. Und versuch nicht, noch einmal in meine Nähe zu kommen.« Er drehte sich auf dem Absatz um, hob seinen Spazierstock hoch und drückte mit der Spitze auf den Lichtschalter. Mit raschen Schritten eilte er die beiden Stockwerke hinunter auf die Sixth Avenue, die um diese frühe Stunde verlassen vor ihm lag. Aus den Löchern der Schachtdeckel unter den Gleisen der Hochbahn stieg Dampf hinauf zu den Leuchtreklameschildern. Vor einem Abfallkorb blieb er stehen, zog den Wohnungsschlüssel aus der Tasche und ließ ihn hineinfallen. Mit dem Spazierstock auf der Schulter schlenderte er weiter. Ein großer Karren, beladen mit duftenden Krautköpfen, rollte an ihm vorbei. Er winkte und rief dem Fahrer einen Gruß zu. An einer Straßenecke sah er das schwache Morgengrauen über den Häuserreihen am East River. Er mußte eine Droschke auftreiben, die ihn zum Club brachte. Frühstück wurde ab halb sieben serviert. Er schmeckte bereits das Omelett auf der Zunge, dazu ein kleines gegrilltes Steak, kroß gebratene Kartoffeln, einen doppelten Frühschoppen. Er würde es genießen, genauso wie er den Spaziergang durch die kühle morgendliche Brise genoß. Obwohl sich der Himmel im Osten bereits langsam rötete, lagen die Straßen in Nordsüdrichtung noch im Dunkeln. Er begann zu pfeifen. Plötzlich fiel ihm ein, welche Melodie er pfiff. Flowers That Bloom In The Spring, Tra-la. Eine von Roses Nummern. Wie passend. Pfeifend schlenderte er weiter, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte.
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96 JOE JUNIOR Sie aßen schweigend und wenig am Sonntagabend. Nicht weil das Essen nicht gut oder reichlich gewesen wäre. Ehling Sieberson, der verkrüppelte Schindelmacher, seine verwitwete Tochter Anna und deren Sohn Thorvold hatten genügend Fleisch auf den Knochen; Anna war eine gute Köchin. Joe junior hatte in den zwei Monaten, seit er auf dem Dachboden des kleinen Hauses auf Rucker Hill in Everett wohnte, genügend Gelegenheit gehabt, dies festzustellen. Unterkunft und Verpflegung bekam er im Austausch für die Arbeiten im und um das Haus, die man nur erledigen konnte, wenn man noch alle zehn Finger hatte. Heute abend gab es Salzhering und dünne Scheiben des einheimischen geräucherten Lachses, dazu Kartoffelpuffer und dampfende Pastinaken sowie Annas knuspriges flatbrød, Preßkopf, Kardamomplätzchen, starken Kaffee und den nach Kümmel schmeckenden Aquavit. Alle tranken den starken Kaffee außer Ehling, der dafür den Aquavit hinunterkippte, als wäre er Quellwasser. Die Stimmung war düster und der Appetit schwächer als sonst, denn Joe junior, sein Freund Julius Rahn und mehrere andere würden am Morgen in die Schindelfabrik gehen, dem Geschäftsführer, Mr. Grover, eine kurze Liste mit Forderungen übergeben, die Fabrik wieder verlassen und Streikposten aufstellen, bis entweder die Forderungen erfüllt waren oder sie im Gefängnis saßen. Was sie vorhatten, war gefährlich. Und aus diesem Grund wurde auch nicht gesprochen, bis der zehnjährige Thorvold davon anfing. Thorvold, genannt Thor, war ein kräftiger Junge mit so strahlendblauen Augen, daß man ihn für Joes Sohn hätte halten können. »Wann wollt ihr morgen früh aufbrechen?« fragte Thor. Joe junior legte seine Gabel auf den Tisch und strich sich mit nachdenklicher Miene über den Bart. »Tja, zur normalen Zeit, nehme ich an. Halb sieben. Julius muß bald kommen, um alles zu besprechen.« »Kann ich euch begleiten und zuschauen?« »Das kannst du nicht, iß jetzt«, antwortete seine Mutter barsch. Anna Sieberson, sieben Jahre älter als Joe junior, hatte die helle Haut und die blauen Augen der Norweger. Sie hatte einen vollen Busen, starke Arme, einen kleinen Mund mit dünnen Lippen, die das ansonsten hübsche Gesicht verschandelten. Aber die dünnen Lippen taten der Wärme dieses Mundes keinen Abbruch, wie Joe bald festgestellt hatte. Wenn Ehling in guter Stimmung war, was selten vorkam, verglich er
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seine Tochter mit den robusten und schönen Rhododendren, die die Hänge um das Haus herum überwucherten. »Nur kräftige Pflanzen können hier überleben. Der Nebel, die Feuchtigkeit, der stürmische Wind – die Rhododendren widerstehen allem. Anna ist wie sie.« Annas Mann, Lars Prestrude, war ebenfalls Schindelmacher gewesen; er hatte für die Smiley Shingle Company gearbeitet, eine von mehreren Fabriken unten am Wasser. Eines Abends vor zwei Jahren war er kurz vor dem Zubettgehen in seinem Stuhl zusammengebrochen; Herzversagen. Anna nahm, nachdem sie Lars mit den fünf Dollars beerdigt hatte, die Grover von der Fabrik geschickt hatte, ihren Mädchennamen wieder an. Wenn Lars in der Folge eines Arbeitsunfalls gestorben wäre, hätte Grover keinen Cent geschickt, nicht einmal einen Beileidsgruß. Die selbstschützende Argumentation der Fabrikbesitzer lautete, daß die leiseste Hilfe oder Anerkennung für die Familie eines Mannes, der in der Folge eines Arbeitsunfalls gestorben war, einem Eingeständnis ihrer Verantwortung gleichgekommen wäre. Und genau dies wollten die Bosse der Holz- und Schindelindustrie mit allen Mitteln verhindern. Und genau dies war auch ein Grund für den geplanten Streik. Anna und Joe tauschten jetzt am Tisch einen Blick. In seinem Blick lag Zuneigung, in ihrem ein Flehen. Sie sagte ihm immer wieder, daß sie ihn liebte, und er wußte, daß sie sich wünschte, er möge ihr einen Heiratsantrag machen. Aber trotz der Gefühle für sie konnte er es nicht tun, obwohl ein Teil seiner Selbst sich gern mit ihr niedergelassen hätte, gern ihre Güte und die Leidenschaft genossen hätte, die er seit der ersten Nacht, in der sie sich auf seine Pritsche auf dem Dachboden geschlichen hatte, kannte. Ehling war so gut wie taub und hörte deshalb das Quietschen der Sprungfedern in jener Nacht nicht, genauso wenig wie in den folgenden Nächten. Aber wenn er sich mit Anna niederließ, würde das bedeuten, daß er sich den Bossen unterwarf, ihnen und dem, was sie verkörperten, was sie ihren Arbeitern antaten – oder nicht für sie taten wie im Fall der Schindelmacher. Damit hätte er sein Gewissen verraten und seine innere Überzeugung, die nach außen hin bedauerlicherweise viel zu oft nur im Versagen endete. Trotzdem durfte er nicht aufgeben. Thor gab sich mit der Antwort seiner Mutter nicht zufrieden. Er wandte sich noch einmal an Joe junior. »Wird es morgen Ärger geben, was meinst du? Polizei?« »Julius ist überzeugt, daß wir uns spätestens um die Mittagszeit auf den Polizeichef und seine Männer gefaßt machen müssen«, antwortete Joe junior. »Später werden dann wahrscheinlich ein paar von den Schlägertypen aus dem Saloon auftauchen, die Grover immer anheuert, wenn er jemandem
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das Maul stopfen will.« »Männer wie die haben auch Daniel Ivars auf dem Gewissen«, warf Anna ein. »Ich hab’ dir doch gesagt, was sie mit ihm gemacht haben.« »Ärger«, stieß Annas Vater mit einem Schnauben hervor. »Natürlich wird es Ärger geben. Ich habe schon immer gesagt, daß das Schindelmachen kein Beruf ist, sondern eine Schlacht.« Ehling Sieberson war dreiundfünfzig und hatte große, runde Schultern. Er wirkte gut zehn Jahre älter, als er war. Sein Gesicht war von der teigigen Blässe, die Joe junior immer mit Schindelmachern in Verbindung brachte; sie war das Abzeichen ihrer gefährlichen Tätigkeit. Das und ihre Hände. An der linken Hand hatte Ehling bis auf den Daumen keine Finger, nur Stummel an den Fingergelenken. Von seiner rechten Hand waren ihm der Daumen, der Zeigefinger und drei Stummel geblieben. Ehling Sieberson war ein verbitterter und geschlagener Mann, nicht mehr in der Lage, sein Gewerbe auszuüben. Er lebte nur deswegen in bescheidenem Wohlstand, weil sein verstorbener Schwiegersohn Prestrude eine kleine Erbschaft von einem Onkel aus Wisconsin erhalten hatte. Ehlings Äußerung brachte wieder alle am Tisch zum Verstummen; der Rest der Mahlzeit wurde fast schweigend eingenommen. Als Ehling fertig war, nahm er sein Aquavitglas und machte sich auf den Weg zu seinem Sessel im Wohnzimmer. Wenn man ihm zusah, hätte man meinen können, er habe sein Glas sein ganzes Leben lang zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten. Mit ärgerlicher Stimme schickte Anna Thor zu seinen Schulbüchern. Joe sagte: »Ich helfe dir beim Abwasch.« Sie drehte ihm den Rücken zu. »Geh nach draußen und rauch deine Pfeife! Genieß den schönen Abend!« Aber plötzlich wirbelte sie herum. »Wir könnten so glücklich zusammen sein. Und du willst alles wegwerfen.« »Anna –« Als er sie berührte, wich sie zurück. »Glaub bitte nicht, daß ich dich nicht gern habe. Aber ich muß morgen gehen. Ich kann die anderen nicht im Stich lassen.« »Du und dein verdammtes Gewissen«, antwortete sie barsch. »Geh nach draußen, Joey, laß mich allein.« Als er hinausging, stand sie mit den Händen in der Waschschüssel am Tisch; das Sonnenlicht, das durch das kleine Fenster fiel, ließ die Tränen auf ihren runden Wangen glitzern. Everett im Staate Washington war eine wachsende Gemeinde; über sechstausend Einwohner, die meisten direkt in der Holzindustrie beschäftigt oder in anderer Weise davon abhängig. Es gab neun Schindelmühlen,
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sieben Sägemühlen und eine Papiermühle. Die Stadt verfügte über Elektrizität und Telephonanschluß; der Strom war noch nicht bis zum Hügel verlegt worden, und ein Telephon konnten sich die Siebersons nicht leisten. Auf zwei Dinge konnte man sich in Everett immer verlassen, auf die westlichen Winde und auf das Brummen und Greinen der Sägen in den Mühlen, in denen die Nachtschicht angebrochen war. Das Haus der Siebersons war klein, makellos sauber und das einzige weit und breit auf Rucker Hill überhalb der Stadt. Es war vorstellbar, daß sich irgendwann die Reicheren wegen der Aussicht hier ihre Häuser bauen würden. Aber gegenwärtig war das einzige weitere Gebäude eine jämmerliche Hütte eine Viertelmeile vom Haus entfernt. Trotz seiner einsamen Lage war das Haus hübsch, Wände und Dach waren mit verschiedenartigen Schindeln bedeckt, die zum Teil aus der Smiley Shingle Company stammten, deren große, brummende Fabrik drunten am Wasser Joe junior mühelos erkennen konnte. Anna Sieberson war diejenige gewesen, die die kahlen Seiten der Hügel ansehnlich gemacht hatte. Sie hatte Geißbart gepflanzt, der jetzt weiß blühte, sorgfältig Beete voller Rhododendron angelegt; ihre rosafarbenen und weißen Blütenkelche entfalteten sich nun in ihrer vollen Frühlingspracht. Dort, wo die Straße vom unteren Hügel am Haus vorbeiführte, hatte die Familie einen Ahornbaum gepflanzt. Im Frühling leuchteten seine Blätter rot. Joe junior lehnte am Geländer der Veranda mit Blick auf die Rhododendronbeete, die Stadt, Port Gardner Bay an der Budget-Meerenge und auf Whidbey Island, wo vor dem Pazifischen Ozean die Olympischen Berge in den Himmel ragten. Dieser Ort ist viel zu schön für soviel Neid und Schmerz, dachte er. Das gleiche wie im Land der Weizenfarmen und Orangenhaine. Pullman vor einem Hintergrund, der auch des größten Landschaftsmalers würdig gewesen wäre. Es war ein klarer, kühler vorsommerlicher Abend. Je tiefer die Sonne sank, desto rauher wurde die Luft, und im schwindenden Licht verwandelte sich das Schiefergrau des Wassers in Indigoblau. Drei Fischerboote fuhren nach Norden, Richtung Heimat. Ein Schlepper tuckerte südwärts, hinter sich zwei riesige Flöße aus Pfahlwerk. Die kostbare Fracht – neues Bauholz – war hoch aufgeschichtet und mit Ketten befestigt. Joe junior liebte die besondere Schönheit dieser Küste jeden Tag mehr. Wenn er morgens aufwachte, konnte er von einem kleinen runden Fenster auf der Ostseite des Dachbodens die schneebedeckten Spitzen der Bergkette sehen, die langsame Verwandlung der Tannen- und Kiefernwälder auf den nahe gelegenen Berghängen beobachten – wie aus der blauschwarzen
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Färbung der Nacht die leuchtendgrüne des Tages wurde. In der Nähe der sumpfigen Stellen am Ufer, dort, wo das Seegras wuchs, war das plätschernde Wasser oftmals weinrot. Während eines sonntäglichen Ausfluges hatte ihm Thor ein Stück einer verästelten roten Alge gezeigt, die von den Einheimischen Seerose genannt wurde. Thor behauptete, es gäbe sie nur hier. Er fand auch Gefallen an den verschiedenen Düften dieses Ortes. Salz und Tang, teeriges Kreosot an den Pfählen im Wasser am Hafen, frisch gehauenes Holz, Rauch aus den Mühlen, in denen Sägemehl und Späne verbrannt wurden. Fast dreißig Meilen südlich von Everett lag Seattle. An einem sonnigen Tag im April hatte Joe junior seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag dort verbracht. Er hatte mehrere Stunden darauf verwandt, von einem Pier die Schlepperkapitäne zu beobachten, die ihre Holzflöße zu einem Eisenbahnverladeplatz manövrieren mußten. Er mochte Seattle nicht; wegen der Goldfunde am Yukon im letzten Jahr glich es einem Irrenhaus. Jeden Tag spuckten die Züge der NorthernPacific-Eisenbahngesellschaft noch mehr Neuankömmlinge aus, obwohl die Straßen ohnehin schon überfüllt waren. Es gab keine Zimmer, weder billige noch teure. Jeder löchrige Kahn an der pazifischen Küste wurde als schnelles, luxuriöses Schiff nach Alaska angepriesen. Die Preise stiegen höher als der Mond. In Seattle stieß man, wie fast überall im Westen, auf viel Zustimmung für den Krieg gegen Spanien; auf so viel sogar, daß Joe dazu übergegangen war, die Küste nach den Befürwortern des Kriegs Jingo-Küste zu nennen. Das Kriegsfieber griff um sich, obwohl immer mehr Menschen der Populist Party beitraten; 1896 hatte sich Washington für Bryan und freies Silber entschieden, obwohl natürlich die Holzbarone geschäumt und getobt und gegen den »Populisten« gewettert hatten, als wäre er der Satan in Person. Joe hatte all dies von seinem Freund Julius Rahn erfahren, einem zweiunddreißigjährigen Schindelmacher, der bisher nur die Spitze seines linken kleinen Fingers verloren hatte. Abgestoßen von der Habgier und dem Radau in Seattle und ohne Verlangen, in den schneebedeckten Bergpässen auf der Suche nach dem Gold Alaskas sein Leben zu riskieren, war Joe weitergezogen bis nach Everett, der Hauptstadt von Snohomish County. Die Stadt war vor ungefähr dreißig Jahren gegründet worden, und Julius Rahn meinte, John D. Rockefeller besäße Aktien an der Grundstücks- und Immobiliengesellschaft der ersten Stunde; im Stadtzentrum gab es eine Straße namens Rockefeller. Joe stopfte seine Pfeife, zündete sie an und zog den süßen Tabak mit
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Rumaroma in den Mund. Obwohl er sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatte, ohne Kontakt mit seiner Familie zu leben, vermißte er sie. Zu lange war es schon her, daß er seiner Mutter zuletzt ein kleines Päckchen geschickt hatte, er durfte nicht mehr länger warten. Thor hatte die beste Idee gehabt: ein eichelförmiger, funkelnder Goldklumpen, den es in Andenkengeschäften zu kaufen gab. Es handelte sich um Eisenkies, Narrengold, aber es war hübsch anzusehen. Er dachte an seine Schwester und ihre Schauspielerei. An den stämmigen kleinen Carl, dessen tollpatschige Unbeholfenheit ihm im nachhinein noch ein Lächeln entlockte. Carl war sicher längst nicht mehr klein. Und an seinen Vetter Pauli; wo er wohl war? War er noch in Amerika oder längst wieder in Deutschland, vielleicht enttäuscht wie so viele andere Einwanderer? Es hätte ihn nicht überrascht. Manchmal vermißte Joe sogar seinen Vater. Wie eben jetzt. Während seiner Wanderschaft hatte er festgestellt, daß Joe Crown im Vergleich zu anderen Arbeitgebern gar kein solches Scheusal war. Tatsächlich sogar großzügiger und gerechter gegenüber seinen Arbeitern als die meisten. Er fragte sich, ob er, sollte er seinen Vater jemals wiedersehen, den Mut haben würde, zuzugeben, daß die vielen unschönen Dinge, die er in der Vergangenheit gesagt hatte, falsch waren. Joe junior war nicht der Meinung, daß man sich vom Feind verletzen oder gar töten lassen sollte, aber genausowenig glaubte er noch an die Nützlichkeit von Dynamit, die Rechtmäßigkeit der »Propaganda der Tat«. Nun, es war im Grunde, angesichts der gegenwärtigen Umstände, eine unnützige Überlegung. In weniger als zwölf Stunden würde die Sonne aufgehen, und dann stünde er mit den anderen Schindelmachern unten vor der Fabrik. Vielleicht machten ihn die vorgefundene Habgier und Unterdrückung gerade deshalb so traurig, weil dieser Teil von Amerika so klar und rein war. Das Muster war bekannt. Zum Besitz der Fabrikbesitzer gehörten auch Bürgermeister und Stadträte, des weiteren Gouverneure, Abgeordnete und Richter. Die Fabrikbesitzer besserten die Gehälter von Sheriffs und Hilfssheriffs auf, die ihre Anordnungen ausführten. Sie beherrschten die Presse und die Kirchen. Sie verteidigten ihr Recht, in ihrem eigenen Interesse Vereinigungen zu gründen, aber sie verweigerten den Arbeitern das Recht, sich zur Verteidigung der ihren zusammenzuschließen. Er hatte inzwischen viel von seinem Land gesehen, hatte viele Amerikaner kennengelernt. Meistens waren die Armen gut, mit Ausnahme der wenigen, die sich außerhalb der Gesellschaft bewegten und aus Wut und
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Verzweiflung stahlen und töteten. Und die Reichen schlecht, weil ihre größte Sorge darin bestand, ihre Unternehmen, ihre Bankkonten, ihren Besitz zu sichern – immer mit dem gleichen Ergebnis für die Arbeiter. Ihnen wurde der Lohn gekürzt. Sie wurden in den firmeneigenen Läden übers Ohr gehauen. Sie wurden entlassen, wenn sie aufmuckten; ins Gefängnis geworfen, verprügelt oder verkrüppelt, wenn sie versuchten, sich zu organisieren. Die Arbeiter hier draußen hatten von Gene Debs gehört; er war ein angesehener Anführer und Sozialist. Aber sein Motto des friedlichen Protests und der Verhandlungen stieß hier nicht auf Gegenliebe. »Die Schindelmacherei ist ein gottverdammt gefährliches Gewerbe«, hatte Julius Rahn erklärt, als sie die morgige Aktion geplant hatten. »Man kann nicht nachgeben und zehn Stunden täglich an der Säge stehen. Uns fehlt die Geduld, um uns an den Tisch zu setzen und uns wochenlang nur das Maul fusselig zu reden. Was hat denn schon ein dummer Arbeiter davon? Gar nichts. Schnell und hart zuschlagen, so lautet unser Motto hier.« Und so beschlossen sie Fehde anstatt Rede. Die Holzküste war vor wenig mehr als zehn Jahren für eine kurze Zeit von Arbeiterunruhen erfaßt worden, berichtete Julius ein andermal. Die Knights of Labor – die Knechte der Arbeit –, die große, 1869 gegründete Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, alle Arbeiter in Amerika in einer einzigen großen Bruderschaft zu vereinen, war Mitte des Jahrhunderts im Nordwesten aktiv geworden. Eines der Ziele der Knights hatte darin bestanden, die tägliche Arbeitszeit von zwölf auf zehn Stunden zu reduzieren. Man hatte sich auf eine blutige Auseinandersetzung gefaßt gemacht. Zum Erstaunen und zum großen Ärger anderer Fabrikbesitzer ging jedoch ein angesehener Holzindustrieller namens Cyrus Walker von der Puget Mill Company fast sofort auf die Forderung nach einem Zehnstundentag ein und verhinderte auf diese Weise einen langen, zermürbenden Streik. In weniger als einem Jahr, nach einigen kleinen und relativ friedlichen Streiks in anderen Fabriken, gab die ganze Vereinigung der Pacific Slope-Werke auf und führte den Zehnstundentag ein. Nachdem die Washington State Knights diese Schlacht gewonnen hatten, fochten sie eine Reihe von internen Machtkämpfen aus und verschwanden wieder von der Bildfläche. Mit Beginn der Depression 1893 blieben Aufträge aus, wurden Fabriken geschlossen, gingen Arbeitsplätze verloren; bald arbeiteten Männer für jeden Lohn. In den letzten Jahren jedoch hatte sich die Holzindustrie wieder erholt. Arbeit war reichlich vorhanden.
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Aber die Arbeitsbedingungen wurden keineswegs besser. Joe junior stellte dies fest, als er sich auf eine Zeitungsannonce bewarb und von der Smiley Shingle Company als Springer mit einem Lohn von einem Dollar fünf Cents pro Zehnstundentag eingestellt wurde. Das bedeutete bei sechs Tagen Arbeit in der Woche den großartigen Monatslohn von fünfundzwanzig Dollars und zwanzig Cents. Selbst ein gelernter Schindelmacher wie Julius bekam nur einen Dollar vierzig pro Tag, etwas mehr als dreißig Dollars im Monat. Eine der Forderungen, die am Morgen gestellt werden sollte, war eine Erhöhung des Tagesarbeitslohns um zehn Cents. Zum anderen die vorherige Ankündigung von Entlassungen, die bisher fristlos ausgesprochen wurden, sobald die Aufträge zurückgingen. Der Geschäftsführer Abel Grover, der Joe junior einstellte, erwähnte Entlassung mit keinem Wort. Er sprach nur von einem Dollar fünf Cents pro Tag, als handle es sich dabei um den Schatz der Nibelungen. Der rauhe, tiefreligiöse Grover hatte eine kleine Lektion parat, die er jedem Neuen erteilte. »Ich werde Ihnen sagen, welche Art von Mann wir hier gerne sehen. Einen ernsthaften, sparsamen, fleißigen Mann. Einen vernünftigen Mann, der einsieht, daß wir versuchen, die Arbeitsbedingungen in dem Maße zu verbessern, in dem es unser Rechnungsabschluß zuläßt. Aber wir wollen hier keine Gewerkschaftler – Taugenichtse der übelsten Sorte, die nichts anderes im Sinn haben als die Zerstörung der Fabriken und des Kapitals.« Grover beantwortete Joe juniors einzige Frage – ja, es gebe einen Mr. Smiley; James Lincoln Smiley II. Er wohnte weit weg in San Francisco wie viele andere Holzbarone auch. Smiley besaß ein hochherrschaftliches Haus in Nob Hill. Er stattete seiner Fabrik ein- bis zweimal jährlich einen Besuch ab. Später erfuhr Joe, daß Smiley jedesmal, wenn er mit seiner Jacht die Küste entlangsegelte und in Everett vor Anker ging, nur mit Grover und den Abteilungsleitern zusammentraf, aber niemals mit den Arbeitern. Julius Rahn hatte Smiley in zehn Jahren oft gesehen, jedoch nie ein Wort mit ihm gewechselt. »Das überrascht mich nicht«, meinte Julius, kurz nachdem er und Joe junior einander zum erstenmal begegneten. »Hier wird vom ›Preis der Arbeit‹ geredet, genauso, wie man vom ›Preis der Schindeln‹ und vom ›Preis der Ochsen‹ redet. Wir sind keine Menschen, wir sind Dinge, die man kauft und wieder verkauft, wenn, wann und wie es Mr. Smiley und all den anderen seiner Sorte beliebt.« Joe junior war mit einem Besen losgeschickt worden; seine Hauptaufgabe bestand darin, die unglaublichen Mengen von Zedernsägemehl, die täglich
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anfielen, zusammenzukehren und zu den Brennöfen zu befördern. Was er sah, vor allen Dingen im oberen Stockwerk, wo die Schindelmacher arbeiteten, spottete jeder Beschreibung. Als er das erste Mal nach oben ging und zunächst sprachlos und mit offenem Mund inmitten des herumwirbelnden Sägemehls und der kreischenden Stahlsägen stand, meinte er, versehentlich in eine Folterkammer geraten zu sein, die von Barbaren erfunden worden war. Jeder Schindelmacher saß vor einem Paar rotierender Kreissägen, die in einen Metalltisch eingelassen waren. Aus einer Schachtvorrichtung schossen große Zedernklötze auf die linke Seite des Tisches. Der Mann schob den Klotz mit der linken Hand gegen die linke Säge, deren Zähne eine unbearbeitete Schindel absägten. In einigen Fabriken lag laut Julius das Soll pro Minute bei fünfzig Schindeln. Bei Smiley waren es fünfundfünfzig. Aufseher, die ständig die Runde machten und zählten, sorgten dafür, daß das Soll erfüllt wurde. In dem Augenblick, in dem das Holzbrettchen vom Klotz abgetrennt war, faßte der Mann über das linke Sägeblatt, um es festzuhalten. Er tat dies blind, ohne hinzusehen, denn zur gleichen Zeit führte seine rechte Hand das zuvor abgesägte Holzbrettchen an der rechten Säge entlang, um es zu glätten und eventuell Astlöcher auszuschneiden. Nach Beendigung dieses Vorgangs warf er das fertige Holzbrettchen in einen zweiten Schacht auf der rechten Seite seines Tisches. Die Schindel schoß ein Stockwerk tiefer in die Verpackungsabteilung. Die Hände des Schindelmachers flogen über und um die Sägeblätter, jede Hand führte ihre Arbeit aus, fünfundfünfzig Mal pro Minute. Der Mann arbeitete ständig in einer riesigen Holzstaubwolke, die ihm von den Sägeblättern entgegenkam. Zum Schutz hatte er nichts als einen wassergetränkten Schwamm, der, an einem Gummi befestigt, seine Nasenlöcher bedeckte. »Wenn die Sägeblätter dich nicht erwischen«, meinte Julius Rahn, »dann ist es das Zedernasthma.« An seinem vierten Arbeitstag hörte Joe, während er im unteren Stock fegte, einen gellenden Schrei im oberen Stockwerk. Nur ganz wenige Packer blickten überhaupt von ihrer Arbeit auf. Joe sah eine blutgetränkte Schindel durch den Schacht kommen und dann die beiden vorderen Glieder eines Zeigefingers, die eine blutige Spur hinterließen. Einer der Packer griff nach dem Finger, warf ihn in Joes Abfallkarren und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. War ein Schindelmacher bereits so verkrüppelt, daß er nicht mehr arbeiten konnte, wurde er ohne jedwede Entschädigung einfach entlassen. Und wenn
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er infolge eines Unfalls in der Fabrik starb, weigerte sich die Fabrikleitung, den Tod als Arbeitsunfall anzuerkennen, ebenso wie sie sich weigerte, die Witwe des Verstorbenen in irgendeiner Weise zu unterstützen. Von Anna und Julius wußte Joe, daß die Fabrikbesitzer, hätten sie anders gehandelt, eine Mitverantwortung eingestanden hätten. Die Position der Besitzer war klar und einfach. Jeder Mann, der den Beruf eines Schindelmachers ergriff, tat dies im vollen Bewußtsein der damit verbundenen Risiken. Und dies war der Hauptgrund für den Streik am Morgen; ebenso wie die anderen Schindelfabrikanten weigerte sich auch Smiley, auch nur die kleinste Verantwortung zu übernehmen, falls ein Mann durch einen Unfall lebenslänglich verkrüppelt war. Während Joe seine Pfeife zum zweitenmal stopfte, hörte er, wie Thor Anna eine Frage zu seinen Hausaufgaben stellte. Sie antwortete mit einer für sie ungewöhnlichen Schroffheit. Er bemerkte ein weißes Flackern auf der Straße, die sich um Rucker Hill wand. Julius Rahn hatte gesagt, daß sein Haar im ersten Jahr in der Fabrik weiß geworden war. Julius kam die Verandatreppe hinauf und stellte sich neben ihn ans Geländer. »Wie geht’s, Joey?« »Nicht schlecht. Und dir?« »Es ist schlimmer da unten, als wir dachten. Matilda ist ganz schön aus dem Häuschen. Sie heult wahrscheinlich immer noch.« »Was meinst du mit schlimmer?« Julius Rahn machte die oberen Knöpfe seines schwarz-rot karierten Wollmantels zu. Joe wäre hineingegangen, um sich eine Jacke zu holen, aber Julius war zu aufgeregt. »Um drei Uhr heute nachmittag ist Abel Grover zu uns nach Haus gekommen.« »Aber warum, um Himmels willen?« »Um uns von unserem morgigen Vorhaben abzubringen.« »Aber woher weiß er davon, Julie?« »Verdammt, glaub bloß nicht, daß er nicht genügend Spione auf unserem Stockwerk hat. Grover hat mir zweihundert Dollars geboten. Ich hab’ sie nicht genommen, obwohl ich das Geld verdammt gut gebrauchen könnte.« Er klang traurig. »Aber warum sollte der Geschäftsführer versuchen –?« Julius unterbrach ihn. »Sagt dir der Name Weyerhäuser was?« »Den Namen hab’ ich schon gehört. Deutscher Einwanderer, wie mein Vater. Wichtiger Mann im Holzgeschäft im mittleren Westen, stimmt’s?« »Wichtig? Im Holzgeschäft ist Fred Weyerhäuser, was der alte Carnegie in der Stahlbranche und Rockefeller im Ölhandel ist. Seit Monaten hör’ ich
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schon, daß er hier rumschnüffelt. Bisher ist er nur in St. Paul, aber jetzt will er expandieren, und da gibt’s nur zwei Möglichkeiten, entweder den Süden oder den Nordwesten. Es heißt, daß er die Hitze haßt und die Niggerauspeitscherei und die Rückständigkeit des Südens, und deshalb geht er nicht dorthin. Und noch was. Es gibt da ein neues Unternehmen in der Stadt, die Coast Lumber Company. Ich glaub’, daß Weyerhäuser dahintersteckt. Es heißt, daß sie auf der Suche nach verkäuflichen Schindelfabriken sind. Die Bell-Nelson-Fabrik ist eine davon. Unsere auch.« In Julius Rahns blassen grauen Augen stand der blanke Zorn, als er jetzt Joe ansah. »Grover hat heute nachmittag eine Menge großer Worte in den Mund genommen. Als er weg war, hab’ ich mir das, was ich mir merken konnte, aufgeschrieben. Hab’ gedacht, daß es alle hören sollten, bevor wir streiken.« Julius zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche und fing an vorzulesen; wegen des schwächer werdenden Lichts mußte er sich zusätzlich anstrengen. »Grover hat gesagt, Mr. Smiley wolle um jeden Preis den Anschein von Harmonie wahren« – er neigte das Papier und kniff die Augen zusammen –, »weil alles andere auf jeden Fall einen negativen Eindruck bei jedem möglichen Käufer hinterlassen könnte. ›Deshalb werden wir jeden Unruhestifter doppelt hart bestrafen. Das ist eine Warnung an alle.‹« Joe junior hörte, wie Anna nach Luft schnappte. Er drehte sich um. In dem schwach erleuchteten Rechteck der halboffenen Tür war jedoch niemand zu sehen. Vorsichtig steckte Julius Rahn das Papier zurück in seine Tasche. »So lautet die Botschaft, Joey. ›Das ist eine Warnung an alle.‹ Ich suche jeden einzelnen auf, jeden von uns.« Es klang eindrucksvoll; sie waren, einschließlich Julius, nur zu zehnt. »Was ich sagen will, ist, du mußt nicht mitmachen. Du mußt morgen früh nicht dort sein. Ich möchte nicht, daß irgend jemand zu Schaden kommt.« Joe juniors Magen rumorte. »Danke dir, Julie. Aber ich werde dort sein.« »Hab’ gehofft, daß du das sagen würdest. Wenn wir nicht zusammenhalten, werden wir für immer unten bleiben. Tja, ich muß jetzt weiter, der nächste ist Erickson.« Er zog eine Mütze aus seiner Tasche und setzte sie sich auf das weiße Haar. »Kalter Wind, was? Die verdammten Westwinde lassen nie nach. Genau wie die Bosse.« Er sprach, ohne zu lächeln. Joe junior legte die Hand auf die Schulter seines Freundes. »Mach dir keine Sorgen.«
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»Ich mach mir keine Sorgen, ich doch nicht. Also dann bis morgen früh.« »Bis morgen früh. Versuch ein bißchen zu schlafen, he?« Die Antwort war das Geräusch seiner Schritte auf der Holztreppe. Am Ende drehte er sich noch einmal um und rief: »Ach, was ich vergessen hab’. Wir treffen uns zur verabredeten Zeit.« »Zur verabredeten Zeit.« Joe junior winkte. Julius war bald im Dunkel verschwunden, das jetzt die Straße einhüllte. Joe ging hinein und machte wegen der Kälte die Tür fest zu. Die Gaslampen waren heruntergedreht. Ehling war bereits zu Bett gegangen. Die Küche war aufgeräumt. Es war so still, daß er den schwachen Wind draußen hören konnte. Mit schweren Schritten stieg er die schmale Treppe hinauf. Kein Licht war unter Annas geschlossener Schlafzimmertür zu sehen. Sie war nicht in ihrem Zimmer, sie war auf dem Dachboden, in seinem schmalen Bett, unter einem Federbett und einer Wolldecke, nackt. Sie drehte den Messingschlüssel im Schloß und löschte die Öllampe, die er zum Lesen benutzte. Kein Wort wurde gesprochen, bevor sie sich liebten. Anna hatte kräftige, starke Beine, die jetzt seine Taille umklammerten. Sie hielt ihn mit einer Kraft und Beharrlichkeit fest, die er noch nie gespürt hatte. Sie biß ihm in die Lippen und bäumte sich in schneller werdendem Rhythmus auf, wie um ihm zu zeigen, was er mit seiner Entscheidung, mit den anderen zu gehen, wegwarf. Ihr hellblondes Haar war gelöst und verfing sich zwischen den Mündern, während sie sich küßten. Salzige Tränen bedeckten ihr Gesicht, als er ihre Augen küßte. Ihr Höhepunkt war anhaltend und wurde von geräuschvollen Lauten begleitet, wie er sie noch nie von ihr vernommen hatte, als verspüre sie einen süßen Schmerz. Während ihre Körper abkühlten und sie sich aneinanderkuschelten – er umfing sie mit seinem kräftigen Arm, und ihr Kopf lag in seiner Halsmulde –, machte sie noch einen letzten Versuch, ihn umzustimmen, genau wie Abel Grover bei Julius: »Joey, ich liebe dich, geh morgen früh nicht hin! Ich hab’ dir doch von Daniel Ivars erzählt, einem der Anführer beim letzten Streikversuch. Sie haben ihn geschlagen und mit Füßen getreten, dann haben sie ihn über ein Sägeblatt gehoben und ihn runtergelassen. Sie wußten genau, wie man’s macht, daß es am meisten weh tut. Blutend und schreiend lag er für den Rest des Tages dort, niemand hat gewagt, die Arbeit niederzulegen und ihm zu helfen oder einen Arzt zu holen. Grover hat’s verboten, kein Arzt durfte ohne seine Erlaubnis den Fuß auf das Fabrikgelände setzen. Daniel Ivars ist verblutet, ungefähr um vier Uhr
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nachmittags war er tot. Seine Witwe hat, wie alle anderen auch, keinen Cent von der Company bekommen.« Ihre Hände liebkosten sein Gesicht, jede Berührung ein weiteres Flehen: »Sie sind imstande und machen das gleiche mit dir. Bitte geh nicht.« »Ich muß, Anna. Ich muß gehen.« »O mein Gott, ich liebe dich so, du verrückter, dummer Mann.« Sie lag neben ihm bis ungefähr um drei Uhr in der Früh. Beide schliefen unruhig; bei jeder Gelegenheit hielt sie ihn fest und drückte ihn an sich. Sie war eine gute Frau. Er wünschte, er könnte sie so lieben, wie ein Mann seine Ehefrau lieben sollte. Aber er liebte seine Arbeit mehr. Seine Arbeit brauchte ihn mehr, das war vielleicht die bessere Formulierung. Sie stahl sich noch im Dunkeln aus seinem Bett, damit der alte Ehling und der junge Thor nichts von ihrem moralischen Ausrutscher erfuhren – als ob sie es nicht ohnehin schon längst vermuteten. Um Viertel nach sechs verließ er mit seiner warmen wollenen Mütze und seinem grün-schwarz karierten Mantel leise das Haus. Er stieg die Verandatreppe hinunter zu dem Ahornbaum. Dort atmete er tief ein, bevor er auf die Straße trat. Die Sonne versteckte sich noch hinter den Bergen. Aber es war hell genug, um die Umrisse der Stadt zu erkennen. Es war hell genug, um den Weg hinunter zur Smiley Shingle Company zu finden.
97 DUTCH Am letzten Montag im Mai, am dreißigsten, gab es im Hotel nur ein Gesprächsthema: der jüdische Pfandleiher, der ermordet in seinem Laden aufgefunden worden war. Die Polizei ermittelte. Die Tampa Times vermutete den Täter in der »Spieler- und Saloonszene, die der Armee in unsere Stadt gefolgt ist wie die biblischen Seuchen in alter Zeit. Es ist aber auch möglich, daß der Schuldige in der Armee zu suchen ist, vornehmlich unter den aggressiven farbigen Männern«. Am späten Morgen holte Paul den faulenzenden Jimmy aus dem Hotel und überquerte erneut mit zwei Filmrollen in einem Holzkasten den Fluß. Er fürchtete, daß der Oberst den größten Teil des Materials langweilig finden könnte. Aufgenommen hatte er die bereits vertrauten Szenen: Soldaten beim Exerzieren, beim Ballspielen, beim Aufschlagen der Zelte und Wegschaffen der Abfallbehälter. Der Rest bestand hauptsächlich aus Landschaftsaufnahmen. Segelboote in der Bucht. Palmen, die sich in der
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Meeresbrise wiegten. Ein paar einheimische Schönheiten, die in züchtigen Badekostümen, die vom Knöchel bis zum Hals jedes Fleckchen Haut bedeckten, gar nicht so schön waren, wie sie am Strand Ball spielten und ausgelassen herumtollten. Es gab nur eine Passage, die Paul ungewöhnlich und aufregend fand – die Vorführung einer der vier Schnellfeuerrevolverkanonen, die in Kuba zum Einsatz kommen sollten. Mehrere Kriegsberichterstatter waren zum Strand gekommen, um der Vorführung beizuwohnen, darunter Sylvanus Peterman, der humorlose Nationalist, den Crane »the worst of Hearst« – den Schlimmsten aus Hearsts Truppe – getauft hatte. Crane selbst erschien wenige Minuten später, mit unverschämtem und gleichzeitig schläfrigem Blick, in Jeans und einem verschwitzten Hemd aus roter Seide. Er grüßte Paul mit der Lebhaftigkeit eines Krankenhauspatienten. Billy Bitzer baute seine Kamera nur wenige Meter von Paul und Jimmy entfernt auf, William Paley und sein Assistent in gleichem Abstand auf der anderen Seite. Bitzer, ohne Hemd, winkte und lächelte Paul zur Begrüßung zu. Paley nahm keine Notiz von seinen Kollegen. Er trug einen schwarzen Anzug, der einem Leichenbestatter alle Ehre gemacht hätte. Der Schweiß tropfte von seinem hageren Gesicht. Da Davis als einziger Journalist noch nicht anwesend war, war Michael Radcliffe der König der Eleganz. Trotz der fast dreißig Grad sah Michael in seinem makellosen weißen Leinenanzug, seiner lebhaft gestreiften Krawatte und seinem weißen Filzhomburg wunderbar kühl aus. Seinen Spazierstock mit dem Knauf hatte er unter den Arm geklemmt. Michael schüttelte zuerst Pauls Hand und dann Jimmys, nachdem Paul ihn vorgestellt hatte. »Tadelloser Anzug«, sagte Jimmy mit einem Grinsen. »Bestimmt ganz schön teuer, oder?« »Teuer genug.« Michael fand Jimmy, wie Paul bemerkte, auf den ersten Blick unsympathisch. Während die jungen Männer ihre Kameras fertigmachten, wurde die Revolverkanone von Artilleriegäulen auf den Platz gezogen. Am Rohr der Kanone waren eine Kurbel und eine runde Scheibe mit zehn Läufen befestigt. Kurbel, Visiere und Ladevorrichtung wurden zum einen durch ein Eisenschild über der Lafette geschützt und zum anderen durch eine kleinere Zündlochkappe auf der Unterseite. »So etwas schon mal gesehen?« fragte Michael. Sie verneinten. »Die Kanone wurde von Mr. Lincolns Mitarbeitern während des amerikanischen Bürgerkriegs entwickelt. Aber wir kennen ja die Kriegsministerien. Sie operieren mit Schneckengeschwindigkeit. Brauchen nur ungefähr hundert Jahre, um zu entscheiden, ob eine Waffe brauchbar ist und eingesetzt
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werden soll.« Jimmy trat ein paar Schritte zur Seite, um das Stativ der Luxograph zu sichern. Michael sprach weiter auf seinen verbleibenden Zuhörer ein. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, daß ich im Prater in Wien für elektrische Stromschläge bezahlt habe? Daß ich an diesem Tag die Apokalypse in meinen Händen spürte? Als ich diese Kanone zum erstenmal sah, ging es mir ähnlich. Die Wissenschaft verspricht ergebenst, im nächsten Jahrhundert das Füllhorn der Menschheit zu füllen, aber soll ich dir verraten, was sie wirklich tut? Sie öffnet die Pforten zur Hölle.« Mit einem unheilvollen Lächeln schlenderte er in Richtung eines schattigen Plätzchens davon. Unteroffiziere führten die Pferde fort, banden die Protze am Schwanzstück der Kanone los und brachten sie dann in Position, so daß das Rohr ziemlich genau parallel zur Küstenlinie nach Norden gerichtet war. Das Ziel war eine Kokosnußpalme direkt über der Flutlinie. Die Palme neigte sich im schrägen Winkel zum Wasser, die Palmwedel berührten fast die heranrollenden Wellen. Die Journalisten und drei Kameramänner hatten sich in einem Halbkreis hinter der Kanone aufgestellt. Ein junger Oberleutnant der Infanterie trat vor die Gruppe. »Meine Herren, darf ich mich vorstellen. Oberleutnant John Henry Parker, 13. Infanterie. General Shafter hat mir das Kommando über den Einsatz des Geschützes in Kuba erteilt, wahrscheinlich weil ich Gelegenheit hatte, mir entsprechende Kenntnisse in West Point anzueignen.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe und lächelte mißbilligend. »Es sind mehrere Veränderungen an der Kanone vorgenommen worden, seit sie der Arzt R.J. Gatling 1862 erfunden hat. Dieses Exemplar hier stammt aus dem Jahr 1895, das neueste also. Solange sich die Kurbel dreht, die Ladevorrichtung voll geladen ist und keine Ladehemmung auftritt, kann ununterbrochen geschossen werden. Empfohlen werden sechshundert Schuß pro Minute, obwohl das Geschütz noch mehr leisten kann.« Jimmy ließ einen langen, zweitönigen Pfiff vernehmen. »Die Munitionszuführung ist vom Typ Bruce. Während der Vorführung werden Sie sehen, daß die Geschosse direkt aus der Kiste in die Ladevorrichtung gelangen. Ich sollte dazu noch auf das Fadenkreuzvisier auf der linken Seite der Mündung aufmerksam machen sowie auf das Positionsgewinde, das es den Kanonieren erlaubt, die Höhe und Richtung der Geschosse genau zu bestimmen. Die Herren mit den Kameras können jetzt anfangen zu drehen, wir sind bereit.« Paul kurbelte bereits. Paley hatte Schwierigkeiten, und die Vorführung
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wurde um fünf Minuten verschoben. Bitzer zündete sich eine Zigarette an. Paul nahm einen Zigarrenstummel aus seiner Hemdtasche und paffte daran, bis Paley verkündete, daß auch er soweit war. Oberleutnant Parker rief seinen Männern Befehle zu, die daraufhin plötzlich in Bewegung gerieten, die Kistenabdeckungen abrissen, den Inhalt herauszerrten, an der Kurbel drehten. Die Läufe, die durch den Schild ragten, fingen an, sich zu drehen und zu rattern. Das Geräusch war nervtötend; ein betäubendes Brrr, das Paul kalte Schauer über den Rücken jagte. Die Öffnung im Schild war eben groß genug, daß die Kanone circa fünfzehn Grad nach links und rechts geschwenkt werden konnte. Wahrend die Läufe rotierten, durchlöcherten die Patronengeschosse den Stamm der Palme von links nach rechts, von rechts nach links, vorn und hinten, so daß Rindenstücke und Holzsplitter in alle Himmelsrichtungen flogen. Es schien, als wären nur wenige Sekunden vergangen, bevor Parker »Feuer einstellen!« schrie und das tödliche Rattern der Kanone verstummte. Eine Stille brach über die Zuschauer herein, die nur vom Gurgeln des Wassers unterbrochen wurde. Dann ertönte ein Krächzen und Krachen, als die Palme mit einem lauten Platscher ins blaue Wasser stürzte. Der Stamm war in ungefähr einem Meter Höhe von den Kugeln durchsiebt worden. Der zersplitterte Stumpf rauchte. Jimmy, der hinter Paul stand, sagte: »Bei Gott, wenn das kein Anblick ist! Ein einziger Mann könnte damit einen ganzen Trupp niedermähen.« »Meine Herren, wir sind am Ende der Vorführung angekommen«, verkündete Oberleutnant Parker. »Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.« Paul sah nach, wieviel er bereits gedreht hatte, dann drückte er den Deckel auf die Linse. Michael kam auf ihn zugeschlendert, schwang seinen Spazierstock. »Da haben wir’s also – die Zukunft. Ab sofort ziehen nicht mehr nur nette Burschen in den Krieg, denen ihre Mütter gute Umgangsformen beigebracht haben.« Paul stimmte ihm zu. Er hatte noch nie etwas derartig Zerstörerisches aus der Nähe gesehen. Sylvanus Peterman rannte den Strand entlang, stieß einen anderen Journalisten zur Seite und kauerte sich neben die gefällte Palme. Als er über den zersplitterten Stumpf strich, glänzten seine Augen vor Aufregung. Jimmy trat von hinten auf ihn zu, ebenfalls voller Bewunderung über die Zerstörung, die das Geschütz vollbracht hatte. »Zwei blutrünstige Kotzbrocken, Peterman und dein Freund«, bemerkte Michael. »Jim ist mein Gehilfe. Als meinen Freund würde ich ihn nicht bezeichnen.«
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Am Bahnhof füllte Paul wieder Papiere für eine Nachnahmesendung nach Chicago aus. Als er das Gebäude verließ, kletterte Paley vom EdenMuseum mit einer Schachtel von einem Wagen, die der seinen sehr ähnlich sah. Paul grüßte. Paley erwiderte seinen Gruß nicht, sondern warf ihm nur einen feindseligen Blick zu, bevor er hineineilte. Eine vertraute Begierde stieg in Paul auf. Er konnte ihr nachgeben, indem er im Gemischtwarenladen in Ybor City anrief und nach Luisa fragte. In der Hoffnung, die Spannung damit etwas zu lindern, entschied er sich trotz der Hitze zu einem Spaziergang. In der Franklin-Straße stieß er mit Dick Davis zusammen, der aus dem wohlbekannten und teuren Maas-Brothers-Wäschegeschäft heraustrat. Trotz des Wetters war Davis makellos gekleidet – er trug einen dunkelblauen Rock und graue Reithosen, die in glänzenden schwarzen, kniehohen Stiefeln steckten. Sein grauer, weicher Filzhut war mit einem weißen Nackenschutz versehen. Eine Feldstecherhülle hing an seiner rechten Schulter. In der Hand hielt er eine Schachtel, die in glänzendes Geschenkpapier eingewickelt war. Er war auf dem Weg zu einer vornehmen Gesellschaft, vermutete Paul. Davis nahm sich dennoch die Zeit, kurz stehenzubleiben und zu lächeln. »Hallo, Dutch. Wie lebt es sich in dieser vermaledeiten Stadt?« »Schlecht, Mr. Davis.« »Das geht uns allen so. Schlimmste Stadt überhaupt. Orangenbäume, Sandfliegen und heruntergekommene Häuser in einem Meer von Sand. Die Einheimischen werden den Artikel, den ich ihnen widme, bestimmt nicht mögen.« »Gibt’s was Neues über die Einschiffung?« »Nichts. Wie geht’s mit dem Filmen?« »Mit Tampa bin ich fertig. Jetzt warte ich auf Kuba.« »So wie wir alle. Machen Sie’s gut.« Er sprang in eine bereitstehende Kutsche. Der schwarze Kutscher schwang seine lange Peitsche über das Pferd, und das Gespann rollte davon. Das Spesenkonto des berühmten R.H.D. mußte in der Tat unerschöpflich sein. Paul spazierte ziellos durch die Straßen. Bald bog er in die Pierce-Straße ein und schlenderte auf der schattigen Seite in Richtung Norden. Dort war es kein bißchen kühler. Von einem der vielen Straßenverkäufer, die mit ihren Eimern am Straßenrand standen, kaufte er einen Blechbecher voll Limonade. Sie schmeckte wie süße, heiße Suppe. Lieber Gott, wann würden sie Tampa endlich verlassen? Nach fünf oder zehn Straßen bog er nach Osten ab, und schon bald befand
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er sich in einem ziemlich heruntergekommenen Stadtteil. Nun spazierte er über die Liberty-Straße am Westrand von Ybor, biß das Ende einer frischen Zigarre ab und dachte ernsthaft daran, auf der Stelle nach Luisa zu forschen. Ein lautes Lachen, das aus einem Gäßchen zwischen zwei Geschäften drang, unterbrach ihn jedoch in seinen Gedanken; über beiden Geschäften hingen zweisprachige Schilder in Englisch und Spanisch. Zu seiner Linken war eine Farmada, eine Apotheke, zu seiner Rechten Quincalleria Jonas – Eisenwarenhandlung Jonas. Am Querholz vor der Apotheke wartete mit hängendem Kopf ein Rotfuchs mit einem Sattel der U.S. Armee. Vor der Eisenwarenhandlung standen in offenen Fässern verrostete Werkzeuge. In dem dunklen Gäßchen vergnügten sich vier Soldaten in blauen Röcken damit, einen fünften auf einer gespannten Decke in die Höhe zu schnellen. Paul hatte das bereits in den Lagern gefilmt. Seiner Meinung nach handelte es sich dabei um ein törichtes, aber harmloses Spiel, die Feuertaufe der neuen Rekruten. Aber eine öffentliche Straße war ein ungewöhnlicher Ort, um … Plötzlich zogen die Soldaten die Decke weg und ließen das Opfer fallen. Der Mann war schwarz, sein Halfter leer, seine Pistole nirgendwo zu sehen. Dafür Blutflecken auf seiner braunen Uniformjacke. Er landete hart und stieß einen unfreiwilligen Schrei aus. Sofort versuchte er aufzustehen, nahm seine Hände zu Hilfe. Ein übergewichtiger Feldwebel versetzte ihm einen Fußtritt. Der Feldwebel war weiß. Die anderen ebenfalls. »Ihr da, laßt ihn in Ruhe!« rief Paul, während er in das düstere Gäßchen rannte. Drei der Soldaten waren junge Männer; wahrscheinlich Farmer, mit roten, sonnenverbrannten, hageren Gesichtern. Der Feldwebel war älter, mit einem Doppelkinn und einem Gesicht so rund und weiß wie eine Sahnetorte. Er zog seinen Revolver aus dem Halfter. »Ich würde mich da nicht einmischen, Jungchen.« Er hob den Revolver hoch und streckte den Arm aus. Die Mündung war in Pauls Augenhöhe. »Hast du gehört? Wäre besser für dich.« »Der Nigger hier hat sich hingewagt, wo er nich’ hingehört«, sagte einer der anderen. »Wollte sich am Apothekenbrunnen neben ‘ne weiße Frau setzen.« »Sieht aus, als hättet ihr ihn schon halb zu Tode geprügelt«, empörte sich Paul, während er im Geiste ganz schnell seine Chancen ausrechnete. »He, das is’ ja ‘n Ausländer, Cheat«, warf ein dritter Soldat ein, »‘n Krautkopf oder so was.« Feldwebel Cheat spannte den Hahn. »Tja, nun, vielleicht puste ich ihm seinen komischen Akzent einfach gleich aus dem Hirn. He, Junge, weißt du,
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wer wir sind? Die Leichte Jacksonville-Infanterie von der 1. Florida. Hier sind wir zu Haus, das ‘s unser Revier. Fang hier bloß keinen Scheiß mit uns an.« Freiwillige. Das hätte er wissen müssen. Jeder Nerv seines Körpers war zum Zerreißen gespannt; er hatte kein Verlangen nach einer Kugel, aber genausowenig wollte er kneifen. Hinter den Vieren kam der schwarze Soldat langsam auf die Beine. In dem Augenblick, in dem er die Situation eingeschätzt hatte, schoß seine Hand nach vorne, umklammerte den Stiefel des Feldwebels und brachte ihn zu Fall. Der Feldwebel fiel aufs Gesicht. Der Revolver ging los. Der Schuß hallte wie ein Donnerschlag in dem kleinen Gäßchen. Paul war bereits zur Seite gehechtet. Cheats Kugel bohrte sich in einer Staubwolke in die Erde. Paul stieß mit einer solchen Wucht gegen die Wand der Eisenwarenhandlung, daß seine Zähne fest auf seine Zunge bissen. Er schmeckte Blut, als er zur Straße herumwirbelte und eine Schaufel mit einem langen Holzstiel aus einem der Fässer riß. Die Schaufel hoch aufgerichtet in beiden Händen haltend, sprang er wieder zurück in das Gäßchen. Aus einem Mundwinkel rann Blut. Der inzwischen kniende Feldwebel Cheat kämpfte mit dem schwarzen Soldaten um den Revolver. Vom Gehsteig rief jemand herüber: »Was zum Teufel ist denn hier los?« Einer der Soldaten aus Jacksonville trat hinter den schwarzen Mann und versetzte ihm einen Tritt ins Kreuz. Paul fuhr mit der Schaufel vor sich zwischen die anderen Soldaten. Zwei von ihnen gingen zu Boden. Cheat zerrte mit aller Kraft an dem Revolver, bis er ihn in Händen hielt. Er packte ihn an der Trommel und versetzte dem schwarzen Soldaten einen kräftigen Schlag auf den Kopf. Der brach bewußtlos zusammen. »Cheat, wir kommen auf die Wache, wenn wir hier nicht gleich abhauen!« rief einer der Soldaten keuchend. Cheat warf einen Blick auf Paul, der mit der Schaufel in geduckter Stellung vor ihm stand, dann auf die Passanten, die am Ende des Gäßchens zusammengelaufen waren. Cheat machte einen Satz und führte einen schnellen Rückzug an, durch die Gasse, über einen breiten Zaun, außer Sicht. Eine Frau mit einer Haube trat in das Gäßchen und hielt die Hand vor die Augen, »Ach, nichts Besonderes, nur einer von diesen Farbigen.« Sie und ihr Begleiter gingen weiter. Die Menge löste sich auf. Pauls Herz schlug allmählich wieder langsamer. Der schwarze Soldat lag mit geschlossenen Augen am Boden, die blutende Wange im Staub. Er war kein ansehnliches Exemplar seiner Rasse; er hatte ein hervorspringendes Kinn, eine häßliche, mißgestaltete Nase, eine
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fliehende Stirn. Paul kniete nieder, um sicherzustellen, daß er noch atmete, dann trug er die Schaufel in das Faß zurück und betrat die Eisenwarenhandlung, um nach einem Telephon zu fragen. »Apotheke«, antwortete der Mann, ohne ihm in die Augen zu sehen. Paul ging auf die andere Seite des Gäßchens. Der marmorne Trinkwasserbrunnen der Apotheke befand sich am Eingang. Die vier hohen Drahtstühle daneben waren leer. Weiter hinten, wo seltsame Gerüche aus weißen Tiegeln stiegen, war ein kleiner schwarzhaariger Mann damit beschäftigt, mit energischen Bewegungen eine große Glaspipette, in der sich eine hellrote Flüssigkeit befand, abzustauben. »Draußen liegt ein verwundeter Soldat. Könnten Sie bitte die Polizei verständigen?« Der weiße Apotheker fuhr fort, die Pipette in dem silbernen Ständer abzustauben. »Das Telephon ist kaputt.« Der Apotheker schwitzte. Paul begriff sofort. Angewidert schritt er zurück zu der Fliegentür. Wieder zurück im Gäßchen ging er in die Hocke und wuchtete den verwundeten Mann hoch, der zwar stöhnte, aber nicht zur Besinnung kam. Obwohl der Mann schlank war, war er schwer. Paul trug ihn auf dem Rücken und stolperte mehrere Male. Schließlich hievte er den Mann in den Sattel des Kavalleriepferdes, weil er annahm, daß die beiden zusammengehörten. Er band das Pferd los und führte es durch die Straßen. An jeder Kreuzung blieb er stehen, um den Puls des Mannes zu fühlen und sich zu vergewissern, daß er noch atmete. Er führte das Pferd bis nach Tampa Heights in das Lager der 24. und 25. Infanterieregimenter, die am nächsten gelegenen schwarzen Einheiten. Das Lager war sauber und ordentlich, das Netz der sandigen Straßen an den Reihen weißer Zelte erkennbar. Ein Kavallerist zeigte ihm den Weg zum Krankenrevier. Er schilderte den Vorfall einem schwarzen Ordonnanzoffizier. Der zeigte auf ein Feldbett und spannte ein Moskitonetz darüber. Dann eilte er hinaus, um einen Arzt zu suchen, der, wie sich herausstellte, weiß war. Der Arzt untersuchte den Soldaten und stellte keine ernsthafteren Verletzungen fest als die Prellungen und Schürfwunden, die von der Schlägerei stammten. Er notierte sich Pauls Namen sowie seine Adresse und dankte ihm. Paul verließ das Lager und opferte fünf Cents, um mit der Straßenbahn in die Stadt zurückzufahren. Obwohl er schmutzig und zerzaust war – zerzauster noch als sonst –, sagte der Schaffner kein Wort. Wie die anderen Fahrgäste, die an den verschiedenen Haltestellen ausstiegen, war auch er
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weiß. Er dachte kurz daran, bei Tomaso im Laden anzurufen und nach Luisa zu fragen. Ein andermal. Er war viel zu müde. Am nächsten Morgen wurde er um kurz vor sechs durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Er schlüpfte in seine Hose und staunte nicht schlecht, als vor der Tür ein weißer Kavallerieoffizier stand; ein schlanker, großer Mann Mitte Dreißig mit blauen Augen, buschigen Brauen und hängenden Mundwinkeln, die ihm eine besondere Strenge verliehen. Die Haltung des Mannes war so korrekt, seine Uniform so untadelig, seine Stiefel so sauber, daß Paul sofort eine Schlußfolgerung zog. Wäre ich Soldat, würde ich auf keinen Fall unter dem Kommando dieses Mannes stehen wollen, der Mensch ist zu schwierig. »Crown?« »Ja.« »Oberleutnant Pershing, 10. Kavallerie. Darf ich eintreten?« Paul rieb sich die Augen, während er zurücktrat. Der Oberleutnant schloß die Tür, zog sich das Band seines Strohhutes vom Kinn und nahm den Hut ab. Paul war bereits im Begriff, mit der Hand auf den Stuhl zu deuten, als er sah, daß der Stuhl mit Wäsche für die Wäscherei belegt war. Sein blaues Baumwollhemd lag auf dem Boden unter dem Toilettentisch. Fast jede waagrechte Fläche war mit irgendeinem Stück seiner Andenkensammlung bedeckt. Pershings blaue Augen erfaßten die Unordnung und verurteilten sie. »Ich werde nur einen kurzen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen«, sagte er. Seine Gesichtszüge waren streng, um nicht zu sagen humorlos; eine auffallende Nase, große Ohren, die eng an seinem Kopf anlagen. Er stand in lässiger Haltung vor Paul, Hacken auseinander, sozusagen in Rührt-euch-Stellung. »Doktor Long, der das 24. Infanterieregiment betreut, hat mir Ihren Namen gegeben. Wie ich gehört habe, haben Sie gestern einem meiner Männer geholfen.« »Wenn Sie den Neger meinen, ja, das habe ich.« »Ich bin hier, um Ihnen zu danken. Obergefreiter Person untersteht meinem Kommando. Das Regiment wurde gestern abend über seinen Zustand informiert. Der Doktor meint, Person wird heute schon wieder auf den Beinen sein. Ich habe um vier Uhr den Zug von Lakeland genommen und komme gerade von ihm. Wir suchen nach den Männern, die ihm so zugesetzt haben. Sie haben angegeben, daß einer von ihnen Cheat genannt wurde, stimmt das?«
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Paul fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das ihm vom Schlaf in allen Richtungen vom Kopf stand. Die Sätze des Oberleutnants schwirrten ihm wie Kugeln um die Ohren. »Ja, das ist der Name, den ich gehört habe. Feldwebel Cheat. Er hat mit seiner Einheit angegeben, der Leichten Jacksonville-Infanterie von der 1. Florida.« »Ich habe nur noch Ihre Bestätigung gebraucht. In einer Stunde haben wir ihn. Die schwarzen Berufssoldaten haben viel Ärger mit diesen verdammten rassistischen Freiwilligen. Ich bedaure, daß es ausgerechnet Person erwischt hat, er ist ein guter Soldat. Aber ich wünsche es keinem der 10. Kavallerie. Im Laufe der Zeit habe ich unsere schwarzen Soldaten respektieren und schätzen gelernt. Sie arbeiten härter als alle anderen, denn die Armee ist ihr Fahrschein in ein anständiges Leben.« Dann erfolgte eine auffällige Unterbrechung in Pershings Redefluß; eine Pause, um Pauls Reaktion abzuwarten. »Das haben Sie aus meinem Mund sicher nicht vermutet, hab’ ich recht? Ich bin mir wohl darüber im klaren, daß ich eine Minderheitenmeinung vertrete. Ich habe kürzlich der Militärakademie in meiner Funktion als Ausbildungsoffizier einen kurzen Besuch abgestattet. Nach meinem Dienst bei der 10. in Fort Assiniboin, Montana. Mein früherer Posten hat mir nicht gerade Beliebtheit eingebracht. Als ich vor meinen Kadetten von meinem Respekt für die schwarzen Soldaten sprach, nannten sie mich bald ›Nigger Jack‹. Vor allem natürlich hinter meinem Rücken. Manchmal auch ›Black Jack‹, aber dagegen hatte ich nichts. Jetzt, Mr. Crown, eine Bitte. Wenn Sie sich bitte heute noch nach Tampa Heights begeben würden. Der Obergefreite Person würde Ihnen gern persönlich seinen Dank aussprechen.« »Ich glaube, das läßt sich einrichten, ich kann mir meine Zeit selbst einteilen.« »Sind Sie von der Zeitung?« »Nein, ich bin Kameramann bei der American Luxograph Company of Chicago. Wir machen bewegte photographische Bilder.« Der Oberleutnant warf ihm einen leicht mißbilligenden Blick zu. »Ihrem Akzent entnehme ich, daß Sie Deutscher sind.« »Ja, aus dem Schwabenland, und dann Berlin.« »Ich habe selbst deutsche Vorfahren. Meine Familie stammt aus dem Elsaß. Im siebzehnten Jahrhundert hießen wir noch Pförsching.« Er streckte die Hand aus. »Sie sind ein anständiger Bursche. Ich danke Ihnen noch einmal, daß Sie einem meiner Männer geholfen haben.« Sie gaben sich die Hand. Mit schnellen Bewegungen setzte Oberleutnant Pershing seinen Hut auf und schob das Band unter sein Kinn. Dann ließ er den Blick noch einmal über das Durcheinander von Andenken und Wäsche
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schweifen. Es sah so aus, als wolle er etwas sagen, doch er überlegte es sich anders. Er schritt nicht aus dem Zimmer, er marschierte davon. Im gelben Licht des Spätnachmittags saß Paul wieder in der Straßenbahn. Überall im Lager brannten Abendfeuer; die Köche hantierten mit ihren Töpfen und verstauten Geschirr und Besteck in Kisten und Kästen, die an die Bäume genagelt waren. Die Gerüche waren angenehm, mit Ausnahme des Gestanks der Latrinen. Die schwarzen Soldaten lagen dösend in ihren Zelten oder saßen lesend im Schatten von großen, gut gefederten Armeewagen. Auf einem Sandplatz spielten einige unter großem Geschrei Baseball. Die weißen Offiziere verfügten über einen kleinen abgegrenzten Bereich mit Stühlen, die unter einer riesigen, moosbewachsenen Eiche standen. Auf einem aus Kistenbrettern zusammengezimmerten Tisch lagen New Yorker Zeitungen und gängige Zeitschriften. Ein Offizier, der in Harper’s Weekly las, nahm die Pfeife aus dem Mund und sah Paul mit unverhohlener Neugier an. Er fand den Obergefreiten Person in dem Feldbett, in dem er ihn zuletzt gesehen hatte. Hinter dem Moskitonetz saß Person in seinem Bett und legte sich auf einem Exemplar von Police Gazette eine Patience. In einem anderen Feldbett lag ein Soldat, der eher braun als schwarz war und unter Stöhnen wild um sich schlug. Ein Laken bedeckte Persons Körper. Seine muskulöse Brust und Schultern glänzten in der Hitze. Ein dicker Verband umhüllte seinen Kopf; zwischen seinen Ohren und dem Verband lugte gekräuseltes Haar hervor. Eine lange Narbe von einer Schnittwunde zog sich von der Mitte seiner rechten Wange bis zu seinem Kinn. Als er Paul erkannte, ging ein Strahlen über sein Gesicht. Er hatte große Zähne und ein Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reichte. »Sie müssen der deutsche Bursche sein, der mich aus den Klauen der Feinde befreit hat.« »Ich habe Sie hierhergebracht, wenn es das ist, was Sie meinen. Ich heiße Paul Crown. Man nennt mich für gewöhnlich Dutch.« »Als ich heute morgen aufgewacht bin, habe ich an Sie gedacht. Weil ich Ihren Namen nicht wußte, hab’ ich Ihnen einen gegeben. Heine. Ein anderer Deutscher hieß so, und den schien’s nicht zu stören. Dutch ist doch der Name für einen mit Holzschuhen, der in einer Windmühle wohnt.« »Sie meinen einen Holländer. Die Deutschen werden leider andauernd mit denen verwechselt. Ich hab’s aufgegeben, die Sache richtigzustellen. Nennen Sie mich Heine, wenn Sie wollen.«
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»Gut. Jeder Mensch braucht einen Spitznamen oder auch zwei. Der einzige, den ich kenne, der keinen hat, ist der Feldwebel hier drüben.« Er zeigte auf den stöhnenden Mann. »Feldwebel Leander. Der hat nichts außer dem schrecklichen Tampafieber.« »Haben Sie einen Spitznamen?« »Ott. Von Othello. Mein Bruder heißt Duff, von Macduff. Meine Schwester heißt Filia, von Ophelia. Unser Vater, müssen Sie wissen, war Gepäckträger im Schlafwagenzug. Hatte nachts viel Zeit zum Lesen. Am liebsten mochte er Shakespeare. Nachdem Präsident Lincoln und General Grant gesiegt hatten und Papa lesen lernen durfte, war er nicht mehr zu bremsen. Papa hat immer gesagt, daß er viel lieber lesen würde, anstatt seine Zeit mit Geldverdienen zu verschwenden. Mit einem Buch in der Tasche ist ein Mensch nie einsam, hat er immer gesagt. In den Büchern findet man zehntausend Freunde. Manche sind klug, manche sind komisch, manche sind gerade gut genug zum Zeitvertreib, aber alle sind gut. Ich, ich bin leider nicht so gescheit wie mein Vater, aber ich lese trotzdem viel. Ach, was ist bloß mit meinen Manieren. Ziehen Sie sich doch einen Stuhl heran, und setzen Sie sich.« Draußen vor dem Fenster sah man eine lange Reihe von Soldaten vorbeireiten. Ihr Oberleutnant war, wie Pförsching-Pershing, ein Weißer. »Wie sind Sie gestern in den Schlamassel geraten, Othello?« fragte Paul. »Kommen Sie, Sie haben mich da rausgeholt, nennen Sie mich Ott.« »Gut«, sagte Paul. Ott Person schien ein freundlicher Mann, unkompliziert, und trotzdem war unter der Oberfläche eine unverkennbare Härte zu spüren. Unter seinem rechten Arm, entlang seiner Rippen, sah Paul eine weitere Narbe, lang und waagrecht, die vielleicht von einer Kugel oder einem Indianerpfeil stammte. »Die 10. Kavallerie lagerte weit draußen in Lakeland. Ich war mit einer Depesche unterwegs zu General Shafter im Hotel. Bin fast 30 Meilen geritten, habe die Depesche übergeben, und dann stand mir der Sinn nach einem Schluck Wasser. Im Hotel wollte ich nicht fragen, das Ding macht mich nervös. Zu vornehm. Ich bin also durch Tampa geritten und hab’ die Apotheke entdeckt. Ich ging hinein, sagte ›Sie gestatten‹ zu einer hübschen Dame und setzte mich auf den Stuhl neben sie. Diese Burschen aus Florida sind eine Minute später zur Tür hereingekommen.« Sein breites Lächeln verschwand. »Daß ich dort saß, neben einer weißen Dame, hat denen gar nicht gefallen. Viele Leute in der Stadt denken so. Um die Wahrheit zu sagen, die meisten Leute in ganz Amerika denken so.« Sie sprachen noch über alles mögliche. Ott war in Philadelphia
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aufgewachsen und hatte sich mehr oder weniger bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr auf der Straße herumgetrieben. Erst dann war er alt genug gewesen, um in die Armee einzutreten. Paul erzählte ihm, daß er sich auf den Straßen in Berlin herumgetrieben hatte. Ott grinste. »Wußte ich doch, daß ich Sie nicht ohne Grund gleich auf Anhieb mochte.« »Und mögen Sie die Armee?« »Das tu’ ich gewiß. Da ich, wie’s aussieht, schon länger Amerikaner bin als Sie, will ich Ihnen etwas sagen. In diesem Land hier sind wir alle gleich, aber einige sind ein bißchen gleicher als andere. In der Armee ist es etwas besser. Man kommt herum, man findet Selbstachtung, hin und wieder gerät man sogar in eine gefährliche Situation, in der man beweisen kann, daß man ein ganzer Mann ist. Mein Bruder Duff hält mich für verrückt. Als ich letzten Monat auf Urlaub war, hat mein Bruder Duff gemeint, daß er nie in den Krieg ziehen würde für die beschissenen Weißen. ›Ich hab’ kein Land, für das ich kämpfen könnte‹, hat er gesagt. ›Ich hab’ keine Rechte.‹ Da hab ich ihm gesagt: ›Du irrst dich, Duff, du bist so dumm wie ein Maultier. Wir haben Rechte. Nicht genug, aber mehr als Papa vor der Befreiung, und ich versuche jeden Tag, mir noch ein paar mehr zu sichern.‹ Vielleicht bin ich deswegen gestern in die Apotheke gegangen, ich wußte ja, daß es ein weißer Laden war. Tja, also, Heine, ich versuche an dieses Land zu glauben, obwohl es die Farbigen schlecht behandelt. Ich kenne kein besseres Land, und ich hab’ viel gelesen. Es wird alles besser werden. Manchmal dauert es zwar lang, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Vor hundert Jahren hatten die Persons nicht mal einen Nachnamen. Sie haben sich krumm geschuftet auf einer Baumwollplantage im Chatham County in Georgia, Rücken an Rücken neben den vielen anderen, deren Großväter aus Afrika verschleppt worden sind. Ich bin sicher, daß sich noch vieles verändern wird, in hundert Jahren sieht sicher alles anders aus. Wenn ich nicht daran glauben würde, würd’ ich meine Uniform ins Feuer werfen. Dann würd’ ich nach Hause gehen und zu meinem Bruder Duff sagen: ›He, du hast recht.‹ Aber ich bin anders als mein Bruder Duff, und ich bin nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Noch nicht.« Paul schaute auf seine Taschenuhr und erklärte, er müsse gehen. Ott Person schwang seine nackten Füße aus dem Bett, behielt jedoch das Laken um seine Mitte. »Der Doktor sagt, daß ich morgen früh zu meiner Einheit zurückkann. Über kurz oder lang werden wir nach Kuba auslaufen, und ich seh’ Sie vielleicht nicht mehr, wenn’s dort unten erst mal losgeht. Aber falls doch, und falls Sie Hilfe brauchen, vergessen Sie nicht: Ich stehe in Ihrer Schuld.
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Und bisher habe ich meine Schulden noch jedesmal beglichen; Sie brauchen’s mir nur zu sagen.« »Danke, Ott. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein. Bis dann.« »Bis dann, Heine.« Nachdenklich wanderte Paul unter der spärlichen Beleuchtung die sandige Straße entlang. Was war das für ein Land, das einen Mann zu den Waffen schickte, den es andererseits so schändlich behandelte? Amerika, das Land der Freiheit und des Gesetzes. Galten Freiheit und Gesetz nur für auserwählte weiße Menschen? Es schien zumindest so. Am Hoteleingang blieb er stehen, um einer Militärkapelle zuzuhören, die After the Ball – Nach dem Ball – spielte. Die Klänge der Musik wurden in den Garten getragen, wo Paare wandelten und auf eine Art und Weise miteinander lachten, die einem alleinstehenden Mann ein Gefühl der Einsamkeit vermittelten. »Julie«, flüsterte er. »Julie.« Hör auf damit, es ist vorbei. Sie gehört einem anderen. Jetzt bemerkte er erst, daß er mit der Hand einen der schmiedeeisernen Pfosten umklammert hielt. So fest umklammert, daß sein Handteller blutete. Er konnte die Enthaltsamkeit nicht mehr aushalten, er würde Tomaso anrufen müssen. Die Anfälligkeit des menschlichen Körpers machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er hatte sich die Krankheit der Stadt geholt, das »Tampafieber«. Ob das Essen, das schmutzige Wasser oder das Zelt, in dem Ott Person gelegen hatte, schuld daran war, wer konnte das sagen? Er hatte sich noch nie so elend und hilflos gefühlt. Viele üble Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Er war nichts weiter als ein kleines Klümpchen Erde, vollkommen bedeutungslos im großen Weltall. Seine Wünsche und Hoffnungen zählten nicht. Jimmy besaß wenigstens soviel Anteilnahme, ein paarmal täglich nach ihm zu sehen, obwohl er genügend schlechte Witze über Pauls Zustand machte. Als er Paul am zweiten Abend besuchte, schien er ungewöhnlich aufgekratzt. Paul fragte ihn, ob er auf eigene Faust gefilmt hatte. »Nein, stell dir vor, die Kurbel hakt. Sand oder so. Ich hab’ die Kamera in einen Photoladen gebracht, sie wird bis heute mittag repariert.« Das war eine glatte Lüge. Es gab keinen Menschen in Tampa, der ihre Art von Kamera hätte reparieren können. Aber Paul hatte nicht genügend Kraft oder Beweise, um Jimmy der Lüge zu bezichtigen.
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Am Montag, dem 6. Juni, ging er um die Mittagszeit hinunter in den Ratskeller. Am unteren Treppenabsatz blieb er stehen, um einen Blick auf die anwesenden Gäste zu werfen. Wenn er es vermeiden konnte, wollte er Onkel Joe auf keinen Fall in die Arme laufen. Bitzer verspeiste eben die letzten Bissen seines Mittagessens. »He, Dutch, gut, daß du wieder auf dem Damm bist. Hast du ein paar gute Bilder geschossen?« »In meinem Zimmer gibt’s leider nicht allzu viele gute Motive.« »Draußen leider inzwischen auch nicht mehr. Ich wünschte, wir würden uns endlich auf den Weg machen.« Paul stimmte ihm zu. Er ließ dem Mann von Biograph, der jetzt die letzten Soßenreste stippte, allein an seinem Tisch sitzen und überraschte den Barkeeper mit seiner Bestellung, die aus einem großen Glas Eistee bestand. Er nippte daran, als Crane, schlecht aussehend wie immer, zur Tür hereinkam. »Hallo, Dutch. Hab’ gehört, daß Ihnen die Renneritis über den Weg gelaufen ist.« »Stimmt, aber es geht mir jetzt schon viel besser. Wie wär’s mit einer Zigarre?« Crane schüttelte den Kopf, bestellte einen Whiskey und stopfte seine Pfeife. »Letzte Nacht wurde schon wieder eingebrochen, haben Sie’s gehört?« Paul schüttelte den Kopf. »Der Einbrecher hat diesmal das Zimmer irgendeines Majors aus Chicago erwischt. Vierzig Dollars und eine goldene Uhrkette. Ich vermute, es war der gleiche unternehmungslustige Knabe, der dieses Etablissement schon seit ungefähr einer Woche heimsucht.« »Es wurde also schon mehrmals hier eingebrochen?« »Viermal.« »Davon wußte ich nichts.« »Sie waren ja auch krank. Außerdem sollen Sie davon auch nichts wissen. Der Direktor ist nicht erpicht darauf, daß die ganze Welt erfährt, daß Henry Plants Luxuspalast Diebe beherbergt. Ich weiß es auch nur von einem der appetitlichen farbigen Zimmermädchen, das es mir unter der Bettdecke zugeflüstert hat.« Crane stürzte seinen Whiskey hinunter. »Junge, Sie sehen aus, als wären Sie von einer Biene gestochen worden. Sie sollten sich diese lumpigen kleinen Einbrüche nicht so zu Herzen nehmen. Wenn man Hunderte von hochbezahlten Militärs irgendwo zu einem großen und ehrenhaften Kreuzzug zusammenruft, dann kann es gar nicht ausbleiben, daß neben den Huren und Saloonbesitzern auch Diebe und andere freie Unternehmer im Gefolge sind.«
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»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht«, preßte Paul hervor. Seine Kopfhaut kribbelte. Er sah ein Gesicht und behielt für den Rest des Tages ein ungutes Gefühl. Beim Abendessen im Ratskeller saß er allein an einem Tisch an der Wand. Jimmy kam um halb sieben hereingefegt und begab sich schnurstracks an die Bar. Im ersten Moment hätte Paul sich am liebsten unsichtbar gemacht. Schließlich winkte er etwas zögerlich. Jimmy kam gemächlich in seine Richtung geschlendert, er schien gut aufgelegt. Er hängte seinen Derby an einen Haken an der Wand und nahm Platz. Der Derby war goldbraun mit einem eleganten Seidenband, die Krempe vorn und hinten leicht nach unten gebogen. Piekfein. Und funkelnagelneu. »Du bist also wieder gesund und munter, wie ich sehe.« »Das bin ich, danke. Dir scheint’s gut zu gehen.« »Bestens.« »Ich hab’ dich den ganzen Nachmittag gesucht. Ich habe die Kamera in Augenschein genommen. Scheint in Ordnung zu sein.« »Ja, der Typ im Photoladen hat sie wieder wie neu gemacht.« »Nichts leichter als das, schließlich war sie nicht defekt.« Ein wenig herausfordernd setzte Paul hinzu: »Wir haben nicht gerade viel neues Material.« »Du warst doch im Bett, Mann.« »Und wo warst du?« »Überall und nirgends«, antwortete Jimmy mit einem Achselzucken. Paul starrte ihn an. Jimmy blinzelte. »Tja, du weißt schon. Auf der Jagd nach einheimischen Fotzen. Heiße Nummern, kann ich dir sagen. Du solltest sie wenigstens mal ausprobieren.« Paul legte seine kleine silberne Gabel auf den Teller mit den Austern in der Schale. Er hatte plötzlich seinen zurückgekehrten Appetit wieder verloren. Seiner Meinung nach war etwas anderes als Frauen für Jimmys gute Laune verantwortlich. Wahrend der Zugfahrt hierher hatte Jimmy immer wieder davon gesprochen, daß er vorhatte, hier Geld zu verdienen. Hastig sprang Paul auf. »Was ist, geht’s schon wieder los?« »Ja!« Paul sprang vom Tisch auf, hinein in das Billardzimmer, denn von dort gelangte man auf direktem Weg in den unteren Flur. Knapp entkommen; am unteren Treppenabsatz stand Onkel Joe, vertieft in ein Gespräch mit einem Major und einem Hauptmann. Paul suchte eiligst das Weite.
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Dienstag, 7. Juni. Der Druck hatte sich bis zu einem fast unerträglichen Maß gesteigert. Am späten Vormittag rief er im Laden an und verlangte nach Tomaso. Luisa suchte ihn um ungefähr halb neun in seinem Zimmer auf. Nach einem kurzen Blick ins Zimmer rief sie aus: »Ay, Dios mio! Que cuarto de cochinos. Incréible!« »Was haben Sie gesagt?« »Ich sagte, das ist unglaublich. Dieses Zimmer ist was für Schw – uh – wie ein Stall.« Sie kicherte. »Semejante junco! Was für Plunder! Wo sollen wir uns denn lieben? An der Decke vielleicht?« Verlegen und gedemütigt, griff Paul nach seinem Strohhut und einer neuen braunen Hose aus Segeltuch, die angeblich in Kuba jedermann als Schutz gegen Schnecken und Spinnen trug. Linkisch und hilflos stand er da mit dem Hut in der einen, der Hose in der anderen Hand, denn nirgendwo war Platz zum Ablegen. Luisa bedeckte höflich ihren hübschen Mund, aber ihr Lachen war dennoch laut und deutlich zu hören. »Du lieber Heiland, was ist denn das alles?« »Andenken. Ich sammle sie überall, wo ich hinkomme.« »Nun, ich muß sagen, du hast dich hier ganz schön angestrengt«, erklärte sie mit den Händen auf den Hüften. Jetzt war er gezwungen, sich alles, was er bisher in Tampa gesammelt hatte, genau anzusehen. Postkarten vom Strand. Postkarten mit Krabbenbooten. Postkarten mit Innen- und Außenansicht des Hotels. Drei sandige Dollarmünzen und einen getrockneten Seestern. Muschelschalen. Einen ausgestopften kleinen Alligator. Vier Kokosnüsse, in zwei davon waren Indianergesichter geschnitzt. Eine Miniholzkiste voller orangefarbener Bonbons. Sechs Holzstücke, die er am Strand gefunden hatte, die vielleicht interessante Formen … Und natürlich auf dem Toilettentisch die Papierfahne und die abgegriffene Stereoskopkarte. »Ich habe noch nie ein so großes – wie sagt man gleich – museo gesehen.« »Museum?« »Ja, ein so großes Museum auf so kleinem Raum. Was willst du denn mit dem ganzen Zeug machen, querido?« »Die besten Stücke will ich einpacken und nach Chicago schicken.« Sie machte Anstalten, ihr Kleid aus knallgelber Seide auszuziehen. »Sieht es bei dir zu Hause auch so aus?« »Das ist mein Zuhause. Das und jedes Zimmer, das diesem ähnlich ist.« Sie hielt inne, das Kleid knapp über ihren wohlgeformten braunen
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Brüsten. Sie trug einen weißen Baumwollschlüpfer, knielang und mit Spitze eingefaßt, aber nichts überhalb der Taille. »Hotelzimmer?« »Hotelzimmer, möblierte Zimmer – das spielt keine Rolle.« »Bemerkenswert«, erklärte sie mit leiser, fast feierlicher Stimme. »Du bist anders, lieber Paulo. Ich habe noch nie jemanden wie dich kennengelernt.« »Dann eben jetzt. Jeder Raum mit einer Tür und einem Fenster, einer Lampe und einem Bett reicht mir. Das wichtigste ist das Bett.« Er wollte nicht, daß sie die Lüge sah oder den Schmerz, während sie sich auszogen und einander verlangend in die Arme sanken. Luisa war leidenschaftlich, abwechselnd zärtlich und lustig. Aber sie hielt sich an die Zeit. Um zehn Uhr war sie fort, nachdem sie sein Geld ins Oberteil ihres gelben Kleides gesteckt und ihm einen tiefen und süßen Abschiedskuß gegeben hatte. »Ich mag dich, Paulo. Du bist ein guter und zärtlicher Liebhaber. Paß auf dich auf in Kuba, und komm sicher wieder nach Hause!« Die Tür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloß. Er ließ sich aufs Bett fallen, Hände hinter dem Kopf, Augen an die Decke gerichtet. Um keinen Preis wollte er seine jämmerliche Plundersammlung ansehen. Denn genau das war es, billiger Plunder, gekauft in dem blödsinnigen Versuch, sich einzureden, daß er etwas hatte, was ihm gehörte, und daß er deshalb irgendwohin gehörte. Aber er gehörte nirgendwo hin. Seine Sehnsucht nach einem Zuhause war idiotisch. Luisa hatte ihn unabsichtlich gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die er so lange Zeit nicht hatte wahrhaben wollen. Er hatte ihr unabsichtlich gebeichtet. »Das ist mein Zuhause. Das und jedes Zimmer, das diesem ähnlich ist. Ein anderes gibt es nicht.« Er fiel in einen traumlosen Schlaf des Vergessens. Eine halbe Stunde später wurde er durch den Lärm auf dem Gang aus dem Schlaf gerissen. Türen fielen zu. Menschen liefen hin und her. Das metallene Geräusch der sich schließenden Fahrstuhltür. Mein Gott, war vielleicht ein Feuer ausgebrochen? Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Unterhose, riß die Tür auf. Soldaten und Zivilisten hasteten mit Koffern und Feldtaschen aufgeregt und geschäftig durch den Korridor. Crane stürzte aus seinem Zimmer, das wenige Türen weiter lag, mit einem Koffer in der einen und Büchern in der anderen Hand.
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»Stephen! Was ist los?« »Befehl zum Aufbruch. Ist vor wenigen Minuten eingetroffen. Admiral Sampson hat Santiago eingenommen, und Washington hat Shafter nach Kuba beordert. Mach dich lieber gleich auf den Weg nach unten, wenn du nicht die halbe Nacht anstehen willst, um deine Hotelrechnung zu bezahlen.« Er eilte die Haupttreppe hinunter. Paul schlüpfte in Hemd und Hose und rannte nach nebenan, um Jimmy zu wecken. Er klopfte und rief. Keine Antwort. Er drückte auf die Klinke. Die Tür ging auf. Er schaltete das Licht an. Im Zimmer war es heiß, das Fenster war geschlossen, das Bett unberührt. Fluchend rannte Paul zurück, um seine Sachen zu packen. Crane hatte recht gehabt, es war die Hölle, aus dem Hotel auszuziehen. Er mußte nicht nur ewig Schlange stehen, um seine Rechnung zu bezahlen, sondern auch noch einen Gepäckträger finden, mit ihm handeln, dem Mann vier Dollars und Shadows Adresse geben. Der Mann versprach, alle seine Andenken in seinem Zimmer zu verpacken und nach Chicago zu schicken. Er selbst hatte nur die Papierfahne und die Stereoskopkarte eingesteckt. Fast befürchtete er, daß seine Andenken irgendwo in einer Mülltonne landen würden. Aber was machte das schon? Luisa hatte die Wahrheit ans Licht gebracht. Es gab noch viele andere Zimmer, viele andere Orte, um Andenken zu sammeln – und Dutzende von dunkelroten Emaillepunkten für den hölzernen Globus, den Mary für ihn aufhob. Das war sein Leben. Das Leben eines Zigeuners ohne ein Zuhause, weder jetzt noch in der Zukunft.
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98 ILSA Ilsas Tage und Nächte waren voller Sorge. Sie sorgte sich um Joe, der sie vor einigen Wochen mit einer Ansichtskarte überrascht hatte. Die Karte war in irgendeinem kleinen Dorf in Georgia aufgegeben worden und zeigte einen Pfirsichhain. Was um Himmels willen hatte Joe in Georgia zu suchen? Sie sorgte sich um ihren Sohn. Aus dem Schweigen über Wochen war ein Schweigen über Monate, viele Monate, geworden. Es war fast ein Jahr vergangen, seit das letzte Lebenszeichen eingetroffen war; die kleine Schachtel mit den orangefarbenen Bonbons, die jetzt neben der Geode vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode stand. Sie betete um ein Lebenszeichen von ihm. Obwohl sie es Fritzi oder Carl nie spüren ließ und sie die beiden auch keinen Deut weniger liebte, gab es eine unumstößliche Wahrheit, die wohl alle Mütter kannten. Den Erstgeborenen umgab eine mystische Besonderheit. Sie betete inständig darum, daß sie ihren Erstgeborenen eines Tages wieder in die Arme schließen konnte. Am meisten sorgte sie sich jedoch um ihren Mann. Sie vermißte die körperliche Nähe; nie vorher waren sie über so lange Zeit getrennt gewesen. Die Angst um seine Sicherheit machte sie fast krank. Aus der Zeitung wußte sie, daß der Krieg kurz bevorstand. Und wenn die Amerikaner in Kuba landeten, dann würde Joe sicherlich nicht in der hintersten Reihe kämpfen. Nein, er würde an vorderster Front reiten oder marschieren und seine Männer anführen. Er gab ihr damit Grund, stolz zu sein, aber auch Grund, um ihn zu bangen. Selbst wenn Joe keine Verwundung davontrüge, fürchtete sie die Zerstreuungen des Krieges, vor allem die Art von Reiz, die sie ihm nicht mehr bieten konnte. Selbst die besten Ehen mußten sich in späteren Jahren mit einer gewissen Eintönigkeit abfinden, das behaupteten alle ihre Freundinnen. Sie und Joe hatten einmal darüber gesprochen, im Bett, und er hatte sich über den bloßen Gedanken daran bereits entrüstet. Hatte hart geurteilt über die Art von Leben im fortgeschrittenen Alter, die er nicht wollte. Geistlos. Langweilig. Bald nach diesem Gespräch hatte er angefangen, mit Carl Schurz und anderen zu korrespondieren und der Armee seine Dienste als Reserveoffizier anzubieten. Ilsa fürchtete den Krieg also in zweierlei Hinsicht; sie hatte Angst um sein Leben und eine vage, aber nichtsdestotrotz panische Angst vor jüngeren Rivalinnen. Die Zeitungen schrieben immer wieder über schöne, kultivierte kubanische Frauen, die ins Exil nach Tampa geflüchtet waren.
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Wenn Ilsa am Abend in ihrem Schlafzimmer ihren ovalen Spiegel befragte, zeigte er ihr Dutzende von neuen, unansehnlichen Falten. Sowie Joe in Florida angekommen war, hatte er ihr telegraphiert. Als nächstes hatte sie eine fünfzeilige Nachricht auf Briefpapier des Tampa Bay Hotels erhalten. Das war vor zehn Tagen gewesen. Und seither nichts. Was – oder wer – lenkte ihn ab? Schließlich ängstigte Ilsa sich auch noch, weil sie dem Krieg selbst kritisch gegenüberstand. Sie hatte nie offen mit Joe darüber gesprochen, aber sie war keine Hurrapatriotin, und sie bedauerte die, die es waren. Der Krieg fand nach wie vor im mittleren Westen und im Westen die größte Unterstützung. Im Osten dagegen, der von jeher eher demokratisch gesinnt war und Freidenker beheimatete, war der Widerstand ganz gewaltig. Der Krieg wurde als kommerzieller Imperialismus verurteilt, getarnt mit patriotischen Sprüchen und eitlen Reden über amerikanische Ideale. Ilsa las, daß der ehrenwerte Dekan von Harvard, Charles Eliot Norton, und andere im Juni ein Zusammentreffen in Bostons Faneuil Hall planten, um eine Art antiimperialistische Bewegung zu gründen. Die Absicht bestand nicht darin, den Krieg offen zu bekämpfen, sondern dafür zu sorgen, daß das erklärte Ziel der Befreiung gewahrt blieb und eine Landaneignung und die folgende Erschließung neuer Märkte für amerikanische Unternehmen verhindert wurde. Wichtige Personen sprachen sich für die Bewegung aus. Der frühere Präsident Cleveland, der Philosoph William James, der Arbeiterführer Samuel Gompers und Andrew Carnegie, der so viel Geld verdient hatte, daß es ihm für zehn Leben reichte, und der nun für Frieden eintrat, schlossen sich der Bewegung an. Ilsas liebe Freundin Miss Addams dagegen versagte der Bewegung ihren Namen und ihre Unterstützung, und zwar aus dem bereits bekannten Grund. »Die Organisatoren haben mich schriftlich und telegraphisch bedrängt, aber ich kann es einfach nicht tun. Ich brauche die Unterstützung der Öffentlichkeit. Ich muß mir diese Tür offenhalten.« Es gab Millionen, die nichts Schlechtes in einem Krieg sahen, der dazu diente, Land zu gewinnen und Amerikas Einflußbereich auszudehnen. Einer davon war ein Rechtsanwalt aus Indiana namens Beveridge, der angeblich ein ebenso großes Rednertalent war wie Bryan. Beveridge bereiste inzwischen das ganze Land und hielt Vorträge über die Pflicht und das Schicksal Amerikas, und er stieg auf wie ein Komet am nationalen Himmel. In den Chicagoer Zeitungen erschienen lange Auszüge aus seinen Reden: Der Welthandel muß und wird uns gehören … Das Gesetz Amerikas, die Ordnung Amerikas, die Kultur Amerikas wird sich an diesen bisher
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rückständigen und verdammt gottverlassenen Gestaden niederlassen. »Was für ein Blödsinn«, wetterte Miss Addams eines düsteren, regnerischen Nachmittags in Hull House. »Dieser junge Mann versucht Karriere zu machen, indem er sich in die Fahne einwickelt.« »Das macht er ganz sicher«, meinte Ilsa. »Und schaden tut es ihm bestimmt nicht. Mit seinen Reden hat er bei den Politikern in Indiana schon viele Lorbeeren geerntet. Es wäre nicht verwunderlich, wenn man ihm einen Sitz im Senat anbieten würde.« »Egal, es ist Blödsinn. Wie kann er sich unterstehen, davon zu sprechen, daß wir die Verantwortung für noch mehr farbige Menschen übernehmen sollen? Wir können nicht einmal unseren eigenen helfen oder mit ihnen umgehen – obwohl wir’s seit dreißig Jahren versuchen.« »Meinst du, daß Mr. Beveridge glaubt, was er sagt?« »Warum nicht? Menschen, die andere hinters Licht führen, führen zuallererst sich selbst hinters Licht.« In jener Nacht, während draußen ein Sommergewitter tobte, saß Ilsa an ihrem Schreibtisch und schrieb von ihrem Haushaltskonto einen Scheck über einhundert Dollars aus. Sie steckte ihn in einen ans Hull House adressierten Umschlag und dazu einen Brief, in dem sie Jane Addams darum bat, das Geld unverzüglich an die richtige Stelle in Boston weiterzuleiten – ohne Angabe des Spenders. Dann fiel sie neben ihrem Bett auf die Knie. Während der Regen gegen das stille, einsame Haus klatschte, faltete sie die Hände und beugte den Kopf. Sie betete zu Gott, daß er ihr Joe zurückbringen möge, gesund an Leib und Seele und treu im Herzen. Sie betete um Vergebung der Schuld, die auf ihr lastete, weil sie den Krieg verabscheute. Rebellion und Auflehnung konnten vielleicht eine militante »neue Frau« zufriedenstellen, aber nicht eine schuldige Hausfrau. Sie litt unter dem alten Konflikt; sie war dazu erzogen worden, gehorsam und bescheiden ihre Pflicht zu erfüllen, und nicht dazu, eine eigene Meinung zu vertreten. Würde sie Joe jemals von der Spende erzählen können? Ihr Zimmer war so dunkel und schwarz wie die regnerische Nacht, die das Haus umfing. Sie klatschte so fest in die Hände, daß es weh tat, und sprach nun zu einem anderen. Joe, ich weiß nicht, ob er richtig ist oder falsch, dieser Krieg. Könnte beides möglich sein? Woher sollen wir es wissen? Wissen tu’ ich nur eins. Daß ich sterben werde, wenn dir etwas passiert. Du kannst von mir aus für den Rest deines Lebens Nationalist sein, wichtig ist nur, daß du zu mir zurückkommst.
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99 DUTCH Paul erreichte den Hafen von Tampa mit seiner in Kisten verpackten Ausrüstung irgendwann am Vormittag. Drei graue eiserne Schiffe lagen im Hafen vor Anker; weitere warteten im Kanal. Auf jedem Pier wachten Kanonen der Armee über die Zufahrt. Rangierlokomotiven beförderten Tiere und Kohlewagen über das Gelände bis zu den Gleisen der Anlegestelle. Soldaten strömten aus den Wagen, ihre Uniformen verdreckt vom Kohlestaub oder Kuhmist. Mit weißen Tornisterrollen und alten Springfieldgewehren beladen, warteten sie in der Hitze auf ihre Schiffe. »Sie dürfen diese Kisten nicht aus den Augen lassen. Ich bezahle noch einmal zehn Dollars, wenn sie sicher an Bord verstaut sind«, versicherte Paul dem beleibten schwarzen Kutscher, den er einem anderen Gast im Hotel mit dem Versprechen abgeworben hatte, ihm dreißig Dollars zu bezahlen – zehn Dollars mehr, als dieser verlangt hatte. »Welches Schiff ist Ihres?« »Alle Zivilisten sollen auf das Hauptquartiersschiff Segurança. Aber es wird zu voll sein, ich werde mir ein anderes suchen.« Der Grund dafür war der, daß die meisten der Passagiere hohe Offiziere sein würden, darunter mit Sicherheit auch sein Onkel. Als erstes mußte er Jimmy suchen. Es war immerhin möglich, daß sein Partner, ohne ihn zu verständigen, nach Chicago zurückgekehrt war. Er drängte sich durch die Menge am Pier. Munitionswagen, Pferde, Blaskapellen, Zivilisten, die aus den Fenstern der vier von der PlantGesellschaft eingesetzten Ausflugszüge johlten und winkten – ein unglaubliches Gewirr. Inmitten dieses Durcheinanders saß General Shafter mit offenem Kragen und schweißüberströmtem Gesicht an einem aus Orangenkisten zusammengezimmerten Tisch und schrie seinen Untergebenen abwechselnd Befehle und Flüche entgegen. Eine Militärkapelle, die The Girl I Left Behind Me – Das Mädchen, das ich zurückließ – spielte, versperrte Paul den Weg. Er schob sich zwischen den Musikern durch. »Entschuldigung, darf ich bitte durch, es ist furchtbar wichtig.« Irgendwann tappte er in einen großen Haufen Pferdeäpfel. Er hüpfte auf einem Fuß und schüttelte den anderen, um den Dreck wieder loszuwerden. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel gegen einen Mann in Reiterstiefeln und blütenweißer Leinenuniform. Bevor er Gelegenheit hatte, sich zu entschuldigen, schnauzte der Mann ihn an: »Können Sie nicht etwas vorsichtiger sein, mein Herr. Sie haben mir meine Aufnahme verdorben.« Er hatte Schnappschüsse von einem der am Kai festgemachten Schiffe gemacht.
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Paul erkannte ihn sofort. »Es tut mir furchtbar leid, Herr Leutnant –« »Hauptmann. Hauptmann von Rike. Militärattaché der Botschaft Seiner Majestät, Kaiser Wilhelms des Zweiten.« Er rückte seine schwarze Uniformmütze zurecht. »Und Sie, mein Herr?« Ein kurzes Zögern. »Dutch Crown.« »Crown. Im Stab von Wheeler gibt es einen General namens Crown.« »Ach wirklich? Kenn’ ich nicht.« »Sind Sie Kriegsberichterstatter?« »So ungefähr. Falls ich Ihre Kamera beschädigt haben sollte, komme ich für die Reparatur auf.« Die Höflichkeit überraschte und besänftigte von Rike. Offensichtlich erinnerte er sich nicht mehr an ihr früheres Zusammentreffen in Berlin. Etwas freundlicher antwortete er: »Das wird nicht nötig sein, es ist ja nur ein Photo danebengegangen. Sind Sie Deutscher?« »Ja. Meine Familie kommt aus Schwaben.« »Ich bin Preuße.« Als hätte man das nicht gemerkt. »Ich freue mich immer, wenn ich einen Landsmann treffe, egal aus welchem Teil Deutschlands. Wenn diese verdammte Unternehmung nicht aus bloßer Desorganisation im Meer versinkt, dann sehen wir uns vielleicht irgendwann wieder. Um uns über das Vaterland zu unterhalten. Das Deutsche Reich steht am Beginn einer neuen großen Ära. Guten Tag, mein junger Freund.« Von Rike schlug die Hacken zusammen und schlenderte davon. Er bewegte sich wie ein Mann, dem die ganze Welt gehörte. Fünf Minuten später stieß Paul auf Jimmy. Ganz zufällig; er hastete an einem gelben Holzhaus vorbei, einem von mehreren, die die Last-Chance-Straße, die Straße zur letzten Gelegenheit, säumten. Soldaten und Zivilisten standen in einer Schlange, die am Eingang des Gebäudes endete. Jimmy trat aus einer Seitentür und drückte sich seinen Derby auf den Kopf. »Da bist du ja!« rief Paul und rannte auf ihn zu. »Wo denn sonst? Wenn du einen Drink oder ein Mädchen willst, bevor wir in See stechen, solltest du dich anstellen.« »Keine Zeit, wir müssen uns ein Schiff suchen. Komm jetzt!« Sie machten sich auf den Weg, Jimmy wie immer murrig. »Ich hoffe bloß, daß Honeys Möse das alles wert ist, ich – he, bleib stehen. Ich hab’ Hunger.« Er blieb vor drei schwarzen Frauen stehen, die ein paar große Schirme aufgestellt hatten und darunter auf kleinen Tonöfen Hühnerteile brieten. Jimmy kaufte eine Keule. Die Frauen wickelten sie in ein Stück braunes Papier. »Danke vielmals, Mammy. Willst du auch, Dutch?«
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»Nein, danke.« »Mein Gott, hast du heute morgen eine Laune!« »Ich habe auch die ganze Nacht damit zugebracht, unsere Ausrüstung hier runterzuschaffen. Wo zum Teufel warst du?« »Ich hab’ mich amüsiert. Das solltest du auch ab und zu tun. Ihr Krautköpfe seid verdammt steif.« Paul ließ ihn stehen. Auf das hier konnte er verzichten. Auf diese Hitze, diesen Lärm, diesen Staub, dieses Höllenspektakel von Trommelwirbeln, von Pfeifen, Becken und Trompeten, Schiffssirenen und -glocken, von johlenden Zivilisten, die mit Taschentüchern und kleinen Fahnen aus den Ausflugszügen winkten, schwerbeladenen Schauermännern, die fluchend und schimpfend durch den Sand zu den Landungsbrücken der Schiffe stapften. Auch auf die Unruhe und die Sorge konnte er verzichten. Und ganz und gar verzichten konnte er auf die Gesellschaft eines vertrauensunwürdigen Flegels, dessen neueste Unternehmung in Florida wahrscheinlich aus Diebstahl bestand. Der Bug eines baufälligen Frachters ragte vor Paul auf. Das Schiff war mehr als einhundert Meter lang. Paul stand in seinem Schatten und blickte auf den aufgemalten Namen. Yucatan. »Crown? Dutch Crown? Hierher!« Oberstleutnant Roosevelt sprang vom unteren Ende der Landungsbrücke. Wenn er nicht schnell gewesen wäre, hätten ihn die Schauermänner über den Haufen gerannt. Mit der Zähigkeit von Ameisen schleppten sie auf nackten Rücken Fässer und Kisten den steilen Zugang zum Schiff hinauf. Roosevelts Uniform war durchgeschwitzt, seine Brillengläser beschlagen. In Stirn- und Halsfalten hatte sich schwarzer Staub festgesetzt. »Sie machen einen verlorenen Eindruck!« rief er Paul zu. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Ich brauche zwei Plätze auf einem Schiff.« Er überlegte kurz. »Ich habe bereits alle Offiziere photographiert. Während wir auf See sind, möchte ich die einfachen Soldaten filmen, nicht die Generäle.« »Einfache Soldaten. Tja. Gute Idee. Sehr demokratisch. Sie sagte zwei Plätze?« »Und unsere Ausrüstung.« »Schaffen Sie alles an Bord!« »Haben Sie noch Platz?« »Nein, hier wird’s so eng sein wie in einer Sardinenbüchse. Aber auf zwei mehr kommt’s da auch nicht mehr an. Haben Sie schon jemals ein
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solches Durcheinander gesehen? General Shafter ist geisteskrank, von krimineller Nachlässigkeit, wenn Sie mich fragen. Manche Regimenter haben drei Schiffe zugewiesen bekommen, andere gar keine. Die Zugwaggons für unser Regiment sind nie eingetroffen, weshalb wir einfach Kohlewaggons genommen haben. Als wir ankamen, lag die Yucatan im Hafen. Da bin ich hinausgerudert und hab’ sie mit Beschlag belegt; seit sie festgemacht hat, hab’ ich sie erfolgreich gegen alle anderen verteidigt. Die Kommandeure der 2. Infanterie und der 71. New Yorker haben beide behauptet, das Schiff sei ihnen zugeteilt worden. Sie sind zwar ranghöher als ich, aber ich hab’ einfach die Gangway blockiert und höflich protestiert. Sie waren vielleicht wütend. Haben geschworen, mich vors Kriegsgericht zu bringen. Hah! Sollen sie ruhig! Sie müssen warten, bis der Krieg vorbei ist. Holen Sie Ihre Sachen, Mr. Crown, und Ihren Partner. Die Flotte wird bei der nächsten Flut auslaufen. Endlich ziehen wir in den Krieg, mein Junge.« Seine Heiterkeit war unverkennbar, als er Paul auf den Rücken klopfte. »In den Krieg!« Paul fand Jimmy ein zweitesmal, und den Kutscher. Zu dritt hievten sie ihre Ausrüstung an Bord der Yucatan. »Verdammt noch mal, das wird bestimmt keine Vergnügungsfahrt«, brummte Jimmy, während er sich mit seinem neuen Derby Kühlung zufächerte. Dies eine Mal mußte Paul ihm zustimmen. Die Luft flirrte vor Hitze. Das graue Metalldeck der Yucatan hatte sich aufgeheizt und strahlte eine Hitze aus wie ein Backofen. Aus einer offenen Luke drang das Wiehern der Offizierspferde und der durchdringende Geruch von Pferdeäpfeln. Auf dem Pier walzte sich General Shafter ohne Uniformhemd hin und her, sein unförmiger Bauch zeichnete sich unter seinem Unterhemd schweißnaß ab, während er die Schauermänner vorwärts stieß und zur Eile antrieb. Zwanzig Minuten bevor die Yucatan vom Pier ablegen sollte, um einem anderen Schiff Platz zu machen, stellte Paul fest, daß ihm die Zigarren ausgegangen waren. Er rannte die Landungsbrücke hinunter und weiter zur Last-Chance-Straße. Dort kaufte er eine kleine Schachtel Stumpen, die das Dreifache des Normalpreises kostete. Als er gerade zum Schiff zurückeilen wollte, rief jemand seinen Namen. Michael Radcliffe, makellos in seinem weißen Anzug. Statt seines schweren Spazierstocks schwenkte er einen Stock aus Ebenholz mit einem filigranen Goldknauf. Das Chaos und den Schmutz von Port Tampa schien er gar nicht wahrzunehmen. »Hast du schon ein Schiff?« fragte er Paul.
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»Ja, das erste dort.« »Du bist also nicht bei uns anderen von der Presse auf der Segurança?« »Ich möchte an Bord ein paar Aufnahmen von den Rough Riders machen. Ihr Schiff ist die Yucatan.« »Ich bin sicher, daß Oberstleutnant Roosevelt von dieser Werbung für seine Einheit sehr angetan ist.« Michael schlenderte mit baumelndem Stock neben ihm her. »Ich habe über deine Situation nachgedacht. Über deine diversen Enttäuschungen in diesem Land. Ist dir dazu inzwischen etwas eingefallen?« »Nein. Zu beschäftigt.« »Aber mir ist etwas eingefallen. Denk doch einmal über eine andere Stadt nach, London beispielsweise. Trotz gegenteiliger Propaganda leben nicht alle Genies in Amerika. Vor ein paar Tagen mußte ich plötzlich an einen Mann denken, der in England derzeit viel von sich reden macht. Er heißt ebenfalls Paul. Robert W. Paul von Hatton Garden. Er war eine Art Ingenieur oder Instrumentenbauer, bevor er sich genau dem gleichen Apparat verschrieben hat wie du. Robert Paul hat einen Projektor namens ›Theatrograph‹ erfunden. Er macht und führt genau die Art von Filmen vor, die du für diesen Kerl in Chicago machst. Genau wie dein Boß beschäftigt er einen Kameramann. Vielleicht braucht er noch einen, er ist viel beschäftigt und vergrößert sich am laufenden Band. Außerdem hat er Konkurrenten, die genau das gleiche machen. Selbst Lord Yorke, mein hochverehrter Schwiegervater, hat bereits Interesse an den bewegten Bildern angemeldet. Und ich darf dir versichern, daß er keine Zeit mit unrentablen Geschäften vergeudet. Ich bin sicher, daß du mit deiner Erfahrung im Handumdrehen eine Stellung finden könntest. Ich würde dir gern mit Kontakten behilflich sein. Du würdest das tun, was du tun willst, und wohnen könntest du überall. Sogar in deiner alten Heimat, falls du willst. Warum auch nicht? Ein Land ist so gut wie das andere. Ich muß es wissen, denn ich kenne die meisten. Ich glaube, daß du im Grunde deines Herzens ein Zigeuner bist, genau wie ich. Irgendwie muß ich das schon bei unserer ersten Begegnung gespürt haben. Der Himmel ist meine Zeuge, daß es keineswegs deine künstlerische Begabung war, die mich damals beeindruckt hat.« Paul lachte, aber er wußte nichts zu sagen; Michaels Idee war zu neu und zu aufregend. Sie waren an der Landungsbrücke der Yucatan angelangt. Hoch oben an der Reling standen unzählige Soldaten. Jimmy hatte sich zwischen sie gedrängt und bedeutete Paul, sich zu beeilen. Flinke Hände arbeiteten überall fieberhaft, um das Schiff zum Auslaufen klarzumachen, und das
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Abfahrtsignal ertönte. Michael klopfte mit seinem eleganten Stock auf Pauls Schulter. »Laß es dir durch den Kopf gehen! Es könnte eine große Chance sein. Deine ganzen Probleme lösen. Dir zu einem neuen Anfang verhelfen. Falls du interessiert bist, könnte ich ein paar Telegramme losschicken. Vorausgesetzt, daß wir diesen verfluchten kubanischen Dschungel lebend verlassen.« Mit baumelndem Stock schlenderte er davon. Der goldverzierte Knauf funkelte im Sonnenlicht wie ein unschätzbarer Nugget, der verheißene Schatz eines neuen Wunderlandes. Die Taue der Yucatan wurden gekappt, die Maschinen liefen an. Sie legte vom Pier ab und schlängelte sich langsam und vorsichtig hinaus auf den Kanal. Dort ging sie vor Anker, um auf weitere Befehle zu warten. Das Schiff hatte schweren Tiefgang. Es war zugelassen für sechshundert Männer, und nun waren fast eintausend an Bord: alle Rough Riders, zwei Kompanien der 2. Infanterie, denen es gelungen war, an Roosevelt vorbei aufs Schiff zu gelangen, und ihre Kapelle. Jimmy und Paul gingen unter Deck, um ihr Quartier zu begutachten – zwei Kojen unter Hunderten. Der Gestank nach Öl, Pferdemist und verschwitzten Leibern war überwältigend. »In diesem Rattenloch schlafe ich nicht!« tönte Jimmy. »Mir gefällt’s auch nicht. Ich hab’ gehört, daß wir auf Deck lagern dürfen, wenn wir Platz finden.« »Dann mal los. Wenn wir keinen Platz finden, dann schaff ich Platz. Man muß nur ein paar von diesen Bauerntölpeln über Bord werfen.« Das war nicht nötig, obwohl sich das Deck schnell füllte. Die Männer breiteten Decken aus und sicherten die Ecken mit ihrer Ausrüstung, Paul und Jimmy fanden zwei Plätze in der Nähe des Ankerrohrs. Paul fühlte sich an seine Tage und Nächte auf der Rheinland erinnert. Das Schiff stank noch viel mehr, als am Abend das Essen ausgeteilt wurde. Es bestand aus Knäckebrot, Bohnen und Tomaten sowie dem übelriechenden »frischen Dosenfleisch«, mit dem die Armee beliefert worden war. Es gab viele laute, fluchende Beschwerden, und manches ging über Bord. Bei Sonnenuntergang hatte sich die Stimmung gebessert. Die Kapelle der 2. Infanterie stellte sich auf dem Holzverdeck einer Frachtluke auf und spielte The Star Spangled Banner – Das Sternenbanner. Die Bucht glitzerte silbrig. Flockige tropische Wölkchen mit orangefarbenem Schimmer trieben langsam über den westlichen Himmel. Jimmy machte sich auf die Suche nach einem Würfelspiel. Paul lehnte
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an der verwitterten Teakreling, schaute hinauf zu den Wolken und dachte über Michaels Vorschlag nach. Er war zwar beängstigend, aber keineswegs abwegig. Laß es dir durch den Kopf gehen! Das würde er bestimmt tun. Als die Dunkelheit hereinbrach und die ersten Sterne am Himmel auftauchten, machte Paul es sich auf seiner Decke bequem, den Kopf auf seinem Koffer. Er ging davon aus, daß die Flotte sich in Bewegung setzen würde, während er schlief. Er erwachte mit der Morgensonne im Gesicht. Jimmy lag schnarchend neben ihm. Das Schiff bewegte sich nicht. Er stieg über die schlafenden Männer hinweg, bis er einen Offizier der 2. Infanterie entdeckte, der einsam an der Reling stand und auf die Bucht hinausstarrte. Die Bucht sah grau und ölig aus; überall schwamm Unrat. Der Offizier erklärte, daß im Laufe der Nacht der Befehl zum Auslaufen rückgängig gemacht worden sei. Laut Washington waren zwei Kriegsschiffe im Nicholas-Kanal, in der Nähe von Kubas Nordküste, gesichtet worden. Die Schiffe segelten unter spanischer Flagge. Obwohl vorgesehen war, daß die Flotte während des letzten Teils der Reise unter dem Schutz der Marine der Vereinigten Staaten segelte, weigerte sich das Kriegsministerium, das Risiko eines Angriffs auf unbewaffnete Transportschiffe einzugehen. Sie sollten so lange in der Bucht von Tampa ankern, bis aus Washington ein erneuter Befehl zum Auslaufen eintraf. Während sie vor Anker lagen, achtete Oberst Wood auf strengste Disziplin in seinem Regiment. Zweimal täglich, um sieben Uhr in der Früh und um fünf Uhr am Nachmittag, wurde eine Truppeninspektion durchgeführt. Jede Art von Glücksspiel war verboten. Trotzdem fand Jimmy jeden Abend irgendwo ein Würfel- oder Kartenspiel und gewann sogar Geld. Eines Abends stellte er sich neben Paul, der an der Reling eine Zigarre rauchte. Jimmys Gesicht war gerötet vor lauter Aufregung; er hatte vierzehn Dollars gewonnen. »Du, ich wollte dir schon lang was zeigen.« Er kniete neben seinen Koffer, öffnete ihn und nahm eine lange, schmale Schachtel heraus. »Richt mal deine Lichter darauf, mein Junge.« Er ließ die Schachtel aufschnappen. Zum Vorschein kam ein Samtkissen, auf dem eine vergoldete Halskette mit kleinen Rubin- und Smaragdglasperlen lag. »Wunderschön«, log Paul. »Hast du sie in Tampa gekauft?« »Klar. Hat mich elf Mäuse gekostet.« Zum erstenmal erklärte sich
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Jimmy Daws, hochwohlgeboren, schuldig, in ein Mädchen vernarrt zu sein. »Wenn’s nicht wegen Honey war’, hätt’ ich spätestens in Atlanta eine Rückfahrkarte gekauft.« Er legte die Halskette in die Schachtel zurück und diese in den Koffer. Dann lehnte er sich über die Reling; seine Hände waren gefaltet, während er auf das sich kräuselnde rote Wasser starrte. »Das wird mein erster und letzter Krieg sein. Ich will nach Hause und mich selbständig machen.« »Und womit?« »Mit Geldverdienen. Aber hier unten ist’s mir auch nicht schlecht gegangen. Besser als erwartet sogar.« »Du hast in Tampa Geld verdient? Wie?« »Ach, auf verschiedene Weise. Kartenspiel. Würfelspiel. Und so halt.« Ja, dachte Paul, ich weiß schon. Aber er bezichtigte Jimmy nicht der Lüge. In Kuba würde er Jimmys Hilfe brauchen. Selbst wenn er ein Dieb war. Paul konnte sich keinen interessanteren Haufen vorstellen als die 1. Freiwillige Kavallerie. Zum Regiment gehörten Cowboys aus dem Wilden Westen und Sportler der besten Universitäten des Ostens. Roosevelt erzählte ihm, daß Feldwebel Ham Fish, ein Student, der für die ColumbiaUniversität ruderte, der Enkel von Präsident Grants Außenminister war. Der Vater des einfachen Soldaten Charlie Younger war Bob Younger, Mitglied der Jesse-James-Bande. Der Kommandeur der 1. Schwadron, Hauptmann Bucky O’Neill, war der derzeitige Bürgermeister von Prescott, Arizona. Er war zudem ein ehemaliger Rechtsanwalt und ein bekehrter Glücksspieler; aus dieser Zeit stammte sein Spitzname Bucky, eine Umschreibung für das Absahnen bei Glücksspielen mit hohem Einsatz. Die 1. Freiwillige Kavallerie war eine kuriose Mischung, und die vorgesetzten Offiziere schienen mächtig stolz auf sie. Es handelte sich um ein Regiment ohne Pferde für die Unteroffiziere. Eines Abends verkündete Roosevelt sichtbar belustigt, daß er einen neuen Namen für das Regiment aufgeschnappt habe. »Wood’s Weary Walkers« – »Woods Müde Wanderer«. Paul lachte, aber Roosevelts Gesicht verdüsterte sich, während er auf die vor Anker liegenden Schiffe mit ihren erleuchteten Bullaugen und den blinkenden Lichtern hinaussah. »Dies ist eine bedeutende Unternehmung, Dutch. Ich bin stolz darauf, daran teilnehmen zu dürfen. Wenn wir siegen – die Spanier können unseren Sieg gewiß nicht verhindern, das kann nur unsere eigene Heeresleitung –, dann ist dies der erste große Triumph auf dem Weg zur weltweiten Demokratie.«
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Paul sagte gar nichts. Er konnte sich noch immer kein klares Bild machen von diesem prominenten Mann, der mitreißende Reden liebte und nach öffentlicher Anerkennung strebte. Trotz allem schien er ehrlich und keineswegs ein Snob. Welcher der vielen Roosevelts war der echte? Der Oberstleutnant nahm seine Brille ab und putzte sie mit seinem getupften Halstuch. »Solange wir hier allein sind, würde ich Ihnen gern eine Frage stellen, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigt.« Paul ahnte, was es war. Er verkrampfte sich auf der Stelle. »Sind Sie irgendwie verwandt mit General Crown vom Divisionsstab? Wahrscheinlich ist die Namensgleichheit nichts wirklich Besonderes. Aber zwei Männer mit dem gleichen Namen, aus Chicago und dazu noch mit deutscher Abstammung? Das läßt Schlüsse zu.« Paul sah einer Seemöwe nach, die über die kupferfarbenen Wellen glitt. Die Sonne versank hinter dem Horizont, und einen Augenblick lang sah er den leuchtenden grünen Strahl, den er schon zuvor gesehen hatte. Das Schweigen wurde bedrückend. »Nun, Dutch, was sagen Sie dazu?« »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Herr Oberstleutnant. Ich bin mit ihm verwandt. Aber mein Onkel und ich, wir verstehen uns nicht. Ich habe ihn nicht davon unterrichtet, daß ich an dieser Unternehmung teilnehme, und ich glaube nicht, daß er es von anderer Seite erfahren hat. Ich bitte Sie deshalb, diese Information vertraulich zu behandeln.« »Ich werde mich hüten, mich in Familienangelegenheiten einzumischen. Obwohl es mir in diesem Fall ganz besonders leid tut. Sie und Ihr Onkel sind ehrenwerte Männer. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich behalte Ihr Geheimnis für mich!« Während der nächsten Tage stieg die Temperatur auf beinahe vierzig Grad. Auf den engen Kajüttreppen wurde gemurrt und gestoßen, und schon der kleinste Anlaß führte fast zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Kurz nach der samstäglichen Fünf-Uhr-Inspektion wurde Paul, der an einem heißen, schattigen Plätzchen mittschiffs saß, durch einen lauten Schrei aufgeschreckt. »Vorsicht, das Ding ist geladen!« Als er aufsprang, sah er einen Infanteristen, der im Schatten der Brücke auf unsicheren Füßen hin und her schwankte. Lallend fuchtelte der Mann mit einem Revolver in der Luft herum. »Er ist betrunken, woher hat er bloß das Zeug bekommen?« fragte jemand. Ein halbes Dutzend Männer in der Nähe des Soldaten machte ein paar Schritte nach hinten. Niemand gab eine Antwort auf die Frage. Der Soldat war jung und flachsköpfig, sein nackter Oberkörper
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schweißbedeckt. Hinter Paul flüsterte Jimmy: »Bereite dich schon mal darauf vor, ganz schnell in Deckung zu gehen.« Einer der Soldaten bewegte sich ein wenig, was einen gellenden Schrei des Flachskopfs zur Folge hatte: »Stehenbleiben! Den ersten, der sich bewegt, schieß’ ich über’n Haufen.« Unerwartet knallten Stiefelabsätze auf dem eisernen Deck; Oberstleutnant Roosevelt schritt an Paul und Jimmy vorbei. Er zwängte sich durch die kleine Gruppe von Zuschauern, die in Reichweite der Schußwaffe gefangen war, und blieb drei Meter vor dem betrunkenen Mann stehen. »Was ist hier los, Soldat?« »Ich kann es da unten nicht mehr aushalten, es ist so heiß, daß einem das Gehirn schmilzt. Ich gehe über Bord und nehme jeden mit, der mich daran hindern will.« »Sie müssen sich beruhigen. Wie heißen Sie?« Schweigen. »Soldat, das ist ein Befehl.« Der Flachskopf stammelte: »T – Tom Strawbridge. 2. Regiment. Das spielt doch gar keine Rolle.« »Das spielt sehr wohl eine Rolle, Tom. Für Sie, für mich und für alle diese Männer hier. Ich möchte, daß Sie den Revolver jetzt am Lauf nehmen. Dann werde ich vortreten und meinen Arm ausstrecken. Sie werden mir dann den Revolver übergeben.« »Gehen Sie doch zum Teufel, Sie Klugscheißer!« Roosevelt versteifte sich, aber das war auch das einzige Anzeichen von Zorn. Er tupfte sich mit dem Halstuch das Kinn ab, das in seinem schweißnassen Hemd steckte. »Tom, hören Sie mir jetzt gut zu. Ich werde jetzt auf Sie zukommen und den Revolver an mich nehmen. Sie werden nicht auf mich schießen. Sie wissen, welche Folgen das für Sie haben würde. Lebenslang Gefängnis. Und das wollen Sie nicht.« Er setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir den Revolver geben, werde ich nichts gegen Sie unternehmen, das verspreche ich Ihnen. Die Hitze macht uns alle ganz verrückt, niemand wird Sie zur Rechenschaft ziehen oder gar bestrafen, vorausgesetzt, Sie geben mir den Revolver.« Während er sprach, machte er ein paar kleine Schritte nach vorn. Er stand jetzt nur einen Meter von Tom Strawbridge entfernt. Die Hand des Soldaten zitterte ganz gefährlich. Plötzlich schnitt Strawbridge eine Grimasse, packte den Kolben mit beiden Händen und richtete die Mündung auf Roosevelts Kopf. Die Männer hinter dem Oberst schnappten nach Luft und gingen in Deckung, aber Roosevelt handelte blitzschnell. Er machte einen großen
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Schritt nach vorn, drückte mit der linken Hand den Lauf nach oben, mit der rechten entwand er dem Flachskopf die Waffe. Der Oberstleutnant und der einfache Soldat standen sich Auge in Auge gegenüber. Ein Mann murmelte: »Der verrückte Kerl sollte erschossen werden.« »Nein. Ich hab’ mein Wort gegeben. Ein paar Männer sollen ihn in seine Koje schaffen. Gebt ihm Kaffee, damit er wieder nüchtern wird. Und haltet den von ihm fern.« Er drückte dem nächstbesten Soldaten den Revolver in die Hand. Drei Männer umringten Strawbridge, der sofort zusammenbrach und anfing zu weinen. Diese wenigen brenzligen Augenblicke hatten Pauls Zweifel über den Oberstleutnant ausgelöscht. Roosevelt war ein kühler Kopf und ein mutiger Mann, auch wenn er vermutlich aus Ehrgeiz das Rampenlicht suchte. Am Sonntag nachmittag sorgte Oberstleutnant Roosevelt für eine Vorführung für die Luxograph-Kamera. Vorführender war ein Soldat, den Paul schon des öfteren gesehen hatte, ein Mann um die Vierzig, der versuchte, jünger zu wirken, indem er sich schwarze Schuhwichse in sein krauses Haar schmierte. Der Mann war groß, sehnig und hatte ein Durchschnittsgesicht; ungewöhnlich waren nur seine bestechenden grünen Augen. Ein Lasso baumelte von seinem Handgelenk. »Dutch, ich möchte Ihnen Feldwebel Hugh Johnson vorstellen. Er ist einer von einhundertsechzig Berufscowboys in unserem Regiment. Feldwebel Johnson stammt aus Riverside, Kalifornien. Er wird Ihnen mit seinem Lasso jetzt einige Kunststücke vorführen.« Johnson war kein Mann der vielen Worte, aber seine Vorführung war spektakulär. Er wirbelte das Seil von oben nach unten und umgekehrt, vom Kopf bis zu den Füßen und wieder nach oben, dann sprang er in die sich drehende Schlaufe hinein und wieder heraus. Sogar Jimmy zeigte sich beeindruckt. Paul filmte zweieinhalb Minuten der Vorführung des Feldwebels. Er schmunzelte, weil Roosevelt sich so hinter Johnson stellte, daß er gut im Bild zu sehen war, während er lächelnd seinen Hut schwenkte und klatschte. »Damit werden die Rough Riders auf wenigstens vierzig Leinwänden im ganzen Mittelwesten zu sehen sein, Herr Oberstleutnant«, erklärte Paul nach Beendigung der Vorführung. »Und Sie haben damit Ihre Grundausbildung für das Regiment gemacht. Wir möchten Ihnen dies als kleines Zeichen unserer Anerkennung überreichen.« Roosevelt hielt ihm ein sauberes, getupftes Halstuch der Rough Riders hin.
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Ein Strahlen ging über Pauls Gesicht. »Oberstleutnant – Feldwebel –ich danke vielmals, Ihnen beiden.« »Binden Sie’s um.« »Nein, nein, ich werd’s lieber aufheben. Es ist ein schönes Andenken. Vielleicht ist es eines Tages sogar wertvoll.« Er faltete das Halstuch zu einem Viereck, faltete es ein zweites Mal und steckte es dann in seine Hemdtasche. Oberstleutnant Roosevelt und Feldwebel Johnson sahen einander nur verwundert an. Die Kapelle der 2. Infanterie spielte jeden Abend in der Dämmerung. Die Männer, die sich einfanden und zuhörten, wünschten sich stets das gleiche Lied. Paul konnte es schon bald nicht mehr hören. Aber auch an diesem Sonntag abend folgten ihm die Klänge, während er zum Heck des Schiffes schlenderte. »Ich ging einst in den Zoo bei Nacht, Vögel und Tiere hielten noch Wacht. Vom Pavian das braune Fell schimmerte im Mondschein hell…« Sie sangen mit viel Begeisterung und aus voller Kehle mit. Paul lehnte an der Reling, die Worte Michaels gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Ich bin sicher, daß du mit deiner Erfahrung im Handumdrehen eine Stellung finden könntest. Ich würde dir gern mit meinen Kontakten behilflich sein, ein paar Telegramme losschicken. Warum nicht? Ein Land ist so gut wie das andere … Laß es dir durch den Kopf gehen! Falls er Michaels Angebot annahm, falls er sich in London niederließ und sich eben dort, wo ihn seine Arbeit hinführte, eine Wohnung mietete, wäre dies das Eingeständnis, daß der Bäcker von Wuppertal recht gehabt hatte; daß Amerika nicht das verheißene Land war, das viele sich vorstellten und erhofften. Aber es gab noch mehr Gründe, Michaels Angebot in Erwägung zu ziehen, als die allgemeine Enttäuschung. Es war auch die Ablehnung von Seiten seiner Familie. Der vernichtende Verlust Julies … Die Bucht wirkte heute abend seltsam fremd, fast unheilvoll. Kleine silbrige Wellen plätscherten vom Golf von Mexiko herein. Im Nordwesten baute sich geschwind eine schwarze Wolkenbank auf. Ein zuckender Blitz fuhr, von einem unheimlichen grünen Glühen überzogen, aus den Wolken auf das Wasser herunter. Der Wind hatte aufgefrischt.
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»Der Affe trank zuviel Bier aus der Schüssel, turnte gewagt auf dem Elefantenrüssel.« Er bemerkte den kleinen Schlepper, der von einem Schiff zum anderen tuckerte. Ein Marineoffizier schrie, während er sich nach Kräften bemühte, auf dem schrägen Deck das Gleichgewicht nicht zu verlieren, seine Nachricht durch ein Sprachrohr. Der Schlepper war zu weit entfernt, als daß er hören konnte, was er sagte. »Da mußte der Dickhäuter heftig niesen, dem Pavian seinen Spaß vermiesen; der fiel nämlich in den Elefantenkot und war auf einmal mausetot.« Der Schlepper hielt auf ein Transportschiff zu, das achtern von der Yucatan ankerte. Der Wind fegte über die Bucht und peitschte Brecher gegen den Bug des Schleppers. Donnergrollen war zu hören. Der Schlepper umfuhr das Transportschiff auf der Steuerbordseite und steuerte dann die Yucatan an. Schwarze Wolken jagten über die ankernden Schiffe. Die Yucatan schaukelte auf den schäumenden Wellen. Blitze durchzuckten den Himmel, das Krachen des Donners folgte; das Gewitter schien jetzt direkt über ihnen. Ein stechender Geruch nach Rauch lag plötzlich in der Luft. Dann setzte der tropische Regen ein. Das Konzert endete in einem Gedudel von Mißtönen. Alle suchten rennend Schutz vor dem niederprasselnden Regen. Jetzt konnte Paul den Namen des Schleppers erkennen, Lizzie C. Er schaukelte und schwankte wild hin und her; die Männer an Deck versuchten mit Bootshaken zu verhindern, daß der Schlepper gegen den eisernen Rumpf der Yucatan geschleudert wurde. Der durchnäßte Offizier mit dem Sprachrohr richtete den Trichter in Richtung Brücke. Vor Nässe triefend, standen Oberst Wood und Oberstleutnant Roosevelt mittschiffs an der Reling, bemüht, die Worte zu verstehen. Wood formte mit den Händen ein Sprachrohr und schrie: »Was ist los? Was haben Sie gesagt?« »Ein neuer Befehl«, plärrte die Stimme aus dem Schlepper. »Sie sollen sich bereithalten zum Auslaufen.« Am frühen Morgen des 14. Juni, an einem Dienstag, stiegen aus den Schornsteinen aller Transportschiffe dicke Rauchsäulen. Nach einer einwöchigen Verzögerung waren sie beinahe bereit. Auch das schöne
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Wetter war zurückgekehrt; strahlender Sonnenschein, blaues Wasser, eine frische Brise. Mit einem geliehenen Fernglas suchte Paul den Strand ab. Die Piers waren fast menschenleer. Ein paar zerlumpte schwarze Kinder spielten Fangen, während sie auf das Auslaufen der Schiffe warteten. Inmitten riesiger Müllhaufen und Glasberge belud ein Saloonbesitzer mit zwei seiner Huren ihren Wagen mit Zeltplanen. Endlose rote, weiße und blaue Papierschlangen trieben ausblutend im Wasser. Paul und Jimmy stellten ihre Kamera am Bug der Yucatan auf. Jimmy kurbelte, um die letzten Szenen im Hafen in den Kasten zu bekommen: blinkende Signallichter, Seeleute, die mit roten und weißen Handflaggen Nachrichten zwischen den Schiffen übermittelten, Torpedoboote und Küstenfahrzeuge, die noch in letzter Minute Männer und Vorräte an Bord schafften. An dem Tag stach die Kriegsflotte mit mehr als 800 Offizieren und mehr als 15000 Männern in See. Mit an Bord waren 400 Schauermänner, Fuhrmänner und Schreiber; 950 Pferde und 1300 Maultiere; Munition, Verpflegung und zerlegte Wagen; Artillerieausrüstung mit über zwei Meter langen Haubitzen, Kanonen, Mörsern sowie die vier besagten Schnellfeuerrevolverkanonen. Die größte amerikanische militärische Unternehmung aller Zeiten außerhalb der Vereinigten Staaten segelte dem blauen Horizont entgegen. Das Ziel war klar. Und so war das seine. Laß es dir durch den Kopf gehen … Er konnte sich vorstellen, welche Last ihm damit abgenommen würde. Er brauchte sich nur Onkel Joes Reaktion zu vergegenwärtigen, wenn dieser erfuhr, daß sein Neffe nach London gegangen war. Paul genoß die Vorstellung. Dazu muß man wissen, daß die Deutschen sehr nachtragend sind. Er stand wieder an der Reling am Bug, allein, die warme Brise fuhr ihm übers Gesicht, zerzauste sein widerspenstiges Haar. Er hatte in seinem Koffer gewühlt und die schlimm zugerichtete Projektionskarte gefunden. Er erinnerte sich an einen wichtigen Augenblick in Berlin. Eine zerrissene Postkarte mit dem Konterfei des Kaisers und seiner Familie; die Abwendung vom Alten, eine Geste zum Neuen hin. Das Zusammentreffen mit dem verwandelten Mikhail Rhukov, dessen Ermutigung und Angebot, ihm zu helfen, konnte erneut ein solcher Augenblick sein. Er betrachtete die beiden Karten, auf denen der Hafen und die Freiheitsstatue mit der hoch erhobenen Fackel zu sehen waren. Wie viele Hoffnungen dieses Bild verkörpert hatte! Hoffnungen und bittere
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Niederlagen. Einige der bittersten seines Lebens. Joe junior hatte ihn einmal als naiv und gutgläubig bezeichnet. Und genau das war er auch. In Gestalt von Wex und Shadow hatte ihm Amerika ein wunderbares neues Handwerk gegeben, einen lebenslangen Beruf, der ihn an all die Orte führen konnte, die er seit seiner Kindheit sehen wollte. Aber auch das konnte ihn nicht über den Verlust seiner Familie und der geliebten Frau hinwegtrösten. Jetzt lockte ihn ein anderer Ort. Kein neues Zuhause; von diesem dummen Kindertraum hatte er ein für allemal genug, er hatte kein Zuhause. Er hatte einen Wanderauftrag, eine Bleibe in Europa, was ihm helfen würde zu vergessen, wonach er sich gesehnt und was er verloren hatte. Wenigstens zeitweise zu vergessen. Nie würde er den Schmerz ganz loswerden. Paul hielt die Stereoskopkarte ganz vorsichtig. Laß es dir durch den Kopf gehen! Er zerriß die Karte in zwei Teile und warf die rechte Hälfte über Bord. Ein Windhauch erfaßte sie, wirbelte sie hoch und dann hinunter ins Wasser. Sie wurde augenblicklich von der Bugwelle fortgespült. Er steckte die andere Hälfte der Karte in seine Hemdtasche. Schluß mit den Symbolen! Sie ist ein Andenken, und sonst gar nichts. Er drehte den Rücken in den Wind und zündete sich eine Zigarre an. Obwohl das Leben alles andere als perfekt war und er die Angst vor dem Versagen in Amerika sowie den Verlust Julies nie überwinden würde, konnte er doch wieder auf eine Zukunft hoffen. Vorausgesetzt – um Michael zu zitieren –, daß wir diesen verfluchten kubanischen Dschungel lebend verlassen.
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Unser Krieg im Dienste der Menschlichkeit hat sich als Krieg um Bunkerstationen entpuppt, und wir werden unsere Beute behalten, um Spanien dafür zu bestrafen, daß man sie uns nicht freiwillig gegeben hat. 1898 William Dean Howells, Autor und Kritiker Es war ein herrlicher Krieg; begonnen mit hehren Zielen, geführt mit außerordentlicher Intelligenz und Energie, begünstigt vom Glück, das die Göttin Fortuna den Mutigen verleiht. 1899 John Hay, Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Englannd
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100 DER GENERAL Zweiunddreißig schwarze Transportschiffe nahmen Kurs auf Kuba, drei lange Schlangen im Abstand von jeweils tausend Metern. Die Reise sollte drei Tage dauern; bald war jedoch klar, daß man mindestens fünf, wenn nicht noch mehr brauchen würde, denn die langsamsten Schiffe – Lastkähne, die zwei Schaluppen und einen mit riesigen Wasserfässern beladenen Schoner im Schlepptau hatten – bestimmten die Geschwindigkeit. Wie sich herausstellte, machte Joe Crown die Reise nicht auf der Segurança, dem Schiff des Hauptquartiers, sondern auf der kleineren Allegheny, dem Kommandoschiff für Wheelers Kavalleriedivision. Es war lästig, vom Oberkommando auf der Segurança getrennt zu sein; Wheeler klagte laut und häufig, daß er und seine Offiziere ihr Ziel nicht kannten, obwohl viele auf Santiago, die Hafenfestung an der Südküste Kubas, wetteten. Ein großer Teil der Kriegstruppen war in Georgia und Florida geblieben, um den Sommer mit weiteren Übungen zu verbringen. Es wurde gemutmaßt, daß diese Einheiten für einen späteren Angriff auf Havanna vorgesehen waren. Aber niemand wußte etwas Genaues. Auf der Segurança wurden für die Schreibkräfte im Salon der ersten Klasse Spieltische mit zwei Schreibmaschinen aufgestellt, die ununterbrochen ratterten und Materiallisten und Landungsbefehle ausspuckten. Auf den Vorder- und Achterdecks sonnten sich die Männer in der tropischen Sonne. In einem Gespinst aus Wäscheleinen flatterten Khakihemden neben schweren gewaschenen und zum Trocknen aufgehängten Zeltbahnen in der frischen Meeresbrise. Die Rationen für Offiziere und Soldaten bestanden aus Schiffszwieback, Speck, konservierten Tomaten, Bohnen und dem scheußlichen »Frischfleisch aus der Dose«; Wheeler, Joe Crown und die meisten anderen weigerten sich, von letzterem auch nur zu kosten. Das einzige, was wirklich gut schmeckte, war der starke Kaffee am Morgen. Am Mittwoch tauchte kurz vor Sonnenuntergang auf der Backbordseite ein Flecken Land auf. Der Obergefreite Willie Terrill, Joes Bursche, bestimmte ihn mit Hilfe einer von mehreren Landkarten, die er in Tampa erstanden hatte. »Kap Romano, Sir. Wir müßten morgen irgendwann an den Keys vorbeikommen und von dort Kurs nach Osten auf Kuba nehmen.« Als Joe am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, daß sie von zahlreichen Neuankömmlingen umgeben waren. Vierzehn graue Kriegsschiffe der Marine aus dem Hafen von Key West, abkommandiert, um der Flotte Geleitschutz zu geben. Inzwischen betrug der Abstand
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zwischen den Transportschiffen zwischen zwölf und fünfzehn Meilen. Den ganzen Tag lang rasten Beiboote und Torpedoboote über die ruhige See, um den Kapitänen Befehl zum Aufschließen zu überbringen. Am späten Nachmittag drängten sich auf der Steuerbordseite der Allegheny unzählige aufgeregte Männer an die Reling; alle deuteten nach Süden. Joe erhaschte einen ersten Blick auf einen dünnen Landstrich, wo Meer und Horizont sich trafen. Kuba. Er konnte sich eines Schauers, der ihm über den Rücken jagte, nicht erwehren. Kurz vor Mitternacht spazierten Joe und Wheeler nebeneinander auf Deck. Hin und wieder flackerten winzige Lichter an der kubanischen Küste auf. »Spiegeltelegraphsignale«, erklärte Wheeler. »Keine Leuchttürme?« »Nein. Die Regierung unterhält zwar Leuchttürme an der Küste, da haben Sie recht. Aber mein Adjutant hat ihre Position auf einer Karte eingetragen – sie sind alle dunkel. Das bedeutet, daß der Feind sich bereits auf unsere Ankunft vorbereitet.« »Meinen Sie, daß es ein langer und kostspieliger Krieg werden wird?« »Lang, das kann ich nicht sagen. Aber jeder Krieg ist kostspielig für die Opfer. Wir alle wissen, daß es nur einer einzigen kleinen Kugel bedarf, um einen Mann in die ewigen Jagdgründe zu befördern. Für diesen Mann und für seine Lieben zu Hause ist ein Krieg kostspielig, selbst wenn er nur fünf Minuten dauert.« Wheeler gähnte. »Ich glaube, ich bin bettreif. Das Schaukeln der Wellen macht schläfrig. Genießen Sie’s, solange Sie können, Joe. Ich glaube nicht, daß wir, wenn wir erst einmal an Land sind, viel Ruhe kriegen werden. Gute Nacht.« »Gute Nacht, General.« Wheeler entfernte sich und verschwand schließlich über eine beleuchtete Treppe, die nach unten führte. Joe blieb an Deck, wo er die Spiegeltelegraphsignale beobachtete und über seine eigene Sterblichkeit nachdachte. Und auch über die vielen Dinge, die Estella Rivera in jener langen, seltsamen Nacht der Beichte und Enthüllung im Tampa Bay Hotel gesagt hatte. Am Morgen des 19. Juni, des darauffolgenden Sonntags, besuchte Joe den konfessionsübergreifenden Gottesdienst auf dem Hinterdeck. Während des langen Gebets, dem er mit gebeugtem Kopf beiwohnte, kehrten seine Gedanken zu der Aussage Wheelers über eine einzige kleine Kugel zurück. Und wenn eine dieser kleinen Kugeln nun ihn in das ewige Dunkel befördern würde? Waren seine Geschäfte geordnet? Ja, soweit dies möglich war, obwohl er weder seinen Nachfolger bestimmt noch ausgebildet hatte.
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Diese Sorge wurde jedoch schnell von einer sehr viel wichtigeren überschattet, von der Sorge um seine Familie. Er hatte so gut wie alle Beziehungen innerhalb seiner Familie gründlich verpfuscht. Und er war sogar fast soweit gegangen, das Ehegelöbnis zu brechen, an das er sich seit dem Tag, an dem er es gegeben hatte, gehalten hatte. Daß er diese Sünde nicht begangen hatte, war mehr Estella Riveras Einfühlungsvermögen und ihren moralischen Grundsätzen zu verdanken als seinem Verhalten. Joe Crown hatte zeit seines Lebens regelmäßig den Gottesdienst besucht. Aber insgeheim hatte er sich sowohl vom Gefühl als auch vom Verstand her – wenn auch nicht ohne Gewissensbisse – eingestanden, daß er die Heilige Schrift nicht wörtlich zu nehmen vermochte. Er bezweifelte, daß die übernatürlichen Erfahrungen der verschiedenen biblischen Personen tatsächlich wahr waren. Engel, die sich mittels Lichtstrahlen auf die Erde begaben. Brennende Büsche … die Stimme Gottes, die aus dem Feuer sprach. Das wundersame Leben Christi war seiner Meinung nach so schwer zu verstehen, daß er am liebsten gar nicht darüber nachdachte. Und trotzdem, mit Estella hatte er etwas erlebt, was einer religiösen Erfahrung gleichkam. Eine Vision, eine Offenbarung – ein blendender Lichtstrahl, der die Wahrheit beleuchtete und damit den falschen Pfad, den er im Glauben an seinen Gott beschritten hatte. An seinen Gott namens Ordnung. Gewiß, er glaubte immer noch an den Wert der Ordnung als treibende Kraft des menschlichen Strebens. Aber Ordnung, Autorität und Kontrolle waren lediglich erstrebenswerte Ziele und keineswegs Gottheiten, denen ein Mann Menschenopfer aus seiner eigenen Familie bringen mußte. Estella hatte ihm dafür die Augen geöffnet – und für vieles mehr. Während der Kaplan seine Litanei herunterleierte, betete Joe darum, diesen Krieg lebend zu überstehen. Er betete um Zeit und Gelegenheit, seine schlimmsten Fehler wiedergutzumachen, eine unerläßliche Tat, das wußte er, seit er Estella getroffen hatte. Sein »Amen« am Ende des Gebets war leise, aber inbrünstig. Am gleichen Tag umrundete die Kriegsflotte Kap Maisí am östlichsten Punkt Kubas. Noch einmal wurde die Geschwindigkeit gedrosselt. Mit Anbruch der Dunkelheit glitt das Licht von Suchscheinwerfern der Kriegsschiffe über den vor ihnen liegenden Küstenstrich. Ein Beiboot brachte General Wheeler auf die Segurança zu einer Unterredung mit Shafter. Um halb elf war er zurück an Bord der Allegheny, wo er im Salon der ersten Klasse seinen Offizieren Bericht erstattete. »General Calixto Garcia ist mit einer bewaffneten Eskorte an Bord der
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Segurança gekommen. Er ist ein gutaussehender alter Hase, mit Narbe auf der Stirn und dem ganzen Drumherum. Und nun das Ergebnis der Unterredung. Admiral Sampson schlägt einen direkten Angriff auf Santiago vor, auf den Hafen und die Stadt. Aber die Stadt wird sich hartnäckig verteidigen.« Einer von Wheelers Adjutanten entrollte eine Karte der Südostküste. »Sehen Sie sich bitte die geographische Lage der Stadt an. Sie werden bemerken, daß sie eine abgeschiedene Insel ist, die fast acht Kilometer hinter der Hafeneinfahrt liegt. Angeblich ist Christoph Kolumbus auch hier an Land gegangen in der Annahme, Indien gefunden zu haben. Seine Landung war jedoch im Vergleich zu der, die uns bevorsteht, das reinste Zuckerschlecken.« Wheeler klopfte auf die Karte. »Der Eingang zum Hafen wird auf beiden Seiten bewacht. Hier von einem starken Bataillon in der Festung Morro – und hier vom Socapa-Bataillon. Und damit nicht genug; wir wissen, daß die Wasserstraße mit Minen bestückt ist, die wiederum von der Festung Morro aus gezündet werden können. General Shafter ist entschieden gegen einen direkten Angriff, er hat ein Buch gefunden, in dem von einem Angriff der Briten auf die Stadt vor hundert Jahren die Rede ist. Die Briten wurden niedergemetzelt. Shafter wehrt sich gegen einen Sturmangriff auf die siebzig Meter hohen Klippen, und ich kann es ihm nicht verdenken. Er und Sampson werden Garcia morgen an Land treffen, um die Vorgehensweise weiter zu besprechen.« Joe hob die Hand. »Sir, haben wir bei dieser Sache irgendein Mitspracherecht?« »Noch nicht. Mir gefällt es auch nicht, aber mir sind die Hände gebunden. Dieses Spiel gehört Shafter. Lassen Sie uns hoffen, daß er weiß, wie er es zu spielen hat.« Am Dienstag, dem 21. Juni, bewegte sich die Kriegsflotte immer noch langsam von der Südküste Kubas westwärts. Die Allegheny passierte den Eingang zur Bucht von Guantánamo, die vor zehn Tagen von sechshundertundfünfzig Männern der 1. Marineinfanterie im Sturm erobert worden war. Irgendwo in der Bucht mußte nach Joes Meinung das Sternenbanner wehen. Sie waren noch ungefähr vierzig Meilen von Santiago entfernt. Mit einem Teleskop suchte Joe die Küste ab, deren Anblick atemberaubend schön und gleichzeitig angsterregend war. Weiße Wellen brachen sich am Ufer, von Winden getrieben, die im Laufe des Vormittags immer stärker wurden. Er hatte gehört, daß die vorherrschenden auflandigen Winde
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tagtäglich einen starken Seegang bewirkten. Über den schäumenden Wogen ragten glatte Kalksteinklippen auf und dahinter wiederum dicht bewaldete Berge, die sich zu einer eindrucksvollen Gebirgskette verdichteten, der Sierra Maestra. Neblige graue Wolken hingen in den Bergspitzen. Der dunkelgrüne Wald darunter wirkte dicht und feucht, und nur hier und da sah man einen schmalen, gewundenen Pfad. Ein wunderschöner, einsamer Ort. Und auch ein Ort, an dem man nur mit großen Schwierigkeiten landen, marschieren und kämpfen konnte. Und was war mit den Spaniern? Angeblich waren zwölftausend Mann an diesen Küstenstrich abkommandiert worden. Aber wo versteckten sie sich? Sie konnten ihnen sogar innerhalb der Reichweite seines Teleskops auflauern, vollkommen eingehüllt vom dunklen, feuchten Dschungel. Dazu war anzunehmen, daß sie viel mehr vom Kampf in den Tropen verstanden als jeder Rinderhirt aus Arizona, jeder Läufer aus Harvard und die farbigen Männer, die bisher in der baumlosen Prärie stationiert waren. Die Bemerkung Wheelers wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen. Wir alle wissen, daß es nur einer einzigen kleinen Kugel bedarf… Die Transportschiffe gingen, da der Seegang immer stärker wurde, wohlweislich weit entfernt vom Ufer vor Anker, die Kriegsschiffe noch weiter draußen auf offenem Meer; in Vorbereitung einer Beschießung reihten sie sich in einer Linie auf. Im Laufe des Nachmittags schritt Wheeler mindestens hundertmal das Schiff ab, ungeduldig und wütend, weil er erfahren hatte, daß eine weitere Lagebesprechung stattfand, aber diesmal ohne ihn in einem kleinen Dorf namens Palma. Gegen vier Uhr meldete der Posten im Krähennest Wimpelsignale auf dem Hauptquartiersschiff. Wheeler warf sich seinen Leinenstaubmantel über, schnallte sich seinen Zierdegen um, stülpte sich seinen alten schwarzen Hut auf. »Befehl, auf die Segurança zu kommen. Vielleicht ist es endlich soweit.« Ein Beiboot brachte Wheeler, Joe Crown, die anderen ranghohen Offiziere und ihre Adjutanten auf das schwarzgestrichene Schiff. General Shafter berief die Versammlung im Salon ein; das elektrische Licht brachte sein schweißüberströmtes Gesicht zum Glänzen. Shafter hatte seinen blauen Uniformrock ausgezogen. Sein Hemd glich einem Zelt, seine Hosenträger spannten sich eng über seinem riesigen Leib. Er schien aufgedunsener denn je zuvor, dazu blaß und müde, während er auf seinem besonderen – übergroßen – Stuhl saß und darauf wartete, daß seine Adjutanten einen Kartenständer aufstellten. Joe nahm in der letzten Reihe Platz; eine Rauchwolke, erzeugt vom
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deutschen Attaché, hüllte ihn ein. Der Mann ging ihm mit seinem preußischen Hochmut und seinem prahlerischen Getue über einen weitsichtigen deutschen Kriegsplan, dessen Grundzüge bereits festlägen, immer mehr auf die Nerven. Er behauptete, daß der ruhmreiche »Schlieffen-Plan« sehr sorgfältig durchdacht sei und bei wankenden Bündnissen so peinlich genau überarbeitet und revidiert werde, daß selbst die Länder mit den gewaltigsten Heeren – Rußland, England, das verhaßte Frankreich – ihm im Kriegsfalle nicht standhalten könnten. Da Joe nun neben dem Attaché saß, versuchte er, seine Verärgerung beiseite zu schieben und höflich zu sein. Von Rike seinerseits besaß ausreichend gute Manieren, um seine Zigarette in die andere Hand zu nehmen. Während sie warteten, fragte Joe: »Haben Sie der Unterredung an Land beigewohnt?« »Jawohl. Bin mit dem Maultier hingeritten!« Von Rike rollte mit den Augen. Er sprach mit leiser Stimme. »Die Unterredung fand in einer Strohhütte statt. Es waren auch einige kubanische Militärs zugegen. Sie hatten Gewehre, aber keine Schuhe. Bastarde und Mischlinge – Neger und Mulatten –, kein einziges weißes Gesicht. Bei der Ankunft unserer kleinen Truppe brachen sie beim Anblick unseres obersten Generals in offenes Gelächter aus. Sie hätten sehen sollen, wie er vom Pferd stieg. Eine Schiffswinde hätte gute Dienste geleistet.« Er warf seine Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Stiefelabsatz aus. »Man fragt sich ernsthaft, ob er die Hitze und die anderen Beschwerlichkeiten überstehen wird.« General Shafter riß sich seinen metallenen Kragenknopf ab und warf ihn auf den kleinen Feldtisch neben seinem Stuhl. Mit unglaublicher Anstrengung wälzte er sich auf die Beine. »Meine Herren, morgen früh, möglichst gleich nach Tagesanbruch, werden wir in Kuba an Land gehen.« Ein aufgeregtes Murmeln ging durch die Menge. Joe saß vollkommen aufrecht auf seinem Stuhl, jeder Nerv in höchster Alarmbereitschaft. Shafter watschelte zu der Landkarte. Er glich eher einem ungepflegten Wirtshausbesitzer als einem Soldaten. Er nahm einen hölzernen Zeigestock von seinem ersten Adjutanten Leutnant Miley entgegen. »Während des Zusammentreffens heute nachmittag mit Admiral Sampson und General Garcia habe ich die meiner Meinung nach einzig mögliche Strategie erläutert. Wir müssen Santiago einnehmen, aber nicht durch einen direkten Angriff. Die Klippen um den Hafen sprechen entschieden dagegen. Wir sind noch weit entfernt von einem Bürgerkrieg. Schwere menschliche Verluste werden von der Bevölkerung nicht erwartet und meines Erachtens auch nicht hingenommen. Deshalb schlage ich vor, daß wir unsere Truppen um Santiago herum postieren« – mit seinem
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Zeigestock markierte er den nordöstlichen Küstenbereich der Bucht –, »hart zuschlagen, um die feindlichen Linien möglichst schnell zu durchbrechen, die Reihe der spanischen Blockhäuser, die zum Schutz der Stadt errichtet wurden, überwinden und dann die Übergabe erzwingen. Wenn man die Strategie in einem Wort zusammenfassen wollte, dann lautet das Wort ›Eile‹. Eile! Unsere amerikanischen Soldaten können ebenso wenig eine langwierige Schlacht in diesem Klima und in dieser Jahreszeit führen, wie sie ihre Hände ins offene Feuer legen können, ohne sie zu verbrennen.« Gleich einem aufgebrachten Büffel senkte Shafter seinen struppigen Kopf und blickte unter seinen dicken Augenbrauen hervor auf seinen Stab, während er alternative Landungsplätze beschrieb, die ebenfalls diskutiert worden waren. Er sprach von insgesamt dreien, wo natürliche Spalten und Durchbrüche in dem Kalksteinriff der Küste auftraten. Er deutete auf die Aguadoresschlucht, sechs Kilometer östlich von Santiago. Auf das Dorf Siboney, achtzehn Kilometer weiter. Und auf einen Ort namens Daiquirí, elf Kilometer östlich davon. »Morgen, meine Herren, werden wir hier an Land gehen –« Er tippte mit dem Zeigestock so heftig auf die Karte, daß der Ständer beinahe umgefallen wäre. »Daiquirí. Leutnant Miley hat notiert, worauf wir uns gefaßt machen müssen. John?« Der junge Miley faßte sich kurz, er las aus seinem Notizbuch vor. Daiquirí war ein Dorf, benannt nach einem nahe gelegenen Fluß. Eine Zeitlang hatte sich dort die Zentrale der Amerikanisch-spanischen Minengesellschaft befunden, aber der Krieg hatte die Förderung lahmgelegt, und die amerikanischen Mineningenieure waren nach Hause zurückgekehrt. »Vorfinden werden wir dort einige Zinkhütten, Behausungen aus Palmwedeln, Maschinenlager sowie einen Lokschuppen am Ende eines Eisenbahngleises, das ins Innere des Landes führt. Sofern die Strecke noch befahrbar ist, werden wir unsere Männer und Pferde auf dem Schienenweg nach Siboney transportieren können.« »Von dort«, fuhr Shafter von seinem Stuhl aus fort, »werden wir über die Gebirgspfade nach Nordwesten vordringen und Santiago umzingeln und erobern.« »John.« Die gebieterische Stimme gehörte dem Brigadegeneral S.S. Sumner, Joes Kollege und Kommandeur der 1. Brigade. »Sam?« »Ist der Strand, wo wir an Land gehen, breit?« Miley war nicht ganz wohl in seiner Haut. »Es gibt einen Strand, aber er ist ziemlich schmal. Wir hoffen, daß er für ein Landemanöver, wie wir es planen, ausreicht. Glücklicherweise gibt es da noch einen langen
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Landungssteg, wo normalerweise Erz von Förderwagen auf kleine Frachtschiffe verladen wird. Der Landungssteg liegt hoch über der Wasseroberfläche, mindestens zehn Meter.« Joe vernahm einige Seufzer. Und Sam Sumner gab sich damit nicht zufrieden. »Die Winde an dieser Küste sind verdammt stark. Und der Seegang wird im Laufe des Tages mit jeder Minute, die vergeht, schwerer. Garantiert.« »Dieses Risiko müssen wir eingehen, Herr General. Der Befehl wird innerhalb von zwei Stunden geschrieben und verteilt. Der Landungsbefehl lautet wie folgt: Als erster landet General Lawton mit der 2. Division und den vier Schnellfeuerkanonen. Als nächster General Bates mit seiner unabhängigen Brigade und anschließend General Wheelers Kavallerie.« Der kampfeslustige Joe machte keinen Hehl daraus, daß er nicht gern der letzte war. »Kurz nach Tagesanbruch werden Admiral Sampsons Kriegsschiffe auf einem zwanzig Meilen breiten Abschnitt mit der Beschießung der Küste beginnen, um den Feind abzulenken. Jeder Soldat wird seine Tornisterrolle, sein Feldgeschirr, Feldrationen für drei Tage und hundert Schuß Munition mitnehmen. Wenn alle Männer an Land sind, werden auch die Maultiere und Pferde an Land gebracht.« Oberst Leonard Wood von der 1. Freiwilligen Kavallerie erhob sich. Er war ungefähr in Roosevelts Alter und Absolvent der medizinischen Fakultät der Harvard-Universität; er hatte vor Jahren als Militärarzt gedient und festgestellt, daß ihm das Leben bei der Armee gefiel. Er hatte kurzgeschnittenes blondes Haar, blaue Augen, kräftige Schultern und große, schwielige Hände. Joe kam er ganz und gar nicht vor wie ein Frontkämpfer, genauso wenig wie viele andere bei dieser Unternehmung, einschließlich er selbst. »Gibt es auf dem Landungssteg irgendeine Winde?« fragte Wood. »Nein, Herr Oberst, es gibt keine.« »Und wie sollen dann die Tiere an Land gebracht werden?« »Wir werden sie an Seilen von den Schiffen ins Wasser lassen, und dann müssen sie schwimmen.« Wood wurde blaß. Wieder vernahm Joe unzufriedenes Gemurmel. Die Landung wirkte mehr und mehr improvisiert, gefährlich improvisiert sogar. Joe Wheeler sprang auf, raufte sich den weißen Bart. »Sir!« Shafter nickte freundlich. »Wissen wir, was wir nach unserer Landung an Widerstand erwarten müssen?« Shafter schob die Daumen unter seine Hosenträger. Seine Augen glitten nervös über die anwesenden Männer. »General Garcias Spähtrupps haben uns mit genauen Informationen über Befestigungseinrichtungen in der
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ganzen Gegend versorgt. Die Spanier verfügen über Feldschanzen, Brustwehre und Schützengräben. Auf der Anhöhe befindet sich außerdem ein spanisches Blockhaus.« »Aber wie viele Soldaten erwarten uns?« Mit finsterem Blick antwortete Shafter: »Das wissen wir nicht.« Mittwoch, 22. Juni. Der Weckruf ertönte um halb vier am Morgen. Joe hatte sein Marschgepäck nach dem Abendessen hergerichtet und es seinem Burschen Willie Terrill übergeben, dann war er ein paar Minuten an Deck spazierengegangen, bevor er in seine Koje gekrochen war, wo er sich die halbe Nacht unruhig hin und her geworfen hatte. Das Deck der Allegheny war noch vor Morgengrauen gegen fünf Uhr überfüllt. Die Bergspitzen lagen im dichten Nebel. Das Dorf Daiquirí – das wenige, was davon zu sehen war – erinnerte an einen Friedhof. Durch sein Teleskop beobachtete Joe einen räudigen gelben Köter, der am Strand entlangrannte. Eine Reihe von leeren Erzförderwagen stand auf dem hohen Landungssteg. Vor einer der Strohhütten stieg eine Rauchfahne auf; irgend jemand hatte ein Feuer zum Kochen entfacht, aber dieser Jemand war nicht mehr zu sehen. Bereits jetzt wehte ein kräftiger Wind in Richtung Ufer. Bereits jetzt bildeten sich kleine weiße Schaumkronen auf dem Wasser. Mit einhundertfünfzig Booten sollte der Fährdienst von den Schiffen zum Ufer gewährleistet werden. Dampfbetriebene Barkassen, von denen jede einzelne mehrere Beiboote hinter sich herzog. Als der Himmel sich erhellte und der Nebel auf den Bergen sich langsam lichtete, gingen die Barkassen entlang der Transportschiffe in Position. Joe hatte seinen Uniformrock und seinen Zierdegen angelegt. Nur selten im Leben war er sich so erhitzt und klebrig vorgekommen wie jetzt. Die in der Ferne, in Richtung Santiago, vernehmbaren Kanonenexplosionen führten zu einem Jubelgeschrei auf den überfüllten Decks der Transportschiffe. Sampsons Schwadron hatte mit dem Ablenkungsfeuer begonnen. Die Kriegsschiffe, die zum Anlegen eingeteilt waren – Wasp, Hornet, Scorpion, Vixen und New Orleans –, formierten sich in einer Linie. Kurz nach halb zehn wurde der erste Gefechtsturm getroffen; in der gleichen Sekunde erfolgte ein lautes Dröhnen, und eine weiße Rauchwolke stieg in die Luft. Hoch oben auf der Anhöhe hinter Daiquirí schoß eine Fontäne aus Erde und Trümmern in die Luft. Das zweite Salvenfeuer hatte eine Hütte in der Nähe des Strandes in die Luft gesprengt. Mehr Jubelgeschrei … Die Beschießung dauerte ungefähr noch eine halbe Stunde. Wheeler
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schritt in Joes Nähe an Deck auf und ab, wobei er, ganz ungewöhnlich für ihn, allerhand Flüche ausstieß. Er haßte die hohen Wellen, die unter lautem Getöse an den schmalen Strand schlugen und dort gegen die Eisenpfosten des Landungsstegs krachten. Man mußte nur über die Reling blicken und mit ansehen, wie das Beiboot zuerst auf den Wellenkämmen ritt und dann wie ein Fahrstuhl, dessen Seile gerissen waren, in die Tiefe donnerte, um zu wissen, wie gefährlich das Meer war. Aufgeregte Schreie lenkten Joes Aufmerksamkeit in Richtung Ufer. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und schwarzem Haar kam mit einer langen Stange, an deren Ende ein viereckiges weißes Tuch befestigt war, an das Ende des Landungsstegs gerannt. Mehrere Reiter mit Strohhüten galoppierten mit wehender kubanischer Fahne und lauten Rufen in Richtung Schiffe. »Zum Teufel! Die Spanier müssen letzte Nacht das Weite gesucht haben. Diese Burschen sind auf unserer Seite.« Das Feuer wurde eingestellt. Im ganzen Dorf brannten die Palmenhütten, schwarze Rauchwolken zogen gen Himmel. Ein großes rundes Gebäude – der Lokschuppen vielleicht – brannte ebenfalls. Der aufsteigende Rauch vermischte sich mit dem Nebel über den Bergen. Im Rumpf der Transportschiffe wurden oberhalb der Wasserlinie die Türen der Landungsbrücken geöffnet. Strickleitern wurden hinabgelassen. Um halb elf kletterten die ersten Männer über die Strickleitern in die Beiboote. Angespannt und nervös mußte Joe mit ansehen, wie einer der Männer den Fuß neben ein schaukelndes Boot setzte und ins Wasser stürzte. Beladen mit Gewehr, Patronengurt und Tornisterrolle, ging er innerhalb von Sekunden unter. Er tauchte wieder auf, schrie und wurde an Bord gezogen. Eine Barkasse nach der anderen zog die überfüllten Beiboote neben den Landungssteg. Jedesmal, wenn ein Brecher eines oder mehrere Beiboote hoch genug anhob, sprangen die Männer mit einem Satz auf den Steg. Um die Mittagszeit setzten zwei schwarze Soldaten der 10. Kavallerie zum Sprung an, sprangen daneben und landeten im Wasser. Selbst an Deck der Allegheny konnte Joe ihre verzweifelten Schreie hören. Ein Offizier der Rough Riders auf dem Landungssteg warf seinen Hut beiseite und sprang kopfüber ins Wasser, vergebens. Die beiden Soldaten waren eingeschlossen zwischen dem Landungssteg und ihrem Beiboot, das von den Wellen an die Pfosten und dann wieder weggespült wurde. Am Pfahlwerk sah Joe bereits die ersten Blutspuren. Und im Wasser trieb eine Soldatenmütze. Die beiden schwarzen Soldaten waren die ersten Toten. Diejenigen, die in den Beibooten fast bis ans Ufer gebracht wurden, hatten es leichter. Sie sprangen ins Wasser und wateten an Land. Am Nachmittag hallte bei Daiquirí das Gewieher und Geschrei der
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Pferde und Maultiere über das Meer, als die Tiere an Winden mit Seilen ins Wasser gelassen wurden. Die meisten schwammen an den Strand, aber einige waren zu verängstigt oder zu schwach. Als Joe endlich in einem der Beiboote auf das Ufer zuhielt, zählte er neun tote Tiere, die im Wasser trieben. Schreiend und mit seinem Hut winkend, stand Roosevelt auf dem Landungssteg. Ob er sein Pferd verloren hatte? Unzählige Männer, darunter auch Zivilisten, trieben in der schäumenden Brandung ans Ufer. Einer der Männer, er trug einen Strohhut mit breiter Krempe, watete mit einer Filmkamera und einem Stativ auf den Schultern an Land. Ein zweiter Mann mit einem Derby stapfte mit einem riesigen Seesack auf den Armen hinter ihm her. Auf die große Entfernung konnte Joe keinen der beiden Männer erkennen, aber er ging davon aus, daß es sich um Bitzer handelte, den Kameramann, dem er bereits begegnet war. Im stürmischen Wind näherte sich Joes Beiboot dem Landungssteg. Der behende General Wheeler hatte keine Schwierigkeiten, einen Satz zu machen und die ausgestreckten Hände der beiden einfachen Soldaten zu ergreifen. »Jetzt sind Sie dran, Herr General!« rief der Obergefreite Willie Terrill, als sich das Beiboot wieder senkte. Joe trat zur Ruderbank vor. Das Beiboot schoß schnell in die Höhe. Als der Bursche ihm zurief »Jetzt, Sir!«, setzte Joe zum Sprung an. Obwohl sein rechter Fuß sicher auf dem Landungssteg aufsetzte, kam er ins Rutschen. Er ruderte mit den Armen, während er rückwärts gegen das immer noch hoch auf der Welle reitende Beiboot fiel. Er hörte seinen Burschen schreien. Willies große, grobe Hände trafen ihn im Kreuz und stießen ihn nach vorn. Joe landete auf dem Bauch und schürfte sich das Kinn auf. Seine Beine baumelten über dem Wasser. Er zog sich vor, kam schließlich unter Zuhilfenahme von Händen und Knien und mit pochendem Herzen hoch. Er sah sich um und strich seine Uniform glatt, zutiefst beschämt, den feindlichen Boden auf solch unrühmliche und unmilitärische Weise betreten zu haben. Bei Tagesende waren sechstausend Mann am Strand von Daiquirí an Land gegangen. Da Wheeler und seine Stabsoffiziere auf ihre Pferde warten mußten, machten sie sich auf, das beschossene Dorf zu besichtigen. Wheeler hatte bereits verkündet, daß er beabsichtige, noch vor Einbruch der Dunkelheit höchstpersönlich einen Erkundungsritt ins Landesinnere zu unternehmen. Daiquirí bestand aus schlammigen Straßen, rauchenden Hütten und zerstörten Gebäuden. Die Offiziere eilten zum Lokschuppen. Der
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schmierige Rauch, der aus den Fenstern drang, trieb allen Anwesenden die Tränen in die Augen; Joe krümmte sich in einem Hustenanfall. Die Hälfte des Daches des Gebäudes war zerstört. Mindestens fünfzig kubanische Soldaten – schwarze, braune und alle Schattierungen dazwischen – kamen auf die Offiziere zugerannt und schrien: »Viva los americanos!« Einige der Amerikaner schwenkten ihre Degen und erwiderten den Gruß mit: »Viva Cuba libre!« Joe blieb stumm; ihn beeindruckten die barfüßigen, hemdlosen Rebellen, die zum Teil mit ihnen Schritt hielten und die Hände nach Geld ausstreckten, ganz und gar nicht. Einer der Männer zupfte an Joes Schulterklappe, als wolle er sie als Andenken haben. Joe schlug die Hand weg. Der Mann stieß einen spanischen Fluch aus und rannte davon. General Wheeler befand sich bereits auf der anderen Seite des Gebäudes. Joe und die anderen eilten ihm nach. Sie entdeckten ein einziges Eisenbahngleis, das in den Dschungel führte. Ein Anblick, der ihm vom Marsch durch Georgia und Carolina her bestens vertraut war. Zerbrochene Schwellen, Schienen, die erhitzt und dann mit dem Brecheisen hochgestemmt und verbogen worden waren. Im letzten Krieg hatten sie die so zugerichteten Schienen »Shermans Haarnadeln« getauft. Wheeler schlug seinen alten schwarzen Hut gegen sein Bein. »Auf diesem Gleis werden wir niemanden befördern. Joe, stellen Sie doch fest, wie weit die inzwischen mit den verdammten Pferden sind. Ich will ins Landesinnere reiten, bevor Shafter es mir verbietet.« »Sir«, antwortete Joe und salutierte. Er und sein Adjutant Tyree Bates schritten schnell durchs Dorf. Sie fanden ihre Pferde am Strand, und Joe rief den mit ihnen beschäftigten Männern zu, sich zu beeilen. Während er den Pferden zu Fuß folgte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Zwei erschöpfte Männer hievten eine Kamera und ein Stativ von einem Beiboot. Das zweite Beiboot hinter ihnen mit den drei großen Holzkisten lag viel tiefer im Wasser. Leutnant Bates blieb stehen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Herr General?« An Joes Ohr surrte ein Insekt. Er schlug mit der Hand zu, dann wischte er sich das Blut von seinen Fingern. »Ich möchte nur diese Männer da etwas fragen. Ich hole Sie schon ein.« Bates eilte davon. Joe watete ins Wasser auf die Männer zu, die jetzt ihre Kamera über den Kopf hoben, um sie trocken an Land zu bringen; sie war zweimal so groß wie die, die er etwas früher gesehen hatte. Der junge Mann, der die Anweisungen erteilte, trug eine karierte Mütze und eine schmucke, wenngleich vollkommen durchnäßte Jacke. Joe kannte ihn. »Hallo, Bitzer. Ich hab’ geglaubt, ich hätte Sie schon längst an Land
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gehen sehen.« »Das waren nicht wir«, antwortete Bitzer unglücklich. »Shafter hat bis jetzt keinen einzigen Zivilisten von Bord gelassen. Davis würde ihn am liebsten vierteilen. Vielleicht haben Sie eins der anderen Teams gesehen, Paleys vielleicht, oder das, das mit der Yucatan gekommen ist.« »Woher kommen die?« »Bill Paley kommt aus New York, im Auftrag von Edison. Die anderen beiden arbeiten für American Luxograph in Chicago. Einen davon kann ich nicht leiden, aber der Chef-Kameramann ist ein netter Kerl.« »Wie heißt er?« Bitzers Augen nahmen plötzlich einen seltsam ausweichenden Blick an. In diesem Augenblick trat sein Assistent zu ihnen und bemerkte, daß sein Partner zögerte, als sei ihm der Name entfallen. Der Assistent antwortete: »Crown. Mit Vornamen heißt er, glaube ich, Paul, aber alle nennen ihn nur Dutch.« 101 ROSE Am Nachmittag, bevor die Soldaten am Strand von Daiquirí an Land gingen, deutete Rose French in einem Pfandhaus auf eine Vitrine. »Kann ich bitte die da sehen?« Der Pfandhausbesitzer, ein entgegenkommender Ire mit schütterem rotem Haar und hellen Sommersprossen auf den Händen, schloß die Rückwand der Vitrine auf und holte einen kleinen versilberten Handtaschenrevolver heraus. »Sehr schönes Stück, mein Kind. Ist er für Sie?« »O ja«, antwortete sie. Selbst nach so vielen Tagen war ihr linkes Auge immer noch geschwollen. Blaue und gelbe Flecken kennzeichneten die Stellen, wo Elstree sie brutal mißhandelt hatte. Der Pfandhausbesitzer betrachtete sie mit nachdenklichem Blick. »Ich bin vor kurzem am hellichten Tag überfallen worden. Überfallen und beraubt«, fügte sie schnell hinzu. »Ich verstehe.« Der Ire gab ein mitfühlendes Glucksen von sich. Rose prüfte das Gewicht des Revolvers. »Ist das ein gutes Teil?« »Remington ist eine unserer besten Marken.« »Und läßt sich damit auch etwas ausrichten?« Der Mann beugte sich über die Vitrine und deutete auf eine noch kleinere Pistole. »Frauen bevorzugen in der Regel diese Kleinkaliberpistole hier. Aber im
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Vergleich mit der, die Sie in der Hand halten, gibt sie natürlich sehr viel weniger her. Das Stück in Ihrer Hand ist eine zweischüssige Pistole; gefährlich ist bereits ein aus zwanzig Meter Entfernung abgegebener Schuß. Aus drei bis sieben Meter Entfernung streckt sie jeden Angreifer nieder, selbst einen Rohling, der sich an Frauen vergreift. Ein Schuß aus ein bis zwei Meter direkt ins Gesicht, dann erkennt ihn nicht einmal mehr seine fromme Mutter.« »Gut«, murmelte Rose mit einem träumerischen Lächeln. Ihre Zunge fuhr über ihre geschwollene, verfärbte Unterlippe. Durch einen von Elstrees Fausthieben war sie an den Zähnen auf der Innenseite aufgerissen. Ihr Mund hatte tagelang geblutet. Sie gab dem Pfandhausbesitzer die Waffe zurück. »Das klingt ideal. Die nehme ich.«
102 DUTCH Um fünf Uhr am Nachmittag schickte General Wheeler eine Gruppe Soldaten zu dem verlassenen Blockhaus auf der Anhöhe über Daiquirí. Einer von ihnen trug eine gefaltete Flagge. Paul war auf der Suche nach Jimmy. Er war nirgendwo zu finden – das zweite Mal, daß er seit Verlassen des Schiffs verschwunden war. Verärgert ließ Paul seinen Koffer fallen, nahm die Kamera von der Schulter und prüfte, wieviel Meter Film darin noch zur Verfügung standen. Noch circa 20 Meter. Glück gehabt, denn Jimmy trug außer seinem eigenen kleinen Koffer den Seesack mit den unbeachteten und belichteten Filmrollen. Paul kniete im Schlamm nieder, um ein Bein des Stativs kürzer einzustellen. Dann nahm er seinen Strohhut ab und fächelte sich damit Kühlung zu. Traurig nahm er zur Kenntnis, daß das glänzende blaue Hutband mit Schlammspritzern bedeckt war. Hoch über ihm wurden nun Männer am Schutzwall des Blockhauses sichtbar. Ein Blick auf die Kameralinse genügte, um zu sehen, daß sie beschlagen war. Er zog das gefaltete getupfte Halstuch der Rough Riders aus der Hemdtasche und säuberte damit vorsichtig das gewölbte Glas. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellen sollte. Das Sternenbanner erklomm bereits den Fahnenmast. Paul fing an zu kurbeln. Diese Aufnahme war ein großartiger Abschluß zu den Beibooten, den an Land watenden Männern, den rauchenden Trümmern von Daiquirí. Ein donnernder Schrei aus Hunderten von Kehlen grüßte die wehende Fahne. Draußen auf dem Meer ertönte das Horn eines Schiffes, dann eines
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zweiten, bald tönten sie im Chor. Paul war einen Augenblick lang nachdenklich; wie sehr er einmal gehofft hatte, daß es seine Fahne sein würde. Aber vielleicht war auch dies nur einer der naiven Träume, über die sich Vetter Joe lustig gemacht hatte. Völlig unvermittelt trat Jimmy mit Koffer und Seesack in seiner linken Hand aus den Rauchschwaden auf ihn zu. In der rechten Hand hielt er ein langes, gebogenes Buschmesser, genannt Machete. »Woher hast du das Messer?« fragte Paul. »Von irgendwoher. Kümmer dich nicht drum.« Paul gelang es, sich zu beherrschen. »Wir müssen einen Lagerplatz finden. Vor allem aber Oberst Woods Regiment. Ich hab’ sie landeinwärts marschieren sehen.« Er lud sich Kamera und Stativ auf die Schulter und packte seinen Koffer mit der anderen Hand. Seine Waden und Oberschenkel schmerzten von den Anstrengungen des Tages. »Sobald wir einen Lagerplatz gefunden haben, muß ich einen Freund suchen. Ich will mich vergewissern, daß er nicht einer der beiden Männer ist, die heute ertrunken sind.« Jimmy wedelte sich mit seinem Derby Kühlung zu. »Das waren doch Nigger.« »Schwarze, ja.« Jimmy sah ihn verwirrt an. »Außerdem muß ich noch eine neue Rolle laden.« »Klar, aber ich wette, du vergeudest bloß deine Zeit. Der Film schmilzt wahrscheinlich in dieser Hitze.« Den gleichen Gedanken hatte Paul auch schon gehabt. Er schob ihn schnell wieder beiseite. Hinter Daiquirí erstreckte sich das weite Grasland bis hin zu dem üppigen grünen Dschungel. Auf dem offenen Gelände hatte die 1. Freiwillige Kavallerie ihr Nachtlager aufgeschlagen. Zu ihrer Rechten hatten Joe und Jimmy während ihres Marsches eine Lagune entdeckt, die mit gelblichem Schaum bedeckt war. Zu ihrer Linken, in ziemlichem Abstand zu der Lagune, war jedoch genügend Platz für sie und ihre Ausrüstung. In ihrem Seesack befand sich eine Gummimatte. Paul wußte, daß Jimmy darauf bestehen würde. Er war zu müde, sich darum zu streiten. Es würde eine lange, feuchte Nacht werden. Im Hauptquartierszelt fand Paul Oberstleutnant Roosevelt, bei dem er sich sofort nach der 10. Kavallerie erkundigte. Auf seine Frage antwortete Roosevelt, daß die 10. am späten Nachmittag zu dem ungefähr zehn Kilometer weit entfernten Dorf Siboney aufgebrochen sei.
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»Ich mache mich jetzt auf die Suche nach meinem Freund«, erklärte Paul dem verdutzten Jimmy. »Frag nach, ob das Regiment ein paar Bohnen und Zwieback entbehren kann. Außerdem brauchen wir Wasser. Angeblich gibt es in den Wassertanks der Minengesellschaft noch frisches Wasser. Solange ich weg bin, kannst du ja unsere Feldflaschen füllen.« Jimmy starrte ihn wortlos an, während die Machete lässig an seinem Handgelenk baumelte. Paul sagte: »Ich komm’ wieder.« »Klar, und beeil dich, wenn’s recht ist. Wüßte nicht, wie ich ohne deine Befehle und Anweisungen zurechtkommen sollte.« Wann kommt der große Krach? fragte sich Paul, als er sich auf den Weg machte. Die Antwort, so befürchtete er, lautete »bald«. Die Straße nach Siboney trug ihren Namen zu unrecht. Es handelte sich keineswegs um eine befahrbare Straße, sondern um einen unebenen Pfad, der sich zwischen Kalksteinklippen auf der Küstenseite und dem Gleis schlängelte, das die Spanier während ihres Rückzuges zerstört hatten. Der Pfad war nichts weiter als eine Schneise, die irgendwann in einen tropischen Wald von Kakteen, Palmlilien, Dornenbüschen und Kokosnußpalmen geschlagen worden war. Er war schmal, kaum breit genug für einen sechsspännigen Pferdewagen, dazu düster und dunkel. Tausende von herabhängenden Kletterpflanzen machten aus dem umliegenden tropischen Regenwald ein undurchdringliches Dickicht. Der Vorstoß von Männern und Tieren erfolgte inzwischen im Schneckentempo. Als Paul auf die schwarzen Soldaten stieß, war die Truppe zum Stillstand gekommen. Die Männer der 10. hatten beschlossen, eine Pause einzulegen, um zu rauchen und sich auf ihren mit Schlamm beschmierten Decken auszuruhen. Paul trat auf einen weißen Leutnant zu, dem die Bartstoppeln im Gesicht standen und an dessen Hemd nicht ein einziger trockener Faden war. »Person?« raunzte der Leutnant. »Natürlich ist er noch am Leben, verdammt noch mal, warum auch nicht? Er ist irgendwo weiter vorne.« Paul drängte weiter, sprang über ausgestreckte Beine, bis er nach ungefähr einer weiteren halben Meile plötzlich das häßliche Gesicht Ott Persons erspähte. »Ott! Gott sei Dank!« schrie er, während er auf Ott zurannte. Der schwarze Soldat rappelte sich hoch. »He, Heine, was machen Sie denn hier?« »Ich hab’ gehört, daß zwei Männer aus Ihrem Regiment am Landungssteg ertrunken sind. Ich hatte Angst –« »Daß es der alte Ott sein könnte? Ich bin zu schlecht und zu widerspenstig, um mich auf diese Weise zu verabschieden. Sie haben sich
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meinetwegen tatsächlich Sorgen gemacht, was?« »Ich sorge mich immer um meine Freunde.« »Es freut mich, daß Sie mich zu Ihren Freunden zählen. Sie sind auch mein Freund. Hier, setzen Sie sich doch, und ruhen Sie sich aus. War Ihnen schon jemals so heiß? Wenn ich sterbe, muß ich nicht mehr in die Hölle, ich weiß jetzt schon, wie es dort unten ist.« Aus der Tasche seines verschwitzten Khakihemds holte er einen Tabaksbeutel und Papier. »Wollen Sie sich eine drehen?« »Danke, ich hab’ noch eine Zigarre.« Es war seine letzte aus Tampa. Er schnitt das Ende mit seinem Taschenmesser ab und beugte sich zum Streichholz vor, das Ott in der Hand hielt. Etwas weiter vorne fing ein schwarzer Soldat an, auf der Mundharmonika The Stars And Stripes Forever zu spielen; er spielte ganz langsam, fast melancholisch, passend für das Ende eines anstrengenden Tages. »Ich will Ihnen sagen, daß es mir hier überhaupt nicht zusagt«, meinte Ott, während sie rauchten. »Ich möchte hier raus und zurück in die Staaten. Was wollen Sie machen, wenn dieser Krieg vorbei ist?« »Meine Filmrollen nach Chicago schaffen, wenn ich gutes Material zusammenbekomme. Und danach suche ich mir vielleicht Arbeit in England.« »Ssssss-sssss. Das ist doch direkt über den großen Teich, oder nicht? Was ist los, gefällt es Ihnen in unserem Land nicht mehr?« »Manches an Amerika ist gut. Aber nicht alles. Ich glaube, daß meine Erwartungen einfach zu groß waren. Man hat mich gewarnt. Als ich auf Ellis Island zum erstenmal amerikanischen Boden betrat, da habe ich gehofft, daß Amerika meine Heimat werden würde. Aber ich gehöre dort nicht hin. Ich glaube, es wird Zeit, etwas anderes auszuprobieren.« »Heine, tun Sie das nicht! Sie sind ein guter Mann. Unser Land braucht Männer wie Sie. Sie dürfen nicht einfach abhauen und alles diesen gemeinen Burschen überlassen, wie diesem fetten Feldwebel und seinesgleichen. Davon haben wir schon genug. Gibt’s denn nichts, was Sie zum Bleiben bewegen könnte?« »Es gab da ein Mädchen. Wenn ich mit ihr eine Familie gründen könnte … Aber das ist unmöglich, ich hab’ sie verloren.« »Es gibt doch viele hübsche weiße Mädchen in Amerika. Ich wette, daß viele Sie glücklich machen könnten.« »Nein, Ott. Aber danke für Ihre gutgemeinten Worte! Ich glaub’, ich muß mich jetzt auf den Weg machen, es ist eine ganz schöne Strecke bis zu meinem Partner und unserer Ausrüstung. Passen Sie bitte gut auf sich auf.« »Klar doch, Heine, mach’ ich, und Sie auf sich! Und verlassen Sie uns
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nicht zu bald, ich muß noch meine Schulden bei Ihnen begleichen.« Die Mundharmonika ließ ihre seltsam traurige Melodie erklingen, während Paul winkte und sich auf den Weg nach Daiquirí machte. Die Mondsichel warf ein bleiches Licht auf das Lager. Paul schob die Gummimatte in Richtung Jimmy, rollte sich dann in dem feuchten Gras auf die andere Seite, bedeckte Wange und Auge mit seinem Strohhut und schwor sich zu schlafen, ganz gleich, welche Widrigkeiten ihn davon abzuhalten versuchten. Derer gab es viele. Über Daiquirí flackerte ein rötliches Licht; das Maschinenlager der Minengesellschaft brannte noch immer. Aus einiger Entfernung von der Küste ließen die Kriegsschiffe ihre Suchscheinwerfer über das zerstörte Dorf, den Dschungel und die Berge gleiten, die vier, fünf Meilen landeinwärts steil in die Höhe ragten. In der Ferne sangen aufständische Truppen unter dem Kommando eines gewissen Generals namens Demetrio Castillo spanische Lieder. Etwas näher klangen die Stimmen der Wachposten, die regelmäßig Meldung machten. Insekten surrten und brummten. Selbst in Pauls Magen herrschte Unruhe; er war ausgehungert. Jimmy hatte eine Feldflasche mit frischem Wasser besorgt und eine mickrige Ration Bohnen und Zwieback, die sie sich geteilt hatten. Aber trotz des flackernden Lichts und des Lärms, der Hitze und der Feuchtigkeit nickte Paul ein. Jimmys Schrei riß ihn aus dem Schlaf. »Verdammt, was ist denn das? Mutter Maria, so hilf mir doch!« Paul fuhr hoch. Der Hut fiel ihm vom Gesicht. Im Mondschein sah er Jimmy auf dem Rücken liegen und wie wild auf seine Brust einschlagen. Auf etwas Großes, rund wie eine Untertasse, mit rudernden Fortsätzen. Irgend etwas krabbelte an Pauls Bein hoch. Er sah nach unten und stieß einen Schrei aus. Die gleiche Art von Kreatur marschierte sein Hosenbein herauf in Richtung seines nackten Bauchs, wo sein Hemd aus der Hose gerutscht war. Im Gras um sie herum raschelte und knackte es. Paul schlug die Krabbe von seinem Bein. Es war ein scheußliches Viech mit zwei langen, wankenden Scheren und zwei runden gestielten Augen. Es besaß eine Art Maul, dessen Lippen einem harten Schnabel glichen. Während er hinunterstarrte auf diese Mäuler, die sich öffneten und schlossen, öffneten und schlossen, wurde er von einem lähmenden Entsetzen erfaßt. Es war das Entsetzen eines kindlichen Alptraums, während dessen man, allein in der Dunkelheit, einem allmächtigen Dämon begegnet und niemand zu Hilfe kommt. Er zitterte, unfähig, sich zu bewegen. Eine andere Krabbe kroch jetzt auf seinen Oberschenkel. Um seine Stiefel herum bewegten sich mindestens ein
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halbes Dutzend weitere und knackten mit ihren Scheren. Jimmy hatte immer noch nicht aufgehört zu schreien und sprang von einem Fuß auf den anderen, obwohl es ihm gelungen war, das Viech, das ihn aufgeweckt hatte, abzuwerfen. Aus den Zelten der Regimentssoldaten drangen ähnliche Laute. Jimmy hüpfte näher an Paul heran und fing an, auf die Krabben zu stampfen. Ihre Panzer knackten laut. Sie gaben schwache Laute von sich, die seltsamerweise wie ein klägliches Weinen klangen. Ein Feldwebel kam auf sie zugerannt, als sich Paul endlich hochrappelte. Er erkannte den langen Rough Rider aus Kalifornien, Johnson. »Landkrabben«, rief er ihnen zu. »Eine ganze verdammte Armee.« »Ich bin aufgewacht, weil mir eine übers Gesicht gekrabbelt ist, verfluchte Scheiße«, stieß Jimmy keuchend hervor. »Oberst Wood meint, die Krabben seien nur dann gefährlich, wenn ein Mann verwundet ist. Sie sind scharf auf frisches Fleisch. Er meint, dafür rücken sie zu Hunderten an.« Immer noch zitternd, entschied Paul: »Komm, hilf mir mit der Ausrüstung. Wir ziehen um!« »Wozu soll denn das gut sein? Die sind doch überall in diesem verdammten Gras. Entweder erwischt mich jetzt so’ne Krabbe oder später eine Kugel von einem der Pfefferfresser. Ich hätte schon längst kehrtmachen sollen. Hätte überhaupt nicht mitkommen sollen. Vielleicht kündige ich jetzt auf der Stelle.« »Jim, wir machen weiter. Wir haben eine Aufgabe. Du kannst jetzt nicht kündigen. Und wenn du’s doch tust, dann bist du ein Feigling.« »Du verdammter Mistkerl! Nenn du mich noch mal einen Feigling – und wenn’s auch noch so leise ist –, dann schlag’ ich dir deinen verdammten Schädel ein.« Er packte die Machete, schwang sie in die Luft und ließ sie zischend über das hohe Gras sausen. Die Halme fielen lautlos auf die zerbrochenen Krabbenpanzer. Draußen in der Dunkelheit raschelten und knackten unzählige mehr … »Jim, beruhige dich! Ich hab’ ja gar nicht gesagt, daß ich dich für einen Feigling halte, sondern nur, daß du einer wärst, falls –« »Halt die Schnauze, ich hab’s ja gehört.« Auge in Auge standen sie sich im Mondlicht gegenüber. Plötzlich nahm die Erschöpfung beiden den Wind aus den Segeln. Paul sagte: »Okay, okay. Waffenstillstand. Also vorwärts.« Jimmy griff nach der Gummimatte am Boden, und sie verlegten ihren Schlafplatz an eine andere Stelle. Aber ganz gleich, wo sie sich niederlegten, überall wurden sie von den Landkrabben verfolgt. Jedesmal sprangen beide auf und fegten durch das Gras, Paul mit seinem Hut, Jimmy mit seinem Buschmesser, um die Kriechtiere zu
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verscheuchen. Auch aus den Zelten der Rough Riders drangen unablässig Lärm und Geschrei; die Zelte boten nur wenig Schutz vor den Eindringlingen. Und draußen war an Schlaf nicht einmal zu denken. Übernächtigt und zerschlagen aßen sie am Morgen Zwieback und tranken lauwarmen Kaffee aus Blechtassen. Anschließend machten sie sich auf den Weg nach Siboney, sprachen nur, wenn es unbedingt nötig war. Vor ihnen lagen sieben Meilen der undurchdringlichen grünen Hölle. Schwerbeladene Soldaten, Fuhrmänner, die ihre Wagen sicher über die unwegsame Schneise zu bringen versuchten, Karawanen von Maultieren, beladen mit Vorratssäcken, Wasserfässer, Holzkisten mit Munition und Teilen zerlegter Kanonen versperrten ihnen den Weg. Immer wieder schlugen herabhängende Kletterpflanzen Paul den Hut vom Kopf und zerrten an der Kamera auf seiner Schulter. Zweimal gab der Boden unter seinen Stiefeln nach, so daß er hinfiel. Jedesmal drehte er sich blitzschnell auf den Rücken, um die Kamera zu schützen. Trotz dieser Schwierigkeiten kamen sie schneller voran als die meisten Soldaten. Irgendwann stießen sie auf einen großen Wagen, der mit Kisten beladen war, die alle dieselbe schwarze Aufschrift trugen. EIGENTUM DER AMERICAN BIOGRAPH CO. NEW YORK USA. Der Wagen steckte im Schlamm fest. Paul erkannte die karierte Mütze des Kutschers. »Billy!« »Hallo, meine Herrn. Wir sitzen hier ganz schön in der Tinte.« Das zweite Vorderrad steckte bis zur Hälfte der Nabe im Schlamm. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln trieb Billy die beiden Maultiere mit der Peitsche an, während sein Assistent Len an ihren Stirnriemen zerrte. »Ihr seid herzlich eingeladen mitzufahren, sobald wir hier rauskommen.« Paul und Jimmy packten mit an; keuchend und schwitzend versuchten sie, das eingesunkene Rad zu drehen und zu heben. Gleichzeitig ließ Bitzer wieder die Peitsche niedersausen, und Len zerrte vorne. Schweißtriefend rief Paul: »Noch ein Stückchen, noch ein Stückchen, wie haben’s bald –« Das Rad machte einen jähen Ruck und der Wagen einen Satz nach vorne, auf festen Boden. »Verdammt gute Arbeit«, keuchte Bitzer, der nun über das ganze Gesicht strahlte. »Verstaut eure Kamera und Ausrüstung, und dann nichts wie weiter.« Paul legte die Luxograph auf die beträchtlich größere Biograph-Kamera, zwischen Bitzers Kisten mit den Ersatzbatterien. Dann kletterte er neben den Kameramann. Jimmy zog es vor, mit Len vor dem Wagen herzulaufen. Sie kamen nur langsam voran, aber Paul war froh, sich wenigstens ein Weilchen ausruhen zu können. »Du«, begann Bitzer unvermittelt, »ich weiß, daß dir das nicht gefallen
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wird, aber ich sag’s dir trotzdem. Dein Onkel, der General – er weiß, daß du hier bist.« »Woher?« »Ich bin ihm am Strand begegnet. Er hat mich von Tampa her wiedererkannt. Er fragte nach den anderen Filmteams. Ich hab’ gar nichts gesagt, aber –« Er deutete mit dem Kopf in Richtung seines Assistenten. »Len hat’s ausgeplaudert. Deinen Namen. Er wußte ja von nichts.« Mit einem harten Blick antwortete Paul: »Stimmt. Aber jetzt werde ich meinem Onkel irgendwann gegenübertreten müssen, das läßt sich nun nicht mehr vermeiden. Ich kann mich nicht verstecken und gleichzeitig meine Arbeit tun.« Ungefähr nach einer halben Meile trafen sie auf einen weiteren steckengebliebenen Wagen. Beide linke Räder waren vom Pfad abgekommen. Der Wagen neigte sich in einem Winkel von ungefähr dreißig Grad zur Seite. Mit beiden Händen winkend, rief der beleibte Kutscher ihnen zu: »He, Jungs! Hallo! Ihr müßt mir hier helfen, bitte.« »Mein Gott, das ist Paley.« Bitzer zügelte seine Maultiere; er und Paul sprangen ab. Paley vom Eden-Museum sah zum Erbarmen aus. Seine schnieke gestreifte Hose war zerrissen und schlammverschmiert; sein weißes Leinenhemd hatte an der Schulter einen breiten Riß und klebte wie eine zweite Haut an seinem Körper. Er torkelte ihnen entgegen. »Jungs, mich hat’s erwischt. Ich hab’ hohes Fieber. Und jetzt ist auch noch die Hinterachse angeknackst. Ihr helft mir doch, oder? Wir haben doch schließlich alle den gleichen Beruf, stimmt’s?« »Heute haben wir alle den gleichen Beruf«, murmelte Bitzer Paul zu. Zu Paley sagte er: »Machen Sie Platz! Ich werd’ es mir ansehen.« Bitzer kniete hinter dem Wagen nieder und tastete darunter nach der Achse. Paley schwankte ganz gefährlich hin und her und wischte sich mit einem mit Monogramm bestickten Taschentuch das Gesicht ab. »Läßt es sich reparieren?« »Tja, es sieht ziemlich übel aus. Ich schau’ noch mal.« Bitzers Hand verschwand erneut unter dem Wagen. Jetzt krachte etwas; die Hinterräder neigten sich nach innen, und der ganze hintere Wagenteil sackte zu Boden. Bitzer zog gerade noch rechtzeitig die Hand weg. »Sie ist nicht angeknackst, sie ist in der Mitte durchgebrochen. Was für ein Pech.« »Um Himmels willen, Jungs – ich muß an die Front! Habt ihr noch Platz in eurem Wagen?«
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»Leider nicht.« »Könntet ihr dann vielleicht jemanden auftreiben, der mir hilft?« Bitzer fächerte sich mit seiner Mütze Kühlung zu; sein Gesicht war so ernst wie das eines Leichenbestatters. »Es tut mir leid, Paley, aber ich habe nicht viel Einfluß, ich bin schließlich nur ein Niemand, so war’s doch, oder? Und Dutch Crown ist auch nur ein Niemand. Sollten uns jedoch General Shafter oder General Wheeler über den Weg laufen, dann fragen wir sie gern, ob sie eine Gruppe für Sie abstellen können. Also bis dann!« Paley klammerte sich an die Seite seines Wagens; er schien zu weinen. Paul lachte zwar nicht offen über Paleys Mißgeschick, aber irgend etwas in ihm freute sich dennoch über seinen zu Fall gekommenen Hochmut. In sicherer Entfernung von Paley platzte es aus ihm heraus: »Billy, du verflixter Bursche. Du hast die Achse gebrochen.« »Was soll das heißen? Ich hab’ sie nur kurz berührt. Behandele die anderen genau so, wie dich behandeln! Soll der arrogante Hund ruhig dort sitzen und kreischen. Er gehört zur Konkurrenz, und wir befinden uns im Krieg.« Kurz nach Mittag rollte der Wagen in der Nähe des Dorfes Siboney einen Hügel hinunter. Am Fuße des Pfads sahen sie zwei Landkrabben, die die Reste einer Ratte vertilgten. Ihre Leiber waren von einem blauen Rot mit schwarzen, orangefarbenen und hellgelben Flecken. Sie schwenkten ihre Scheren und drehten ihre kleinen Stielaugen zu dem lauten Wagen. Die Maultiere schreckten zurück und brüllten. Paul konnte sich nicht erinnern, daß ihm jemals irgend etwas soviel angst gemacht hatte. Der Wagen rollte quietschend weiter, schwankte jedoch noch Minuten danach. Bitzer ließ sie am Dorfrand von Siboney aussteigen. Paul spürte, daß sie nunmehr berufliche Konkurrenten waren; das Biograph-Team wollte filmen, ohne daß man ihm dabei über die Schulter sah. Das war ihm recht; ihm ging es genauso. Er dankte Bitzer, schüttelte ihm die Hand und winkte den beiden nach. Obwohl Siboney etwas größer war als Daiquirí, machte es den gleichen armseligen Eindruck. Hütten und nicht gerade solide wirkende Häuser breiteten sich auf beiden Seiten einer Schlucht aus, die sich vom Fuße der Berge zur Küste erstreckte. Auf der anderen Seite eines halbrunden Strandabschnitts waren schmutzfarbene Boote an einem baufälligen Landungssteg festgemacht. Die in einiger Entfernung von der Küste vor Anker liegenden Transportschiffe entluden nach wie vor die Soldaten an
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Bord in die bereitstehenden Beiboote; mindestens sechstausend mußten noch an Land gebracht werden. Überall am Strand tummelten sich nackte Soldaten im Wasser. Der Anblick zauberte eins der seltenen Lächeln auf Jimmys Gesicht. »Warum filmen wir nicht die? Glaubst du nicht auch, daß den Mädchen in Chicago diese vielen Flöten im Wind gefallen würden?« »Ich hab’ das Gefühl, daß sie Iz Pflaum gar nicht gefallen würden.« Erschöpft stellte Paul sein Gepäck neben sich und ließ sich auf einen herrenlosen Sack mit Kokosnüssen sinken. Er streckte die Hand aus. »Kann ich mir die ausleihen?« Jimmy reichte ihm die Machete nach einigem Zögern. Paul spaltete eine Kokosnuß und trank die Milch. Sie schmeckte süßlich; er mochte den Geschmack nicht, aber besser als das stinkende Wasser war sie allemal. Paul und Jimmy fanden einen Lagerplatz inmitten von Hunderten von Männern, die entweder ihre Zelte aufschlugen oder einfach wie sie im Freien lagerten. Die Stelle war nicht windgeschützt und der Untergrund mit unzähligen zerbrochenen Muschelschalen übersät, aber Paul hoffte, daß es ohne hohes Gras auch keine Landkrabben geben würde. Er suchte den Strand ab, bis er einen Offizier fand, der etwas über die Viecher wußte. Von ihm erfuhr er, daß sie Aasfresser waren und auf Feldern, in Sümpfen und Mangrovenbaumwäldern ungefähr acht bis neun Kilometer landeinwärts beheimatet waren. Obwohl sie bei Nacht zahlreicher erschienen, fürchteten sie auch das Tageslicht nicht. Paul, dem sofort die Ratte auf dem Pfad einfiel, murmelte: »Ja, das weiß ich.« Als er zum Lager zurückkehrte, humpelte er. Seine Füße waren voller Blasen. Seine Beine schmerzten von den Knöcheln bis zu den Hüften, desgleichen sein Rücken vom langen Herumschleppen der Kamera. Das Stativ hatte unter seinem Hemd auf beiden Schultern rote Striemen hinterlassen; die eine Seite blutete sogar. Er schälte sich aus seinem Hemd, biß die Zähne zusammen und wusch die Wunde am Strand mit dem Salzwasser aus. Jimmy war wieder einmal verschwunden, wieder einer seiner geheimnisvollen Ausflüge. Soll er doch das halbe Land ausrauben, ist mir auch egal, dachte Paul müde. Als er zufällig einen einfachen Soldaten sah, der mit einer Zeitschrift auf dem Schoß in der Sonne saß, bot er ihm fünfzig Cent an, um auf die Ausrüstung aufzupassen. Dann machte er sich auf den Weg ins Dorf. Siboney war überfüllt mit kampfbereiten amerikanischen Soldaten. Alle paar Minuten mußte Paul zur Seite springen, weil ein berittener Kurier an ihm vorbeigaloppierte. Er sprach mit mehreren Unteroffizieren und
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Offizieren, aber niemand wußte, wann es losgehen sollte. Als er sich nach dem letzten dieser wenig ergiebigen Gespräche abwandte, blickte er direkt in die Sonne. Er hob die Hand vor die Augen und trat in den Schatten einer Hütte. Als er die Hand sinken ließ, stand Michael Radcliffe vor ihm. Wie durch Zauberkraft. Michael schwenkte seinen schweren, mit einem Knauf versehenen Spazierstock, den er in Ybor City bei sich gehabt hatte, und sah kühl, trocken und sauber aus mit seinem steifen Strohhut, seinem modischen leichten Anzug aus weißem Flanell und seinen spitzen schwarzen Lederschuhen mit weißem Leinenbesatz. Sein einziges Zugeständnis an die Hitze war ein offener Kragenknopf und das Fehlen einer Krawatte. »Ich grüße dich, mein Freund. Du siehst aus, als tapptest du völlig im dunkeln.« »Genau wie alle anderen auch. Hast du eine Ahnung, wann es endlich losgeht?« »Ganz gewiß nicht. Mir ist es auch vollkommen egal, ich habe mich bereits eingerichtet und werde zu gegebener Zeit über die Ereignisse berichten, und zwar von einem Tisch in einem bequemen Wirtshaus, dort drüben, um genau zu sein.« Er zeigte mit seinem Spazierstock auf das Haus. Paul hatte schon eine spöttische Bemerkung auf der Zunge, aber das Klappern von Hufen verhinderte, daß er sie äußerte. Eine Gruppe von Offizieren trabte durch das Dorf in Richtung Santiago. Er erkannte General Wheelers weißen Bart. Sein Nacken versteifte sich, als er den Reiter direkt hinter Wheeler sah. Michael, der ihn beobachtete, fragte: »Welcher ist dein Onkel?« »Der zweite.« »Den hab’ ich schon gesehen. Ein harter Bursche, wie mir scheint.« »Ganz richtig.« »Aber du willst nicht, daß er dich entdeckt, stimmt’s? Du willst nicht mit ihm sprechen.« Irgend etwas in ihm verlangte jedoch danach, wünschte sich nichts sehnlicher. Trotzdem antwortete er: »Nein, warum sollte ich auch?« Michael grübelte einen Moment lang. »In Anbetracht dessen, was du mir über deinen Rausschmiß erzählt hast, halte ich das für eine legitime Frage. Ich werde das Thema ab sofort nicht mehr zur Sprache bringen. Hast du Lust, mich auf eine Zigarre und ein Gläschen ins Wirtshaus zu begleiten?« Auf dem Weg dorthin fragte Paul: »Hast du Hauptmann von Rike, den deutschen Attaché, schon getroffen?« Michael bejahte. »Erinnerst du dich nicht an ihn?« »Sollte ich?«
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»Er war vor sieben Jahren auf dem Bahngelände in Berlin, als du zum erstenmal aus dem Nichts aufgetaucht bist und meine Kunst verspottet hast. Er war einer der Offiziere, die das Ausladen des Buffalo Bill-Zugs überwachten. Damals war er Leutnant.« »Und jetzt erst Hauptmann? Nun ja, in Friedenszeiten steigt man in der Armee eben nicht so schnell auf. Jeder schwört, daß er den Krieg verabscheut, aber insgeheim verehren ihn alle. So viele Vorteile. Beförderungen. Fette Gewinne für die Versorgungslieferanten. Die Gelegenheit, ein hübsches Wesen schon nach kurzer Bekanntschaft ins Bett zu kriegen, weil dieses ganz versessen darauf ist, den tapferen Jungs in Uniform seine Ergebenheit zu beweisen – von Rike, soso.« »Ja, ich hab’ ihn damals schon nicht gemocht, und jetzt mag ich ihn genausowenig.« »Du gewöhnst dich besser an ihn. Er und seine Kollegen von der Armee repräsentieren zusammen mit der deutschen Marine und dem Kaiser das neue Deutschland. Die unglückseligste Dreieinigkeit, die Gott je erschaffen hat.« Das Wirtshaus war klein und verhältnismäßig sauber. Der behäbige Wirt verkaufte Paul für ein paar Pesos ein halbes Dutzend kurzer Zigarren. Das Bier, das er ausschenkte, konnte sich natürlich nicht mit dem von Crown messen, aber es war kalt, und er war durstig. Michael erklärte, sein Gin sei »kaum genießbar«. Paul zündete sich eine der kurzen Zigarren an. Sie war stark, aber er fand Gefallen an dem Geschmack. Michael fragte den Wirt, ob in Siboney auch Frauen zu haben seien. Der Wirt antwortete, gewiß, er wäre erfreut, wenn er etwas für die Herren arrangieren dürfte. »Später«, erklärte Michael und schickte ihn mit einer Handbewegung fort. Er fing an zu trinken. »Warum zum Teufel siehst du mich so an?« »Ich bin nur neugierig. Machst du dir eigentlich Sorgen um deine Frau, wenn du von zu Hause weg bist? Ich meine, machst du dir keine Sorgen, daß sie genau das gleiche tun könnte wie du?« Michael war keineswegs beleidigt, die Frage schien ihn eher zu belustigen. »Cecily? Nie. Sie ist eine ehrenwerte Frau. Außerdem hat sie einen ständigen Begleiter für das Theater und andere gesellschaftliche Anlässe.« »Einen Mann?« »Gewiß doch. Anthony Albert Parsons. Schauspieler. Mit Sicherheit der bestaussehendste, härteste Bursche überhaupt. Wenn ich sein Aussehen hätte, wäre die Schlange am Fußende meines Bettes eine viertel Meile lang. Anthony steht allerdings nur auf seinesgleichen. Der Volksmund nennt ihn
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einen Hinterlader. Würde dich wahrscheinlich windelweich schlagen, wenn du’s ihm ins Gesicht sagtest. Verdammt schade, wenn du mich fragst. Aber er fragt mich nicht. Cecily betet Tony geradezu an. Ich mag ihn selbst schrecklich gern.« Michael seufzte, als er seinen Stock auf den Tisch legte. »Ein Kerl, der sich verkauft, muß einfach weich werden. Es gab eine Zeit, in der ich jedes menschliche Wesen verabscheute.« »Ich glaube mich daran zu erinnern«, meinte Paul. Beide lachten. Nach kurzem Schweigen holte Paul tief Luft. »Michael.« »Sir?« »Ich würde gern dein Angebot, mir in England behilflich zu sein, annehmen.« »Großartig! Ich werde unverzüglich ein Telegramm an meinen Schwiegervater schicken. Du kannst es einfach auf eines der Nachrichtenboote nach Key West werfen, von wo es dann abgeschickt wird. Es werden zwar schon Leitungen von den Staaten nach Kuba verlegt, aber wie ich hörte, dienen sie ausschließlich der Übermittlung militärischen Geplauders. Der Zeitungskönig Mr. Hearst muß seine Informanten gehabt haben, er hat seine eigene Jacht mit einer kleinen Flotte von Nachrichtenbooten hierher entsandt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich übers Kinn. »Ich bin entzückt, daß du deine schwärmerischen Ansichten über Amerika aufgegeben hast. Du hast damit das Tor der Weisheit durchschritten. Ich gratuliere«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen. Einen Augenblick später fiel ein Schatten zwischen die quietschenden Saloontüren des Wirtshauses. Hereingeschlendert kam Crane, eine flache lederne Posttasche über einer Schulter. Ein Notizbuch beulte die Tasche seines braunen Jagdanzugs aus, der allerlei Schmutzspuren von den Pfaden und Lagern aufwies. Sein Lächeln war liebenswürdig, aber Paul hatte den gleichen Eindruck wie schon zuvor: In seinen Augen lag zuviel Traurigkeit für einen Mann, der noch nicht einmal dreißig war. »Stephen, komm setz dich«, forderte Michael ihn auf. »Du weißt doch immer mehr als die anderen, obwohl mir schleierhaft ist, woher, denn ich treffe dich immer nur an Orten wie diesen.« Crane nahm Platz und bestellte einen Kentucky Bourbon. »Cubano whisky único, señor«, belehrte ihn der dicke Wirt. »No americano, yo sentiro.« »Dann halt den einheimischen.« Der Wirt watschelte davon. Crane öffnete den Verschluß der Posttasche und warf einige vergilbte Blätter auf
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den Tisch. »Will vielleicht jemand Zeitung lesen? Hier gibt’s eine halbe Tampa Times, ein zweiseitiges wöchentlich erscheinendes Schmierblatt aus Key West und eine zehn Tage alte Ausgabe der New York World. Ich hab’ sie am Strand aufgelesen.« Michael griff nach der New Yorker Zeitung und erschrak. »Huh. Was ist denn das für ein schmutziger Fleck hier, Blut vielleicht?« Crane fand das lustig. »Ein Spieß hatte eine Dose mit Tomatensuppe in seinem Gepäck. Es gab eine Balgerei darum. Ich nahm die Zeitungen an mich, während die Streithähne aufeinander losgingen.« Angeekelt ließ Michael die World auf den Tisch fallen. »Sag uns schon, was du weißt, Stephen. Ich bezahle die Getränke.« »Ich nehme an, selbst auf die Gefahr hin, daß du schlecht dabei wegkommst.« Der Wirt brachte den Whiskey. Bei dem Anblick leckte sich Crane die Lippen und rieb die Fingerspitzen aneinander. »Also, die ganze Information, über die ich im Moment verfüge, ist folgende: Die Spanier halten oben in den Bergen eine strategisch wichtige Straßenkreuzung. Ein Teil von General Castillos Infanterie, der sich bis dorthin vorgewagt hat, geriet in heftige Scharmützel und wurde in die Flucht geschlagen. Wir müssen die Kreuzung erobern, wenn wir nach Santiago gelangen wollen. Hinter der Kreuzung, in der Ebene, liegt ein Ort namens Sevilla. Castillos Spähtrupps behaupten, es sei der beste Lagerplatz, wenn nicht gar der einzige zwischen unserem jetzigen Standpunkt und unserem Ziel. Ich habe gehört, daß Wheeler die Straße hinaufreitet, um die spanische Stellung auszukundschaften.« »Wir haben ihn eben wegreiten sehen«, verkündete Paul. »Es überrascht mich nicht, daß er sich selbst ein Bild verschaffen will, er ist ein ungeduldiger Mann. Stöhnt und flucht die ganze Zeit, weil Shafter die Kavallerie hinter Lawtons Truppen und Bates’ Freiwilligen postiert hat. Aber ich glaube, daß der alte Joe einen guten Riecher hat. Der Dickwanst schaukelt immer noch draußen auf dem Wasser rum. Bis der landet, hat General Wheeler an Land längst das Oberkommando. Wenn er schnell genug handelt, kann er vielleicht seinen Kopf durchsetzen und auf diese Weise doch noch das bekommen, was er will.« Michael beugte sich über den Tisch. »Meinst du damit etwa Erfolg?« »Genau.« Crane nippte an seinem Whiskey. »Du lieber Himmel! Was für ein Gesöff.« Er nahm trotzdem einen kräftigen Schluck. »Haben Sie schon was Gescheites im Kasten, Dutch?« »Gestern habe ich einen Teil der Landung gefilmt. Außerdem habe ich Material von meinem Transportschiff. Oberstleutnant Roosevelt ist ziemlich oft im Bild.«
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»Hat immer ein freundliches Lächeln für die Kamera, unser Teddy. Sie wissen’s vielleicht nicht, aber Ihr Material ist vielleicht schon Teil der Wahlkampagne für den nächsten New Yorker Gouverneur.« »Was mir vorschwebt, sind richtige Kampfszenen.« »Dann befolgen Sie meinen Rat! Bleiben Sie in der Nähe von Joe Wheeler. Mit Ausnahme der beiden farbigen Herren, die gestern ihrem Schöpfer gegenübergetreten sind, ist dieser Krieg bisher verdammt harmlos verlaufen. Ich glaube, daß wir bald Blut sehen werden.« Crane hatte recht bezüglich Wheelers Verhalten, der seine Funktion als zeitweiliger Kommandant zu seinem Vorteil nutzen wollte. Nach Einbruch der Dunkelheit, während die Suchscheinwerfer der Schiffe über den Strand und Hunderte von nackten badenden Männern glitten – ein unglaubliches Schauspiel, das Paul ohne Hoffnung auf Veröffentlichung durch Shadow filmte –, wurde der Befehl zum Aufbruch am frühen Morgen gegeben. Das Ziel war die spanische Verteidigungslinie zum Schutz der Hauptstraße nach Santiago, wo sich diese in einem verlassenen Dorf namens Las Guásimas, benannt nach einem einheimischen Baum, mit einer kleineren kreuzte. Die Spanier hatten sich in den Bergen über der Straße verschanzt. General Wheeler, General S.B.M. Young und General J.E. Crown sollten mit acht Einheiten des Berufsheers entlang der Hauptstraße vorrücken: vier von der 1. Infanterie, vier von der zu Fuß marschierenden 10. Kavallerie. Auf einem fast parallel dazu verlaufenden Fußpfad, der sich in geringerem Abstand zur Küste durch die Berge wand, sollten Woods Weary Walkers auf das gleiche Ziel zumarschieren – die Kreuzung in Las Guásimas. Weil Onkel Joes Einheit auf der Hauptstraße vorrücken würde, entschied sich Paul, die Rough Riders auf ihrem Küstenweg zu begleiten, vorausgesetzt, sie hatten nichts dagegen. Er versuchte noch immer, seinem Onkel aus dem Weg zu gehen. Er war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte, was er sagen könnte, wenn sie sich begegneten. Zunächst hatte es ihn gedrängt, Onkel Joe mit der Mitteilung über London zu verletzen, doch die Entscheidung und das Gespräch mit Michael hatten den Drang gemildert. Aber irgendwann mußte er seine Verwandten davon in Kenntnis setzen. Wenn nicht persönlich in Kuba, dann mit einem Schreiben, sobald er wieder in Amerika war. Soviel Rücksicht schuldete er ihnen, vor allem Tante Ilsa. Immer wenn er darüber nachdachte, beschlich ihn die bedrückende Angst, es könne seinem Onkel gleichgültig sein. Er wusch zuerst seine schmutzigen Kleider in der Brandung und dann sich selbst. Überall am Strand loderten riesige Feuer. Nackte Männer knieten am Wasser und wuschen ihre Wäsche. Andere Männer, ebenfalls
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nackt, tanzten ausgelassen und wollüstig, singend und schreiend um die Feuer. Man hätte meinen können, es handele sich um heidnische Priester aus alter Vorzeit, hätten nicht ihre Lieder sie verraten. Ich ging einst in den Zoo bei Nacht und Heiße Nächte in der alten Stadt. In unregelmäßigen Abständen galoppierten ganze Scharen von zerlumpten kubanischen Freiwilligen auf ihren ausgehungerten Ponys am Strand entlang. Sie feuerten mehrere Salven in die Luft, die mit Sicherheit auch von den Spaniern vernommen wurden, die keine drei Meilen oberhalb der Hauptstraße in Stellung lagen. Manche ließen ihre Ponys unter lautem Gejohle über die faulenzenden Amerikaner springen. Die Suchscheinwerfer glitten unablässig hin und her, leuchteten den Beibooten den Weg, die mit den weißen Schaumkronen an Land wogten. Noch bevor die Boote ordnungsgemäß anlegen konnten, sprangen einzelne Soldaten in voller Montur in das seichte Wasser, bespritzten einen Kameraden oder gossen sich selbst mit der Mütze Wasser über den Kopf. Alles in allem konnte man sich kaum ein bizarreres Schauspiel vorstellen; eine militärische Walpurgisnacht, dachte Paul. Er legte seine nasse Kleidung in die Nähe des flackernden Feuers, das sie mit etwas Weichholz in Gang gebracht hatten. Er hoffte, daß bis am Morgen alles trocken sein würde, damit er die restlichen Kleider in seinem Koffer verstauen konnte, den er im Wirtshaus zurücklassen wollte. Er hatte noch ein trockenes Hemd und eine Hose im Koffer; beide rochen nach Schimmel, als er sie herausholte. Jimmy saß dicht am Feuer. Die Kamera und der Seesack lagen direkt hinter ihm, geschützt durch ein großes Öltuch. Dreckige Bartstoppeln bedeckten die untere Hälfte seines Gesichtes. Unter seinem offenen Kragen war die schwere Kette mit der geweihten Medaille zu sehen. Er fuhr mit der Klinge der Machete behutsam über seinen Daumen hin und her, wobei er den Daumen zwischendurch mit der Zunge befeuchtete. »Morgen werden wir also erschossen, ha?« »Morgen werden wir, wenn wir Glück haben, richtige Kämpfe filmen. Ich werde um Erlaubnis bitten, mit den Rough Riders loszumarschieren.« »Ich würde ganz bestimmt nicht weinen, wenn sie dich zum Teufel schickten.« Paul machte sich auf den Weg zum Lager der Rough Riders; das Regiment war am späten Nachmittag über den Pfad von Siboney gekommen. Den ersten Menschen, den er erkannte, war Hugh Johnson, der zähe Kalifornier mit den bestechenden grünen Augen. »Was suchen denn Sie hier, Dutch?« »Ich will mit Ihrer Einheit marschieren, wenn Wood und Roosevelt
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nichts dagegen haben.« »Sprechen Sie mit Wood, Teddy spuckt zur Zeit Gift und Galle. Seit sein Pferd Rain-in-the-Face in Daiquirí ertrunken ist. Viel Glück!« Paul ging weiter in Richtung Woods Zelt und sah nur auf, als ihm ein paar warme Regentropfen aufs Gesicht klatschten. Während er vor dem Zelt wartete, gingen immer mehr Regentropfen nieder, bis es in Strömen goß und Dampfwolken von der Erde aufstiegen. Als er schließlich eingelassen wurde, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht trauen zu können. Der stämmige und kräftige Oberst des 1. Regiments sah blaß und erschöpft aus. Er saß mit den Ellbogen auf eine Kiste gestützt, die ihm als Schreibtisch diente, und rieb sich, während Paul seine Bitte vorbrachte, mit den Fingerspitzen langsam die Schläfen. Als Paul fertig war, runzelte er die Stirn; Paul befürchtete, er könne nein sagen. Der Mann war ein berechnender Soldat; seine Männer nannten ihn Icebox – Eiskiste. »Davis begleitet uns und außerdem Mr. Marshall vom New York Journal. Ich nehme an, daß wir Ihnen und Bitzer das gleiche Recht einräumen müssen. Paley liegt im Krankenhaus. Keine Ahnung, wie Mr. Bitzer mithalten will, wo er sämtliche Ersatzbatterien mit sich herumschleppen muß. Haben Sie viel Gepäck?« »Es geht, Sir. Mein Partner und ich können es leicht tragen.« »Also gut, Sie haben meine Erlaubnis. Aber Sie müssen hinten bleiben! Außerdem müssen Sie sofort den Weg freimachen, wenn Sie dazu aufgefordert werden. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie und Ihre Ausrüstung einfach niedergetrampelt.« »Einverstanden«, versicherte Paul. »Ich sage Ihnen das gleiche wie Davis und Marshall. Der morgige Tag wird kein Sonntagsspaziergang im Park werden. Der Geruch von Schießpulver wird Ihnen in die Nase steigen. Wahrscheinlich werden einige Männer den Tod finden. Vielleicht auch Sie.« »Trotzdem, Sir, ich möchte Sie begleiten.« »Dann seien Sie um drei Uhr marschbereit. Wir werden so früh wie möglich aufbrechen. Sagen Sie’s auch Bitzer, wenn Sie ihn sehen.« Paul dankte Wood und verzog sich schnell. Nachdem er eine halbe Stunde lang vergeblich nach Bitzer gesucht hatte, gab er auf. Es würde nicht schwer sein, um drei Uhr marschbereit zu sein. Bei dem unablässig niedergehenden warmen Regen war am Strand von Siboney ohnehin nicht an Schlaf zu denken. Freitag, 24. Juni, halb sechs in der Früh. Woods Einheit stellte sich am Anfang des Pfades auf.
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Nur wenige Männer hatten Pferde; Davis und Marshall, die Kriegsberichterstatter, zwei von Wheelers Adjutanten, Major Alex Brodie, ein zäher kleiner Armeeveteran, der die 2. Schwadron befehligte, und Oberstleutnant Roosevelt, dem die 1. Schwadron unterstand. Roosevelt ritt Little Texas, das zweite der beiden Pferde, die er mitgebracht hatte. Die meisten Soldaten waren in guter Stimmung, obwohl sie im Regen übernachtet hatten und nun in nassen Uniformen schlotternd auf den Befehl zum Aufbruch warteten. Richard Harding Davis sah wie immer trocken und vorbildlich aus in seinem bekannten dunkelblauen Mantel, hohem Hemdkragen, Krawatte und einem flachen Filzhut mit Nackenschutz. Er machte Paul und Jimmy mit Marshall, dem anderen Journalisten, bekannt, dessen langer weißer Staubmantel nicht einen Fleck aufwies. Wie die beiden es schafften, so sauber zu bleiben, war Paul ein Rätsel. Im Vergleich zu ihnen sahen er und Jimmy wie Schmutzfinken aus. Während sie mit der Kamera und dem Seesack am Ende der Kolonne warteten, begannen sie eine Unterhaltung mit einem O-beinigen einfachen Soldat, der sich als Jerry Pruitt vorstellte. Er sprach langsam und schleppend, sagte, er stamme aus Texas, wo er auf einer riesigen Ranch namens Main Chance als Kuhhirte arbeitete. Bei den Rough Riders hörte Paul eine Menge Diskussionen über Kanonen, die sie vermißten. Sie sollten mit einer Dynamitkanone und zwei Schnellfeuerkanonen losmarschieren, aber alle drei waren in der Verwirrung mit den Gerätewagen in Daiquirí oder Siboney verlorengegangen. Diese Tatsache schien Bedenken hervorzurufen, ebenso wie Spekulationen über die Waffen der Spanier – Mauser-Gewehre mit rauchfreiem Pulver. »Ich hab’ gehört, daß diese Mauser-Patronen zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter tiefer in ein Kiefernholzstück eindringen können als unsere Krag-Patronen«, bemerkte Jerry Pruitt trübsinnig. Um Viertel vor sechs setzte sich die Kolonne in Bewegung, jeweils vier Mann in einer Reihe. Paul wuchtete die Kamera auf seine Schulter, Jimmy den Seesack. Jimmy hatte seine Jacke und seinen Koffer mit Pauls Gepäck im Wirtshaus zurückgelassen; er hatte nur das, was er am Leib trug, sein Hemd, das er über die Ellbogen hochgekrempelt hatte. Die Machete steckte in seinem Gürtel. Gerade als sich die Truppe in Bewegung setzte, erschien Bitzer zusammen mit seinem Assistenten Len und ihrer sperrigen Kamera samt der Ersatzbatterien, die sich auf einem Maultierkarren stapelten. Die Batterien ließen keinen Platz für die Männer von Biograph; sie marschierten links und rechts neben dem Karren her. Paul blieb stehen, um sie zu begrüßen. »Du hast es also erfahren. Ich bin froh, ich hab’ dich nämlich gestern
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abend nicht gefunden.« »Danke.« Es klang hohl. Bitzer warf einen Blick auf den Pfad. »Mit dieser Ladung können wir von Glück sagen, wenn wir mithalten. Trotzdem – viel Glück.« »Dir auch, Billy.« Der erste Teil des Marsches war beschwerlich, er führte sie einen steilen Pfad hinauf, der sich über die Berge hinter Siboney schlängelte. Bald verengte sich der Pfad, so daß die Männer, die zu viert nebeneinander gingen, nun gezwungen waren, im Gänsemarsch vorzurücken. Ein Gleichschritt war unmöglich, die Rough Riders suchten so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, jeder Mann ließ äußerste Vorsicht walten, wenn er über vom Regen ausgehöhlte Furchen und dicke Schlingpflanzen sprang. Jeder Schritt hinterließ einen Fußabdruck auf der Erde. Trotz des dichten Laubdaches wußte Paul, daß die Sonne schien; er spürte die Hitze. Das Dickicht des Urwalds verhinderte die Sicherung der Flanken. Dies verstärkte das Gefühl der drohenden Gefahr, der eigenen Verletzlichkeit. Bitzers Maultierkarren fiel zurück. Alle paar Minuten wandte Paul sich nach ihm um; beim vierten Mal war er hinter einem der Buckel verschwunden. Der Biograph-Mann tat ihm leid. Aber Konkurrenz war Konkurrenz; er war froh, der erste zu sein. Nach ungefähr einer Stunde überquerte die Kolonne den letzten Bergkamm und marschierte auf eine offenere Landschaft zu. Nach einem kurzen Steilstück verlief der Pfad ebener, schlängelte sich zwischen kleinen runden Hügeln hindurch; das Marschieren wurde leichter. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Bereits jetzt kam es zu Ausfällen. Paul zählte mehr als ein Dutzend Männer, die sich im Gras ausstreckten oder einfach niederließen, weil sie die Hitze nicht ertragen konnten. Die, die ausfielen, mieden die Blicke derer, die weitermarschierten. Jimmy meinte, die Bummler seien die gewitzteren. Zu ihrer Linken wogte hinter einem fünffachen Stacheldraht hohes gelbes Gras. Der Stacheldraht war an mehreren Stellen durchschnitten worden, wahrscheinlich von den durchmarschierenden Spaniern, vermutete Paul. Auf der rechten Seite fiel das Gelände in leichtem Winkel zu der nicht sichtbaren Hauptstraße ab, auf der Onkel Joe und die anderen kommandierenden Offiziere mit ihren Einheiten vorrückten. Pauls Kolonne war noch zu weit weg, um die spanischen Stellungen deutlich zu erkennen, obwohl auf dem Bergrücken oberhalb der Kreuzung ein kleines Blockhaus zu sehen war. Das Gelände zwischen dem Pfad und der Straße war mit hohem Gras, dichtem immergrünem Gebüsch und vereinzelten Hainen von Kokospalmen
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bewachsen, deren Stämme in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in die Höhe ragten. Ein Teil des niedrigen Immergrüns trug feuerrote Blüten. Hin und wieder glitzerte eine mit Schaum bedeckte Lagune. Zwei Bussarde mit gebogenen Schnäbeln und steifen Flügeln kreisten über ihnen, warteten. Um halb acht waren die Männer schweißdurchnäßt und murrten über die Hitze. Oberst Wood ließ die Kolonne anhalten, und ein Befehl wurde nach hinten weitergegeben: »Gewehre laden und Mund halten!« Die Männer luden und sicherten ihre Gewehre vom Typ Krag-Jorgensen. Im Gegensatz zum Rest der Armee verfügten die Rough Riders über rauchloses Pulver. Wood, Roosevelt und Brodie hatten darauf bestanden. Jimmy setzte sich auf eine herrenlose Tornisterrolle und steckte sich eine Zigarette an. Paul zündete sich eine seiner kurzen Zigarren an. Er stellte fest, daß die Spitzen seiner Stiefel durch den Marsch und die Feuchtigkeit rissig geworden waren. Er hielt die Hand schützend über die Augen und ließ den Blick noch einmal über das Gelände zwischen dem Pfad und den feindlichen Stellungen gleiten. Er hatte sich das Bild einer spanischen Uniform eingeprägt; spitze Strohhüte gehörten zur Standardausrüstung in den Tropen. Er sah keinen. Er hörte keine Schüsse. Er machte eine Bemerkung darüber zu Pruitt, der mit den Schultern zuckte. »Die hab’n vielleicht schon aufgegeben.« Paul glaubte nicht daran. Die schwüle Luft wimmelte nur so von surrenden und brummenden Insekten. Die verdächtige Stille machte ihn nervös. Seine Augen suchten weiterhin die Berge ab. Nicht die kleinste Spur vom Feind. Jerry Pruitt bot Paul und Jimmy einen Schluck aus seiner Feldflasche an. Jimmy grabschte danach und trank lang und gierig. Endlich gab er sie an Paul weiter, der sie schüttelte und feststellte, daß nur noch wenig übrig war. Jimmy hatte etwas Wasser im Mund behalten, das er jetzt auf ein Taschentuch spuckte, um sich Hals und Gesicht abzureiben. Sie marschierten weiter, in langsamem Tempo, das von den Männern an der Spitze vorgegeben wurde. Angeblich rückten General Wheelers Soldaten im gleichen Tempo auf der weiter landeinwärts gelegenen Straße vor. Um Viertel nach acht wurde die ganze Kolonne durch ein unverhofftes Dröhnen aufgeschreckt. »Revolverkanone«, erklärte ein Offizier. »Muß eine von Wheelers sein.« Etwas weiter weg, in Richtung Straße, erhob sich eine weiße Rauchwolke. Paul stellte das Stativ ins Gras, aber bevor er noch anfangen konnte zu kurbeln, hatte sich der Rauch auch schon wieder aufgelöst. Dann erfolgte eine krachende Salve von Gewehrschüssen, aber diesmal nicht von der Straße, sondern direkt vor ihnen – an der Spitze der Kolonne, die von
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kubanischen Spähern und Männern der 12. Kompanie gebildet wurde. Jetzt wurde das Feuer von Krag-Jorgensens erwidert. Pauls Herz hämmerte wie wild. »Jetzt geht’s los.« »Heiliger Jesus«, murmelte Jimmy mit zittriger Stimme. Er bekreuzigte sich. Er war so blaß wie ein Fisch am Bauch. Bald wurde ununterbrochen geschossen. Schüsse krachten sowohl auf der fernen Straße wie auf dem Pfad. In die Gewehrsalven mischte sich ein abgehacktes Stottern, das Paul für Maschinengewehrfeuer hielt. Er rannte nach rechts, kletterte ein Stück auf eine kleine Anhöhe hinauf. Von dort sah er Roosevelts Schwadron, die sich, wahrscheinlich um sich mit Wheeler zu vereinen, zur Straße vorkämpfte. Roosevelts Männer stürzten mit hoch erhobenen Macheten und Säbeln über den Pfad und mähten das dichte Buschwerk vor sich um. Major Brodies Schwadron rückte weiter vor; voraussichtlich würde Brodie dem Feind an der Las Guásimas-Kreuzung in die Flanke fallen. Paul rannte die Anhöhe hinunter, das Stativ auf die Schulter schwingend. Das schwere Gerät traf genau auf die Wunde unter dem Hemd, aus der am frühen Morgen bereits Eiter gesickert war. »Jimmy, komm, wir müssen los.« Jimmy hockte auf der Erde. Seine Augen lugten unter dem Rand seines Derbys vor, suchten seinen Partner. »Jimmy, was ist los?« »Gar nichts, überhaupt nichts. Ich gehe nur keinen Schritt weiter. Ich hab’ nämlich keine Lust, mir heute morgen irgendwelche scharfen Kugeln einzufangen.« »Ich kann nicht die Kamera und auch noch den Seesack tragen.« »Du brauchst den Sack nicht, du hast doch genug Film. Ich warte hier auf dich.« Paul war müde, ihm war heiß, und da ihn der Kriegslärm nicht ängstigte, verließ ihn wieder einmal die Geduld. »Ich bin sicher, daß Honoria Fail stolz auf deinen Heldenmut wäre.« Jimmy griff nach seiner im Gras liegenden Machete und rappelte sich auf. Paul schrie ihn an. »Bleib sitzen, halt’s Maul, du und ich, wir sind fertig miteinander.« »Wir sind schon lange fertig miteinander, du dreckiger Krautkopf. Los, geh doch und laß dir deinen Arsch in Stücke schießen!« Mit hochrotem Kopf wirbelte Paul herum und stürmte mit der Kamera davon. Der Beschuß hielt an, während er den roten und weißen Standarten der 2. Schwadron durch die niedrigen Hügel bis zum Saum des flachen Geländes folgte. Auf der anderen Seite standen mehrere sandfarbene
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Gebäude mit roten Dachziegeln und zahlreichen großen, ungleichmäßigen Löchern in den Wänden. Was war das? Eine verlassene Ranch? Aus der Art, wie die Soldaten in vorderster Reihe die Gebäude unter Beschuß nahmen, schloß er, daß die Spanier dort Stellung bezogen hatten und von dort das flache Gelände mit Schüssen überzogen. Aber weder Rauchwölkchen noch schwarzer Pulverdampf gab ihre genaue Position preis. Die Amerikaner rückten mit zäher Beharrlichkeit über das flache Gelände vor. Ein Abschnitt der vorderen Linie sprang auf, rannte zwei bis drei Meter, kniete nieder und feuerte. Dann wurden dieser Abschnitt von einem zweiten überholt, der sodann ein neue vordere Linie bildete. Männer schrien auf, sackten mit erschreckender Plötzlichkeit in sich zusammen. Trotzdem bewegte sich die Linie immer weiter, Wood und Brodie ganz vorne, als Anführer. Zu Ehren der Freiwilligen mußte gesagt werden, daß sie den wenigen Berufssoldaten in nichts nachstanden. An der rechten Flanke bewegten sich ähnliche Linien der Schwadron Roosevelts durch Palmenhaine in Richtung der nicht sichtbaren Straße. Paul erhaschte einen Blick auf den reitenden Roosevelt mit seinem hoch erhobenem Säbel. Hinter ihm waren endlich die spanischen Stellungen gut sichtbar; Bollwerke aus übereinandergeschichteten, flachen Steinen auf den Hügelkämmen oberhalb der Straße und mindestens drei kleine Blockhäuser. Die steinernen Bollwerke wurden von ein paar spitzen Strohhüttendächern überragt. Paul trug die Kamera bis dicht hinter die amerikanischen Linien. Er rammte das Stativ ins Gras, traf die letzten Vorbereitungen, um zu kurbeln. Er vernahm ein Geräusch ganz dicht an seinem Ohr, instinktiv duckte er sich. Die Luft um ihn herum war voller Geräusche, eine Mischung aus dem Summen von Bienen und dem Surren eines schwirrenden Drahtes. MauserKugeln … Er schaute zufällig nach vorn, dann nach links und sah Pruitt. Als hätte seine Aufmerksamkeit ein Unglück heraufbeschworen, riß Pruitt ganz plötzlich die Arme in die Höhe. Sein Gewehr fiel vor seine Füße. Sein Körper schien zusammenzuklappen wie ein Schnappmesser in der Tasche. Geduckt rannte Paul über das flache Gelände auf den einfachen Soldaten aus Texas zu. Jerry Pruitt saß aufrecht am Boden, knetete die Vorderseite seines Khakihemds mit beiden Händen. Das Hemd war mit dem Blut getränkt, das zwischen Pruitts Fingern hervorquoll und über seine Handgelenke sickerte. Pruitts Augen waren glasig, aber er erkannte Paul. Er versuchte, durch die zusammengebissenen Zähne zu sprechen. Paul schüttelte den Kopf als
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Zeichen, daß er nicht verstand. Pruitt schloß die Augen. Plötzlich entspannte sich sein Gesicht in einem friedlichen Lächeln. Ganz langsam sank er nach hinten, weg von Paul, und landete sanft im Gras. Das Sonnenlicht fiel auf seine glattrasierte linke Wange, auf der sich eine fette blaue Fliege niederließ und herumspazierte. Paul stand auf. Das Schießen wurde nicht leiser, aber er vernahm dazu noch ein neues, deutliches Geräusch im hohen Gras hinter Pruitt. Ein Rascheln, ein Knacken … »Sanitäter!« schrie er aus voller Kehle. »Wo ist der Arzt?« Aber weder ein Sanitäter noch Leutnant Church, der Regimentsarzt, befanden sich in Hörweite. Dann sah er die erste tellergroße Landkrabbe durch das Gras kommen. Weitere Fliegen hatten sich auf dem Gesicht des toten Soldaten niedergelassen, ein schwarzes, schwärmendes Gewirr. Es war ein sonderbarer, zeitloser Augenblick, als er so in der Ebene stand mit einem toten Mann zu seinen Füßen inmitten der Kugeln, die um seine Ohren pfiffen und sich dann in die Erde bohrten. Paul erkannte, daß er sterblich war, und zitterte. Er riß sich seinen Strohhut vom Kopf und wischte mit dem Ärmel über die tropfnasse Stirn. Die Sonne stand hoch am Himmel, blendete ihn. In diesem Moment veränderte er sich; er trat in einen neuen, völlig unbekannten Zustand ein. Er spürte, wie sich eine gewaltige Last auf ihn legte. Er haßte ihre Schwere und wußte doch, daß er sie nie wieder loswerden würde. Die Verwandlung war endgültig. Den Knaben Pauli Kroner gab es nicht mehr. Er wandte sich ab vom sengenden Licht der Sonne. Der Augenblick der Erkenntnis war vorbei, die Zeit rannte erneut. Er eilte mit der Kamera an eine andere Stelle, wo es ihm gelang, Mr. Marshall, den Kriegsberichterstatter, beim Eintrag in sein Notizbuch, das auf seinen Knien lag, zu filmen, während die Rough Riders weiter über das flache Gelände vorpreschten und die Gebäude mit ihren Kugeln durchlöcherten. Irgend jemand rief: »Brodie hat’s erwischt, er liegt verletzt am Boden!« Roosevelt gab seinem Pferd die Sporen und kam zurückgeritten, sein getupftes Halstuch flatterte im Nacken. In Ermangelung eines anderen Nackenschutzes hatte er es am Hutrand festgesteckt. Er schwang sich aus dem Sattel und rannte auf die Männer zu, die sich um den gefallenen Schwadronskommandeur geschart hatten. Marshall, der Roosevelt gefolgt war, taumelte plötzlich und sank in die Knie. Er fiel auf sein Notizbuch, auf
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seinem weißen Staubmantel zeichnete sich ein riesiger Blutfleck ab. Paul trug die Kamera weiter. Er fragte sich, wie lange seine Beine ihn noch tragen würden. Fast wäre er über vier am Boden liegende Männer gestolpert; zwei davon erkannte er: Feldwebel Harn Fish und Hauptmann Capron, Kommandeur der 12. Kompanie. Er trauerte um alle vier; tapfere Männer, in der Schlacht gefallen. Die Rough Riders luden weiter nach und feuerten, während sie die durchlöcherten Gebäude allmählich einkreisten. Paul starrte auf die Leichen. Sein professioneller Instinkt riet ihm zu filmen, solange er Gelegenheit dazu hatte. Bist du blöd? Shadow wird toben. Pflaum wird es nicht zeigen. Glaubst du wirklich, daß irgendein Ladenbesitzer in Illinois oder eine Witwe in Ohio auch nur einen Cent dafür bezahlen wird, um diese blutigen Leichen, auf denen sich ganze Fliegenschwärme niedergelassen haben, zu sehen? Für den Beweis, daß zivilisierte Menschen fähig sind zu töten? Eine zweite innere Stimme widersprach dem: Vielleicht will es niemand sehen. Aber es ist die Wahrheit. Roosevelt schwenkte seinen Hut und rief seinen Männern anstelle von Brodie aus der vordersten Reihe ermutigende Worte zu. Wieder pfiff eine Mauser-Kugel an Pauls Ohr vorbei, als wolle deren leises Surren ihm spöttisch sagen, daß er diesmal noch verschont geblieben war, er aber beim nächsten Mal vielleicht an der Reihe sei. Wex Rooney ragte hünenhaft in seinem Geiste auf: Zeig die Wahrheit! Nur darauf kommt es an. Er neigte die Kamera und drehte an der Kurbel, filmte die toten Männer der 12. Kompanie. Plötzlich suchten immer mehr Soldaten durch die Hinterausgänge der Gebäude mit den roten Dachziegeln rennend das Weite; Männer mit kegelförmigen Strohhüten und blaugestreiften Leinenuniformen. Paul kurbelte wie wild, als die Spanier nacheinander herausgerannt kamen, ihre Gewehre wegwarfen und flohen. Einem Fahnenträger fiel das rotgelbe Banner Spaniens aus der Hand. Er rannte nicht zurück, um es aufzuheben, andere Männer trampelten es bereits nieder. Während die khakifarbene Front vorwärts wogte und bei der Verfolgung der Feinde die eigenen Verwundeten und Toten überrollte, während Schüsse aus Gewehren und Pistolen die Luft zerrissen, drehte Paul unentwegt weiter an der Kurbel. Die Rough Riders waren in alle Gebäude eingedrungen. Einzelne Schüsse waren zu hören, sie waren laut, klangen jedoch dumpf. Ein Offizier, aus dessen verwundetem Arm ein weißer Knochen herausragte, schleppte sich
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von der rechten Flanke hinter die Linien. Paul hörte auf zu kurbeln. »Sir? Was ist geschehen?« Der Leutnant verzog das Gesicht zu einer Grimasse; trotz seiner Jugend glänzten in seinem Mund fast lauter Goldzähne. »Die Spanier verteidigen ihre Position auf der Straße. Wheeler hat einen Kurier losgeschickt. Er will, daß Lawton uns ein Infanterieregiment sendet.« Er schleppte sich weiter auf dem Pfad nach hinten. Das Bild seines garstigen Lächelns und der zahlreichen Goldzähne verfolgte Paul. Er brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Als er nach der Kurbel griff, sah er mit einem Blick auf den Film voller Entsetzen, daß er nur noch zwei Meter Film hatte. Er fluchte. Er würde zurückgehen und Jimmy finden müssen oder den Seesack, falls sich Jimmy wieder davongemacht hatte. Er legte die Kamera auf die Erde, mit ihr blieben fast siebzig Meter Filmmaterial zurück, Bilder von der Schlacht, den grausigen Leichen, dem hohen Gras, zertrampelt und naß vom Blut, das auf der Leinwand schwarz aussehen würde. Er marschierte einen halben Kilometer. Unterwegs begegnete er einem Rough Rider, der versuchte, sich am linken Arm mit einem Stück Holz und einem Taschentuch einen Druckverband anzulegen. Er blieb kurz stehen, um dem Soldaten zu helfen. Er entdeckte die Leiche eines kubanischen Spähers, sein weißes Hemd war von mindestens fünf Kugeln zerfetzt, sein Gesicht bereits entstellt, zerfleischt von einem halben Dutzend Landkrabben. Wie so viele der Aufständischen war auch dieser Mann fast noch ein Kind; vierzehn, höchstens fünfzehn. Paul griff nach einem Stein und schleuderte ihn mit aller Wucht auf die Landkrabben, zerschmetterte einen rotgelben Panzer und verscheuchte die anderen. Sowie er sich entfernte, kehrten sie zurück. Paul beging den Fehler, sich umzublicken. Er sah, wie eine Krabbe mit ihrer Schere das linke Auge des Jungen herauspulte und es wie eine blasse Olive zerdrückte. Er würgte, beugte sich vor und erbrach das Wenige, was er im Magen hatte. Er hörte Jimmy, noch bevor er ihn sah, hörte, wie er seltsame Grunzlaute ausstieß, als verrichte er eine schwere Arbeit. Paul schlüpfte durch ein Loch im Stacheldrahtzaun neben dem Pfad. Jimmy kniete mit nacktem Oberkörper neben der Leiche eines Soldaten im hohen Gras. Neben ihm lag der Seesack. Die Scheide der Machete in seiner rechten Hand war blutig. Jimmys Kopf fuhr herum. Paul erkannte den Leutnant, der von der rechten Flanke gekommen war. Der Mann war tot. Die Hälfte seiner Goldzähne fehlte. Sie lagen funkelnd und glitzernd im Gras neben seinem Ohr.
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Jimmy bemerkte Pauls Gesichtsausdruck und setzte ein sonderbares, verschämtes Lächeln auf, als hoffe er, Paul auf diese Weise zu beschwichtigen. Die Glieder seiner Halskette blinkten in der Sonne. »Wollte vor der Heimreise nur noch schnell was dazuverdienen.« »Du hast ihn umgebracht, er hatte nur eine Armverletzung.« »He, komm, was kümmert dich der –« Mit einem gellenden Schrei der Wut stürzte sich Paul auf Jimmy. 103 JULIE Ein warmer Regen ging auf Belle Mer nieder. Er wusch die Marmorterrasse und schuf kleine Spritzer auf den reflektierenden Teichen im Garten. Ein Sommerregen am späten Nachmittag; träge und melancholisch. Er paßte zu Julies Stimmung. Trotz des inneren Widerstandes schlich sich die Dunkelheit leise in die hintersten Winkel ihres Geistes. Die vertraute Dunkelheit, die sie mit Gleichgültigkeit und Trauer erfüllte und sie in ihr Bett zwang. Im Musikzimmer wühlte sie sich durch ein Dutzend Walzen für das Victor-Grammophon, sämtlich von ihrem Mann gekauft. Sidewalk of New York, Anvil Chorus, Home Sweet Home als Kornettsolo. Alabama Coon, ein neuer Negerrhythmus, der wie ein Holzschuhtanz wirkte. Sie entschied sich für An der schönen blauen Donau von Strauß, gespielt von der Deutschen Philharmonie. Der Walzer erinnerte sie an Paul. Seit einiger Zeit ging er ihr nicht mehr aus dem Sinn. Während ihr Blick durch die hohen, regennassen Fensterscheiben nach draußen fiel, fragte sie sich, warum sie so traurig sein mußte und ein Gefühl des Versagens sie niederdrückte, ausgerechnet jetzt, wo sie die ersten zaghaften Schritte in die Freiheit getan hatte. Den ganzen Winter hatte sie in Chicago vor sich hin gebrütet und über ihre Lage nachgedacht. Sie mußte sich von Bill befreien; mußte frei werden und sich dann auf die Suche nach Paul begeben. Selbst wenn sie Jahre brauchte, um ihn zu finden. Selbst wenn sie ihr ganzes Leben mit der Suche zubringen sollte, ohne ihn jemals zu finden. Ihre Pläne hatte sie mit großer Sorgfalt und einem Höchstmaß an Verschwiegenheit geschmiedet. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Onkel Ike. Sie war davon ausgegangen, daß Bill wie gewöhnlich das Augustrennen in Saratoga besuchen würde, und als er dies vor zwei Wochen bestätigt hatte, war sie allein nach New York gefahren. Sie hatte sich eine wohldurchdachte Lüge zurechtgelegt, einen
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Besuch bei einem Spezialarzt für Frauenleiden. Es wäre unschicklich gewesen, Fragen zu diesem Thema zu stellen, selbst von Seiten des Ehemannes. Mit einer dick angestrichenen Zeitungsanzeige in der zitternden Hand machte sie sich auf den Weg und bezahlte schließlich sechs Monatsmieten im voraus für eine möblierte Wohnung unweit vom Madison Square. In bar. Bill ließ ihr jeden Monat Geld zukommen, für das sie keine Rechenschaft ablegen mußte. Dem Vermieter stellte sie sich als Mrs. Jesse Vernon vor, seit kurzer Zeit Witwe; sie wolle einziehen, sobald sie ihr Häuschen in der ländlichen Gegend von Long Island verkauft habe. Hinterher hatte sie, angenehm erregt angesichts ihrer Kühnheit – die Entdeckung eines Funkens von Mut, den sie laut Paul und Tante Willis immer schon gehabt hatte –, auf dem Madison Square gesessen, ziemlich schamlos und ganz allein. Während die Erregung nachließ, plante sie den nächsten Schritt. Sie würde Southampton verlassen, während sich Bill in Saratoga aufhielt. Nicht einmal verabschieden würde sie sich von ihm, sondern einfach aus seinem Leben verschwinden und sich mit niemandem treffen, der sie kannte. Sie entschied, daß sie ihre Mutter wenigstens ein Jahr lang nicht sehen durfte, erstens, weil Bill sie auf diese Weise ausfindig machen konnte, und zweitens, weil sie Nell keine Gelegenheit bieten wollte, zu weinen und zusammenzubrechen und ihr eigenes drohendes Hinscheiden anzukündigen, falls Julie nicht zu ihrem Mann zurückkehrte, um auf diese Weise das zu verhindern, was zweifellos in einem gewaltigen Skandal geendet hätte. Vielleicht war ihr Plan nicht klug, trotzdem war ihr Denken und Handeln nur darauf ausgerichtet, jetzt, wo sie mit ihrem gequälten Herzen zum erstenmal all ihren Mut zusammennehmen konnte … Sie blickte sich um, weil sie plötzlich spürte, daß sie nicht mehr allein war. Jemand war auf der Terrasse; eine Frau. Sie trug Handschuhe, einen komischen Umhang und einen Sonnenhut, der ihr Gesicht verdeckte. Im ersten Moment hielt Julie sie für eine Bedienstete aus der Nachbarschaft, die einen Auftrag erledigte. Aber Bedienstete hatten keinen Grund, das Herrenhaus von der Wasserseite her zu betreten. Die Frau lugte durch die hohe Glastür, huschte zur nächsten und entdeckte dann Julie, die aufgestanden war und neben ihrem Stuhl stand. Die Frau klopfte an die nasse Scheibe. Jemand, der sich verlaufen hat und Hilfe braucht, entschied Julie. Sie ging zur Tür, schob den Riegel zurück, drückte die Türklinke nach unten. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
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Die Frau drängte sich ohne ein Wort an Julie vorbei, bespritzte sie mit Regentropfen. Julie war überrascht, hatte jedoch keine Angst. Die Frau zerrte an dem Band unter ihrem Kinn und warf den Hut ab. Julie preßte unwillkürlich die Hand vor den Mund. Das Gesicht der Frau glich einer blaugelb gesprenkelten Landschaft mit tiefen Furchen; unter einem Auge hatte sich eine dicke Kruste gebildet. Ihren Kleidern haftete ein abgestandener, schaler Geruch an. Die Frau war jung, dunkelhaarig; vielleicht war sie auf eine natürliche Weise sogar schön gewesen, bevor jemand sie so zugerichtet hatte. In Julies Kopf klingelten kleine Alarmglöckchen. Der Klingelzug an der Wand hinter ihr kam ihr kurz in den Sinn. Die letzten Töne des Walzers verklangen. Aus dem Grammophon kam nur noch ein rhythmisches Kratzen, das sich endlos fortsetzte. Noch bevor Julie nach dem Namen des ungebetenen Gasts fragen konnte, sagte sie: »Ich bin Rose. Sie sind sicher Bills Frau?« Die Vertrautheit verstärkte ihre Angst. »Mrs. Elstree, ja. Aber ich verstehe wirklich nicht den Grund Ihrer Anwesenheit. Bitte seien Sie so freundlich und –« Rose fiel ihr ins Wort. »Ich will ihn sprechen.« »Aus welchem Grund? Wer sind Sie?« »Wer ich bin? Ich bin Bills Freundin. Er hat mich eine Zeitlang ausgehalten. In New York. Als er mit mir fertig war, hat er mich fallenlassen. Ich war Sängerin, aber glauben Sie, daß ich mich so auf der Bühne zeigen kann? Es werden Narben zurückbleiben, bleibende Narben. Glauben Sie, er schert sich darum? Er doch nicht, weil nämlich er es war, der mich so zugerichtet hat.« Julie wich zurück, die zornigen Worte trafen sie wie Schläge. Sie hatte sich an Bills Eskapaden gewöhnt, aber eine dieser Frauen in Fleisch und Blut vor sich zu sehen war befremdlich und beängstigend. Der wilde Ausdruck in den Augen der Frau gefiel ihr nicht. »Man könnte vielleicht auch sagen, ich bin sein abgelegtes Verhältnis, Mrs. Elstree. Aber etwas bin ich mit Sicherheit. Ich bin die Mutter seines Kindes.« Julie hatte das Gefühl, als habe sich ein Felsbrocken auf ihre Brust gelegt. Sie konnte nicht mehr atmen. Aus dem Trichter des Grammophons ertönte weiterhin das laute Kratzen, das bis in den hintersten Winkel des Zimmers drang. »Sie – Sie beschuldigen meinen Mann, Ihnen ein Kind gemacht und Sie dann sitzengelassen zu haben?« »Nicht mehr und nicht weniger, Mrs. Elstree. Als Bill von der
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Schwangerschaft erfuhr, hat er gesagt, daß er damit nichts zu tun haben wolle. Als ich mit ihm reden wollte, hat er mir mit Fäusten geantwortet. Ein Glück, daß er das Kind nicht totgeschlagen hat.« Sie preßte die Hände noch fester um die kleine Handtasche, die sie bei sich trug. »Also, genug geredet, wo ist er?« Was will sie? dachte Julie. Geld? Der gequälte Gesichtsausdruck der Frau, ihre heftigen Worte ließen vermuten, daß es mehr war als das; etwas Leibliches, etwas Bedrohliches. Es war also ein leichtes, Bill auszuliefern. Sofern auch nur die Hälfte von dem wahr war, was die Frau behauptete, verdiente er, was immer sie mit ihm vorhatte. Wie einfach wäre es zu sagen: »Er ist oben und zieht sich zum Abendessen um«, und dann den Klingelzug zu betätigen, um einen der Bediensteten nach ihm zu schicken … Julie verabscheute Elstree, wie sie noch nie jemanden in ihrem Leben verabscheut hatte. Aber sie brachte es nicht fertig. Statt dessen sagte sie: »Er ist nicht da.« »Sie lügen«, fuhr Rose sie an. »Ich habe die Kutsche vor zehn Minuten kommen sehen. Ich habe mich hinter der Hecke versteckt. Ich habe meinen letzten Dollar ausgegeben für die Fahrt von Manhattan, und ich lasse mich jetzt nicht abspeisen. Setzen Sie sich, wir warten auf ihn. Er wird doch mit Ihnen zusammen zu Abend essen, oder nicht?« »Nein, er hat schon etwas anderes vor, ein Bridgespiel im Club.« Sie redete zu schnell; es war unstrittig, daß sie log. »Ach ja? Wir werden trotzdem warten.« Rose öffnete die kleine Handtasche und nahm eine kurze großkalibrige Pistole heraus. »Machen Sie endlich diese verdammte Sprechmaschine aus, das Ding geht mir auf die Nerven. Und bewegen Sie sich langsam!« Julie gehorchte. Das Grammophon verstummte augenblicklich. »Kommen Sie wieder her, und setzen Sie sich!« Sie saßen in Brokatsesseln an entgegengesetzten Enden eines Orientteppichs. Die Sonne drang spärlich durch die Wolken; ihre Strahlen zeichneten ein tanzendes Muster des Regens zwischen sie. Rose hielt die Pistole unter ihrer Handtasche auf dem Schoß, verborgen vor den Blicken der anderen. Julie fühlte kalten Schweiß an ihren Händen. Trotz allem, was Bill ihr angetan hatte – die Schmerzen in der Hochzeitsnacht, die Drohungen, als sie um die Scheidung bat –, trotz seiner wiederholten Untreue und seiner Kränkungen konnte sie einen Mann, dem sie rechtmäßig angetraut war, nicht das Musikzimmer betreten lassen, wenn dort eine Kugel auf ihn wartete. Andernfalls würde ihr Gewissen sie bis ans Ende ihrer Tage
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plagen. »Nettes Zuhause haben Sie hier«, raunte Rose. »Er hat mir zwar davon erzählt, aber ich hätte nie geglaubt, daß ich’s mal mit eigenen Augen sehe. Der erste Blick wird auch der letzte sein.« »Rose, seien Sie vernünftig! Wir können doch miteinander reden. Stecken Sie die Pistole wieder weg.« »Ist nicht drin.« Sie lehnte sich plötzlich vor. »Nicht drin, haben Sie verstanden, Sie Schlampe.« »Bitte, im Nebenzimmer steht Brandy. Ein Gläschen würde Sie beruhigen, vielleicht wollen Sie ja noch einmal darüber nachdenken –« »Maul halten, es kommt jemand.« Julie hörte die Schritte. Sie betete, es möge jemand vom Personal sein. Aber sie kannte Bills Gang zu gut. Die Klinke der Musikzimmertür wurde heruntergedrückt, und er trat ein. »Julie?« »Bill, Sie hat eine Pistole!« schrie Julie. »Rose«, tadelte er, ganz und gar nicht eingeschüchtert. »Was zum Teufel machst du hier in meinem Haus? Du hast einen schweren Fehler begangen.« Er machte einen Schritt nach links, faßte nach dem mit Fransen besetzten Klingelzug. Julie sprang von ihrem Brokatsessel auf in der Absicht, sich auf ihren Mann zu werfen, sich vor ihn zu stellen, verzweifelt hoffend, daß die Frau nicht auf sie schießen würde, da sie ja nur ihn treffen wollte. Aber ihr Hausschuh verfing sich am Rand eines Teppichs, so daß sie stolperte. Durch diesen Fehltritt war er ohne Schutz neben dem Klingelzug. Er zerrte heftig daran. Rose drückte ab. Elstree starrte nach unten auf seine gestärkte Hemdbrust. Er war für den Abend korrekt gekleidet, wie immer, wenn er und Julie das Abendessen zu Hause einnahmen. Zwischen dem zweiten und dritten Diamantknopf wuchs eine rote Blume. Er sah wütend aus. Er zerrte drei-, vier-, fünfmal am Klingelzug, bis der Stoff vom Draht riß und der Verputz von oben auf ihn herabrieselte. Sein Haar war innerhalb einer Sekunde schlohweiß geworden. Rose stürzte auf ihn zu; einen Meter vor ihm blieb sie stehen, zog die Pistole hoch, zielte mit beiden Händen. Julie schrie: »Nein!« und warf mit einer kleinen Ziervase nach Rose, verfehlte sie aber. Rose gab einen zweiten Schuß ab. Die Kugel bohrte sich in Elstrees Hals, trat auf der anderen Seite wieder heraus und zeichnete ein blutiges Muster auf die Wand. »O mein Gott«, murmelte Elstree schwach. Er glitt unbeholfen an der Wand hinunter und lehnte sich gegen die Vertäfelung. Seine Augen fielen
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zu, sein Kopf sank zur Seite auf die Schulter, dann kippte der Oberkörper nach vorn auf einen anderen Orientteppich. Pulvergestank breitete sich in dem stickigen Zimmer aus. Rose warf die leere Pistole auf den Boden. Julie hörte das Personal kommen und rannte zur Tür. Rose fiel neben Bill auf die Knie. Es war unglaublich, sie weinte. »Bill, Bill, mein armer Bill.« Sie strich ihm über das Haar, drückte unzählige Küsse auf seine gepuderten Wangen, bis ihre Handschuhe und Ärmel voller Blut waren. Julie riß die Tür auf. »Schnell, hierher!« Rose rappelte sich auf und rannte durch die nächstgelegene Glastür hinaus, flüchtete über die Terrasse. Die Dienstboten drängten sich in das Zimmer, betätigten den Schalter für den elektrischen Kronleuchter, klagten und schluchzten beim Anblick ihres Herrn, der blutend auf dem Teppich lag. »Ich hab’ versucht, ihm zu helfen«, erklärte Julie. Sie weinte ebenfalls, ein riesiger, reumütiger Tränenschwall brach unwillkürlich aus ihr heraus. »Ich hab’ es versucht, hab’ es versucht, Sie müssen mir glauben.« Der zuständige Wachtmeister nahm Rose fest, als sie zu Fuß aus dem Dorf Southampton fliehen wollte. In der Nacht eilte der Wärter des kleinen Gefängnisses, aufgeschreckt durch Roses Schreie, zu ihrer Zelle, wo er sie in ihrem eigenen Blut fand. Sie hatte das Kind verloren, William Vann Elstree III. war bereits in die örtliche Leichenhalle überführt worden. 104 DUTCH Paul traf Jimmy mit voller Wucht, seine Knie landeten auf Jimmys Rippen. Jimmy stemmte sich hoch; es gelang ihm, Paul abzuwerfen. Beide waren wie betäubt. Sie kamen fast gleichzeitig auf die Füße und standen sich in dem zertrampelten Gras gegenüber, ungefähr zwei Meter voneinander entfernt. Paul streckte die Hand aus. »Gib mir das Ding!« Mit beiden Händen am Heft der Machete rief Jimmy: »Da hast du’s« und führte einen grimmigen Schlag gegen Pauls Kopf. Paul sprang zur Seite. Er hörte und spürte, wie die Spitze der Klinge an seiner Wange vorbeisauste. Während Jimmy noch die Wucht des Schlages abfing, machte Paul einen Satz nach vorne und stieß seinem Gegner ein Knie zwischen die Beine. Jimmy brüllte vor Schmerz und ließ die Machete fallen.
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Beide warfen sich auf die Waffe am Boden. Paul war schneller. Er packte das vom Schweiß rutschige Heft, schwenkte die Machete einmal über seinen Kopf und schleuderte sie in großem Bogen in das hohe Gras. Dabei hatte er Jimmy einen Augenblick lang den Rücken zugekehrt. Jimmys Faust sauste auf seinen Hinterkopf nieder. Paul schwankte. Jimmy packte ihn von hinten an den Schultern und warf ihn zur Seite. Paul verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Sein Unterkiefer landete auf der Erde, ganz in der Nähe der blutverkrusteten Goldzähne. Jimmy versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. Paul fiel zuckend auf den Rücken. Jimmy ließ sich mit beiden Knien auf Pauls Bauch fallen, griff nach dem Seesack und drückte ihn Paul aufs Gesicht. Nach Luft ringend, krallte sich Paul daran fest. Jimmy ließ nicht los. Paul wußte, daß er Jimmy abwerfen mußte, wenn er nicht sterben wollte. Er schlug mit den Fäusten um sich in der Hoffnung, Jimmys Kopf zu treffen. Immer wieder schlug er daneben. Dann bekam er mit der linken Hand etwas zu fassen; er packte Jimmys Haar und zog, so fest er nur konnte. Es gelang ihm, Jimmy zu Fall zu bringen; das Gewicht des Seesacks verlagerte sich. Die tropische Sonne blendete Paul. Er hob die Arme schützend über seine Augen, füllte seine Lungen mit frischer Luft. Ein rasender Schmerz durchfuhr seinen Körper dort, wo Jimmy ihn geschlagen und getreten hatte. Wahrend er keuchend am Boden lag und seine Kräfte sammelte, raffte Jimmy die Goldzähne zusammen und stopfte sie in seine Taschen. Dann schnappte er sich den Seesack und hechtete durch ein Loch im Stacheldrahtzaun. Paul rollte sich auf die Seite und sah ihm nach, wie er den Pfad überquerte und im Busch verschwand. Jimmy floh törichterweise landeinwärts, in Richtung Straße, wo ihre Soldaten sich immer noch Gefechte mit dem Feind lieferten. Vielleicht hatte ihm der Kampf die Orientierung geraubt. Warum zum Teufel hat er die Filmrollen mitgehen lassen? fragte sich Paul, während er sich langsam hochrappelte. Schließlich waren sie wertlos. Nein, das stimmte nicht, Jimmy würde mit großer Befriedigung alles stehlen und zerstören, was Paul brauchte. Paul rannte durch das Loch im Zaun, entschlossen, den Dieb einzuholen. Das Gelände jenseits des Pfads bis zu den vereinzelten Kokospalmen zwischen dem dichten Strauchwerk war etwas abschüssig. Paul hetzte weiter, ruderte mit den Armen. Zweimal hörte er, wie eine Mauser-Kugel an ihm vorbeipfiff. Pulverschwaden hingen über der Straße nach Santiago, aber nirgendwo auf den Hügeln waren ähnliche Wolken zu sehen oder
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irgend etwas anderes, das die Position der spanischen Scharfschützen verraten hätte. Je näher Paul der Straße kam, desto lauter wurde das Geschützfeuer. Während er sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, verlor er Jimmy aus den Augen. Dann hörte er einen Schrei und ein Krachen im Unterholz. Es hat ihn erwischt! Paul rannte schneller. Er preschte aus dem Gebüsch heraus zum abschüssigen Ufer einer der Lagunen, an der sie zuvor vorbeigekommen waren. Jimmy war im Schlamm ausgerutscht; Paul erreichte ihn, als er auf die Füße kam, seine Hände und sein Hemd waren bedeckt mit schwarzem Morast. Jimmy sah Paul und warf den Seesack nach ihm. Paul duckte sich; der Sack flog ins hohe Gras. Jimmy rannte nach rechts, am Ufer entlang. Wieder rutschten ihm die Beine weg. Fluchend landete er im seichten Wasser auf seinem Hinterteil. Jimmys Haar klebte an seiner Stirn. In seinen Augen lag ein stumpfer, bestialischer Blick. Wie konnte Gott bloß ein solch vorsätzlich böses, korruptes, grausames Geschöpf erschaffen? Einen Augenblick lang war Paul versucht, zum Ufer hinunterzurennen und ihm den Garaus zu machen – die Welt von diesem Geschöpf zu befreien. Aber er stand nur reglos da, seine Hände zitterten ein wenig. Ein Lächeln huschte über Jimmys dreckiges Gesicht. »Na komm schon, komm doch – warum zögerst du? Feige? Klar. Feige.« Jimmy lachte ihn aus. Mit einem Knattern bohrte sich eine Mauser-Kugel in die Palme hinter Paul; Holzsplitter trafen ihn im Nacken. Sein Gewissen hatte ihm einen Streich gespielt, und das wußte Jimmy. Auf dem Hügelkamm jenseits der Straße nach Santiago ragte ein kegelförmiger Sombrero auf und verschwand sogleich wieder. Paul bewegte sich mit unsicheren Schritten auf den Seesack zu, zog ihn aus dem hohen Gras hervor und sank auf die Knie. Jetzt war er im Besitz der Filmrollen, es gab also keinen Grund mehr weiterzukämpfen. Er fummelte am Knoten der Schnur. Jimmy kam mit großen Schritten und gekreuzten Handgelenken vom Ufer herauf. Er hielt die Kette der geweihten Medaille mit beiden Händen fest umschlossen. Ohne daß Paul auch nur die kleinste Chance zur Gegenwehr hatte, warf Jimmy ihm die Kette über den Kopf und zerrte daran. »Jetzt«, zischte er, während ihm der Schweiß in kleinen Bächlein über das Gesicht strömte, »jetzt hab’ ich dich! Anscheinend war mein Alter
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doch cleverer als deiner. Er war ein Ehrenmann, aber er hat mir beigebracht, wie man kämpft. Meinst du nicht auch? Meinst du nicht auch, du verdammter Hurensohn?« Jimmy hatte ihn kniend erwischt, es war ihm unmöglich hochzukommen. Paul riß an der einengenden Kette. Die großen Glieder gruben sich in sein Fleisch. Blut sickerte zwischen ihnen heraus. Jimmy grunzte, während er die Kette fester zusammenzog. Sein haßverzerrtes Gesicht verschwamm Paul vor den Augen; Jimmy war im Vorteil, es gab keine Möglichkeit, ihn mit dem Verstand zu besiegen. Sofern man ihn überhaupt besiegen konnte. Pauls Kräfte erlahmten merklich. Um ihn herum schien sich alles zu verdunkeln. Jimmy grunzte und stöhnte wie ein Mann im sexuellen Rausch –»Uhhh, uhhh« –, jeder Laut begleitet von einem wilden Rucken beider Hände an der Kette. Inzwischen floß das Blut in Strömen, bedeckte Pauls Hals, verfärbte seinen Kragen. Jimmy wollte ihn umbringen. Paul weigerte sich, das zuzulassen. Nicht hier, nicht so. Er griff mit beiden Händen nach Jimmys Gürtel und zerrte daran, so fest er konnte. Jimmy fiel auf Paul, sie rollten den Abhang hinunter in das seichte Wasser. Jimmys linke Hand ließ die Kette los. Paul rammte eine Faust in Jimmys Magen, sein Gegner torkelte und fiel auf die Seite, mit den Armen wild um sich schlagend. Winzige Insekten schossen über die Wasseroberfläche davon. Paul schlug erneut zu. Jimmys rechte Hand ließ von der Kette ab. Obwohl Paul vor lauter Schwindel speiübel war, kam er irgendwie auf die Beine. Er ging rückwärts den Abhang hinauf, Schritt für Schritt, und schob die blutige Kette über seinen Kopf. Er schleuderte sie zu Boden und trampelte mit den Füßen auf ihr herum, stampfte sie in den Schlamm, bis sie darin verschwunden war. Jimmy beobachtete ihn vom Wasser aus wie ein verwundetes, von seinen Peinigern zum Wahnsinn getriebenes Tier. Es gelang ihm, aus dem Wasser zu kriechen und die Hände auszustrecken, als wolle er Paul noch einmal würgen. Paul wandte sich ab und wartete gespannt. Als Jimmy noch einen Schritt auf ihn zu machte, stieß er ihm erneut ein Knie in die Weichteile. Jimmys Augen wurden glasig. Paul nahm alle Kräfte zusammen zu einem Kinnhaken mit der Rechten, der Jimmy hochhob und ihn mit einem lauten Aufklatschen in die Lagune zurückbeförderte. Jimmy machte keine Anstalten, das Wasser, in dem er sich mit den Händen abstützte, zu verlassen. Er sah erledigt aus, aber sein Anblick verschaffte Paul keine Genugtuung. Such den Seesack! Schau nach, ob die
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Filmrollen in Ordnung sind! Er wandte sich von der Lagune ab, machte ein paar Schritte am Ufer entlang. Er hörte das Surren der Mauser-Kugel gerade noch, bevor er spürte, wie sie sich in seinen Rücken bohrte. Als er das Bewußtsein wiedererlangte, steckte seine Nase im Schlamm. Die Kugel hatte ihn auf der rechten Seite getroffen, ungefähr in der Mitte, hinter den Rippen. Der Schmerz war unerträglich, die Hölle. Er sah zu, wie Jimmy sich aus dem seichten Wasser schleppte; ein Grinsen breitete sich auf seinem schmutzigen Gesicht aus. »Tja, sieht ganz so aus, als ob ich die Runde doch noch gewinne, he? Irgendwelche Nachrichten an Shadow oder deine Sippschaft in Chicago? Wirklich nicht? Also gut, dann mach’ ich mich jetzt auf den Weg! Ich wünsch’ dir noch viel Vergnügen, dir und deinen Freunden.« Er packte Paul bei den Haaren, riß seinen Kopf hoch. »Ich hoffe, sie fressen dich ganz langsam, du elendiger Klugscheißer von einem Krautkopf. Ich hoffe, sie lassen sich ewig Zeit.« Er drückte Pauls Gesicht in den Schlamm, warf den Kopf zurück und lachte. Er entschwand in Richtung Pfad. Er war so zufrieden, daß er den Seesack vergaß, sofern er ihn überhaupt hatte mitnehmen wollen. Jimmys fideles Lachen übertönte zunächst das Gewehrfeuer und die Stimmen der Männer, die sich unter der dichten Rauchdecke auf der Straße Befehle zuriefen, doch dann wurde es leiser, bis es schließlich gar nicht mehr zu hören war. Nachdem das Lachen verklungen war, hörte Paul ein anderes Geräusch. Seine Augen weiteten sich. Er versuchte aufzustehen; er schaffte es nicht. Blutend starrte er auf das hohe Gras, das am Ufer wucherte. Das hohe Gras mit seinem Rascheln und Knacken … Die erste Landkrabbe kam aus dem Gras gekrochen, mit geschwenkten Scheren und kleinen gestielten Augen, die in der Luft bebten. Der schwielige Schlund ging auf und zu, auf und zu. Eine zweite folgte der ersten, und noch eine und noch viele. Die größte Landkrabbe, die Paul am nächsten war, blieb einen Moment lang stehen, und es war ihm, als erblicke er in diesen gestielten Augen eine boshafte und hungrige Bestie, die mit großem Appetit auf das bevorstehende Mahl wartete. Er grub seine Finger in den Schlamm, stemmte sich ein Stück weit heraus, fiel wieder zurück; er war zu schwach. Mit mahlenden Kiefern und rudernden Scheren ließ sich die Krabbe neben seiner Wange nieder. Kroch auf seine Wange. Knackend und raschelnd kamen die anderen Krabben näher. Er spürte
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ihre Scheren an seinem Kopf, dann an seinen nackten Oberarmen, an seinen Beinen, zwischen den Beinen. Er schloß die Augen und biß sich auf die Unterlippe. Sie werden mich auffressen, mich in Stücke reißen. Er hatte jeglichen Mut verloren, sein Mut war erschöpft durch den Kampf mit Jimmy, die Schußwunde, jetzt dies … Eine Schere kniff ihn einen halben Zentimeter unterhalb seines Auges. Er schrie. Die Krabben schienen seine Schwäche zu spüren, seine Hilflosigkeit. Sie fingen an, an seinem Gesicht zu zupfen und zu reißen, seine Hände lagen neben seinem blutenden Leib. Der Schmerz war eigentlich nicht so schlimm. Kaum mehr als ein heftiges Stechen, wie ein Rosendorn. Aber seine Bedeutung ließ ihn verzweifeln. Er weinte. Er schämte sich seiner Angst nicht, weil sie ihm gar nicht bewußt war. Das Blut, das aus dem Fleisch unterhalb seines Auges tröpfelte, vermischte sich mit dem Speichel, der ihm aus dem Mundwinkel rann. Sein Schluchzen verebbte allmählich, und er murmelte: »Macht schnell, macht schnell, macht schnell.« Er hörte ein Trampeln und schwerfällige Schritte in dem hohen Gras. Mein Gott, was kommt noch? … »Mein Gott, Roy, schau dir diese verdammten Viecher an.« »Schlag sie runter, beweg dich doch, sie fressen ihm doch schon fast die Augen aus!« Ein Gewehrkolben schlug eine Krabbe von Pauls Gesicht. Die Scheren rissen seine Nase auf, bevor sie endlich losließen. Der Gewehrkolben fuhr hin und her, gleich einem Besen. Im gleißenden Licht der Sonne sah Paul einen schwarzen Ballon über sich schweben. Ein rundes schwarzes Gesicht, glänzend vom Schweiß. Er sah einen Hut, ein blaues Hemd, ein rotes Halstuch. Wie kamen die hierher? Hatten sie, um Wood zu Hilfe zu eilen, den Pfad genommen? Der erste schwarze Soldat rief: »Ich brauch’ hier ‘n paar Nigger, die mir helfen, der Junge hier verblutet sonst. Vielleicht is’ er eh schon hinüber.« Ein zweites schwarzes Gesicht tauchte über ihm auf, und dann ein drittes, unglaublich häßlich. »Laßt mich mal, ich trag’ ihn nach hinten.« »Gott, nein, du bist doch selbst schon entkräftet durch das Fieber.« »Geht mir aus dem Weg, ich hab’ gesagt, ich trag’ ihn, und damit basta.« Vor Pauls Augen verschwamm alles, die Sonne verdunkelte sich, und das war das Ende.
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105 DER GENERAL Hauptquartier der 2. Kavalleriebrigade, USA Lager nahe Santiago, Kuba, den 25. Juni 1898 Generaladjutant der Kavalleriedivision Sehr geehrte Herren, im Auftrag des kommandierenden Generalmajors der Kavalleriedivision darf ich Ihnen folgenden Bericht über die Kampfhandlungen eines Teils dieser Brigade bei Feindberührung in Guásimas, Kuba, am 24. dieses Monats übermitteln. Dem Bericht beigefügt sind detaillierte Ausführungen des Regimentskommandeurs und anderer beteiligter Kommandeure sowie eine Liste der Toten und Verwundeten. Siboney ist der Ausgangspunkt von zwei Straßen, oder, besser gesagt, Pfaden, von denen einer nach Osten und einer nach Westen führt. Nachdem wir die Position des Feindes gründlich ausgekundschaftet hatten, habe ich Vorbereitungen zum Angriff getroffen. Die Feldküchen wurden mit Lebensmitteln versorgt; die Revolverkanone wurde in ungefähr neunhundert Meter Entfernung in Stellung gebracht. Beils Schwadron nahm Gefechtsformation an, gefolgt von Norvells Schwadron. Die spanischen Truppen hielten eine nach Siboney schwach abfallende Hügelkette besetzt. Nachdem wir den Feind geortet hatten, informierte ich Oberst Wood mittels eines kubanischen Führers. Da ich wußte, daß seine Kolonne den längeren Weg zurückzulegen hatte und deshalb erst später am verabredeten Punkt eintreffen würde, verschob ich den Angriff, um an beiden Flanken gleichzeitig vorrücken zu können. Unterdessen traf General Wheeler ein, den ich unverzüglich über meine Anordnungen sowie Angriffsplan und Absichten informierte. Nachdem er die Position des Feindes bestätigt und meiner Vorgehensweise zugestimmt hatte, befahl ich die Durchführung des Angriffs. Er wurde von Offizieren und Soldaten in einer Weise geführt, die vom Divisionskommandeur sowie allen anderen Anwesenden vorbehaltlos bewundert wurde. Da es den Truppen an der Hauptkampflinie unmöglich war, Verbindung zueinander zu halten, konnten sie die Position des Feindes nur an der Richtung seiner Geschosse ausmachen. Die Männer an der linken Flanke
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haben einen Mut und eine Tapferkeit bewiesen, die meiner Meinung nach beispiellos sind in der Geschichte freiwilliger Truppen, die in so kurzer Zeit einberufen, bewaffnet und ausgerüstet wurden. Sowohl Oberst Wood wie auch Oberstleutnant Roosevelt weigerten sich, vor dem feindlichen Feuer Deckung zu suchen, während ihre Männer ihm schutzlos ausgeliefert waren – eine irrige Auffassung, die sich glücklicherweise nur auf das Heldentum beschränkte … Die wesentlichen Ergebnisse der Kampfhandlungen mit den Spaniern sind: die Erprobung der Tapferkeit des Feindes; das Gefühl der Überlegenheit, das sich nach meinem Erachten bei unseren Truppen herausgebildet hat; die Sicherstellung eines Zugangs nach Santiago und die Eroberung eines wunderschönen Lagerplatzes für unsere Armee auf der Anhöhe über der Stadt, die nun ohne Hast von uns eingenommen werden kann. Hochachtungsvoll, Joe Crown Brigadegeneral der 2. Freiwilligen Kavalleriebrigade 106 WILLIS Am Samstag, dem 25. Juni, an dem Tag, als Joe Crown seinen Bericht verfaßte, ging das Rote-Kreuz-Schiff SS State of Texas in der Bucht von Guantánamo vor Anker. Es brachte Lebensmittel, Decken, Arznei und Verbandsmaterial für die Aufständischen im Landesinneren. Clara Barton und ihre freiwilligen Helfer wollten den Transport der Vorräte begleiten. Nachdem das Schiff vor Anker gegangen war, wurde ihnen jedoch mitgeteilt, daß dies nicht möglich sei, da der Zugang zur Bucht noch von den Spaniern kontrolliert würde; das Rote Kreuz könne deshalb derzeit in Guantánamo nichts ausrichten. Um die Mittagszeit wurden telegraphische Nachrichten über die Schlacht in Las Guásimas übermittelt. Am Vortag hatte General Joe Wheelers Einheit die spanischen Truppen besiegt und zum Rückzug in Richtung Santiago gezwungen. Wie alle Siege war auch dieser nicht ohne Opfer errungen worden. Sechzehn Amerikaner waren tot, zweiundfünfzig verwundet. Miss Barton hielt daraufhin eine Besprechung mit ihren freiwilligen Helfern sowie mit dem Kapitän des Schiffes ab. Sie erklärte ihm, daß nur sechzig Kilometer westlich von ihnen verwundete Männer lägen und auf
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Hilfe warteten. Um zwei Uhr nachmittags wurde der Anker gelichtet. Die State of Texas nahm Kurs auf Siboney. In der Dämmerung ging das Hilfsschiff inmitten der Kriegs- und Transportschiffe, Barkassen und Beiboote sowie Leichterschiffe in der halbmondförmigen Bucht von Siboney vor Anker. Auf der Fahrt von Guantánamo hatte Willis erfahren, daß Siboney weder einen richtigen Hafen noch einen Landungssteg hatte, der groß genug für einen Ozeandampfer war. Nun sah sie es mit eigenen Augen, während sie an der Reling stand und ihre zehnte selbstgedrehte Zigarette des Tages rauchte. Der kubanische Tabak von Tampa war stark und wahrscheinlich ihrer Gesundheit abträglich wie tausend andere Dinge auch, angefangen von cremegefüllten Kuchen bis zu Abenteuern mit jüngeren Männern, die sie jedesmal aus wirklich vernünftigen Gründen verließen oder ihr vom Schicksal weggeschnappt wurden. Bis jetzt hatte sie alles überlebt. Und so sollte es auch bleiben. Aber mit zunehmendem Alter gestaltete es sich immer schwieriger. Nicht weit von Willis sah Clara Barton zu, wie ein Beiboot von einem von den Amerikanern auf die Schnelle gezimmerten Landungssteg mit großer Anstrengung ins Wasser gelassen wurde. Clara und Willis waren übereingekommen, daß Willis nicht in Gegenwart von Clara rauchen würde, der, obwohl sie die besten Freundinnen waren, jede Art von Tabak zutiefst zuwider war. Clara war nur eins fünfzig groß, doch ihr Auftreten und ihre Ausstrahlung ließen sie sehr viel größer wirken. Für eine Frau von siebenundsiebzig besaß sie eine ungeheure Energie. Sie konnte achtzehn oder auch zwanzig Stunden arbeiten, ohne zu klagen, ohne zu gähnen oder auch etwas zu sich zu nehmen außer einer Tasse starken Tees. Sie hatte ein raubtierartiges Gesicht und braune Augen, denen nichts entging. Ihr streng zurückgekämmtes, in einem Knoten am Hinterkopf zusammengefaßtes Haar zeigte keine Spur von Grau. Ihre Garderobe bestand aus beinahe identischen weißen Baumwollkleidern mit passenden Schürzen. Ihrer Meinung nach vergeudete sie dadurch keine Zeit mit der Auswahl der Kleidung. Endlich schaukelte das Beiboot sicher auf den hohen Wellen. Da sie mit männlichen Ansichten bestens vertraut war, hatte Clara das Angebot ausgeschlagen, als erste an Land zu gehen, und dem leitenden Arzt, Dr. Anton Lesser, den Vortritt gelassen. Sollte er sich mit den Armeeärzten auseinandersetzen. Dr. Lesser hatte ihnen die Unterstützung des gesamten freiwilligen Rot-Kreuz-Teams angeboten – dazu gehörten Ärzte, fünf
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Krankenschwestern und zwei Helferinnen, Willis und eine Witwe namens Mrs. Olive Shay. Wegen des Gegenwinds brauchte das Beiboot gute 30 Minuten bis zum Schiff. Außer Atem und scheinbar völlig überhitzt in seinem beigefarbenen Staubmantel und seinem in Tampa erstandenen breitrandigen weißen Strohhut, trat Dr. Lesser neben Clara Barton, die in der Nähe des Ruderhauses an Deck stand. Willis warf ihre Zigarette über Bord und eilte zu den beiden. »Sehen Sie die beiden Häuser dort direkt am Strand?« fragte Lesser, während er in die angegebene Richtung zeigte. Die beiden ziemlich schäbigen Häuser standen ungefähr 20 Meter auseinander. Clara nickte. »In welchem liegen die Amerikaner?« »In dem in der Nähe des Landungsstegs. Das andere ist voller kubanischer Soldaten. Beide Häuser sind die reinsten Sauställe – keiner hat sich um das Saubermachen gekümmert. Es gibt keine Decken, keine Kissen, die Verwundeten liegen einfach kreuz und quer auf dem Boden. Ich bin auf Kakerlaken getreten, habe Fliegen verscheucht – aber angeblich handelt es sich um Feldlazarette.« »Wir werden saubermachen, Anton«, erklärte Willis. »Haben Sie das denen gesagt?« fragte Clara den Arzt. »Haben Sie denen gesagt, daß wir Eimer und Besen haben? Schrubber, Desinfektionsmittel – und mehr als hundert zusammenklappbare Feldbetten?« Jetzt gesellte sich auch Mrs. Shay zu der Gruppe, zusammen mit einer der Krankenschwestern. Dr. Lesser sah ganz aufgewühlt aus. »Ja, das habe ich. Ich habe mit dem Stabsarzt persönlich gesprochen, einem gewissen Dr. Francis Winter. Wir waren uns leider auf Anhieb unsympathisch. Ich kenne den Typ. Liest die Vorschriften, die ihm so sehr gefallen, daß er sie auswendig lernt. Meine verehrten Damen – er erklärte mir, daß unsere Hilfe nicht erwünscht sei und auch nicht angenommen würde.« Clara wippte auf ihren Absätzen. »Machen Sie Witze?« »Ich bedaure, verneinen zu müssen.« Mrs. Shay, eine hübsche Rothaarige, war außer sich vor Zorn. »Er hat die Hilfe des Roten Kreuzes abgelehnt?« »Das hat er. Und zwar ganz entschieden.« »Warum zum Teufel sollte er so dumm sein?« fragte Willis. »Er verwies auf die Weisungen der Armee, die besagen, daß Frauen in einem Kriegsgebiet nichts zu suchen haben. Sie sind angeblich weniger qualifiziert als Ärzte und Lazarettgehilfen und am besten zu Hause aufgehoben. So lauteten einige seiner Phrasen.«
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»Und die stammen aus den höchsten Kreisen in Washington«, sagte Clara. »Aus dem Mund des Generalstabsarztes Sternberg persönlich. Das weiß ich, weil mein Haus nur sieben Meilen vom Kapitol entfernt ist und der Wind mir gewisse Dinge zuträgt. Sternberg behauptet, weiblichem Pflegepersonal sei auf dem Schlachtfeld nicht zu trauen. Er benutzt Wörter wie ›launisch‹ und ›leichtsinnig‹. Es ist im Grunde das gleiche lächerliche Geschwätz, das wir schon aus dem Bürgerkrieg kennen. Du lieber Himmel – das ist schon dreißig Jahre her, und wir kämpfen immer noch um Anerkennung!« Lesser nickte mit finsterer Miene. »Sie haben recht, Winter wiederholt nur das, was seine Vorgesetzten ihm vorkauen. Aber im Moment ist er hier die höchste Autorität.« Willis schlug mit der Hand auf die Reling. »Lassen Sie mich mit dem Hundesohn reden, ich werde ihn überzeugen.« »O nein, Miss Fishburne«, rief Lesser aus, »das werden Sie nicht tun! Davon halte ich gar nichts. Ihre Offenheit ist zwar erfrischend, aber Winter ist ein aufgeblasener Wichtigtuer. Ich fürchte, daß Offenheit die Sache nur noch schlimmer machen würde.« »Tja«, meinte Clara Barton, »wenn die amerikanischen Ärzte unsere Hilfe nicht annehmen wollen, vielleicht sollten wir’s dann bei den Kubanern probieren.« »Das wäre immerhin eine Möglichkeit«, stimmte Lesser zu. »Dann sollten wir im ersten Morgengrauen an Land gehen und unsere Dienste anbieten. Und gleichzeitig, Anton, sollten wir beide uns über diesen Dr. Winter hinwegsetzen und mit seinem Vorgesetzten sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß alle Ärzte unter General Shafters Kommando Idioten sind.« Willis hätte darauf keine fünf Cents gewettet. Aber das behielt sie für sich.
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107 DUTCH Er erwachte in einem Haus und hörte das Rauschen der Brandung. Das Licht im Raum war schummrig. Er lag auf einer harten Unterlage. Er konnte sich nicht erinnern, schon irgendwann einmal solche Schmerzen gehabt zu haben. Es war ihm, als sei sein Körper mit Folterwerkzeugen bearbeitet worden, aber vor allem sein Rücken zwischen der Schulter und der rechten Hüfte. Mit jedem Atemzug durchfuhr ihn ein rasender Schmerz. Zu seiner Linken machten sich zwei Männer in blutigen Kitteln im flackernden Schein von Öllampen über einem Soldaten zu schaffen, der auf einem Tisch lag. Einer der Männer nähte den Oberschenkel des Patienten zusammen. Paul war wie hypnotisiert vom Glitzern der großen, halbmondförmigen Nadel. Der Arzt stieß die Nadel in das Bein des Patienten, um sie dann wieder herauszuziehen und mit ihr die blutige Darmsaite. Der Patient schrie. »Mehr Äther«, rief der Arzt. Er schwitzte gotteslästerlich. Aus dem nächsten Raum rief jemand: »Keiner mehr da. Sie können erst wieder welchen entladen, wenn Sturm und Wellengang nachlassen. Morgen früh vielleicht.« »Von allen gottverdammten verlogenen Entschuldigungen für ein Lazarett –« Der andere Arzt streckte beruhigend die Hand aus. »Wir müssen fertigmachen, mit oder ohne Äther.« Paul sah, wie die glitzernde Nadel erneut hochfuhr. Der Soldat stieß wieder einen Schrei aus. Paul konnte wieder etwas klarer denken, erinnerte sich wieder. Jimmy. Die Kette um seinen Hals. Die Kugel. Und die Landkrabben. Er spürte sie wieder. Er zitterte, rührte sich. Die Ärzte sahen zu ihm herüber. Er erinnerte sich an dunkle Gesichter, die über ihm am Himmel schwebten. Eines davon gehörte Ott Person … Wieder verlor er das Bewußtsein. Irgendwann später erschien ein anderer Arzt. Sein Kittel war etwas sauberer. Er war älter, würdevoller, mit schütterem Haar, sein rundes Gesicht rosig wie ein Kotelett. Er hatte ein autoritäres Auftreten. In der Hand hielt er ein Krankenblatt. »Ich bin Stabsarzt Dr. Winter. Wie geht es Ihnen, mein Junge?« Die aufgesetzte Gutmütigkeit ärgerte Paul. »Schlecht. Ich hab’ noch nie im Leben solche Schmerzen gehabt.« »Trotzdem können Sie sich glücklich schätzen. Ein glatter Durchschuß.
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Keine innere Verletzung. Zwei gebrochene Rippen, das ist alles. Aber die Schürfwunden an Ihrem Hals machen uns zu schaffen. Sieht nach Würgemalen aus.« Paul stützte sich auf seine Ellbogen, der Schmerz war fast unerträglich. »Mein Partner hat mich angegriffen und hat sich dann aus dem Staub gemacht. Ich hab’ keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.« »Nun, das kann ich Ihnen auch nicht sagen.« »Welchen Tag haben wir heute?« »Samstag.« Der Arzt klemmte sich das Krankenblatt unter den Arm und zog eine goldene Uhr hervor. Er drehte das Zifferblatt in das Licht der Öllampe. »Kurz nach drei Uhr in der Früh. Legen Sie sich ruhig wieder hin! Ihre Wunde ist versorgt, Ihre Rippen bandagiert, aber Sie müssen sich mindestens eine Woche lang schonen.« »Unmöglich! Ich muß arbeiten«, widersprach Paul und wollte sich wieder aufrichten. »Ich bin hier, um einen Film über den Krieg zu drehen.« »Das wissen wir schon von dem Mann, der Sie hergebracht hat.« Er deutete mit einem Bleistift auf das Krankenblatt. »Es herrscht hier immer noch Verwirrung. Wir wissen nicht, wie Sie heißen. Also?« »Paul Crown. American Luxograph Company.« »Ihr Name genügt«, fuhr ihn der Arzt an. Er brachte ihn zu Papier. »Wo bin ich hier?« »In Siboney.« »Als ich getroffen wurde, war ich oben in den Bergen.« »Ja, der Soldat, von dem ich sprach, hat Sie den ganzen Weg hierher getragen. Ein kräftiger Nigger. Ich weiß nicht, wer er war, für mich sehen sie alle gleich aus. Ich schlage vor, Sie legen sich hin und ruhen sich aus.« Dr. Winter wandte sich ab, und Paul sah erneut das silbrige Aufblitzen der Nadel, hörte den unvermeidlichen Schrei. Am Samstagmorgen betrat ein Zivilist mit einem vertrauten Gesicht den Raum. Er blickte sich um, erspähte Paul und holte sich einen Stuhl. Seine schmucke Jacke und seine karierte Mütze waren unsagbar schmutzig. Paul lächelte schläfrig. »Billy.« »Hallo, Kumpel«, erwiderte Bitzer. »Ich hab’ gehört, daß du hier liegst. Wie geht’s dir?« »Ich komm’ durch.« »Das will ich doch hoffen! Hab’ dir ein paar Neuigkeiten zu erzählen. Erstens, deine Kamera ist in Sicherheit. Soldaten haben sie in der Nähe des Hauses in Las Guásimas gefunden. Sie haben sie mir gebracht, und ich habe sie beim Stab für dich hinterlegt.«
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Mit Entsetzen erinnerte sich Paul in diesem Moment an den Seesack im hohen Gebüsch. Befand er sich immer noch dort? Und wenn nun Hitze und Regen die Filmrollen zerstört hatten? Er rappelte sich hoch. »Ich muß hier raus –« »Nein, nein, immer mit der Ruhe«, beruhigte ihn Bitzer und schüttelte eine Zigarette aus der Packung. Er bot Paul eine an. Der schüttelte den Kopf. Bitzer strich das Streichholz an. »Es passiert gar nichts, solang sie nicht genügend Männer und Nachschub haben, um weiter vorzurücken. Das dauert mindestens sechs oder sieben Tage, wenn nicht gar mehr.« »Bist du sicher, daß meine Kamera in Ordnung ist?« »Todsicher. Ich hab’ sie überprüft. Die Linse ist okay, desgleichen die Kurbel. Soviel ich sehen konnte, hat sie kein einziges Tröpfchen Regen abbekommen. Du hast verdammt Schwein gehabt. Ich wünschte immer noch, es wäre meine Kamera, sie ist eine wahre Pracht, wenn du mich fragst.« »Wirklich anständig von dir, dich drum zu kümmern«, sagte Paul. »Schließlich sind wir Konkurrenten.« Billy Bitzers Grinsen war gleichzeitig bärbeißig und warm. »Klar, aber du heißt schließlich nicht Paley. Das ist die andere Neuigkeit. Paley hat uns verlassen, er ist nach Hause gefahren. Zu krank, um weiterzuarbeiten. Hat nicht eine Aufnahme im Kasten. Ist gestern nach Key West abgefahren. Und niemand trauert ihm nach.« Er legte die Hand an die Mütze und drückte Pauls Schulter. »Werd schnell wieder gesund, mein Freund.« »Danke, Billy. Für alles.« »Kaum der Rede wert. Ich seh’ dich dann also im Schützengraben.« Etwas später war Paul gerade eingedöst, als ihn jemand schüttelte. Er murmelte »Nein« und warf den Kopf hin und her, ohne die Augen zu öffnen. Er wollte nichts als schlafen. Die Hand puffte ihn ein zweites Mal. »Heine, wachen Sie auf! Ich hab’ nicht viel Zeit.« Benommen blickte Paul in das häßliche Gesicht des Obergefreiten Ott Person. Ott beugte sich herunter und warf einen Blick auf das Zimmer, in dem nun sieben Männer auf Brettern am Boden lagen. Fliegen schwirrten durch die Luft. Kakerlaken krabbelten über die Wände. »Das ist ja das letzte Loch hier. Haben die nicht einmal Feldbetten hier?« »Anscheinend nicht.« Paul bemühte sich, sich auf die Ellbogen zu stützen, und meinte, ein scharfes Rasiermesser schnitte ihm unter dem
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Verband in die Seite. »Es fehlt hier an allem. Man hat mir gesagt, Sie hätten mich hergebracht.« »Den Pfad hinunter. Das war ich Ihnen schuldig.« »Wie haben Sie mich gefunden?« »Reiner Zufall, sonst gar nichts. Hatte ja keine Ahnung, daß Sie überhaupt in der Gegend waren. Zwei Abteilungen von der 10. waren zur Verstärkung von Woods Kolonne abkommandiert worden. Wir hetzten also den Pfad hoch und machten uns auf die Suche nach Joe Wheeler. Meine Gruppe kam zufällig an der Stelle vorbei, wo Sie lagen, das ist alles.« »Wenn ich erst hier raus bin, werd’ ich mir überlegen, wie ich das wiedergutmachen kann.« »Heine, hören Sie auf damit! Ich hatte doch schließlich eine Schuld zu begleichen. Wenn Sie wirklich was für mich tun wollen, dann bleiben Sie in Amerika, wenn dieser Krieg vorbei ist. Werden Sie Amerikaner.« Paul holte tief und langsam Luft, aber selbst wenn er ganz vorsichtig atmete, war der Schmerz fürchterlich. »Ott, das kann ich nicht. In England bietet sich mir eine neue Chance, und die werd’ ich nutzen. Mein ganzes Leben lang hab’ ich mich nach einem Zuhause gesehnt, wollte immer irgendwo hingehören. Wissen Sie, wo ich zu Hause bin? In einem möblierten Zimmer, in einem Hotel, mit einem einzigen Koffer.« Ott zog sein rotes Halstuch heraus und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er schien unbändig zu schwitzen. »Könnte schlimmer sein. Mein erstes Zuhause war eine Hütte mit zwei Zimmern, undichtem Dach und Lehmfußboden. Ich weiß, wie Sie sich fühlen, weil Sie dieses Mädel verloren haben. Aber es gibt keinen Ort auf der ganzen Welt, der Sie nicht irgendwann enttäuschen wird, Heine. Amerika ist vielleicht ein Wagen mit einem schiefen Rad, aber es transportiert trotzdem viele Leute sehr viel weiter, als die sich jemals haben träumen lassen. Diese Erfahrung habe ich in der Armee gemacht. Und Sie kennen sie doch auch – Sie haben schließlich gelernt, wie man mit der Kamera umgeht. Sie dürfen nicht undankbar sein. Gehen Sie nicht fort!« Paul schüttelte den Kopf. Ott mußte verstehen. Es war vorbei. Die Hälfte der Stereoskopkarte, die in seinem Koffer im Wirtshaus lag, war nicht mehr und nicht weniger als das, was er sie bei der Abfahrt in Tampa genannt hatte. Ein Andenken. Ott stand auf, er war gewaltig groß und warf einen langen Schatten an die Wand. Sie sahen einander an. »Tja, ich hab’ meinen Spruch aufgesagt. Ich gehe jetzt.« Er löste den Knoten seines Halstuchs und fuhr sich damit über Nacken, Gesicht und Hals. »Meine Güte, hier ist es ja so heiß wie in einem Backofen.« Paul war
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verwirrt. Eine steife Brise wehte vom Meer herüber und machte das Haus angenehm kühl und frisch. Dennoch war Ott schweißbedeckt. »Huuuh, ich genehmige mir vielleicht ein paar Minuten am Strand, bevor ich wieder zurück ins Lager gehe.« Ott stopfte sein Halstuch in seine Gesäßtasche, setzte seine Mütze auf und legte das Band unters Kinn. »Also bis dann, Heine. Sie kommen mich dann besuchen, sobald Sie hier raus sind. Dann reden wir noch mal über Ihre Pläne. So schnell geh’ ich nicht auf.« Am nächsten Morgen, Sonntag, trat Dr. Winter mit einem jungen Offizier an Pauls Lagerstatt. »Das ist Oberleutnant Criswell. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Frank Criswell«, stellte der Offizier sich vor und beugte sich hinunter, um Paul die Hand zu schütteln. »Mr. Crown, ich bin Adjutant von Major Groesbeck, dem zuständigen Rechtsoffizier des 5. Armeekorps. Sie sind leitender Kameramann der Filmgesellschaft namens American Luxograph, richtig?« Etwas besorgt bejahte Paul. »Sie hatten einen Partner, einen gewissen James Daws?« Paul nickte. »Könnten Sie ihn beschreiben? Ich meine, seinen Charakter. Was für ein Mensch war er?« Hatte? War? Was hatte das zu bedeuten? »Manchmal war Jimmy ganz in Ordnung. Er kann sehr liebenswürdig sein, wenn ihm danach ist. Aber er hat – wie soll ich das sagen? Er hat noch ein anderes Gesicht. Weil er aus armen Verhältnissen stammt, möchte er um jeden Preis reich werden. Ich glaube, daß er oft dem einfachen gegenüber dem richtigen Weg den Vorzug gibt. Ich habe stets versucht, mit ihm auszukommen, aber ich muß gestehen, daß ich ihn nie wirklich mochte. Nicht so, wie man einen Freund mag.« »Haben Sie beide irgendwelche Differenzen gehabt am Tag der Schlacht bei Las Guásimas?« Überrascht antwortete Paul: »Ja, das haben wir.« »Bitte erzählen Sie, was passiert ist.« Paul erzählte, daß er und Jimmy in der Frühe Oberst Woods Kolonne gefolgt waren. »In der Nähe der Ranch habe ich Jimmy dabei erwischt, wie er einem toten Soldaten die Goldzähne ausgebrochen hat. Es ist möglich, daß er den Soldaten getötet hat, denn ich hatte ihn kurz vorher noch gesehen, und da hatte er nur einen gebrochenen Arm. Ab ich Jimmy Einhalt gebieten wollte, hat er sich auf mich gestürzt und versucht, mich zu ersticken.«
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»Ich verstehe. Fahren Sie fort.« »Ich wehrte mich, und er rannte weg. Ich folgte ihm, stellte ihn, und dann haben wir gekämpft. Er versuchte mich mit seiner Kette zu erwürgen.« Paul berührte die Wundmale an seinem Hals. »Ich behielt schließlich die Oberhand, aber dann wurde ich von der spanischen Kugel getroffen. Er hat mich dort zum Fraß der Landkrabben und Aasgeier liegenlassen. Mehr weiß ich nicht. Warum fragen Sie?« Criswell faßte in die Tasche seines sauberen blauen Hemds und holte ein kleines Notizbuch heraus, blätterte darin. »Dawn ist am gleichen Nachmittag in Siboney aufgetaucht. Gegen Abend bestieg er ein Fischerboot, das in der Nähe des örtlichen Landungsstegs festgemacht hatte. Ein Motorboot.« Paul erinnerte sich, daß Jimmy die Boote bei der Ankunft eingehend betrachtet hatte. »Daws versuchte das Boot zu mieten, das ihn nach Key West bringen sollte. Der Kapitän willigte gegen eine relativ hohe Summe ein. Wir haben einen Wachposten am Landungssteg postiert. Der Mann, der in dieser Nacht Dienst tat, war der Obergefreite Bray. Er wurde Zeuge des Angebots von Daws und informierte ihn darüber, daß die Fischerboote sich vorübergehend unter dem Kommando von Admiral Sampson und General Shafter befänden und ausschließlich für militärische Einsätze bestimmt seien. Daws bestieg das Boot und bestand darauf, nach Key West gebracht zu werden. Der Obergefreite Bray befahl ihm unter Androhung von Strafe, das Boot zu verlassen. Da zog Daws ein Messer, stieß es Bray in den Bauch und warf ihn ins Wasser. Inzwischen war es fast dunkel, so daß niemand außer dem Kapitän sah, was geschah, oder wußte, daß irgend etwas vor sich ging, bis der Wachposten einen lauten Schrei ausstieß.« »Was ist dann passiert?« »Einige Soldaten am Strand hörten Brays Schreie und fischten ihn aus dem Wasser, wo er sich an einem Pfeiler des Landungsstegs festgeklammert hatte. Daws muß sich die ganze Aufregung zunutze gemacht und den Kapitän dermaßen eingeschüchtert haben, daß dieser Kurs auf Key West nahm. Der Obergefreite Bray schilderte den Ärzten den Hergang der Tat, aber er ist gestorben, bevor er seine Aussage beeiden konnte. Deshalb haben wir keine rechtlich zulässige Aussage, die wir gegen Daws verwenden könnten.« »Und Jimmy ist entwischt?« Endlich lächelte der Oberleutnant. »Im Gegenteil. Kurz nachdem er Bray das Messer in den Bauch gestoßen hatte, haben wir die Behörden in Key West verständigt. Als das Fischerboot am Samstag dort anlegte und Daws
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an Land ging, wurde er sofort verhaftet. Der Kapitän des Fischerbootes konnte auf hoher See entkommen. Und deshalb bin ich hier, um Sie, Mr. Crown, um eine eidesstattliche Erklärung zu bitten. Wenn Sie unter Eid aussagen und eine Anzeige wegen versuchten Mordes gegen James Daws unterzeichnen, dann können wir ihn ins Gefängnis bringen, wo er hingehört. Sie sind unsere einzige Hoffnung, Gerechtigkeit für Bray und seine Familie zu schaffen.« »Natürlich unterzeichne ich eine Anzeige. Jim war also doch nicht so clever.« Criswell nickte und erhob sich. »Suchen Sie uns auf, sobald Sie können. Jeder kann Ihnen den Weg zeigen. Und danke.« »Keine Ursache. Auf Wiedersehen.« Paul legte sich wieder hin. Er fühlte sich gestärkt durch das Wissen, daß seine Aussage Jimmy Daws ins Gefängnis befördern würde. Manchmal gab es doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt. Am Sonntagnachmittag begleitete Dr. Winter einen weiteren Besucher durch das Labyrinth der Verwundeten, die auf dem Boden lagen. Mit säuerlicher Miene erklärte der Arzt: »Sie sind ein gefragter Bursche, Crown. Da ist er, Mr. Radcliffe.« Michael zog ein fleckiges weißes Taschentuch aus seiner Brusttasche und wedelte damit vor seiner Nase hin und her. »Was für ein Geruch hier drinnen! Sind das die Ausdünstungen der Kranken oder ärztliche Ignoranz?« Er sprach ziemlich laut, so daß Winter, der noch nicht weit weg war, es hören mußte. Winter schlug die Verbindungstür zu, die normalerweise offenstand. »Kein Zweifel, das bist du«, meinte Michael, auf seinen Spazierstock gelehnt. Sein Gesicht, sonst stets von einer vornehmen Blässe, war rot und schälte sich. Eine gefaltete, bereits etwas vergilbte Zeitung lugte aus einer seiner Seitentaschen. »Hat ewig gedauert, bis ich dich gefunden habe. Hätte nie vermutet, daß du hier landest, hatte so ein unheilvolles Gefühl, als seist du in dem schmutzigen kleinen Scharmützel am Freitag getötet worden. Der Doktor hat mir in groben Zügen geschildert, was dir widerfahren ist. Du bist ein tapferer Bursche, mein Lieber, aber du riskierst zuviel. Ich habe einen ganz und gar zufriedenstellenden Bericht über Las Guásimas geschrieben, ohne auch nur einen Fuß vor das Wirtshaus zu setzen.« Michael sah beträchtlich schmutziger und abgerissener aus als vergangenen Donnerstag; er erinnerte ein wenig an den alten Rhukov. Sein weißer Flanellanzug war dreckig und fleckig. Die weißen Leinenbesätze
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seiner edlen schwarzen Schuhe trugen Wasserflecken. Selbst seine goldgeränderte Brille war nicht verschont geblieben; einer der Bügel war schrecklich verbogen. Und sein wunderschöner steifer Strohhut fehlte. Paul wollte wissen, ob er ihn verloren hatte. Michael antwortete: »Huren folgen den Kriegen. Die ersteren können so bösartig sein wie die letzteren. Bitte zwing mich nicht, noch deutlicher zu werden.« Paul lachte. »Warst du überhaupt schon in der Nähe der Front?« »Gestern bin ich etwa zwei Kilometer weit auf der Hauptstraße vorgedrungen. Verdammt langweilig, das Ganze. Ich habe etwas viel Aufregenderes für dich. Wie versprochen habe ich meine Nachricht nach London geschickt. Habe dich in den höchsten Tönen gelobt. Seine Lordschaft hat zurücktelegraphiert, daß er in der Tat vorhat, eine Filmfirma zu gründen. Sobald du also in London eintriffst, will dich der liebe Papa Otto höchstpersönlich kennenlernen. Und bis dann, mein Lieber, solltest du die Nähe von aggressiven Menschen, egal ob weiß oder braun, mit Kugeln im Lauf meiden.« Bald darauf verabschiedete sich Michael, denn der Gestank – so sagte er – erinnerte ihn zu sehr an sein früheres Leben. Auf halbem Weg zur Tür blieb er stehen. »Ach, das habe ich vergessen. Willst du die?« Er schwenkte die Zeitung aus seiner Seitentasche in der Luft. »Mr. Hearsts Regenbogenblatt aus New York. Zwei Wochen alt.« »Steht irgend etwas drin, was nichts mit dem Krieg zu tun hat?« »Nur die übliche Mischung aus Traurigem, Sensationellem und Verabscheuungswürdigem. Zwei kleine Kinder, die in den Flammen umgekommen sind, weil eine Feuertreppe in baufälligem Zustand war. Eine weitere unfaßbare öffentliche Rede von Kaiser Wilhelm. Irgendein angesehener Bursche, der von seiner Geliebten ins Jenseits befördert wurde. Ausverkauf an Bettwäsche bei R. H. Macy –« »Ich hab’ Schwierigkeiten beim Sitzen, ich glaube, ich erspar’ mir die alten Neuigkeiten.« »Okay. Ich werde sie vernichten. Cheerio.« Paul fühlte sich von Otto Hartsteins Nachricht beschwingt. Trotz der Hitze und dem anhaltenden Stöhnen der Verwundeten fühlte er sich, ungeachtet seiner eigenen Schmerzen, bereits sehr viel besser. Zuerst Criswell und dann Michael – zwei famose Überraschungen, seit er am Morgen in diesem Lazarett aufgewacht war. Mehr waren sicher nicht zu erwarten. Aber es war nicht das erste Mal, daß er sich irrte.
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108 JULIE Am selben Samstagnachmittag saß Julie auf der Terrasse von Belle Mer an dem grünen Eisentisch ihrer Mutter gegenüber. »Du hast einen Skandal heraufbeschworen, als du dich geweigert hast, zur Beerdigung zu erscheinen, Juliette.« »Der Skandal hat schon viel früher begonnen, Mama. Es war unmöglich, das Ganze zu vertuschen. Daß Bill von einer übelbeleumundeten Frau, die er sich in der Stadt hielt, erschossen wurde. Bill war nur dem Namen nach mein Mann. Er hat mich benutzt – mir körperlich weh getan – angefangen mit unserer Hochzeitsnacht.« »Du hast mir nie davon erzählt. Kein Wort.« »Hättest du mir zugehört? Hättest du mir geglaubt?« Nell nippte an ihrem Tee. Sie sah verbittert aus. Und plötzlich, während sie ihre Tochter genau in Augenschein nahm, sogar feindselig. Sie war an einem strahlenden, kühlen Nachmittag aus Chicago angekommen; zu kühl für Ende Juni. Sie war wie immer elegant und angemessen gekleidet; sie trug ein hochgeschlossenes langes Kleid mit schwerer Bortenstickerei, dazu ein Unterkleid aus Satin und einen Gürtel, ebenfalls aus Satin. In der Eingangshalle hatte sie einen aparten, mit Straußenfedern geschmückten Filzhut abgenommen und ihn zusammen mit dem Schirm an das Mädchen weitergereicht. Alles war schwarz; Kleid, Borten, Federn, Schirm – alles. Julie trug einen gestärkten weißen Leinenrock im Marinestil und eine kurze Bluse aus weißer Seide mit blauen Tupfen; sehr sommerlich und sehr fröhlich. Ein weiterer Stein des Anstoßes für Nell. »Ich möchte dich außerdem wissen lassen, daß ich empört bin über die Art, wie du dich kleidest. Könntest du nicht wenigstens eine schwarze Armbinde tragen?« Nach außen hin ruhig und gelassen, sah Julie ihre Mutter nur wortlos an. Laß dir nicht anmerken, wie’s in dir aussieht… »Mama, warum sollte ich? Ich trauere nicht um Bill, er war ein schlechter Mann.« »Aber du hast ihn doch sicher ein wenig geliebt –« »Nicht ein bißchen. Ich liebe Paul. Mr. Crowns Neffen – den Jungen, den Papa verjagt hat. Ich habe nie einen anderen geliebt.« Nell schlug die Tasse auf die Untertasse. Julie hörte, wie sie zerbrach. Und wenn schon, sie hatte genügend Geld, um eine neue zu kaufen. Sie hatte genügend Geld, um zehntausend Tassen und Untertassen zu kaufen. In seiner männlichen Selbstgefälligkeit, seinem Glauben an die eigene Macht und Überlegenheit hatte Elstree es nicht für nötig gehalten, sein Testament
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dahingehend zu ändern, daß es der wachsenden und unverhohlenen Abneigung seiner Frau Rechnung trug. Er hätte es vielleicht getan, wenn sie ihm einen Erben geboren hätte, aber dazu war es nicht gekommen. Aus diesem Grund war sie seine Alleinerbin. Nell erhob die Stimme. »Ich kann dein Benehmen beim besten Willen nicht billigen.« »Es tut mir leid, Mama, aber es steht dir nicht mehr zu, mir in dieser Hinsicht Vorschriften zu machen.« Nell setzte sich auf ihrem Eisenstuhl ganz zurück und umklammerte die Armlehnen. Mit einiger Nervosität beobachtete Julie ihre Mutter, während sie sich auf den nächsten Angriff gefaßt machte. Er erfolgte zu ihrer Überraschung in Form einer zärtlich vorgebrachten Bitte. Nell erhob sich und ging um den Tisch herum. Sie wirkte mit einemmal furchtbar zerbrechlich; mehr als ein bißchen wacklig auf den Beinen. Mit der Hand strich sie sanft über Julies hochfrisiertes Haar. Julie neigte unwillkürlich den Kopf zur Seite. Auf Nells Wangen tauchten plötzlich kleine rote Pünktchen auf. Sie berührte Julie noch einmal und sprach mit leiser Stimme. »Was hast du mit deinem schönen Haar gemacht, mein Liebling? Es ist so stumpf. Du hast dich nicht genügend darum gekümmert.« »Es gibt wichtigere Dinge als –« »Als weibliche Schönheit? Wie unrecht du hast. Wie unrecht.« Die streichelnde Hand bewegte sich einlullend hoch und nieder. »Komm mit mir nach Hause, mein Kind, nach Chicago! Ich sorge dafür, daß es bald wieder glänzt.« Verschreckte Vögelchen flatterten in dem Käfig in Julies Brust. Du mußt stark sein, du mußt stark sein. Tante Willis hatte wieder einmal versucht, ihr Mut zu machen, als sie sie im letzten März in Chicago besucht hatte. Elstree hatte Willis vom ersten Augenblick an gehaßt, genau wie Papa. Unter vier Augen hatte sie ihrer Tante gestanden, daß ihre Ehe ein einziger Schwindel war und daß sie Paul liebte und keinen anderen. Sie hatte ihrer Tante jedoch nicht davon erzählt, daß sie vorhatte, Bill zu verlassen, denn damals hatte ihr Plan nur aus dem Wissen bestanden, daß sie Bill einfach verlassen mußte. Aber schon die bloße Gegenwart von Tante Willis hatte ihr Kraft gegeben. Sie versuchte sich diese Kraft jetzt zunutze zu machen. »Juliette. Julie, mein Kleines – ich bestehe darauf, daß du nach Hause kommst. Du weißt, daß es mir nicht gutgeht. Selbst jetzt fällt mir das Atmen schwer –« »Mama.« Julie faßte ihre Mutter sanft aber bestimmt am Handgelenk. Sie nahm Nells Hand von ihrem Haar. »Ich hätte beinahe mein eigenes
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Leben zerstört, weil ich auf dich gehört habe. Ich glaube, daß ich genug für deine Gesundheit getan habe. Mehr als irgendeine Tochter tun sollte. Es ist Zeit, daß ich mich um mich selbst kümmere.« »Juliette.« Nells Mund schnappte wie der eines Fisches an der Angel auf und zu, ohne daß ein einziger Ton herauskam. Ihre beringte Hand fuhr nach hinten zur Tischkante. Sie torkelte, trotzdem griff ihre Hand mit unglaublicher Präzision nach der Armlehne des Stuhls. Eine großartige Schauspielerin. Noch nie zuvor war Julie dieser Gedanke gekommen. Sie wird eine neue Rolle finden müssen, dieses Stück wird nicht mehr gespielt. Sie zeigte sich besorgt, sagte leise: »Es tut mir leid, daß es dir nicht gutgeht, Mama. Wir haben hier draußen einen ausgezeichneten Arzt, Dr. Lohman. Ich werde ihn sofort anrufen und ihn herbitten.« Sie schritt zur Glastür. Nell sank auf ihren Stuhl, in ihren Augen lag Entsetzen über den Verrat. »Ich will keinen Arzt. Ich will eine gehorsame Tochter.« Julie blieb stehen und drehte sich um. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde den Arzt anrufen. Bleib einfach sitzen, Mama, und ruh dich aus.« Eine Stunde später traf der Arzt in seiner Kutsche ein. Nell hatte inzwischen ihre eigene Kutsche vorfahren lassen und war mit ihrem ganzen Gepäck abgefahren, aber nicht ohne vorher ihrer Tochter zum Abschied einen letzten Hieb zu versetzen. »Du bist eine böse Frau geworden, ich erkenne dich nicht wieder. Ich habe dir alles gegeben, meine ganze Erfahrung, meine ganze Liebe. Ich habe unter den schrecklichsten, grausamsten Qualen ein Kind zur Welt gebracht, und das ist nun der Dank! Du mußt dich mit solchen Schlampen wie meiner Schwester eingelassen haben. Ich enterbe dich! Meine Tür bleibt dir für immer verschlossen. Du wirst mich nie wiedersehen.«
109 DUTCH Montag. Dämmerung. Paul erwachte mit dem Gefühl, daß jemand in seiner Nähe war. Ab er die Augen öffnete, traf ihn der Glanz eines goldenen Sterns von einer Schulterklappe. Das Gesicht, das von streng zurückgekämmtem silbergrauem Haar umrahmt wurde, war genauso, wie es seit damals, als er durch die Vordertür in der Michigan Avenue stolperte, in seiner Erinnerung verankert war, auch
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wenn die tropische Sonne die Haut gerötet hatte. Schnurrbart und Zwickelbart sahen wie immer gepflegt aus. Nur in den braunen Augen lag eine ungewohnte Nervosität. »Paul. Mein lieber Neffe.« Mein lieber Neffe! »Onkel Joe –« »Darf ich dich auf ein kurzes Gespräch stören?« »Aber natürlich – gewiß«, antwortete Paul und fragte sich gleichzeitig, ob dies die klügste Antwort war. In seinem Innern regten sich bereits unfreundliche Gefühle. Dies war der Augenblick, auf den er so lange gewartet und den er gleichzeitig gefürchtet hatte. »Ich hoffe, mein Besuch ist keine allzu unerfreuliche Überraschung.« »Nein, Sir. Ich weiß schon seit einiger Zeit, daß du zu General Wheelers Stab gehörst. Ich habe dich in Tampa sogar von weitem gesehen.« »Und hast es vorgezogen, dich nicht zu erkennen zu geben.« »Onkel Joe – bitte –, setz dich doch. Dort drüben an der Wand steht ein Stuhl.« Insgesamt lagen acht Verwundete in dem Zimmer und alle, einschließlich Paul, auf dem Boden. Zwei Männer waren wach und sahen unverhohlen zu ihnen herüber. Onkel Joe bemerkte die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. »Kannst du gehen?« fragte er. »Wenn ich langsam mache. Heute morgen war ich eine halbe Stunde auf, saß am Fenster und schaute aufs Meer hinaus.« »Könnten wir uns vielleicht draußen unterhalten? Ich hab’ irgendwo eine Bank gesehen. Komm, ich helf dir!« Paul ergriff mit der rechten Hand die starken Finger, stieß sich mit der linken ab und kam ohne Schwierigkeiten, wenn auch nicht ohne Schmerzen, hoch. »Stütz dich ruhig auf mich. Leg deinen Arm auf meine Schulter.« Fast hätte Paul gelächelt; da war er wieder, der alte, unbewußte Befehlston. Aber er gehorchte anstandslos. Es war leichter so. »Es ist schön hier draußen«, sagte Onkel Joe, als sie aus dem stinkenden Haus traten. »Ziemlich warm – hier rüber.« Bevor sich’s Paul versah, saß er schon auf der Bank, die nackten Füße im Sand. Die untergehende Sonne tauchte Meer und Ufer in ein leuchtendrotes Licht. Durch die offenen Fenster im zweiten Haus, das in einigem Abstand am Strand stand, sah man, wie sich Frauen in Baumwollkleidern mit Besen, Eimern und Tabletts zu schaffen machten. Eine dünne Frau mittleren Alters hängte vor dem Haus nasse Wäsche auf. Er hatte erfahren, daß die Frauen freiwillige Helferinnen des Amerikanischen Roten Kreuzes waren; sie alle standen unter der Leitung von Miss Clara Barton, einer in den Vereinigten Staaten ziemlich berühmten Frau. Dr. Winter und die anderen amerikanischen Ärzte
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weigerten sich zu erklären, warum ihre Hilfe nur den Kubanern zuteil wurde. Nachdem er seinen Degen zur Seite geschoben hatte, ließ sich General Joe Crown neben seinem Neffen nieder. »Wie hast du mich gefunden?« fragte Paul. »Es geht hier ganz schön hektisch zu, wie du wohl weißt. Erst heute nachmittag hatte ich Gelegenheit, einen Blick auf die Namenliste unserer verwundeten Soldaten und Zivilisten zu werfen. Dort habe ich zu meiner Verwunderung den Namen Paul Crown gelesen. Ich bin, so schnell ich konnte, hergeeilt, um nachzusehen, ob du es bist. Auf der Namenliste stand in Klammern noch ein anderer Name. Dutch.« »So werde ich meistens genannt.« »Man hat mir erzählt, daß du einer von den Filmleuten bist. Wie Mr. Bitzer aus New York.« »Ja. Ich arbeite für eine Firma in Chicago.« »Ich bin sehr neugierig. Ich möchte, daß du mir alles erzählst, was du in der Zwischenzeit erlebt hast. Aber zuerst, Paul, muß ich dir etwas sagen. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich habe dir unrecht getan, als ich dich aus dem Haus warf. Das habe ich auf sehr persönliche und eindrucksvolle Weise erfahren. Ich werde versuchen, alles zu erklären, wenn du willst, aber bevor ich –« Er hielt inne, saß steif und verkrampft neben Paul. Er war wie immer der perfekte Soldat, mit Ausnahme der Tränen, die er nicht zurückhalten konnte. »Ich möchte dich um Verzeihung bitten. Es würde mich nicht wundern, wenn du mich zurückweisen würdest.« Paul blickte auf seine Hände. »Ich habe tatsächlich noch lange, nachdem ich von euch fortgegangen bin, eine schreckliche Wut gehabt« – habe sie immer noch –, »aber wir sind Blutsverwandte, und ich habe auch deine Güte und Freundlichkeit nicht vergessen. Auch ich habe Fehler gemacht. Ich glaube, wir sollten uns gegenseitig verzeihen.« Onkel Joe legte seine Hand auf die von Paul, drückte sie fest. Paul war selbst den Tränen nahe. »Danke«, flüsterte sein Onkel. »Danke.« Eine salzige Brise wehte vom Meer herüber, verschaffte Erleichterung von dem widerlichen Gestank, der aus dem Lazarett drang. Onkel Joe faßte sich wieder. »Dieses Filmgeschäft. Ich erinnere mich, daß du schon früher davon gesprochen hast. Bitte erzähl mir davon.« »Ich habe meinen Beruf liebgewonnen. Außerdem scheine ich eine Begabung dafür zu haben. Und das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich das sagen kann. Ich habe mir immer gewünscht, zeichnen zu können, ein Künstler zu sein, das weißt du. Und auf diese Weise geht mein Wunsch
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in Erfüllung. Mit einer Ausnahme. Jetzt kann man auf meinen Bildern auch etwas erkennen.« Sein Onkel lachte. Mit möglichst wenigen Worten versuchte Paul Wex Rooney zu beschreiben, dann das, was er von Rooney über die Kunst und das Handwerk der Photographie gelernt hatte. Als nächstes erzählte er von Oberst R. Sidney Shadow III.: »Ein lasterhafter Mensch. In vieler Hinsicht sogar ein Schwindler. Aber ich mag ihn. Vom Oberst, der eigentlich gar kein Oberst ist, habe ich das gelernt, was ich jetzt tue. Und was ich auch weiterhin tun werde.« »Das hast du im Levee gelernt? Wie hast du in diesem Sündenpfuhl überhaupt überlebt?« »Eigentlich sehr gut. Schließlich bin ich auf den Straßen von Berlin großgeworden.« Der General fuhr sich über seinen Bart. »Ich habe natürlich von diesen bewegten Bildern gehört. Aber ich habe noch nie welche gesehen.« »Verständlich, ehrbare Leute gehen dort nicht hin. Ich bin überzeugt, daß sich das ändern wird. Die bewegten Bilder vermögen viel mehr, als nur zu unterhalten. Mit ihnen kann man die Menschen erziehen, bilden. Man kann den Menschen die ganze Welt zeigen, die sie sonst nie sehen würden. Der Film kann Bilder vom Krieg zeigen, so wie jetzt. Bevor ich am Freitag verwundet wurde, habe ich in der Nähe von Las Guásimas gefilmt. Ich bin nicht sicher, ob der Film die Hitze und Feuchtigkeit überstehen wird, aber wenn er es tut, dann werden die Bilder in Pflaums Varietétheater in Chicago vorgeführt.« Er sah seinem Onkel in die Augen. »Es wäre schön, wenn du sie dir ansehen würdest. Vielleicht änderst du dann deine Meinung über ihren Wert.« »Ich werde kommen.« Onkel Joe drückte wieder seine Hand. »Abgemacht.« Sie redeten und redeten, bis die Dunkelheit über sie hereinbrach mit Tausenden von leuchtenden Sternen über der kubanischen Küste. Paul stellte viele Fragen. »Wie geht’s Fritzi und Carl?« »Fritzi ist entschlossener denn je, Schauspielerin zu werden. Carl besucht eine Privatschule in New York. Er hat Football spielen gelernt. Meiner Meinung nach zwar kein sehr vornehmes Spiel, wie Baseball zum Beispiel, aber er macht sich ganz gut. In der Schule hapert’s leider.« »Und Vetter Joe? Wißt ihr, wo er ist?« »Nein, wir wissen es nicht, es ist schrecklich. Er ist nicht zurückgekommen und hat auch nicht geschrieben. Wir haben mehrmals
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eine Detektei beauftragt, nach ihm zu suchen, aber die Suche verlief ergebnislos. Deine Tante erhält von Zeit zu Zeit seltsame Päckchen von einem anonymen Absender. Weizenähren. Kleine Bonbons in Form von kalifornischen Orangen. Sie ist davon überzeugt, daß Joe sie geschickt hat, um sie wissen zu lassen, daß es ihm gutgeht. Aber das letzte Päckchen kam vor etlichen Monaten, und seither nichts. Sie ist in großer Sorge um ihn.« Mit gequälter Stimme fügte er hinzu: »Sie hat den Verlust von Joe nie überwunden. Wird ihn auch nie überwinden. Ich trage dafür die Verantwortung.« Vorsichtig sagte Paul: »Weißt du, Onkel Joe, Vetter Joe hat sich nicht gegen dich aufgelehnt, um dir weh zu tun. Er wollte nur immer so sein wie du. Unabhängig. Stark. Sein eigener Herr.« Jetzt klang die Stimme des Generals hart wie Stahl. »Er war nicht wie ich, Paul. Er war ein Radikaler.« »Aber er hat dich und Tante Ilsa wirklich geliebt. Er hat sich einfach mit den falschen Leuten und den falschen Ideen eingelassen.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Hattest du nie eine Idee, die sich später als falsch herausgestellt hat? Nicht eine einzige? Wenn dem so ist, dann mußt du ein Heiliger sein.« »O ja, ich hatte viele. Viele! Das hab’ ich in Tampa einsehen müssen. Du erstaunst mich, Paul. Als du während des schrecklichen Sturms zu uns kamst, warst du ein Kind. Jetzt spricht ein Mann aus dir.« Paul lächelte. »Am fünfundzwanzigsten dieses Monats bin ich einundzwanzig geworden. Ich lebe schon seit geraumer Zeit wie ein Mann.« Wieder Schweigen. Die Brandung rauschte. Reiter galoppierten durch Siboney, riefen sich etwas zu. »Du sprachst von einer Erfahrung in Tampa –«, hob Paul an. »Ja. Ich habe viel gelernt von jemandem, den du nie kennenlernen wirst. Von einer Frau. Nach kürzester Zeit hat sie mich besser gekannt, als ich mich selbst kenne. Ich erzählte ihr von dir und von Joe, und sie sagte, daß ich die Schuld trage, weil ich mich aufgeführt habe wie Gott, wo es doch nur einen Gott gibt. Ich glaube« – das Eingeständnis fiel ihm schwer, aber als er es endlich aussprach, klang seine Stimme fest –, »ich habe immer viel zu viel Wert auf Autorität gelegt. Und Kontrolle. Alles mußte richtig und korrekt sein. Aber richtig und korrekt nach meinen Vorstellungen! Diese Frau, die du nie kennenlernen wirst – und deine Tante wird nie davon erfahren, obwohl nichts Unschickliches geschehen ist –, sie hat mir die Augen geöffnet, und ich habe eingesehen, daß ich mich selbst gequält habe, daß ich meine Familie gequält und auseinandergerissen habe, indem ich ständig etwas verwirklichen wollte, was es in einer Familie und der Welt an
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sich nicht geben kann. Ich glaube, daß mein unsinniges Streben mit meinen Erfahrungen im Bürgerkrieg zusammenhängt. Mit dem entsetzlichen Chaos. Der Willkür im Leben der Menschen. Ich habe diesen Teil der menschlichen Existenz verleugnet, indem ich ihn aus meinem eigenen Leben verbannte. Aber Gründe sind keine Entschuldigungen. In meinem Streben nach einer vernünftigen Ordnung bin ich eindeutig zu weit gegangen. Meine Schuld wird nicht geringer, wenn ich mich mit der typischen Schwäche der Deutschen, dem Streben nach Ordnung, entschuldige, obwohl es natürlich eine Schwäche ist. Ich muß die Verantwortung für meine Fehler übernehmen und damit auch die Folgen. Ich muß, und ich werde es tun.« Es entstand ein langes Schweigen. Paul blieb ganz ruhig sitzen. Onkel Joe räusperte sich. »Wirst du, wenn dieser Krieg vorbei ist, nach Chicago zurückkehren, Paul?« »Ja, das habe ich vor.« »Deine Tante wird überglücklich sein. Die Kinder ebenfalls. Wir werden dich, wenn du erlaubst, wieder in unserem Haus aufnehmen. Ich werde meine Kontakte nutzen, um dir in diesem neuen Beruf zu helfen. Ich kenne viele wichtige und einflußreiche –« Paul fiel ihm ins Wort. »Ich werde nicht in Chicago bleiben, Onkel.« In wenigen Sätzen berichtete er von Michael und Lord Yorke und London. »London? Dort willst du arbeiten?« »Wenn es sich ergibt, ja.« »Du wirst Amerika verlassen?« »In meinem Beruf kann ich überall leben.« »Aber Amerika ist jetzt dein Zuhause! So wie du ‘s immer wolltest.« Aber das Schicksal hat anders entschieden. Joe Crown spürte Pauls aufkeimenden Zorn und meinte: »Wenn es meinetwegen ist, dann bitte ich dich noch einmal um Verzeihung. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um es wiedergutzumachen.« »Ich gehe nicht deshalb. Ich habe das verloren, was mir hier am meisten bedeutet hat. Den einen Menschen.« »Das Vanderhoff-Mädchen.« »Ja. Ich habe mir ein Zuhause mit ihr vorgestellt, aber sie hat den reichen Kerl geheiratet. Es ist an der Zeit, daß ich mich verändere. In ein anderes Land gehe.« »Was könnte ich tun, damit du deine Meinung änderst?« »Nichts.« Als er fortfuhr, klang seine Stimme ganz leicht angespannt. »Die Entscheidung in dieser Sache liegt ganz allein bei mir.«
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Der General verstummte. Paul war müde, hatte schreckliche Schmerzen. »Es wird Zeit, daß ich wieder hineingehe, Onkel.« »Ja, sicher. Ich habe dich schon zu lange aufgehalten.« Onkel Joe half ihm bis zum Haus. »Ich werde hier bald rauskommen«, erklärte Paul. »Ich muß noch mehr Kämpfe filmen.« »Du hast noch etwas Zeit, wir sind noch dabei, den Nachschub zu organisieren. Ich komme bald wieder, aber sollten mich meine Pflichten davon abhalten, werde ich auf dem Feld nach dir Ausschau halten.« »Und ich nach dir, Onkel.« »Sehr gut. Bis dann also –« Der General legte die Hand auf Pauls Schulter. »Paß gut auf dich auf!« Er streckte die Arme aus und umarmte seinen Neffen etwas unbeholfen, aber nichtsdestotrotz inbrünstig, um sich dann geschwind umzudrehen und im Marschschritt davonzueilen. Paul schaute ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. 110 WILLIS Eine Jolle brachte sie bei rauher See am Sonntagmorgen an Land. Der besorgte, für das kubanische Haus zuständige Arzt hieß sie wärmstens willkommen. Er weinte fast, als Clara ihm durch einen Dolmetscher sagen ließ, wie viele Vorräte auf dem Schiff lagerten und daß sie und die anderen Frauen bereit wären, ohne Einschränkungen zu arbeiten, bis das Lazarett hygienisch sauber sei. Ihre Hilfe wurde dringend benötigt. Kleine Häufchen Sand und Abfall lagerten in den Ecken der winzigen Zimmer. Fliegen schwirrten umher. Der Gestank war widerwärtig. Eiter, Blut, Urin, Exkremente. Zwei Dutzend kubanische Soldaten waren auf das ganze Haus verteilt Ein paar davon konnten sich glücklich schätzen, denn sie ruhten auf fadenscheinigen Decken oder schmutzigen Kissen, in denen kaum noch Federn waren. Willis sah mit einem Blick, daß drei von ihnen mit ziemlicher Sicherheit sterben würden. Alle trugen die gleichen dreckigen weißen Hosen, aber nicht einmal die Hälfte Hemden. Ihre Verbände waren schmutzige Lumpen. Sie waren die Bewohner einer kleinen Hölle des Leidens, und Willis war unbeschreiblich glücklich, unter ihnen zu weilen. Endlich konnte die RotKreuz-Einheit ihre Aufgabe erfüllen. Willis hatte seit der Abreise keine Zeitung mehr gesehen, mit Ausnahme einer Ausgabe der New York World, in der mehrere Seiten gefehlt hatten. Es war ihr egal, viel Arbeit wartete auf
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sie. Sie kniete sich neben einem Eimer mit Seifenwasser nieder und fing an, mit der anderen freiwilligen Helferin, Olive Shay, den Boden zu schrubben. Miss Barton marschierte durch das Haus wie ein Kriegsgeneral, mit dem Arzt und dem Dolmetscher im Schlepptau. »Wir haben Öl und Lampen, mit denen wir diese Zimmer beleuchten können. Wir haben Fliegengitter, das gerade an Land gebracht wird; das können wir vor die Fenster spannen, um Fliegen und Insekten fernzuhalten.« Zwei Lazarettgehilfen, zerlumpte junge Burschen, machten Anstalten, einen Verwundeten auf eine Bahre zu legen. Der Soldat schrie aus Leibeskräften. Seine Haut hatte eine safranfarbene Tönung. »Der Mann ist todkrank, warum will man ihn verlegen?« Mit gedämpfter Stimme erklärte der kubanische Arzt: »Fiebre amarilla.« Er fügte noch ein paar Sätze auf spanisch hinzu. Willis hörte aus dem nächsten Zimmer, wo sie den Boden schrubbte, mit. Einen Ausdruck verstand sie klar und deutlich. Vómito negro. Sie hatte ihn schon des öfteren gehört. Der Dolmetscher übersetzte für Miss Barton. »Gelbes Fieber. In der Nacht hat er Blut gespuckt. Das ist ein sicheres Zeichen. Er muß auf die Quarantänestation in den Bergen, er kann nicht hierbleiben.« Clara Barton musterte den jungen Mann geschwind und schüttelte traurig den Kopf. »Und von da wird er nicht mehr wegkommen.« Sie bedeutete den Gehilfen, mit ihrer Arbeit fortzufahren. Willis spürte, wie der kalte Hauch des Todes an ihr vorbeiwehte. Von der Stelle, wo sie schrubbte, konnte sie durch ein Fenster sehen, wie die jungen Burschen ihre Last durch den tiefen Sand zu der Station trugen, wo immer die sein mochte. Die Todesstation. Sie blies eine herabhängende graue Haarlocke aus den Augen und tauchte die Bürste in den Eimer. Nach Desinfektionsmittel riechende Seifenlauge tropfte von den Borsten. Sie packte den Holzteil der Bürste mit beiden Händen und schrubbte, als säße der Teufel persönlich auf ihrem gebeugten Rücken. Willis schlief in der Nacht von Sonntag auf Montag ganze vier Stunden. Die Frauen schliefen in Schichten; insgesamt standen ihnen drei Pritschen zur Verfügung, die in einem ehemaligen Vorrats- oder Lagerraum untergebracht waren. Nach dem Aufstehen schrubbte Willis die Wände. Sie wechselte Verbände, die mit gelbem Eiter und braunem Blut getränkt waren. Sie versorgte die Verwundeten mit Flaschen und Bettschüsseln und half ihnen, wenn sie ihre Notdurft verrichteten; sie stand in der brütenden Hitze an dem winzigen Herd und kochte einen Maismehlbrei, den sie mit einer gekochten Spezialmischung aus getrockneten Äpfeln und Pflaumen
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servierte. Sie assistierte, während einem Soldaten der zerschossene Fuß amputiert wurde, und glaubte nur einmal, und auch nur ganz kurz, sich übergeben zu müssen. Clara schuftete nicht weniger als alle anderen. Sie ging mit gutem Beispiel voran. Trotz der Hitze, der Insekten, des Gestanks und der durch Mark und Bein gehenden Schreie der jungen Kubaner verspürte Willis ein Glücksgefühl, denn hier hatte ihr Leben, im Gegensatz zu früher, plötzlich einen Sinn. Selbst wenn sie mit Männern zusammen war, verspürte sie keine Befriedigung, die dieser gleichkam. Am glücklichsten wäre ich, dachte sie traurig, wenn ich auf einem Planeten geboren wäre, wo nichts als Chaos und Leid herrschten. Am Montag führte Dr. Lesser kurz nach Mittag einen Besucher herein, einen schlanken Mann in schmutziger Uniform. Auf den Schulterklappen seines durchgeschwitzten blauen Hemds trug er kleine Metallkreuze; Abzeichen der Sanitätstruppe, die vom Klima bereits stumpf und fleckig geworden waren. »Das ist eine unserer freiwilligen Helferinnen, Miss Willis Fishburne«, erklärte Lesser, während er zwischen den Feldbetten die Runde machte. »Willis, das ist Major Lagarde, Oberstabsarzt in Siboney.« Steif schüttelte Lagarde ihr die Hand. »Miss Fishburne, sehr erfreut. Es ist erstaunlich, was Sie und die anderen Damen in dieser kurzen Zeit bewerkstelligt haben.« Willis nahm einen Tabaksbeutel und Zigarettenpapier aus ihrer Schürzentasche. »Verdammt schade, daß Ihre Ärzte uns für ungeeignet halten, den amerikanischen Jungs in gleicherweise zu helfen.« Dr. Lesser rollte hinter dem Major, der sich reumütig zeigte, die Augen. »Ja – nun – möglicherweise – werden Schritte unternommen, um diese Fehlentscheidung rückgängig zu machen.« Ja, und heute mittag wird es schneien, dachte sie, als sie auf eine Zigarette vor das Haus trat. Sie staunte nicht schlecht, als Clara gegen fünf Uhr nachmittags aufgeregt hereingestürzt kam. »Meine Damen, ich habe Ihnen etwas mitzuteilen. Ab morgen arbeiten wir im amerikanischen Lazarett. Major Lagarde hat soeben den Befehl dazu erteilt. Dr. Winter sitzt über einer schriftlichen Entschuldigung.« Am frühen Morgen des 28. Juni, Dienstag, hielten Clara Barton und ihre Frauen Einzug im amerikanischen Haus. Die Vorgehensweise war so ziemlich die gleiche. Sie fegten, brachten Fliegengitter an, wuschen Wände ab, schrubbten Böden, stellten Feldbetten auf, verbrannten schmutzige
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Dekken, kochten, versorgten die Patienten mit Trinkwasser. Weil die Amerikaner über mehr Ärzte verfügten als die Kubaner, die sich, unterstützt von Lazarettgehilfen, um die medizinischen Belange kümmerten, konnten die Frauen sich mehr Zeit für ihre Aufgaben nehmen. Willis bemerkte, daß die Männer peinlich genau über ihre Aufgabenbereiche wachten und den Krankenschwestern und Helferinnen nur die schmutzigsten Arbeiten überließen. Es ärgerte sie maßlos, aber da Clara nichts sagte, sagte sie ebenfalls nichts. Dr. Winter, ein Mann mit großen Hängebacken, neigte dazu zu knurren, wenn er die Frauen um etwas bitten mußte. Man hatte ihm eine strenge Rüge erteilt, die er ebenso ablehnte wie die Frauen, die in sein kleines Reich eingedrungen waren. Aber er versuchte wenigstens nicht, sie bei ihrer Arbeit zu behindern. Er war lediglich ein unangenehmer, unfreundlicher, selbstgefälliger Widerling. Im Laufe des Tages erfuhren sie allerhand Neuigkeiten von den Offizieren und Unteroffizieren, die im Haus zu tun hatten. Der Angriff auf Santiago war ins Stocken geraten, weil die Männer und der Nachschub über eine einzige, mit tiefen Furchen durchzogene Straße transportiert werden mußten, die einst den stolzen Namen »Camino Real« getragen hatte. Die Stimmung in Siboney war fast ausgelassen; der Sieg in Las Guásimas wurde gerühmt und gepriesen, als wäre der Krieg damit schon gewonnen. Am Dienstag abend hinterließen die drei Tage, in denen Willis nur gearbeitet und kaum geschlafen hatte, allmählich ihre Spuren. Sie begann Dinge doppelt zu sehen, dazu kamen Schmerzen in Finger- und Kniegelenken und im Rücken. Trotzdem beschloß sie, daß es an der Zeit war, sich die Namen der Patienten einzuprägen. Bisher kannte sie nur die Gesichter. »Ist das ein Zivilist?« fragte Willis mit Blick auf die Namenliste, die an vielen Stellen schmutzig und fleckig war. Hester Huff, eine der Krankenschwestern, antwortete: »Ja, hier steht, daß er Kameramann ist. Soviel ich weiß, gibt es mehrere von ihnen.« »Was zum Teufel ist ein Kameramann?« »Das sind die, die diese bewegten Bilder photographieren, die in den Varietétheatern gezeigt werden. Haben Sie schon welche gesehen?« »Einmal, bei Hammerstein in New York. Ziemlich triviales Zeug. Etwas Neues halt. Aber es wird sich nicht durchsetzen.« Hester teilte diese Meinung. »Was ist mit dem jungen Mann geschehen?« »Eine Mauser-Kugel hat ihn im Rücken getroffen. Dr. Winter meint, er habe Glück gehabt, ein glatter Durchschuß, nur zwei Rippen sind gebrochen. Er erklärt andauernd, daß er hier raus müsse.«
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Im Moment erklärte er jedoch gar nichts, sondern schlief friedlich auf der Seite, eine nackte Schulter lugte unter der Decke hervor. Der Junge war kräftig gebaut und hatte ungebändigtes braunes Haar, das im Nacken ziemlich lang war. »Mir ist aufgefallen«, sagte Willis, »daß er viel Besuch bekommt, sogar von diesem Brigadegeneral mit dem Bart.« Sie hielt die Namenliste in die Nähe der flackernden Öllampe. »Wie heißt er? Ich kann’s nicht lesen.« »Paul Crown. Er ist General Joe Crowns Neffe.« Er erwachte in den frühen Morgenstunden. Verlangte nach Wasser. Willis hatte die ganze Nacht auf diesen Augenblick gewartet, ihr Magen war vor lauter Aufregung völlig verkrampft. Unzählige Male war sie vor die Tür getreten, um zu viele Zigaretten zu drehen und zu rauchen, ungeduldig am Strand hin und her zu laufen, unfähig zu entspannen oder auch nur an Schlaf zu denken. Es war mit Sicherheit derselbe. Es war mit Sicherheit nicht nur eine zufällige Namensgleichheit. Ein anderer Arzt, Dr. Burmeister, hatte bestätigt, daß Brigadegeneral Crown aus Chicago stammte. »Hier, junger Marin.« Willis reichte dem verschlafenen Patienten die Blechtasse. Dann stellte sie den Stuhl, den sie in der Hand hielt, neben das Feldbett. Auf der anderen Seite des Ganges schluchzte ein verwundeter Rough Rider im Schlaf. Die Öllampe auf einer Kiste bei der Tür war heruntergedreht worden; der Raum lag fast im Dunkeln. Der junge Mann gab einen kleinen Seufzer von sich, als er sich auf Hüfte und Ellbogen stützte, um zu trinken. Über dem Rand der Tasse wanderten seine freundlichen blauen Augen neugierig von ihrem Gesicht zu dem Stuhl. Willis schwieg. Er leerte die Tasse und gab sie zurück. Im Sitzen fiel es ihr leichter. »Danke sehr.« Ein deutscher Akzent. O Gott, es konnte kaum ein Zweifel bestehen … Sie zog den Stuhl näher ans Bett. »Junger Mann, ich bin Miss Fishburne. Wie ich erfahren habe, sind Sie Paul Crown.« »Ganz richtig.« Beide sprachen leise. »Woher kommen Sie, Paul?« »Die Firma, für die ich arbeite, ist in Chicago. Ich wohne dort, seit ich vor drei Jahren aus Berlin eingewandert bin.« Willis fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich ganz trocken waren. »Sind Sie zufällig mit einem Chicagoer Bierbrauer namens Joe Crown verwandt?« Ein vorsichtiger Ausdruck trat in seine Augen. »Ja, er ist hier, er ist in
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der Armee, General Crown. Ich bin sein Neffe. Kennen Sie ihn?« »Nicht persönlich. Aber ich kenne Sie. Sie sind es. Sie sind es.« »Was meinen Sie?« Paul mühte sich hoch, als könne er sitzend und näher bei ihr leichter begreifen. »Ich bin sicher, daß ich Sie noch nie gesehen habe.« »Stimmt. Aber legen Sie sich wieder hin, ganz ruhig – ich muß Ihnen Verschiedenes sagen.« Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn aufs Kissen. »Sie kennen doch Julie Vanderhoff, stimmt’s?« »Ich kenne sie. Ich meine, ich kannte sie.« »Ich kenne sie ebenfalls. Sie ist meine Nichte. Ich heiße Willis mit Vornamen.« Er rang nach Luft. »Sie hat von Ihnen gesprochen, oft sogar. Sehr erfreut, Sie – Mist!« Er hatte wieder versucht, sich aufzurichten, die Anstrengung war zuviel für ihn. Schweratmend fiel er zurück. Willis fuhr mit der Hand über seine Stirn. Kalt und feucht. »Hören Sie mir zu«, sagte sie leise. »Sie wissen, daß Julie verheiratet ist. Elstree, der Warenhauserbe. Ihre Mutter, meine liebe, fürsorgliche Schwester, hat sie dazu gezwungen. Julie verabscheut ihren Mann, und das zu Recht. Ich habe sie im März in Chicago besucht. Ich bin Elstree dabei zum erstenmal begegnet, aber schon nach fünf Minuten wollte ich sie seinen Klauen entreißen. Er ist ein Tunichtgut und arrogant obendrein. Dazu kommt, daß er ein unverbesserlicher Schürzenjäger ist. Das weiß ich ganz genau, weil ich ihn, als ich nach New York zurückkam, durch einen Privatdetektiv habe beobachten lassen. Mr. Elstree verbringt seine Zeit mit Prostituierten und hält sich so viele Frauen, wie ihm beliebt. Julie hätte genügend Beweise und noch mehr, um sich von ihm scheiden zu lassen, warum sie es nicht tut, weiß der Himmel.« Er brachte vor lauter Überraschung kein Wort heraus. Willis konnte tief Luft holen. »Jetzt wissen Sie mehr oder weniger alles, Paul. Julie ist schrecklich unglücklich. Sie liebt nur Sie und keinen anderen. Das hat sie mir in Chicago selbst gesagt. Ich bin sicher, daß sie Elstree auf der Stelle verlassen würde, wenn Sie sie darum bäten. Sobald Sie wieder in Amerika sind, müssen Sie zu ihr gehen. Entführen Sie sie diesem verdorbenen Bastard, zum Teufel mit den Scheidungsgesetzen! Gehen Sie sofort zu ihr. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie beide es Ihr Leben lang bereuen.« Im schwachen Schein der Öllampe glänzten seine blauen Augen jetzt fieberhaft. »Wo finde ich sie, Miss Willis?« »Sie verbringt die Sommer auf Long Island, Southampton. Elstree hat dort ein Haus am Meer. Es heißt ›Belle Mer‹ …«
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111 DUTCH Am fünften Tag nach der Schlacht von Las Guásimas – am Mittwoch, dem 29. Juli 1898 – verließ Paul das amerikanische Lazarett kurz nach Sonnenaufgang. Auf der frisch gefegten Veranda drückte ihn Miss Fishburne an ihre flache Brust, küßte ihn auf die Wange und ermahnte ihn noch einmal, so bald wie nur irgend möglich zu Julie zu eilen. Er gab ihr sein Wort. Dr. Winter erschien in der Tür und erklärte ihm zum wiederholten Mal, daß er noch nicht gesund sei und das Lazarett auf eigene Gefahr verlasse. Paul, der die Nase voll hatte von dem Mann und seinem aufgeblasenen Getue, erwiderte: »Ja, ich weiß, Herr Doktor, sollte ich in Kürze sterben, werde ich daran denken. Danke für die gute Behandlung.« Winter schnaubte vor Wut. Paul entfernte sich hinkend in dem knöcheltiefen Sand; seine Verbände juckten unter dem Hemd, seine Rückenwunde tat immer noch höllisch weh. Ihn schwindelte, wenn er daran dachte, was alles passiert war, während er auf seinem Feldbett gelegen hatte. Julie … Sollte er es wagen, an ein neues Glück zu glauben? Noch nicht. Er würde mit niemanden darüber sprechen. Nicht mit Onkel Joe, und ganz gewiß nicht mit Michael. Er würde Miss Fishburnes Rat befolgen und sich auf schnellstem Wege erkundigen, sobald er zurück war. Aber er wagte es nicht, sich einen glücklichen Ausgang zu erhoffen, sosehr er sich danach sehnte. Er durfte sich noch nicht einmal vorstellen, wie es sein könnte. Noch eine Enttäuschung würde er nicht verkraften. Er ging ins Wirtshaus. Ja, sein Koffer war dort sicher. Er gab dem Wirt noch einen Dollar, damit er auch weiterhin darauf achtgab, stärkte sich mit einem cerveza und machte sich dann auf den Weg zu der Lagune, wo er mit Jimmy gekämpft hatte. Um dorthin zu gelangen, mußte er einen zwei- bis dreistündigen Fußmarsch auf sich nehmen, was in seinem Zustand sehr hart war. Aber er dachte nicht eine Sekunde lang daran, sich nicht aufzumachen. Die Hauptstraße nach Santiago war verstopft von sechsspännigen Maultierwagen, die entweder Nachschub für die vorgeschobenen Posten rund um Sevilla beförderten oder von dort leer nach Siboney zurückkehrten, um neue Ladung aufzunehmen. Die täglichen Regengüsse hatten mehrere Flußübergänge überschwemmt und den Camino Real in einen Sumpf verwandelt. Von einem der Kutscher erfuhr er, daß die Nachschubfahrzeuge seit Samstag unterwegs waren. Das war offensichtlich, und er begann, die Wagen zu zählen, die aufgrund gebrochener Achsen oder sonstiger
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Mißgeschicke am Straßenrand liegengeblieben waren. Bei fünfundzwanzig war er des Zählens müde und hörte auf. Endlich konnte er von der Hauptstraße in das hohe Buschwerk abbiegen, wo er Jimmy nachgejagt war. Der Anblick der Lagune und die Erinnerung daran, was ihm hier beinahe widerfahren wäre, jagten ihm kalte Schauer über den Rücken. Er machte sich in dem hohen Gras auf die Suche. Er fand den Seesack fast sofort. Er lag noch dort, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Das Äußere des Sacks war mit Schimmel bedeckt, im Innern hatten sich Käfer ausgebreitet. Höchstwahrscheinlich waren die Filmrollen zerstört, aber er würde sie Shadow zurückbringen, um ihm wenigstens zu beweisen, daß er es versucht hatte. Er schwang sich den Sack über die Schulter und machte sich auf die Suche nach dem Lager der 10. Kavallerie. Der erste Feldwebel von Ott Persons Einheit wies ihn unfreundlich ab: »Ott ist nicht da. Er ist schwer krank. Vorletzte Nacht hat man ihn auf die Gelbfieber-Station geschafft.« Ein Gleis der alten Bahnlinie nach Santiago verlief in das Vorgebirge der Sierra Maestra. Am Ende des Gleises war die Gelbfieber-Station eingerichtet worden, weil die Patienten so auf offenen Waggons, die von einer kleinen Rangierlok gezogen wurden, bequem transportiert werden konnten. Am Mittwoch abend fuhr Paul, erschöpft vom vielen Laufen, mit dem Zug in das Lager. Er saß auf einem der Waggons und ließ die Beine über den Rand baumeln. Er war der einzige Fahrgast; befördert wurden nur acht Fichtensärge, die mit Ketten befestigt waren. Im Urwalddickicht zu beiden Seiten des Gleises sangen und krächzten tropische Vögel. Es war fast dunkel, die Luft drückend schwül. Ständig mußte er umherschwirrende Insekten abwehren. Seine Verbände begannen zu riechen. Miss Fishburne wollte sie morgen wechseln. Er hatte sich am Spätnachmittag mit ihr über das Gelbfieber unterhalten. Es gab, so hatte sie erklärt, keinen Schutz vor der Krankheit. Man bekam sie, oder man bekam sie nicht. Sie hatte die Symptome aufgezählt. Belegte Zunge, Verstopfung, zuweilen Übelkeit und Erbrechen und immer plötzlich auftretendes, hohes Fieber. Paul erinnerte sich, daß Ott sich während seines Besuches am kühlsten Abend ständig den Schweiß abgewischt hatte. Auf Entkräftung, Kopfschmerzen und Muskelschwäche folgte das Endstadium mit Nervenversagen und dem, was Miss Fishburne »Hämatemesis« genannt hatte. »Das ist das Erbrechen von Blut, beim Militär spricht man auch vom ›schwarzen Erbrechen‹. Einige erholen sich in diesem Stadium auch wieder, aber die meisten überleben es nicht. Keiner
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kennt die Ursache des Gelbfiebers.« Er fragte sich, ob er sich durch diesen Ausflug selbst in Gefahr brachte. Und wenn schon, er mußte nach Ott sehen. Der kleine Zug fuhr langsamer. Ein tiefhängender Palmenwedel strich über Pauls Wange wie die kühle Hand des Todes. In einiger Entfernung sah er Laternen, verschwommene Kleckse in der Dunkelheit. Als der Zug eine rostige Drehscheibe am Ende des Gleises erreichte, ertönte von der Lok ein langes Pfeifen. Paul sprang ab und schritt auf die Laternen zu. Eine hing über der Tür eines kleinen Wachhauses, die anderen über einem neuen, ungestrichenen Holztor. Hinter dem Tor sah er auf den Hügeln verstreut zahlreiche erleuchtete Zelte. Zwischen ihnen huschte bisweilen eine einsame Gestalt hin und her. Als er das Tor erreichte, konnte er auch die Schrift auf dem Schild über dem Eingang lesen. In großen roten Buchstaben stand daraufgeschrieben: WARNUNG! QUARANTÄNESTATION US Sanitätskorps Zutritt nur mit Sondergenehmigung Nicht weit hinter dem Tor stand ein Waggon, beladen mit weißen Säcken. Es dauerte eine Weile, bis er ihre Größe und Form einordnen konnte; jeder Sack barg eine Leiche. Er ging auf das kleine Wachhaus zu. Der Wachposten trat mit der Hand auf dem Kolben seines Revolvers heraus. Paul nahm seinen Strohhut ab, damit das Licht der Laterne sein Gesicht beleuchtete. Noch bevor er etwas sagen konnte, erklärte der Wachposten: »Zivilisten haben hier keinen Zutritt. Sie werden wieder umkehren müssen.« »Ich will mich nur nach einem Freund erkundigen. Obergefreiter Person, 10. Kavallerie.« Der Wachposten streckte eine Hand in das Wachhaus und brachte einen Stapel loser Blätter zum Vorschein, die mit einer Klammer zusammengehalten wurden. Er blätterte zum zweiten Blatt und hielt es unter die Laterne. »Othello Person. Sie kommen leider zu spät. Er ist heute morgen gestorben. Seine Leiche ist in einem dieser Säcke auf dem Waggon. Ich darf Sie leider nicht näher ranlassen. Sie müssen wieder gehen. Es tut mir leid.« Paul drehte sich um und stolperte in Richtung Lokomotive. Otts Augen brannten in seinem Gedächtnis. Ebenso wie Otts Gesicht und seine wiederholten Bitten.
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Es gibt keinen Ort auf der ganzen Welt, der Sie nicht irgendwann enttäuschen wird, Heine. Ich kenne kein besseres Land, und ich hab’ viel darüber gelesen. Heine, tun Sie das nicht! Sie sind ein guter Mann. Unser Land braucht Männer wie Sie. Sie dürfen nicht einfach abhauen und alles diesen gemeinen Burschen überlassen wie diesem fetten Feldwebel und seinesgleichen. Sie dürfen nicht undankbar sein. Gehen Sie nicht fort! Traurig und verwirrt ließ Paul den Tränen freien Lauf. In dieser Nacht legte er sich im Sand schlafen, nah an der Wand des kubanischen Lazaretts, unter der Decke, die ihm Miss Fishburne gebracht hatte. Als er am Morgen aufwachte, war er überrascht, wie fest er geschlafen hatte. Vielleicht deshalb, weil er den Gedanken an Ott entfliehen wollte. Es war Donnerstag, der letzte Tag im Juni. Siboney glich einem Geisterlager. Seit Samstag waren fast fünfzehntausend Mann an die Front hinter Las Guásimas transportiert worden. In dem Zelt, in dem Paul auf Leutnant Frank Criswell wartete, erklärte ein gesprächiger Feldwebel, daß die Nachschubwagen sich so tief im Schlamm festgefahren hatten, daß Kavalleriesoldaten den Nachschub mit Maultieren weitertransportierten. General Shafter bestünde weiterhin darauf, die Truppen bestmöglichst auszurüsten, selbst wenn dies kostbare Zeit kostete. Zeit, die die Spanier nutzen könnten, um Schützengräben, Stacheldraht, Brustwehre und Blockhäuser um Santiago herum bestens herzurichten. »Es gehen Gerüchte um, die besagen, daß die Spanier durch eine ganze Kolonne verstärkt werden«, erzählte ihm der Feldwebel. »Fast viertausend Mann sollen von Manzanillo anmarschieren. Und wir verlieren durch den Regen und das Fieber jeden Tag mehr Männer und Nachschub. Viele lassen kein gutes Haar an Pecos Bill wegen der Verzögerung. Manche halten ihn für völlig ungeeignet. Und jetzt geht’s ihm auf einmal gar nicht schnell genug mit dem Angriff.« Leutnant Criswell betrat das Zelt, woraufhin der Feldwebel sofort verstummte. Mit Criswells Hilfe schrieb Paul seine Anzeige und setzte seinen Namen darunter. »Wir haben aus Key West erfahren«, erklärte Criswell, »daß gestern das Kriegsgericht zusammengetreten ist. Daws wird zur Verhandlung nach Illinois überführt.« Criswell hielt das Schriftstück hoch. »Damit sorgen wir dafür, daß er ins Gefängnis geht.« Ein Kapitel war zu Ende gegangen. Paul empfand Dankbarkeit. Er stand etwas zu schnell auf. Criswells Gesicht verschwamm vor seinen
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Augen. Er griff nach einer Zeltstange und klammerte sich fest. »Herr Leutnant, wenn das alles ist –« »Ja. Wir sind fertig. Wohin gehen Sie jetzt?« »Ich werde meine letzte Rolle in meine Kamera einlegen und mich dann auf den Weg an die Front machen.« »Dann sollten Sie sich beeilen. Der Angriff ist nämlich für morgen früh festgesetzt. Nach der Verzögerung will General Shafter plötzlich alles auf einmal erobern – die Anhöhe San Juan und die Stellungen in der Nähe des Dorfes El Caney weiter landeinwärts.« »Wo befindet sich General Shafters Hauptquartier?« Criswell entrollte eine Karte und deutete auf einen Punkt auf der Nordseite der Hauptstraße zwischen dem Dorf Sevilla und einem Hügel namens El Poso. »Der General wurde auf einem riesigen Stuhl, der einem Thron glich, hinaufgetragen; weiß der Himmel, wo er ihn her hat. Sie haben Stangen daran befestigt, und acht Männer haben ihn auf ihren Schultern geschleppt. Shafter sah aus wie ein indischer Radscha. Ich war dabei und werde den Anblick nie vergessen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Dutch. Viel Glück mit Ihren Aufnahmen!« Es war schwierig, an die vordere Linie zu gelangen; alles bewegte sich in diese Richtung – die Infanterie, die Kavallerie, die Wagen der Kavallerie, die von schwitzenden Gäulen gezogen wurden. In der Ferne schwebte über den Bäumen ein großes rundes Ding in leuchtendem Gelb; darunter hing ein Korb, von dem viele Seile herabbaumelten. Es handelte sich um den Observierungsballon der Funktruppe, die irgendwo über der Hauptstraße positioniert war. Paul hatte schon davon gehört, ihn aber noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Er besaß noch eine letzte Rolle, etwas über hundert Meter Film, die er vorsichtig in die Luxograph eingelegt hatte, zum Himmel flehend, daß sie keinen Schaden durch das Klima erlitten haben möge. Sollte es zur Schlacht kommen, dann mußte er sie aufnehmen. Er mußte sich konzentrieren, durfte weder an Otts Tod denken noch an Julie oder an Onkel Joe. Jetzt war der Moment gekommen, wo er beweisen mußte, was in ihm steckte. Er erreichte das Hauptquartier gegen ein Uhr am Nachmittag. Tische und Stühle standen unter Bäumen, die über und über mit Moos bewachsen waren. Es herrschte ein heilloses Durcheinander; Kuriere kamen und gingen, zu Fuß, auf Pferden oder Maultieren. Offiziere stritten sich über Landkarten. Paul nahm an, daß das größte weiße Zelt Shafter gehörte, der nirgendwo zu sehen war. Er stellte sein Stativ ungefähr sieben Meter von den Konferenztischen
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entfernt auf. Einige Umstehende warfen ihm erstaunte Blicke zu, aber niemand belästigte ihn. Zumindest nicht in den ersten fünf Minuten. Dann jedoch kam ein glatzköpfiger Offizier mit dicken Brillengläsern und einer blaßrosa Haut auf ihn zugestapft. Der Offizier hatte sein Hemd mit einem zwanglosen weißen Oberteil mit Ärmelschonern vertauscht. »Ich bin Major Gilyard, und was zum Teufel ist das für ein verrückter Apparat?« »Eine Filmkamera.« Der Mann war Paul auf Anhieb unsympathisch. »Haben Sie noch nie eine gesehen?« »Wenn ich zu Hause bin, geh’ ich in die Kirche, Mister, und nicht in irgendwelche Spelunken. Also, was haben Sie hier zu suchen?« »Ich habe gehört, daß General Shafter heute nachmittag eine Lagebesprechung abhält. Die möchte ich aufnehmen für die Zuschauer in – « Gilyards Säbel flog aus der Scheide und fuhr seitwärts, schlug einen Splitter aus dem Stativ und warf die Kamera herunter. Paul schrie auf deutsch: »Was tun Sie da, Sie Dummkopf?« Als er sich bückte, um die Kamera aufzuheben, spürte er plötzlich die Spitze von Gilyards Säbel in seinem Nacken. »Hören Sie gut zu, Sie. Ich weiß nicht, was Sie gesagt haben, aber ich rate Ihnen, sich vorzusehen. Der General leidet an Herzschwäche oder so was Ähnlichem. Er erlaubt nicht, daß man ihn photographiert, und das setzt er auch durch, wenn nötig, mit Gewalt. Und wenn er’s nicht tut, dann tu’ ich’s.« »Major.« Paul erkannte seinen Onkel an der Stimme, noch bevor er sich umdrehte und ihn sah. Onkel Joe war hemdsärmlig und in Hosenträgern, seine roten Wangen glühten in der Hitze. »Stecken Sie Ihren Säbel ein! Wir vergreifen uns nicht an Zivilisten, und schon gar nicht an Journalisten.« »Aber er –« »Stecken Sie Ihren Säbel weg, Gilyard. Oder melden Sie sich zur Bestrafung.« Gilyards Gesicht wurde noch roter als das von Onkel Joe. Er rammte den Säbel in die Scheide, drehte sich um und schritt weg, während er irgend etwas über die verdammten Freiwilligen in seinen Bart murmelte. Joe Crown stellte sich zwischen Paul und die anderen und sprach leise auf ihn ein. »Gilyard hat recht. Shafter ist furchtbar schlechter Laune. Er hat viel Kritik einstecken müssen. Roosevelt hat ihn öffentlich bloßgestellt. Hat
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ihn grob fahrlässig genannt. Ich rate dir, keine unnötigen Schwierigkeiten heraufzubeschwören, indem du noch länger hierbleibst. Arbeite woanders.« »Okay, Onkel Joe.« Pauls Blick glitt über die umstehenden Offiziere, von denen ihnen die meisten, einschließlich Gilyard, keine Beachtung schenkten. »Ich habe gehört, daß der Angriff morgen stattfinden soll. Stimmt das?« »Ja, morgen früh. Sehr früh. Das ist kein Geheimnis. Wir rücken gleichzeitig gegen die Anhöhe San Juan und El Caney vor. Ich muß jetzt gehen.« Er ergriff Pauls Arm. »Paß gut auf dich auf!« »Das werde ich, Onkel. Danke.« Onkel Joe lächelte gütig, dann schritt er wieder zu den Konferenztischen zurück. Die ganze Nacht hindurch marschierten Soldaten in Richtung Front. Um halb vier wurden sie eine halbe Stunde lang von einem Gewitterguß bis auf die Haut durchnäßt. Paul suchte Schutz unter einem steckengebliebenen Wagen und streifte sein Hemd ab, um die Kamera damit einzuwickeln. Bald kroch ihm die Kälte in die Glieder, seine Zähne klapperten. Aber er war entschlossen durchzuhalten; er mußte die Aufnahmen haben. Am Freitag, dem 1. Juli, bildete sich vor Sonnenaufgang in den Talsohlen unterhalb der Festungsanlagen von Santiago weißer Nebel. Die Amerikaner standen einerseits auf der linken Seite der Anhöhe, südlich der Hauptstraße, und außerdem vor dem Dorf El Caney sechs Kilometer nördlich. Das Dorf wurde durch die Festung El Viso verteidigt. Kleinere Blockhäuser und wahrscheinlich auch Schützengräben erwarteten sie auf der Anhöhe San Juan. Im ersten Tageslicht ging General Lawtons Division zum Sturmangriff auf El Caney über. Lawtons kleine Batterie von Geschützen, bestehend aus alten Feldkanonen, eröffnete das Feuer auf die spanischen Stellungen. Um neun Uhr war ein Vorstoß nicht mehr ausgeschlossen, obwohl die Spanier, die das Gebiet verteidigten, in mehr als einer Hinsicht im Vorteil waren: Sie hatten die bessere Sicht und die besseren Artilleriegeschütze und darüber hinaus den verräterischen Pulverrauch von jedem Schuß, der von Lawtons Männern abgegeben wurde. Während Lawton einen Vorstoß wagte, rückte die linke Flanke auf der Straße nach Santiago vor. Eine kritische Stelle während des Vorstoßes war eine seichte Furt im Aguadores, die auf den Karten der Amerikaner mit »San Juan« bezeichnet war. Der leuchtendgelbe Observierungsballon schwebte genau über der Stelle. Die spanischen Kanonen nahmen den Ballon ins Visier, schossen und trafen. Das Gas entwich, er verlor an Höhe,
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verfing sich in den Bäumen an der Furt, wo seine schlaffen Überreste schließlich hängenblieben. Er bot eine weithin sichtbare Zielscheibe für die feindliche Artillerie, eine genaue Markierung des Flußüberganges. Am späten Vormittag verdiente die Furt des Aguadores den Namen »Blutige Furt«. Zwischen schwarzen Kavalleriesoldaten, die zu Fuß unterwegs waren, und einigen Männern, die bereits verwundet waren und in die Gegenrichtung stolperten, zwängte sich Paul mit der Kamera an die Furt vor. Das Dröhnen der Artilleriegeschütze und das Rattern der Gewehre nahmen kein Ende. Nicht weit von der Furt sah Paul einen schlanken Zivilisten mit hagerem Gesicht auf einem Schimmel neben der Straße reiten. Die fliegenden Geschosse schienen ihn nicht im geringsten zu kümmern. Der Mann mit den leicht vorstehenden Augen trug einen schwarzen Mantel und einen weißen Sombrero. Seine blauen Augen huschten umher, ließen sich auch nicht das kleinste Detail entgehen. Er starrte auf Pauls Kamera, dann erschien ein eisiges Lächeln auf seinen Lippen. Die Ruhe des Mannes hatte beinahe etwas Unheimliches – als wäre er immun gegen die Gefahr und. nur am Kriegsschauspiel interessiert. Paul holte einen weißen Offizier ein; den, der ihn in seinem Hotelzimmer in Tampa aufgesucht hatte. »Wer war der Zivilist auf dem Pferd?« erkundigte er sich. »Wieso? Bloß einer der Herren, die diesem Krieg Vorschub geleistet haben«, antwortete Pershing. »Seine Jacht liegt in Siboney vor Anker. Das ist Hearst.« Eine donnernde Explosion über ihnen ließ einen Granatsplitterregen auf die Straße niedergehen. »Deckung!« schrie Pershing mit einer Sekunde Verzögerung. Zwei seiner schwarzen Soldaten sanken schwer getroffen zu Boden. Aus dem aufgerissenen Hals des einen sprudelte Blut. Paul kauerte sich auf den Boden und hörte, wie die Granatsplitter das Laubwerk zerfetzten. Irgend etwas traf das Stativ. Er entdeckte, daß ein scharfer Metallsplitter in eines der Beine eingedrungen war. »Kann denn niemand diesen gottverdammten Ballon aus den Bäumen holen?« schrie ein Mann. »Seid ruhig, und bewegt euch weiter!« befahl Pershing mit fester Stimme. Um sich herum sah Paul nichts als angsterfüllte Gesichter, Augen, in denen sich die Gewißheit spiegelte, daß der Tod nahe war. So nah wie das Geschützfeuer von der Anhöhe San Juan, so nah wie die Geschosse, aus denen Metallsplitter auf die sich mühsam vorwärts bewegende Kolonne regnete. Er folgte Pershing und seinen Männern hinunter zur blutigen Furt.
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Das Wasser der Furt war braun und an einigen Stellen von dunkleren Schwaden durchzogen. Unmittelbar zur Rechten, in Richtung El Caney, zeigte ein Lanzenfähnchen mit einem roten Kreuz ein Sanitätszelt am Ufer an. In der Mitte des Flusses riefen sechs berittene Offiziere ihren Männern ermutigende Worte zu. »Beeilung, Beeilung!« – »Kommt, Männer, los, Männer!« – »Auf der anderen Seite ist es sicherer!« Der schmächtige Joe Wheeler war einer von den sechs; Onkel Joe ein anderer. Alle schienen erstaunlich ruhig, obwohl sie sicher innerlich, ebenso wie alle anderen, vor Angst zitterten. Leutnant Pershing sprang in das seichte Wasser. Jedem seiner schwarzen Soldaten, der das Wasser erreichte, gab Pershing einen kleinen Stups, ein kleines Schulterklopfen, ein aufmunterndes Wort. »Weiter so, Bob. Gut so, Line, geradewegs rüber. Beeilt euch, weiter, nicht stehenbleiben.« Paul stand direkt am Rand des Wassers. Das Pfeifen eines Geschosses zwang ihn, hochzuschauen. Die ersten von Pershings Männern befanden sich genau in der Mitte des Flusses. Jetzt rutschte ein kräftiger schwarzer Obergefreiter aus; er beging die unverzeihliche Sünde, seine Springfield ins Wasser fallen zu lassen. Onkel Joe trieb sein Pferd an und lehnte sich aus dem Sattel, streckte den linken Arm aus, damit der Soldat ihn packen konnte. Er ergriff Onkel Joes Arm mit beiden Händen. Das Geschoß explodierte. Die Splitter ließen das Wasser um die Männer herum hoch aufspritzen. Einer der Splitter spaltete den Kopf des Obergefreiten, wie ein Messer eine Melone zerteilt. Während er ins Wasser sank, sich dabei jedoch immer noch an Onkel Joes Arm festklammerte und ihn aus dem Sattel zerrte, sah Paul, wie sich auf dem Oberschenkel seines Onkels ein hellroter Fleck ausbreitete. Onkel Joes Pferd fiel mit einem Platscher ins Wasser, sprang jedoch sofort wieder auf. Onkel Joe war es gelungen, seine Stiefel aus den Steigbügeln zu ziehen. »Helft ihm, rettet ihn«, schrie Paul, legte seine Kamera auf die Erde und sprang ins Wasser. Drei weitere Soldaten waren zwischen Paul und seinem Onkel zu Boden gesunken. Sie versperrten ihm den Weg, ebenso wie Leutnant Pershing, der mit zorniger Miene zu verhindern suchte, daß sich zwei seiner Männer aus dem Staub machten. Irgendwie gelang es Onkel Joe, sich mit einem Arm im seichten Wasser abzustützen und den Kopf über Wasser zu halten, bis einer der Sanitäter ihn erreichte und ihn auf die Schulter hob. Paul war immer noch bemüht, sich einen Weg um Pershing und die desertierenden Soldaten zu bahnen, als er sah, daß Onkel Joes Kopf gegen den Rücken des Sanitäters schlug. Seine
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Augen waren geschlossen. Wasser tropfte aus seinem Haar. Der Sanitäter stapfte stromaufwärts in Richtung Sanitätszelt. Onkel Joes Bein hing im Wasser, das Blut floß heraus wie schwarze Tinte. Paul holte seine Kamera und kämpfte sich durch das Buschwerk bis zum offenen Zelt mit dem roten Fähnchen. Sekunden bevor Paul eintraf, legte der Sanitäter den General auf eine Tragbahre. Onkel Joes Gesicht war so blaß wie die Zeltwand. Auf der anderen Seite des Zeltes war ein Arzt damit beschäftigt, einem schwarzen Soldaten, der auf ein Walnußstöckchen biß, während ihm ein Gehilfe Whiskey in den Mund träufelte, das Bein abzusägen. Ein weißer Soldat ohne Hemd lag auf dem nächstgelegenen Tisch. Ein magerer Arzt untersuchte eine große, stark blutende Wunde in der Brust des Soldaten. Der Arzt schrie Paul an: »Bleiben Sie verdammt noch mal draußen, wenn Sie nicht bluten.« »Dieser Offizier ist mein Onkel. Ich wollte nur wissen, ob er schwer verletzt ist.« »Herr im Himmel, ich bin erst noch mit diesem hier beschäftigt. Wir behandeln hier nicht nach Rang. Sie werden warten müssen.« Paul beobachtete, wie Pershings schwarze Soldaten die Furt überquerten. Das Artillerie- und Gewehrfeuer ging unablässig weiter. »Ich kann nicht warten. Ich komme wieder.« Er hob das Stativ auf die Schulter und watete in das blutige Wasser. Auf der anderen Seite des Aguadores erstreckte sich ebenfalls eine offene Graslandschaft – nur hin und wieder von Stacheldrahtzäunen unterbrochen – bis zur Anhöhe San Juan auf der linken und bis zu einer kleineren Erhebung namens Kettle Hill auf der rechten Seite. Hier führte Oberstleutnant Roosevelt kurz nach zwölf Uhr einen schweren Angriff an. Alle Einheiten waren inzwischen heillos durcheinandergeraten. Die rechte Flanke der Kavallerie hatte sich mit der linken der Infanterie vermischt. Wimpelträger und brüllende Feldwebel versuchten, ihre Einheiten neu zu formieren, meist ohne Erfolg. Paul befand sich plötzlich inmitten der Männer der 6. Infanterie, die in einem Hain aus Fächerpalmen Schutz suchten. Die Erde war von Körpern übersät und blutgetränkt. Auf der Anhöhe war von den Spaniern nichts zu sehen außer dem gelegentlichen Auftauchen eines kegelförmigen Hutes in der Nähe einiger großer, gepflegter Bauernhäuser. Der Beschuß von dort war stetig und verheerend. Er hinterließ keinerlei Rauchspuren. Um ein Uhr fünfzehn wurde Paul von einem ratternden Brrrr zu seiner Linken aufgeschreckt. Parkers Revolverkanonen-Kommando war endlich
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jenseits der Furt angelangt. Die Amerikaner verfügten nun über Maschinengeschützfeuer, um es mit der Artillerie auf der Anhöhe aufzunehmen. Offiziere befahlen lauthals vorzurücken. Soldaten standen auf, hoben ihre Gewehre und marschierten vorwärts. Eine breite Frontlinie aus Infanterie und Artillerie bewegte sich in schnellem Laufschritt auf die Anhöhe San Juan zu. Die Spanier nahmen die anrückenden Amerikaner unter schweren Beschuß. Ein Flammenmeer schien sich von der Anhöhe zu ergießen. Männer in der vordersten Reihe stolperten, schwankten und sanken zu Boden, manchmal mit einer befremdlichen Anmut. Irgendwo zur Linken, im Schutz des Rauches und der Deckung durch das Gelände, ratterten die Revolverkanonen im steten Rhythmus. Geduckt, um eine möglichst kleine Zielscheibe abzugeben, kam einer der Militärattachés von hinten auf Paul zugerannt und blieb neben ihm stehen. Er suchte die Hauptkampflinie mit einem Feldstecher ab. Paul kannte ihn: Major de Grandpré aus Frankreich. Der Attaché deutete mit einem Achselzucken auf die vorrückenden Soldaten. »Sehr töricht. Aber sehr tapfer.« Paul stellte sein Stativ auf. Er griff nach der Kurbel. Plötzlich erfolgte eine Explosion und dann ein gellender Schrei. Keuchend blickte Paul sich um, sah überall nur Tote und Verwundete. Obwohl er ganz benommen war von der Hitze, der Anstrengung und den Schmerzen in seinem Rücken, riß er die Kamera hoch und rannte ein paar Schritte weiter, hinein in den beißenden Rauch. Die Revolverkanonen dröhnten. Das spanische Feuer metzelte die Amerikaner, die die Anhöhe erklommen, nieder, Infanterie und Kavallerie, schwarz und weiß, ineinander verwoben ohne Ordnung, aber stetig und ohne Unterlaß auf dem Vormarsch. Paul entdeckte Roosevelt zwischen schwarzen Soldaten der 10. die er mit hoch erhobenem Revolver weiterwinkte und mit lauter Stimme antrieb. Dort oben wollte er Aufnahmen machen. Wieder schwang er sein Stativ auf die Schulter und rannte durch den Rauch die Anhöhe hinauf in Richtung der zuckenden Flammen, die den Gipfel markierten. Die spanischen Soldaten waren tapfere Kämpfer, sie gaben nicht so leicht auf. Sie nahmen die ersten Amerikaner, die die Anhöhe erklommen, unter Dauerbeschuß. Roosevelt war einer von ihnen. Er und einige schwarze Kavalleristen sowie ein paar seiner Rough Riders waren gezwungen, in Deckung zu gehen, wo sie nur konnten, und von dort zu schießen, während die Spanier einen Gegenstoß vorbereiteten. Paul lag auf dem Bauch direkt
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hinter der Gruppe, sein Körper bedeckte das Stativ, sein Mund lag auf der Kamera, seine rechte Hand drückte den Strohhut auf den Kopf, als könne der eine Kugel abwehren. Er hörte furchterregende Schreie, beobachtete, wie die Spanier aus ihren Schützengräben hervorkamen, um die Angreifer zurückzuschlagen. Roosevelt feuerte seine Männer an, begab sich selbst in größte Gefahr, indem er die Deckung verließ, um zu schießen. Immer mehr Soldaten erklommen die Anhöhe, und die Übermacht gab schließlich zusammen mit dem vernichtenden Feuer der Revolverkanonen den Ausschlag. Die Gegenwehr erlahmte schnell. Die Spanier traten den Rückzug in die Berge und Täler zwischen der Anhöhe und Santiago an. Ungefähr um halb fünf wurde das Feuer eingestellt. Pauls letzte Aufnahmen zeigten die spanischen Schützengräben. Der Gestank, der aus den Gräben aufstieg, war unerträglich, der Inhalt grausig. Dutzende von toten Soldaten in blutigen Uniformen lagen dort, wo sie gekämpft hatten und gefallen waren. Einer von ihnen, ein Mann mit einer Kugel in der Stirn, hielt seinen Hut auf eine Weise, als wolle er ihn vor einer Dame ziehen. Die Zuschauer bei Pflaum würden Pauls Bilder von toten Soldaten wahrscheinlich abscheulich finden, ebenso wie die restlichen Bilder, sofern sie überhaupt zu entwickeln waren: das letzte langsame Vorrücken der blauen und khakifarbenen Linie bis zum Gipfel, das Stürmen des Blockhauses und der Bauernhäuser. Die auf der Erde liegende spanische Flagge. Er hatte sogar gekurbelt, als ein Infanteriemajor einen verwundeten Spanier mit drei Schüssen tötete. Die Rauchschwaden aus der Pistole des Offiziers waren deutlich zu sehen. Als der Spanier die gezogene Pistole sah, schrie er um Gnade. Die Amerikaner mußten diese Szene verabscheuen, denn sie brachte Schande über einen der ihren. Paul haßte sie aus einem anderen Grund. Was der Major getan hatte, war unmenschlich und verachtungswürdig. Dann dachte er an Wex und sagte sich im stillen: Ja, aber die Bilder zeigen die Wahrheit, und die Menschen sollen sie sehen. Man konnte jetzt etwa eineinhalb Meilen in südwestlicher Richtung ganz klar die mit roten Dachziegeln gedeckten Häuser von Santiago erkennen. Gewiß sahen auch die Spanier die amerikanische Flagge, die auf dem von Revolverkanonen schwer beschädigten Blockhaus wehte; und gewiß wußten sie, daß das Ende nicht mehr fern war. Trotzdem war es keineswegs sicher. Weiter unten, in den sanften Tälern zwischen der Anhöhe und der Stadt, hoben Hunderte von spanischen Soldaten neue Schützengräben aus. Während sie mit ihren Werkzeugen hantierten, flog die Erde hoch in die Luft.
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Ein Mann mit Strohhut und weißem Regenmantel bewegte sich auf die offene Anhöhe zu, vorbei an einer spanischen, auf seltsame Weise zur Seite neigenden Kanone mit einem vollkommen zertrümmerten Rad. Es war Crane. Paul war zu müde, um mehr als nur mit dem Kopf zu nicken. In den abziehenden Rauchschwaden kurbelte er weiterhin an der Kamera; seinen Arm hätte er am liebsten abgebrochen, so sehr schmerzte er. Er filmte immer noch die Schützengräben. Crane schritt um ihn herum, blieb außerhalb der Reichweite der Kamera und schaute hinunter. Ein Schuß ertönte. Und noch einer. Crane nahm seinen Strohhut ab, drehte sich in aller Ruhe um und schaute in die sanften Täler hinab, aus denen die Schüsse gekommen waren. Ein paar spanische Soldaten hatten das Feuer wieder eröffnet. Ein Infanterieoffizier drohte ihnen mit einer Pistole, während er an ihnen vorbeirannte. »Ihr Zivilisten, macht, daß ihr von dieser Anhöhe runterkommt, spielt hier bloß nicht die Helden.« Crane und Paul beachteten ihn gar nicht. Zahlreiche weitere Schüsse wurden abgefeuert. Paul hörte das vertraute Surren der Mauser-Kugeln. Er sah auf die Kamera und stellte fest, daß er sein ganzes Filmmaterial aufgebraucht hatte. Er ließ sich neben seinem Stativ in die Hocke nieder. Plötzlich kam ihm Onkel Joe in den Sinn. Er mußte herausfinden, wie es ihm ging. Aber nicht sofort. Er mußte sich etwas ausruhen. Er war am Ende. »Unglaublich, oder nicht, Dutch? Für Red Badge habe ich alles nur erfunden. Aber das hier ist zehnmal schlimmer.« Paul nickte stumm. »Ich möchte wissen, wie es Dick Davis geht. Ich frage mich, ob er immer noch der Meinung ist, daß wir ein Volk von zivilisierten Menschen sind. Tja, nun, ich muß weiter. Will möglichst viel sehen. Also bis dann.« »Bis dann, Stephen.« Mit dem Stift auf dem Papier schritt Crane weiter. Paul sah, wie er in einen anderen Schützengraben starrte und in traurigem Staunen den Kopf schüttelte.
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112 DER GENERAL Am nächsten Tag stiegen sechs Rauchsäulen aus dem Hafen von Santiago auf, die meilenweit zu sehen waren. Die Schiffe des eingeschlossenen spanischen Flottengeschwaders – zwei Zerstörer und vier große Kreuzer, einschließlich der Infanta Maria Teresa, dem Flaggschiff von Admiral Cervera – ließen Dampf ab, um sich unsichtbar zu machen. Die amerikanischen Truppen und die amerikanischen Schiffe, die auf See vor Anker gegangen waren, wußten, daß diese Schwaden nur eines bedeuten konnten: Cervera würde versuchen, die Blockade zu durchbrechen. Am Sonntagmorgen, dem 3. Juli, dampfte das erste spanische Schiff um halb neun aus dem Hafen. Die anderen Schiffe folgten im Abstand von jeweils zehn Minuten. Bald darauf hörte man das Dröhnen großer Marinegeschütze, und eine Rauchwolke versperrte die Sicht auf See. Cerveras Geschwader versuchte nach Westen zu entkommen. Die amerikanischen Schiffe nahmen die Verfolgung auf und änderten wenn nötig ihren Kurs, um die Spanier unter Beschuß nehmen zu können. Kommodore Winfield Scott Schley befehligte die Schlacht von Bord der Brooklyn, aber der Iowa gelang der erste vernichtende Treffer auf die Maria Teresa. Rohre platzten; spanische Seeleute starben schreiend im kochenden Dampf. Die Iowa landete einen zweiten Treffer und einen dritten. Da sein Flaggschiff in Flammen stand und jeder Mann an Bord zum Tode verurteilt war, wenn er Kurs hielt, gab Cervera den Befehl, in den Hafen zurückzukehren, wo das brennende Schiff schließlich sank. Die, die noch am Leben waren, brachten sich mit einem Sprung über Bord in Sicherheit. Die spanischen Schiffe wurden nacheinander alle versenkt. Wenige Minuten nach ein Uhr war die Schlacht zu Ende. Fast fünfhundert spanische Seeleute hatten den Tod gefunden, aber nur ein Amerikaner. Die Marine machte sowohl auf See wie an Land Gefangene; insgesamt waren es eintausendsiebenhundertfünfzig. Einer davon war Admiral Cervera. Er wurde mit dem Respekt und der Höflichkeit behandelt, die einem Mann seines Ranges gebührten und die das internationale Kriegsrecht vorschrieb. Die Amerikaner zollten seiner Tapferkeit und seiner Sorge um die Sicherheit seiner Männer große Bewunderung. Betäubt von den Opiumtabletten, die er gegen die Schmerzen bekommen hatte, lag Joe Crown auf seinem Feldbett im Lazarettzeh, lauschte der lauten Seeschlacht und blickte auf den aufsteigenden Rauch. Er würde wieder gesund werden, doch daß er überhaupt noch lebte, verdankte er dem Arzt des Sanitätszeltes neben dem Fluß, dem es gelungen war, die Blutung am linken Oberschenkel rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Die
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Nachricht vom großen Sieg erreichte das Feldlazarett am späten Nachmittag. Obwohl er noch geschwächt war, ließ er es sich nicht nehmen, mit den anderen in ein großes Jubelgeschrei auszubrechen. Am gleichen Sonntag, so erfuhr er später, schickte General Shafter unter einer Signalflagge für Waffenstillstand ein Schreiben in die Stadt Santiago. Er drohte ihren Befehlshabern an, die Stadt am Montagmorgen um zehn Uhr unter Feuerbeschuß zu nehmen. Er verlangte, daß alle Frauen, Kinder und Ausländer aus der Stadt geschafft wurden, bevor mit der Beschießung begonnen wurde. Der Auszug begann vor Sonnenuntergang. Als die Amerikaner pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen das Feuer eröffneten, hatten mehrere tausend Flüchtlinge in provisorischen Lagern in der Nähe des Dorfes El Caney Zuflucht gefunden. Da die Amerikaner jedoch nicht über ausreichende Lebensmittel für alle verfügten, wurden die Menschen im Lager bald von Hunger und Krankheit geplagt. Wahrend der folgenden Tage unternahmen die Spanier, die Santiago verteidigten, mehrere Gegenstöße, aber nur mit wenig Erfolg. Die Amerikaner hatten Bunker gebaut und Gräben ausgehoben, in die sie die Schnellfeuerrevolverkanonen hinunterließen, so daß nur die Rohre herausschauten. Im Schutz ihrer tödlichen Geschosse gewannen die Amerikaner langsam, aber sicher an Boden. Es kam zu blutigen Gefechten, die auf beiden Seiten Tote hinterließen. Aber das Ende des Krieges war abzusehen. In Anbetracht der immer hoffnungsloser werdenden Situation wies der Oberbefehlshaber in Santiago, General Arsenio Linares, General José Toral an, Verhandlungen über eine ehrenvolle Kapitulation aufzunehmen. Das erste Treffen zwischen Amerikanern und Spaniern fand am 13. Juli statt. Die Verhandlungen verliefen reibungslos und schnell. Da in allen Punkten Übereinstimmung erzielt worden war, blieb nur noch die eigentliche Machtübergabe. Sie wurde auf Sonntag, den 17. Juli, um 12 Uhr festgesetzt. Dann sollte General Shafter die Stadt übernehmen. Während all dieser Ereignisse lag Joe Crown im Feldlazarett; Paul besuchte ihn fast jeden Tag. Da er keinen Film mehr hatte, hätte er Kuba lieber heute als morgen den Rücken gekehrt. Joe war fasziniert davon, mit wieviel Hingabe sein Neffe seine Arbeit versah, auch wenn er es nach wie vor für ein liederliches Geschäft hielt, wertlos und ohne Zukunft. Nichtsdestotrotz wollte er sich an sein Versprechen halten und die erste Vorführung der Bilder seines Neffen besuchen, sofern es eine solche geben sollte. Gegen Ende der Woche war Joe wieder auf den Beinen. Die Wunde schmerzte immer noch unbarmherzig, aber mit Hilfe eines Gehstockes mit
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einem I-förmigen Griff konnte er schon ziemlich gut umherhumpeln. Sein Bursche, Obergefreiter Willie Terrill, hatte den Stock aus einem Stück Hartholz geschnitzt. Als am Sonntagmorgen die Siegesparade abgehalten wurde, war Joe in voller Uniform zugegen. Er reichte dem Obergefreiten Terrill den Krückstock und setzte den linken Stiefel unter größten Schmerzen in den Steigbügel. Terrill wußte, wo das Problem lag. Er legte seine Hände unter das Gesäß des Generals und schob ihn von unten hoch. Joe war weiß um den Mund, aber er saß korrekt im Sattel. General Shafter ritt als erster in Santiago ein; er saß auf einem kräftigen Kavalleriepferd, das nichtsdestotrotz einen kreuzlahmen Eindruck machte und hin und wieder ein leises, erbärmliches Wiehern ausstieß ob seiner gewaltigen Last. Joe ritt neben Fighting Joe Wheeler. Der langen Kolonne der amerikanischen Offiziere folgte die Schar der Journalisten, die zum Teil zu Fuß gingen und zum Teil auf Pferden oder Maultieren ritten. Paul war auch darunter, zu Fuß und mit einem schmutzigen Koffer in der Hand. Joe hatte ihn am Morgen gesehen; er sah wie immer zerzaust aus. Er war auch dünn geworden, weil er nicht genug zu essen bekommen hatte. Um den Kopf hatte er nach Piratenart ein getupftes Halstuch gebunden. Es verdeckte wenigstens sein ungekämmtes Haar. Seine Kamera und sein Film waren bei jemandem, dem er vertraute, in Sicherheit, das hatte er ihm gesagt. Der Ritt in die Stadt war kein ausgesprochen glückliches Unternehmen. Es wurde nur wenig gesprochen und auch dann nur mit gedämpften Stimmen. Viele Männer hielten sich Taschentücher vor die Nase. Die Spanier hatten ihre Toten lediglich in schnell ausgehobene, flache Massengräber geworfen und sie nur mit wenig Erde bedeckt. Aasgeier hatten die Toten mit ihren Klauen ausgegraben, sich über sie hergemacht und nur wenige Reste übriggelassen, die nun in der Sonne verwesten. Tote spanische Pferde, gesattelt und mit Maden bedeckt, faulten an den Straßenrändern vor sich hin. In Santiago sahen die Amerikaner zu ihrer großen Überraschung ganze Kompanien von zerlumpten spanischen Soldaten auf Veranden, in Hauseingängen und auf Balkonen, die alle einen Blick auf die Eroberer erhaschen wollten. Die Gesichter zeigten Neugier, mitunter sogar Freundlichkeit. Joe sah nur wenig unverhohlene Feindseligkeit. Auch kleine Kinder bevölkerten die kopfsteingepflasterten Straßen. Kinder, deren aufgeblähte Bäuche sich unter ihren Hemden und Kleidern abzeichneten, die aus alten Zuckersäcken genäht waren. Die Menschen in Santiago hungerten. Der Anblick bestätigte das, was Joe in der 5. Ohio Freiwilligen Kavallerie vor langer Zeit gelernt hatte: Daß es gewisse
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Erfolge im Krieg gab und kurzzeitigen Jubel. Aber niemals wirkliche Freude. Nie. Auf dem großen, gepflegten Marktplatz wurden sie von einer riesigen Menschenmenge erwartet, die die Gebäude zu allen Seiten säumten. Es gab jedoch keine Hurrarufe, kein Geschrei, ja kaum einen Laut, während die Eroberer einritten. Der laute Hufschlag von Shafters Pferd war weithin zu hören. Die amerikanischen Offiziere stiegen von den Pferden, mit Ausnahme General Shafters, der die spanischen Oberbefehlshaber schon im voraus hatte wissen lassen, daß er zu keinem Zeitpunkt der Feierlichkeiten vom Pferd absitzen würde, da es ihm ohne seinen eigens für ihn angefertigten Stuhl nicht möglich wäre, wieder in den Sattel zu kommen. Die Turmglocke der alten Kathedrale schlug zwölf. Ein spanischer Fähnrich schritt zum Flaggenmast und holte die rotgelbe Fahne Spaniens ein. Ein amerikanischer Fähnrich hißte geschickt das Sternenbanner. Joe Crown verspürte weder Stolz noch Befriedigung, wartete einfach mit ausdruckslosem Gesicht, bis die Fahne das Ende des Mastes erreicht hatte, wo sie, weil kein Lüftlein wehte, schlaff herunterhing. Hinter ihm stimmte die Militärkapelle The Stars And Stripes Forever an. Joe hatte militärische Haltung angenommen, doch sein Herz weinte. Ilsa, ich habe genug vom Krieg. Ich möchte zu Hause bei dir sein. Ich möchte Paul mitbringen, möchte wieder eine Familie haben und alles in meiner Macht Stehende tun, um unseren Sohn zu finden. Ilsa, ich liebe dich. Ich habe so viele Fehler gemacht. Ich bin so müde. 113 DUTCH Zwischen der Schlacht am 1. Juli und dem Einzug in Santiago sechzehn Tage später war es Paul stets ein Vergnügen, seinen Onkel im Feldlazarett hinter den Stellungen zu besuchen. Seinem Onkel ging es von Tag zu Tag besser; er war ungeduldig und konnte es kaum erwarten, das Krankenlager zu verlassen. »So ungefähr einmal pro Tag erklärt er uns, wie wir am besten unsere Arbeit tun«, berichtete ihm ein Arzt vor dem Zelt. »Aber dann besinnt er sich und nimmt alles zurück oder behauptet, nur einen Vorschlag gemacht zu haben, nichts weiter als einen Vorschlag.« Paul spürte seine Wunde jeden Tag ein bißchen weniger. Wenn er Onkel Joe besuchte, bestanden die Ärzte jedesmal darauf, seinen Verband zu wechseln. Irgendwie hatten sie es erfahren. »General Crowns Neffe.« Insgeheim lächelte er darüber.
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Er übergab seine Kamera einem gefälligen Quartiermeister zu treuen Händen, der in New York schon einen Film gesehen hatte und davon sehr angetan gewesen war. Auf einem Frachtwaggon fuhr er über den unwegsamen Pfad nach Siboney, wo er im Wirtshaus seinen Koffer abholte und sich auf die Suche nach Miss Fishburne machte. Sie war fort. Die SS State of Texas war ausgelaufen und wartete vor Santiago auf die Erlaubnis, mit Verpflegung, Kleidung und Lebensmittel für die zivilen Flüchtlinge der Stadt anzulegen. Aber Miss Fishburne befand sich nicht an Bord des Schiffes. In den Tagen nach der Schlacht um die Anhöhe San Juan hatte General Shafter Miss Barton gebeten, einen Teil ihrer freiwilligen Helfer an die Front zu versetzen. Sie hatten eine ErsteHilfe-Station im Dschungel eingerichtet, aber es hieß, daß sie inzwischen nicht mehr dort waren. In Siboney hatte man zwei Krankenschwestern und die andere freiwillige Helferin, Mrs. Olive Shay, zurückgelassen, von denen Paul dies alles erfuhr. Aus dem winzigen Büro, das von den Journalisten zur Übermittlung ihrer Berichte genutzt wurde, schickte er ein Nachnahmetelegramm an Shadow: Baldige Rückkehr mit vielen aufregenden Kriegsbildern, sofern Film extreme Hitze und Feuchtigkeit übersteht. Gruß Dutch. Irgendwo las er ein paar liegengebliebene Armeeschreiben und einen Bleistift auf, die er mit in das Wirtshaus nahm, wo er mit Michael gewesen war. Bei einem Glas warmen Biers schrieb er auf die Rückseite der Papiere einen drei Seiten langen Brief an Wex Rooney vom Nu-Age-PhotographSalon in Charleston, West Virginia. Er erzählte Wex, daß er verwundet worden sei und zu seiner Überraschung seinen Onkel wiedergetroffen habe, der als Brigadegeneral freiwillig Dienst täte. Es habe eine Art Versöhnung stattgefunden. Er glaube, daß sein Onkel seinen Beruf nach wie vor mißbillige. Er beschrieb einige seiner Abenteuer auf dem Schlachtfeld. Immer wenn er hatte entscheiden müssen, was er filmen wollte, habe er, so schrieb er, versucht, Wex’ Weisung zu befolgen, mit den Bildern die Wahrheit zu zeigen. Er hoffe, daß Wex seine Filme irgendwann sehen könne. Er schloß mit dem Wunsch, daß sein Mentor immer noch die Gastfreundschaft der Pensionswirtin genießen möge, deren Name ihm entfallen sei. Nachdem er die Blätter sorgfältig gefaltet hatte, legte er sie in seinen Koffer. In den Staaten würde er Kuvert und Briefmarke kaufen und den Brief aufgeben. Obwohl er mit all diesen Dingen beschäftigt war, ging ihm Julie fast keinen Augenblick aus dem Sinn. Er wußte, daß er sich keine falschen Hoffnungen machen durfte, aber wie konnte er dies verhindern? Der Krieg
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war nach allgemeiner Auffassung fast vorbei. Spätestens in einem Monat wäre er zu Hause, er würde sich um den Film kümmern und sich dann auf die Suche nach ihr begeben. Nein, umgekehrt. Erst mußte er nach ihr suchen. Der Film würde noch ein bißchen länger auf ihn warten. Er traf Billy Bitzer und sprach mit ihm darüber. Ja, Billy war der Meinung, daß das Biograph-Filmlabor in New York Pauls Film gefälligkeitshalber entwickeln würde, vorausgesetzt, daß Billy alles in die Wege leitete. Er versprach, seiner Firma aus Florida zu telegraphieren. Alle gingen davon aus, daß sie nach Key West oder Tampa zurückkehren würden, und Paul hatte vor, auf einem der ersten Transportschiffe für Zivilisten zu reisen. In Florida würde er dann seine Fahrkarte nach Chicago gegen eine nach New York umtauschen. London blieb ihm für den Fall, daß sich alles, was Miss Fishburne gesagt hatte, als falsch erweisen sollte. London war sein Rettungsanker. Am Abend der Übergabe von Santiago, als er die Nase gestrichen voll hatte vom Blutvergießen und von der Verzögerung und sich nach ein klein wenig Behaglichkeit und guten Freunden sehnte, traf er Michael. Michaels Anzug war wieder schneeweiß. Er war immer noch ohne Hut und sonnenverbrannt. Mit einem Grinsen erklärte er Paul, daß er ein Wirtshaus gefunden habe, dessen Wirt sich über den gottesfürchtigen Sonntag hinwegsetze und seine Türen offenhielte, solange er harte Dollars verdienen könnte. Er führte Paul kurz vor Dunkelheit dorthin. Das Wirtshaus lag an einer gewundenen Straße und war überfüllt mit Männern, die in verrauchter Atmosphäre an zahlreichen Tischen saßen und tranken. Fünf Minuten nachdem Michael und Paul sich niedergelassen hatten, kam Crane hereinspaziert. Zu ihrem Leidwesen trat fünf Minuten nach ihm auch Sylvanus Peterman durch die Tür. Zu viert saßen sie an einem Tisch mit zwei weiteren Stühlen. Als sie bestellt hatten, knallten Stiefelabsätze auf dem schmutzigen Fußboden. »Du liebe Güte«, stöhnte Crane leise. Der deutsche Militärattaché schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich. »Meine Herren, darf ich mich zu Ihnen setzen? Mein Trinkgefährte, Kapitänleutnant Paschwitz, Attaché unserer Kaiserlichen Marine, ist verhindert.« Michael entdeckte mit einemmal sein Interesse für die Wirtshausdecke, und Paul studierte die Messerkerben auf dem Tisch. Crane war kein bißchen glücklicher über den Besucher, trotzdem bot er dem Attaché einen der freien Stühle an. »Vielen Dank.« Von Rike zog den Stuhl vom Tisch ab,
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dann beugte er sich vor, um den Tisch abzuwischen, bevor er seine Mütze drauflegte. Er verbeugte sich ein zweites Mal, schnalzte mit den Fingern. »Bier, bitte! Cerveza, schnell!!« In Anbetracht der erfolgten Kapitulation der Spanier war die Stimmung im Wirtshaus lebhaft und heiter. Es wurde gegröhlt, gesungen, gelacht. Paul und seine Tischgenossen tranken schnell und viel, es versprach Entspannung und ein Gefühl des Glücks. Es dauerte nicht allzu lange, bis sie alle betrunken waren. Michael, Peterman, Crane, Paul, der Attaché. Sie waren betrunken vom kubanischen Whiskey – »Die tun entweder Cayennepfeffer oder Katzenpisse hinein«, erklärte Crane, der ihn, so schnell es nur ging, hinunterschüttete – oder vom einheimischen Bier – eigentlich gar nicht so übel, dachte Paul, wenn man erstens genug davon trank und zweitens den Kubanern nachsah, daß sie es Cervezo tipo Pilsen nannten –, ein Lagerbier, obwohl es die Farbe von Melasse hatte. Zu den Getränken rauchten sie kubanische Zigarren, sie waren spottbillig an der Bar, dazu von ausgezeichneter Qualität. Man hatte das Gefühl, warmes, geschmolzenes Silber auf der Zunge zu haben. »Wir werden uns neue Territorien aneignen, das steht uns auch zu«, erklärte Peterman leidenschaftlich. Er griff nach seiner braunen Bierflasche. Mehr als ein Dutzend leerer Flaschen stand auf dem Tisch. »Die Welt gehört uns! Die Zeit, die Umstände – der allmächtige Gott – haben uns die Verantwortung auferlegt, rückständigen Völkern Reformen, Erziehung und den Segen der Zivilisation zu bringen. Heidnischen Völkern. Eine schwierige Aufgabe, aber wir stellen uns ihr. Sie alle haben Oberstleutnant Roosevelt gehört –« »Zur Genüge«, warf Michael ein. »Das bevorstehende neue Jahrhundert gehört Amerika.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte von Rike, wandte sich von Peterman ab und schüttete das Bier in sich hinein wie jeder gewöhnliche Sterbliche. »Jingo, Jingo, Jingo«, sang Crane lautlos. Er schwenkte sein leeres Glas im Rhythmus. Eine braune Hand schnappte es, um ihm neu einzuschenken. »Was halten Sie von diesem Krieg, Radcliffe?« fragte von Rike. »Als Engländer.« »Zum Teufel mit den Engländern! Ich spreche nur für mich. Ich halte den Krieg für eine abscheuliche Angelegenheit. Eine Schande. Der Nationalismus liegt in der Luft, auch in Amerika war er noch nie sosehr zu spüren wie gerade jetzt. Aber trotzdem werden Sie es nicht erleben, daß ich allein die Yankees anklage. Fast ein jeder ist, bietet sich auch nur der
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kleinste dämliche Vorwand, ein Befürworter des Patriotismus –« Von Rike nahm allmählich einen beleidigten Gesichtsausdruck an. Paul trank und schmunzelte über Michaels Wortwahl und Aussprache, beide unglaublich vornehm, britisch, Oxford-Cambridge-Englisch, einfach makellos. »– und Patriotismus ist das Banner, mit dem hartherzige alte Männer starke junge Männer einwickeln, damit diese jungen Männer sich voller Freude als Kanonenfutter hergeben im Dienst einer Losung, die erfunden wurde, um korrupte Beweggründe zu verschleiern. Sie glauben mir nicht? Warum sind wir denn hier, meine Herren? Um über einen patriotischen Kreuzzug zu berichten.« Peterman erwiderte: »Ich habe Sie nicht ein einziges Mal an der Front gesehen, um über irgend etwas zu berichten.« Von Rike kicherte. »Der Kreuzzug der Jingos, der Hurra-Patrioten«, fuhr Michael fort. »Ein Unsinn. Aber alle Länder sind gleich. Alle Männer sind gleich. Sie werden es nie lernen.« Crane prostete ihm mit seinem Whiskey zu. »Sie waren mir von Anfang an sympathisch.« Von Rike sagte: »Ich bitte, mir zu verzeihen, daß ich Ihren zynischen und ziemlich beleidigenden Bemerkungen widersprechen muß, Radcliffe. In meinem Land herrscht ein neuer moralischer Geist, der von hehren Zielen getragen wird, für die Sie zweifellos nichts als Hohn und Spott übrig hätten.« »Es existiert aber auch ein Plan für Deutschlands nächsten Krieg, der Schlieffen-Plan von ‘fünfundneunzig, wollen Sie das bestreiten?« »Natürlich nicht, Graf von Schlieffen ist ein scharfsinniger und patriotischer Führer unseres Generalstabs, er würde niemals tatenlos zusehen, wie unsere alten Feinde gegen uns konspirieren.« »Wen meint er?« erkundigte sich Peterman bei Paul. »Frankreich und Rußland«, antwortete Paul ziemlich laut. »Genau«, pflichtete ihm von Rike bei. »Alte Feinde Deutschlands, die sich zu einer unheiligen Allianz zusammentun.« »Feinde, die Sie besiegen wollen, indem Sie durch die Niederlande marschieren und Frankreich zuerst angreifen, es unterwerfen, um dann Ihre Armee mit Hilfe der gut ausgebauten Eisenbahn an die zweite Front in Rußland zu transportieren.« »Sie wissen eine Menge über den Schlieffen-Plan, Mr. Radcliffe.« »Ihr Deutschen macht ja auch wahrlich kein Geheimnis daraus, Herr Hauptmann.« »Eisenbahn?« murmelte Paul, der aufgrund der konsumierten
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Alkoholmenge nur langsam folgen konnte. »Sie haben sich Buffalo Bills Wildwestzug nicht umsonst angesehen«, erklärte Michael. Von Rike sah ihn überrascht an. »Also«, sagte Crane zu von Rike, »wollen Sie abstreiten, daß Deutschland weltweit Ambitionen hat? Sie studieren doch Admiral Mahan, oder nicht?« »Ja, gewiß. Der Einfluß der Seemächte auf die Weltgeschichte ist ein Werk, das den Lauf der Welt verändern wird. Des Kaisers Bewunderung ist so groß, daß er jedem Offizier der Kaiserlichen Marine ein Exemplar hat zukommen lassen. Auch ausgewählten Armeeoffizieren, so darf ich stolz hinzufügen. Um seine Ziele zu erreichen, muß das Vaterland eine Maine für zwei Meere, neueste kohlebetriebene Kriegsschiffe und ein weltweites Versorgungsnetz für den Kohlenachschub haben.« »Welche Ziele meinen Sie damit, Herr Hauptmann?« fragte Crane. »Lebensraum«, warf Michael höhnisch ein. »Weltmacht.« »Auf Kosten anderer«, fügte Crane hinzu. »Tja«, meinte Peterman, »da wird Onkel Sam aber auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.« »Dann wird es möglicherweise zu einem heftigen Zusammenstoß kommen«, meinte Michael. »Was zu trinken, verdammt noch mal!« schrie Crane. »Ich habe gesehen, wie die Schiffe gebaut werden«, sagte Michael. »Habe auch die Kanonen gesehen.« Paul erinnerte sich an das KruppGeschütz. »Das Armageddon unserer Zeit. Die Zahl der Streitmassen des Reiterheeres war zwanzigtausend mal zehntausend. Die Völker waren ergrimmt. Und es geschahen Blitze, Donner, Erdbeben und Hagel. Und die Städte der Völker fielen –« »Was sind denn das für Phrasen?« meckerte von Rike. »Die Offenbarung des Johannes.« Mehrere Augenbrauen am Tisch gingen in die Höhe. »Sie sind überrascht, daß ein Wilder wie ich sich in der Bibel auskennt? Mit das Weiseste in der gesamten Geschichte der Menschheit. Zu schade, daß die Kirche diese Worte heute ignoriert. Sagen Sie mir, mein Kapitän, hat das liebe alte Vaterland wirklich genügend Mumm für das, was ich soeben beschrieben habe?« »Unsinn. Der heilige Johannes – puuuh! Wir schöpfen unseren Geist und unsere Stärke aus unserem Führer –« »Beantworten Sie meine Frage!« »– Sie wissen vielleicht, daß er durch eine Steißgeburt zur Welt gekommen ist. Seine Mutter, Prinzessin Viktoria, lag viele Stunden in den Wehen, bevor er mit Zangen geholt wurde, wodurch sein linker Arm einen
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bleibenden Schaden davontrug. Viele Menschen wissen das.« »Aus diesem Grund ruht seine linke Hand stets auf dem Schwertgriff, wenn er abgebildet wird«, sagte Paul. »Sein linker Arm ist kürzer.« Er trank ein Drittel der neuen Bierflasche. »Was viele jedoch nicht wissen, ist folgendes. Aufgrund der Komplikationen bei der Geburt fehlte dem jungen Kronprinzen der Gleichgewichtssinn. Er konnte nie an spielerischen Wettkämpfen teilnehmen, und, weit bedeutsamer, er konnte nicht reiten, eine Fähigkeit, die in den Augen seiner Mutter für einen Monarchen unabdingbar war. Sie erteilte deshalb dem Erzieher des Knaben genaue Anweisungen. Seine Majestät wurde im Reitring auf ein Pony gesetzt. Natürlich fiel er herunter. Er wurde wieder hinaufgesetzt und fiel wieder herunter. Er fiel wieder und wieder, und jedesmal wurde er wieder aufs Pferd gehoben. Er weinte vor Scham. Einige gaben ihm sogar den Namen ›weinender Prinz‹. Tage, Wochen, Monate vergingen – sie setzten ihn immer wieder aufs Pony, ungeachtet seiner Tränen und Schmerzen. Aus dem Schmerz erwuchs die Leistung. Die Leistung ging einher mit Stolz und Stärke. Seine Majestät lernte reiten. Er lernte auch, was es heißt, Willensstärke zu besitzen.« Von Rike zeigte ihnen die geballte Faust. »Alles ist möglich, wenn der Wille die Richtung weist.« »Zum Teufel, ja«, sagte Crane. »Der Kaiser und sein Wille haben es geschafft, den Mann loszuwerden, der Ihr verflixtes Kaiserreich fast im Alleingang aufgebaut hat.« »Bismarck«, sagte Paul zu Peterman. »Glauben Sie vielleicht, ich bin ein dummer Schuljunge? Das weiß ich auch«, fuhr Peterman Paul an. »Man könnte sagen, der größte Staatsmann unseres Jahrhunderts, mit Ausnahme vielleicht des Zwergs aus Korsika, der den Verstand verlor und dazu den Großteil seiner Armee, als er versucht hat, mein Heimatland zu erobern. Ich bin nämlich in Rußland geboren«, sagte Michael. »Wahrscheinlich auch noch als Jud«, fügte Peterman hinzu. »Peterman.« Crane beugte sich vor. »Sie sind eine miese kleine Ratte.« Er rutschte fast vom Stuhl. »He, wir brauchen hier mehr Whiskey!« »Bismarck mußte ersetzt werden«, erklärte von Rike. »Er hat jahrelang die enttäuscht, denen er angeblich diente. Er hat nur seine eigenen Ziele und Visionen verfolgt. Als sich unsere alten Erbfeinde beträchtliche Kolonialgebiete aneigneten, lehnte Bismarck eine ähnliche Ausdehnung der deutschen Macht ab. Als er schließlich zu einer Kursänderung gezwungen war, welche Kolonien waren da für uns noch übrig? Südwestafrika. Ostafrika. Togo. Eine Sammlung von wertlosen Dreckslöchern, praktisch
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unbewohnbar für Menschen. Außerdem hat sich Bismarck stets gegen den Ausbau der Kriegsflotte ausgesprochen, obwohl unser neuer Kaiser ihn befürwortet. Der verdammte alte Bastard glaubte, Europa sei sein privates Schachbrett, das er nach eigenem Gutdünken bestücken konnte. Ein geheimer Vertrag hier, ein geheimer Vertrag da – selbst mit den skrupellosen, verräterischen Russen –« »Ich darf Sie daran erinnern, daß ich in Rußland geboren bin«, unterbrach ihn Michael. »– und diesen hurenden Engländern.« »England ist jetzt meine Wahlheimat.« Von Rike sprang von seinem Stuhl auf. »Demnach sind Sie ein doppelt dummer, anmaßender Schweinehund!« »Das reicht!« rief Michael und sprang jetzt ebenfalls auf. Er schritt um den Tisch und versetzte von Rike einen Kinnhaken, der ihn auf seinen Stuhl niedersinken ließ. Von Rike rappelte sich wieder hoch und griff nach der nächstbesten Bierflasche. Zwei Hiebe auf die Tischkante, und die Flasche zerbrach. Michael wich aus, trat zurück und stolperte über einen leeren Stuhl am Nachbartisch. Die Soldaten und Unteroffiziere, die dort saßen, glotzten. Michael kam wieder auf die Füße, war jedoch sichtlich benommen. Eine eisige Stille breitete sich im Raum aus. »Ich lasse mich nicht beleidigen«, erklärte von Rike. Mit der zerbrochenen Bierflasche schrieb er kleine Kreise in die Luft. »Nicht ganz so gut wie ein Säbel, aber es wird reichen. Ich hoffe, daß Ihre Liebsten Sie wiedererkennen werden.« »Halt, Herr Hauptmann!« rief Paul, der jetzt hinter dem Attaché stand. Verzweifelt sah er sich nach Hilfe um. Crane war zu betrunken, Peterman hatte zuviel Angst. Auf den Gesichtern der amerikanischen Offiziere und Soldaten stand Verwunderung und Bestürzung. Der Wirt kam mit einer Schrotflinte hinter der Bar hervor, allerdings nicht schnell genug. Von Rike zog seinen Arm zurück, um gegen Michael auszuholen. Paul sprang ihn von hinten an und packte ihn bei den Ellbogen. »Nimm ihm die Flasche weg, Michael.« Michael ergriff von Rikes Arm mit beiden Händen und schlug ihn auf sein Knie. Der Flaschenhals fiel zu Boden und rollte weg. Paul ließ von Rike los. »Herr Hauptmann, ich hielte es für das beste, wenn Sie jetzt gingen. Wir sind doch nicht auf dieser Insel, um uns gegenseitig zu bekämpfen.« »Oh, ich bin bereit«, erklärte Michael, »nachdem wir jetzt mit gleichen Waffen kämpfen. Möchten Sie vielleicht auf die Straße hinaustreten, mein
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edler preußischer Ritter?« Von Rike hatte sich wieder unter Kontrolle. Er richtete sich auf und glättete seinen Uniformrock. Dann nahm er seine Mütze und schwankte zur Tür. Michael stellte seinen umgefallenen Stuhl auf. »Meine Herren«, rief er, während er sich setzte, »ich fürchte, wir haben gerade einen Blick in die Zukunft geworfen. Nicht gerade schön, oder?« Peterman wurde plötzlich ganz klein auf seinem Stuhl und sagte kein Wort mehr. Crane sah aus wie ein Trauergast auf einer Beerdigung. »Wirt«, rief er, »legen Sie die verdammte Schrotflinte aus der Hand, wir brauchen unbedingt noch mehr zu trinken.« Der Geräuschpegel stieg wieder auf normale Lautstärke an. Paul wollte nicht mehr trinken. Das fanatische Funkeln in den Augen von Rikes, das neue Deutschland ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Am Montag der letzten Juliwoche führte General Nelson Miles fünftausend Männer nach Puerto Rico, der zweiten Bastion des spanischen Widerstands. Nach wenigen Tagen traf in Santiago die Nachricht ein, daß Miles den Feind dort fast so schnell geschlagen hatte wie Shafter in Kuba. In der Zwischenzeit hatte die SS State of Texas endlich die Erlaubnis erhalten, im Hafen anzulegen. Die geflüchtete Zivilbevölkerung kehrte zurück; einige Heimkehrer mußten zu ihrem Entsetzen feststellen, daß ihre Häuser von amerikanischen Soldaten geplündert worden waren, und alle litten Hunger. Miss Bartons Mannschaft beeilte sich, Lebensmittel an Land zu schaffen, und bald wurden in Suppenküchen Haferschleim, Suppe und Brot ausgegeben. Die State of Texas dampfte zurück zu ihrem Ankerplatz auf hoher See, wo sie eine selbstgewählte Quarantäne einhalten wollte, um die Mannschaft an Bord zu schützen. Es war Fieberzeit. Paul ging am Strand spazieren, als er plötzlich Julies Tante erblickte. Sie arbeitete an einem langen provisorischen Tisch unter einer Plane am Straßenrand. Hinter ihr kochten zwei andere Frauen auf Kohlenfeuer. Miss Fishburne versorgte drei zerlumpte Männer mit Suppe, und als sie sah, daß niemand mehr anstand, trat sie zurück, um mit der Schürze ihre Stirn abzuwischen. Paul war entsetzt, wie mager und krank sie aussah. »Miss Fishburne!« »Paul!« Sie lehnte sich über den Tisch und legte ihre Arme um ihn. »Sie sind durchgekommen!« »Bis hinauf auf die Anhöhe San Juan mit der ersten Truppe. Habe ein paar gute Aufnahmen im Kasten, sofern sie sich entwickeln lassen.« »Was macht Ihre Wunde?«
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»Sie heilt. Tut noch ein bißchen weh, aber nur wenn ich dran denke. Ich habe Sie in Siboney gesucht, aber nicht gefunden.« »Wir sind mit zwei Wagen der Armee an die Front gefahren, wo wir am dringendsten gebraucht wurden, ins Krankenhaus der 1. Division – drei offene Zelte und ein paar von den kleineren, die sie ›Hundehütten‹ nennen. Mein Gott, das war ein Anblick! Achthundert Verwundete befanden sich bereits dort, und es wurden stündlich mehr. Die Männer lagen nackt im hohen Gras, weil die Zelte überfüllt waren. Clara war furchtbar wütend darüber, genauso wie über den Dreck, die mangelnde Verpflegung – und die Anzahl der Toten. Sie machte die Offiziere dafür verantwortlich, weil sie ihre Männer gegen die Schnellfeuerkanonen geschickt haben.« »Wir haben auch vier davon gehabt. Schreckliche Waffen.« »Ja, ich weiß. Sie gereichen uns nicht zur Ehre. Wir haben also unsere Planen aufgeschlagen, Feuer gemacht und unsere Lebensmittel ausgepackt. In der Nacht haben die Ärzte aus Angst vor Scharfschützen bei Mondschein gearbeitet. Ein- oder zweimal haben sie dann doch Kerzen angezündet. Hunderte von Kerzen, die in der Dunkelheit leuchteten – es war schön, aber auch schrecklich. Clara war furchtbar traurig. Sie sagte, der Anblick erinnere sie an die Nacht nach der Schlacht von Antietam, dem blutigsten Tag des Bürgerkriegs. In jener Nacht haben beide Seiten mit Kerzen nach ihren Toten gesucht. Sie sagte – Paul, das werde ich nie vergessen. Sie nahm meine Hand und sagte: ›Willis, es ist immer noch die alte Geschichte. Was haben die Frauen und die Menschheit in den letzten dreißig Jahren erreicht?‹« Miss Fishburne schüttelte sich, um die Erinnerung loszuwerden. »Ich bin eine alte Frau, die zuviel redet. Wir sollten uns mit Wichtigerem beschäftigen. Werden Sie meine Nichte suchen?« »Sobald ich ein Schiff finde, mache ich mich auf den Weg.« »Gott segne Sie – Gott segne Sie!« Sie sah, daß sich eine verzweifelte Familie dem Tisch näherte. »Ich muß weitermachen. Wir müssen hier dreimal täglich Hunderte von hungernden Menschen versorgen.« Sie warf ihm eine Kußhand zu und zog ihre Suppenkelle aus dem Topf. Als sie mit der Familie in gebrochenem Spanisch sprach, lächelte sie; Paul fand ihr Lächeln wunderschön. Während sie in ihre Arbeit vertieft war, schienen die Jahre plötzlich von ihr abzufallen, und er erhaschte einen Blick auf die hübsche junge Frau, die sie einmal gewesen sein mußte. Er mochte sie sehr. Er winkte und ging weiter. Am 7. August, einem Sonntag, verhandelten die Vereinigten Staaten und
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Spanien bereits über einen Friedensvertrag. Am frühen Morgen schlenderten Paul und sein Onkel über die Alameda, Santiagos Strandpromenade. Paul achtete darauf, nicht zu schnell zu gehen, denn Onkel Joe humpelte immer noch. Er war ständig mit seinem Iförmigen Spazierstock unterwegs. Paul und sein Onkel unterhielten sich über Bismarck. Der frühere Kanzler war am 30. Juli gestorben. Paul wiederholte einige der Äußerungen von Rikes vor der handgreiflichen Auseinandersetzung. Onkel Joes Reaktion war heftig. »Und wer, glaubt er, hat nach der Niederlage der Franzosen ‘einundsiebzig Europa all die Jahre den Frieden bewahrt? Bismarck war vielleicht unaufrichtig, aber damit hat er niemandem geschadet. Der Kaiser ist unaufrichtig und obendrein ein Kriegstreiber.« Vor ihnen am Kai dümpelte das vertaute Transportschiff Miami. Paul konnte seine Aufregung kaum verbergen, sein Glück gar nicht fassen. Die Miami, der erste Transporter, der amerikanische Truppen von Kuba nach Hause bringen sollte, würde mit der abendlichen Flut auslaufen. Und ihr Ziel war nicht Florida, sondern der östlichste Zipfel von Long Island; ein Ort namens Montauk Point, wo für die zurückkehrenden Soldaten, die sich mit dem Gelbfieber angesteckt hatten, eine Quarantänestation eingerichtet worden war. Als Paul vom Auslaufen des Schiffes erfuhr, hatte er sofort seinen Onkel aufgesucht. Ihm erklärt, daß es ungeheuer wichtig sei, daß er seine Filmrollen auf dem schnellsten Weg nach Chicago schaffte. »Ich brauche keine Koje, ich schlafe, wo Platz ist. Ich muß unbedingt erfahren, ob die Bilder etwas geworden sind oder ob der Film so gelitten hat, daß man nichts erkennen kann. Wenn ich etwas Gutes eingefangen habe, dann wird Pflaum sicherlich bald eine Vorführung haben wollen, bevor alles wieder in Vergessenheit gerät.« Er hätte Onkel Joe gern von Miss Fishburne erzählt und davon, was sie über Julie gesagt hatte. Er tat es nicht, weil er nicht wußte, wie sein Onkel darauf reagieren würde, daß er beabsichtigte, einem anderen Mann die Frau zu stehlen. Vorausgesetzt, sie war tatsächlich in Southampton und wartete darauf, gestohlen zu werden. Onkel Joe hatte sich an Fighting Joe Wheeler gewandt, der ebenfalls vorhatte, auf der Miami zu reisen, um seinen und andere Berichte nach Washington zu befördern. Erst vorgestern hatte Paul erfahren, daß auf dem Schiff noch ein Platz für ihn frei war. In freudiger Erregung hatte er sofort ein zweites Telegramm abgeschickt.
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Mrs. W. Elstree Belle Mer Southampton Long Island New York USA MUSS DICH DRINGEND SEHEN, IN ALTER ANGELEGENHEIT. WERDE BALD EINTREFFEN. DEIN ERGEBENER P. CROWN. Paul und sein Onkel näherten sich dem Schiff. Die Rough Riders hatten sich bereits vor den beiden Landungsbrücken aufgereiht. Die meisten von ihnen trugen neue Khakiuniformen; die alten Uniformen und das Bettzeug wurden außerhalb der Stadt verbrannt; der schädliche Rauch trieb in alle Richtungen. Auch Verwundete bestiegen die Miami. Zum Teil hatten sie bleibende Verletzungen davongetragen. Der Kalifornier Hugh Johnson war in der Nähe von El Caney von einer Kugel getroffen worden, und die Ärzte hatten seinen rechten Fuß amputiert. Paul hatte Johnson im Feldlazarett gesehen, als er Onkel Joe besuchte. Ihm war ein neuer Fuß aus Kork angepaßt worden. »Könnten wir noch etwas langsamer gehen, Paul?« »Aber natürlich. Halte dich an meinem Arm fest.« Bald standen sie im Schatten des großen eisernen Bugs der Miami. »Nun, Neffe, es wird Zeit, daß wir uns verabschieden, damit du dich hier einreihen kannst. Deine Sachen sind schon an Bord?« Paul nickte. »Meine Kamera und mein Seesack. Seit gestern abend.« Onkel Joe klemmte sich seinen Krückstock unter einen Arm, um beide Hände frei zu haben. »Wir werden uns bald wiedersehen. In der Zwischenzeit schicke ich deiner Tante eine Nachricht. Sie wird sich sehr freuen. Ich muß gestehen, mir geht es genauso.« Sie umarmten sich. »Auf Wiedersehen, mein – nein, ich kann dich doch nicht mehr Junge nennen, oder? Auf Wiedersehen, lieber Paul.« »Auf Wiedersehen, Onkel.« »In Chicago«, sagte Joe Crown. »In Chicago.« Jedenfalls für eine Weile … Die nächsten ein bis zwei Wochen – Long Island – würden über den Rest seines Lebens entscheiden. Bei einem wunderschönen Sonnenuntergang und zu den Klängen der
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Militärkapelle verließ die Miami Santiago. Sie lag tief im Wasser, soviel Fracht hatte sie geladen. Die meisten der Offiziere, einschließlich Roosevelt, hatten sich auf Deck provisorische Hütten gebaut. Paul hatte nicht einmal das; er rollte sich auf den genieteten Eisenplatten zusammen, die Kamera neben sich, den Seesack als Kopfkissen. Es war wie auf der Rheinland. Der Gedanke entlockte ihm ein Lächeln. Die Miami legte am Montagmorgen, dem 15. August, in Fort Fond Bay an der Südküste von Long Island an. Auf Anordnung eines Quarantäneoffiziers mußte das Schiff die Nacht auf offener See verbringen; die Gründe für diese Anordnung blieben den Männern an Bord allerdings schleierhaft. Endlich, um halb elf am Morgen, wurden die Maschinen wieder angeworfen, und das Schiff lief den Pier an. Paul sah unzählige Menschen, die ihre Hüte und kleine amerikanische Fähnchen schwenkten. Die Kapelle an Bord schmetterte das Lied Rally Round The Flag, Boys. Taue wurde ausgeworfen und festgemacht. Oberstleutnant Roosevelt und Fighting Joe Wheeler standen neben dem Kapitän auf der Brücke. Beide winkten der Menge zu. Doch Roosevelt zeigte Begeisterung, er strahlte und entblößte dabei seine weißen Zähne. Ein Mann an Land legte die Hände um den Mund und rief: »Hoch lebe Teddy Roosevelt, unser nächster Gouverneur! Wie geht es Ihnen, Teddy?« Roosevelt beugte sich über die Reling. »Die Reise war prima und der Krieg ebenfalls. Ich fühle mich so stark und kräftig wie ein Elchbulle.« Weitere Jubelrufe. Ungeduldige Soldaten schubsten und bugsierten Paul in Richtung Landungsbrücke. Obwohl sie sich einen wunderschönen Tag für die Ankunft ausgesucht hatten, sonnig, mit einer milden Brise vom Atlantik, wirkte das Land wenig einladend; sandig, rauh. Paul fragte einen Mann am Kai, wo er in der Nähe Wagen und Pferd mieten könne. »Bennetts Mietstall. Ungefähr zwei Kilometer da entlang.« Mit dem Stativ auf der Schulter und seinem Seesack und dem Koffer in der freien Hand machte sich Paul mit großen Schritten auf den Weg. Er mietete einen altertümlichen Einspänner mit zerrissenem Sitzpolster, der seit Jahren keinen frischen Anstrich mehr bekommen hatte. Die müde alte Stute ließ sich nicht antreiben. Es war später Nachmittag, als Paul nach einer Fahrt über Stock und Stein und durch dichte Wälder endlich das Dorf Southampton erreichte. Jeder Ladenbesitzer hatte sein Geschäft zur Feier der offiziellen Kapitulation Spaniens vor zwei Tagen mit Fahnen geschmückt; die Passagiere an Bord der Miami hatten schon während ihres kurzen
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Aufenthalts in Jersey City davon gehört. Er band das Pferd vor der Eisenwarenhandlung Denny Brothers fest, weil er drinnen eine große Frau mittleren Alters mit einem Besen in der Hand erspäht hatte. Er schwang sich über die Querstange und schoß durch die Tür. »Guten Tag, Ma’am, ich bin hier zu Besuch, können Sie mir sagen, wie ich zum Haus der Familie Elstree komme?« »Belle Mer.« Die große Frau zeigte mit dem Finger in die Richtung. Ihr weißes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem dicken Zopf im Nacken geflochten. »Sie nehmen zuerst die Neck Lane bis zum Wasser und biegen dann links in die Dune Road ein. Es ist das einzige Haus weit und breit.« Die Frau war höflich trotz seines Akzents und seines schlampigen Aussehens. »Ich danke Ihnen vielmals.« Er eilte nach draußen. Ihre Stimme erreichte ihn auf dem hölzernen Bürgersteig: »Es ist niemand dort außer dem Verwalter. Alle Dienstboten sind nach Chicago zurückgeschickt worden.« »Ich dachte, die reichen Leute bleiben bis September in ihren Sommerhäusern.« »Sie sind nicht von hier, stimmt’s? Bill Elstree ist vor ein paar Wochen erschossen worden. Er ist tot.« Terror… »Wer hat ihn erschossen?« »Eine Frau, die er in der Stadt ausgehalten hat.« Erleichterung. »Und die Witwe? Wo ist sie?« Seine Heftigkeit und das Beben in seiner Stimme ließen die Frau aufhorchen. »Ich weiß nicht, ob ich das einfach jedem Fremden so erzählen kann.« »Bitte, es ist sehr wichtig. Ich –« Laß dir was einfallen! Schnell! »Ich habe eine Nachricht für sie. Von jemandem in Deutschland, der ihr sehr nahesteht. Ich muß Mrs. Elstree unbedingt finden. Sie können mir vertrauen.« »Vielleicht.« Die Frau zeigte auf den Wagen. »Was ist denn das für ein komisches Ding auf Beinen?« »Meine Kamera. Ich bin Kameramann. Haben Sie schon von den bewegten Bildern gehört?« Sie bejahte. »Ich war mit Oberstleutnant Roosevelt und seinen Rough Riders in Kuba, um sie zu filmen.« Das entsprach fast der Wahrheit, immerhin war er in Tampa und Kuba gewesen. »Ich komme geradewegs von dem Schiff, mit dem er zurückgekommen ist,
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um meine Nachricht zu übermitteln.« »Die bewegten Bilder, soso. Man stelle sich vor.« Offensichtlich würde niemand an diesem abgeschiedenen Ort etwas derart Ausgefallenes erfinden. »Ich hoffe, Sie haben ein paar gute Aufnahmen von Roosevelt gemacht, denn in der anderen Sache haben Sie kein Glück. Mrs. Elstree ist vor einer Woche abgereist.« »Nach Chicago?« »Tja, sie ist hier nicht vorbeigekommen, um sich mit mir über ihre Pläne zu unterhalten.« »Sie sagten, der Verwalter sei noch dort?« »Henry Prince. Von den Shinnecocks.« »Wie bitte?« »Ein Shinnecock-Indianer. Der Stamm lebt hier an der Küste. Eines kann ich Ihnen noch verraten«, meinte sie, während er seinen Wagen bestieg. »Das Haus steht bereits zum Verkauf an. Es heißt, daß Mrs. Elstree nicht zurückkommen wird.« Er trieb die Stute mit der Peitsche über den sandigen Pfad und fand das Haus auf Anhieb. Die wunderbar glatte, halbkreisförmige Auffahrt aus weißem Sand und Austernschalen wurde von den Wagenrädern zerfurcht. Zwei große Marmorschalen neben breiten, steinernen Stühlen waren mit schwarzen Kreppbändern umwickelt, deren Enden im Wind flatterten. Als die Stute stehenblieb, konnte man das Klappern einer Heckenschere hören. Paul folgte dem Geräusch zur Ostseite des Hauses. Dort fand er einen kleinen, kräftigen schwarzhaarigen Mann bei der Arbeit. »Sind Sie Henry Prince?« »Der bin ich.« Der Mann senkte seine Schere und musterte Paul von Kopf bis Fuß. »Ich heiße Paul Crown und komme aus Chicago. Ich bin ein alter Freund von Mrs. Elstree. Im Dorf habe ich schon erfahren, daß sie nicht hier ist. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?« »Das kann ich nicht. Ich weiß es nicht. Ein paar Tage bevor sie abreiste, hat sie mir Reiseprospekte gezeigt. Wir haben über alle möglichen Orte gesprochen. Paris, die griechischen Inseln, Ägypten –« »Sie hat doch Verwandte, vielleicht wissen die etwas?« »Sie wissen auch nichts. Wenigstens ihr Onkel in der Stadt, Mr. I.W. Vanderhoff, weiß nichts. Er ruft hier fast jeden Tag an, um sich zu erkundigen, ob ich schon von ihr gehört habe. Sie hat auch irgendwo eine Tante, aber die ist viel unterwegs.« Und Paul hatte keine Adresse von Miss Fishburne. Julie hatte sie ihm in Chicago gegeben, aber er hatte sie
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weggeworfen, denn wozu hätte er sie behalten sollen? Und in Kuba hatte er gar nicht daran gedacht, sie nach ihrer Adresse zu fragen. Nach einem weiteren forschenden Blick auf Paul fuhr der Verwalter fort: »Ich glaube, es schadet niemandem, wenn ich Ihnen sage, was ich glaube. Ich glaube, daß Mrs. Elstree verschwunden ist, weil sie verschwinden wollte. Hat sich zurückgezogen, um wieder gesund zu werden. Weiß nicht, ob sie es schafft. Sie gehört zu der Sorte Mensch, von der es nicht viele gibt, ein wirklich guter Mensch, aber man hat ihr sehr weh getan. Vor allem er.« »Ihr Mann?« Der Verwalter nickte. Klopfte mit der Spitze der Schere an die Wand. »Viel Leid in diesem Haus. Hat ihr zugesetzt wie eine Krankheit. Und dann ihre Mutter!« »Auch aus Chicago –« »Sie war nur einmal hier. Eine böse, gehässige Frau. Man brauchte sie nur anzusehen und wußte Bescheid. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr helfen kann.« Paul dankte ihm und machte kehrt. Seine einzige Hoffnung war jetzt Mrs. Vanderhoff in Chicago. In New York nahm er ein billiges Hotel. Am nächsten Tag fand er sich in aller Frühe im Büro des American Biograph, 841 Broadway, sechster Stock, ein. Er stellte sich als Billy Bitzers Freund vor, der jedoch noch nicht zurückgekehrt war. Bitzer hatte aber, wie versprochen, telegraphiert. Das Büro erklärte sich bereit, Pauls Filme gegen Bezahlung zu entwickeln. Paul ersuchte Oberst Shadow telegraphisch um Genehmigung und bekam sie. Alle Filme mit Ausnahme der letzten Rolle waren schadhaft, unscharf und verschwommen. Über 100 Meter Material fleckig und streifig. Dann plötzlich ein weißes Flimmern im Bild. Aber die Aufnahmen waren spektakulär. Während er im Dunkeln saß und die Bilder auf der Leinwand sah, beschloß er, das Ganze Die Eroberung von San Juan zu nennen. Er war sicher, daß Wex Rooney stolz auf ihn wäre. »Großartige Aufnahmen«, meinte der Vorführer, als er am Ende aus seinem Kabäuschen kam. »Haben Sie gekurbelt?« »Ja.« »Sieht ganz schön gefährlich aus.« »Ja.« Der Vorführer schüttelte neidvoll den Kopf; er war etwa so alt wie Paul. Im Eingangsbüro begleitete einer der Männer Paul mit seinen defekten Filmrollen sowie der geglückten Aufnahme und den zwei Kopien zur Tür.
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»Tommy meint, das Material, das Sie von da unten mitgebracht haben, ist sensationell. Wir hätten da vielleicht eine gute Stelle für Sie beim Biograph. Billy hat Sie in seinem Telegramm mächtig gelobt.« »Ihr Angebot ist sehr großzügig, ich weiß es zu schätzen. Aber ich kann keine Stelle in New York annehmen, ich bleibe entweder bei Oberst Shadow oder gehe ins Ausland. Haben Sie nochmals Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.« Er nahm den Nachtzug nach Chicago. Seine Kamera lag gut verpackt im Gepäckwagen, der Seesack mit den Filmen zwischen seinen Füßen. Er fuhr zweiter Klasse; es stank und war unbequem. Er starrte hinaus in die vorbeirauschende Nacht, ohne etwas zu sehen. Zwar hätte er sich einen Platz im Schlafwagen leisten können, doch das wäre Verschwendung gewesen. Er wußte ohnehin, daß er nicht schlafen konnte. Der Zug fuhr um halb eins am Mittag auf dem Bahnhof an der DearbornStraße ein. Paul nahm sich ein Taxi und wies den Fahrer an, auf direktem Wege zum Haus der Vanderhoffs zu fahren. Als sie in der Prairie Avenue anhielten, fragte der Fahrer: »Soll ich warten, Sir?« Paul blickte mit gerunzelter Stirn auf das Haus. An jedem Fenster auf jedem Stockwerk waren die Vorhänge zugezogen. »Ich glaube schon.« Der kalte und unfreundliche Dienstbote, der die Vordertür öffnete, weigerte sich, ihn eintreten zu lassen. Paul reckte den Hals, um einen Blick ins Haus zu werfen. Alle Möbelstücke waren mit Tüchern zugedeckt. »Ich möchte gern mit Mrs. Vanderhoff sprechen.« »Sie hält sich aus gesundheitlichen Gründen in Kalifornien auf. Die Dauer ihres Aufenthaltes ist ungewiß.« »Dann bitte ihre Tochter. Mrs. William Elstree –« »Mrs. Elstree wohnt nicht hier. Wir wissen nichts über ihren Verbleib. Mrs. Vanderhoff hat keinen Kontakt zu ihr. Guten Tag.« Er warf die Tür zu. Erschöpft schritt Paul hinunter zum Straßenrand. Also gut, er wußte Bescheid. Der Pessimist in ihm hatte befürchtet, daß es so kommen würde. Er würde Shadow den Film bringen und ihm gleichzeitig seine Kündigung mitteilen. Als er die vertrauten Stufen erklomm, stiegen ihm köstliche Küchendüfte in die Nase. Er klopfte an die Küchentür und trat ein. Mary stand am Herd, der Oberst saß im Unterhemd am Tisch und löffelte geräuschvoll seine Krautsuppe.
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Mary taumelte gegen den Herd und hätte sich beinahe die Hand verbrannt. »O mein Gott!« »Paul!« rief Shadow, sprang auf, ließ seinen Löffel in die Suppe fallen, daß es spritzte, und breitete die Arme aus. »Du bist es wirklich! Leg deine Sachen ab! Es gibt Suppe. Mary! Einen Teller, einen Löffel – schau ihn dir an, dünn wie eine Bohnenstange. Gib ihm schnell was zu essen!« »Sofort, Sid.« Paul legte den Seesack auf den Tisch. »Ich möchte euch erst die Bilder zeigen. Das Wetter hat alle Rollen bis auf eine zerstört. Aber die ist ziemlich gut.« »Wenn sie nur halb so gut ist wie das Material, das du schon geschickt hast, werden die Zuschauer bei Pflaum glatt durchdrehen. Das Zeug aus Tampa – die Orangenhaine, die Kavallerie, der Alligator und diese Kaffeemühlenkanone am Strand – Iz Pflaum wäre mir beinahe um den Hals gefallen, als er die Schlangen an der Kasse sah. Komm, laß uns einen Blick drauf werfen!« Im verdunkelten Vorführraum ließ der Oberst den Film ablaufen. Stumme Bilder von Zerstörung und Tod flimmerten über die Leinwand und zeichneten wechselnde silbrige Muster auf die entsetzten Gesichter von Shadow und Mary. Shadow brachte unentwegt sein Erstaunen zum Ausdruck, begleitet von zahlreichen Flüchen. Mary, die neben Paul Platz genommen hatte und mit der Hand auf der Innenseite seines Beins auf und ab fuhr, stöhnte und hauchte mehrmals: »O nein!« Als der Film zu Ende war, schaltete Shadow das Licht an. »Mein Junge, das ist sensationell. Anders kann man das nicht nennen.« »Danke, Oberst.« »Haben diese Männer mit echten Kugeln geschossen?« wollte Mary wissen. »Die ganze Zeit.« »Und du warst so nah dran? Die Kugeln hätten doch auch dich treffen können! Warum hast du dich nicht versteckt?« »Wenn ich mich versteckt hätte, wie hätte ich dann die Aufnahmen machen können?« Er fuhr sich durch das braune Haar, das wie immer in alle Richtungen abzustehen schien. »Könnte ich mich jetzt vielleicht waschen und dann einen Teller Suppe haben?« »Alles, was du willst«, rief der Oberst strahlend. »Danach habe ich noch etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Es traf Shadow hart. Er bat Paul inständig, nicht zu kündigen. Er versprach, ihn besser zu bezahlen. Sagte, er würde darauf bestehen, daß Iz Pflaum seinen Namen in der Werbung verwendete, und wolle dafür sorgen,
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daß er »der Champion an der Kamera« der American National Luxograph wurde. »Mein Junge, du bist ein As. Du hast wirklich Klasse. Ich hab’ mir ganz schöne Sorgen gemacht, nachdem ich dich da hinunter geschickt habe. Sieht ja auch so aus, als hätte ich allen Grund dazu gehabt.« Paul hatte ihm von seinem Zerwürfnis mit Jimmy erzählt. »Jimmy kam in Handschellen in die Stadt zurück. Im Moment sitzt er in Cook-County-Gefängnis und wartet auf den Transport nach Joliet.« »Ich habe Anzeige gegen ihn erstattet.« »Du mußt vielleicht vor Gericht aussagen.« »Wenn es sein muß, werde ich es tun.« Shadow spielte mit seiner Kaffeetasse. »Ich will ehrlich mit dir sein. Ich habe mich gesorgt, aber ich war auch ganz schön sauer wegen all der Ausgaben. Telegramme! Noch mehr Telegramme! Mein Gott, das waren ja jedesmal ganze Romane und keine kurzen Nachrichten.« »Sid!« zischte Mary. »Ja, ja, schon gut, Schwamm drüber! Vorbei und vergessen! Diese Aufnahmen sind einfach unglaublich. Und ich meine unglaublich. Du bist ein tapferer Bursche.« Dies eine Mal klang er, als meine er es ernst. »Und jetzt will ich alles hören, jede Einzelheit. Mary! Bring ihm noch Suppe! Bier, Kaffee – was er will. Er kann alles haben!« rief er und schlug mit der Hand auf den Tisch wie ein stolzer Vater. Sie unterhielten sich mehr als drei Stunden lang. Am Ende tat Shadow die Kündigung Pauls damit ab, daß er sagte, man müsse nach der ersten Vorführung von Die Eroberung von San Juan noch einmal darüber reden. Alle Probleme ließen sich lösen, mit Geld könne man alles regeln. Paul seufzte, erklärte, daß er wirklich noch heute abend seine Familie aufsuchen müsse, und rannte die Treppe hinunter. In dem großen Haus Ecke Michigan Avenue und Zwanzigste Straße blieb kein Auge trocken, als er mit seinem Koffer in der Tür stand. Fritzi war so aufgewühlt, daß sie sich weinend auf den Boden der Eingangshalle warf. Carls Weinen beschränkte sich auf ein paar männliche Schniefer, die einem kräftigen Footballspieler von fast sechzehn angemessen waren. Tante Ilsa konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Auch Luise aus der Küche vergoß Tränen. Manfred Blenkers weinte zwar nicht, sagte aber: »Bitte erlauben Sie«, womit er Pauls schmutzigen Koffer nahm und seine Hand ergriff, um sie dann wie den Schwengel einer Wasserpumpe hoch- und niederzudrücken. »Weißt du’s schon?« fragte Tante Ilsa. »Dein Onkel kommt in wenigen
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Tagen nach Hause. Im Moment ist er noch in Tampa. Alle Freiwilligen kommen heim. Er hat zehn Tage Urlaub, dann muß er nach Washington, um Bericht zu erstatten und seinen Abschied zu nehmen – mein Gott, das ist alles zuviel.« Sie fächerte sich mit ihrem Taschentuch Kühlung zu. »Ich wußte, daß du kommen würdest, aber ich wußte nicht genau, wann. Du mußt dich setzen. Und dich ausruhen. Es gibt bald Abendessen.« Sie eilte in die Küche, wärmte eigenhändig den Sauerbraten und die Klöße auf, die vom Mittagessen übriggeblieben waren, und brachte beides mit Louises Hilfe auf den Tisch. Dazu kamen noch Platten mit Wurst und Käse. Paul aß, bis er meinte zu platzen, und trank zwei Krüge des hellen Crown-Lagerbiers. Fritzi konnte es gar nicht erwarten, bis er von seinen Kriegserlebnissen berichtete, und als er ein paar zum besten gegeben hatte, täuschte sie vor, ohnmächtig zu werden, natürlich vor lauter Aufregung. Und das gleich zweimal. Später führte Tante Ilsa ihn in sein altes Zimmer und ließ ihm ein Bad ein. Nachdem er sich ausgiebig eingeseift und gewaschen hatte und mit einem Flanellnachthemd im Bett saß, klopfte sie und kam auf Zehenspitzen an sein Bett. »Darf ich mich einen Moment setzen, mein Lieber?« »Aber natürlich darfst du.« Er rutschte unter der Decke etwas zur Seite. Eine angenehme vorherbstliche Kühle hatte sich über Chicago gelegt. »O Paul. Lieber Paul. Willkommen.« Sie schlang die Arme um ihn und drückte ihn heftig an ihren mächtigen Busen. »Du hast in diesem schrecklichen Krieg meinen Joe getroffen. Ihr habt euch wieder versöhnt, das hat er mir in seinem Telegramm mitgeteilt. Das ist wunderbar. Ich bin ja so froh. Und was hast du jetzt vor? Du wirst dich ausruhen wollen, stimmt’s? Und dann weiter Filme machen?« Er holte tief Luft. Schüttelte den Kopf. »Ich habe heute nachmittag bei Oberst Shadow gekündigt. Ich werde so bald wie möglich nach London fahren und dort eine Stelle annehmen.« Tante Ilsa fuhr zurück. »London? Aber warum? Dein Zuhause ist hier. Wenn nicht bei uns – was ich verstehen kann –, dann doch in Amerika. Amerika ist jetzt dein Zuhause, Paul.« »Nein, Tante Ilsa. Nur mein zeitweiliges Zuhause. Ich wollte immer ein Zuhause mit Julie, aber sie ist fort, und niemand weiß, wo sie ist.« »Ein schreckliches Unglück, der Tod ihres Mannes. Und ein Skandal dazu.« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme, als sie weitersprach. »Aber bitte, du darfst nichts überstürzen. Wir könnten eine Detektei beauftragen, um sie zu suchen, so wie wir’s bei Joe schon mehrmals getan haben.« »Aber sie haben ihn nicht gefunden.«
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Sie senkte den Kopf. »Nein.« Er ergriff ihre Hände. »Du warst immer lieb und gut zu mir, Tante Ilsa. Wir werden uns nie wieder aus den Augen verlieren, nie wieder. Aber ich muß Amerika verlassen. Es ist Zeit.« Sie sah ihn einen Moment lang eindringlich an und erkannte die Entschlossenheit in seinem Gesicht. Sie stand auf, küßte ihn auf die Wange und drückte in einer mütterlichen Geste die Decke zurecht, um sicherzugehen, daß er gut zugedeckt war. Dann ging sie schweigend hinaus. Erst als sie draußen war, fiel ihm auf, was sich verändert hatte. Sie hatte ihn nicht Pauli genannt. 114 DER GENERAL Ende August. Er kaute noch an einem sauren Hering, als er mit seinem Krückstock aus der heißen Küche in die stickige Eingangshalle humpelte. Ohne große Mühe war er wieder in seine Zivilkleidung geschlüpft und hatte sein normales Leben wiederaufgenommen. Nur seine Oberschenkelwunde schmerzte die meiste Zeit. Beim Gehen neigte er sich leicht zur Seite. Er schaute nach, ob die Vordertür abgeschlossen war. Er schaute jeden Abend nach. Die deutsche Gründlichkeit war nicht so leicht abzulegen. Er hörte Schritte und sah, daß seine Tochter den Kopf aus dem Musikzimmer herausstreckte. Fritzi trug ihr Flanellnachthemd und war barfuß. Sie war jetzt siebzehn, immer noch flachbrüstig und dünn wie eine Bohnenstange. Aber ihr überschäumendes Temperament schien sich im Laufe der Zeit sogar noch zu verstärken. Er hatte bemerkt, daß es die Aufmerksamkeit der meisten Menschen fesselte. Es machte sie sogar hübsch oder in einem gewissen Licht wenigstens zu einer überaus gefälligen Erscheinung. »Papa, kann ich dich einen Moment sprechen?« »Fritzchen, es ist halb elf.« »Es dauert nicht lang. Bitte?« Er folgte ihr ins Musikzimmer, wo sie ihn mit ernsten Augen ansah und sagte: »Vetter Paul verläßt Amerika, stimmt das?« »Ich fürchte, ja.« »Alle verändern sich.« Sie stellte sich vor ihn hin, suchte seine Augen. »Papa, du weißt, daß ich Schauspielerin werde.« »Wolltest du mir das sagen? Daß sich nichts geändert hat?« »Ja, Papa, das wollte ich dir sagen. Ich möchte einfach nicht, daß du es vergißt.«
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Er seufzte. »Ich kann nicht sagen, daß mir die Vorstellung gefällt, Fritzi. Aber wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden. Ich habe so manches gelernt, während ich weg war. Ich werde dir keine Steine in den Weg legen. Ich werde dich finanziell sogar unterstützen, wenn es nötig werden sollte. Ich gebe sogar –« Er räusperte sich. »– meinen zögernden Segen dazu, wenn dir daran liegt.« »O Papa, natürlich liegt mir daran! Danke!« Sie fiel ihm um den Hals. Sie umarmten sich liebevoll und ließen sich dann wieder los. »Noch eine Frage, Papa. Muß ich dich jetzt mit Herr General anreden?« Mit einem neckischen Lächeln antwortete er: »Alle andern tun’s. Ich werde darüber nachdenken, mein Liebling.« Er gab ihr einen zärtlichen Klaps. »Ich denke darüber nach.« »Papa, nimmst du mich vielleicht auf den Arm?« »Ich? Dich? Warum sollte ich das tun? Dein eigener Vater? Der General?« Sie schauten einander einen Augenblick lang ernst an. Dann sah sie die Wahrheit in seinen Augen und brach in Lachen aus. Vater und Tochter stiegen eng umschlungen und leise murmelnd die lange Treppe in dem dunklen, stillen Haus nach oben. Eine halbe Stunde später lag er in dem vertrauten Bett nackt neben seiner Frau. Seine Leidenschaftlichkeit hatte Ilsa überrascht. Jetzt ruhten sie sich aus. Das Zimmer war schwarz, alle Fenster standen offen. Kein Lüftchen regte sich, kein einziger Stern schien am Himmel. Der Krückstock lehnte am Nachttisch, wo er ihn jederzeit leicht erreichen konnte. Es war still im Haus, alle lagen in ihren Betten. Paul war zu Shadow zurückgegangen. Er hatte nur zwei Nächte im Haus der Crowns verbracht und seine Sachen ins Levee gebracht, bevor Joe junior von Florida zurückgekehrt war. Es schien ihm das beste, wenn er bis zur ersten Vorführung seines Films dort wohnte, wo er arbeitete. Er war jedoch mehrmals zum Abendessen dagewesen. Das Verhältnis zwischen ihnen war mehr oder weniger wieder normal. Der Krieg war immer noch überall im Land das Gesprächsthema Nummer eins. Die Menschen waren in übermütiger Siegesstimmung. Fahnen flatterten vor Geschäften, Amtsgebäuden und Privathäusern. Die eingefleischten Nationalisten im Kongreß sowie gewisse Chicagoer Zeitungen verkündeten, Amerika werde dem geschlagenen Feind Territorien entreißen. Die eroberte Insel Puerto Rico, vielleicht sogar die Philippinen. Schulkinder schrieben Aufsätze zu den Themen »Das neue
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Reich der Demokratie« und »Amerika, die neue Weltmacht«. Welch ruhmreichen Krieg sie geführt hatten, um all das zu erreichen! So stellten es zumindest einige dickärschige Politiker und verblendete Journalisten dar, die sich nie die Hände in einem Krieg schmutzig gemacht hatten und sich nicht mit schrecklichen Erinnerungen herumplagten. Joe hatte in zwei Kriegen gedient. Er wollte keinen weiteren mitmachen; nie wieder! Pflaum machte sich die optimistische, jugendliche, stolze Stimmung, die im ganzen Land herrschte, zunutze und steckte viel Geld in die Reklame für Die Eroberung von San Juan. In den Ankündigungen in der Zeitung wurde Pauls Name stets groß hervorgehoben. Erst heute morgen hatte Joe eine aus der Tribune ausgeschnitten. NUR BEI PFLAUM! DIE EROBERUNG VON SAN JUAN Eigenhändig gefilmt von PAUL »DUTCH« CROWN WELTKLASSE-KAMERAMANN Im Auftrag von American National Luxograph Er riskierte sein Leben für diese mitreißenden authentischen Aufnahmen von unseren tapferen Soldaten in Aktion. EIN MUSS FÜR JEDEN PATRIOTISCHEN AMERIKANER! Nach der Uraufführung würde Paul in der billigen Kabine eines Dampfers Amerika verlassen und Kurs nehmen auf Southampton in England. Er hatte seine Passage mit dem Geld, das ihm ein Freund aus London geschickt hatte, bereits gebucht. Es war der gleiche Journalist, der ihn überredet hatte, dort zu arbeiten. Joe hatte mehr als einmal mit seinem Neffen darüber gesprochen. Hatte ihn angefleht, Chicago und seiner neuen Heimat eine zweite Chance zu geben. Paul hatte abgelehnt. Höflich zwar, aber bestimmt. Joe machte sich selbst zu einem großen Teil dafür verantwortlich. Weil ihn nach Geborgenheit verlangte, drehte er sich um und küßte Ilsa auf die Halsmulde. Ihre Haut war noch feucht vom Liebesspiel. Er hörte nicht auf, sie zu küssen und zu liebkosen, und schließlich bewegte sich seine Hand über ihr Nachthemd nach unten. Sie überraschte ihn mit ihrem Kichern.
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»Joe, ich komm’ mir albern vor. Wir sind zu alt.« »Nicht zu alt, um dem anderen zu zeigen, daß man ihn mag.« Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar und drehte sich zu ihm um. Die warme Atemluft aus ihren Mündern strömte zusammen. Sie küßte ihn und flüsterte: »Nein, dafür ist man nie zu alt.« Ein wenig später, während sie sich wieder ausruhten, starrte er mit dem Arm unter dem Kopf in die Dunkelheit. »Ilsa.« »Ja«, antwortete sie schläfrig. »Ich möchte noch einen Versuch unternehmen, Joe zu finden. Ich möchte noch einmal eine Detektei beauftragen.« »Ich glaube, es wird nichts bringen. Er hat zu lange geschwiegen, uns monatelang kein Lebenszeichen gegeben.« »Ich möchte es trotzdem noch einmal versuchen. Und wenn’s sein muß, in regelmäßigen Abständen.« Er hielt inne. »Das heißt, wenn du einverstanden bist.« »Ich bin einverstanden. Wir könnten unser Geld viel schlechter anlegen. Die Hoffnung ist es wert.« »Obwohl du glaubst, daß die Hoffnung vergeblich ist.« Sie strich ihm über das bärtige Gesicht und küßte ihn noch einmal, süß und zärtlich. »Ja, mein Liebster. Selbst dann.« 115 DUTCH September. Wolkenbruchartige Regenfälle gingen auf die Stadt nieder. Die Straßen waren überflutet, Droschken kaum zu bekommen. Trotz alledem war Pflaums Varietétheater für die erste Vorführung von Die Eroberung von San Juan restlos ausverkauft. Shadow hatte Pflaum so lange bearbeitet, bis dieser sechs-, wenn nicht gar siebenmal soviel wie sonst für die Reklame ausgegeben hatte. Allein dank der Vorankündigung hatte der Oberst Verträge für vier Projektionstheater in anderen Staaten unterschrieben. Und sechs weitere Interessenten für die Vorführung von Luxograph-Filmen waren von weither gekommen, um die Uraufführung zu sehen, einer sogar aus Denver. Wahrend ein böiger Wind den Regen auf die Straße peitschte, stauten sich vor dem Theater die Kutschen mit ihren mißgelaunten, schimpfenden Besitzern, darunter auch Nicky Speers. Jeder Fahrer wollte schneller sein
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als die anderen, um seine Fahrgäste unter der schützenden Markise aussteigen zu lassen. Der Regen hatte bereits dafür gesorgt, daß sechs elektrische Birnen nicht mehr brannten. In der Eingangshalle stand Iz Pflaum in Lacklederschuhen, Frack, weißer Krawatte und zu engem Eckenkragen und begrüßte Zeitungsjournalisten und andere wichtige Persönlichkeiten überschwenglich, wiewohl etwas verworren. Als Paul eine halbe Stunde vor der Vorstellung eingetroffen war, hatte er von Shadow erfahren, daß Pflaum bereits eine viertel Flasche Bourbon intus hatte. Nahezu bei jeder Bemerkung steckte Pflaum unbewußt einen Finger in seinen Kragen und zerrte. Es half nichts; sein Gesicht wurde röter und röter. Shadow war eine elegante Erscheinung in seinem neuen bernsteinfarbenen Gehrock, seinem gestärkten weißen Hemd mit schwarzem Halstuch, seinen schwarzen Hosen und schwarzen, kniehohen Stiefeln und seinem großen weißen Sombrero. Er war einfach überall und lachte unentwegt; in der ebenerdigen Wandelhalle, die auf der einen Seite in die Eingangshalle und auf der anderen in den Theatersaal führte, machte er Geschäfte mit denen, die von weither gekommen waren. Mary wich ihm nicht von der Seite. Sie hatte ihre Brüste in ihr engstes Mieder gepreßt, derzeit ihr freizügigstes Oberteil, und bot das eingeengte, hervorwogende rosige Fleisch jedem Besucher zur Bewunderung dar. Sie half ihrem Mann aber auch, indem sie Küßchen sowie kleine Aufmerksamkeiten in Form von Zigarren verteilte. Iz Pflaum hatte beschlossen, den Kurzfilm nach der Varietévorstellung zu zeigen, die um acht Uhr beginnen sollte. Paul war schrecklich nervös. Er war allein und spielte mit der neuen Mütze, die er zusammen mit seinem schmucken, neuen karierten Anzug mit Tante Ilsas Hilfe von ihrem Geld gekauft hatte. Sie hatte einfach darauf bestanden. Immer noch mehr Gäste strömten durch die geöffneten Türen der Eingangshalle. Er sah Nicky Speers mit der Kutsche der Crowns unter der Markise. Onkel Joe stieg aus und bot Tante Ilsa seinen Arm. Danach kamen Fritzi und Carl. Tante Ilsa und Fritzi umarmten Paul, Carl schüttelte ihm die Hand. Onkel Joe drängte weiter. »Ich glaube, wir sollten uns auf unsere Plätze begeben, es ist fast acht.« Im Vorbeigehen drückte er Pauls Arm. »Ich hoffe, daß es ein großer Erfolg wird.« Ihre Sitze befanden sich in der dritten Reihe auf der linken Seite, direkt hinter Shadow und Mary. Paul hatte den Gangplatz, rechts neben ihm saßen seine Tante, dann Onkel Joe, Fritzi und Carl. Um fünf nach acht, während die letzten Zuschauer auf ihre Plätze eilten, wurden die Lichter schwächer,
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und plötzlich ging ein nervöses Husten und ein Rascheln der eigens für die Vorstellung gedruckten Programme durch die Menge. Pflaums Orchesterchef, Professor Ludwig Teasdale, betrat den Orchestergraben, erklomm sein Podest, verbeugte sich galant – eine Geste, die eindeutig dem Wunsch nach Applaus entsprang, den er auch bekam – und begann mit der Ouvertüre. Niemand wollte das Varietéprogramm sehen. Das Publikum pfiff und zischte, als der Jongleur die Bühne betrat, so daß er sich verhedderte und seine Keulen fallen ließ. Eine fiel ihm auf den Kopf, die anderen plumpsten zu Boden und rollten davon. Vom Balkon ertönten laute Rufe, die verlangten, daß er von der Bühne abtrat. Den anderen Künstlern erging es nicht viel besser. Endlich nahm zur Freude aller die Varietévorstellung ein Ende. Die Lichter gingen wieder an, während hinter dem Samtvorhang die Leinwand bereitgestellt wurde. Und wieder teilte sich der Vorhang, und jetzt wurde stürmisch applaudiert. Iz Pflaum hatte vorgesehen, zwanzig Minuten von den Bildern zu zeigen, die Paul in Tampa aufgenommen hatte. Die Feuertaufe der neuen Rekruten und das Exerzieren der Kavallerie. Den Alligator und die Schnellfeuerrevolverkanone beim Beschuß der Palme. Alle Aufnahmen waren bereits gezeigt worden, nachdem Paul sie von Tampa geschickt hatte. Mehr Applaus, und der Vorhang schloß sich erneut. Eine Stille senkte sich über das Theater. Die Lichter gingen wieder an, damit die Zuschauer sehen konnten, wie Professor Teasdale seinen Taktstock hob. Das Orchester stimmte The Stars And Stripes Forever an, woraufhin das Publikum klatschte, pfiff und stampfte. Am Ende des Stückes warf eine Scheinwerferlampe einen blendendweißen Kreis auf den Vorhang. In den Kreis hinein trat Iz Pflaum. Er hielt eine bombastische und stellenweise undeutliche Einführungsrede für Oberst R. Sidney Shadow III. Der Oberst sprang auf die Bühne und schwenkte seinen Sombrero. Er stellte sich ins Licht der Scheinwerferlampe und hob zu einer weiteren Rede an, die nur Zeitverschwendung war. Er pries und rühmte den Wert und die Vorteile der bewegten photographischen Bilder genauso wie Kamera und Projektor, beides von ihm selbst entworfen und gebaut. Er wies in aller Deutlichkeit auf den Wert von »Tatsachenberichten« – Filme über echte Menschen, wirkliche Ereignisse – im Gegensatz zu phantastischen Filmgeschichten hin. Allmählich machte sich das Publikum durch Brummen, Husten und Füßescharren bemerkbar. Shadow überging all dies geflissentlich und stellte seinen »Weltklasse-Kameramann« vor. Wie zuvor abgesprochen, erhob sich Paul von seinem Platz, während ihn
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der weiße Lichtstrahl suchte, einhüllte und blendete. Noch während applaudiert und gepfiffen wurde, setzte er sich wieder. »Und jetzt, meine Damen und Herren – liebe Mitbürger dieser großartigen Stadt und dieses großartigen Landes –« »Wo bleibt der Film, verdammt noch mal«, rief eine Männerstimme von hinten. Wieder wurde gepfiffen, gezischt, geklatscht. Ohne sich im geringsten aus der Fassung bringen zu lassen, verbeugte sich Shadow und ließ seinen Sombrero kreisen. Seine Stimme hallte bis in die hinterste Reihe. »Bereiten Sie sich vor auf die bemerkenswertesten, die spannendsten und – ja, mein Gewissen gebietet mir, Ihnen auch dies zu sagen – die entsetzlichsten und bewegendsten Bilder, die Sie jemals gesehen haben und jemals sehen werden –« Wieder teilte sich der Vorhang, und dahinter erschien die Leinwand. Die Eroberung von San Juan! Fanfaren und Trommelwirbel aus dem Orchestergraben. Paul rutschte aufgeregt und gespannt bis zur Sitzkante vor. Die Leinwand wurde hell, und dann flimmerten die ersten zuckenden Bilder des Krieges vor seinen Augen, den er noch so gut in Erinnerung hatte. Während des letzten grausigen Blicks auf die spanischen Toten in den Schützengräben spielte der Hornist im Orchestergraben einen Zapfenstreich. Auch wenn die Toten spanische Feinde waren, waren sie doch Menschen gewesen. Niemand hob zum Geschrei gegen die Spanier an, es herrschte nur Stille. Paul warf einen Blick zur Seite. Der Schein, der von der Leinwand fiel, ließ Onkel Joes schwarzes Profil silbern glänzen. Regungslos saß er auf seinem Platz, die Finger um die Armlehnen gekrallt. Paul hörte Tante Ilsa und Fritzi weinen; Aufregung entstand, als eine Frau irgendwo weiter hinten in Ohnmacht fiel. Dann plötzlich ein schneller Schnitt und ein Umschwenken auf die große amerikanische Fahne mit fünfundvierzig Sternen, die sich im Wind bauschte. Paul hatte sie auf Shadows Bitte hin aufgenommen und an das Ende des Films gesetzt. Das Bild erlöste das Publikum von den grausigen Szenen des Todes und brachte es in tosender Begeisterung auf die Beine. Onkel Joe war einer der ersten, der von seinem Platz aufsprang. Wahrend der Vorführung hatte Shadow neben Mary Platz genommen. Jetzt sprang er auf und beugte sich nach hinten, um Paul zu umarmen und ihm auf die Schulter zu klopfen. »Sie sind begeistert. Selbst diese schauerlichen Bilder –« Er hörte gar nicht auf zu klopfen. »Verdammt noch mal, Junge – Dutch –, du hast es richtig gemacht, du bist ein verdammtes Genie.« Er war vollkommen außer sich. Er weinte. Der gemeine,
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ungehobelte, unehrliche R. Sidney Shadow III. weinte. Die Gänge füllten sich mit Zuschauern, die ähnlich überwältigt waren, darunter auch Onkel Joe. Die Familie trat zusammen, jeder versuchte als erster zu Wort zu kommen. Tante Ilsa: »Paul, ich hatte ja keine Ahnung, in welcher Gefahr du warst.« Carl: »Phantastisch – spannend – aufregend!« Fritzi: »Ich wäre beinahe umgekommen vor Angst. Oh, wir sind ja so stolz auf dich!« Und Onkel Joe, der ihn am Arm festhielt und sich nicht um diejenigen scherte, die sich an ihnen vorbeizudrängen suchten. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Er war aschfahl, erschüttert. »Es war alles so real. Ich habe noch nie etwas so Realistisches gesehen, außer das Schlachtfeld selbst. Ich hatte plötzlich das Gefühl, wieder dort zu sein, wieder mit Roosevelts Männern die Anhöhe zu erklimmen, den Rauch zu riechen, die Kanonen zu hören und die Schreie der Verwundeten. Zwischen all den Toten durchzuschreiten. Es hat mich sehr bewegt.« Er wandte sich ab, nahm ein gestärktes weißes Taschentuch aus seiner Tasche und schneuzte sich die Nase. »Komm, Ilsa. Kinder.« Er blieb an Pauls Seite, während sie langsam den Gang hinaufgingen. »Das ist kein Schund, wie ich glaubte, sondern ehrliche, wichtige Arbeit«, gestand er. »Bevor du uns verläßt, mußt du uns genau erklären, wie das Ganze funktioniert. Im Detail.« »Das werde ich, Onkel, ganz gewiß.« Das Geständnis seines Onkels machte ihn glücklich. Und plötzlich verspürte er zu seinem Erstaunen Zerknirschung, weil er sie verlassen wollte. Aber die Fahrkarte war gekauft. Lord Yorke erwartete ihn in London. Die ganze Welt öffnete sich ihm. Fast hatte er die Hoffnung schon aufgegeben, sie zu sehen. Die langsam vorwärts drängende Menschenmenge brachte Ilsa, Fritzi und Carl zum Ausgang. Fritzi ließ ihr Programmheft fallen. Alle blieben stehen, bis sie es aufgehoben hatte. Iz Pflaum, der draußen stand und mit den Armen fuchtelte, sah aus wie ein lebendig gewordener Signalmast. »Dutch, beeil dich, die Journalisten warten auf dich. Mr. LeGrand von der Tribune, Mr. Wickwire von den Daily News, Mr. –« Nur einzelne Silben drangen bis an Pauls Ohr. Sein Blick fiel nach links auf die letzte Reihe des Mittelteils, wo noch jemand saß. Eine Frau in einem Mantel mit schwarzem Pelzkragen, Handschuhen, einem großen Hut mit einem feinen grauen Schleier. Während er sie ansah, stand sie auf. Sie hob
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den Schleier. »Paul.« Julie breitete die Arme aus. »Ich habe geschworen, dich zu finden.« Sie hatte eine große Suite im Palmer House gemietet. Paul verbrachte die Nacht bei ihr. Sie liebten sich begierig. Sie redeten. Alle Vorhänge waren zugezogen und schirmten sie von der Außenwelt ab, wo der Regen prasselte. Nur eine einzige Tischlampe im Wohnzimmer brannte noch. Der schwache Lichtschein, der durch den eleganten Türbogen fiel, reichte ihnen, um sich anzusehen und sich aneinander zu laben. Während sie redeten, lagen sie nebeneinander, oder sie saßen sich nackt und unschuldig wie die Kinder gegenüber, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen. Sie erklärte, daß sie aus dem Haus auf Long Island in eine bereits gemietete Wohnung in New York gefahren sei. Dort hatte sie genau das gleiche getan wie Pauls Onkel und Tante, nur mit mehr Erfolg. Sie hatte eine Detektei beauftragt, nach ihm zu suchen. Das Chicagoer Büro stellte Nachforschungen in der Umgebung der Familie Crown an. Niemand hatte Paul in letzter Zeit gesehen oder von ihm gehört. Der Leiter des Büros war auf dem Weg zu Ilsa Crown, als er eines der vielen Werbeplakate für die Sondervorführung bei Pflaum sah. Und darauf den Namen Paul Crown. »Ich war entschlossen, Bill zu verlassen, und habe deshalb die Wohnung in Manhattan gemietet, um mich dort zu verstecken. Ich brachte schließlich den Mut dazu auf, weil du und Tante Willis mir versichert habt, ich hätte ihn, wenn ich nur wollte. Es kam aber ganz anders als geplant. Bill wurde vor meinen Augen erschossen. Dann bekam ich Streit mit meiner Mutter, weil ich nicht das tat, was sie verlangte. Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Und das alte Leiden machte mir wieder zu schaffen. Die Traurigkeit – und der Wunsch, mich für immer zu verkriechen. Aber ich habe dagegen angekämpft. Diesmal hatte ich ja eine Hilfe. Dich. Und das Wissen, daß du lebst, irgendwo. Das Wissen, daß ich dich finden würde, wenn ich es nur ernsthaft versuchte, genügend Zeit und Geld aufwandte – Geld habe ich ja wahrlich zur Genüge. Elstree war einer der reichsten Männer Amerikas.« »Und du hast alles geerbt. Ich werde in meinem ganzen Leben nicht ein Zehntel davon verdienen können.« »Das macht überhaupt nichts.« Sie küßte seinen Mund, liebkoste seine Wange und sah ihn mit liebenden Augen an. »Ich konnte nicht zulassen, daß die Krankheit mich niederzwang – mich von dir fernhielt. Ich schwor
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fortzugehen, wenn du eine andere hättest. Aber nicht ohne dir vorher noch einmal zu sagen, daß ich dich liebe, daß ich nie einen anderen lieben werde.« Er nahm sie in die Arme. Draußen schlug der Regen gegen die verdunkelten Fensterscheiben. Mit sanfter Gewalt und voller Zärtlichkeit drückte er sie aufs Bett. Kurz nach Tagesanbruch wachte er auf, weil er spürte, daß sie das warme Nest verließ. Ihre Haut glänzte im schwachen Licht der Wohnzimmerlampe. In der dunklen Ecke des Schlafzimmers wurde eine Schublade aufgezogen und wieder zugeschoben. Als sie sich umdrehte, hielt sie etwas in der Hand. Da sie zwischen ihm und der Lampe stand, konnte er nicht sehen, was es war. Er stutzte, als sie aufs Bett kletterte und sich neben ihn kniete. Ihr schwarzes Haar fiel ihr bis auf die Hüfte. Es glänzte im Schein der Lampe. »Paul, Liebster, ich habe geschworen, daß ich dich, wenn wir wieder zusammen sind, um etwas bitten würde. Ich hoffe, daß du mich nicht für verrückt hältst. Es ist für mich sehr wichtig.« »Ich tue alles, was du willst, das weißt du.« »Und du wirst nicht nach dem Grund fragen?« »Du machst mich neugierig. Vielleicht frage ich dich eines Tages.« »Damit kann ich leben.« Sie hob die Hand. Metall blitzte auf. Er sah, was sie aus der Schublade geholt hatte. Sie beugte sich über sein Gesicht, milchige Brüste mit dunklen Spitzen senkten sich auf seine Brust. Sie küßte ihn zärtlich und doch leidenschaftlich. Dann legte sie die silberne Schere in seine Hand. »Du sollst mein Haar abschneiden.« Am späten Morgen setzte er unten im Telegraphenbüro ein Telegramm an Michael Radcliffe beim London Light in der Fleet Street auf.
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BEDAURE, NICHT NACH LONDON KOMMEN ZU KÖNNEN. SITUATION VOLLKOMMEN VERÄNDERT. BLEIBE BEI DERZEITIGEM ARBEITGEBER. HEIRATE JUNGE FRAU, VON DER ICH DIR ERZÄHLTE. WERDE BALDIGST NEUE ADRESSE SCHICKEN. EBENSO GELD FÜR FAHRKARTE. AUSFÜHRLICHER BERICHT FOLGT, WENN MICH MEINE ARBEIT NACH LONDON FÜHRT. DANKE FÜR DEINE FREUNDSCHAFT UND GROßZÜGIGKEIT. STETS DEIN FREUND DUTCH.
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Ich bin das Gesicht der Familie; Fleisch vergeht, ich lebe weiter, hinterlasse Eigenschaften und Spuren durch alle Zeit für die Zeit und gleite von Ort zu Ort über die Vergessenheit. 1917 Thomas Hardy, ›Moments of Vision‹
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116 DUTCH Montag, 31. Dezember 1900, Silvester. Das Ende dieses Tages war gleichfalls der Beginn eines neuen Jahrhunderts. Wie die Zeitungen ihre Leser wiederholt belehrten, beschlossen die Jahre, die in Nullen endeten, die Reihen eins bis zehn. Deshalb war 1900 das letzte Jahr der Reihe, das mit 1891 begonnen hatte. Das 20. Jahrhundert würde in der ersten Minute des ersten Tages des ersten Monats im Jahr 1901 beginnen. Die Menschen, die Paul kannte, reagierten unterschiedlich. Onkel Joe mit seiner Leidenschaft für Zahlen hatte dies natürlich gewußt und belächelte diejenigen, die weniger klug waren als er. Oberst Shadow war verdrossen, weil er angeblich sein ganzes Leben lang im Irrtum gelebt hatte. Mary sagte, sie habe versucht, es ihm am letzten Silvesterabend zu erklären, aber da hätte der Oberst bereits zu tief ins Champagnerglas geschaut. Zu den mathematischen Nachrichten bot jede Zeitung und jede Zeitschrift von Bedeutung schon seit Wochen Zukunftsvisionen von Experten mit bedeutendem und unbedeutendem Ruf. Vorausgesagt wurden Hochgeschwindigkeitszüge, die auf einer einzelnen Magnetschiene fuhren; Rocksäume sollten ganz unschicklich nach oben wandern; auf unterirdischen Gehsteigen würden sich Fußgänger geschützt vor der Witterung bewegen können; mehr Todesfälle durch aggressive Mannschaftssportarten; mehr »neue« Frauen mit akademischen Abschlüssen im Wirtschaftsbereich; eine bewaffnete, kugelförmige, dampfbetriebene »Aussichtskutsche« für die Besichtigung des afrikanischen Buschs; Deutschlands »Ausweitung wirtschaftlicher Interessen auf dem Orient«; übervölkerte Berghänge, weil die Massen den neuen Wintersport »Skilaufen« entdeckten; Fertigstellung eines Panamakanals, dessen Bau seit Jahren diskutiert wurde; weitere Attentatsversuche auf Könige und Präsidenten; Städte, die von oben überwacht wurden, und zwar von Polizisten, die in den Körben gasgefüllter Luftschiffe saßen; zunehmende Gefahr für die Zivilisation der Weißen durch »die gelbe Gefahr« oder wahlweise »schwindende Barbarei« dank des wohltuenden amerikanischen Einflusses; die Zerstörung des Planeten Erde und allen menschlichen Lebens durch Meteorsplitter aus dem Weltall. Die widersprüchlichen Vorhersagen für das 20. Jahrhundert wetteiferten mit den immerwährenden Trivialitäten des täglichen Lebens in ordentlich umrandeten und illustrierten Reklamebildern für Waschpulver, Handseifen, Mode, Gedächtnistrainingskurse, antiseptische Hutbänder (»Wohlgeruch für Ihren Hut!«), Maschinen, die mit Hilfe angeschirrter Hunde eine
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Milchzentrifuge betrieben (»Doppelte Hundekraft!«), elektrische Gesundheitsgürtel mit eingebauten Batterien (»Schafft schnelle Abhilfe bei allen nervösen und organischen Störungen, einerlei, ob sie auf natürlichen Schwächen, Unmäßigkeit oder Unvorsichtigkeit beruhen!«). Aber am letzten Tag des alten Jahrhunderts hielt die Welt nicht nur inne, um zu sinnieren, sondern auch um sich auszuruhen. Selbst auf der Titelseite der letzten Ausgabe der Tribune stand nichts Aufregendes geschrieben. Die Reisenden in einem Schlafwagenzug mußten sich in Colorado in Quarantäne begeben, weil ein Fahrgast an Pocken erkrankt war. Der Streit um das Sorgerecht für ein Kind in Kenosha, Wisconsin. Die Wettervorhersage für einen Kälteeinbruch am frühen Morgen bei wolkenlosem Himmel und Temperaturen unter minus zehn Grad. Überall fanden über die Feiertage große Ausverkäufe statt. Elstree warb zum Ende des Jahrhunderts mit preisgünstigem Geschirr, Glas und Steingut. An jenem Montagnachmittag wurde Paul von Familie und Freunden zum Gericht begleitet. Für den speziellen Anlaß hatte Paul einen neuen Leinenanzug mit abgerundeten Vorderschößen gekauft, dessen Jacke mit drei Knöpfen geschlossen wurde. Er fühlte sich schrecklich unwohl darin, weil er dazu einen hohen gestärkten Kragen und Manschetten tragen mußte sowie eine Fliege, die Julie für ihn gebunden hatte, bevor sie das Haus verließen. Die Fliege neigte sich bereits gefährlich nach unten, und der Knoten drohte aufzugehen. Julie war ihm sogar mit dem Kamm durchs Haar gefahren, aber vergeblich. Paul wußte, daß er einen unordentlichen Eindruck machte, aber das spielte keine Rolle, denn seine Frau sah bewundernswert aus. Sie trug ein maßgeschneidertes taubengraues Kostüm mit pelzbesetzten Ärmeln, einen dazu passenden Wintermantel und einen einfachen grauen Filzhut mit königsblauer Schleife. Er liebte sie mit ungeminderter Leidenschaft. Er liebte ihre Vornehmheit und ihre angeborene Freundlichkeit gegenüber anderen. Sie war intelligent und ausgeglichen. Ihre Gesundheit hatte sich stabilisiert. Sie ging täglich wenigstens drei Kilometer spazieren. Die Zeiten, in denen sie von Schwermut heimgesucht wurde, nahmen ab, und sie entwickelte auf ihre ganz bescheidene Art und Weise eine Selbständigkeit, die ihre Mutter entschieden abgelehnt hätte. Trotzdem war Julie ausgesprochen weiblich. Und sie trug elegante Kleider. Das gleiche konnte man von ihm gewiß nicht sagen. Jeder mit Ausnahme seiner Frau und seiner Familie nannte ihn Dutch, und in Dutchs
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Kleidern fühlte er sich am wohlsten. Inzwischen fühlte er sich auch wie Dutch. Er war dreiundzwanzig und besaß die Zuversicht eines jungen Mannes, der weiß, was er wert ist. Und das nicht ohne Grund. Doch heute war er sichtlich nervös, während er in dem Gerichtssaal mit den schmutzigen Scheiben wartete, durch die das kalte Dezemberlicht im schrägen Winkel hereinfiel. Die Anhörung sollte um zwei Uhr stattfinden. Die große, laut tickende Wanduhr zeigte zehn Minuten nach zwei. Er brauchte unbedingt eine Zigarre. Er und Julie wurden von einer ganzen Clique von Gratulanten begleitet. General Joe Crown saß in der ersten Besucherreihe hinter der Gerichtsschranke. Neben ihm saßen Tante Ilsa, Fritzi und Carl. Pauls Onkel war die Verkörperung des guten Republikaners. Er schwebte in gewisser Weise immer noch auf Wolken, weil McKinley und sein Mitkandidat Roosevelt sowohl Mr. Bryan wie auch den radikalen Sozialisten Gene Debs bei der Novemberwahl haushoch geschlagen hatten. Onkel Joe hatte für die Wahlkampagne der Republikaner im Staate Illinois viel Zeit geopfert und darüber hinaus viel Geld für die nationale Kriegsschatulle gespendet. Er war sich aufgrund seiner Großzügigkeit einer Einladung des Präsidenten zum Abendessen bereits gewiß und mehr als erfreut darüber, daß Paul mit dem zukünftigen Vizepräsidenten Roosevelt im Krieg Bekanntschaft geschlossen hatte. Pauls Tante hatte ihren Feldzug gegen alkoholische Getränke eingestellt. Sie hatte ihre Einstellung geändert, als sie erfahren hatte, daß ihr Mann seine drei Vertreter wieder eingestellt und noch einen vierten dazugekommen hatte. Es hatte eine heftige Auseinandersetzung gegeben, das wußte Paul von Fritzi. Diesmal hatte Onkel Joe nachgegeben und sich bereit erklärt, Dolph Hix und die anderen drei Männer bis auf weiteres zu versetzen; er machte sie zu Verkaufsleitern in Madison, Austin, Memphis und Pierre, South Dakota. Der zuletzt Eingestellte ging nach Pierre, South Dakota. Da diese Sache für den Moment geregelt schien, hatte sich Tante Ilsa einer neuen Aufgabe widmen können. Sie hatte einen Spendenaufruf organisiert, von dem Geld sollte im Mai 1899 ein Beobachter des Hull House zur ersten Weltfriedenskonferenz in Den Haag geschickt werden. Tante Ilsa brauchte solche Aufgaben; sie war einsam, seit die Kinder aus dem Haus waren. Paul aß zusammen mit Julie mindestens einmal in der Woche bei Tante und Onkel zu Abend, sofern er nicht unterwegs war. Dann ging Julie ohne ihn hin. Carl war in den Ferien von Princeton nach Hause gekommen. Tante Ilsa
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war es gelungen, die stete Abneigung ihres Mannes gegen Menschen und Institutionen des Ostens zu mildern und ihn davon zu überzeugen, daß es keine bessere Erziehung für ihren Sohn gab. Carl war achtzehn und hatte extrem breite Schultern, was einem Jungen, der den mörderischen, manchmal sogar tödlichen Sport Football betreiben wollte, ausgezeichnet zustatten kam. Eine großzügige Spende von Joe hatte die Prüfungskommission ebenfalls großzügig über Carls schwache schulische Leistungen hinwegsehen lassen. Fritzi, die in fünf Tagen ihren zwanzigsten Geburtstag feiern würde, hatte sich ein paar Tage von ihrer Theatertruppe freigenommen und war von Albany, Georgia, nach Hause geeilt. Sie war auf Tournee mit Mortmain’s Royal Shakespeare Combination. Der Gründer und Leiter der Gruppe war ein alternder Schauspieler, der sich Ian Mortmain nannte; geboren war er als Ezra Cooler in Montgomery, Alabama. Fritzi meinte, sie absolviere bei ihm lediglich ihre »Lehrzeit« und werde schon bald mit besseren Truppen und an besseren Theatern spielen. Fritzi war Mädchen für alles, stellvertretende Gewandmeisterin, zeitweilig Köchin und gelegentlich Schauspielerin. Sie spielte eine der Hexen in dem »schottischen Stück« (sie weigerte sich, den Namen laut auszusprechen, wie so viele andere abergläubische Schauspieler auch), aber ihre wichtigste Rolle war die der Viola in Twelfth Night. Onkel Joe und Tante Ilsa waren bis nach Owensboro, Kentucky, gefahren, um sie auf der Bühne zu sehen. Onkel Joe war nach wie vor gegen den Beruf, doch er verkündete stolz, daß seine Tochter hervorragend spiele, und spendete den meisten Applaus. Fritzi war laut eigener Aussage »von Neid erfüllt« auf Paul, weil er das Theater in Londons West End besucht hatte, während er im Herbst 1899 auf die Genehmigung seiner Reise nach Südafrika durch das Kriegsministerium wartete. Am Prince-of-Wales-Theater hatte er nicht nur einen, sondern gleich drei der berühmtesten englischen Schauspieler gesehen, Mr. Forbes Robertson, Mr. Gerald du Maurier und Mrs. Patrick Campbell in einer neuen Komödie. Und jetzt saßen sie alle hier in diesem Gerichtssaal, obwohl alle verschiedene Wege eingeschlagen hatten und ihr Leben sich in den letzten zwei Jahren entschieden verändert hatte. Nur ein Platz blieb leer: der von Vetter Joe. Paul wünschte, daß auch Joe bei ihnen sein könnte, aber er blieb verschollen, und sein Name wurde nur selten erwähnt. Das Thema war zu traurig, vor allem für Tante Ilsa. Im Saal Platz genommen hatten außerdem Pauls Freunde und Mentoren. Oberst Shadow war anwesend, er duftete vorzüglich nach
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Pimentrasierwasser und teuren Zigarren. Mary Beezer trug ihr bestes und auffälligstes Kleid. Sie und der Oberst waren, immer noch unverheiratet, aus Levee in einen Stadtteil gezogen, der einem aufstrebenden und erfolgreichen Geschäftsmann in dem neuen Filmmedium besser anstand. Sie hatten eine Sechs-Zimmer-Suite im obersten Stock des Allerton Hotels in der vornehmen North Michigan Avenue oberhalb des Flusses gemietet. Shadow befand sich in einer Übergangsphase. Er interessierte sich immer weniger für die Herstellung und Ausstattung von Projektoren mit Vorführern zu einem Mietpreis von achtzig Dollar pro Woche, dafür aber zunehmend für die Herstellung und Verleihung eigener Filme zum Preis von siebzehn Cents pro dreißig Zentimeter. Aber er war immer noch ein Tüftler. Bevor Paul nach Übersee abgereist war, um den Krieg zwischen England und den aufständischen Buren in Südafrika zu filmen, hatte Shadow ihn mit einer neuen Luxograph ausgestattet. Die Kamera besaß eine Halterung für auswechselbare Objektive und eine verstellbare Plattform mit Hebel, so daß sie für Panoramaansichten gleichmäßig von einer Seite zur anderen geschwenkt werden konnte. Die besseren Aufnahmen, die mit dem neuen Modell möglich waren, hatten ihren Preis. Die Kamera wog fünfzehn Kilo, mehr als die, die Paul auf die Anhöhe San Juan hinaufgetragen hatte. Neben Shadow und Mary rutschte Ollie Hultgren unruhig hin und her; er war der Assistent, der Jim Daws ersetzt hatte und Paul seit Sommer 1899 auf seinen Reisen begleitete. Ollie kam aus Schweden; er war zwanzig Jahre alt, schlank und hatte ein schmales Gesicht, lockiges blondes Haar und blaue Augen, die mitunter leicht lila schimmerten. Er war sanftmütig, ein treuer Freund und flinker Assistent, der das Zeug hatte, eines Tages selbst Kameramann zu sein. Paul hatte Shadow bereits darauf hingewiesen. Die auffälligste Erscheinung an diesem kalten und zugigen Nachmittag war Julies Tante. Über ihrem leuchtenden Rock trug Miss Fishburne einen kurzen, enganliegenden grellroten Mantel – sie bezeichnete ihn als »Pariser Automobilmantel« –, dazu einen mit Federn geschmückten schwarzen Hut und einen zusammengerollten schwarzen Schirm. Ihren teuren schwarzen Pelzmantel aus baltischem Seehundfell hatte sie über einen der nahen Stühle geworfen. Der wohl ungewöhnlichste Besucher, zumindest für Paul, war Wexford Rooney. Wex hatte zusammen mit seiner stämmigen, energischen Frau Lucille die ganze Nacht im Zug gesessen. Sie war die ehemalige Witwe Suggsworth aus Charleston, West Virginia. Sie hatte ihre Pension verkauft, um ihrem Mann ein neues Photostudio in Lexington, Kentucky, einzurichten. Wex behauptete, das Studio sei sehr erfolgreich, obwohl Paul
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nicht verstand, wie man in einem Ort erfolgreich sein konnte, in dem es vor allen Dingen Pferde gab und ansonsten nur Männer, die auf alles wetteten, angefangen von der Geschwindigkeit Zweijähriger bis zur Genauigkeit ihrer Uhren. Wex hatte sich nicht näher darüber ausgelassen. Wex sah aus wie ein Mann, dem es gutging. Sein grüner Anzug war von bester Qualität. Seine Wangen glänzten, seine Augen funkelten, er strahlte über das ganze Gesicht wie ein Schneekönig neben Lucille, die einen ganzen Kopf größer war und entschieden breiter. Bisher hatte Onkel Joe kaum ein Wort mit Wex oder Shadow und ihren Begleiterinnen gewechselt. Paul stand auf. Er öffnete das Türchen der Gerichtsschranke, trat auf die Seite des Richters, sah auf das leere Podium und dann auf die Uhr. Er kam zurück und setzte sich wieder. Julie legte ihre behandschuhte Hand auf die seine. »Er wird sicher gleich kommen, mach dir keine Sorgen.« Er strich ihr zärtlich über den Arm, um ihr zu danken. Sie war der Sonnenschein in seinem Leben. Seine einzige Sorge bestand darin, daß er aufgrund seiner Arbeit nicht oft genug bei ihr sein konnte. Sie hatte ihr Leben darauf eingestellt. Sie wohnten in einer sonnigen Wohnung im ersten Stock eines zweistöckigen Mietshauses in der baumreichen Paulina-Straße des angenehmen Vororts Ravenswood. Das Haus war nur zwei Straßen vom Bahnhof der Chicago and Northwestern Railway entfernt, einer Eisenbahngesellschaft, deren Züge in kurzen Abständen in die Stadtmitte fuhren. Ravenswood war der ideale Wohnort für eine junge Familie, deren Ernährer in der Stadt arbeitete. Julie hatte sowohl Belle Mer wie auch Elstrees Stadthaus zu einem guten Preis verkauft. Sie hatte nur ein kleines Sommerhäuschen am Ostufer des Michigan-Sees behalten, das Paul jedoch, weil er so oft verreist war, noch nie gesehen hatte. Er war stolz auf sie, weil sie sich langsam und mit sehr viel Überlegung von den Elstree-Millionen trennte. Es würde Jahre dauern, vielleicht sogar Jahrzehnte, denn die riesigen Gewinne aus den Warenhäusern flossen alljährlich wieder dem Vermögen zu. Julie war eine Anfängerin in Sachen Philanthropie. Nach reiflicher Überlegung hatte sie an Andrew Carnegie geschrieben, der ihr der beste Berater in Sachen Schenkungen schien; Andrew Carnegie hatte sie daraufhin in sein Haus nach Schottland eingeladen. Während Paul im letzten Herbst in Texas war, hatte sie auf einem Dampfer den Atlantik überquert und war dann mit dem Zug von London aus zu einem der zahlreichen Häuser der Carnegies gefahren, nach Skibo Castle, wo er sich
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am liebsten aufhielt. Es lag am Dornoch Firth im wilden, schönen Norden. Der unglaublich reiche »Gutsherr von Skibo« beriet Julie zwei ganze Tage lang. »Er vertritt die Meinung, daß ein Reicher, der mit seinem ganzen Geld stirbt, ein Sünder ist. Ein schlechter Bewohner dieser Welt. Er widmet sich vielen Dingen, aber am wichtigsten sind ihm die Bewegung für den Weltfrieden und der Bau von Bibliotheken. Als Schuljunge in Schottland durfte er zusammen mit anderen Arbeiterkindern die Privatbibliothek eines Adligen benutzen. Aus dieser Zeit stammt sein Wissensdrang und seine Liebe zu Büchern. Er und seine Familie sind vor fast fünfzig Jahren nach Amerika ausgewandert. Und schau nur, was er aus seinem Leben gemacht hat! Als er mich beim Abschied persönlich zur Kutsche begleitete, küßte er mir die Hand und nannte mich eine empfindsame, stolze Frau – mit Selbstvertrauen. Vielleicht bin ich endlich und wirklich aus der Dunkelheit getreten und ein eigenständiger Mensch geworden.« Paul versicherte ihr, daß dem so sei. Ihre Mutter sah Julie nie; sie hörte auch nie von ihr. Nell Vanderhoff war vor mehr als einem Jahr von ihrer »Nervenkur« aus Kalifornien zurückgekehrt. Kurz danach hatten die Anwälte der Vanderhoffs Julie wissen lassen, daß ein neues Testament aufgesetzt worden war, das sie vom Erbe ausschloß. Wex hatte sich zu Shadow gesetzt, um sich mit ihm angeregt über Photographie zu unterhalten. Neben dem Podium öffnete sich nun eine Tür. Paul sprang auf, als ein untersetzter Mann mit roter Knollennase mit einem Ordner, einer Bibel und einer Akte unter dem Arm den Saal betrat. Er trug einen schlecht sitzenden Anzug, keine Robe. Bloß ein Gerichtsschreiber. Enttäuscht setzte sich Paul wieder hin. Der Mann legte den Ordner auf das Podium des Richters und nahm dann an dem Tisch davor Platz. Er schlug seine Akte auf und tauchte seine Feder in die Tinte. Endlich geruhte er, die Anwesenden auf der anderen Seite der Gerichtsschranke zur Kenntnis zu nehmen. »Leute, Richter Müller wird jeden Moment hiersein. Er ist bereits im Haus. Er ist nach dem Mittagessen im Verkehr steckengeblieben. Mr. Crown, wo sind Sie?« »Hier«, antwortete Paul stehend. Mit gebieterischer Geste winkte der Schreiberling ihn näher. »Treten Sie bitte vor. Wir müssen die Angelegenheit schnell hinter uns bringen –« »Nachdem wir hier seit zwanzig Minuten warten«, brummte der General in Richtung Ilsa. »– wir schließen um vier, wegen der Feiertage.« Der Angestellte lehnte
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sich zurück und fuhr an seinem Revers auf und ab; es war unverkennbar, daß er seine Macht genoß. Paul war Julie zuliebe an diesem bitterkalten Nachmittag in diesem Gerichtssaal. Sie war im dritten Monat schwanger. Sie hatten sich seit Beginn ihrer Ehe, die in einer standesamtlichen Trauung im Oktober vor zwei Jahren geschlossen worden war, ein Kind gewünscht. Da Paul jedoch häufig und oftmals ganz plötzlich verreisen mußte und oft lange fortblieb, standen die Chancen schlecht. Außerdem hatte sich Julie Sorgen gemacht, weil sie das Kind von ihrem ersten Mann verloren hatte. Aber schließlich hatten sie doch Erfolg gehabt. In einer schneeweißen Nacht Anfang Dezember hatten sie in ihrem Wohnzimmer vor dem Kamin gesessen, während draußen vor dem großen Fenster zur Paulina-Straße der Schnee heruntergerieselt war. Sie hatten sich an den Händen gehalten und sich mit leisen Stimmen über die Freuden der Elternschaft unterhalten. Obwohl das Wohnzimmer ziemlich groß war, wirkte es gemütlich, denn Julie hatte es nach viktorianischer Manier mit Möbeln vollgestellt. Eins der wichtigsten Stücke war ein Regal aus Rosenholz, in dessen Fächern Pauls wachsende Andenkensammlung Platz fand. Und der Globus, den jetzt viel mehr dunkelrote Emaillepunkte zierten. Tampa, Kuba, Ägypten, der Suezkanal, Südafrika, Texas, Paris, London – es sah allmählich so aus, als hätte die Welt die Masern bekommen. Ein besonderes Andenken hing jedoch allein zwischen Kamin und Regal an einer Stelle der Wand, auf die der Blick ganz unwillkürlich fiel: die linke Hälfte der Stereoskopkarte, die Julie zu Pauls dreiundzwanzigstem Geburtstag im Juni hatte rahmen lassen. Die Flammen tanzten und verzehrten das Holz eines Apfelbaumes, das einen wohlriechenden Duft verbreitete. Paul hatte zwei Flaschen des guten Crown-Biers getrunken und fühlte sich wohl und behaglich. Auf dem Victor-Grammophon, das noch aus Belle Mer stammte, erklangen die leisen Töne von Julies Lieblingsstück, das sanfte und unwiderstehliche Negerspiritual – Thema aus Dvoráks Fünfter Symphonie. »Paul.« »Mmmm?« »Ich bitte nicht gern um etwas. Du weißt, daß es nicht oft vorkommt.« »Nein, das letzte Mal handelte es sich, wenn ich mich recht erinnere, um eine einfache Bitte im Zusammenhang mit einer Schere.« »Die heutige Bitte verlangt dir etwas mehr ab. Aber es ist sehr wichtig für mich.« »Also raus damit.«
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»Gleich, ich will dir zuerst noch etwas sagen.« Sie holte Luft. »Ich kenne deine Gefühle. Ich weiß, daß das Angebot von diesem englischen Adligen sehr verlockend ist. Aber falls wir hierbleiben sollten, möchte ich, daß unser Sohn oder unsere Tochter amerikanische Eltern hat. Zwei.« Während er die Neuigkeit verarbeitete, schaute er auf das gerahmte Bild mit dem Schiffsbug und der Freiheitsstatue, die die Welt erleuchtete … Und nun stand er hier im Gerichtssaal. Der Schreiberling feilte seine Nägel. Die Wanduhr tickte laut. Carl verschränkte die Arme und blickte sich um, während er den bekannten Schlager Ragtime Rose vor sich hin pfiff, der das ganze Land erobert hatte. »Bitte sei still, ich lese«, sagte Fritzi, ohne von ihrer Lektüre aufzublicken. Onkel Joe beklagte sich laut über die Menschen, die nicht pünktlich sein konnten. »Und dabei ist er Deutscher! Es ist wahr, er wohnt auf der Nordseite.« Tante Ilsa murmelte beruhigende Worte. Im Gerichtssaal wurde es immer kälter. Um zwei Uhr fünfunddreißig öffnete sich die Seitentür, und der ehrenwerte Richter Jacob Müller des ordentlichen Gerichts rauschte in den Saal, während er den Chicagoer Verkehr mit einer Stimme in Grund und Boden verdammte, die man eher auf dem Viehhof vermutet hätte. Der Richter ließ sich zwischen der amerikanischen Flagge und den Fahnen des Staates und der Stadt auf seinen Stuhl fallen. Er war eine halbe Minute damit beschäftigt, seine Robe zurechtzurücken. Paul, der vor dem Podium stand und sich plötzlich seiner Sache nicht mehr sicher war, würdigte er keines Blickes. Aus der Müllerstraße in Berlin zu Richter Müller in Chicago. Von Pauli zu Dutch. Welch eine Reise … Die Ehe mit Julie und ihr gemeinsames Leben in ihrer Wohnung hatten die Reise nicht wirklich zum Ziel geführt, nicht so, wie er es sich erwartet und erhofft hatte. Er wartete immer noch auf ein Zeichen, auf das Zeichen, von dem die alte Frau Flüsser in Berlin einst gesprochen hatte. Er wußte weder, woher es kommen sollte, noch wie er es erkennen sollte. Aber er brauchte es, um die alten und quälenden Fragen seiner Kindheit zu vertreiben, um das Ende dieser Reise zu finden, wenngleich er sicherlich in seinem Leben noch viele vor sich hatte. Er wagte nicht, seiner Frau davon zu erzählen, wagte nicht, ihr zu sagen,
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daß er, obwohl der glücklichste aller Ehemänner, immer noch auf offener See trieb, steuerlos, ohne Karte, ohne Licht, ohne Kompaß – Kein Zeichen, das ihn wissen ließ, wohin er gehörte. Der ehrenwerte Richter Jacob Müller klemmte sich seinen Kneifer ins Auge, schlug den Ordner auf und überflog Pauls Antrag. Dann blickte er von seinem Podium herab. »Sie sind Mr. Crown?« »Ja, Euer Ehren.« »Ich bin bereit, Ihre Erklärung zu hören. Gerichtsschreiber, bitte.« Der Schreiberling verließ mit der kleineren Akte seinen Tisch. Der Richter sagte: »Legen Sie die linke Hand auf die Bibel, und heben Sie bitte die rechte Hand, Sir.« Paul gehorchte. Er schluckte mehrmals, aber der Kloß in seinem Hals wollte nicht weichen. »Paul Crown, schwören Sie hiermit vor diesem Gericht, daß es Ihre freie Entscheidung ist, Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden?« »Ja.« »Ein bißchen lauter, bitte.« »Ja. Ja.« »Schwören Sie weiterhin, daß Sie für alle Zeiten der Gehorsamspflicht gegenüber allen ausländischen Herrschern und Monarchen, in diesem Fall insbesondere der Gehorsamspflicht gegenüber Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. von Deutschland entsagen, da Sie zur Zeit noch Bürger besagten Landes sind?« »Ja.« Die Feder des Richters kratzte. »Geschworen und zu Protokoll genommen.« Der Richter legte seine Feder zur Seite, setzte seinen Kneifer ab, schoß von seinem Stuhl hoch und beugte sich hinunter zu Paul, um ihm die Hand zu schütteln. »Ich gratuliere, Mr. Crown. Wir sehen uns wieder in zwei Jahren, dann wird es rechtskräftig.« Seit 1898 war der Weg Pauls, der ihn in den letzten Stunden des alten Jahrhunderts in diesen Gerichtssaal geführt hatte, interessant, verschlungen und zuweilen äußerst gefährlich gewesen. Shadows Appetit nach »Tatsachenberichten« war durch die Filme des spanischen Kriegs nur angeregt worden. Er hatte auch begriffen, daß das Geld, das er aufwandte, um ein Kamerateam in einen entlegenen Teil der Welt zu schicken,
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letztendlich unglaubliche Zinsen brachte, auch wenn es zuerst den gegenteiligen Anschein hatte. Paul mußte längst nicht mehr über jeden Pfennig Rechenschaft ablegen. Jedesmal, wenn Paul darüber nachdachte, wie viele Erfahrungen er in seinem dreiundzwanzigjährigen Leben bereits gemacht hatte, wurde er ganz ehrfürchtig. Der spanische Krieg war lediglich der Anfang gewesen. Als Admiral Dewey im September 1899 im Triumph in den New Yorker Hafen einfuhr, filmten Paul und Ollie Hultgren sein Schiff Olympia von einem schaukelnden Schlepper aus. Am gleichen Tag mußte Paul, während dem Admiral vor dem Rathaus für seine Verdienste ein Schwert verliehen wurde, Dollarscheine austeilen, um sich einen Weg durch die riesige Menge zu bahnen, damit er und Ollie die Feier auf Film festhalten konnten. Der Admiral warf ihm mehrere unwillige Blicke zu; Dewey haßte alle Photographen. Als Konkurrenten von Albert Smith von der Vitagraph in New York segelten Paul und Ollie, als im Herbst ‘neunundneunzig der Krieg ausbrach, nach England. Zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken schwelten schon seit langem Konflikte, weil sich die Buren der britischen Herrschaft nicht unterordnen wollten, aber zum endgültigen Ausbruch des Krieges kam es schließlich wegen der reichen Goldvorkommen in und um Johannesburg. Die Goldbergwerke am Witwatersrand wurden zum größten Teil von ihren Besitzern von London aus kontrolliert. Vorausgegangen war dem Krieg ein Ultimatum von Präsident Paul Kruger, mit dem er die Briten aufforderte, bis zum 11. Oktober 1899 alle Truppen abzuziehen. Großbritannien reagierte mit einer sofortigen Verstärkung seiner Truppen an den Grenzen. Der Termin verstrich. Am 12. Oktober wurden die ersten Schüsse abgegeben. Auf dem Weg nach Südafrika lernte Paul während seines kurzen Aufenthalts in London endlich Michaels Schwiegervater kennen. Michael befand sich bereits im Auftrag des London Light in Südafrika. Ein unglücklicher Zufall hatte ihn nach Mafeking, eine unbedeutende Stadt ungefähr dreizehn Kilometer innerhalb der westlichen Grenze Transvaals, geführt, wo er Oberst Robert S.S. Baden-Powell, den Kommandanten des Schutzregiments von Bechuanaland interviewte. Man hatte es nach Krugers Ultimatum eiligst nach Mafeking versetzt. Als der Krieg ausbrach, wurde die Stadt und mit ihr der überraschte Baden-Powell und Michael von fünftausend Buren eingeschlossen. Paul erfuhr all dies von Lord Yorke in dessen grandiosem Büro im obersten Stockwerk des Light-Gebäudes in der Fleet Street. Lord York erklärte, daß Mafeking plötzlich strategische Bedeutung erlangt hatte, weil
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es an der Eisenbahnstrecke nach Bulawayo im nördlich gelegenen Rhodesien lag. Während des Truppenaufbaus waren große Mengen an militärischem Nachschub nach Mafeking transportiert und dort eingelagert worden. Aus diesem Grund war eine winzige Stadt mit fünfzehnhundert weißen und ungefähr fünftausend schwarzen Bewohnern ein wichtiges Ziel für die Buren. Michael hatte das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Lord Yorke klang, während er Paul all dies berichtete, alles andere als erfreut; er schien den Krieg seines Landes zu verurteilen. Er wechselte das Thema. Pauls Ruf sei ihm vorausgeeilt, sagte er. Nachdem Lord Yorke Paul eine halbe Stunde lang befragt hatte, bot er ihm ein enormes Gehalt an, wenn er nach London käme und eine Filmabteilung für ihn auf die Beine stellte. Lord Yorke sah aus wie ein Frosch und sprach wie ein Engel mit einer sonoren Stimme, die ganz im Gegensatz zu seinen Hängebacken, seinen hervorstehenden Augen und seinem pomadisierten schwarzen Haar stand. Paul konnte den Schmeicheleien kaum widerstehen, mit denen ihn Yorke zuerst in seinem Büro, dann an seinem Mittagstisch im Reform Club in Fall Mall und schließlich beim Abendessen im Café Royal überschüttete. »Sie müssen nach England kommen«, drängte ihn Lord Yorke immer wieder. »Meine Frau ist in Amerika. Und ich gehöre auch dorthin, Sir.« Das behauptete er zwar, aber tief drinnen nagte immer noch der Zweifel. Als er wieder in Chicago war, erzählte er Shadow nichts von dem Angebot, nur Julie. Sie meinte dazu: »Möchtest du gehen?« »Ein Teil von mir möchte schon. Aber ihr seid mir wichtiger. Du und unser Kind.« »Für mich ist wichtig, daß du glücklich bist, Paul.« Er lächelte, sagte jedoch nichts. Selbst jetzt, in dieser Minute, und obwohl er ihrem Wunsch am Kamin entsprochen und die Absichtserklärung abgegeben hatte, war er sich seiner Sache verdammt unsicher. Nachdem Paul und Ollie die Genehmigung zur Einreise in Südafrika erteilt worden war, hatten sie eine Schiffskarte für einen kleinen griechischen Frachter gekauft, der von Tilbury an der Themse auslaufen sollte. Sie verließen das Schiff am 12. Dezember 1899 in Durban, Südafrika. Und wem sollte Paul direkt am folgenden Tag auf einer mit Mist bedeckten Straße in die Arme laufen? Keinem anderen als Dick Davis in glänzenden Stiefeln und Kavalleriehosen, einer doppelreihigen blauen Jacke, mit Krawatte und dem unvermeidlichen hohen weißen Tropenhelm mit Nackenschutz. Davis jubelte und umarmte Paul und lud die beiden
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Kameramänner zum Abendessen ein. Ollie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus – denn zu allem Überfluß deutete Davis auf einen schnurrbärtigen Zivilisten, der mit zwei Armeeoffizieren beim Essen saß. »Dr. Conan Doyle, Mr. Sherlock Holmes höchstpersönlich. Er ist hier, um Krankenhäuser einzurichten; gleichzeitig verfaßt er ein paar Kriegsberichte. Nachdem ich ein paar gelesen habe, bin ich der Meinung, er sollte besser bei den Romanen und der Medizin bleiben.« Jede Bewegung im Kriegsgebiet wurde von der Armee strengstens überwacht; außerdem wurde jede Zeile jedes Journalisten, die das Land verließ, zensiert. Jeder Bericht durfte sich nur positiv über die Krone und ihre militärischen Aktionen äußern. Mit Genehmigung mieteten sich Davis, Paul und Ollie einen zweispännigen Lastkarren und dazu zwei dunkle Kafferjungen – einen fürs Kochen und den anderen für die Pferde. Sie fuhren zunächst nach Pietermaritzburg, dem Stützpunkt General Bullers, und von dort mit einem Waffenzug weiter in nordwestlicher Richtung nach Colenso. Paul trug eine Mauser-Pistole im Gürtel, die er in Durban gekauft hatte; Davis hatte ihm dringend dazu geraten. Nach zweistündiger Fahrt wurde der Zug von einem Dutzend berittener Burenschützen angegriffen. Paul und Ollie spielten auf einem Schrankkoffer im Gepäckwagen Karten, als die Buren von einem Hügelkamm auf sie zugeritten kamen. Schon beim ersten Schuß rollte sich Ollie zur Tür und drückte das Stativ fest auf den wankenden, unsteten Boden, während Paul kurbelte. Ein junger Bure, der sein Pferd nur mit den Beinen lenkte, ritt so nahe am Zug, daß Paul die graue Iris seiner Augen sehen konnte. Der junge Mann zielte direkt auf die Kamera. Glücklicherweise rumpelte der Zug so stark, daß die Kugel wenige Zentimeter über Pauls Kopf hinwegpfiff. Paul zog seine Pistole. Als der Bure das sah, suchte er das Weite. Die Offiziere, die dem Angriff mit Handfeuerwaffen entgegenhielten, konnten die Angreifer schließlich abwehren, hatten dabei jedoch zwei Tote zu beklagen. Paul und Ollie trennten sich schließlich von Davis und ritten auf Pferden mit ihrem Lastkarren und den zwei Kafferjungen weiter. Sie filmten einen Teil der Schlacht bei Spion Kop, der höchsten Erhebung einer Hügelkette, als Buller versuchte, den Fluß Tulega zu nehmen, und zurückgeschlagen wurde. Es herrschte viel Verwirrung während der Schlacht, und Paul und Ollie ritten weiter, bevor sie zu Ende war. Paul wollte auf keinen Fall riskieren, daß ihre Ausrüstung konfisziert wurde, weil sie die Briten bei einer Niederlage gefilmt hatten. Wieder begegneten sie Davis. Er war auf dem Weg an die Front. Von ihm erfuhren sie, daß sie ein Stück weiter westlich auf ein Burenlager
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stoßen würden. Die Buren verhielten sich gegenüber neutralen Journalisten freundlich, denn sie hofften auf Verständnis für ihren Kampf. Davis hatte sie kennengelernt und seine anfänglich schlechte Meinung über sie geändert. »Mir scheint, sie sind erklärte Idealisten. Grausam vielleicht, aber keineswegs grausamer als ihr Feind. Sie leben einfach, und sie geben vor, nur eines zu wollen: dem Joch des Empires zu entkommen. Den Zensoren gefällt seit neuestem gar nicht, was ich über die Buren schreibe. Aber die sind mir egal.« Paul, Ollie und die Jungen hatten keine Mühe, das Lager mit den ungefähr einhundert Männern, fünfzig Pferden und ein paar kleinen Feldgeschützen zu finden. Sie bildeten eine von vielen ähnlichen Einheiten, die alle unabhängig operierten, nach eigenem Gutdünken ausrückten und angriffen. Sie nannten es »Reiten nach Kommando«. Ihr Anführer, Hauptmann Christiaan Botha, war ein schlanker Mann mit sonnengebräunter Haut, langem Bart und einem breitkrempigen Hut mit einer Feder am Hutband. Seine Uniform war anders als alle, die Paul bisher gesehen hatte; sie bestand aus sandfarbenen Stiefeln und Hemd und Hose in einem gedecktem Grün, der Farbe der Blätter in einem Wald ohne Regen. Ein riesiges Messer baumelte am Gürtel des Hauptmanns. Ein MauserGewehr und zwei volle Patronentaschen lagen auf seinem Feldbett. Hauptmann Botha bot seinen Gästen ein ausgezeichnetes Mahl und erzählte hinterher ziemlich freimütig, um nicht zu sagen, selbstgefällig: »Wir nehmen an, daß Ihre Majestät bis Frühjahr fast fünfhunderttausend ihrer besten Soldaten in dieses kleine Land schicken wird. Uns stehen dagegen vielleicht insgesamt achtzigtausend Männer zur Verfügung, von denen nie mehr als vierzigtausend auf einmal im Einsatz sein können. Wie kommt es, daß eine kleine Zahl von Bauern es wagt, das mächtigste Reich der Welt herauszufordern? Ich werde es Ihnen verraten. Erstens kämpfen wir für unsere Heimat. Und zweitens sind wir auf Pferderücken geboren und groß geworden. Wir sind in der Lage, uns wie fließendes Wasser auf diesem Boden zu bewegen, den wir so gut kennen wie uns selbst. Alles, was die Soldaten der Königin tun können, ist, nach gelernter Manier Aufstellung zu nehmen und die Taktiken anzuwenden, die sie auf der Kriegsschule gelernt haben. Wir schlagen sie schon den ganzen Winter, überall. Und so werden wir es auch in Zukunft halten – so ähnlich wie die Amerikaner, die die Rotröcke geschlagen haben, weil sie so dumm waren, Bunker Hill hinaufzumarschieren, die Anhöhe, wo die Aufständischen mit ihren Musketen auf sie warteten, die mit dem Eifer für ihre Sache geladen waren. Und jetzt ein Vorschlag. Hätten Sie Lust, ein Zulu-Dorf zu besuchen?«
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Hauptmann Christiaan Botha führte sie zu Pferd, nur von einem Untergebenen begleitet. Paul und Ollie bekamen es mit der Angst zu tun beim Anblick der großen, kräftigen Zulu-Krieger, die mit Speeren und Schilden auf sie zukamen. Botha brachte die beiden zur Hütte des Häuptlings. Es war vier Uhr, und in der Hütte, in der es nicht sonderlich gut duftete, deutete der Häuptling stolz auf ein glänzendes silbernes Teeservice auf einem polierten Teewagen. »Großer Gott«, flüsterte Ollie Paul zu. »Ich glaub’, ich träume.« Der Häuptling verstand natürlich kein Wort von dem, was Ollie sagte. Christiaan Botha versicherte ihm, daß er richtig sah. In dem Versuch, den Zulu-Stamm zu zivilisieren, hatte die britische Regierung den Söhnen bestimmter Häuptlinge eine Ausbildung in Oxford ermöglicht. Viele waren anschließend mit englischer Kleidung, englischen Büchern und allerhand anderen in England erworbenen Gegenständen nach Afrika zurückgekehrt, obwohl der Zivilisierungsprozeß als solcher gescheitert war. Der Sohn dieses Häuptlings war einer von jenen, die eine Zeitlang die englische Universität besucht hatten. Die Besucher saßen im Schneidersitz auf dem Boden und tranken Tee. Der Häuptling trug einen seidenen Zylinder, der ihm bei einem Besuch in der Oper alle Ehre gemacht hätte, und erwies sich als angenehmer Zeitgenosse. Auf Bitten der Gäste befahl er seinen jungen Kriegern, mit Schilden und Speeren vor der Kamera zu tanzen. Paul kurbelte. Wenn die Aufnahmen etwas wurden, hatte er wunderbares Material im Kasten. Die Belagerung von Mafeking wurde durch Ablösungstruppen Anfang März des Jahres 1900 durchbrochen. Michael war bereits beim ganzen britischen Oberkommando sowie im Kriegsministerium berühmt-berüchtigt wegen der feindseligen Berichte, die er aus der belagerten Stadt geschmuggelt hatte. In dem Augenblick, als die Belagerung aufgehoben war, wurde er außer Landes verwiesen. Er reiste zunächst nach Paris, da ihn sein Schwiegervater darauf hingewiesen hatte, daß er damit rechnen müsse, in London verhaftet zu werden, wenn er zu früh zurückkehrte. Während Ollie mit der leicht ramponierten Kamera und der restlichen Ausrüstung nach Amerika zurückfuhr, reiste Paul mit einem anderen Schiff nach Marseille, um seinen Freund zu besuchen. Ganz Europa war in Aufruhr! Es war das Jahr der heftigen Streiks. Stahlarbeiter in Wien. Glasarbeiter in Belgien. Feldarbeiter in Böhmen. Deutsche und belgische Kohlengrubenarbeiter. Paul wurde das bedrückende Gefühl nicht los, daß hundert Geister von Benno Strauss den Kontinent heimsuchten und zum Klassenkampf aufriefen.
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In Paris besuchte er drei Vorstellungen von Cinderella, dem neuesten Film von Georges Méliès, einem ehemaligen Zauberer und Mitarbeiter des großen Illusionisten Robert Houdin. Jetzt zauberte Méliès Illusionen auf die Leinwand. Sein neuester Film war mehr als einhundert Meter lang mit sechstausendvierhundert Einzelbildern. Wahrscheinlich der längste Film in der bisherigen Filmgeschichte. Paul und Michael waren wieder einmal während einer großen Ausstellung, der Pariser Ausstellung, vereint, für die man die Stadt verschönt und die Metro gebaut hatte. Zwei der größten und am meisten besuchten Ausstellungen waren die der Waffenhersteller. SchneiderCreusot zeigte Kanonen mit großer Reichweite, Vicker-Maxim eine Sammlung von Schnellfeuergeschützen. Und wieder einmal besuchten die beiden Freunde einen russischen Pavillon, wo sie in einem originalgetreu nachgebauten Wagen der Transsibirischen Eisenbahn fuhren. Vor den Fenstern flogen Weizenfelder und hübsche Bauernkaten vorbei, Bilder auf einer rotierenden Leinwand. Michael gab wie immer den Ton an. Jedesmal, wenn ein Angestellter seinen Kopf hereinstreckte, um sie mit schnoddriger Stimme wissen zu lassen, daß sie den nächsten Fahrgästen Platz zu machen hatten, winkte er nur und antwortete barsch auf russisch: »Lassen Sie uns in Ruhe, und schließen Sie die verdammte Tür.« Dann erzählte er weiter von Mafeking. »Mafeking symbolisiert die ganze Misere der Menschheit«, erklärte Michael. »Das Versagen der Menschen, das Versagen von Organisationen und Regierungen. Mafeking ist ein gottverdammtes Nest voller Blechdachhütten, schmutziger Straßen und einer abscheulichen Hitze, in der Hunde und Hühner Amok laufen. Zweihundertsiebzehn Tage hielten sie uns dort gefangen, kannst du dir das vorstellen? Als sie das Feuer nach etlichen Wochen schließlich einstellten, waren die Buren von fünftausend auf fünfzehnhundert Mann zusammengeschrumpft. Unser ehrenwerter Kommandant hat in seinen Berichten jedoch viel mehr daraus gemacht; als wir endlich rauskamen, waren es an die fünfzehn- bis sechzehntausend. Wundert es dich da, daß Baden-Powell der Held des Empires ist? Gleich zu Anfang trommelte er die Journalisten zusammen, um uns bezüglich Vorgehensweise und Erwartungen zu instruieren. Er werde höchstpersönlich alle Berichte überprüfen und, wenn nötig, zensieren. Keine Kritik an der Handhabung der Belagerung und seinen Offizieren würde weitergegeben oder toleriert werden. Während der Belagerung wurde die Telegraphenverbindung kein einziges Mal unterbrochen; warum, weiß ich nicht, ich kann es mir nur so erklären, daß die Buren ein zivilisiertes
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Volk sind. Es war eine seltsame Gefangenschaft. Die Artillerie der Buren war weder zahlreich, geschweige denn gut. Eine große Belagerungskanone, Big Ben, sowie ein paar alte Messingkanonen, die gerade ausreichten, um uns daran zu erinnern, daß wir belagert wurden. Während der ganzen Zeit schickte Baden-Powell die erfreulichsten Telegramme in die Heimat. Die Berichte lauteten ungefähr so: ›Alles läuft wunderbar. Vier Stunden unter Feuerbeschuß. Ein Hund getötet.‹ Er war entschlossen, als tapferer Held dazustehen und die Moral der Truppe hochzuhalten. Während der Belagerung vergnügten wir uns sonntags mit Kricket – eine Beleidigung für die Buren, sie sind schließlich religiöse Menschen. Baden-Powell organisierte aber auch Billardturniere, Konzerte und Theateraufführungen. In einigen Stücken spielte er sogar selbst mit. Natürlich vergaß er darüber keineswegs seine Pflichten. Er ging sogar soweit, mit einem Sprachrohr in der Hand brüllend Scheinbefehle zu geben, um Scheinangriffe nicht existierender Feinde abzuwehren. Die Buren von Mafeking hätten uns jederzeit überrennen können, und ich kann dir nicht sagen, warum sie es nicht taten. Man sollte meinen, ›Belagerung‹ bedeute Entbehrung, aber in Wahrheit wurden die Offiziere in ihren Messen und auch wir Zivilisten sehr gut verpflegt. Auf den Eisenbahnschienen lagerten ja Berge von Lebensmitteln. Nur die armen schwarzen Teufel hatten nichts zu essen. Man gab ihnen nichts. Sie mußten hungern. Baden-Powell gewährte ihnen Essensrationen, verkaufte ihnen für drei Pence eine Tasse Pferdefleischsuppe. Sie durchsuchten die Armeeabfälle. Lange bevor Mafeking befreit wurde, starben fünf- bis sechshundert der Schwarzen an Hunger. Damit will ich jedoch nicht sagen, daß es immer unblutig zuging. Ab und zu lieferten sich die einfachen Soldaten echte Gefechte mit dem Feind. Hin und wieder mußte ja schließlich etwas Blut fließen, damit man das Ganze aufbauschen konnte. Einmal beobachtete ich selbst, wie eine Gruppe unserer mutigen Jungs einen Schützengraben der Buren stürmte. Im Siegesrausch gebrauchten unsere Jungs ihre Bajonette und Schwerter, um jeden übriggebliebenen Buren, ob tot oder lebendig, zu erstechen oder zu köpfen. Ich mußte mich übergeben. Am Ende billigte beziehungsweise mißbilligte man jedes Wort, das wir schrieben. Man schlug uns sogenannte kleine Verbesserungen vor. Gelobt wurden wir, wenn wir ›unsere unbezwingbaren Soldaten‹ und ›die bewährten Qualitäten, die das Empire auszeichnen‹ und ›kämpfen für den Ruhm oder das Grab‹ einfließen ließen. Absoluter Mist! Aber die
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Journalisten machten mit. Sie wagten nicht, über die wirklichen Hintergründe dieses Krieges zu berichten – die Verteidigung der Interessen britischer Minenbesitzer, Spekulanten und Banken, die an der Finanzierung der Minen viel Geld verdienten. Die übliche geheime Oligarchie alter Knaben, die die jungen in den Tod schickt. Darüber schrieb keiner. Mein Berufsstand hat Schande über sich gebracht. Abscheu und Langeweile haben schließlich dazu geführt, daß ich Ende Februar meine Taktik änderte. Ab da schrieb ich zwei Berichte, einen offiziellen für Baden-Powell und einen weiteren, den ich mit Hilfe eines Kafferjungen, dem ich vertrauen konnte, hinausschmuggelte. Ich bat meinen Schwiegervater, nur den zweiten zu veröffentlichen, was er auch brav tat, weil er gegen den Krieg war und zusammen mit meiner Cecilie dem Antikriegskomitee angehörte, das auch von Lloyd George und einigen anderen unterstützt wurde. Insgesamt schmuggelte ich vier kritische Berichte hinaus. Da sie veröffentlicht wurden, verwies man mich, kaum daß Mafeking befreit war, außer Landes. Im Grunde genommen wäre das gar nicht nötig gewesen, denn kein Mensch glaubte, was ich geschrieben hatte, dafür war die Propaganda der Regierung viel zu massiv. Die Bilder, die in Varietétheatern vorgeführt wurden, zeigten Zelte des Roten Kreuzes, die von Burenkugeln zerfetzt worden waren, während tapfere Krankenschwestern, Ärzte und Sanitäter Verwundete behandelten. In Wirklichkeit alles Schauspieler. Es war eine Schande. Die Bilder wurden alle im Hampstead-Heath-Krankenhaus aufgenommen. Du hast mir erzählt, daß der gleiche Schwindel auch in Amerika gezeigt wurde. Ich mißtraue schon von jeher jeder Art von bürokratischer Struktur, sei es Armee, Unternehmen oder Regierung. Alle, die solche Organisationen besitzen oder kontrollieren, sind meiner Meinung nach bestechlich und habgierig. Und der südafrikanische Krieg hat dieses Mißtrauen gründlich bestätigt. Ach, Paul – warum machen wir überhaupt weiter? Warum betrügen wir uns selbst, behaupten, daß wir unsere Brüder und Schwestern mit den wissenschaftlichen Wunderdingen der neuen Zeit retten können? Alles nur Einbildung, um die Wahrheit zu vertuschen. Wir suhlen uns gern im Dreck. Das menschliche Wesen ist eine feige und bösartige Bestie. Man darf sich gar nicht vorstellen, wie es erst sein wird, wenn sie über ein Arsenal von Maschinengewehren, Kanonen mit 32 Kilometer Reichweite und Flugzeuge verfügt, die Bomben auf die Zivilbevölkerung werfen … Das nächste Jahrhundert wird eine schlimme Zeit werden. Die Bestie liegt bereits auf der Lauer, denn sie wittert Blut. Armageddon.
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Da wir ohnehin nichts dagegen tun können, gehen wir erst einmal einen trinken, suchen uns eine Frau und versuchen, einen weiteren Tag ruhig zu überleben.« Als Paul nach Amerika zurückkehrte, erfuhr er, daß Bryan und Debs für die Präsidentenwahl im November kandidierten. Und sein Freund Crane war im Juni im Alter von achtundzwanzig Jahren im Kurpark von Badenweiler in Deutschland an Tuberkulose gestorben. Paul hatte von dem Kurort gehört; ein berühmter Heilkurort für Atemwegserkrankungen. Aber Crane hatte der Aufenthalt dort nichts mehr genützt. Shadow war von den Bildern aus Südafrika begeistert gewesen. »Die miesen Hunde von Edison haben doch tatsächlich mit zweihundert Herumtreibern die Schlacht von Spion Kop in West Orange, New Jersey, nachgestellt. Aber eine Kanone ballerte zu früh, und ein paar dieser falschen Soldaten wurden schwer verletzt. Geschieht ihnen ganz recht, schließlich haben sie versucht, die amerikanische Öffentlichkeit zu täuschen.« Shadow zahlte ihm eine Sonderprämie und versprach neue Arbeit. Die Philippinen standen zur Auswahl. Ein verlockender, exotischer Ort. Dschungelkämpfe. General Arthur MacArthur, Militärgouverneur der Vereinigten Staaten auf der Insel, versuchte die Aufständischen niederzuwerfen, die das Land von fremder Herrschaft befreien wollten – zuerst von Spanien und nun von den Vereinigten Staaten, denen die Philippinen aufgrund des Friedensabkommens von 1898 zugesprochen worden waren. Aber Oberst Shadow hatte immer noch kein zweites geschultes Kamerateam, und er zögerte, Paul und Ollie ein zweites Mal so lange außer Landes zu schicken. Am Samstag, dem 8. September, brach ein gewaltiger Hurrikan über Texas herein; Galveston Island, südöstlich von Huston, wurde fast gänzlich zerstört. Tausende verloren ihr Leben. Paul und Ollie konnten mit dem Hilfszug des Chicago American von W. R. Hearst auf die Insel gelangen. Der Zug erreichte Texas City am Donnerstag, dem 13. September. Der Sturm hatte die Brücken nach Galveston wie Streichhölzer geknickt. Voller Entsetzen starrten Paul und Ollie auf die Verwüstung, als das überfüllte Boot sie zu einem der letzten intakten Piers an der Zwölften Straße brachte. Sie filmten auf gespenstischen Straßen, wo nur noch ein aufragendes Teil einer Mauer und ein zerbrochenes Möbelstück an frühere menschliche Behausungen erinnerten. Sie sahen Miss Barton und andere Frauen vom Roten Kreuz, die in einem Suppenzelt kochten. Überall am Strand stiegen schwarze Rauchsäulen in den Himmel, weil
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man die Leichen und Holz zu Scheiterhaufen aufschichtete, Kerosin darüberschüttete und sie dann anzündete. Anfangs waren die Leichen mit Booten auf das Meer hinausgefahren und versenkt worden, aber die Flut hatte sie an den Strand zurückgeschwemmt. Der Gestank der Feuer war ekelerregend, ebenso wie der Gestank, der vom Schlamm aufstieg, der zentimeterdick alles bedeckte. In zwei Tagen filmten sie Szenen, die in der Öffentlichkeit Entsetzen auslösten. Und so verlief Pauls Leben, Stunden und Tage, aus denen Wochen und Monate wurden. Es gab kaum einen Teil der Erde, den er noch nicht bereist hatte, und überall sammelte er neue Eindrücke und aufregende Erfahrungen, genauso wie er es sich damals in dem Kellerzimmer in Berlin erträumt hatte. Er staunte immer noch, daß dieser Traum wahr geworden war. Nur sein Privatleben kam bei diesen vielen Reisen zu kurz, denn schon morgen, am Neujahrstag, würden Ollie und er mit der Eisenbahn nach New York fahren. Am 17. Dezember war das nach dem verheerenden Feuer von 1897 wiederaufgebaute Ellis-Island-Gebäude neu eröffnet worden. Wieder strömten Millionen von Einwanderern ins Land, darunter viele Juden aus Osteuropa. Ellis Island war zum Thema Nummer eins geworden. Und Shadow bestand auf einem »Tatsachenbericht«. Der Zug sollte um halb zehn am Neujahrsmorgen abfahren. Aber diese Nacht, diese Silvesternacht, gehörte nur ihm und Julie. Onkel Joe hatte alle zu einer großen Silvesterfeier eingeladen; gefeiert wurde das neue Jahrhundert und Pauls Absicht, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Die Feier fand im neueröffneten deutschen Restaurant Zum Roten Stern in der North-Clark-Straße am Germania-Platz statt. Es war ganz im Stil eines bayerischen Restaurants gehalten, mit holzgetäfelten Wänden, bleiverglasten Fenstern, schmiedeeisernen Laternen, Stühlen und Tischen aus weißem Eschenholz, ausgestopften Elch- und Eberköpfen, kunstvoll bemalten Bierkrügen und einer großen Auswahl an deutschen Spezialitäten; bedient wurden die Gäste von humorvollen, äußerst tüchtigen Kellnern in kurzen schwarzen Jacketts und langen weißen Schürzen. Die meisten von ihnen waren mittleren Alters und wohlbeleibt. Der Besitzer, ein vierzigjähriger Einwanderer aus Köln, empfing sie an der Eingangstür. »Guten Abend, Herr General«, begrüßte er sie auf deutsch und verbeugte sich dabei tief. »Guten Abend, Herr Gallauer.« Onkel Joe blickte sich um. »Wie ich sehe, gehen die Geschäfte gut. Ich habe schon gehört, wie beliebt Ihr Restaurant ist.« Herr Gallauer strich sich sichtlich erfreut über seinen
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Spitzbart. »Können wir schon Platz nehmen?« »Aber natürlich. Ich habe das Bauernzimmer für Sie reservieren lassen. Bitte folgen Sie mir.« Jeder Tisch im großen Gastzimmer war besetzt und die Lautstärke dementsprechend. Der für sie reservierte Raum befand sich im hinteren Teil des Restaurants, und Onkel Joe, der in Feststimmung schien, schlug vor, die Doppeltür zur großen Gaststube offenzulassen. Das gefiel allen, da sie so an der festlichen Stimmung im ganzen Restaurant teilhatten. Das Menü, das Onkel Joe ausgesucht und bestellt hatte, war gigantisch und ganz und gar deutsch. Als ersten Gang gab es dampfende Suppen, zur Auswahl standen Ochsenschwanz- und Spargelcremesuppe. Dann folgte eine Spezialität des Hauses, Leberklöße, um den Magen auf den Hauptgang vorzubereiten – riesige Platten mit Schweinebraten, Kalbsbraten, Hammelfleisch, Kaninchen, Wildbret, geschmorten Ochsenstücken und Sauerbraten mit Gemüse und noch warme Laibe hellen und dunklen Brotes. Als Nachtisch gab es verschiedene Puddings mit gedünsteten Früchten. Zu jedem Gang wurden alle Arten von Getränken angeboten. Nicht nur CrownLager- und Heimatbier, sondern auch Champagner und Frankenweine in bauchigen, kleinen grünen Flaschen. »Trocken! Den trockensten und besten, den Sie haben«, verlangte Onkel Joe. Die Tische waren hufeisenförmig aufgestellt worden und mit kleinen Platzkarten versehen, die Tante Ilsa beschriftet hatte. Im großen Gastzimmer des Restaurants ging ein Akkordeonspieler von Tisch zu Tisch und spielte Stars And Stripes Forever; die Gäste klatschten im Rhythmus dazu und stampften mit den Füßen auf den Boden. Paul liebte diesen Marsch sehr, der in letzter Zeit überall zu hören war – in Wohnzimmern, Konzerthallen, Saloons, an Straßenecken – es war, als verstärke Sousas Melodie die optimistische Stimmung in Amerika und sein wachsendes Interesse an der Welt. Schließlich betrat der Akkordeonspieler auch das Bauernzimmer und fragte sie, was sie hören wollten. Ein vertrautes deutsches Lied etwa? Carl rief: »Ragtime Rose.« Mary Beezer und Willis applaudierten begeistert. Obwohl er kein Freund dieser Art von Musik war, klopfte Onkel Joe schon bald mit dem Fuß im Rhythmus auf den Boden. Am Ende des Liedes gab er dem Mann ein großzügiges Trinkgeld. »Zwei Dollars?« stöhnte Tante Ilsa. »Einmal in hundert Jahren, warum denn nicht?« scherzte Onkel Joe und lehnte sich zu ihr hinüber, um sie auf die Wange zu küssen. Sie legte ihre Hand hinter seinen Kopf und flüsterte ihm zärtliche Worte ins Ohr. Paul zündete sich eine Zigarre an, bat um den Krug mit dem Crown-Lagerbier,
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der gerade bei Carl stand, und schenkte sich sein drittes großes Glas ein. Aus der geräumigen Gaststube drang das Lachen und Singen der Gäste zu ihnen herüber. Es war gerade erst halb zehn. Die Feier wurde immer lauter und lustiger. Zwischen den Gängen wurden Plätze getauscht. Julie unterhielt sich ernsthaft mit Tante Ilsa und meinte, sie müsse unbedingt Mr. Carnegie kennenlernen, der ihre Leidenschaft für die Weltfriedensbewegung teile. Shadow rannte in das große, verrauchte Gastzimmer, um den Akkordeonspieler zurückzuholen. »Ich möchte einen Cakewalk hören«, rief er beschwipst und begann, die Stühle wegzuschieben, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Der Cakewalk war zur Zeit der beliebteste Tanz Amerikas, und Shadow wollte zeigen, wie gut er ihn beherrschte. »Ich hab’ nicht umsonst dieses verd – uh, dieses gemeine Negergesicht. Komm, Mary, auf geht’s.« Colonel Shadow und Mary tanzten einen Cakewalk, und alle klatschten begeistert mit. Wex knöpfte sich Paul vor, um ihn über seine Reisen auszufragen. Und Paul wollte wissen, ob es ihm gut ging und er aufgehört hatte, sein ganzes Geld beim Kentucky-Pferderennen zu verwetten. »Machst du Witze, mein Junge? Sieh mal dort drüben, mein liebes Weib. Sie kann gut mit Geld umgehen, führt die Bücher, überwacht unsere Finanzen und gibt mir jeden Monat etwas Wettgeld. Wenn ich es verspielt habe, gibt’s nichts mehr. Kurz nachdem wir nach Lexington gezogen waren, versuchte ich, etwas Geld zu stibitzen. Aber ich hatte die Rechnung ohne meine Lucille gemacht. Sie hat mich erwischt, zu Boden geworfen, sich auf mich drauf gesetzt und mir ins Gewissen geredet. Sie kann sanft sein wie ein Lämmchen, aber sie hat einen eisernen Willen und die Kraft eines Ringers. Auf einen Streit mit ihr sollte man sich besser nicht einlassen. Gott schütze sie! Sie ist genau das, was ich schon immer gesucht habe. Sie hat diese schrecklichen Dämonen in mir gezähmt, aber nein, eigentlich müßte ich sagen, sie hat sie einfach hinausgeworfen.« Ein wenig später hörte Paul zufällig, wie sich Miss Fishburne angeregt mit seiner Tante unterhielt. Miss Fishburne hatte ziemlich viel Champagner gesüffelt, was ihr nach Pauls Meinung jedoch sehr bekam. Sie sah plötzlich viel besser aus. Bei ihrer Ankunft am Vorabend hatte sie einen verdrießlichen und müden Eindruck gemacht. Julie hatte den Grund dafür herausgefunden; ihre Tante litt unter der Trennung von einem gutaussehenden jungen Portugiesen namens Fernando, Kapitän einer
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Charterjacht, die in Monte Carlo vor Anker lag. »Ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll, meine liebe Ilsa. Soll ich Freiluftmalerei in der Provence studieren oder lieber zu den Hebriden segeln? Außerdem wollte ich immer schon mal nach Japan, um die KabukiTheater zu besuchen – man stelle sich vor, daß diese kräftigen Männer zarte Geishas spielen! Natürlich könnte ich mich an einen Kurort zurückziehen und Tolstois Krieg und Frieden zu Ende lesen. Ich habe schon neunmal angefangen. Im Moment quäle ich mich gerade durch ein Buch mit dem Titel Über Träume und Traumdeutungen. Es ist sehr umstritten. Geschrieben hat es ein Wiener Nervenarzt, von dem noch niemand etwas gehört hat…« Tante Ilsa war ganz hingerissen, vielleicht sogar überwältigt. Paul sah, wie Miss Fishburne als nächstes mit der stämmigen Mrs. Rooney sprach und dabei zur Bekräftigung ihrer Worte das Champagnerglas durch die Luft schwenkte. »Nehmen Sie meinen ungebetenen Rat, Lucille. Seien Sie nett zu Ihrem Mann, denn sonst stiehlt ihn jemand! Ich finde ihn äußerst charmant. Auf mich wirkt er wie ein Kobold mit Verstand.« Kurz danach, während die Kellner Kaffee und Schnaps servierten, setzte sich Miss Fishburne neben Julie. Julie und ihre Tante unterhielten sich über Nell. Julies Tante hielt tatsächlich noch ein volles Glas Champagner in der Hand. »Am besten, du tust so, als hättest du gar keine Mutter mehr. Meine liebe kranke Schwester war für die Rolle nie wirklich geeignet.« Julie hatte kaum Zeit, ihr zuzustimmen, da zog Fritzi auch schon einen Stuhl heran. Fritzi hatte Julies Tante bisher keine Sekunde aus den Augen gelassen, denn Miss Fishburne hatte schlichtweg alle bekannten Schauspieler und Schauspielerinnen sowohl in Amerika wie auch in Europa gesehen. Henry Irving, Salvini, Ada Rehan, Sarah Bernhardt. William Gillette, berühmt für seine fesselnde Verkörperung des Sherlock Holmes. Beerbohm Tree und Joe Jefferson und Ellen Terry und Maude Adams und Richard Mansfield und Mrs. Fiske und Mrs. Leslie Carter und eine junge Schönheit namens Ethel Barrymore, verwandt mit Mrs. John Drew. Und Ethels Brüder Lionel und John. Fritzi war gespannt. »Mrs. John Drew ist die einzige berühmte Schauspielerin, die ich kennengelernt habe.« »Mach dir keine Sorgen, du wirst sie noch alle kennenlernen«, versicherte ihr Miss Fishburne. Und Julie meinte: »Irgendwann wirst du ebenfalls berühmt sein, und
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dann werden die Leute dich kennenlernen wollen.« »Fritzi«, rief Paul vom anderen Ende des Tisches. »Ich habe eine Überraschung. Ich heb’ sie bis heute abend auf.« »Eine Überraschung? Für mich? Was für eine Überraschung?« »Vorgestern brachte der Postbote einen Brief von Michael. Er schreibt von einem Freund namens Stanislavski, der zusammen mit seinem Partner, einem anerkannten Schauspieldichter und -lehrer, ein außergewöhnliches neues Theater in Moskau betreibt. Er schreibt weiter, daß man, sobald die Schauspielschule eröffnet ist, deinen Antrag mit besonderem Wohlwollen prüfen wird – natürlich unter der Voraussetzung, daß du über den Nervus rerum für eine solche Reise verfügst.« »Oh – oh.« Ganz rot vor lauter Aufregung preßte Fritzi die Hände an die Wangen; Paul befürchtete schon, sie würde ohnmächtig werden. »Wie aufregend, Paul! Aber was meinen die mit Nervus rerum?« »Geld«, warf Onkel Joe trocken ein. »Für Schiff- und Zugfahrt und solche Kleinigkeiten wie Verpflegung und Kleidung und Unterkunft.« »Das beschaff ich, und ich werde gehen. Es überrascht dich vielleicht, Papa, aber ich hab’ schon von diesem neuen Theater in Moskau gehört. Das beste auf der ganzen Welt, das sagen alle.« »Alle, die du kennst«, sagte Carl laut. »Ich hab’ noch nie davon gehört.« Paul zündete sich die dritte Zigarre an. Onkel Joe hatte bisher nur wenig mit Shadow gesprochen, vermutlich hielt er ihn für zu verkommen. Jetzt sah Paul, wie sich Shadow mit einem großen Glas Crown-Bier um den Tisch herum bewegte. Der Oberst blieb stehen, um Onkel Joe zuzuprosten. »Auf Sie, Sir. Das ist das verd – ich wollte sagen, das köstlichste Lagerbier, daß mir je untergekommen ist. Ich bin bekehrt. Ein CrownTrinker heute und in Zukunft.« »Meinen Sie wirklich? Ausgezeichnet, Oberst. Sie müssen mir etwas über dieses neue Filmgeschäft erzählen, in dem Sie tätig sind. Bitte, setzen Sie sich doch!« Onkel Joe deutete auf einen Stuhl. Shadow hatte nur auf diese Geste gewartet und saß auch schon, dann legte er zu Onkel Joes Überraschung einen Arm um seine Schulter. »Nun, Herr General, man könnte sagen, daß ich mich in einer Übergangsphase befinde. Ich möchte die Vorführung hinter mir lassen und ins Produktionsgeschäft einsteigen. Ich möchte, daß die Luxograph-Filme eine große Verbreitung finden. Möchte weitere Kamerateams einstellen. So einen Kameramann wie Dutch finde ich zwar kein zweitesmal, aber vielleicht sind die anderen auch nicht schlecht.« »Warum diese Veränderung, wenn ich fragen darf?«
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»In der Produktion stimmen einfach die Zahlen.« »Die Zahlen. Können Sie mir ein Beispiel geben?« Schon zog Shadow einen Bleistift aus seiner Innentasche und fing an, mit unglaublicher Geschwindigkeit eine Speisekarte mit Zahlen vollzukritzeln. Bald beugte sich Onkel Joe zu ihm hinunter. Fast stießen ihre Köpfe aneinander. Paul lachte. Ein paar Minuten später entschuldigte sich Paul, um die Toilette aufzusuchen. Als er durch die große Gaststube zurückging, sah er zu seinem Erstaunen in einem Seitengang Onkel Joe mit hochrotem Kopf in einem aufgeregten Gespräch mit Hexhammer, dem Zeitungsjournalisten. 117 DER GENERAL Joe war auf dem Weg zur Herrentoilette, als Hexhammer plötzlich vor ihm stand. Schmuck gekleidet wie immer, hatte sich der junge Mann zur Feier des Tages mit einer Bronzemedaille geschmückt, die an einem breiten rotschwarz gestreiften Band um seinen Hals hing. Der Doppeladler, das Symbol Preußens, zierte die Medaille. Hexhammer verbeugte sich. »Verehrter Herr General. Es sind Ihnen seit dem spanischen Krieg viele Ehrungen zuteil geworden.« Den leichten Sarkasmus ignorierend, antwortete Joe: »Ja, das stimmt.« »Sie feiern sicherlich mit Ihrer Familie hier? So wie ich mit meiner?« »Ja. Ist das ein Orden, Oskar?« »Ganz genau. Es ist der Orden des Roten Adlers Vierter Klasse. Der Kaiser persönlich hat ihn für besondere Dienste der Pan-Deutschen-Liga verliehen. Wir sind sehr aktiv, sowohl hier als auch im Vaterland. In Berlin hat die Liga gerade eine umfassende Studie in Auftrag gegeben, die wissenschaftlich unmißverständlich beweisen soll, daß sich die reinrassigen deutschen Männer und Frauen geistig wie körperlich von allen anderen Rassen eindeutig unterscheiden.« »Und eindeutig überlegen sind, habe ich recht?« »Ich persönlich habe keinerlei Zweifel daran. Mein Gott, was für aufregende Zeiten! Auf Drängen von Admiral von Tirpitz und der warmherzigen Unterstützung Seiner Majestät hat der Reichstag einen zwanzigjährigen Plan bewilligt, der Deutschland mit zusätzlichen –« »– mit 38 Kriegsschiffen ausstattet. Ich lese die Zeitungen.« Allerdings nicht Ihre. »In Chicago verfassen derzeit loyale Deutsch-Amerikaner eine Resolution, die unsere Zustimmung ausdrücken soll. Wir sind dabei, so
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viele Unterschriften wie möglich zu sammeln, die anschließend an das Hauptbüro der Liga in Berlin geschickt werden. Wir wollen damit unsere Begeisterung und Unterstützung für den Aufbau der Kriegsmarine ausdrücken, was ja wiederum die Stabilität der kolonialen –« »Oskar, würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen.« »Bitte warten Sie noch einen Moment. Gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie unsere Resolution nicht unterschreiben werden?« »Genauso ist es.« Ein leichtes Lächeln umspielte den Mund des Verlegers. »Sehen Sie, genau das wollte ich nur wissen. Ihre Einstellung, Herr General, wird uns ebenso in Erinnerung bleiben wie Ihre Feindseligkeit, das schwöre ich Ihnen. Und es werden Zeiten kommen, da werden Sie Ihre Einstellung bereuen, das garantiere ich Ihnen.« »Oskar –« Joe zwang sich zur Beherrschung. »Jede Begegnung mit Ihnen ist reine Zeitverschwendung. Sie gehen mir auf die Nerven und auf den Magen. Gehen Sie mir bitte aus dem Weg, sonst sehe ich mich gezwungen, das zu tun, was ich Ihnen schon einmal in meinem Büro angedroht habe: Sie zusammenzuschlagen.« Noch bevor Hexhammer etwas entgegnen konnte, sagte Joe: »Ein glückliches neues Jahr, Ihnen und Ihrer Familie, Oskar. Das ist die Sprache Amerikas, falls Sie das noch nicht wissen sollten.« Dann schritt er in Richtung Toiletten davon. Wenige Minuten vor Mitternacht stimmte der Akkordeonspieler im großen Gastzimmer ein bekanntes Neujahrslied an. Und gleich darauf waren alle aufgesprungen und wiegten sich im Takt und sangen laut in deutscher Sprache das sentimentale Abschiedslied für das alte Jahr mit. »Das alte Jahr vergangen ist, Das neue Jahr beginnt. Wir danken Gott zu dieser Frist, Wohl uns, daß wir noch sind!« Dann baten Herr Gallauer und seine Kellner um Ruhe. Herr Gallauer schlug mit einem Holzhämmerchen gegen eine Schiffsglocke, wobei er beständig auf seine große goldene Taschenuhr blickte. Schlag für Schlag zählte man die letzten Sekunden des alten Jahres mit. Nach dem zwölften Schlag warfen die Menschen Papierschlangen in die Luft, hämmerten auf die Tische und riefen: »Glückliches neues Jahr!« Alle Gäste, einschließlich der Crowns und ihrer Geladenen, küßten und umarmten sich gegenseitig und
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flüsterten sich sentimentale Worte zu. Mary Beezer brach in Tränen aus. Willis ließ sich vom Kellner noch ein Glas Champagner bringen. Wex Rooney, dem ebenfalls danach war, hielt zwei Finger hoch, aber seine Frau zog seine Hand schnell wieder nach unten. Joe umarmte zuerst jedes seiner Kinder, dann Paul, Pauls Frau und zum Schluß Ilsa. Über ihre Schulter hinweg beobachtete er seinen Neffen. Paul hatte den Kopf gesenkt und berührte Julies Stirn. Seine Hände lagen auf ihren Schultern. Er murmelte ihr etwas zu, worauf sie ihm einen bewundernden Blick zuwarf. Noch niemals zuvor hatte Joe seinen Neffen so glücklich gesehen. Nach außen hin war Joe auch glücklich; er strahlte und sang und freute sich mit den anderen, denn er wollte niemandem den Abend verderben. Aber Oskar Hexhammer hatte mit seiner Bemerkung über kommende Zeiten einen Schatten auf diesen Abend geworfen. Joe Crown nahm die Bemerkung, die eigentlich einer Drohung gleichkam, nicht persönlich. Nein, er sah das Ganze viel globaler. Das Fieber des Nationalismus breitete sich immer mehr aus. Und beide, sowohl sein altes wie sein neues Heimatland, begaben sich auf unbekannte und seltsame Pfade. Im Jahr 1842, im Jahr seiner Geburt, hatte Deutschland lediglich aus zerstrittenen Stadtstaaten und unzähligen Fürstentümern bestanden, und Amerika war nur ein unterentwickeltes Ackerland gewesen ohne nennenswerte Industrie. Jetzt aber waren beide Nationen mächtig, stolz und ganz versessen darauf, der Welt ihre Stärke und Bedeutung zu zeigen. Joe betete, daß sich ihre Wege niemals kreuzten. 118 ILSA Es war Zufall, daß Ilsa am Neujahrsmorgen das Klingeln an der Vordertür hörte und öffnete. Schon um sieben Uhr hatte Joe nach einem eilig eingenommenen Frühstück – etwas Kaffee, Salami und ein hartes Brötchen mit ungesalzener Butter – das Haus verlassen. Nach der Feierei in der letzten Nacht hatte er zwar über leichte Kopfschmerzen geklagt, war aber dennoch in die Brauerei gegangen, weil es dort heute ruhig war und er hoffte, endlich all den Papierkram auf seinem Schreibtisch zu erledigen. Joe hatte ihr fest versprochen, gegen zwei Uhr zum Neujahrsessen zurück zu sein. Fritzi und Carl waren immer noch in ihren Zimmern. Ilsa hoffte, daß Carl jetzt alt genug war, um im Garten keine Feuerwerkskörper mehr
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anzuzünden. Jeder Lärm im Haus störte sie. Auch ein Zeichen dafür, daß sie älter wurde. Auch Julie wollte zum Essen kommen, aber jetzt war sie sicherlich am Bahnhof, um sich von Paul und seinem Kollegen zu verabschieden. Es stimmte Ilsa traurig, daß ihr Neffe schon wieder verreisen mußte. Am liebsten hätte sie an allen Feiertagen die ganze Familie um sich versammelt, aber das schien mit den Jahren und dem zunehmenden Alter der Kinder immer schwieriger zu werden. Normalerweise öffnete Manfred die Tür, wenn es klingelte, aber er war für eine Woche verreist, um Helgas Familie in St. Louis zu besuchen. Sie waren jetzt Manfreds einzige Familie, denn Helga Blenkers war an einer Lungenentzündung gestorben, die sie sich während der scheußlichen Regenfälle im letzten Sommer zugezogen hatte. Im Haus roch es nach Fisch. Louise, die inzwischen zu alt und zu schwach geworden war, um noch große Mahlzeiten zu kochen, hatte dennoch darauf bestanden, den traditionellen Karpfen, der zusammen mit anderen Gerichten serviert werden sollte, zuzubereiten. Die Kinder würden ihn wahrscheinlich nicht essen. Sie würden sich lieber auf Louises Glücksschweinchen aus Marzipan und die Miniaturschornsteinfeger aus Teig stürzen. Wieder ging die Glocke. »Einen Moment, ich komme schon!« rief Ilsa. Als sie die Tür öffnete, stand ein Landstreicher vor ihr, der sich mit seinem rechten Arm auf eine Krücke stützte. Sie konnte ihn nicht klar erkennen, da die Wintersonne sie blendete. Auch mit ihren Augen stand es nicht mehr zum Besten. Dennoch fiel ihr auf, daß der Mann schmal gebaut war und einen leichten Bauchansatz hatte, was ihr seltsam vorkam, da er noch so jung schien. Gelocktes Haar fiel über seinen Kragen, Wangen und Hals wurden von einem gewaltigen Bart verdeckt. Er trug einen geflickten, rot-schwarz karierten Mantel, gestreifte Hosen, die einmal zu einem Anzug gehört haben mußten, eine Stoffmütze, deren Schirm einen tiefen Schatten bis auf seine Nase hinunter warf. Sein rechtes Hosenbein war am Knöchel zusammengenäht oder geheftet; sein rechter Fuß fehlte. Ilsa erinnerte sich an den alten Aberglauben der Deutschen, nachdem der erste Fremde, dem man am Neujahrstag begegnete, von besonderer Bedeutung war. Wenn man beispielsweise einer alten Frau begegnete, so brachte das neue Jahr nicht viel Gutes, ein junger Mann dagegen verhieß das Gegenteil. Aber was hatte ein Landstreicher zu bedeuten? Sie hatte keine Ahnung. Mit einer Hand vor den Augen versuchte Ilsa sie gegen das Sonnenlicht zu schützen. »Es tut mir leid«, begann sie – wie schon so oft – mit der
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üblichen Litanei, »aber wir geben kein Essen an der Vordertür.« »Mama.« »Wenn Sie bitte zur Hintertür –« »Erkennst du mich nicht, Mama? Ich bin’s doch, Joe.«
119 DER GENERAL Um halb zehn war es in der Brauerei Crown so ruhig wie in einer Kirche. Joe räumte mit hochgekrempelten Hemdsärmeln gerade einige unwichtige Papiere vom Schreibtisch. Stefan Zwick war ebenfalls freiwillig ins Büro gekommen, und Joe hörte, wie sein Sekretär langsam und gewissenhaft draußen im Büroraum tippte. Harte Arbeit war ein ausgezeichnetes Mittel, um die düstere Stimmung, die Oskar Hexhammers Prophezeiung letzte Nacht ausgelöst hatte, zu bekämpfen. Das Telephon klingelte. Stefan antwortete und steckte dann den Kopf ins Zimmer seines Chefs. »Es ist Mrs. Crown.« Verärgert über die Unterbrechung, ließ Joe von seiner Kostenaufstellung ab und griff zum Hörer. »Ja, Ilsa?« »Joe, ich habe Neuigkeiten.« Ihre leise Stimme verriet ihm, daß etwas passiert sein mußte. Er vergaß alles um sich herum und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Erzähl mir, was los ist.« Einige Sekunden hörte man nur das Summen in der Leitung. Die Nachricht schien so furchtbar, daß sie sie nicht aussprechen konnte. Alles mögliche ging ihm durch den Kopf. Er wartete. »Joe junior. Er ist hier.« »Hier?« »Ja, hier, hier im Haus. Ich ging vor einer Stunde an die Tür, und da stand er.« »Ich komme sofort nach Hause, ich muß mit ihm reden.« »Joe, bitte nicht. Warte noch etwas. Zuerst muß ich mit ihm sprechen.« Verärgert und leicht verletzt, entgegnete er: »Aber es ist meine Pflicht, ich bin schließlich sein Vater.« »Zuerst will ich mit ihm sprechen. Erinnere dich bitte, was Carl Schurz gesagt hat. Man kann auch zu deutsch sein. Zuerst werde ich mit ihm reden und dann du. Ich weiß nicht, warum unser Sohn nach Hause zurückgekehrt ist. Aber jetzt ist er da, und ich möchte, daß er bleibt. Ich möchte die alten Wunden heilen und verhindern, daß sie wieder aufgebrochen werden.«
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»Aber –« »Joe.« Sie klang ganz ruhig, aber in ihrer Stimme lag eine Warnung. »Zuerst werde ich mit ihm sprechen.« Ihre Stimme hatte noch nie so hart geklungen. Und jetzt war er still. Sie hatte sich verändert. Die Welt hatte sich verändert. Die ganze Familie hatte sich verändert. Und auch er selbst hatte sich verändert, wie er überrascht und verdutzt, aber ohne Traurigkeit, feststellen mußte. »In Ordnung, Ilsa. Ich komme dann später.« »Nicht zu bald. In ein paar Stunden vielleicht. Bis später dann, mein Lieber.« Verwirrt legte er den Hörer auf die Gabel. »Stefan!« rief er mit schwacher Stimme. »Sir?« »Bitte schließen Sie die Tür.« Nicht gewöhnt, so höflich gebeten zu werden, steckte Stefan Zwick den Kopf nochmals durch die Tür. Der angespannte Gesichtsausdruck seines Arbeitgebers beunruhigte ihn. Sofort zog er sich zurück und schloß ganz sanft die Tür hinter sich. Draußen auf der Larrabee-Straße hörte Joe die Schreie von Kindern, die in der kalten Morgenluft spielten. Zurückgelehnt starrte er auf das schwarze Telephon, das von einem Sonnenstrahl erhellt wurde. Er lebte in einem neuen Jahrhundert, und diese Welt hatte sich so verändert, daß er sie manchmal nur an einigen kleinen Äußerlichkeiten erkannte. Manchmal glaubte er, ein völlig Fremder in dieser neuen Welt zu sein, so wie damals, als er zum erstenmal amerikanischen Boden betreten hatte, als grüner Junge im Jahre 1857. Aber was soll’s, fragte er sich. Verheerende Veränderungen waren gekommen und gegangen, aber die Crowns hatten überlebt. Er würde überleben. Ganz bestimmt sogar. Die Stärke seiner Familie war seine Stärke. Und jetzt gab es einen Grund mehr, verlockender als irgendein anderer in sehr langer Zeit. Sein Sohn war nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht mußte er noch viel lernen, und es würde ihm höchstwahrscheinlich nicht leichtfallen, aber er wollte alles tun, damit Joe zu Hause blieb.
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120 DUTCH Am Donnerstag morgen, dem 3. Januar, ließ Paul Ottie im Hotel zurück und schlenderte über die Sixth Avenue. Sechsundsiebzig Millionen Menschen lebten in Amerika, und die Hälfte anscheinend in New York. Und die Hälfte davon wiederum schien trotz des scheußlichen Wetters heute morgen auf den Beinen zu sein. Man baute gerade eine Untergrundbahn – ähnlich der, mit der er in Paris gefahren war –, um den Fußgängerverkehr zu entlasten. Paul bezweifelte allerdings, ob dies zu schaffen war. Über ihm rumpelte und ratterte die Hochbahn, und wenn man nicht aufpaßte, rieselte einem der Schmutz auf die Kleidung. Die Straße war vollgestopft mit Pferdedroschken und Privatkutschen, und von überall her hörte man das dröhnende Hupsignal der dampfbetriebenen, pferdelosen Wagen. Diese immer mehr in Mode kommenden Automobile versetzten Paul immer in Erstaunen, während sie jedes vierbeinige Lebewesen fast zu Tode erschreckten. Wie immer, wenn sie voneinander getrennt waren, hatte er schreckliche Sehnsucht nach Julie, nicht jedoch nach dem dreiteiligen Anzug mit dem Zelluloidkragen und den Manschetten, den er bei Gericht und zu Silvester getragen hatte. Jetzt, bei der Arbeit, konnte er wieder seine bequeme Kleidung tragen, die er auch deshalb mochte, weil sie ihn von den anderen unterschied. Sein khakifarbenes Hemd paßte zu seinen alten Reithosen. Zu Weihnachten hatte Julie ihm den neuesten Modeschrei geschenkt, Reithosen, die nur an den Oberschenkeln weit ausgestellt waren; die Mode kam angeblich aus Jodhpur in Indien. Aber ihm fehlte noch der Mut, sie zu tragen. Des weiteren trug er schwarze Stiefel und einen langen schwarzen Ledermantel mit schwerem rotem Flanellfutter. Eine teure, schwarz-braun karierte Schiebermütze, ein Geschenk von Tante Ilsa, zusammen mit dem gepunkteten Halstuch der Rough Riders machten sein Outfit als Kameramann perfekt. An der Ecke Sixth Avenue und Siebzehnte Straße betrat er das geräumige, schicke zweistöckige Woolworth-Kaufhaus. Irgendwann am gestrigen Tage, als er in Sachen Dreherlaubnis für Freitag und Samstag unterwegs gewesen war, mußte er seine Winterhandschuhe irgendwo liegengelassen haben. Als er das Kaufhaus betrat, vernahm er Klaviermusik. In der Nähe der Eingangstüren hatte man eine hohe kreisförmige Bühne errichtet, die von Regalen voller Notenblätter umgeben war. Ein rothaariger Pianist, der gerade einen Marsch zu Ende gespielt hatte, nickte dankend, als seine acht
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Zuhörer höflich applaudierten. Dann verschränkte er die Finger, knackste mit den Knöcheln, rückte den Stuhl zurecht und spielte einige Akkorde als Einleitung für den neuesten Hit des berühmten Paul Dresser. Mit hoher, klarer Tenorstimme sang er dazu den Text: »Niemand spricht vom Opfer der Mutter, deren Söhne wurden Kanonenfutter. Drei Söhne waren’s, drei Söhne so hold, sie liebte sie mehr als Geld und Gold.« Paul schritt weiter und pfiff leise die Melodie mit. Schließlich fand er die Handschuhabteilung und begann mit seiner Suche nach einem passenden Paar. »Als sie losmarschierten, war das Herz ihr schwer, denn sie wußte, es gibt keine Wiederkehr …« Schließlich fand Paul genau das richtige Paar aus schwarzem Leder mit warmem Schafwollfutter. Ungewöhnlich freundlich und mit einem einladenden Blick nahm die Verkäuferin das Geld entgegen. Paul konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie steckte das Geld und die Rechnung in einen Metallkorb, den sie an einem Draht über ihrem Kopf einhakte, um dann an einer Schnur zu ziehen, die von der Decke baumelte. Daraufhin fing der Draht an zu surren, und der Korb wurde bis zu einer Kassiererin befördert, die in einem Zwischengeschoß saß. Wenige Augenblicke später kam der Korb mit dem Wechselgeld und der abgestempelten Rechnung wieder zurück. »Möchten Sie, daß ich sie Ihnen einpacke, Sir?« »Nein, vielen Dank. Ich werde sie gleich anziehen.« Sie reichte ihm die Handschuhe mit einem schmollenden Lächeln ihres rotgeschminkten Mundes. Paul wandte sich den Eingangstüren zu, während der Pianist die zweite Strophe sang. Die Mutter, die ihre drei Söhne verloren hatte, fand sie am Eingangstor zum Himmel wieder. In voller Uniform. Inzwischen hatten sich zahlreiche Zuhörer um den Pianisten geschart, die nun alle begeistert applaudierten. In der Menge stand auch ein Mann, der Paul irgendwie bekannt vorkam. Dieses wirr in alle vier Himmelsrichtungen ragende, buschige schwarze Haar … Paul trat einen Schritt zur Seite, um den Mann von der Seite zu betrachten. Er war jung, ungefähr in seinem Alter. Er trug einen teuren
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grauen Prinz Albert-Anzug und eine kastanienbraune Seidenkravatte mit grauen diagonalen Streifen. Über seinem Arm hing ein grauer Mantel. Seine lebhaften blauen Augen durchforschten die Regale mit den Notenblättern. Paul erkannte ihn. Wieder verschlang der Pianist die Finger, knackste mit den Knöcheln, um dann seine Finger auszuschütteln, während er lächelnd sein Publikum betrachtete. Endlich griff er wieder in die Tasten und spielte den Schlager Ragtime Rose. Ein halbes Dutzend der Regale war mit Kopien dieses Klavierstücks gefüllt, auf denen in großen Buchstaben der Name des Komponisten stand: Harry Poland. Der junge Mann mit den schwarzen Haaren wippte auf den Zehenspitzen im Takt der Musik. Sogar Kopf und Ellbogen bewegten sich mit. Er schien völlig in der Musik aufzugehen. Langsam schritt Paul um die Bühne herum. Es bestand kein Zweifel… Jetzt bemerkte ihn der junge Mann auf der anderen Seite der mit Teppich belegten Bühne. Sie standen sich genau gegenüber. Paul lächelte und wartete. Der junge Mann runzelte die Stirn und schien zu überlegen. Plötzlich riß er den Mund auf. Paul grinste, riß sich die Schiebermütze vom Kopf und lief hinter der Bühne herum auf den Mann zu. »Herschel?« »Pauli?« »Herschel Wolinski.« »Ja, ich bin’s, Herschel, dein Freund!« Er sprach kaum noch mit Akzent. Mit einem Freudenschrei warf er seinen Mantel auf die Bühne und umarmte Paul heftig, klopfte ihm auf den Rücken und rief: »Pauli, Pauli!« Ein paar verärgerte Zuhörer warfen ihnen mißbilligende Blicke zu. Am meisten jedoch schien sich der Pianist zu ärgern, aber Herschel rief ihm zu: »Hör auf, mich so böse anzustarren, spiel weiter, es ist schließlich meine Musik!« Dann lehnte er sich zurück und packte Paul bei den Schultern. »Bist du’s wirklich?« »Aber ja, ich bin’s. Pauli oder Paul, wie’s dir paßt – ich habe viele Namen in Amerika. Wie soll ich dich denn jetzt nennen? Herschel oder Harry?« »Harry, ab jetzt und für alle Zeiten.« »Wie lange bist du schon hier?« »Im März werden es vier Jahre. Meine Mutter ist gestorben, und meine Schwestern wollten nicht mitkommen. Aber du weißt, ich hab’ dir immer gesagt, daß ich es schaffen werde. Ich hab’ nie daran gezweifelt. Wie du
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richtig bemerkt hast, hab’ ich einen neuen Namen. Findest du nicht, daß er richtig schön amerikanisch klingt?« »Ja, ich mag ihn, er klingt gut.« Immer noch überrascht, nahm Paul ein Notenblatt von Ragtime Rose in die Hand, schlug es auf und starrte auf die ihm unverständlichen schwarzen Noten. »Das hast du geschrieben?« »Richtig. Genauer gesagt, habe ich es schon vor einiger Zeit geschrieben, und zwar in einer langsam zu spielenden Version. Aber es kam anders. Eines Abends hörte ich in einer Bar einen schwarzen Musiker aus St. Louis, der diesen verrückten Rhythmus spielte. Er hat mir gezeigt, wie’s geht. Die Neger nennen ihn ›Rag‹. Also hab ich das Stück einfach umgeschrieben, und jetzt ist es ein Rag.« »Und es ist ein Hit. Man hört es überall.« »Da muß ich dir in aller Bescheidenheit recht geben. Über zweihunderttausend sind schon verkauft worden, und die Zahlen steigen noch. Veröffentlicht wurde es, wie du siehst, von Howley & Haviland, von der Firma, die zum Teil dem bekannten Paul Dresser gehört. Ich hab’ dort als Pianist angefangen, wie der Typ da am Klavier, aber man hat mich bald zum Komponisten befördert. Es fällt mir leicht, einen Marsch zu komponieren, mit Balladen habe ich noch meine Schwierigkeiten. Dieses Stück liebe ich besonders. Ganz im Gegensatz zu Mr. Dresser, er haßt es, denn er sieht es als Konkurrenz zu dem sanften Stil, in dem er komponiert. Aber er hat natürlich nichts gegen Stücke, die viel Geld bringen. Mr. Dresser liebt Geld.« »Herschel, ich kann es einfach nicht glauben.« »Mir geht’s ähnlich.« Plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern, denn er formte eine Hand zur Pistole, zielte auf Paul und rief: »Peng, peng!« Paul lachte, tat es ihm nach und schoß zurück. Drei Zuhörer entfernten sich empört, und ein Aufseher kam auf sie zu. Der Pianist, der nicht mehr im Zentrum des Interesses stand, schlug beleidigt die falschen Töne an. Herschel kümmerte das wenig. Er griff nach Pauls Hand und begann, ihn im Walzertakt zu drehen. Sein Kopf bewegte sich dazu genau im Dreivierteltakt. Der steife Aufseher sprach sie an. »Hören Sie mal, das können Sie hier nicht machen –« Aber da bewegten sie sich schon Arm in Arm hinaus auf die Sixth Avenue. Herschel hatte Paul eine Kopie seines Stückes in die Jackentasche gesteckt und über die Schulter zurückgerufen: »Ich bin der Komponist, ich bekomme die Noten umsonst.«
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Ragtime Rose - Piano Novelty – Easy-going, wistfully, not too fast COMPOSED BY HARRY POLAND HOWLEY HAVILAND INC NEW YORK. NEW YORK.
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Den ganzen Nachmittag lang tranken sie Bier, und gegen Abend saßen sie in Charles Rectors vornehmem Restaurant bei Wildbretsteaks, die sie mit viel rotem Bordeaux hinunterspülten. Sie konnten einfach nicht aufhören zu erzählen. Paul hatte gerade sein siebtes oder achtes Glas Wein getrunken und strich über die Notenblätter auf dem Tisch, die nun voller Weinflecken waren. »Du hast den Erfolg verdient. Dieses Stück ist einfach wunderbar.« »Nun, vielleicht nicht wunderbar, aber auf alle Fälle ein Ohrwurm. Vor allem aber ist es typisch amerikanisch.« »Es ist einfach toll, was du hier erreicht hast. Einfach großartig!« »Du weißt, daß ich unbedingt nach Amerika wollte. Und als ich endlich hier war, wußte ich, daß ich es schaffen würde. New York ist ein teures Pflaster, aber ich habe Glück gehabt. Neben meiner Arbeit für den Musikverlag habe ich noch ein paar andere Jobs. Zum Beispiel springe ich oft bei Proben für Bühnenshows ein. Und wenn mein Terminkalender es zuläßt, begleite ich Miss Flavia Farrel auf der Bühne.« »Du meinst diese berühmte irische Sängerin?« Herschels Wangen röteten sich leicht. »Ich weiß, daß Miss Farrel sehr anspruchsvoll ist, und deshalb bin ich überglücklich, daß ich mit ihr arbeiten darf. Inzwischen arrangiere ich für sie und kümmere mich darüber hinaus in regelmäßigen Abständen um ihr körperliches Wohlbefinden. Und es ist mir stets ein Vergnügen. Sie ist zwar zwanzig Jahre älter als ich, aber sie ist attraktiv und großzügig. Von ihr habe ich sehr, sehr viel gelernt.« Er errötete. »Frag mich bitte nicht nach Einzelheiten.« Erneut füllte er Pauls Glas und schenkte sich selbst den Rest der Flasche ein. »Natürlich möchte ich am liebsten nur noch komponieren. Aber nicht als Angestellter, sondern nur für mich selbst. Ja, und dann besuche ich noch einen Abendkurs, denn meine theoretischen Kenntnisse der Musik lassen leider zu wünschen übrig.« »Laß uns gehen«, meinte Paul plötzlich. »Ich hab’ jetzt richtig Lust auf ein paar Bierchen.« »Mir geht’s genauso, alter Freund.« Schon bald darauf wußte Paul nicht mehr, wo sie eigentlich waren. Irgendwo in der Bowery tauschten sie ihre Adressen aus, und Herschel drückte Pauls Hände und versprach, ihn und Julie in Chicago zu besuchen. Gegen halb drei in der Frühe wurden sie von der Polizei aufgelesen, als sie, selig vor Trunkenheit, in der frischen, frostigen Nachtluft gerade die untere Fifth Avenue entlangschwankten. Sie verbrachten die Nacht in einer Ausnüchterungszelle, wo sie so lange Ragtime Rose sangen, bis die Insassen der anderen Zellen fluchten und
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Drohungen ausstießen. Um sieben Uhr rief Paul Ollie im Hotel an. Sein Kopf schmerzte fürchterlich, und seine Augen brannten wie Feuer. »Bring Geld, damit wir die Kaution bezahlen können. Ich erkläre dir alles später. Hast du das Boot gemietet? Gut. Pack die Ausrüstung zusammen. Wir drehen noch vor Mittag auf Ellis Island.« Herschel bekam nichts davon mit. Er lag immer noch in seinem feinen Prinz-Albert-Anzug zusammengerollt in der Zelle und schnarchte. »Ist alles fertig?« fragte Paul. »Alles fertig«, antwortete Ollie. »Da kommen sie.« Die Luxograph-Kamera stand auf der Promenade vor dem Einwanderungsgebäude von Ellis Island. Es war aus roten und sandfarbenen Ziegelsteinen erbaut und wesentlich stabiler als das, durch welches Pauli Kroner und der alte Valter damals geschleust worden waren. Die Kais an der Promenade bildeten eine Seite einer hufeisenförmigen Anlegestelle für Fährschiffe; die andere – westliche – Seite war aus dem Erdaushub für den Bau der Untergrundbahn entstanden. Diese Aufschüttung hatte die Insel vergrößert und Platz für ein neues Krankenhaus geschaffen, das im frostigen Sonnenschein halb fertiggestellt dalag. Als sie sich mit dem Boot der Insel genähert hatten, war Paul ganz seltsam zumute gewesen. Er hatte nie gedacht, daß er Ellis Island ein zweites Mal zu sehen bekäme. Die bauchige Fähre Weehawken steuerte auf die Einfahrt zu den Kais zu; auf den Decks drängten sich Neuankömmlinge von der Karlsruhe, einem Zwischendecker der norddeutschen Lloyd-Linie aus Bremen, der am selben Tag eingelaufen war. Die Überfahrten im Winter waren hart, und Paul hatte gehört, daß diese ganz besonders schwierig gewesen war. Er konnte sich die Gefühle der Einwanderer gut vorstellen, denen nach der anstrengenden Reise jetzt die schlimmste Prüfung bevorstand. Die Fähre tuckerte langsam an den Anlegesteg. Ollie kauerte über der Kamera; er hatte den Schirm seiner Mütze nach hinten geschoben. Das Objektiv der Kamera erfaßte die ängstlichen Gesichter hinter der Reling. »Ich drehe, Dutch.« »Mach weiter, versuch soviel wie möglich draufzukriegen!« Die Fähre rumpelte mit der Seite gegen die Kaimauer. Die Mannschaft lehnte sich mit Tauen heraus. Ganz vorne in der Menge, die daraufwartete, daß die Landungsbrücke heruntergelassen wurde, entdeckte Paul einen alten Mann mit einem prächtigen Oberlippenbart. Sein ganzes Hab und Gut
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befand sich in einem großen Sack. Er wirkte verwirrt und verängstigt. Wie so viele andere auch. Als man die Fähre vertäut hatte, wurde die Landungsbrücke heruntergelassen. Einer von der Mannschaft löste das Seil und sprang zurück. Der alte Mann stürzte voller Energie voran. Er hatte offensichtlich Angst, von den Jüngeren und Kräftigeren hinter ihm niedergetrampelt zu werden. Ein uniformierter Beamter zeigte auf die Türen des Einwanderungsgebäudes. »Hier entlang, beeilen Sie sich!« Die Männer und Frauen drängten schreiend und schimpfend von der Fähre. Der alte Mann wurde angerempelt und stolperte. Paul griff nach seinem Arm, um zu verhindern, daß er stürzte, und zog ihn aus der Menge heraus. Während der alte Mann sich nach seinem Sack bückte, um ihn in Sicherheit zu bringen, reichte Paul ihm eine Hand als Stütze. Der Alte zitterte und schien die Kamera nicht einmal zu bemerken. »Hier, setzen Sie sich erst mal, und verschnaufen Sie.« Paul half dem alten Mann, sich auf seinen Seesack zu setzen. Seine runzligen Wangen waren vor lauter Anstrengung gerötet. Ollie kurbelte weiter, während die Einwanderer jetzt auf die Türen zuliefen. Der alte Mann fächerte sich mit seiner Seemannsmütze Luft zu. »Vielen Dank. Es ist so schwer. Die Reise war so lang und stürmisch.« Paul nickte, um anzudeuten, daß er die deutschen Worte verstand. Nachdem er sich etwas erholt hatte, erhob sich der alte Mann und schüttelte Pauls Hand. Er sprach schnell und immer noch deutsch. »Was für ein Glück, Sie hier zu treffen. Sie sind der erste Amerikaner, mit dem ich spreche.« »Nun, das bin ich nicht wirklich –« Paul kam ins Stocken. Dann antwortete er auf deutsch: »Herzlich willkommen.« Der alte Mann warf einen ängstlichen Blick auf die Türen. Es sah aus, als verschwänden die Einwanderer in einer schwarzen Höhle. »Muß ich da hineingehen?« »Ja, aber Sie brauchen vor den Beamten keine Angst zu haben. Einige sind übermüdet und schreien recht viel. Aber die meisten sind sehr nett.« »Sie sprechen gut deutsch. Sind Sie ein Landsmann?« »Ich komme aus Berlin. Aber das ist schon einige Zeit her, sehr, sehr lange her sogar.« »Ich bin Schwabe.« Paul hatte es schon an seinem Akzent bemerkt. »Ich komme aus einer kleinen Stadt, von der Sie sicher noch nie gehört haben. Schwäbisch-Gmünd.« »Die kenne ich sogar gut. Meine Familie stammt aus Aalen, das ist ja gar nicht weit weg.« »Ja, gibt’s denn so was! Ein Nachbar, und das auf der anderen Seite des
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Ozeans.« Wieder starrte der alte Mann ängstlich auf die Türen; alle anderen Passagiere befanden sich bereits in der unteren Halle, und man hörte die Einwanderungsbeamten brüllen. Die Fähre war schon wieder fertig zum Auslaufen. In einiger Entfernung wartete eine zweite, ebenfalls mit Menschen und Gepäck beladen, auf einen Platz zum Anlegen. »Ich sollte mich besser beeilen und hineingehen –« »Sie haben noch reichlich Zeit. Ich werde Ihnen helfen, Ihre Gruppe zu finden.« Paul zog den Papierstreifen des alten Mannes aus der Brusttasche seiner Kordsamtjacke. »Vier-zwei. Folgen Sie mir.« Ollie, der gerade aus der Halle trat, in die er den Einwanderern gefolgt war, wirkte überrascht, seinen Partner mit einem alten Mann zu sehen, den er wie ein kleines Kind am Arm festhielt. »Ich war mir nicht sicher, ob ich die Reise wagen sollte. Ich bin schon achtundsechzig. Ich bin Tuchweber.« »Sie werden Arbeit finden. Gute Leute werden immer gesucht. Nur die Faulen werden schnell wieder entlassen.« »Eine gute deutsche Einstellung. Aber ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, welch furchtbare Geschichten man über Ellis Island hört. Daß sie fast jeden wieder wegschicken.« »Nein, nein, das ist nicht wahr. Wenn Sie gesund und zuverlässig sind, wird man Sie nicht wieder wegschicken. Und auf mich wirken Sie verläßlich. Haben Sie Verwandte hier?« »Meinen Bruder Reinhardt.« »Das ist gut. Das macht alles viel einfacher.« Der alte Mann keuchte, als sie die chaotisch wirkende Halle voller müder, gereizter Einwanderer betraten. Strahlen der Wintersonne beleuchteten den Treppenaufgang im Zentrum. Die grellen, lauten Stimmen riefen Erinnerungen in Paul wach. »Passagierliste zwei, folgen Sie mir! Zwei, hierher! Bewegen Sie sich, nun bewegen Sie sich schon! Passagierliste vier, hier entlang. Beeilen Sie sich!« »Passagierliste vier, das sind Sie. Lassen Sie den Herrn doch bitte durch!« Sie kämpften sich bis zur richtigen Stelle vor. Paul klopfte dem alten Mann auf die Schulter. »Folgen Sie Ihrer Gruppe. Viel Glück!« »Haben Sie nochmals vielen Dank. Es tut mir leid, daß ich Sie für einen Amerikaner gehalten habe.« Paul betrachtete ihn. Da war es endlich. Das Zeichen, auf das er so lange gewartet hatte. »Aber ich bin Amerikaner.« Er winkte den alten Mann weiter. Der Samstagmorgen war wärmer, eine tiefhängende Wolkendecke zog
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vom Atlantik her über den Hafen hinweg. Ab und zu brachten ein paar Sonnenstrahlen das Wasser zum Glitzern, ein willkommener Effekt für die Kamera. Das Boot legte am Pier an, und sie luden ihre Ausrüstung aus. Die gelegentlichen Sonnenflecken veränderten allmählich die Farbe des kupfergrünen Gewands der Freiheitsstatue. Während sie hineingingen, fragte Ollie: »Wo wollen wir die Kamera aufstellen, dort auf dem Sockel am Fuße der Statue?« »Höher. Wir werden bis hinauf zur Fackel gehen. Dort gibt’s eine Aussichtsplattform, auf der vierzehn Leute Platz haben.« Ollie blieb verdattert stehen. »Die ist doch bestimmt mehr als neunzig Meter hoch, Dutch.« »Etwas mehr als hundert Meter, wenn wir erst durch ihren Arm hindurch sind.« »Gibt’s darin überhaupt eine Treppe?« »Es soll eine eiserne Leiter geben, so eine Art Hühnerleiter.« »Aber wir können doch die schwere Kamera nicht so eine Leiter hinaufschleppen!« »Aber natürlich können wir das, es sind ja nur vierzehn Meter. Du wirst vorangehen und die Kamera hinter dir herziehen, und ich werde sie von unten halten. Falls du ausrutschst, kannst du dich immer noch an der Leiter festklammern.« »Während du versuchst, die Kamera aufzufangen?« Ollie wurde ganz grün im Gesicht. »Nun hör aber auf, es wird schon nichts passieren. Das war doch nur Spaß! Jedenfalls wird es dir unauslöschlich in Erinnerung bleiben.« »Klar, wenn ich’s überlebe.« Paul zeigte einem der Wachmänner am Eingang seine schriftliche Dreherlaubnis. Sie wurden darüber aufgeklärt, daß es zwei Aufstiegsmöglichkeiten gab, eine eiserne Treppe und einen Kabelaufzug. Die Entscheidung fiel ihnen nicht schwer. Während sie in dem Eisenkäfig langsam hinauf zum ersten Treppenabsatz schwebten, starrte Ollie mit weit aufgerissenen Augen auf das Innere der Statue unter ihnen. Paul versuchte, gelangweilt zu wirken; ihm flößte die Statue zwar Ehrfurcht ein, aber kein bißchen Angst. Unzählige eiserne Streben und Verankerungen stützten die Statue von innen. Jede Strebe war für ihren besonderen Platz und ihre besondere Aufgabe gearbeitet. Es war kühl im Fahrstuhl, aber Ollie schwitzte. In der Hoffnung, daß sein Gehilfe sich entspannen würde, deutete Paul auf die beweglichen
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Stäbe, die Alexandre Gustave Eiffel für alle vier Ecken der Statue konstruiert hatte, die dafür sorgten, daß die Konstruktion bei starkem Wind ein paar Zentimeter in jede Richtung nachgeben konnte. Aber Ollie beachtete ihn gar nicht. Paul erklärte ihm weiter, daß die dünnen, biegsamen Kupferplatten der Außenhaut bei Wind ebenfalls nachgaben. »Man sagt, daß sich die Statue bewegt und atmet. Sonst würde sie keinem Sturm standhalten.« Ollie hörte immer noch nicht zu, sondern murmelte nur etwas vor sich hin. Paul fragte sich, ob er betete. Als der Fahrstuhl erneut anhielt, kontrollierte ein zweiter Wachmann ihre Papiere. Dann trat er zurück und deutete auf die schmale Eisenleiter hinter einer geschwungenen Querstrebe. »Na, dann viel Spaß, Jungs! Die Tür dort oben ist niedrig, ihr werdet’ euch bücken müssen, um hinauszukommen. Und es ist sehr windig dort oben, also werdet nicht übermütig!« »O mein Gott«, stöhnte Ollie. Er sah zuerst den Wachmann an, dann Paul, legte den Kopf zurück und blickte die Leiter hinauf, die immer schmaler und unwirklicher zu werden schien, je höher sie in den Arm der Statue hinaufführte. Ollie kroch unter der Querstrebe hindurch. Paul hob die Kamera darüber und kroch dann darunter her. Ollie wischte sich die Hände an seinen Hosen ab, atmete tief durch und setzte den Fuß auf die unterste Sprosse. Auf der zweiten Sprosse faßte er nach unten und nahm die Kamera in die linke Hand, während Paul das Stativ abstützte. Und so kletterten sie hinauf. Jeder Schritt war gefährlich. Paul lehnte die Kamera gegen die Leiter; eine Hand hielt die Kamera, und mit der anderen umklammerte er die Sprossen, während Ollie beide Hände zum Hinaufklettern benutzte, um dann, wenn er sicher stand, die Kamera hinter sich herzuziehen. Schon bald schwitzte Paul genauso wie sein Kollege. Als er hinunterschaute, wünschte er, er hätte es nicht getan. Der Wachmann auf dem zweiten Treppenabsatz sah so klein aus wie eine Puppe. Der Wind heulte. »Alles okay?« rief Paul, als sie zwei Drittel hinter sich hatten. Ollie zog die Kamera zur nächsten Sprosse hinauf. Plötzlich fühlte Paul, wie das Gewicht sich verlagerte; Ollie hatte die Kamera losgelassen. Einen Moment lang geriet Paul ins Schwanken, die Sprosse schnitt in seine linke Handfläche, das Stativ drückte gegen seine Brust, als die Kamera über seinen Kopf in die Tiefe zu fallen drohte … Vorbei, dachte er. Mit einem schnellen Griff – und einem Fluch – schnappte Ollie sich die Kamera, indem er sich von der Leiter in einem Winkel von fünfundvierzig
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Grad wegbeugte. Sie verharrten einige Minuten still im Halbdunkel, um sich zu beruhigen und neue Kraft zu sammeln. Den Rest ihres beschwerlichen Aufstiegs legten sie ohne Zwischenfall zurück. Je weiter sie nach oben kamen, desto heller schimmerte das schwache Licht durch eine Reihe runder Fenster am Fuße der Fackel. Die Tür zur Aussichtsplattform war nur knapp eineinhalb Meter hoch und schmal. Ollie mußte alle Kräfte aufbieten, um sie mit dem Rücken aufzudrücken; als das Licht durch die Tür fiel, wurde alles ein wenig einfacher. Mit großer Anstrengung gelang es Paul, die Kamera zu Ollie auf die Aussichtsplattform zu hieven, bevor er selbst hinauskletterte. Sie befanden sich mehr als einhundert Meter über dem Boden. Paul drückte seine Mütze fester auf den Kopf. In dieser Höhe wehte ein starker Wind. Während er sich am Geländer festhielt und hinuntersah, kam ihm die Aussicht fremd und schwindelerregend vor. Sollte er hinunterfallen, würde er höchstwahrscheinlich von einer der Spitzen der Krone durchbohrt werden. Gemeinsam schafften sie die Kamera an einen Punkt der Aussichtsplattform mit gutem Blick auf die Hafeneinfahrt. Paul stellte das Stativ auf. »Bin ich froh, daß wir’s geschafft haben«, meinte Ollie. »Du wirst noch deinen Enkelkindern von diesem Tag erzählen.« »Welches Schiff wird erwartet?« Paul antwortete: »Die Statendam. Aus Amsterdam.« »Einwanderer, stimmt’s?« »Sehr viele sogar. Ich habe mit der Einwanderungsbehörde gesprochen, um ganz sicherzugehen.« »Wann kommt sie?« Er ließ den Deckel seiner Taschenuhr aufschnappen. »Jetzt.« Aber da von dem Schiff noch nichts zu sehen war, trat Paul wieder ans Geländer und ließ den Blick über die Stadt, die Schiffe und die Hafeneinfahrt schweifen, die abwechselnd in Licht und Schatten getaucht wurden. Nebelschwaden zogen an der Fackel vorbei, hin und wieder von der Sonne beleuchtet. Sein Magen rebellierte, als er fühlte, wie die kupferne Dame schwankte. Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, bis das Schwanken aufhörte. Er mußte an den alten Valter denken. Wie aufgeregt der damals gewesen war, als die Rheinland an der Statue vorüberfuhr und er aus dem kleinen Reiseführer vorlas … nicht weniger aufgeregt als der kleine Junge Pauli. Was war der Sinn seiner Reise, seiner Suche, seiner Wanderung durch Zeit und Raum, seiner Erfahrungen, seiner Begegnungen mit Tausenden
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von Menschen, seiner verschiedenen Identitäten – Pauli, Paul, Heine, Dutch? Jetzt glaubte er, die Frage beantworten zu können, denn sie hatte ihren Ursprung am Anfang der Reise, als er allein durch die Straßen in Berlin lief und sich fragte, wo er eigentlich hingehörte – wenn es überhaupt einen Ort gab, wo er hingehörte. Er hatte sich gefragt, wo seine Heimat war – sofern es eine Heimat für ihn gab. Gestern hatte er das Zeichen empfangen. Er gehörte zu Julie, hierher nach Amerika. Hier wurde er geliebt, hier waren die Menschen frei. Frei, Gutes und Böses zu tun, aber frei; freier vielleicht als in der bedrückenden, verfallenden Alten Welt. Immer noch kamen Hunderttausende aus der Alten Welt, angelockt von der Freiheit, die diese Fackel verhieß, deren erstarrte Kupferflamme sich hinter ihm erhob. Michael Radcliffe, der ewige Pessimist, hatte von einer neuen Bedrohung der Welt gesprochen, von einem neuen Ausbruch der alten Krankheit Nationalismus, die schon in wenigen Jahren Millionen Menschen den Tod bringen würde. Erste Anzeichen zeigten sich bereits in der zunehmenden Unnachgiebigkeit des Kaisers und seiner militärischen Berater, aber auch bei einigen Amerikanern wie Oberstleutnant Roosevelt, dem jetzigen Vizepräsidenten. Aber selbst Paul war nicht frei davon. Diese Statue, die Aussicht zu seinen Füßen und das, was sie in seinem Herzen auslöste, waren der Beweis dafür. Das Land, das er auserwählt hatte, war nicht perfekt, ebenso wenig wie er selbst. Aber es gab Wichtigeres. Er hatte in Amerika eine Liebe, eine Familie und ein Ziel gefunden. Und die Freiheit, nach diesen drei Dingen zu streben. Die alten Zweifel, die alten Fragen, die alten Warnungen des Bäckers von Wuppertal hatten ausgedient. Plötzlich ertönte ein lautes Schiffssignal aus der Hafeneinfahrt. Aus dem Nebel tauchte der Bug des holländischen Schiffes auf. »Du hattest recht«, rief Ollie, »überall an Deck sind Menschen zu erkennen.« Ein Schlepper, so klein wie ein Spielzeug, glitt durch das Wasser auf den Dampfer zu. Ein zweiter folgte. Die Statendam gab noch einen schrillen Pfeifton ab, so laut, daß Paul meinte, die Statue vibriere wieder. Aus dem schimmernden Nebel tauchte das Schiff auf. Paul duckte sich hinter die Kamera dort oben auf der Aussichtsplattform hoch über dem Hafen. Schnell drehte er den Schirm seiner Mütze nach hinten. »Ich kurbele.« Er war zu Hause.
NACHWORT Denn ich halte Enthusiasmus nicht für den schlechtesten Leitfaden, um Geschichte zu begreifen. Admiral Mahan Irgendwann im Frühjahr 1991, mitten in der Arbeit an diesem Buch, aß ich mit einem Freund von der Historischen Fakultät der University of South Carolina zu Mittag. Wir sprachen über die Kunst und das Geschick, Geschichte vor einer Klasse oder in einem Buch weiterzugeben, und von Gelehrten, die schreiben, um eine persönliche Theorie oder einen Standpunkt zu untermauern, die Details verändern und Tatsachen zurechtbiegen, um die Stichhaltigkeit einer bestimmten Sichtweise – der marxistischen oder Freudschen vielleicht – eines wichtigen Ereignisses oder einer Epoche zu beweisen. Mein Freund schüttelte darüber nur den Kopf. Er meinte: »Unsere erste Pflicht besteht darin, wahrheitsgemäß zu berichten.« So verhält es sich auch mit diesem Roman und den nachfolgenden Romanen dieses Zyklus. Die Flamme der Freiheit beginnt dort, wo die Chronik der Familie Kent endet, im Jahr 1891. Meine Absicht war es, eine neue Reihe von Figuren zu schaffen – eine neue Familie, die neben den Kents, den Mains, den Hazards und den Nachkommen von Mack und Nellie Chance existiert –, anhand derer ein Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts dem Leser auf unterhaltsame Weise nähergebracht werden kann. »Wahrheitsgemäß berichten.« Geht man von der bedeutenden Rolle Amerikas in den letzten 100 Jahren aus, die mitunter »das amerikanische Jahrhundert« genannt werden, bedeutet dies eine Auseinandersetzung mit der Weltgeschichte. Der erste Schritt ist Die Flamme der Freiheit. Möglich gemacht wurde das Buch erst durch die uneingeschränkte Hilfe verschiedener Menschen und Institutionen, die ich angesprochen habe. Bevor ich ihnen danke, sollte ich noch ein paar Anmerkungen zum Roman selbst machen. Ich übertreibe nicht, was den Gesundheitszustand von Frauen in der damaligen Zeit betrifft. Unwissenheit und Gleichgültigkeit waren an der Tagesordnung, die Behandlungsmethoden grauenhaft, untauglich oder einfach nicht vorhanden. Niemand fand es auch nur der Rede wert, wenn eine Frau wiederholt an der weitverbreiteten »Nervenschwäche« erkrankte; es war die Regel. Männer betrachteten sich als Autoritäten in Sachen Frauenkörper, obwohl ihr einziger Wegweiser ihre Selbstüberschätzung war. Die sogenannten »neuen Frauen« haben entschieden dazu beigetragen, diesen Mißstand ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rücken.
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Wir verfügen über Beschreibungen von Schiffsmodellen aus Pappe, die für die Kamera in Wasserbehältern »in die Luft gesprengt wurden«, um so den Untergang der Maine zu simulieren. Shadows kleiner Film ist diesen damaligen Beschreibungen nachempfunden. Das Publikum vor 96 Jahren ließ sich zwar durch solche Nachahmungen nicht wirklich täuschen, aber das Medium war noch so neu und andersartig, daß die Bilder trotzdem aufregend und spannend waren. Erste Filmemacher wie Albert E. Smith und Billy Bitzer schleppten ihre Kameras im Jahr 1898 tatsächlich nach Kuba, und wie aus sicheren Quellen hervorgeht, auch William Paley vom Eden-Museum. Einige von Pauls Erfahrungen gehen auf die veröffentlichten Memoiren von Smith und Bitzer zurück. Filmfans werden in Bitzer den Kameramann erkennen, der The Birth of a Nation und viele andere D. W. Griffith-Filme gedreht hat. Er war jahrelang Griffith’ unentbehrliche rechte Hand. General Crowns Bericht nach der Schlacht bei Las Guásimas ist eine freie Bearbeitung der Berichte von General S. B. M. Young und Oberst Leonard Wood. Die Schindelmacher im Nordwesten gründeten schließlich im Jahr 1901 ihre erste Gewerkschaft. Aber auch dies führte für sie kaum zu Arbeitserleichterungen. Die Eisentreppe, die zur Fackel der Freiheitsstatue führt, wurde 1916 für Besucher geschlossen. Im Folgenden möchte ich die Menschen und Institutionen namentlich erwähnen, die so großzügig mit ihrer Zeit und ihren Informationen waren. Ich stehe tief in ihrer Schuld. Aber ich muß wie immer darauf hinweisen, daß sie in keiner Weise für den Inhalt des Buches beziehungsweise die Art und Weise, wie das von ihnen zur Verfügung gestellte Material verwendet wurde, verantwortlich sind. Die kreative Leistung habe ich ganz allein erbracht. Ich habe schon von jeher und, wie ich meine, aus offensichtlichen Gründen eine besondere Beziehung zu Bibliotheken und Bibliothekaren. Ich liebe Bücher. (Einer meiner ersten Ferienjobs bestand darin, in einer Zweigstelle der Chicago Public Library die Bücher wieder in die Regale zu räumen.) Büchereien sind die Säulen, auf denen eine Gesellschaft ruht. Ich glaube, daß ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Vernachlässigung der Bibliotheken in den Vereinigten Staaten und den Problemen im Bildungsbereich, bei der Produktivität sowie der Unfähigkeit, in der heutigen Welt konkurrenzfähig zu bleiben. Büchereien sind kostenlose Universitäten für die Bürger eines Landes.
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Für mich persönlich sind Büchereien Orte, wo ich meine Recherchen betreibe. Ich möchte deshalb gleich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft beginnen und den engagierten Mitarbeitern der Hilton Head Island Library ein großes Lob aussprechen, vor allem Ruth Gaul, Mike Bennett und seiner Vorgängerin Sue Rainey, die sich als Spezialisten für das Aufspüren »unauffindbarer« Bücher erwiesen haben. Danken möchte ich auch Alan Amoine, dem Leiter der Abteilung für Spezialsammlungen der United States Military Academy Library in West Point; Paul Eugen Camp von der gleichen Abteilung der Library of the University of South Florida in Tampa; Peter Harrington, Kurator der Anne S.K. Brown Military Collection der Brown University; meiner treuen Freundin Mrs. Joyce Miles von der Dayton and Montgomery County, Ohio, Public Library; Barry Moreno, Bibliothekar des Statue of Liberty National Monument; Eric L. Mundell, Leiter der Nachschlageabteilung der Indiana State Historical Society in Indianapolis; meinem Freund und Mitstreiter bei der Konferenz für Bibliotheken und Information im Weißen Haus im Jahr 1991, Robert E. Schnare – dem ich bereits für seine Hilfe bei The North and South Trilogy verbunden bin, die er mir als Leiter der Abteilung für Spezialsammlungen in West Point zukommen ließ –, heute ist er Direktor der Bibliothek des Navy War College in Newport; Jeff Thomas, Archivar der Bibliotheksabteilung der Ohio Historical Society in Columbus; Evelyn Walker, Bibliothekarin für seltene Bücher in der Rush Rhees Library der University of Rochester; Ray Wemmlinger, Kurator der Hampden-Booth Theatre Library im The Players in New York – »diesem besonderen Club«, dem ich mit Stolz angehöre; und der Westminster Reference Library in London. Dankbar bin ich dem Landesarchiv Berlin vor allem dafür, daß es mir so viele hilfreiche Karten der Stadt um das Jahr 1890 zur Verfügung gestellt hat, denn mit ihnen konnte ich während meiner Spaziergänge in die Vergangenheit eintauchen. Die meisten wesentlichen Vorbereitungen für das Buch fanden in der Thomas Cooper Library der University of South Carolina (USC), Columbia, statt. Ich danke den Mitarbeitern ebenso wie dem Dekan, Dr. Arthur Young, und Dr. George Terry, dem Leiter aller Büchereien und Sammlungen der Universität. Der Mann, der mir die Türen zu dieser Universität geöffnet hat, weilt nicht mehr unter uns, um meinen Dank entgegenzunehmen. Im Herbst 1989, nachdem ich einen von der Historischen Fakultät der USC getragenen öffentlichen Vortrag gehalten hatte, bot mir der verstorbene Dr. Tom Connelly eine Ernennung zum Forschungsassistenten in der Fakultät an. Ich
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zögerte nicht eine Sekunde, weil ich dadurch nicht nur Gelegenheit hatte, mit Forschern zu arbeiten, sondern darüber hinaus die zahlreichen Bibliotheken nutzen konnte – ein Geschenk, für das ich unendlich dankbar war. Tom Connelly war ein großer, schlanker Mann aus Tennessee mit scharfem Verstand und einer bewundernswerten Großzügigkeit. Er war außerdem ein großer Kenner der Geschichte des Sezessionskrieges und konnte wunderbar schreiben. Seine Studie des Menschen hinter der historischen Figur des Robert E. Lee mit dem Titel The Marble Man ist ein großartiges Werk. Auch die Krankheit, die ihn zum Schluß heimgesucht hatte, konnte ihn nicht in die Knie zwingen. Ich lernte ihn erst ungefähr ein Jahr vor seinem Tod kennen, aber ich werde sein Andenken stets in Ehren halten. Aber auch andere Historiker der USC waren gleichsam freundlich und hilfreich, so der gegenwärtige Leiter der Historischen Fakultät Dr. Peter Becker und zwei besondere Freunde, Dr. Lawrence Rowland von der USC in Beaufort und Dr. Tom Terrill von der Columbia University. Danken möchte ich außerdem Dr. Carol McGinnis Kay, Dekan des College of Humanities and Social Sciences, die meine wachsende Beziehung zur Universität gefördert und ermutigt hat. Da meine Arbeit jedoch fakultätsübergreifend war, stehe ich auch in der Schuld von Dr. Bert Dillon, dem Leiter der Englischen Fakultät, der mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Wertvolle Recherchen fanden auch über die Freiheitsstatue und Ellis Island statt, unsere beiden Nationaldenkmäler in New York Harbor. Ermöglicht wurde meine Arbeit dort von der Aufsichtsbeamtin Ann M. Belkov und ihrem Stellvertreter Larry Steeler. Der Denkmalschützer und Dolmetscher George Tonkin war mir ein wertvoller Führer auf Ellis Island. Der Erste Denkmalpfleger Peter Stolz stellte mir sein beeindruckendes Wissen über die Freiheitsstatue, ihre Entstehung, ihren Bau und ihre Geschichte zur Verfügung. Ich danke allen für ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit. Ich möchte jedoch noch zahlreichen anderen für ihre wichtige Unterstützung danken: Dr. Sarah Blackstone von der School of Drama der University of Washington in Seattle, Verfasserin der interessanten und überaus unterhaltsamen Dissertation über die Unwägbarkeiten, mit denen die Truppe der Buffalo Bill Wild West Show während ihrer Tournee zu kämpfen hatte; Philip L. Condax, leitender Kurator der technologischen Abteilung des George Eastman House International Museum of Photography in Rochester, New York – in dessen Theater meine Frau und ich für nur fünfzig Cents pro Vorstellung einen unglaublichen Schnellkurs
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in Filmgeschichte gemacht haben; meinem Schwager, Dr. Luther Erickson vom Grinnell College; Paul Fees, Kurator des Buffalo Bill Museums in Cody, Wyoming; Robert Fisch, Kurator der Waffenabteilung des Museum of the Military Academy in West Point; Peg Hamilton, Lehrerin am Hilton Head Prep; meinen teuren Freunden Carl und Denny Hattler; meinem Sohn J. Michael Jakes in Washington, D.C.; Philip C. Katz am Beer Institute in Washington; Robert Keene, Direktor des Southampton Historical Museum und Stadthistoriker von Southampton, New York; Siegfried und Ilsa Kessler aus Hilton Head Island und Aalen, Deutschland, die den Kontakt zu meiner Familie in Deutschland herstellten und auf diese Weise den Samen für diese Geschichte legten; Komponist und Freund Mel Marvin, geboren in South Carolina; Charles Miller von der kartographischen Abteilung der National Geographie Society; meinem Schwiegersohn Michael H. Montgomery; Jay Mundhenk, der mir sein Wissen über den Sezessionskrieg zur Verfügung stellte; Kate Parkin, meiner wunderbaren englischen Lektorin, die mir bei HarperCollins in London sehr fehlen wird; Rosalind Ramsay von Andrew Nürnberg Associates in London, meinen Agenten in Europa; meinem Vetter Thomas Ratz in Aalen und seiner lieben Frau Elfriede; unseren Freunden Richard und Barbara Spark; Linda Wilson, Mitarbeiterin von Senator Strom Thurmond in Washington, die mir den Weg durch den bürokratischen Dschungel geebnet hat, um mich mit genauen Informationen über die Anforderungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft vor 100 Jahren zu versorgen; und Dr. Lewis N. Wynne, Direktor der Florida Historical Society. Bei besonders schwierigen Fragen konnte ich stets auf die Findigkeit von David Follmer vertrauen, der seine Heimatstadt Chicago wie kein zweiter kennt (seine einzige Schwäche scheint die aus meiner Sicht unglückliche Bevorzugung der White Sox vor den Cubs), sowie auf den stets zuverlässigen erstklassigen Bibliothekar und Datenbankspezialisten Dan Starer in New York City. Der zuletzt genannte, aber gleichwohl wichtige Helfer ist Kenan Heise, der mir die wichtigsten Daten der Stadtgeschichte aus seiner Chicago Historical Booksworks in Evanston zur Verfügung stellte. Kenan hat an entscheidenden Stellen die richtigen Weichen gestellt. Bei Bantam Doubleday Dell standen mir mit ständigem Rat zur Verfügung Jack Hoeft, Geschäftsführer des Unternehmens, Steve Rubin, Verleger von Doubleday, Linda Grey, bei Vertragsabschluß Verlegerin von Bantam, und Lynn Fendwick, Mitarbeiterin und gute Fee meines Lektors. Mein Anwalt Frank R. Curtis machte mir vor allem während einer dunklen Zeit zu Beginn des Projektes Mut. Sein Rat und sein Humor waren
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mir eine unerläßliche Stütze. Natürlich stehe ich für immer tief in der Schuld meiner liebenden Frau Rachel, die Buch um Buch erträgt und mit Mut, Geduld und Zuneigung durch Dunkelheit und Licht mit mir geht. Auch Freunde waren stets für mich da und ertrugen mein leider viel zu häufiges Gejammer, ohne zu klagen und zu murren. Damit meine ich im besonderen Carl und Denny Hattler und Bud und Doris Shay von Hilton Head. Und nun komme ich zur ungewöhnlichsten Danksagung, die ich jemals geschrieben habe – und vielleicht sogar zur ungewöhnlichsten in allen historischen Romanen. Das wunderbare Ragtime-Klavierstück des letzten Kapitels wurde natürlich nicht vom fiktiven Harry Poland komponiert, sondern auf meinen Wunsch von einem Musiker, der Ragtime und seine Zeit über alles liebt. Er ist ein international anerkannter Musicalkomponist und hat meinem Wunsch mit Begeisterung entsprochen. Eines seiner größten Werke schrieb er für das Musical Rags, ein Name mit doppelter Bedeutung, denn zum einen bezeichnet er die Einwanderer in der Zeit des Musicals (die gleichzeitig die Zeit ist, in der der Roman spielt), und zum anderen die Musik, die sie in Amerika vorfanden; der Komponist hat sie in neuen und bezaubernden Liedern zu neuem Leben erweckt. Den Kritikern ist es zu verdanken, daß das Musical bereits nach kurzer Spielzeit –viel zu früh – wieder abgesetzt wurde – angeblich aufgrund einer schwerfälligen Handlung. Das Musical ist nichtsdestotrotz zu einer Art Legende geworden und wird immer noch aufgeführt. Manche bezeichnen es als »das Musical, das niemals stirbt«. Der Komponist von Rags und Ragtime Rose ist mein Freund Charles Strouse. Ich danke Dir von Herzen, Charles. Jetzt bleibt mir nur noch, meinem unermüdlichsten Helfer, Lektor und guten Freund Herman Gollob zu danken. Aber wie sag ich’s? Worte reichen nicht aus, aber ich will es trotzdem versuchen. Um uns beiden zu einem guten Buch zu verhelfen, machte Herman Gebrauch von »Geduld, gutem Zureden und der Peitsche«, wie es ein anderer meiner großartigen Lektoren, Howard Browne, auszudrücken pflegte. Wie ein geschulter Psychiater hat Herman mir ein Buch entlockt, von dessen Existenz ich nicht einmal selbst wußte. Und genau das zeichnet einen großartigen Lektor aus. Im Jahr 1901 schrieb William Dean Howells folgende warnende Worte. »Paradoxerweise ist unser Leben zu weitschweifig, als daß unsere Kunst allumfassend sein könnte. Verzweifelt über den unglaublichen Spielraum und die Vielfalt des Materials, die ihr die amerikanische Gesellschaft zur Verfügung stellt, muß sich die amerikanische Romanliteratur spezialisieren
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und sich von der Fülle der Charaktere abwenden, um sich in eine oder vielleicht zwei Seelen zu vertiefen.« In anderen Worten heißt dies, daß wir mit amerikanischen Miniaturen vorliebnehmen müssen, weil wir keine amerikanischen Wandgemälde zustande bringen. Nun, wir können es zumindest versuchen. Während ich mich dieser Aufgabe gestellt habe, hat eine politische Befragung im Frühjahr 1992 folgendes bedrückendes Ergebnis zu Tage gebracht. »Über 60 Prozent aller Befragten glauben, daß Amerika im Niedergang begriffen ist.« Aus ähnlichen Befragungen wissen wir, daß die heutigen Amerikaner der Meinung sind, daß ihren Kindern und Enkelkindern kein besseres Leben bevorsteht als den Generationen vor ihnen. Das stimmt mich nachdenklich. Vielleicht ist es töricht, einen Roman über Hoffnung zu schreiben, wenn die Menschen im Land verwirrt, wenn nicht sogar verzweifelt sind. Aber ich versuche, die Wirklichkeit der Vergangenheit, die ich beschreibe, zu spiegeln. »Wahrheitsgemäß berichten.« In der Zeit, in der dieser Roman spielt, wurden die Menschen von einer Flutwelle der Hoffnung mitgerissen. Amerika war buchstäblich der Inbegriff der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier war kein Problem unlösbar. Hier, so hoffte man, würden die Kinder und Enkelkinder gedeihen und die unerreichbaren Träume ihrer Vorfahren verwirklichen, die dieses Land nur unter größten Mühen überhaupt erreichten. Die Hoffnung brachte auch meinen Großvater nach Amerika. Ihn und Millionen andere. Sicherlich war die Hoffnung in mancherlei Hinsicht trügerisch, naiv und sentimental. Im Angesicht von soviel Freiheit gab es natürlich auch schon damals grausame, verschlagene und unehrliche Amerikaner. Manche kehrten enttäuscht in ihre Heimat zurück. Aber viele blieben, die meisten sogar. Hoffnung lag in der Luft. Ich hoffe, daß wir dies eines Tages wieder sagen können. John Jakes Hilton Head Island, South Carolina Greenwich, Connecticut Mai 1990 – Oktober 1992
Hinweise zu den Buchkunstarbeiten von Achim Kiel Das Hintergrundmotiv des Schutzumschlages ist ein deutscher Überseekoffer aus der Jahrhundertwende, zu erkennen an den typischen Holzkufen. Einem alten Gepäckschein zufolge ist dieses offensichtlich weitgereiste Gepäckstück noch in den 5Oer Jahren von Cuxhaven nach New York verschifft worden. Um 1900, während einer der großen Auswanderungswellen über den Atlantik, wurde auch die chromolithographierte Postkarte verschickt. Ellis Island war die erste Station der Immigranten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Seit dem 28. Oktober 1866 wurden sie auf dem Weg dorthin von der elektrisch illuminierten Fackel der Statue Of Liberty begrüßt. Die Göttin der Freiheit, eine Arbeit von Bartholdi, ist ein Geschenk der Republik Frankreich an das amerikanische Volk. Um die 46 Meter hohe, kupfergetriebene und auf ein Eisengerüst montierte Bildsäule auf Bedloe’s Island (danach Liberty Island) aufstellen zu können, mußte ein 16 Meter hohes Fundament mit einem 28 Meter hohen Sockel errichtet werden. Dies wurde unter anderem mit dem Verkauf von Repliken des Commitee’s Model finanziert. Die zirka 30 Zentimeter hohe Bronze auf dem Schutzumschlag ist eines dieser inzwischen selten gewordenen Exemplare. Der Künstler dankt seinem bewährten New Yorker Antiquar Jim Elkind von Lost City Arts in Soho für die hochprofessionelle Unterstützung. Die Titelschrift wurde von Axel Bertram im Egyptian Style handgemalt, einem sachlichen Schriftschnitt mit betonten, oft übergangslos angesetzten Beistrichen, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Formensprache der industriellen Revolution visualisiert. Die Kapitel-Illustrationen wurden mit fetthaltigen Stiften im Duktus von Lithographien angelegt. Diese von Alois Senefelder erfundene Flachdruck-Technik revolutionierte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Drucktechnik und führte schließlich zum OffsetVerfahren unserer Zeit. Für die aufwendige photographische Umsetzung der künstlerischen Ideen gilt Lutz Pape besonderer Dank.