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Fred McMason 1.
„Wenn im Lotosmonat des Mondjahres der Oujiang über die Ufer tritt, dann betet zu Yüeh ...
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Seewölfe 125 1
Fred McMason 1.
„Wenn im Lotosmonat des Mondjahres der Oujiang über die Ufer tritt, dann betet zu Yüeh Lao Yeh, dem Mondgott, um das kommende Unheil abzuwenden, denn Ho Po, der Graf des gelben Flusses, wird euch verdammen!“ Dieses Orakel der alten Priesterin Wu, die mit schriller Stimme gesprochen hatte, klang den Einwohnern von dem Dorf Lishui immer noch in den Ohren. Die Alte hatte recht, sie war eine Priesterin der Wu-Familie, sie konnte in die Zukunft blicken, und nur sie allein war in der Lage, das Unheil abzuwenden und den Graf des gelben Flusses wieder zu versöhnen. Natürlich forderte das ein Opfer, aber die Regierung hatte diese Opfer verboten, die die alte Wu plante. Offiziell durfte man der Gottheit des Flusses nur ein kleines Opfer bringen, um sich einen sicheren Übergang .zu erwirken. Das war bei den vornehmen Familien ein kleiner Jadering oder ein Schmuckstück, bei den Armen aber, die am meisten unter den Launen des Flusses zu leiden hatten, war es ein Menschenopfer. Nur das söhnte Ho Po wieder aus, und für gewöhnlich zog er dann die schmutziggelben Wellen zurück und zwang sie in sein altes Flußbett. Jetzt hatte ein Dämon die Pest über die benachbarte Provinz gebracht, ein Dämon, der dem gelben Grafen nicht mehr gehorchte oder der ihn einfach gewähren ließ. Deshalb mußte der Fluch der schwarzen Pest abgewandt werden. Die Reisbauern standen auf dem Dorfplatz und sahen in den gelben Fluß, der hier einen fast rechtwinkligen Bogen beschrieb und sich an der Küste schäumend in das Ostmeer ergoß. Der Oujiang schickte sich an, den Dorfplatz und die Hütten zu überfluten, wenn er weiter anschwoll. Die Pest hatte er diesmal gebracht, die Krankheit, die Tausende dahinraffte, ohne daß die Landärzte in der Lage waren, dieser Seuche Einhalt zu gebieten.
Die Flußbraut
Die alte Wu, eine verschrumpelte gelbhäutige Frau von kleiner Gestalt und mit Krüppelfüßen, murmelte fortwährend vor sich hin, während die Reisbauern auf ihre Felder starrten und die hohen Stengel der Reispflanzen nicht mehr erkennen konnten, weil der Flußgott sie zu sich in sein Bett genommen hatte. „Ho Po verlangt nach einer Braut“, flüsterte die Alte. „Erst wenn er mit ihr vermählt ist, wird er die Flut zurücknehmen und die Pest darin ertränken. Gebt ihm eine Braut, und ihr werdet sehen, daß er das Opfer gern annimmt.“ Wieder murmelte die Alte Beschwörungen, dann sah sie aus ihren Augen, die hinter kleinen Falten fast verschwanden, die Reisbauern der Reihe nach an. „Wenn wir Jadeglöckchen opfern oder Ringe aus dem rötlichen Metall, dann ...“ Sagte ein Reisbauer. Doch die Wu unterbrach ihn. „Damit ist er nicht zufrieden. Es muß so sein wie früher. Aber zuvor werde ich den Wu-Priester befragen. Holt ihn her! Er soll uns sagen, ob das Opfer nötig ist.“ Der Priester hatte sich noch nicht sehen lassen. Meist lag er in seiner Hütte auf den Reisstrohmatten, sein Gesicht war vom süßen Duft eingehüllt, und sein Geist befand sich auf Reisen. Sie holten ihn und brachten ihn zum Marktplatz. Der Wu stand mit glasigen trüben Augen da, sah in den Fluß, sah auf die Menschen, und jeder wußte, daß sein Geist jetzt behutsam und langsam zurückkehrte, um den zerbrechlichen Körper nicht zu erschrecken. „Bereitet alles vor“, sagte er mit brüchiger Stimme, „ich werde das Orakel befragen.“ Dann hockte er sich auf den staubigen Boden aus getrocknetem Lehm und starrte wieder vor sich hin. Über der Ortschaft wölbte sich ein azurblauer Himmel. Es war still bis auf das Tosen und Rauschen des Flusses, der sich manchmal behäbig langsam, dann wieder schnell und reißend durch sein Bett wälzte. Und er nahm alles mit, was er am Weg
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fand, Reispflanzen, Weizen, Bohnen, Hütten und Vieh. Das alles schob und drängte er mit furchtbarer Gewalt vor sich her, bis er das Ostmeer erreichte und seine Beute dort ausspie. Auf dem Dorfplatz wurde ein Feuer entzündet. Die jüngeren Leute brachten Schlagbecken aus Bronze und hölzerne Stäbe herbei. Die alte Wu brachte ihre Trommel mit dem Hundebalg. Die Flammen schlugen höher, das Reisstroh brannte jetzt in heller Glut, und der Priester, der sich auch Wu nannte, erhob sich taumelnd und ergriff mit zitternden Händen zwei Schildkrötenpanzer. Es war kein Fleisch mehr an ihnen, die Ameisen hatten die toten Tiere bis auf den Panzer gefressen. Die alte Wu gab das Zeichen, und dann setzte ein ganz zarter, wehmütiger Gesang ein, ein Lied, das den Gott des Flusses lobte und den Mondgott pries. Dazwischen erklang das trockene Klacken der Hölzer, und immer wenn der Gesang abbrach, schlug die alte Wu mit ihren knöchernen Fingern auf den Hundebalg, bis die Trommel einen dumpfen Ton von sich gab. Der Priester murmelte Beschwörungen, die alte Wu hörte auf zu trommeln und rang die Hände zum Himmel. Dann schritt der Wu feierlich vor und warf die Schildkrötenpanzer ins Feuer. Es prasselte und knackte, um die Schalen zuckte grünlicher Schein auf, sie verschwanden und wurden von der Glut bedeckt. Wieder begann der Gesang, die alte Wu trommelte schneller. Ihr Gesicht sah aus wie eine Ledermaske, ihre eingeschrumpften Lippen bewegten sich pausenlos. Das ging eine ganze Weile so, bis das Feuer herunterbrannte und nur noch Glut und weiße Asche die Schildkrötenpanzer bedeckte. Der Priester gab den jungen Männern ein Zeichen, noch mehr Reisstroh nachzuwerfen. Noch einmal prasselten die Flammen mannshoch auf, dann hatte das Feuer das Reisstroh verzehrt und sank in sich zusammen.
Die Flußbraut
Mit einem Bambusstöckchen stocherte der Priester in der Asche herum, bis er die beiden Panzer fand. Ruckartig schleuderte er sie aus der Glut. Dann ergriff er sie, so heiß wie sie waren, mit beiden Händen und betrachtete sie genau. Die Dorfbewohner sahen schweigend zu, ihre Blicke waren gespannt auf den Wu gerichtet, der die eine Schale jetzt vorsichtig zu Boden legte, dann die andere nahm und sie genauso betrachtete. In den Krötenpanzern zeigten sich Risse und lange Sprünge, die das Feuer verursacht hatte. Aus diesen Rissen und Sprüngen las der Wu das, was die Zukunft ihm sagte. Er nickte mehrmals vor sich hin, ehe er die Panzer der alten Wu gab, die sie sorgenvoll ansah. Schließlich reichte sie ihm die Panzer zurück, die zusammengekniffenen Augen dabei starr auf den Priester gerichtet. „Ein Ding stirbt, wenn es geboren wird“, sagte der Priester, „und der Schatten eines fliegenden Vogels bewegt sich nie. Das ist die Weisheit des alten Kung-sun. Wenn ein Bambusstock von einer Armeslänge jeden Tag in der Länge um seine Hälfte gebrochen wird, dann bleibt nach hunderttausend Generationen immer noch ein Rest übrig. Die Risse und Sprünge weisen nach Süden, wo es keine Grenze gibt und doch eine.“ „Wie läßt die Pest sich bannen?“ fragte die Wu heiser. „Müssen wir das Opfer bringen? Ich las es aus den Sprüngen.“ „Auch ich las es“, erwiderte der Priester. „Wir müssen das Opfer bringen, es muß gegeben werden. Es ist nun deine Aufgabe, das klügste und schönste Mädchen des Dorfes herauszusuchen. Sie muß durch Bildung und Schönheit bestechen. Ich hoffe, du triffst die richtige Wahl unter den Töchtern.“ Als die alte Wu nickte, stand der Entschluß fest. Der Graf des gelben Flusses sollte mit der schönsten und klügsten jungen Frau des Ortes vermählt werden. Die Reisbauern gingen auseinander. Nur einige blieben noch stehen und sahen voller Besorgnis in den Fluß.
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Das klügste und intelligenteste Mädchen des Dorfes war die achtzehnjährige Ch'ingchao Li-Hsia. Ihr Name bedeutete soviel wie: Flüssiges Licht im beginnenden Sommer. Auf sie fiel die Wahl der Alten, denn sie war an Intelligenz nicht zu übertreffen, und an Schönheit erst recht nicht. Sie hatte eine Schule am Ostmeer besucht und die Sprache der Fremden Teufel zum größten Teil erlernt. Ein Regierungsbeamter hatte ihr versprochen, daß sie eine Stelle beim Staat erhalten würde, die so gut dotiert war, daß ihre Familie nie wieder Reis würde anpflanzen müssen. Und ihre künftige Aufgabe sollte darin bestehen, den beginnenden Handel mit den Fremden Teufeln abzuwickeln, deren Sprache sonst niemand mächtig war, bis auf ein paar Ausnahmen. Noch in derselben Stunde erschien die Wu bei ihren Eltern. Feierlich verkündete sie das, was der Priester aus dem Orakel erfahren hatte. Der Vater verneigte sich, die Mutter weinte vor Freude, nur „Flüssiges Licht“ blieb still und in sich gekehrt, als sie von der bevorstehenden Vermählung hörte. „Diese Ehre“, murmelte der alte Vater, „diese große Ehre trifft ausgerechnet uns Unwürdige.“ Er umarmte seine Tochter und lächelte stolz, „Nun bist du doch zu etwas nütze“, sagte er froh. Das Mädchen „Flüssiges Licht“ nickte. Sie hatte sich ihre Zukunft etwas anders vorgestellt, indem sie die Eltern und die Familie ernähren wollte, sobald sie die Stelle hatte. Dann wären sie alle Sorgen los. Stattdessen mußte sie dem Flußgott geopfert werden. „Ist es nicht von der Regierung verboten?“ fragte sie zaghaft. „Soll die Pest über uns kommen? Wagst du einen Widerspruch?“ fragte der Vater zurück.
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„Ich würde nie einen Widerspruch wagen. Ich bin bereit, und ich bin stolz, auserwählt zu werden.“ In ihrem Herzen war „Flüssiges Licht“ allerdings nicht eine Minute stolz. Ein anderes Mädchen, das nichts anderes kannte als das Dorf und die Reisfelder, wäre vielleicht froh, stolz und überglücklich gewesen, aber „Flüssiges Licht“ war ein besonderes Mädchen, und sie genoß mehr Achtung und Zuneigung als jede andere. Ihrer Intelligenz beugten sich sogar ältere. „Ho Po erwartet dich, Ch'ing-chao LiHsia“, sagte die alte Wu. „Komm mit, wir werden alles vorbereiten, es soll eine unvergessene Hochzeit werden.“ Diesmal hatten sich die Reisbauern am Dorfrand versammelt, als „Flüssiges Licht“ erschien. Sie würde mit vielen Verbeugungen begrüßt. Sie war bleich, und das ließ ihre Schönheit in den Augen der anderen nur noch vollkommener erscheinen. Auf ihren Lippen lag sogar ein Lächeln, als sie in den lehmigen Fluß blickte. „Von nun an mußt du zwei Tage fasten“, sagte die alte Wu, „und du mußt zu jeder Zeit zu Yüeh Lao Yeh, dem Mondgott beten. Dein Zelt wird gleich gebaut.“ „Flüssiges Licht“, verneigte sich, kreuzte die Arme über der Brust und ging die drei Schritte zurück, die vorgeschrieben waren, wenn sie mit einer Priesterin oder Zauberin sprach. Dann nahm das Ritual seinen Anfang. Zunächst wurde ganz in der Nähe des Flusses ein kleines Zelt errichtet. Es war grob und aus geflochtenem Leinen und enthielt in seinem Innern nichts weiter als eine Matte aus Reisstroh zum Schlafen. Andere Gegenstände gab es nicht. Als das Zelt fertig war, ging „Flüssiges Licht“ hinein, setzte sich auf die Matte und begann zum Mondgott zu beten. Von nun an erhielt sie nichts mehr zu essen und zu trinken. Gegen Abend des ersten Tages erschien die alte Wu und brachte zwei kleine kostbare Glöckchen aus Jade, die bei der leichtesten Bewegung hell klingelten. Die
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wurden „Flüssiges Licht“ um den schlanken Hals gehängt. Am zweiten Tag versammelten sich wieder alle Reisbauern und Dorfbewohner um das Zelt. Die alte Wu hatte von jeder Familie etwas empfangen, was zur Ausstaffierung der Flußbraut unbedingt notwendig war, damit Ho Po das Opfer auch annahm. Sie hüllten sie in die teuersten Seidengewänder, behängten sie mit kostbaren Juwelen, die schon Jahrhunderte im Besitz der Familien waren, kämmten ihr das Haar und schminkten ihr Gesicht mit hellen zarten Pastelltönen. Danach wurde ihr Haar zu einem Turm aufgesteckt und schwarz lackiert. „Ho Po hatte noch nie eine schönere Braut gehabt“, sagte die alte Wu glücklich. „Diese Anmut, dieser Liebreiz ihrer Bewegungen, das alles ist vollkommene Harmonie. Gleicht sie nicht ebenfalls einer Göttin?“ Ja, das fanden sie alle, die Reisbauern, die Jungen und die Alten. „Flüssiges Licht“ glich einer Göttin, einer herrlichen, zerbrechlichen Blume aus allerfeinstem Porzellan. Das Mädchen kniete auf ihrer Matte und betete. Sie verspürte weder Hunger noch Durst, sie kannte keine Angst und keinen Zorn. Die Eltern befahlen, die Kinder gehorchten. So war es, und so würde es immer sein. Lediglich ein leichtes Bedauern war in ihr, und leise Zweifel überfielen sie immer wieder. Es war keine Rebellion, die „Flüssiges Licht“ so denken ließ, es war auch keine Auflehnung. Aber sie' hatte das Gefühl, als wäre ein wunderschöner Traum geplatzt wie die schillernde Seifenblase im Wind. Sah man auf der Außenhaut dieser unglaublich zarten Gebilde nicht auch ein anderes Land, eine andere Zukunft? Eine schillernde Welt, die ganz anders aussah als die Wirklichkeit? Ganz überraschend zerplatzten diese zarten Gebilde dann, wenn sie an irgendetwas stießen, und die schillernde, geheimnisvolle Welt der Zukunft fiel lautlos in sich zusammen.
Die Flußbraut
So ähnlich fühlte sich „Flüssiges Licht“ im Lotosmonat des Mondjahres. Sie betete lauter, pries den Mondgott und haderte mit sich selbst, dass sich immer wieder andere Gedanken in ihr reines Gebet zu drängen versuchten, Gedanken, die ein junges Mädchen nicht haben durfte. Auch mißfiel es ihr, daß sie immer wieder abgelenkt wurde, denn sie ertappte sich dabei, daß sie zwischen zwei Gebeten manchmal einen Blick durch die schmalen Ritzen des Zeltes warf. Dann sah sie den Fluß schäumen, hörte sein Brausen und Tosen und glaubte, die Stimme des Flußgrafen zu hören. Sie sah und hörte aber auch noch etwas anderes: Die Reisbauern und die Jungen waren eifrig dabei, ein kleines Floß zu bauen, eine kostbare Brautstatt, die einem schwimmenden Bett glich, in dem der Flußgraf sie zur Hochzeitsnacht erwartete. Warum nur füllen sich meine Augen immer wieder mit Tränen? fragte sie sich verzweifelt. Ein anderes Mädchen hätte bestimmt nicht geweint — es wäre überglücklich gewesen. Sie versuchte diese Gedanken weit von sich zu weisen, kniete wieder auf ihrer Matte und betete. Nicht mehr lange, und der Graf des gelben Flusses würde sie holen, dann war alles vorbei. 3. Am dritten Tag war es soweit. Über dem Dorf spannte sich immer noch ein blauer Himmel, aber er war nicht mehr so blau wie am ersten Tag. Der Himmel war heller und etwas fahler geworden, das Licht der Sonne schien nicht mehr so warm. Der Fluß war nicht mehr weiter über die Ufer getreten, er hielt sich in seinem Bett, abwartend, was geschah, in der Hoffnung auf die Flußbraut, die ihn gänzlich besänftigen würde. Von der alten Wu und dem Wu-Priester geführt, trat „Flüssiges Licht“ aus dem Zelt, nickte ergeben ihren Eltern zu, die sie gerührt ansahen und schritt zu ihrer Brautstatt.
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„Gefällt sie dir?“ fragte die alte Wu mit zitternder Stimme. „Wir haben das Kostbarste gebracht, was wir hatten, und es hängt nun von Ho Po ab, ob er das Opfer annimmt. Sieh dir die Brautstatt an!“ „Flüssiges Licht“ tat, wie ihr befohlen wurde. Sie senkte den Kopf und sah errötend auf die Brautstatt. Über den Bambushölzern spannte sich schwere Seide, am Kopfende der Brautstatt befand sich ein kleiner künstlicher Himmel, der sich zu beiden Seiten des Bettes wölbte. Es war die kostbarste Seide, die es im Reich des Großen Chan gab, und sie mußte ein Vermögen gekostet haben. Noch jahrelang würden die Reisbauern und Dorfbewohner daran zahlen müssen. Ganz sicher hatten sie ihr Vieh und vielleicht auch ihre Töchter verpfändet, um diese Brautstatt herzurichten. „Sie gefällt mir sehr“, antwortete „Flüssiges Licht“ auf die Frage der alten Wu. „Ich bedanke mich bei allen.“ Das schwimmende Bett aus Bambus und Seide war nicht sehr groß. Es bot aber genügend Platz für zwei, vielleicht auch drei Menschen. „Bist du bereit, Ch'ing-chao Li-Hsia?“ fragten die Eltern. „Ich bin bereit“, flüsterte das Mädchen. Alle umarmten sie, wünschten ihr Glück und eine gute Reise. Dann hoben zwei Männer das Mädchen hoch, legten es vorsichtig auf das Floß und banden ihr Hände und Füße fest, damit die schäumenden Wellen des Flußes sie nicht vorzeitig herabrissen. Der Graf des gelben Flusses liebte es, seine Braut auf den Wellen schaukeln zu sehen, und er wünschte, daß seine gehorsamen Diener die Flußbraut möglichst lange durch sein Reich trugen. Damit die Sonne ihr Gesicht nicht rötlich verfärbte, legte ihr die alte Wu einen tellerartigen Hut aus Reisstroh über das Gesicht. Außerdem schützte sie noch der kleine bogenförmige Himmel aus blauer Seide. Die Reisbauern begannen zu singen, als sie die Brautstatt aufhoben und zum Fluß trugen. Sie sangen das Lied vom gelben
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Grafen, vom Fluß mit seinem Segen und der Fruchtbarkeit, die er brachte. Am Fluß blieben sie noch einmal stehen. Der hölzerne Steg, an dem die Boote lagen, war teilweise überflutet, das lehmige Wasser gurgelte wild darüber hinweg. Vierzehn starke Männer waren notwendig, um das Floß sicher über den Steg zu tragen. Auf ein Kommando der alten Wu traten die vorderen zurück und setzten die Brautstatt, die leicht zu schlingern begann, aufs Wasser. Jetzt hielt nur noch ein dünner Strick das Floß fest. Der Gesang schwoll an und wurde lauter, als der Priester das Seil durchschnitt. Sofort wurde das Floß von der Strömung ergriffen und trieb flußabwärts. Die alte Wu und der Priester murmelten Gebete. * „Flüssiges Licht“ wurde davongetragen. Sie hörte es gurgeln und brausen, der Strom erfaßte das Bett und riß es mit sich fort. Dabei drehte er es auch gleichzeitig um die eigene Achse. Zum erstenmal empfand das Mädchen Furcht und Beklemmung. Kleine Wellen schwappten über den Rand, durchnäßten die Seide und spülten immer wieder durch die Ritzen der Bambushölzer. Dann schien ein Strudel sie erfaßt zu haben, denn das Floß drehte sich wie irrsinnig im Kreis. Wieder schwappte lehmiges Wasser über sie, das vordere Ende der Brautstatt tauchte tief ins Wasser und schwemmte ihr den tellerartigen Hut vom Gesicht, der sich in eine Ritze der Hölzer klemmte und steckenblieb. „Flüssiges Licht“ hörte Stimmen vom Ufer, aber durch das Donnern und Tosen waren sie nur sehr schwach zu vernehmen. „Seht, die Braut des Flußgrafen“, glaubte sie zu hören. „Ho Po wird stolz auf sie sein.“ Sie versuchte sich zu bewegen, aber die kleinen Seile hielten sie fest und schnitten in ihre Gelenke, sobald sie versuchte, sich zu bewegen.
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Stundenlang ging die Fahrt weiter. Einmal stieß das Floß hart an etwas, das sich im Strom befand, oder es hatte das Ufer berührt, aber es löste sich gleich wieder und trieb weiter. Das Mädchen starrte in den Himmel, den sie sehen konnte; wenn sie den Kopf etwas bewegte und nach der Seite drehte. Winzige kleine Wolken tanzten in dem fahlen Blau, und jetzt plötzlich verspürte sie Hunger und Durst. Wie lange würde es dauern, bis der Graf des gelben Flusses sie holte? Ein paar Stunden oder ein paar Tage? Eine Welle überschwappte sie. Sie hatte gerade den Mund geöffnet, und schluckte das lehmige Wasser, das ekelhaft modrig schmeckte. Auch der Geruch des Flusses störte sie. Überall roch es modrig und faul, mitunter leicht nach Verwesung. Sie versuchte, zum Mondgott zu beten, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder irrten ihre Gedanken ab und gingen seltsame Wege, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Nach einer Ewigkeit brach die Dämmerung an, es wurde dunkel, und über dem wild dahinfließenden Fluß erschien ein gelber Mond, der sanft und freundlich auf sie niederblickte. „Flüssiges Licht“ spürte Kälte und Nässe. Ihr schmächtiger Körper war verkrampft und steif. Wenn ich mich doch wenigstens bewegen könnte, dachte sie immer wieder, um mich einmal auf die andere Seite drehen und die erstarrten Glieder strecken zu können. Doch das ging nicht. Die Fesseln hielten sie fest, und durch die Nässe quollen sie auf und wurden immer stärker. Weit voraus, aber doch deutlich hörbar, war ein Donnern und Brausen. Manchmal schwieg der Fluß, dann wieder brüllte er wild auf, danach herrschte für kurze Zeit Ruhe. „Flüssiges Licht“ wußte nicht, was das zu bedeuten hatte. Hilflos mußte sie mit ansehen, wie der Mond weiter nach links glitt, bis er aus ihrem Gesichtsfeld verschwand. Dann herrschte wieder diese unnatürliche Ruhe, die aber nicht lange
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währte. Dafür schwoll das Donnern und Brausen an und wurde immer lauter und mächtiger. Das Mädchen preßte die Lippen zusammen und lauschte mit wachen Sinnen in die Finsternis, bis es sich plötzlich frei und unbeschwert fühlte. Augenblicke später trug der Fluß sie nicht mehr, sie schwebte in der Luft, ihr Kopf glitt voran in eine bodenlose Tiefe. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust. Sie hielt den Atem an. Erschien jetzt der Graf, um seine Braut zu holen? War dies der Augenblick? Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr jeder Knochen im Leib einzeln gebrochen, als das Floß kopfüber in die Tiefe glitt, hart aufschlug und fast auseinanderbrach. Der künstliche Himmel zerfetzte und flog davon, Bambushölzer zerbrachen knirschend und splitternd, und sie befand sich plötzlich unter Wasser. Ihr Körper versuchte, sich dagegen zu wehren, sie schluckte Wasser bis ihre Lungen brannten und sie fast erstickte. Kälte, Einsamkeit und Wasser umgab sie in ihrer Brautnacht. Sie spie das lehmige modrige Wasser aus und schluchzte vor Angst und Verzweiflung. Und immer wieder überspülten sie schmutzigbraune Wellen, drangen in ihren Mund und ließen sie schlucken. Etwas später wurde alles um sie herum dunkel und finster und das Licht des Mondgottes erlosch. „Flüssiges Licht“ versank in einem finsteren Abgrund, der sie gnädig aufnahm, der sie die Einsamkeit, die Kälte und das Wasser vergessen ließ, der ihren Hunger stillte und ihren Durst löschte. Sie trieb weiter, ohne es zu sehen, und mehrmals stieß das Floß an irgendwelche Hindernisse. Die Seide zerfetzte, riß, kleine Trümmer wirbelten davon, aber „Flüssiges Licht“ bemerkte es nicht. Sie war ohnmächtig. *
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Am vierten Tag ihrer Fastenzeit und zweiten Tag ihrer Reise ins Reich des gelben Grafen, erwachte das Mädchen. Verwirrt blickte sie sich um, und es dauerte geraume Weile, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren, sie wußte nicht ob es Morgen oder Nachmittag war. Sie wußte nur, daß der Graf die Flußbraut immer noch nicht zu sich genommen hatte. Fast betrübte sie das ein wenig, denn jetzt wartete sie darauf, damit ihr Schmerz und die Einsamkeit ein Ende hatten. Wollte der Graf die Flußbraut nicht? Oder hörte er das silberhelle Klingen der Jadeglöckchen nicht, die bei jeder kleinen Bewegung des Floßes hell sangen? Sie drehte den Kopf nach links. Das Ufer war nicht zu sehen, der Fluß war breiter geworden. Sie ahnte, daß sie sich jetzt dem östlichen Meer näherte. Auch auf der anderen Seite war das Land sehr entfernt und wirkte wie ein kleiner dünner Strich. Sie schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Ihr Körper war kalt und klamm, die Brautstatt zerfetzt und zerstört, die Kälte ließ sie immer wieder zittern. Sie konnte nicht schlafen, denn wenn sie einschlief, war sie nicht in der Lage, sich gegen die Wellen zu wehren, die jetzt ständig das schwimmende Lager überfluteten. Immer wieder mußte sie dann von dem ekelhaften Wasser trinken, das ihr schwallweise in den Mund drang. Ein großer Baumstamm traf das Floß. Es gab einen harten Ruck, und sie glaubte, das Floß würde jetzt auseinanderbrechen. Aber es hielt, und der Strom schob sie unaufhaltsam weiter. Es verging nochmals ein Tag, ehe „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ verächtlich von dem Grafen des gelben Flusses ausgespien wurde. Ho Po wollte eine freundliche Braut, aber keine die ohnmächtig, naß, kalt und halbverhungert durch sein Reich trieb. Daher spie er die Flußbraut voller Zorn in das offene Meer hinaus. 4.
Die Flußbraut
„Ich sage euch, es war ein ganz mieser Trick von diesem Chinesenlümmel“, erklärte der Profos der „Isabella“, Edwin Carberry, hitzig. An Bord entflammten sich die Gemüter immer noch darüber, was dieser „Chinesenlümmel“, wie der Profos ihn nannte, getan hatte, um einfach die Sonne für ein paar Minuten verschwinden zu lassen. Der Astrologe, der an Bord erschienen war, hatte schon einen Tag vorher behauptet, daß der „Drache die Sonne fressen“ würde, und das war auch prompt eingetreten. Jetzt, da es nicht viel an Bord der „Isabella VIII.“ zu tun gab, griff man das Thema wieder auf. Hasard hatte von einer ganz natürlichen Sonnenfinsternis gesprochen, aber das erklärte den anderen noch lange nicht, woher der chinesische Astrologe das schon im voraus wußte. Gut, einige hatten schon mal eine Sonnenfinsternis gesehen. Die älteren unter der Mannschaft wie Will Thorne zum Beispiel oder der alte O'Flynn hatten so was schon mal erzählt. Aber das war ganz überraschend passiert und niemand hatte schon Tage vorher davon gewußt. Deshalb wurmte Carberry der „miese Trick“, weil er nicht dahinterstieg. Wie hätte er auch wissen sollen, daß die Astrologen im Reich des Großen Chan Kalender besaßen, auf denen Jahrhunderte im voraus genau auf die Minute Sonnenund Mondfinsternisse errechnet wurden! Die Astrologen hüteten diese Weisheit und wandten sie geschickt an, um ihren Einfluß und ihre Macht zu 1 erweitern. Priester, Ärzte und Astrologen waren hochangesehene Leute. „Hört jetzt mit diesem Gefasel auf!“ donnerte die Stimme des Seewolfs dazwischen, denn auf dem Quarterdeck hatten sich Tucker, Carberry, Blacky, Smoky und Old O'Flynn versammelt, um eifrig zu debattieren. Dabei trug der alte Donegal wieder einmal mächtig auf. Er wollte gerade wieder eine seiner Geschichten vom Stapel lassen, aber als er
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Hasards Stimme hörte, zuckte das alte Rauhbein zusammen. „Ich geh in die Kuhl, Will Thorne helfen“, murmelte er und schlich auf seinem Holzbein davon. Carberry und Ferris Tucker warfen sich einen Blick zu. „Der Seewolf ist sauer“, sagte Tucker, „da geht man ihm am besten aus dem Weg. Los, hopp an eure Arbeit, ihr Miesmuscheln! Ich brauche zwei Mann, die mir helfen, das Ruderhaus umzubauen. Wie wär's mit dir, Luke?“ fragte er. Luke Morgan wollte gerade kneifen und sich mit anderer Arbeit entschuldigen, da traf ihn der Blick des Profos'. Und zu allem Überfluß hieb ihm auch noch der Decksälteste Smoky den Ellenbogen in die Rippen. „Hast du nicht gehört, du Flußpferd?“ donnerte er. „Ferris will das Ruderhaus so umbauen, daß man es mit zwei Handgriffen auseinandernehmen kann. Das Wetter ist herrlich, weshalb also soll der Rudergänger immer in der Bude stehen. Hopp auf, sonst ziehe ich dir die Gräten lang! Sam Roskill soll mithelfen!“ Während die Männer an ihre Arbeit gingen und Luke Morgan leise vor sich hinfluchte, warf Ed Carberry einen Blick aufs Achterkastell, wo der Seewolf stand. Ja, sein Freund Ferris hatte recht, Hasard war verärgert, man sah es an seinem Gesicht, seine Laune war nicht die beste, er war heute nicht so ausgeglichen wie sonst. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, prüfte alle Augenblicke aus zusammengekniffenen Augen den Stand der Segel und wanderte unruhig auf und ab, wie es Francis Drake früher immer getan hatte, wenn ihn etwas bewegte. Ab und zu griff er nach der Karte, die sie von den Chinesen erhalten hatten, entrollte sie, blickte darauf, sah dann wieder zum Land, rollte sie zusammen und schlug sich mit der Rolle beim Gehen auf den rechten Oberschenkel. In dieser Situation gingen sie ihm gern alle aus dem Weg, denn ein falsches Wort oder Gefasel, wie das eben über die Sonne, konnte ihn schlagartig explodieren lassen.
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Hasard ließ weiter Nordkurs segeln und gab dem Rudergänger Pete Ballie ab und zu kurze, knappe Anweisungen. Hin und wieder suchte er mit dem Spektiv die See ab, aber von dem schwarzen Segler war nichts zu sehen. Siri-Tong war unter vollem Zeug auf Teufel-komm-raus losgesegelt, nachdem sie ganz überraschend den Kurs geändert hatte. Hasard ärgerte das. Diese Eigenmächtigkeit war nicht eingeplant gewesen. Sie wollten die beiden Schiffe, die die Mumie geraubt hatten, zusammen jagen, aber anscheinend war wieder einmal das Temperament mit der Roten Korsarin durchgegangen. Jetzt befand sie sich Meilen voraus, irgendwo. vermutlich auf Nordkurs, und die „Isabella“ konnte auf gut Glück hinterhersegeln. Hasard nahm sich vor, dem hitzigen Persönchen anständig die Leviten zu lesen, wenn sie zusammentrafen. Ihre Eigenmächtigkeit hatte sie schon oft in kritische Situationen gebracht, und dann blieb dem Seewolf nichts anderes übrig, als den Ausputzer zu spielen. Gegen die ausgefuchsten Piraten hatte sie außerdem allein nicht die geringste Chance, denn die waren zehnmal besser bewaffnet als der schwarze Segler und würden sich nicht scheuen, ihre neuartigen Brandsätze rigoros einzusetzen. Hasard verscheuchte seine Gedanken, denn weit voraus mündete ein ziemlich breiter Fluß ins Meer, und im Wasser gab es einen seltsamen und eigenartigen Kontrast, Das Meer, an der Küste flaschengrün, dann später in Blau und weiter hinten in Dunkelblau übergehend, färbte sich auf einer riesigen Stelle fast knallgelb,. ehe es mit dem Grün zusammentraf. In dem Fleck brodelte es, und mitunter flossen dunkelbraune Streifen in das Gelbgrün hinein. Es sah unwirklich aus — wie die Palette eines Malers, der wahllos Farben mischt. Hasard griff zu der Karte aus hauchdünnem Reispapier, die auf einer Bambusmatte aufgezogen war. Die feinen Tuschezeichnungen rangen ihm immer wieder Respekt ab. Diese Karte war ein
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Meisterwerk, von einem Künstler gefertigt, der sein Handwerk verstand. Nach dieser Karte gab es keine Irrtümer mehr, die Küste war sorgfältig vermessen, und es gab auch Entfernungsangaben, mit denen der Seewolf allerdings nicht viel anfangen konnte, denn sie wurden nach „mu“ gemessen, wobei „mu“ ungefähr einem Schritt entsprach. Das auszurechnen und umzulegen war jedesmal ein Problem ganz besonderer Art und sehr schwierig. Auch war Hasard nicht genau klar, wie groß ein Schritt eigentlich war. Es gab kleine und große Schritte, und so beließ er es, das genauer umzurechnen. Später würde er die gefahrene Strecke anhand des Logs nachrechnen, dann ließ sich auch die Entfernung genauer bestimmen. In diesem Augenblick, als der Seewolf noch in den Anblick vertieft war, entdeckte der blonde Bob Grey, der im Ausguck hinter der Segeltuchverkleidung hockte, etwas im Meer, genau an jener Stelle wo das bizarre Farbmuster im Meer zusammentraf. Er lehnte sich vor, beschattete mit der Hand die Augen und erkannte einen treibenden Gegenstand, der einem Floß oder einer Gräting ähnelte. Immer wieder wurde das schwankende Gefährt von Wellen überspült und tauchte unter. Wenn es sich erhob, schüttelte es das Wasser ab und versank in der nächsten Welle. Bob Grey sah noch etwas anderes: Menschen standen am Ufer, die dem treibenden Gegenstand nachblickten, als wäre er etwas Besonderes, die anscheinend diskutierten oder miteinander gestikulierten. Der treibende Gegenstand war noch in Küstennähe, aber die lehmige Brühe schob ihn unaufhaltsam ins Meer hinaus. „Deck!“ rief Bob Grey. „Da treibt auf Backbord drei Strich voraus etwas in der See.“ Hasard blickte flüchtig hinüber und beschäftigte sich wieder mit der Karte, doch dann sah er die Menschen am Ufer stehen und schaute aufmerksamer hin.
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Tucker ließ die Säge sinken, und Luke Morgan bleckte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen. „Das wird doch nicht die Mumie sein, eh?“ fragte er grinsend. Hasards kühler Blick ließ ihn erschauern. „Es kreuzt unseren Kurs“, sagte der Seewolf zu Ben Brighton, der das Spektiv vor dem Auge hatte. „Was ist es?“ „Ein Floß, wenn mich nicht alles täuscht, und darauf scheint ein gelber Fetzen zu liegen – oder ein Bündel Kleider.“ Er reichte den Kieker dem Kapitän weiter, der eine ganze Weile schweigend hindurchblickte. Als Hasard das Spektiv absetzte, rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. „Tatsächlich ein Floß, auf dem jemand liegt. Aber weshalb rührt sich denn keiner von den Kerlen am Ufer?“ fragte er. „Da liegen doch Boote herum, und wenn ...“ Hasard sprach nicht weiter, denn als er jetzt wieder durch das Spektiv blickte, war das Floß schon näher herangeschwommen, und dann durchzuckte ihn ein Schreck. Wenn ihn seine Augen nicht trogen, dann lag auf dem Floß eine junge Frau oder ein Mädchen, so genau ließ sich das noch nicht erkennen, jedenfalls war es ein Mensch, der sich in Not befand, der Hilfe brauchte, denn immer wieder wurde die Gestalt vom Seewasser überspült. Vielleicht war sie auch längst ertrunken, und die Menschen am Ufer wußten es. Vielleicht half deshalb niemand. „Zwei Strich Backbord, Pete“, sagte Hasard zu dem Rudergänger. „Nimm Kurs auf das Floß, aber so, daß wir es in Lee haben und ganz knapp daran vorbeisegeln!“ „Aye, aye, Sir!“ „Profos!“ rief der Seewolf. Carberry stand wie aus den Planken gewachsen vor ihm. Bei Hasards jetziger Laune war es immer am besten, man war schon da, noch bevor er rief. „Sir!“ brüllte Carberry lauter als notwendig. „Laß die Segel ins Gei hängen, bis auf das Großsegel. Zweihundert Yards vor dem
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Floß auch das Großsegel aufgeien bis zur Mitte. Die Männer sollen das Floß mit Haken festhalten und langsam nachschleppen. Beeil dich, Profos!“ Carberry flitzte los. „An die Geitaue, ihr versoffenen Kakerlaken. Halt hoch die Schothörner, willig, willig, sonst blase ich euch Dampf unter eure karierten Affenärsche!“ Gleich darauf brüllte er weiter. „Vier Mann mit Haken in Lee. Bill, du lausiger Dorsch, hoffentlich hältst du dich auch gleich an einem Haken fest.“ „Aye, aye, Mister Carberry!“ schrie der schmächtige Bengel zurück. Es freute ihn, daß der Profos ihn einen „lausigen Dorsch“ genannt hatte. Das war doch immerhin schon etwas! Die Seewölfe geiten auf. Carberry und Smoky standen herum und beobachteten das nähertreibende Floß. Dann warf Ed einen Blick in die Takelage und nickte anerkennend, als die Segel im Gei hingen. Tucker, Bill, Matt Davies und Stenmark standen mit den langen Bootshaken bereit, um das Floß zu packen. Gleich darauf brandete ein Schrei der Empörung über Deck. Mehr als zehn rauhe Seemannskehlen hatten ihn ausgestoßen. „Himmel, das ist ja tatsächlich ein Mädchen!“ „Bestimmt ertrunken!“ stellte jemand lautstark fest. „Und diese gelben Säcke stehen an Land und glotzen!“ brüllte Ed empört. Wieder verschwand das Floß in einem Wellental. Der größte Teil der See schwappte darüber weg, tauchte das Floß tief unter und versetzte es in eine gefährliche Schräglage. Alle sahen es jetzt überdeutlich. Es war ein merkwürdiges Floß, eines, wie sie es noch nie gesehen hatten. Zerfetzte Seide bedeckte dünnes Bambusrohr. Am Floßende waren Bambusstangen zu einem Bogen zusammengebunden, von dem jetzt nur noch hellblaue Fetzen herunterhingen. „Das - das sieht aus wie ein Bett“, sagte der Profos. „Ich kann mir nicht helfen, aber das ist ein chinesisches Bett, oder mich holt der Teufel! Seht euch das Mädchen
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an, das muß längst ertrunken sein, da hatte Matt recht. Los, nach vorn, einer soll den Kutscher holen!“ Jetzt war das Floß noch etwa dreißig Yards entfernt. Hasard hatte das Achterkastell verlassen, auf dem jetzt Ben Brighton stand, und erschien auf der Kuhl. „Keine voreiligen Schlüsse“, sagte er, „wir kennen die Sitten und Gebräuche dieses Landes nicht. Vielleicht handelt es sich hier um eine ganz normale Bestattung auf See.“ „Ein Begräbnis?“ fragte Bill erstaunt. „Das ist nur eine Vermutung, weil ich annehme, daß die Leute aus diesem Grund nicht helfen. Wenn es sich wirklich so verhält, wollen wir nicht voreilig handeln. Nehmt das Mädchen auf keinen Fall an Bord, ehe ich es sage. Wenn sie tot ist, lassen wir sie weitertreiben. Wir haben uns schon einmal in die Nesseln gesetzt, ihr wißt, was ich meine.“ Ja, sie alle wußten es und wurden merklich kleinlauter. Es ging verdammt schnell, sich in die Nesseln zu setzen, hauptsächlich dann, wenn einem Sitten und Gebräuche fremd waren, so wie hier, im Land des Großen Chan. „Das Mädchen ist gefesselt“, sagte Dan, der unter der überschwappenden See für einen kurzen Augenblick die dünnen Stricke erkannte, mit denen das Mädchen an das Floß gefesselt war: Carberry stöhnte. Wie hypnotisiert starrte er auf das Mädchen, das sich nicht rührte und die Augen geschlossen hielt. Sie sah wirklich wie eine Tote aus, fand er. Dann war es so weit. Das Floß trieb in Lee der „Isabella“, die Wellen beruhigten sich, der lange schlanke Rumpf legte sich wie schützend vor das Floß. „Festhalten!“ rief Hasard. Mehrere Haken fuhren ins Wasser hinunter und krallten sich am Floß fest. Da die „Isabella“ noch Fahrt drauf hatte, rissen den Männern fast die Arme aus den Schultern, bis das Moment der Trägheit des Floßes überwunden war, es an den Haken hing und mitgeschleppt wurde. Die Tote, wenn sie überhaupt tot war, hatte ein Gesicht wie ein unschuldiger Engel.
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Ihre vormals ganz sicher kunstvolle Frisur hing jetzt allerdings klatschnaß durcheinander. Das nahm ihr jedoch nichts von ihrer Schönheit. Das Gesicht war bleich und ebenmäßig, ihre Figur zerbrechlich und zart. Hasard blickte schnell zum Ufer, dem sich die „Isabella“ nun ganz beträchtlich genähert hatte. Dort standen nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder, und die meisten riefen etwas hinüber, das nicht gerade freundlich klang. Ein paar Männer schüttelten wütend die Fäuste und eilten zu den Booten. Unwillkürlich dachte Hasard an die Dschunke mit den Pesttoten. Auch da waren ihnen Boote entgegengeeilt und hatten sie beschossen. Gab es hier eine Parallele? Dann betrachtete er sehr aufmerksam das Mädchen auf dem Floß. Sie gab kein Lebenszeichen von sich, aber er konnte nicht glauben, daß sie tot war. Hinter dem Seewolf räusperte sich dezent der Kutscher. Unbemerkt war er erschienen und blickte zuerst das Mädchen an, dann die Leute am Ufer und schließlich Hasard. Auch der Kutscher schien unschlüssig zu sein, jedenfalls zog er ein bedenkliches Gesicht. „Ich kann wirklich nicht sagen, ob sie lebt oder tot ist“, sagte er auf Hasards unausgesprochene Frage. „Ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen. Die Leute am Ufer geben mir zu denken“, überlegte er laut. „Die sehen nicht so aus, als wären sie erfreut darüber, daß wir sie entdeckt haben.“ „Eine Krankheit?“ fragte Hasard. Der Kutscher hob die schmalen Schultern, seine vage Handbewegung dazu sagte dem Seewolf ebenfalls nicht viel. „Man müßte sie untersuchen“, meinte er lahm. „Das ist ja das Problem, Mann. Dazu müßten wir auf das Floß steigen und sie losbinden. Vielleicht geht damit der Ärger los.“ „Die Pest hat sie jedenfalls nicht“, sagte der Kutscher sehr bestimmt. „Pesttote
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sehen anders aus, und außerdem werden sie verbrannt, wie wir alle wissen. Sie werden aber nicht auf einem Floß festgebunden und aufs Meer geschickt, und schon gar nicht allein, sondern zu mehreren.“ „Ja, damit hast du zweifellos recht.“ Noch immer blickten sie unentschlossen auf das Mädchen, und der alte O'Flynn, der etwas sagen wollte, was der Sache ziemlich nahe kam, fing einen drohenden Blick von Carberry auf, der ihn schon im Ansatz verstummen ließ. Da schwieg er gekränkt. Die Menschen am Ufer befanden sich jetzt fast auf gleicher Höhe mit dem Rahsegler. Das Gebrüll wurde lauter, einige rannten aufgeregt hin und her, und die Frauen rangen verzweifelt die Hände. Hasard hatte sich selten in einer so merkwürdigen Situation befunden. Was er auch unternahm, es war bestimmt falsch. Ließ er das Floß treiben, ertrank das Mädchen womöglich - vorausgesetzt, es lebte noch. Nahm er das Mädchen aber an Bord, dann zog er sich unweigerlich den Zorn der Chinesen zu oder verletzte ein geheiligtes Tabu. „Verdammt!“ entfuhr es ihm laut. „Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden. Haltet das Floß gut fest!“ rief er seinen Leuten zu, die es immer noch am Haken hatten. Entschlossen fierte er die Jakobsleiter über Bord. „Willst du wirklich ...?“ fragte Dan besorgt. Auch der ehemalige Schmied von Arwenack warf ihm einen besorgten Blick zu. „Überlege dir, was du tust“, sagte er in seiner überlegten, bedächtigen Art. „Diese Leute sehen das vielleicht als großen Frevel an. Wenn sie wirklich tot ist, geht es uns an den Kragen! Lebt sie aber, dann hätten diese Leute ganz sicher etwas zu ihrer Rettung unternommen.“ „Ich kann nicht zwischen zwei Dingen stehen“, murmelte der Seewolf. „Es gibt nur die Alternative, das Floß schwimmen zu lassen oder das Mädchen an Bord zu
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holen. Wenn sie noch lebt, würde ich mir ewig vorwerfen, sie nicht gerettet zu haben. Sollen die Chinesen von mir aus denken, was sie wollen.“ Die anderen schwiegen betreten.“ Das Reich des Großen Chan hatte es wirklich in sich, dachte fast jeder. Hier tauchten Probleme auf, die es sonst nicht gab. Aber hier befanden sie sich auch fast am anderen Ende der Welt, und so war es nur natürlich, daß ebenfalls andere Gebräuche herrschten. Hasard enterte entschlossen ab. Er sah wohl aus den Augenwinkeln, daß jetzt ein paar Chinesen in die Boote stiegen und ein paar andere hastig ins Wasser geschoben wurden. Er ignorierte es. Den letzten Schritt sprang er auf das bedenklich schwankende Floß und verteilte sein Körpergewicht so, daß er es ausbalancieren konnte. Auf Händen und Knien bewegte er sich vorsichtig weiter. Er legte die Hand auf die Stirn des Mädchens und zuckte zurück. Sie war eiskalt. Also war sie doch tot, dachte er betäubt, und das, was hier stattfand, war nichts anderes als eine Bestattung auf See. Zur Sicherheit prüfte er aber noch einmal an ihrem Handgelenk den Puls, und da verspürte er ein kaum fühlbares kleines Pochen. „Werft ein Tau herunter!“ befahl er kurz. Eine Leine flog zu Hasard, die er um eine Bambusstange band. Sie hielt das Floß, wie er feststellte. Er kniete sich noch tiefer auf das schwankende Ding, nahm sein Messer und zerschnitt die Fesseln an Hand- und Fußgelenken. Die Haut war aufgequollen und die Stricke hatten die Handgelenke des Mädchens wundgescheuert. Sie lebt, dachte er, und diese Halunken am Ufer haben sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Tausend Fragen gingen ihm dabei durch den Kopf. War sie etwa eine Verbrecherin, die man auf diese Art und Weise mit dem Tod bestrafen wollte? Dann war die Erregung der Leute am Ufer allerdings verständlich,
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und es würde Schwierigkeiten geben. Weshalb sollte man sie ausgesetzt haben? Hasard, ständig von Zweifeln g martert, ob er sich richtig verhielt, warf erneut einen Blick zum Ufer. Dort war der anfängliche Aufruhr jetzt heller Panik gewichen. Die Leute drohten ganz offen, brüllten laut, schrien durcheinander und die ersten, die in den Booten saßen, segelten in aller Eile auf c „Isabella“ zu. „Setzt die Segel!“ rief Hasard nach oben. „Geht auf den alten Kurs zurück. Ferris, du nimmst mir das Mädchen ab!“ „Auf die Stationen!“ brüllte d Profos. „Heißt auf Großsegel, setzt auch die Blinde, hopp, hoo!“ „Ich weiß, daß ich jetzt einen Fehler begehe“, murmelte Hasard vor sich hin, während er den federleichten Körper aufhob und vorsichtig zur Bordwand brachte. Hände streckten sich ihm entgegen, als er mit seiner leichten Last auf der Schulter nach oben kletterte. Ferris Tucker nahm ihm das Mädchen ab und bettete es behutsam auf die Decken, die der Kutscher an De ausgebreitet hatte. Als Hasard über das Schanzkleid stieg, nahm die „Isabella“ bereits wieder Fahrt auf und ging auf den alten Kurs zurück, der sie ein wenig von der Küste fortführte. „Vorsicht!“ rief Smoky. „Die Kerle feuern!“ Das erste Boot, besetzt mit fünf Männern, war noch mehr als hundert Yards entfernt. Drei von ihnen richteten sich auf, nahmen ihre Bogen von den Schultern, zogen Pfeile aus dem Köcher, den sie um die Hüften trugen, und legten an. Drei Pfeile schwirrten von den Sehnen und schlugen gleich darauf ins Holz. Einer war dicht an Big Old Shane vorbeigepfiffen, der sich instinktiv geduckt hatte. Der zweite blieb in der Bordwand stecken, der dritte im Großmast. Luke Morgan stürmte nach vorn, bewaffnete sich mit seiner Pistole und kehrte wieder an Deck zurück. Er schäumte vor Wut.
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„Diese Säcke“, knurrte er, „denen wird es noch vergehen, harmlose Leute zu beschießen.“ „Gar nichts wirst du!“ schrie ihn der Seewolf an. „Wir feuern nicht zurück, merk dir das, du Heißsporn!“ „Aber die legen uns um“, widersprach Luke zornig. „Beinahe hätte Big den Pfeil ins Kreuz gekriegt.“ Hasard sah in aus eisblauen Augen so drohend an, daß Luke schließlich seine Waffe in den Hosenbund zurücksteckte. „Ich verstehe nicht, daß wir uns alles gefallen lassen“, knurrte er erbost. „Die anderen feuern, nur wir dürfen nicht.“ „Wer weiß, was wir angerichtet haben“, sagte Hasard, „es kann uns noch genug Ärger einbringen. Kutscher, kümmere dich um das Mädchen, aber paß auf, duck dich in der Kuhl, damit dich kein Pfeil trifft!“ Um das Mädchen, das wie leblos an Deck lag, konnte sich außer dem Kutscher jetzt keiner kümmern, denn jetzt war auch das zweite Boot heran, und Hasard sah zornerfüllte Chinesen, die einen Pfeil nach dem anderen auf die „Isabella“ abfeuerten. Manche schwirrten beängstigend dicht an den Köpfen der Seewölfe vorbei. Es waren starke, gefiederte Pfeile mit bläulichen Spitzen wie der Seewolf feststellte, als er einen aus dem Mast riß. Er war sich nicht sicher, ob die Spitzen vergiftet waren. Jetzt fielen die Boote langsam zurück, als die „Isabella“ noch schneller wurde, doch das hielt die Kerle nicht davon ab, ihr einen Pfeil nach dem anderen ins Achterkastell zu jagen. Anfangs hatte Hasard beabsichtigt, das Floß auch noch an Bord zu nehmen, doch er folgte einer plötzlichen Eingebung, ging in die Kuhl hinunter, nahm sein Messer und kappte die Leine. Das Floß blieb schaukelnd in der Nähe des Kielwassers zurück. Er sah, wie die Chinesen in ihren Booten darauf zuruderten. „Jetzt kümmern sie sich darum“, sagte er zu dem Kutscher, „jetzt, da es nicht mehr nötig ist.“ Der Kutscher war emsig damit beschäftigt, das Mädchen ins Leben zurückzurufen. Ihr
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Puls war kaum fühlbar, und noch immer lag diese leichenhafte Blässe auf ihrem Gesicht. Die Augen hatte sie geschlossen, ihre Brust hob sich kaum. „Sie sieht entkräftet aus“, sagte er, „es scheint so, als hätte sie einige Tage auf diesem Floß zugebracht. Aber weshalb nur bindet man ein junges Mädchen auf einem Floß fest und staffiert das Ding wie ein Bett aus? Damit muß es doch eine besondere Bewandtnis haben.“ „Darauf kann ich dir leider auch nicht antworten, Kutscher.“ Der Kutscher bemühte sich mit der ihm eigenen Verbissenheit weiter, aber es gelang ihm nicht, das halbtote Mädchen ins Bewußtsein zurückzubringen. Er rieb ihr die Hände mit Rum ein. Obwohl er damit die wunden Stellen berührte und sie gleichzeitig desinfizierte, rührte sich das Mädchen immer noch nicht. Hasard wollte sie in die achtere Kammer bringen lassen, doch als er es dem Kutscher vorschlug, winkte der ab. „Lieber nicht, hier kann ihr nichts passieren. Ich würde sie jetzt lieber nicht transportieren. Erst wenn sie zu sich gekommen ist, bringen wir sie nach achtern.“ „Du mußt es ja wissen.“ Der unverhoffte Besuch an Bord erweckte natürlich allgemeines Interesse bei den Seewölfen. Es passierte selten, daß man jemanden aus der See fischte, und dann noch ein Mädchen, das war schon eine kleine Sensation. So standen sie herum, nachdem Pete Ballie den Kurs geändert hatte und die „Isabella“ weiter von der Küste ablief, und gaben dem Kutscher gute Ratschläge, bis ihm die Geduld riß. „Habt ihr triefäugigen Glotzfische nichts anderes zu tun, als hier rumzustehen!“ fauchte er die Männer an. „Ich brauche eure dämlichen Ratschläge nicht, ich weiß selbst. was ich zu tun habe!“ Der Profos erschien in der Kuhl, warf einen Blick auf die Chinesin und packte Sam Roskill am Kragen. „Die Pfeile müssen aus dem Heck gezogen werden“, sagte er ganz sanft und leise.
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„Oder sollen wir wie ein gespickter Weihnachtsbraten durch das Land des Großen Chan segeln? Muß ich das noch einmal wiederholen, was, wie?“ Diejenigen, die die Neugier in die Kuhl getrieben hatte, spritzten sofort auseinander. Wenn Ed brüllte, war alles gut, wenn er aber sanft und fast einschmeichelnd sprach, dann war ein Gewitter im Anzug, und das konnte sich mit fürchterlicher Gewalt entladen. Ohne sich stören zu lassen, bemühte sich der Kutscher weiter. Er hatte ihre wundgescheuerten Hand- und Fußgelenke versorgt und rieb ihr jetzt auch das Gesicht ein. Dann hob er sie hoch, nahm sie unter den linken Arm um die Hüfte und schüttelte sie leicht. Sie erbrach einen kleinen Schwall Wasser. „Na also“, sagte der Kutscher zufrieden, „wenn sie nachher etwas ißt, steht sie wieder auf den Beinen. Eine kräftige Brühe wird ihr ganz sicher helfen.“ „Du bist sicher, daß sie keine Krankheit hat?“ fragte Hasard. „Ganz sicher, Sir. Sie ist nur entkräftet, mehr nicht, und vor Schwäche bewußtlos geworden.“ Hasard begriff überhaupt nichts mehr. Dieses fremde Mädchen gab Ihnen ein Rätsel nach dem anderen auf. Außerdem fragte er sich, was er mit ihr beginnen sollte. An Bord konnte sie nicht bleiben, also mußte sie ... Schon zum zweiten Mal stellte der Kutscher seine Frage, die Hasard nicht gehört hatte. „Soll sie an Bord bleiben?“ „Nein“, der Seewolf schüttelte den Kopf. „Ich überlege gerade, ob wir sie nicht im nächsten Hafen an Land setzen sollen. Sicher wird sie irgendwo vermißt.“ „Das möchte ich fast bezweifeln, Sir“, erwiderte der Kutscher, der an dem Mädchen, rieb, knetete und massierte. Ihr gelbes seidenes Gewand trocknete langsam. Er ließ die Decken wechseln und durch Bill neue bringen. Dann scheuchte er den Affen davon, denn Arwenack hatte sich herangeschlichen, das Mädchen eine ganze Weile betrachtet, und als der
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Kutscher einmal nicht aufpaßte, griff der Schimpanse zu und zog an dem kleinen grünen Jadeglöckchen, das sie um den Hals trug. Der helle Ton ließ Arwenack zusammenzucken. Er hockte sich auf die Planken und bleckte die Zähne. Mit der einen Hand kratzte er sich den Schädel, als müsse er überlegen. „Verschwinde, du Hanswurst!“ rief der Kutscher und scheuchte ihn weg. „Sie scheint aus einer sehr reichen Familie zu stammen“, sagte der Seewolf. „Sie trägt kostbare Stoffe, und man hat sie mit Schmuck geradezu behängt. Sie sieht fast wie eine Braut aus, wenn man unsere Maßstäbe anlegt.“ „Reich muß sie auf jeden Fall sein“, sagte der Kutscher. „Aber weshalb hat ihr dann niemand geholfen?“ Der Küstenstrich war jetzt zusammengeschmolzen. Von den Chinesen war keiner mehr zu sehen, bis auf ein einziges Boot, das ihnen beharrlich folgte. Aber es hatte nicht die geringste Aussicht, die „Isabella“ jemals einzuholen, und so wurde es hinter ihnen immer kleiner, bis es kaum noch sichtbar, in den Wellen verschwand. Der Seewolf gab keine Antwort, als der Kutscher zu ihm aufblickte. Er blickte in das zarte Gesicht des Mädchens und sah, daß ihr rechtes Augenlid zu flattern begann. Auch um 'die Mundwinkel lag ein leichtes Zucken. „Sie kommt zu sich, Kutscher!“ „Das war zu erwarten“, erwiderte der Kutscher ungerührt. „Es war nur eine Frage der Zeit. Außerdem verstehe ich etwas von Medizin.“ „Ja, Sir Freemont war der reinste Dilettant gegen dich“, sagte Hasard ironisch. „Das wollte ich damit nicht sagen, Sir Freemont ist ein ...“ „Ich weiß! Hol ihr etwas Brühe oder etwas anderes zu trinken, sie schlägt die Augen auf!“ Zwei fast schwarze Mandelaugen starrten Hasard verwundert an. Ein ungläubiges Staunen lag auf dem Gesicht des Mädchens, doch so schnell sie die Augen
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geöffnet hatte, so überraschend schnell schloß sie sie auch wieder. „Hallo!“ sagte der Seewolf leise, obwohl er genau wußte, daß sie ihn nicht verstehen konnte. „Nicht einschlafen!“ Der Kutscher kehrte mit einer dampfenden Muck voll Brühe wieder zurück. Blacky hatte sie auf seine Anweisung heiß gemacht und auch Rum mit Zucker erhitzt. Aber mit dem Alkohol wollte der Kutscher vorerst noch warten. Dieses Geschöpf sah so zart und zerbrechlich aus, daß es bestimmt keinen heißen Rum vertrug, ohne gleich betrunken zu werden. „Eben hat sie mich ganz klar angesehen“, sagte Hasard, „aber nur für einen kurzen Augenblick, dann wurde sie wieder bewußtlos.“ „Ihr fehlt trotzdem nichts weiter als etwas zu essen und zu trinken“, versicherte der Kutscher nochmals. Als sie sich nach weiteren fünf Minuten immer noch nicht regte, ordnete der Seewolf an, sie in die achtere Kammer zu bringen. Es wurde jetzt etwas kühler an Deck, und er wollte nicht, daß sie sich hier oben erkältete. „Es wird das beste sein“, murmelte der Kutscher. „Die Luft ist kühler geworden, und der Wind weht stärker. Ich denke, wir können es riskieren.“ Hasard übergab seinem Bootsmann Ben Brighton das Kommando, dann trug er das Mädchen in die Kammer, die direkt neben seiner lag, und bettete sie mit Hilfe des Kutschers auf die Koje. Der Kutscher stand immer noch unschlüssig mit der Muck in der Hand da und hoffte, daß sie gleich erwachen würde. Diesmal dauerte es nicht lange, bis sie die Augen aufschlug. Verwirrt sah sie sich um und versuchte sich hinzusetzen, doch der Kutscher drückte sie sanft zurück. „Immer langsam; Mädchen“, murmelte er. Ihr Blick war jetzt klar, und sie sagte ein paar schnelle Sätze in ihrer Sprache. Dabei sah sie sich immer wieder nach allen Seiten mit scheuer Neugier um. „Verstehst du das, Sir?“ fragte der Kutscher.
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„Bin ich vielleicht ein Chinese?“ fragte Hasard zurück. Der Kutscher grinste, froh über. seinen Erfolg. „Du siehst jedenfalls nicht so aus, Sir“, sagte er dann. Sie sah von einem zu anderen, verwundert, erstaunt, die Mandelaugen weit aufgerissen. Beim Sprechen zeigte sie zwei Reihen ebenmäßiger, schneeweißer Zähne. Nur verstand niemand, Was sie sagte. Es war schnell und aufgeregt gesprochen, und die Wörter reihten sich aneinander zu einem einzigen langgezogenen Satz in heller singender Sprache. „Gib ihr etwas Brühe“, sagte Hasard. Als der Kutscher ihr die Muck an die Lippen hielt, wollte sie zuerst abwehren, doch dann trank sie einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Sie kennt das Zeug wahrscheinlich nicht“, murmelte der Kutscher, „aber es hilft ihr ganz sicher.“ Er flößte ihr noch einmal einen kleinen Schluck ein. Das Mädchen lächelte scheu, dann ließ sie sich zurücksinken und schlief auf der Stelle ein. Die Natur hatte ihr Recht gefordert. Das Mädchen war noch zu entkräftet, und der Schlaf würde sie heilen, wie der Kutscher versicherte. 5. Hasard befand sich gerade wieder an Deck, als aus dem Ausguck Bob Greys erschreckter Schrei ertönte. „Riff voraus!“ brüllte er aus Leibeskräften. Dicht vor der „Isabella“ in der See kochte und brodelte es an einer Stelle, und wahrscheinlich hätte es niemand an Bord bemerkt, wäre nicht plötzlich eine zwei Yards hohe Welle aus dem Meer gespritzt, die sofort wieder in sich zusammensank. „Hart Steuerbord, Pete!“ rief der Seewolf. Pete Ballies riesige Fäuste drehten an dem Rad, wirbelten es mit erstaunlicher Kraft herum, doch noch reagierte die „Isabella“ nicht, noch gehorchte sie dem Druck nicht. Das Riff, kaum sichtbar in der langrollenden Dünung, wurde rasch größer und zog sich in die Länge. Es war eine
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jener tückischen Schwellen wie es sie zu Tausenden gab, und die man meist erst dann bemerkte, wenn es zu spät war. Mitunter sah man sie gar nicht. An Deck wurden die ersten Flüche laut. Himmel, hoffentlich hatte das verteufelte Riff nicht lange Ausläufer, auf die die „Isabella“ jeden Moment krachend und berstend auflaufen würde. „Dreh dich endlich, du Höllenhure“, keuchte Pete Ballie entsetzt, als der Bug des Schiffes direkt in die brodelnde Masse aus Wasser rannte wie ein Pferd, das dem Reiter durchging. Die See lief rascher, oder jedenfalls hatte es den Anschein, und Pete Ballie meinte, sein Herz müsse zerspringen. Er fühlte den harten Druck des Ruders, das Schiff bäumte sich auf, doch dann, buchstäblich im allerletzten Augenblick, drehte es den Bug weg und lief hart nach Steuerbord ab. Der Profos und ein paar Seewölfe standen schon bereit, um die erforderlichen Segelmanöver auszuführen. „Mann, ich höre es schon krachen“, unkte Gary Andrews und verzog das Gesicht. Aber es krachte nicht, auch das Schurren und Reiben blieb zum Glück aus. Hart an Backbord aber sahen sie es brodeln und kochen, und ab und zu erschien ein kleines Stück scharfkantigen Felsens aus dem Wasser. Ed Carberry entspannte seinen mächtigen Brustkasten, indem er hörbar die Luft ausstieß. „Hölle und Teufel“, sagte er erschauernd, „das Riff hätte uns der Länge nach aufgeschlitzt, die ‚Isabella' wäre wie ein altes Faß auseinandergesprungen.“ Er warf einen anerkennenden Blick in den Großmars hinauf, in dem Bob Grey hockte, doch als Bob grinsend zurückwinkte, erlosch die Anerkennung auf Carberrys Gesicht. „Bilde dir bloß nicht zuviel ein, du lausiger Trompetenfisch!“ schrie er hinauf. „Dan hätte das Riff schon vor drei Tagen entdeckt und es gleich gemeldet. Du mußt natürlich bis kurz vor dem Auflaufen mit der Meldung warten.“
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Insgeheim bedauerte der Profos, daß der junge O'Flynn mit seinen Seeadleraugen nur noch ganz selten im Mast hockte. Aber Hasard hatte ihn zur Schiffsführung abkommandiert, und Donegal beschäftigte sich jetzt fast ausschließlich mit Navigation und Schiffsführung. Das Zeug dazu hatte er schon damals gehabt, und so wollte Hasard sein Talent nicht verkümmern lassen. Auch dem Seewolf las man die Erleichterung deutlich vom Gesicht ab. Nicht auszudenken, dachte er, was es bedeutet hätte, hier auf einem Riff zu stranden: Wenn schon dann wäre ihm jede andere Ecke in der Welt lieber gewesen als das Reich des Großen Chan mit seinen unbekannten Sitten und Gebräuchen, mit denen sie immer wieder neu konfrontiert wurden. „Habe ich richtig gehört, Pete“, fragte er den Rudergänger, „hast du die ,Isabella' Höllenhure genannt?“ Sein erleichtertes Lächeln entging Pete Ballie, der es prompt für bare Münze nahm. „Tut mir leid, Sir“, sagte er kleinlaut, „das ist mir nur so herausgerutscht, weil - weil sie so schlecht reagierte. Ich bin das gar nicht gewöhnt.“ „Ich hätte das vermutlich auch gesagt, jedenfalls hat sie gleich reagiert, der Name paßte ihr wahrscheinlich nicht, und sie drehte deshalb so schlecht ab, weil in der Nähe des Riffs Wasserwirbel entstanden, unterseeische Kreuzseen. Aber wir haben ja noch einmal Glück gehabt.“ „Das kann man laut sagen, Sir“, seufzte Pete. Damit war für die Crew das Thema erledigt. Die „Isabella“ segelte weiter auf ihrem Kurs, sanft getragen von langgezogener Dünung, die sie hob und senkte und ab und leicht krängen ließ. Gegen Nachmittag drehten sich die Köpfe der Seewölfe ruckartig nach hinten, als Smoky mit dem Daumen nach achtern deutete. Er sagte nur: „Die Chinesin!“ Doch die beiden Worte rissen den Kerlen fast den Hals ab, so schnell drehten sie sich um.
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Da stand sie an Deck, klein, zierlich, zerbrechlich wie eine gelbe Rose und sah sich ängstlich um. Ihre schwarzen Mandelaugen forschten in den harten Gesichtern, sie sah den Profos mit seinem narbigen Gesicht, dem Kinn, das einem Amboß ähnelte und seine Figur, aus der man bequem zwei Chinesen machen konnte. Sie blickte die harten Burschen an, und die blickten naturgemäß neugierig zurück, staunten mit offenen Mündern und bewunderten das grazile Persönchen in ihrem gelben Seidengewand, dem Silberschmuck und den Jadeglöckchen, die sie immer noch um den Hals trug. Weder Hasard noch einer der anderen hatte gesehen, wie sie so schnell an Deck erschienen war. Der Kutscher hatte alle paar Minuten nach ihr gesehen, aber da sie geschlafen hatte, wollte er sie auch nicht wecken und den Prozeß der Erholung stören. Jetzt war sie da. Ihre Haare waren trocken, das Gewand ebenfalls, und sie sah aus wie eine kostbare Puppe. Damit sie in ihrer verständlichen Verwirrung keinen Fehler beging, vielleicht aus Angst über Bord sprang oder in Panik geriet, war Hasard mit zwei schnellen Sätzen bei ihr. Er hob hilflos die Schultern, denn er wußte nicht was er sagen sollte, um sie zu beruhigen, sie würde ihn ja doch nicht verstehen. „Glotzt gefälligst nicht so, ihr Stinte“, sagte Ben Brighton. „Merkt ihr denn nicht, daß sie Angst hat? Hopp, hopp, an die Arbeit, schrubbt das Deck oder tut wenigstens so, als seid ihr beschäftigt, aber starrt die Kleine nicht so an! Die springt ja in ihrer Angst noch über Bord.“ „Sag ich doch die ganze Zeit“, brummte Carberry, der vorhin selbst ständig geglotzt hatte. „Kein Verständnis haben diese triefäugigen Kakerlaken.“ Das Mädchen schluchzte jetzt laut und vernehmlich, und Hasard sprach mit leiser Stimme auf sie ein. Nach einer Weile schien sie das auch zu beruhigen, und als der Seewolf ihr durch Zeichen zu erklären versuchte, sie möge wieder in die Kammer
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gehen, da schüttelte sie entschieden den Kopf. Ihre Augen waren auf die Küste gerichtet, und ein kühler Schauer überlief sie. Dann nahm sie allen Mut zusammen, sah Hasard in die eisblauen Augen, verneigte sich knapp und sagte: „Ch'ing-chao LiHsia.“ Hasard lächelte. „Verdammt noch mal“, sagte er freundlich, „wenn ich nur ein einziges Wort davon verstehen könnte. Einen lausigen chinesischen Satz nur, aber „Schingschaolisia“ sagt mir gar nichts.“ Zum allerersten Mal erschien ein fast fröhliches Lächeln auf dem zarten Gesicht. Das Mädchen wirkte jetzt viel unbefangener, denn die Männer, vor denen sie anfangs Angst gehabt hatte, grinsten nur freundlich oder verlegen und kümmerten sich nicht um sie. Sie hob die Hand, deutete auf sich und dann in den Himmel, wo die Sonne stand. Ihr rechter Arm zeigte anschließend mit einer graziösen anmutigen Bewegung in die Runde, während sie die Worte noch einmal deutlich wiederholte. Carberry, der alles mitgekriegt hatte, kniff ein Auge zu und überlegte angestrengt. „Das heißt, alles ringsherum, die Sonne, das Mädchen, wir und das Wasser sind Schingscholisa. Ah, der Ausdruck für Natur“, setzte er grübelnd hinzu. Smoky sah ihn von der Seite an und schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ich weiß nicht, Ed“, meinte er zögernd, „aber du hast mitunter Gedanken, daß man eine Gänsehaut kriegt. Dein Chinesisch zieht einem ja die Stiefel aus, Mann! Weshalb sollte sie das Wort Natur sagen?“ „Frag sie doch selbst, du Vorschiffsknüppel“, knurrte Ed, „hier ist eben alles anders, da sagt man nicht einfach Guten Tag, sondern ist freundlicher als du Rübenschwein. Was verstehst du schon von den Chinesen? Nicht so viel !“ Ed schnippte mit den Fingern, um dem Decksältesten zu demonstrieren, wie wenig er kapierte.
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Smoky ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. Ed mit seinem Dickschädel wußte es ja wieder einmal besser, und wenn man ihm recht gab, war alles in bester Ordnung. Hasard begriff allerdings immer noch nichts. Zuerst bezog er die Gebärde des Mädchens auf ihren Namen, doch dann schien es eine ganz andere Bedeutung zu haben, die er sich nicht erklären konnte. Der Kutscher erschien wieder mit Brühe und einem Teller voll Essen. Er brachte auch noch eine Decke mit, auf die sie sich setzen konnte, weil sie sich entschieden weigerte, in die Kammer zu gehen. Offenbar gefiel es ihr hier an Deck besser. Er hielt ihr grinsend den Teller hin, denn Grinsen hielt er in dieser Lage für das Beste überhaupt. Es entspannte und schuf nach seiner Ansicht eine wärmere Atmosphäre. Das nahm die Angst und die Spannung, die in dem Mädchen steckten. Sie aß auch, anfangs zögernd nur, doch dann hungriger, aber sie verschmähte das hölzerne Besteck, den eingekerbten Löffel, und aß mit den Fingern. „Mann, ist der Kutscher vornehm“, sagte Sam Roskill staunend, „jetzt bringt er ihr sogar eine Schüssel mit Wasser. Der ist wohl am fürstlichen Hof aufgewachsen, was?“ In einer anmutigen Gebärde steckte sie ihre zierlichen Finger in die Schale und bewegte sie schnell hin und her. Was sie dann allerdings sagte, haute Hasard fast um, und auch die anderen kriegten Stielaugen. „Das hier Schiff von Portugiesener?“ fragte sie. Hasard war so verblüfft, daß er keine Antwort gab. Sprachlos sah er auf das lächelnde Mädchen, das so knapp dem Tode entronnen war. „Englisches Schiff“, sagte er nach einer ganzen Weile verblüfft. Woher kennt das Mädchen die portugiesische Sprache? fragte er sich verdutzt, die er selbst gut beherrschte, weil sie keine großen Unterschiede zur spanischen aufwies. „Sieht aus wie Portugiesener“, hauchte das zarte Geschöpf mit aller
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Selbstverständlichkeit. „Kann auch sein Schiff von Espani, Männer alle Porugiesener?“ Immer noch hatte Hasards Verblüffung sich nicht gelegt. Jetzt aber überzog ein freundliches Lachen sein Gesicht. Wenn das Mädchen die portugiesische Sprache so gut beherrschte, dann war sie ein Geschenk des Himmel, und mit ihrer Hilfe würde es sicherlich gelingen, einige große Mißverständnisse auszuräumen. „Wir sind Engländer“, sagte er langsam und deutlich auf portugiesisch, „aber wir verstehen die Sprache gut.“ „Ich bin Flußbraut, mich Name Ch'ingchoa Li-Hsia. Wie dein Name, du hoher Herr von Schiff?“ „Ja, ich bin der hohe Herr“, gab Hasard zu, denn damit konnte sie nur den Kapitän meinen. „Hasard“, setzte er hinzu. „Hasaad“, wiederholte sie andächtig und zog den Namen in die Länge. „Hoher Herr Hasaad. Was heißt Name?“ „Nichts“, sagte der Seewolf, „er hat keine große Bedeutung, es ist nur ein Name, eine Benennung.“ „Mich Name heißen Flüssiges Licht, wenn beginnt Sommer“, erklärte sie, jetzt ganz ohne Scheu. Die Seewölfe hatten die Ohren gespitzt, und Smoky warf dem Profos einen galligen Blick zu. Du mit deinem Chinesisch! sollte das wohl heißen, aber Ed reagierte nicht darauf. Über solche Anzüglichkeiten war er längst erhoben. „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ setzte sich anmutig auf die Decke zurück und kreuzte die Beine, daß die gelbe wallende Seide von allen Seiten an ihr herabfloß. Sie sah wirklich wie ein Flüssiges Licht aus, fand Hasard, und sie war auch so geheimnisvoll wie ihr Name. „Flüssiges Licht freut sich über ihre Rettung“, sagte sie mit ihrer melodisch klingenden Stimme, „aber was hoher Herr Hasaad getan hat, war nicht gut, und hoher Herr Hasaad mögen nicht ärgerlich werden, wenn ich verwundert bin. Keiner darf Flußbraut retten, es wird im Land des Großen Chan hoch bestraft.“
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Hasard sah sie an, räusperte sich, und blickte schnell nach dem Stand der Segel. An Bord war alles in Ordnung, und so konnte er es sich ohne weiteres leisten, dieser Geschichte eine Zeitlang zuzuhören. Er hatte schon gleich ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache gehabt, und nun konnte er nur hoffen, daß nicht der ganz große Ärger begann. Er ließ sie weitersprechen, denn jetzt, da sie in der Sprache der Portugiesener sprach, erzählte sie immer schneller und fehlerfreier, wenn man von dem hohen Singsang absah. Sie ist sehr intelligent und ganz sicher eine Tochter aus hohem Hause, überlegte der Seewolf. „Was ist eine Flußbraut?“ fragte er, und aus den Augenwinkeln stellte er fest, daß sich der größte Teil der Crew unauffällig in ihre Nähe verdrückt hatte. Plötzlich arbeiteten die Kerle mit einer scheinbaren Besessenheit immer an den Stellen, wo es absolut nichts zu tun gab. Smoky, dieser alte Gauner, war doch tatsächlich damit beschäftigt, mit einem feuchten Lappen in der Hand den oberen Handlauf des Schanzkleides vom Staub zu befreien, obwohl es da noch nie den geringsten Staub gegeben hatte. Luke Morgan hantierte vor dem Niedergang zur Kuhl pausenlos an einem Faß herum, das dort stand, und der alte O'Flynn tat so, als würde er die Ritzen zwischen den Planken neu kalfatern, wobei er allerdings weder Werg noch Teer, keinen Kalfathammer und nur ein Kalfateisen hatte. Blacky hing dicht vor ihnen in den Wanten und starrte angestrengt zum Horizont, und Matt Davies, dieser Stint, schoß mit liebevoller Besorgtheit eine Leine schon zum zwanzigsten Mal auf. Sogar der Schiffszimmermann Ferris Tucker war auf die glorreiche Idee verfallen, die Bordwände nachzumessen, wobei er emsig von der Kuhl aufs Quarterdeck und wieder zurück stieg. Es wurde wirklich Zeit, dachte Hasard halb ärgerlich und halb belustigt, daß die Bordwände vermessen wurden, denn sonst wäre vermutlich noch jemand über Bord gefallen, weil er annahm, die „Isabella“
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wäre viel breiter. Na wartet, dachte er, euch Kerlen werde ich es nachher schon zeigen, ihr mit euren neugierig gespitzten Ohren. Und was ihn noch wurmte: Der Profos, in seiner Eigenschaft als Zuchtmeister, mußte diese schlitzohrigen Gauner natürlich genau kontrollieren, die so emsig arbeiteten. Andererseits, so überlegte er weiter, konnte er es den Burschen nicht verdenken. Vielleicht hätte er an ihrer Stelle gleich gehandelt und auch so getan, als wenn und ob. Das Mädchen, das sich „Flüssiges Licht“ nannte, erzählte eine Geschichte, die sich wie ein Märchen anhörte. Sie begann mit der Meldung, daß die Pest ausgebrochen sei, erzählte von den Vorbereitungen zur Hochzeit mit dem gelben Grafen und endete damit, daß der hohe Herr Hasaad ein Tabu verletzt habe. Danach herrschte eine Stille, wie es sie auf der „Isabella“ noch nie gegeben hatte. Hasard glaubte, daß sogar das Rauschen des Wassers und das leise Jaulen des Windes verstummt waren. Die „Isabella“ segelte durch eine dicke Watteschicht, die alle Geräusche dämpfte oder ganz verschluckte. Ungläubig sah er das Mädchen an. „Ein wirklich seltsamer Brauch“, sagte er schließlich. „Es ist also verboten, eine Flußbraut zu retten. Deshalb haben die Menschen am Ufer auch so feindselig reagiert. Aber du wärest jetzt tot gewesen, Flüssiges Licht“, sagte er eindringlich. „Ich wäre vermählt und bei meinen Ahnen gewesen“, erklärte sie einfach. Hasard fuhr ein schwereres Geschütz auf. „Der Graf des gelben Flusses, Ho Po, wollte dich aber nicht haben, deshalb hat er dich in die See hinausgelassen. Du wärst dort draußen umsonst gestorben.“ „Er hätte mich geholt, denn auch die See ist sein Reich“, erwiderte sie leise. „Meine Eltern wünschten es so, aber es ist von der Regierung verboten“, setzte sie flüsternd und fast verschwörerisch hinzu. „Was hätte man getan, wenn du tot wärst?“ fragte Hasard.
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„Oh“, sie lächelte schmerzlich, „dann hätte man mich natürlich gerettet.“ „Wie kann man jemanden retten, der tot ist?“ „Das versteht kein Fremder Teufel. Der hohe Herr Hasaad möge diesen Ausdruck entschuldigen, aber so werden hier die Portugiesener und alle anderen genannt. Jeder Chinese wird sich weigern, ein Flußopfer lebend zu retten, denn Ho Po wird sich an dem Retter bitter rächen, weil der ihn um sein Opfer betrogen hat.“ Der Seewolf schüttelte fassungslos den Kopf. Hier, in diesem rätselhaften Land des Großen Chan, mußte er noch eine ganze Menge lernen, das stand fest. Sie sprach lächelnd weiter; und hinter ihrer Erzählung erkannte Hasard unterschwellig die Freude, daß sie noch lebte. Wahrscheinlich war sie keine von denen, die lächelnd in den Tod gingen oder fuhren. Ihre Weltoffenheit bewies das deutlich. Sie hätte zwar nie gewagt, sich gegen die ehrwürdigen Eltern aufzulehnen, doch ihre überraschende Rettung war ihr nicht ungelegen. Hasard fragte sich beklommen, wie es wohl weitergehen mochte, wie ihr weiterer Lebensweg jetzt wohl aussah, denn zum einen konnte er sie natürlich nicht an Bord behalten, und zum anderen konnte sie schlecht zurückkehren. Sie befand sich also in einer sehr prekären Situation, die sie aber mit scheinbarer Gelassenheit hinnahm, denn ihrem Gesicht sah man nicht an, was sie dachte, und ihr zaghaftes Lächeln überdeckte alles andere, vielleicht auch den inneren Schmerz. „Das Opfer muß tot geborgen werden“, erklärte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. „Erst dann kann es zu den Ahnen eingehen, und derjenige der es birgt, erhält eine Belohnung.“ „Auch das noch“, entfuhr es dem Seewolf. Innerlich lehnte er sich dagegen auf, aber da er mit den seltsamen Sitten des Landes nicht genügend vertraut war, konnte er sich kein abschließendes Urteil bilden. Er fand es jedenfalls grausam und erschreckend, aber das waren andere Zeremonien, die er auf den Inseln der Weltmeere
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kennengelernt hatte, schließlich auch gewesen. Es fiel nur schwer, sich da hineinzudenken. Sie schien seine geheimen Gedanken erraten zu haben, denn ihr rätselhaftes Lächeln vertiefte sich. Der Fremde Teufel begriff ihre Welt nicht, er dachte anders. Er war auch sicherlich nicht in der Lage, seine inneren Gefühle hinter einem Lächeln zu verbergen, man sah ihm meistens an, was er dachte und was ihn beschäftigte. Trotzdem war er nett, fand sie, eigentlich hatte er die Bezeichnung Teufel nicht verdient, wenn auch ganz offensichtliche Bestürzung über alte Bräuche in seinem Gesicht zu lesen war. Sie erhob sich leicht wie eine Feder, dann folgte wieder eine kurze Verneigung gegen den hohen Herrn Hasaad. „Darf ich die Kammer aufsuchen, die der hohe Herr mir zur Verfügung gestellt?“ fragte sie zaghaft. „Flüssiges Licht fühlt sich noch etwas schwach.“ „Natürlich“, sagte Hasard. Er wollte sie noch fragen, wie es weitergehen sollte, und in welchem Hafen er sie an Land setzen könne, doch als er sie ansah, unterließ er es. Sie sollte sich erst einmal erholen, und daher schickte er den Schiffsjungen Bill und den Kutscher mit. Der Kutscher sollte sich noch einmal ihre Verletzungen ansehen, und Bill brachte etwas zu essen und zu trinken. Mit einem Lächeln, das in die ganze Runde ging, verabschiedete sie sich anmutig. Dann schwebte sie davon, sie ging nicht, es schien, als würden ihre kleinen zarten Füße kaum die Planken berühren. Während die „Isabella“ auf ihrem Kurs weitersegelte, ging der Seewolf aufs Achterdeck. Er wollte seine Ruhe haben und überlegen, tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf. „Bei allen Seegeistern, das ist ein Ding“, sagte Carberry. „Da lassen diese karierten Affenärsche ein junges Mädchen einfach absaufen und kriegen auch noch Geld dafür, wenn sie solange warten, bis sie tot ist. Mann, sind das Sitten! Denen gehört doch die Haut in Streifen von ihren gelben Affenärschen gezogen. Graf des gelben
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Flusses, pah!“ sagte er. „Dem Burschen würde ich ein Opfer bringen! Ich würde ihm in den Fluß reinschiffen!“ Auch die anderen ergötzten sich jetzt daran, was sie dem gelben Grafen alles opfern würden. Dabei kamen Wunschvorstellungen zum Vorschein, daß dem Seewolf .fast die Haare zu Berge standen. Eine Weile hörte er mit halbem Ohr zu. Dann wurde es ihm zuviel, wie sie auf dem Deck herumstanden, lachten, sich auf die Schenkel hieben und sich gegenseitig überboten. „Profos!“ rief er scharf. „Sir?“ fragte Carberry vorsichtig. „Arbeitseinteilung, Profos! Oder habt ihr nichts zu tun?“ „Alles ist klariert, Sir, Schiff sauber, ich wollte den Männern gerade freigeben.“ „Aber ich nicht“, erwiderte Hasard bissig. „Wenn ich mir das so ansehe, muß ich feststellen, daß unser Schiff verdammt unsauber aussieht. Seht euch nur den Staub auf dem Handlauf des Schanzkleides an. Die Steuerbordseite mag ja sauber sein, aber auf Backbord liegt fußhoher Staub. Smoky kann das mit einem nassen Lappen vielleicht in Ordnung bringen.“ „Aye, Sir“, stammelte Carberry verblüfft. „Mit einem Lappen, Sir, jawohl!“ „Luke Morgan könnte endlich mal das verdammte Faß stauen, das da auf Deck herumsteht, und gib O'Flynn endlich Werg und Teer und einen Kalfathammer, damit er die Planken abdichtet!“ Der eiserne Profos war fast einem Zusammenbruch nahe. „Aye, Sir“, stammelte er schon zum zweiten Mal entgeistert. „Noch etwas, Sir?“ Hasard blieb kühl und gelassen. Er nickte. „Ja, Blacky soll in die Wanten steigen und den Horizont auf der Steuerbordseite genau absuchen, und Matt Davies kann die Leine aufschießen, die dort an Deck liegt.“ Carberry kratzte in rasender Eile sein Stoppelkinn und blickte den Seewolf aus großen Augen an..
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„Wird sofort veranlaßt, Sir“, sagte er schluckend, obwohl er nicht den geringsten Sinn in den Tätigkeiten sah. „Da wäre noch etwas“, sagte Hasard mit einem hinterhältigen Grinsen. „Kein Mensch weiß, wie breit das Schiff ist. Wozu haben wir eigentlich einen Zimmermann an Bord, he? Ferris kann ja mal zur Abwechslung die andere Seite vermessen - für den Fall, daß wir vielleicht breiter oder schmaler geworden sind.“ Er nickte dem Profos zuckersüß zu, dessen Blicke immer zweifelnder wurden, und der sich zu fragen begann, was denn eigentlich in den Seewolf gefahren war, „Und du, mein lieber Ed“, sagte Hasard, „wirst mit Luchsaugen darüber wachen, damit jeder seine Arbeit tut. Ist das auch ganz klar verstanden worden?“ „Ich verstehe nicht ganz, Sir“, wagte Ed einzuwenden, aber der Seewolf fuhr ihm gleich in die Parade. „Wenn du immer noch nicht verstehst, dann werde ich dich persönlich mit deinen großen Ohren auf Luv in den Wind stellen, du kannst dann zwei Stunden lang als Großsegel fahren!“ Carberry fuhr sich unwillkürlich mit Daumen und Zeigefinger an das linke Ohr. So groß war es gar nicht, dachte er, aber, verdammt, er durchschaute das Spiel trotzdem nicht so richtig, das hier lief. „Aye, aye, Sir!“ brüllte er mit Donnerstimme und drehte sich um, um Smoky zu überwachen, wie der mit einem nassen Lappen und einem Gesicht, das Ed noch nie bei ihm gesehen hatte, das Geländer abwischte. Selbst Old O'Flynn stieg nicht dahinter, weshalb er, bei allen lausigen Meermännern, plötzlich das Deck kalfatern sollte. Da gab's doch nichts zu kalfatern. Aber Blacky und auch Matt Davies gingen die Lichter auf. Sie hatten den Seewolf auf die laue Tour überlistet, und jetzt revanchierte er sich, wobei er sich innerlich vor Lachen zerreißen würde. Der Profos schlich mit vorgerecktem Rammkinn von einem zum anderen, bis er bei seinem Freund Ferris Tucker
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stehenblieb, der mit steinernem Gesichtsausdruck die Schiffsseite vermaß. „Verstehst du das?“ raunte er. „Weshalb ist Hasard denn nur so verbiestert?“ „Na, überleg doch mal, Ed! Erst haben wir so getan, als müßten wir ganz dringend arbeiten, damit uns ja kein Wort entging, und das hat Hasard natürlich gemerkt, klar! Wären wir nur so herumgestanden, hätte er nichts gesagt. Aber jetzt ist seiner Meinung nach die Arbeit nur halb vollendet, und was man angefangen hat, soll man ja auch zu Ende führen, nicht?“ „So ist das also. Warum hab ich das nicht gleich kapiert?“ „Weil du nicht daran gedacht hast. Aber jetzt stör mich nicht dauernd, ich muß arbeiten!“ Carberry wandte sich ab und schlich mit finsterem Gesicht auf die Wanten zu, in deren Webleinen Blacky wie eine große Spinne hing und angestrengt zum Horizont peilte. „Na, siehst du was, du Hering?“ fragte Ed wütend. „Ja, den Arsch von der Sonne“, gab Blacky bissig zurück. „Der sieht so rot aus wie dein Affenarsch!“ „Dann glotz weiter bis zum nächsten Glasen, und wage es nicht, abzuentern, sonst kannst du was erleben, du algige Miesmuschel!“ Auch beim alten O'Flynn blieb Carberry stehen und sah mißmutig auf ihn hinunter. Doch Old O'Flynn hatte ein gleichgültiges Gesicht aufgesetzt und hämmerte wie besessen Werg zwischen die Ritzen, wobei der alle Mühe hatte, überhaupt eine Ritze zu finden. Auf dem Achterdeck aber stand der Seewolf, nach außen hin ernst, und dabei schüttelte es ihn fast vor Lachen. Er unterhielt sich mit Ben Brighton und dem grauhaarigen ehemaligen Waffenschmied von Arwenack, Big Old Shane. Dan war über die Karte gebeugt, die sie von den Chinesen erhalten hatten und die den Verlauf der Küste einwandfrei zeigte. Der junge O'Flynn vermaß die zurückgelegte Strecke und rechnete aus,
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maß wieder nach und ärgerte sich über die Schritt- und Fußeinteilung der Chinesen, mit der er nur schlecht zurechtkam. Er war so beschäftigt, daß er von den Gesprächen gar nichts mitkriegte. 6. Die Küste, an der sie entlangsegelten, veränderte sich kaum. Es gab ein paar Hügel, dazwischen welliges Land und immer wieder Sümpfe, wie die Seewölfe meinten. In manchen dieser Sümpfe erkannte Hasard durch das Spektiv emsig beschäftigte Menschen. Ihn wunderte es, daß die Sümpfe meist nur kniehoch waren. Mitunter waren sie terassenförmig angelegt, oder es gab kleine Mulden, in denen kniehoch das Wasser stand. „Sie scheinen irgendetwas zu pflanzen“, sagte der Seewolf nachdenklich, „eine Grasart, jedenfalls sieht es so aus.“ Auch der Bootsmann Brighton blickte durch das Spektiv. „Sieht tatsächlich wie Gras aus“, gab er zu, „aber was soll das nur bezwecken?“ Etwas später sahen sie ein Ochsengespann, das sich mühsam durch den Sumpf schleppte. Zwei Männer mit kurzen dünnen Stöcken trieben die Ochsen voran. „Das sind künstlich angelegte Becken, die bewässert werden“, beantwortete Hasard die Frage des Schiffsjungen, der neugierig wissen wollte, was die Leute dort taten. „Genau weiß ich es natürlich auch nicht, aber vermutlich züchten sie dort etwas.“ „Im Morast, Sir?“ fragte Bill und riß die Augen auf. „Warum nicht? Eine Pflanzenart vielleicht, die nur im Morast gedeiht, und ganz sicher ist sie eßbar, sonst würden sich die Leute kaum dieser Mühe unterziehen.” Die richtige Antwort erhielten sie etwas später, als das Chinesenmädchen wieder an Deck erschien. Sie hatte eine zähe Kondition, wie alle feststellen mußten, denn man sah ihr die Strapazen nicht mehr an. Ihr schlanker, zerbrechlich wirkender Körper war unglaublich widerstandsfähig. Sie hatte auch alle Scheu verloren, was Hasard wieder auf den Gedanken brachte,
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daß sie aus einem Haus stammen mußte, in dem der Umgang mit anderen und Reisen in verschiedene Provinzen des Landes ganz natürlich war. Sie fragte, ob es erlaubt sei, sich zu dem hohen Herrn zu gesellen. Der Seewolf erlaubte es mit einem Lächeln und einem Kopfnicken. Sie stand auf dem Achterdeck und sah sich um, betrachtete das Land, blickte zu den geblähten Segeln, und wieder durchströmte sie ein kühler Schauer, wenn sie daran dachte, jetzt irgendwo kalt und tot auf dem Meeresgrund zu liegen, als Braut des gelben Grafen. Zum Glück hatte er das Opfer nicht angenommen, und so würde wohl auch kein Unheil über das Dorf hereinbrechen. Sie wußte aber auch, daß sie mit uralten Traditionen gebrochen hatte. Als Frau war das ganz besonders schlimm, und daher befand sie sich in einem Zwiespalt der Gefühle. Doch sie beruhigte sich auch wieder damit, daß die alten Traditionen von der Regierung offiziell verboten waren. Hasard deutete zum Land, das nur ein paar hundert Yards entfernt war, hinüber. „Was pflanzen diese Leute dort in den Sümpfen?“ fragte er. Sie lächelte, ihre lackschwarzen Augen sahen den Seewolf an. „Es ist eine Pflanze, aus der unser Hauptnahrungsmittel wächst. Man nennt sie Reis, wie die Portugiesener sagen.“ Hasard sah sie fragend an. „Es sind kleine Körner, man kann sie kochen, bis sie aufquellen. Sie werden täglich bei uns gegessen, ohne sie würde das ganze Volk Hunger leiden.“ Hasard nahm sich vor, diesen Reis näher kennenzulernen, vielleicht ergab sich im nächsten Hafen eine Gelegenheit dazu. „Und diese Pflanzen wachsen im Sumpf besonders gut?“ „Sie wachsen nur im Wasser, mit einer Ausnahme: Es gibt diese Pflanzen auch im Gebirge, doch sie sind nicht so ertragreich und schmecken nicht so gut. Jedes Jahr pflanzt der Große Chan mit feierlichem Zeremoniell den ersten Reis. Er steckt eine
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Pflanze, einen jungen Trieb in den nassen Boden, und mehr als tausend Menschen sehen dabei zu. Jetzt kann der hohe Herr sich vorstellen, wie kostbar diese Pflanze ist.“ Ja, das konnte Hasard, und jetzt war er erst recht auf das neue Nahrungsmittel neugierig. „Kann man es konservieren, oder hält es sich lange Zeit?“ wollte er wissen. „Es hält sich sehr lange, wenn man es trocken aufbewahrt.“ Hasard dachte gleich noch weiter. Mit dem Proviant gab es auf den langen Reisen meist Schwierigkeiten, und schon mehr als einmal war es passiert, daß die Vorräte zur Neige gegangen waren. Vielleicht schaffte dieser Reis Abhilfe, vorausgesetzt, er schmeckte einigermaßen gut, und der europäische Gaumen konnte sich daran gewöhnen. Damit würden sich viele Probleme lösen lassen, überlegte er weitschauend. Sie hatten dann immer eine eiserne Ration und konnten die verdammten Bohnen endlich einmal auslassen, die den Männern ohnehin längst zum Hals heraushingen. „Es ist nicht nötig, daß du mich ständig mit hoher Herr anredest“, sagte er noch. „Ich bin der Kapitän dieses Schiffes und heiße Philip Hasard Killigrew.“ „Es freut mich, hoher Herr“, sagte sie schlicht, und wieder legte sie die Hände vor die Brust und verneigte sich. „Aber es ist für ein Mädchen nicht schicklich, einen Würdenträger mit dem Namen anzusprechen.“ „Ich bin kein Würdenträger“, wehrte Hasard ab. „O doch, hoher Herr Hasard. Es ist eine Würde, ein solches Schiff über die Meere zu segeln, und ich bin gegen den hohen Herrn nur ein unwürdiges, dummes Geschöpf, nicht wert, die Nähe des hohen Herrn zu genießen.“ Hasard gab sich geschlagen. Weshalb sollte er versuchen, etwas zu ändern, das für dieses Mädchen ganz natürlich war? Er bedauerte schon jetzt, wenn sie wieder von Bord ging, aber er konnte das Thema
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auch nicht übergehen, deshalb schnitt er es sofort an. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir uns trennen müssen“, sagte er ehrlich, „und ich bedaure es wirklich. Aber du kannst nicht an Bord bleiben, Chingchao ...“ „Ch'ing-chao Li-Hsia“, half sie lächelnd nach. „Ja, also ...“ druckste der Seewolf herum, „es geht wirklich nicht, denn auf die Dauer ...“ Er schwieg und hob die Schultern, als sei damit bereits alles gesagt. „Ich muß dich leider im nächsten Hafen absetzen“, fügte er dann hinzu. Sie lächelte immer noch. Wenn sie verletzt war, sah man es ihr jedenfalls nicht an, sie verstand es immer, ihre Gefühle geschickt hinter dem rätselhaften Lächeln zu verbergen. „Außer Haimen gibt es hier keinen anderen Ort, und das ist kein Hafen“, erklärte sie leise. „Ich kann in Haimen nicht an Land gehen, hoher Herr, man würde mich erkennen. Oder wünscht der hohe Herr, daß ich wieder die Braut des Flußgrafen werde?“ Diese in aller Unschuld vorgetragene Frage ließ den Seewolf innerlich hilflos werden. Natürlich wollte er das nicht. Himmel, war das Mädchen so raffiniert — oder so unschuldig? Er wußte es nicht. „Nein, das möchte ich nicht“, sagte er schnell, „sonst hätten wir dich nicht an Bord genommen. Du sollst natürlich keinen Schaden erleiden.“ Sie lächelte sanft, und dann sagte sie etwas, das den Seewolf fast umwarf. Gott, hat das Mädchen Argumente, dachte er. „China ist ein großes Land“, sagte sie, als spräche sie so vor sich hin. „Für Fremde mag es unbegreiflich scheinen, rätselhaft, und die Verständigung ist schwierig. Es gibt nicht in jedem Hafen einen Dolmetscher. Man kann in gefährliche Lagen geraten, und dann hilflos dastehen, nur weil es mit der Verständigung nicht klappt.“ „Ich glaube, ich verstehe“, murmelte der Seewolf und sah in die unergründlichen dunklen Mandelaugen.
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„Ja, ich habe kapiert. Ich spreche kein Wort Chinesisch und meine Männer auch nicht.“ „Die Suche nach der Mumie wird sehr schwierig werden, hoher Herr, und bekanntlich erhalten Fremde Teufel keine Auskunft, oder man lügt sie an. Ohne ein unwürdiges, dummes Mädchen würde der hohe Herr keinen großen Erfolg haben.“ Das saß! Hasard öffnete noch einen Knopf seines Hemdes, verzog halb belustigt das Gesicht und sah seinen Bootsmann an. „Ich wüßte nicht, was es da zu grinsen gibt, Mister Brighton“, sagte er. „Sie hat mich jedenfalls überzeugt.“ „Mich auch”, gab Ben zu, „mich wundert nur die Technik, mit wenigen Worten das auszudrücken, wozu andere Stunden benötigen.“ „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ lächelte sanft vor sich hin. Hasard hatte ihr in kurzen Worten einiges über die Mumie mitgeteilt, und sie hatte sich sehr schnell in die Sache hineingedacht. Ob sie wußte, daß sie so gut wie unentbehrlich war, schon allein deshalb, weil sie die portugiesische Sprache fast fehlerlos beherrschte? „Hoffentlich kriegen wir keine Schwierigkeiten“, sagte er. „Was sollen wir erzählen, wenn man ein junges chinesisches Mädchen bei uns an Bord findet?“ Darauf wußte Ben auch keine Antwort. Er dachte an die Rote Korsarin, von der man nicht wußte, wo sie sich befand, die meilenweit weg war. Sie hätte keine sprachlichen Probleme gehabt, aber auch sie mußte unendlich vorsichtig zu Werk gehen, denn das Reich der Mitte war für sie ein heißes Pflaster geworden. Auf diese Art und Weise, so überlegte Hasard, war Flüssiges Licht direkt ein Geschenk des Himmels. Sie hatte diplomatisches Geschick, beherrschte eine fremde Sprache und kannte sich — zumindest in den Küstenregionen — gilt aus. Daß sie wieder etwas in Reserve hatte, merkte der Seewolf an ihrem Lächeln, das irgendwie überlegen wirkte.
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„In dem Ort Lishui gibt es ein Theater“, sagte sie. „Wenn der Mond sich rundet, werden dort öffentlich Spiele aufgeführt, aber es gibt zu wenige junge Männer dort, und so müssen die Mädchen die Rollen der Jünglinge übernehmen.“ Ben Brighton spitzte die Ohren. Er wußte noch nicht auf was das Mädchen diesmal hinaus wollte, sie war immer so schwierig zu durchschauen, fand er. Aber anscheinend wußte es der Seewolf, denn das hintergründige Lächeln auf dessen Gesicht entging dem Bootsmann natürlich nicht. „Soso“, sagte Hasard trocken. „Theaterspiele, es gibt sie in der ganzen Welt. Aber was haben diese Spiele mit unserem Problem zu tun, Mädchen?“ „Der hohe Herr versteht, was ich meine. Ich habe schon ein paar Mal einen Jüngling gespielt. Es ist ganz leicht.“ Hasard betrachtete sie wieder mit gemischten Gefühlen. -Allerdings ging er kein großes Risiko ein, überlegte er. Die Flußbraut war an den nördlichen Küstenregionen ganz sicher nicht bekannt, und wenn sie es verstand, sich zu verkleiden und sich im übrigen etwas zurückzuhalten, würde sie nicht so sehr auffallen. Aber sie würde eine unersetzliche Hilfe sein. Er war gespannt, wie sie das bewerkstelligen wollte. Er blickte auf den gebeugten Rücken des Segelmachers Will Thorne, der in der Kuhl auf der Gräting hockte und in seine Arbeit vertieft war. Für Will gab es immer Arbeit, und wenn es tatsächlich einmal keine gab, dann suchte er sich welche, denn er haßte es, untätig herumzusitzen, er mußte sich immer beschäftigen, und dank seiner Emsigkeit hatte die „Isabella“ auch immer genügend Vorrat an Segeln, da konnte ruhig etwas zum Teufel gehen, in Verlegenheit gerieten sie deshalb noch lange nicht. Er war gerade mit dem Betakeln eines Taues beschäftigt. Kurz zuvor hatte er einen Segelsack zum Verstauen des Großsegels genäht, und als der Seewolf ihn rief, stand er schnell auf.
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Hasard hatte die Ellenbogen auf die Five Rail gestützt und sah Will Thorne entgegen. „Du solltest ab und zu ruhig mal ei. ne Pause einlegen, Will“, sagte er freundlich. „Die anderen arbeiten auch nicht den ganzen Tag. Denk an deine Gesundheit!“ „Die Lungenentzündung, Sir? Die ist längst vergessen, ich fühle mich wohl, wenn ich etwas zu tun habe. Was gibt es?“ Den Augenblick von Thornes Abwesenheit nutzte der Schimpanse geschickt aus. Er hatte den alten Segelmacher eine ganze Weile belauert, in der Hoffnung, wieder etwas abstauben zu können, aber Will paßte immer gut auf. Jetzt war Arwenacks Moment gekommen. Auf zwei Beinen sauste er wie ein Blitz durch die Kuhl, stützte sich dabei mit der rechten Hand auf den Planken ab und bremste hart vor dem Tau. Dann grapschte er nach dem Segelhandschuh, den Thorne immer trug, um sich nicht zu verletzen. Seine Hand fuhr hinein, er zog das Ding über und wollte gerade in die Wanten entern wo der Alte ihn nicht erreichen konnte, doch da geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das silberhelle Lachen des Chinesenmädchens irritierte ihn, und er blickte aus seinen braunen Augen schnell zum Achterdeck. So sah er Carberry nicht, der gerade eine Lederpütz voll Seewasser in der Hand hielt. Mit einem Ruck goß er dem Affen die Pütz Wasser aufs Hinterteil. Arwenack stieß einen fast menschlich klingenden Schrei der Empörung aus, verhedderte sich in dem Segelsack und wollte auf allen Vieren keckernd davonrennen, doch der grinsende Profos verhinderte das. „Warte, du verklauter Affenarsch“, sagte er und stülpte blitzschnell den Sack hoch, in den der Schimpanse im ersten Schreck blitzartig hineinsauste. Der Profos lachte laut, dann hielt er den Sack oben zu und hob ihn hoch. Zwischen den Falten tanzte Arwenack wie ein Verrückter, schrie und keckerte und biß in das Leinen. Dann streckte er die eine Hand durch das obere Loch, und Carberry nahm
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ihm den Segelhandschuh wieder ab. Erst dann ließ er den Schimpansen heraus. In der Kuhl bogen sich die Männer vor Lachen, als der Affe wie ein heulender Derwisch umherraste, knurrte, schrie und keckerte. Er warf mit allem, was er in die Hände kriegte nach dem Profos, und als das Gelächter noch größer wurde, verzog er sich beleidigt in den Großmars, legte beide Hände auf seinen haarigen Schädel und schnitt fürchterliche Grimassen dazu. Hasard hatte das kleine Intermezzo belustigt verfolgt und sah das Mädchen an, das immer noch lachte und sich köstlich amüsierte. „Was gibt's, Sir?“ wiederholte Thorne seine Frage, auch sein Gesicht hatte sich faltig zu einem Lachen verzogen, als er sah, wie schlecht Arwenack diesmal abgeschnitten hatte. „Ich habe dir zwar erst erklärt, du sollst nicht so viel arbeiten“, sagte Hasard, „aber jetzt brauchen wir doch etwas für das Mädchen hier. Kannst du eine Leinenhose nähen, die ihr paßt, Will?“ „Selbstverständlich, ich werde damit kaum Arbeit haben, denn ich habe noch eine für Siri-Tong genäht, und die wird ihr ganz sicher passen. Ich hole sie.“ „Ein Hemd von Bill würde ihr sicher auch passen“, sagte Carberry in der Kuhl zu Thorne und zeigte mit dem Daumen auf den Moses, der neben der Gräting hockte und jetzt aufstand, als er Carberrys Worte hörte. „Das glaube ich nicht, Mister Carberry“, ereiferte sich der Bengel und holte tief Luft. „Ich bin wesentlich breiter als das Mädchen, sehen Sie!“ Carberry hatte die mächtigen Arme in die Hüften gestemmt und betrachtete den Bengel mit schiefgelegtem Kopf, der sich jetzt aufblähte' wie ein Ochsenfrosch, um zu demonstrieren, was er für ein Klotz von einem Kerl war. „Ja, du hast recht“, sagte Ed, „es wird ihr wahrscheinlich viel zu eng sein.“ „Zu weit!“ schrie der Bengel empört und kriegte kaum noch Luft. Der Profos grinste noch breiter.
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Seit dieses Mädchen an Bord war, hatte sich der Bengel irgendwie verändert, fand er. Ständig rannte er aufgeplustert herum, und nahm sich selbst so wichtig, als gehöre das Schiff ausschließlich ihm allein. Sein Imponiergehabe war kaum noch zu übersehen. Mit knallrotem Schädel stolzierte er immer wieder in ihrer Nähe herum, tat die unsinnigsten Dinge und versuchte, die Aufmerksamkeit mit aller Gewalt auf sich zu lenken. Das kleine Rübenschwein hatte sich sogar erfrecht, den jungen O'Flynn in Gegenwart der Chinesin anzupfeifen und ihn angemotzt, daß er nicht vergessen wolle, ab und zu auf Riffe zu achten. O'Flynn hatte jedoch nur mit dem Finger an die Stirn getippt, allerdings an Bills Stirn, und irgendetwas vor sich hingebrummt. Jetzt blies er sich schon wieder auf — und wie! „Du siehst aus wie ein Kugelfisch“, motzte der Profos. „Ach ja, noch etwas, mein Sohn: Wenn du dich noch einmal auf dem Achterdeck blicken läßt und den Ausguck lautstark anbrüllst, ob alles in Ordnung sei, dann werde ich dir deinen lausigen Affenarsch so lange kalfatern bis du nicht mehr scheißen kannst. Und jetzt verhol dich nach vorn und bring ein Hemd mit, und wehe, es ist nicht einwandfrei sauber, dann wirst du es selbst waschen, Großer, und zwar unter Wasser. Und wenn du schon im Tordeck bist, dann kontrolliere auch gleich noch die Wasserfässer, kapiert?“ „Aye, aye, Mister Carberry, Sir —Profos“, stotterte der Bengel und rannte, wie vom Affen gebissen, nach vorn. Er sah den Decksältesten Smoky und grinste lahm. In diesem Augenblick sah das Mädchen zufällig nach vorn. „Sind die Wasserfässer alle in Ordnung?“ fragte er etwas von oben herab. Er konnte es einfach nicht lassen, zumal er bemerkte, wie die schwarzhaarige Mandelblüte ihn aus der Ferne anblickte. Smoky starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
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„Sag mal, bist du noch ganz in Ordnung, du Meisenarsch?“ fragte er entgeistert. „Schon gut, schon gut“, sagte Bill und verschwand endgültig. Der Profos hatte ihn zusammengestaucht, daß er in keinen Segelsack mehr paßte, und von Smoky, der ihm kopfschüttelnd nachblickte, wollte er sich nicht unbedingt auch noch einen Tritt einhandeln. Etwas später marschierte er wichtigtuerisch mit dem sauberen Hemd an Carberry vorbei, blickte sich in der lauernden Haltung eines Verfolgten ständig um und tänzelte auf das Achterdeck. Allerdings hielt Carberrys starker Arm ihn davon ab, den Niedergang aufzuentern. Wie zufällig lehnte er an dem Geländer. „Gib her!“ sagte der Profos. Bill überreichte ihm mit spitzen Fingern das Hemd, hüstelte, blickte besorgt in das Wasser und warf dem Mädchen wenig später einen schmachtenden Blick zu. Dann kniff er die Augen zusammen, schielte ebenso besorgt über das Schanzkleid und schüttelte den Kopf. „Keine Riffe, Mister Carberry“, sagte er gelangweilt, „ich denke, jetzt ist alles in Ordnung. Wenn wir den Kurs beibehalten, kann uns nichts passieren.“ Er hatte absichtlich so laut gesprochen, damit das Mädchen ihn ja auch verstand, aber leider sprach er Portugiesisch, was den Profos maßlos ärgerte. Was war denn nur mit dem los, überlegte er immer wieder. Litt der vielleicht unter einer plötzlich aufgetretenen Krankheit? Oder hing das immer noch mit seinem lausigen Imponiergehabe zusammen? So hatte der Bengel sich jedenfalls noch nie benommen; das war sicher. Carberry gab das Hemd an Hasard weiter, und der Segelmacher enterte ebenfalls auf, um die Hose zu bringen. Dann schlug der Profos dem Bengel herzhaft auf die Schulter und grinste, als Bill fast zusammensackte. „Da hast du recht, Sir“, sagte er, „wenn wir so weitersegeln, kann uns nichts passieren. Darauf werden wir jetzt beide beim Kutscher einen Rum trinken.“
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Bill blieb äußerst mißtrauisch. Carberrys Wandlung war zu spontan gekommen, als daß sie echt sein konnte. Aber er ging gehorsam mit und grinste nur matt. Er wußte, daß der Profos ihn gut leiden konnte, und er mochte Carberry auch, aber irgendwo waren die Grenzen gesteckt, und ein Carberry ließ sich nicht das Schmalz vom Brot nehmen, schon gar nicht von einer Rotznase wie Bill. Da war er mit seinem Gehabe wohl etwas zu weit gegangen. Schon in der Kuhl flatterten ihm die Hosen und auf dem Vordeck hatte er gewaltige Schiß, denn er nahm an, daß der Profos ihm mit dem Tauende kräftig eins überbraten würde, damit er rechtzeitig wieder zur Besinnung gelangte. „Eigentlich mag ich gar keinen Rum“, sagte er kleinlaut. .,Ach was, Quatsch!“ Der Profos winkte ab. „Richtige Kerle vertragen auch mal einen kräftigen Schluck! Komm nur!“ „Ich bin noch gar kein richtiger Kerl“, jammerte Bill. „Einer, der so kluge Sprüche gegen die Älteren los läßt, ist ein richtiger Kerl. Ohne dich wären wir bestimmt auf Riffe gelaufen, oder der Kapitän hätte sich verfahren, nein, nein, das muß gefeiert werden, und dann deine treffenden Bemerkungen dem Ausguck gegenüber. Der wäre sicher eingeschlafen, wenn du ihn nicht angebrüllt hättest. Und jetzt sieh mich mal nach, ob die Wasserfässer wirklich in Ordnung sind. Anschließend gehst du zur Kombüse.“ „Aye, Mister Carberry“, sagte Bill kläglich. Bill marschierte zu den Wasserfässern, und Carberry ging zum Kutscher in die Kombüse. Er erzählte ihm kurz, was los war, bis der Kutscher grimmig nickte. „Der spinnt, der Kerl“, sagte er, „kommandiert hier plötzlich 'rum, als gehöre ihm ganz China. Aber er will sich nur vor dem Mädchen aufspielen.“ Carberry angelte sich eine Muck, stellte sie auf die Platte neben dem Herd und griff
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nach der nächsten, die er dem Kutscher gab. „Die eine halbvoll mit Rizinusöl“, sagte er. „Und dann schütte ordentlich Rum drauf!“ Grinsend tat der Kutscher das Gewünschte, füllte die Mucks auf und lehnte dann mit todernstem Gesicht am Herd. Sich selbst goß er ebenfalls einen kleinen Schluck ein. Das Schott öffnete sich, Bill trat ein, peilte die Lage und entdeckte nichts, das seine Besorgnis erweckte. Er verstand zwar die Welt nicht mehr und überbrückte seine Verlegenheit mit einem Grinsen, als er sah, daß der Kutscher aus der Rumflasche noch einmal ein wenig hinzugoß. Da kriegte er heute schon zum zehnten Male Oberwasser. „Auf einen Schluck!“ sagte Carberry. „In einem Zug!“ „Aye, Sir, richtige Kerle können auch mal was vertragen“, sagte Bill frech und hob die Muck. Die beiden tranken ihm zu, er stürzte das Zeug wild herunter, und für ein paar Augenblicke blieb ihm regelrecht die Spucke weg. Er pfiff beim Ausatmen, und sein Mund wurde ganz klein. Teufel, das Zeug hatte vielleicht einen merkwürdigen Geschmack dachte er. Das kam ihm ja fast wieder hoch. Er hatte Mühe, gegen die kleine Revolte in seinem Magen anzukämpfen, und sein markiger Spruch von den richtigen Kerlen fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, sonst hätte er alles wieder 'rausgewürgt. „Noch einen?“ fragte der Kutscher ernst und beflissen. „Nein, danke, Sir“, sagte er schwach. „Einer reicht wirklich.“ Ihm wurde ganz verwunderlich, als er sah, daß der Profos noch einen kippte. „Na ja, noch einen ganz kleinen“, sagte er großzügig, denn anscheinend hatte es dem Profos doch imponiert, wie er seit einem halben Tag mit den anderen umsprang. Er merkte nicht, daß der Kutscher ihn aus zwei Flaschen bediente, denn Carberrys breiter Rücken verdeckte das Tun des Kutschers. Noch bevor der zweite in seinem Magen explodierte, es ihn würgte und schüttelte,
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spürte er, daß etwas nicht mit ihm in Ordnung war. Er mußte mal, und das so dringend, wie nie zuvor in seinem Leben. Sein Gesicht war fahl, als er nach dem Schott griff, um es aufzureißen, aber Carberry hielt ihn zurück. „Nicht so eilig, Großer! Aller guten Dinge sind drei!“ „Ich muß raus!“ schrie Bill in höchstem Entsetzen, doch Carberry lehnte am Schott, und da kam keine Maus durch. Der Kutscher goß schon wieder nach, drückte dem zitternden Bengel die Muck in die Hand und animierte ihn zum Trinken. Doch dann gab es ein verdächtiges Geräusch. Bill heulte los, als hätte ihn eine Muskete getroffen, und sein bleiches Gesicht wurde grünlich. „Ich mach in die Hose“, jammerte er. „Tss, tss“, sagte Carberry kopfschüttelnd. „Richtige Kerle scheißen doch beim Saufen nicht in die Hose. Na, dann geh mal schnell an Deck, wenn es nicht schon zu spät ist, was ich fast. glaube. Demnach bist du noch gar kein richtiger Kerl, was, wie?“ Dem Bengel war alles egal. Er war ein Hosenscheißer, das gab er vor sich selbst zu, denn er vertrug nicht mal zwei Rum hintereinander, ein kleines Würstchen war er, und mit diesem Gedanken raste er davon zum Galionsdeck, als hätte ihn der Blitz getroffen. Und dort hinter dem Bugspriet, wo sich der Freiluftabort befand, klang ihm das gellende Gelächter der beiden Männer überlaut in den Ohren. Aber jetzt kannte er genau seinen Platz an Deck und auch die Rangordnung an Bord. Er fing von unten an, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er sich seinen Platz erkämpft hatte. So einfach war es auf der „Isabella“ nun auch wieder nicht, da hatte alles seine Richtigkeit. Nur das verdammte Gelächter und Gebrüll der beiden Kerle tat ihm weh, sonst fehlte ihm eigentlich gar nichts, wenn man von seinem Magen absah. *
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Hasard war das kleine Zwischenspiel nicht entgangen, der Bengel war ihm schon öfter mit seinem vorlauten Mundwerk aufgefallen, und er wußte, daß der Profos ihm jetzt eine kleine Lektion erteilen würde, die er nicht so schnell vergaß, und damit behielt er schließlich auch recht, als der Bengel etwas später wie ein Blitz aus der Kombüse flitzte. Der Seewolf lachte in sich hinein. Kleine, mitunter etwas derbe Späße gehörten ganz einfach zum Bordleben. Jetzt hockte der Moses auf dem gewissen Örtchen und hatte Zeit zum Überlegen für die nächsten Stunden. Hasard ertappte sich dabei, daß er voller Ungeduld auf „Flüssiges Licht“ wartete, die mit ihrer neuen Bekleidung in der achteren Kammer verschwunden war. Er hatte ihr einen Kamm und einen Spiegel zur Verfügung gestellt, und zwischen dem Zeug, das sie an Bord hatten, wenn sie sich manchmal als Spanier verkleideten, hatte sich auch noch Schminke befunden, die zwar nicht viel taugte, ihren Zweck aber durchaus erfüllte. Sie erschien nach einer knappen halben Stunde, als die Sonne sich anschickte, gerade hinter der Kimm zu verschwinden, und als der alte O'Flynn es längst aufgegeben hatte, das Deck zu kalfatern und Blacky aus den Wanten gestiegen war. Die Seewölfe standen da, grinsten versteckt und starrten das Persönchen an, das jetzt mit der scheinbar größten Selbstverständlichkeit an Deck erschien. Sie ähnelte einem Jungen in verblüffender Weise. Ihre ohnehin kleinen Brüste waren unter dem groben Baumwollhemd nicht mehr zu sehen. Dazu trug sie eine Leinenhose, die ihr um eine winzige Kleinigkeit zu groß war. Die Hose endete an den Waden, sie trug keine Schuhe mehr und ging barfuß wie die meisten an Deck. Auch ihre Haare hatte sie versteckt, hochgebunden und unter einer blauen Kappe getarnt. Ihr Pfirsichgesicht war jetzt nicht mehr ganz so weich wie vorhin. Sie glich einem Mischling zwischen Weißen und Gelben in verblüffender Weise. In allem ähnelte sie Siri-Tong ein wenig, nur,
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daß sie noch schmaler und zerbrechlicher wirkte. Ein bewundernder Pfiff aus vielen Lippen begleitete ihr Erscheinen an Deck. Ihr Gesicht überzog sich mit flammender Röte, und sie senkte verlegen das Köpfchen, als die rauhen Burschen ihrer Bewunderung freien Lauf ließen. „Sehe ich so schrecklich aus, hoher Herr?“ fragte sie den Seewolf, der sie anerkennend anblickte. „Im Gegenteil, du siehst prächtig aus. Wie der Schiffsjunge von einer Gemüsedschunke. Alle Achtung!“ „Wenn der hohe Herr einverstanden ist, werde ich in Shanghai das Schiff verlassen“, sagte sie leise. „Dort wird mich eine Familie aufnehmen, die keine Fragen stellt.“ „Noch sind wir ja nicht in Shanghai“, sagte Hasard grinsend. „Bis dahin sind es noch einige Seemeilen.“ Sie nickte, blickte dann den jungen O'Flynn an und trat zu ihm hin. Er arbeitete immer noch an der Karte, und ab und zu stieß er eine leise Verwünschung aus. Die Karte hatte sie schon vorhin gesehen und auch gefragt, woher sie stamme. Hasard hatte es ihr erklärt. Jetzt trat sie dichter an die Karte heran und warf einen langen Blick darauf. Dan O'Flynn stand schweigend daneben und betrachtete sie. Ein wunderbarer geheimnisvoller Duft umgab sie, fand er, ein Duft nach Mandeln, Blumen und dem geheimnisvollen Land, an dem sie entlangsegelten. Sie zeigte O'Flynn, was man unter einem Schritt in den verschiedenen Provinzen verstand, wie das Maß aussah und gab ihm genaue Angaben über die Entfernungen. Danach war es für Dan nur noch eine Kleinigkeit, die Entfernungen umzusetzen und auszurechnen. Er sah sie bewundernd an und nickte anerkennend. Sie erklärte ihm auch die chinesischen Zeichen, bis Dan sich zu Hasard umdrehte und sagte: „Das Mädchen sollten wir für immer an Bord behalten, sie versteht ihr Handwerk. Bei den Engländern hätte sie
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längst das Kommando über ein Schiff erhalten.“ Hasard lächelte. Ihm fiel gerade etwas ein. Er hatte noch das Begleitschreiben des hohen Staatsbeamten in seinem Besitz, das er zusammen mit der Karte erhalten hatte, nachdem sie etliche Leute mit Gold und Perlen geschmiert hatten. Er ging nach achtern und holte es. Er war begierig zu erfahren, was darin stand, obwohl der Sinn ihm einigermaßen klar war. Der Inhalt besagte nichts weiter, als daß dieses Schreiben ihnen sozusagen die Tür zu allen Provinzen des Chinesischen Reiches öffnete. Aber er wollte es noch einmal ganz genau wissen. „Kannst du es übersetzen?“ fragte er und deutete stolz auf das Siegel des Schreibens über das kunstvolle Buchstabengruppen in schwarzer Tusche wanderten. Sie nickte, nahm es lächelnd entgegen und las halblaut auf Chinesisch vor. Dabei umwölkte sich ihre Stirn immer mehr. Sie sah von dem Schreiben auf, blickte Hasard zweifelnd an, sah dann wieder auf das Reispapier, wurde knallrot und schüttelte den Kopf. „Was hat sie nur?“ fragte der Seewolf verständnislos seinen Bootsmann, der ebenfalls nichts begriff. „Keine Ahnung!“ „Flüssiges Licht“ preßte die Zähne zusammen, senkte das Köpfchen noch tiefer und begann dann silberhell zu lachen, als sie das Schreiben sinken ließ. Ihr schmaler Körper wurde vom Lachen geschüttelt, sie konnte sich kaum beruhigen. Die Seewölfe sahen sich verständnislos an. Jeder blickte jeden an, ratlos, fragend, was denn jetzt los sei. Endlich hatte das Mädchen sich beruhigt und gab Hasard das Schreiben zurück. Der Seewolf fragte schärfer als beabsichtigt: „Was gibt es darüber zu lachen! Das ist ein amtliches Schreiben!“ „Das stimmt, hoher Herr.“ Sie verneigte sich, und Hasard sah, daß sie sich schon wieder mühsam das Lachen verkniff.
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„Es besagt, daß dieses Schiff in Xiapu war, und die Besatzung nicht an der Pest leidet.“ „Und das ist so lächerlich?“ fragte Hasard erstaunt. „Das nicht, hoher Herr, es steht noch mehr geschrieben. Dieses Schiff und sein Kapitän sind immer wieder zu versteuern, sobald es einen Hafen anläuft. Die Fremden Teufel sind dumm und gutgläubig und bezahlen mit Gold und Perlen, sobald man es verlangt. Man kann sie ausnehmen wie Gänse, wenn man ihnen erklärt, daß es hier üblich ist, großzügig mit Kumscha umzugehen. Kumscha ist Reis- oder Wegegeld, hoher Herr“, wandte sie ein. Hasard kriegte ganz schmale Augen. Er hatte das Gefühl, ein killendes Großsegel hätte ihn gestreift. Der Seewolf konnte sich meist verbindlich geben. Doch übergangslos konnte er diese Verbindlichkeit blitzartig abwerfen und seinen wahren Charakter offenbaren. Dann explodierte er von einer Sekunde zur anderen, und genau danach sah es jetzt aus. Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht wurde um eine Schattierung blasser und in seinen eisblauen Augen schimmerte plötzliche Kälte. Auch seine Narbe, die an der rechten Stirnseite begann und sich über die Wange hinzog, trat deutlicher hervor. „Flüssiges Licht“ trat ängstlich zurück, als sie diesen Ausdruck in dem harten Gesicht sah, und ihre Hilflosigkeit und Angst waren es wohl, die den Seewolf sofort wieder umdenken ließen. Was soll's, dachte er. Sein anfänglicher Ärger war plötzlich verschwunden. Man hatte sie angeschmiert, und zwar kräftig. .Dieser Schnapphahn von einem Staatsdiener, dieser korrupte Lumpenhund, wollte seine Brüder in den anderen Provinzen gleich mitversorgen, sobald die „Isabella“ einen Hafen anlief. Da hielten sie zusammen wie eine große Familie und reichten den Fremden Teufel hohnlachend weiter, der dumm genug war, jedesmal tief in die Tasche zu greifen, um das fette Leben dieser Gauner zu finanzieren. Dummheit muß bestraft werden, sagte sich Hasard, und er war auch der Mann, der
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über sich selbst lachen konnte. Natürlich hätte er dieses Schreiben in jedem Hafen vorgezeigt, und die Staatsbeamten hätten höflich gelächelt, es genau durchgelesen und sich dann köstlich amüsiert. Hasards Schultern bebten, er lehnte an der Five Rail und schüttelte sich in lautlosem Gelächter, und es dauerte auch nicht lange, bis die Crew begriff, was los war, und dann hallte ein schauriges Lachen über das Schiff, das kein Ende nehmen wollte. „Himmel, was sind wir für Idioten“, sagte Ben stöhnend. „Man kann uns ausnehmen wie Gänse: Dieses Mädchen ist wirklich unbezahlbar, Sir!“ „Ja, das ist sie“, sagte Hasard lachend. „Und wir sind unbezahlbare Idioten, daß wir darauf hereingefallen sind. Ich glaube, das Gelächter dieser Kerle von Xiapu bis hierher zu hören!“ Er griff nach dem Schreiben und wollte es in der Mitte durchreißen, aber das Mädchen schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Der Seewolf hielt in der Bewegung inne und sah sie fragend an. „Nicht zerreißen“, bat sie, „es läßt sich ändern. Wir werden in Shanghai Tusche kaufen und ein neues Schreiben aufsetzen.“ Hasard entsann sich, daß sie Tusche an Bord hatten. Damals, im Sargassomeer, hatten sie auf einer vergammelten Dschunke neben den Brandsätzen welche gefunden. Er hatte damals den Spruch der in das Holz eingeritzt war, nachgezeichnet. Aber was hatte das Mädchen vor? Schämte sie sich ihrer Landsleute, oder war das der Dank für ihre Rettung? Jedenfalls ahnte der Seewolf was sie vorhatte, aber er war seiner Sache nicht ganz sicher. „Wir haben Tusche an Bord“, sagte er, „und auch einen Pinsel, mit dem man die Schriftzeichen malt. Ich hole sie.“ Er wollte Bill schicken, aber der hockte immer noch vorn, weil er es bis zum anderen Abort nicht mehr geschafft hatte. Das Mädchen entfernte das Siegel mit geschickten Fingern, das mit dünnen Fäden in das Reispapier eingeknüpft war und brachte es auf der Seekarte an. Dort
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knüpfte sie es ebenso geschickt wieder ein, nahm dann die Tusche und den Pinsel und setzte sich an Deck, wobei sie die Karte ausbreitete. Hasard sah ihr zu, wie sie kunstvoll eins der geheimnisvollen Zeichen unter das andere setzte. Es dauerte eine ganze Weile, bis „Flüssiges Licht“ mit Zeichnen fertig war, und es wurde gerade dunkel, als sie den letzten Strich vollendete. Dann überreichte sie Hasard mit einer kleinen Verbeugung die Karte, die jetzt auf der Rückseite das amtliche Siegel trug. Hasard ließ sich den Text übersetzen, der jetzt ein wenig anders lautete und sinngemäß beinhaltete, daß der Kapitän des Schiffes „Isabella VIII.“ in keinem chinesischen Hafen mehr Kumscha zu zahlen hätte. Er habe mitgeholfen, die Pest zu unterdrücken, und dabei sein Leben und das seiner Leute riskiert. Man möge ihn respektierlich behandeln, und nicht wie einen Portugiesener, denn seine Mission würde das Wohlwollen des Großen Chan finden. Der Profos, der das meiste mitgekriegt hatte, grinste schwach. „Lesen kann das zwar keiner“, sagte er zu Ferris Tucker, „aber hoffentlich heißt das nicht, daß sie uns in jedem chinesischen Hafen die Haut in Streifen von unseren Affenärschen abziehen können, solange sie wollen.“ „Alles möglich“, meinte Tucker. „Aber dem Mädchen traue ich so was nie im Leben zu„Laß mich mit den Weibern in Ruhe“, grollte Ed. „Die rasieren uns sogar, wenn wir keine Bartstoppeln haben.“ An der Kimm wurde es dunkel. Langsam schob sich die Nacht über das Meer. Die See lief immer noch in langgezogener rollender Dünung, nur der Wind briste etwas auf. 7. Khai Wang, der Piratenkapitän, den sie die Geißel des Gelben Meeres nannten, stand mit nacktem Oberkörper und einer Bambusgerte in der Hand der Roten Korsarin gegenüber.
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Wu, sein sadistischer Steuermann, hielt die Seidenschnur fest in der Faust. Die tödliche Schlinge zog sich bei der geringsten Bewegung immer enger zu und drohte die Korsarin zu ersticken, sobald sie sich rührte. Sie hatten sie in eine kleine Kammer nahe der Piek gebracht, aus der es kein Entkommen gab. Zwei von der Balkendecke herabhängende Schalen spendeten schwaches Licht. Die Schalen waren zur Hälfte mit Wasser gefüllt, darüber befand sich eine dünne Schicht Öl, in der kleine Dochte in zierlichen Behältern schwammen. Haß stand in den Augen der Korsarin, unauslöschlicher Haß gegen diesen Piraten, der ihr jetzt schon zum zweiten Mal eine ganz empfindliche Niederlage beigebracht hatte. Er war seit einer Weile im Besitz der Mumie, aber sein Stolz ließ es wohl nicht zu, neben sich eine andere Korsarin zu dulden, obschon er hier unumschränkter Herrscher war. Siri-Tong starrte angewidert auf seine Tätowierung auf der Brust, die einen wildaussehenden Drachen zeigte, der Feuer spie. Auf dem Rücken trug der Pirat eine ebenso kunstvolle Tätowierung. Darauf befand sich eine große Schlange, die sich windend über den Boden schlängelte, und in deren aufgesperrtem Rachen ein kleiner hilfloser Vogel steckte. „Wirf sie zu Boden, Wu!“ befahl er seinem Steuermann. „Ich mag es nicht, wenn Frauen vor mir stehen!“ Wu zog hart an der scharfen Seidenschnur, die er ihr über den Kopf gestreift hatte. Es war ein wilder harter Ruck, der die Rote Korsarin augenblicklich zu Boden warf. Wie mit glühenden Messern schnitt es in ihren Hals. Sie kriegte keine Luft mehr und erstickte fast. „Du dreckiges Schwein“, stöhnte sie leise. „Du feiger Bastard. Gib mir meinen Degen, und ich werde dir zeigen, wie ich mit deinesgleichen umgehe, du räudiger ...“ Khai Wang lachte höhnisch. Breitbeinig stand er da, die Bambusgerte zum Schlag erhoben.
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„Ich wollte nur wissen, ob es stimmt, was man über dich erzählt hat“, sagte er lächelnd. „Nichts davon ist wahr, du bist nur eine Frau, die sich nicht wehren kann, und ich ...“ Eine Sekunde lang hatte sich der mörderische Druck der Seidenschnur gelockert, und Khai Wang erfuhr, auf was er sich da eingelassen hatte. Die Korsarin sprang blitzschnell auf die Beine, so schnell, daß er die Bewegung kaum wahrnahm. Er prallte zurück, doch schon traf ihn eine kleine, aber knallharte Faust mitten zwischen die Augen. Er hörte sie fauchen wie eine Wildkatze, und sie griff hart nach der Bambusgerte. Wu hatte sich von seinem Schreck erholt. Teufel, dachte er, die ist ja wilder und gefährlicher als eine gereizte Katze. Blitzschnell .schlang er sich das Ende der Seidenschnur noch fester um die Faust und riß sie zu Boden. Gleichzeitig hieb Khai Wang voller Wut mit der Bambusgerte zu. Mit drei heftigen Schlägen, die. ihr nicht einen einzigen Ton entlockten, reagierte er seine Überraschung ab. „Du verdammte Hafenhure“, 'keuchte er, „ich werde dich dem Mandarin Shu-Kuan übergeben. Ich habe gehört, daß man dich sucht, und es wird mir eine Genugtuung sein, wenn man dich nach Shanghai bringt, wo dir öffentlich der Prozeß gemacht wird.“ Er sah sie lauernd und mit einem dreckigen Grinsen an. „Weißt du, was dich dann erwartet?“ fragte er höhnisch. Als sie keine Antwort gab und ihn nur verächtlich anblickte, ging die Wut mit ihm durch und seine Stimme wurde schrill. „Du wirst wegen Mordes zum Tode verurteilt! Du wirst wegen Grabräuberei ebenfalls zum Tode verurteilt, du wirst den zweifachen Tod auf der Straße sterben, den durch öffentliche Entehrung und den durch das Schwert. Öffentlich wird man deinen Kopf abschlagen, und viele Leute werden zusehen. Und ich“, er lachte laut auf, „ich werde die Richter bestechen, ich werde
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ihnen Gold und Wertsachen geben, damit sie dich zum Tode verurteilen.“ „Was willst du überhaupt von mir, du lausiger Bock“, sagte Siri-Tong voller Verachtung. „Ich habe deinen Weg nicht gekreuzt, du hast mich an- gegriffen, hast den ehrwürdigen Mandarin geraubt und mein Schiff beschädigt. Was willst du also?“ „Gerechtigkeit-, sagte Khai Wang lachend, „ich will nur Gerechtigkeit, und ich mag keine überheblichen Weiber. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, Weiber dort zu wissen, wo Männer hingehören.“ „Du bist ja verrückt, ein eingebildeter, überheblicher Dummkopf, der nicht wert ist, daß ihn die Sonne bescheint. Du und Gerechtigkeit. Weshalb tötest du mich nicht selbst?“ „Ha, ich könnte es, jetzt gleich und hier! Aber alle sollen sehen, wie groß und mächtig Khai Wang ist! Deshalb werde ich dich ausliefern lassen.“ Er redete sich wieder in Eifer und sah sie drohend an. „Außerdem hast du es gewagt, mich zu verfolgen. Du wolltest mein Schiff niederbrennen! Ich dulde jedenfalls keine Weiber im Chinesischen Meer, und es hat mich einfach gereizt, um herauszukriegen, ob das wahr ist, was man sich erzählt. Es ist nicht wahr“, schloß er verächtlich. „Und um jedem weiteren Ärger aus dem Weg zu gehen, lasse ich dich ausliefern. Du könntest sonst auf die Idee verfallen und erzählen, ich hätte die Mumie gestohlen.“ Siri-Tong glaubte jetzt, das Spiel zu durchschauen, das hier lief. Klar, dieser Wichtigtuer hatte Angst, er mußte ganz einfach Angst haben, denn in allen Provinzen suchten sie ihn, um ihn wegen Seeräuberei hinzurichten. Da war ihm Li-Cheng gerade recht gekommen und der Vorwand, daß ein Bruder des Getöteten, mit dem die Korsarin verheiratet werden sollte, mit ihr abrechnen wolle. Schließlich konnte Khai Wang auch nicht alle Staatsbeamten bestechen, und so erhoffte er sich durch die Mumie ebenfalls eine Art Rehabilitierung.
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Vielleicht, oder ganz sicher, sah man dann großzügig über seine Schandtaten hinweg. Der Ahnenkult mochte das alles begünstigen, dachte die Korsarin. Die Mumie des Mandarins galt im Chinesischen Reich nun einmal als heilig und stellte ein Relikt dar, das den Chinesen vor vielen Jahren erstmals die Welt erschloß. In jedem Land wurden große Entdecker gefeiert und verehrt und ein gewisser Mythos umgab sie, mochten sie nun tot sein oder lebendig. Genauso war es hier, und inzwischen würde sich das vermutlich auch schon alles herumgesprochen haben. Khai Wang war eine Sorge los, wenn sie, Siri-Tong, nicht mehr am Leben war. Dann konnte er seine Geschichte ummünzen, wie er wollte, und jeder würde ihm Glauben schenken. Es wunderte sie ohnehin schon, daß man „Eiliger Drache über den Wassern“ nicht durch die Behörden konfisziert hatte. Vermutlich kannten nur ein paar Eingeweihte das Schiff. Khai Wang stand immer noch breitbeinig über ihr und blickte sie verächtlich an. Ganz langsam nahm er seinem Steuermann die Seidenschnur aus der Hand. „Binde sie an den Balken fest, Wu“, befahl er. Und zu Siri-Tong gewandt, sagte er: „Morgen wird man dich holen, du Luder. Diese Nacht bleibst du auf dem Schiff. Wu band die vor Wut fast berstende Korsarin an dem Balken fest. Die Schnur legte er ihr um den Hals, lockerte sie ein wenig und befestigte sie dann so hinter dem Balken, daß sie sich bei einer hastigen Bewegung selbst erdrosseln würde. Es blieb ihr nur sehr wenig Luft zum Atmen. „Du kannst jetzt an Deck gehen!“ Wu verschwand lautlos und drückte das Schott hinter sich zu. Khai Wang sah die Piratin aus schmalen Augen an. Er fand, daß sie eine verteufelt hübsche Frau war, gerade ihr unbändiger Zorn war es, der ihn anstachelte und reizte. Aber er wollte keine Frau mit Gewalt haben, das lag ihm nicht, denn die Frauen unterwarfen sich ihm freiwillig. Der Schein der kleinen Öllämpchen, die auf dem Öl schwammen, ließ die Gier in
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seinen Augen glitzern. Das Öl verbreitete einen ätherischen, fast betäubenden Duft, der seine Sinne umnebelte. Seine Stimme klang ganz ruhig, nicht mehr die geringste Erregung lag darin. „So weit ist es also mit dir“, sagte er. „Bald wird dein hübsches Köpfchen in den Straßenstaub von Shanghai rollen. Hast du keine Angst davor?“ Siri-Tong warf ihm einen mörderischen Blick zu. Natürlich hatte sie Angst davor, aber sollte sie es diesem Kerl zeigen? Lieber biß sie sich die Zunge ab. „Man könnte das natürlich verhindern“, sagte Khai Wang beiläufig, und jetzt wurde seine Stimme heiser, als er sie mit begehrlichen Blicken betrachtete. „Wenn du sehr nett zu mir wärest, müßte dein hübscher Kopf nicht rollen. Ich stelle mir das sowieso eklig vor! Das viele Blut — na, hast du es dir überlegt? Eine Stunde Zärtlichkeit mit Khai Wang, und wir vergessen alles. Ich warte auf deine Antwort!“ Ihr Blick wurde fast schmachtend, als sie ihn ansah. „Wirklich?“ hauchte sie leise. „Für eine Stunde gibst du mir die Freiheit?“ „Ja“, krächzte Khai Wang, obwohl er nicht im Traum daran dachte, die Korsarin freizulassen. Er ging etwas näher heran, griff nach ihrer Bluse und beugte sich über sie. „Wie ist deine Antwort?“ Siri-Ton spuckte ihm ins Gesicht. „Das war meine Antwort“, sagte sie kalt und verletzend. Khai Wang fuhr zurück, als hätte ihn eine Natter gebissen, und fluchte. „Das wirst du büßen!“ schrie er unbeherrscht. Er riß das Schott auf und schrie mit lauter, überkippender Stimme nach dem Steuermann Wu, der auch sofort erschien. „Hoher Herr?“ „Diese Hure wird ausgepeitscht. Auf der Stelle! Sie kriegt zehn Schläge! Los, hole die Gerte!“ Wu flitzte kommentarlos davon und kehrte gleich darauf mit einer langen, sehr biegsamen Bambusgerte zurück, die er
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einmal durch die Luft pfeifen ließ. Es gab ein ekelhaftes singendes Geräusch. „Schlag zu! Auf was wartest du noch? Zehn Hiebe!“ brüllte Khai Wang. Wu grinste voller Freude. Solche Prozeduren waren ganz nach seinem Geschmack. Das Opfer konnte sich nicht wehren, es mußte die Strafe erdulden und konnte sich auch nicht rächen. Er schlug hart auf den Rücken und sah, daß sich die Rote Korsarin wild aufbäumte. Wu lachte laut und schlug wieder 'zu. Jedesmal, wenn sie sich in ihren Fesseln vor Schmerz aufbäumte, zog sich die seidene Schnur noch fester um ihren Hals zu, bis sie fast stranguliert war. Nach dem fünften und sechsten Hieb wunderten sich die beiden Männer. Die Korsarin war nicht bewußtlos, aber sie gab auch keinen Ton von sich, nicht einmal ein Wimmern. Sie stöhnte nur leise und warf sich hin und her, bis ihre Bluse zerfetzte. Als die Prozedur vorbei war, ging Khai Wang zu ihr hin, sah sie ungläubig an und schüttelte den Kopf. Aus ihren dunklen Augen sprühte wilder, unbändiger Haß, und er schluckte automatisch, als er das Gesicht sah. So hatte ihn noch nie eine Frau angeblickt. Sie sah aus, als wolle sie die ganze Welt einreißen. „Verdammt“, sagte er laut, „hast du nicht kräftig genug zugeschlagen, Wu?“ Aber gleichzeitig wußte er, daß Wu sich solche Gelegenheiten nicht entgehen ließ. Er schlug immer hart und grausam zu, schon um seine Opfer zu quälen, und es bereitete ihm Freude, wenn sie vor Schmerzen schrien. Insgeheim glaubte Khai Wang jetzt doch daran, was man über sie sagte. Daß sie eine Tigerin sei und keine Angst kannte oder diese Angst zumindest nicht zeigte. Er stieß hörbar die Luft aus. „Du hättest billiger davonkommen können“, zischte er zwischen zusammengepreßten Lippen. „Aber du wolltest es nicht anders:' Er drehte sich um, stieß Wu aus der Kammer und ging durch das Schott. Nachdem er einen letzten Blick auf die
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Korsarin geworfen hatte, schlug er das Schott hinter sich zu und verriegelte es. Siri-Tong war mit ihrer Wut und mit ihrem Schmerz allein. An diesem Abend wurde es Siri-Tong schmerzhaft deutlich bewußt, wie hoffnungslos ihre Lage war, und sie bedauerte insgeheim, so eilig und vom Haß geblendet davongesegelt zu sein. Ihr heißes Temperament war wieder einmal mit ihr durchgegangen. Sie hätte warten sollen, bis auch der Seewolf wieder in ihrer Nähe war. Dann hätte man gemeinsam kühl und nüchtern überlegen können, wie es weitergehen sollte. Jetzt war das alles geplatzt, der Traum war ausgeträumt, Khai Wang, den sie zutiefst beleidigt hatte, würde seine Worte in die Tat umsetzen und sie ausliefern. Was ihr dann bevorstand, konnte sie sich ohne große Mühe selbst ausrechnen. Prozeß in der Hafenstadt Shanghai, bestochene Richter, ein Henker. die anschließende öffentliche Hinrichtung vor einer Menge neugieriger Gaffer, die sich an ihrem Schicksal weideten. Für einen Augenblick vergaß sie sogar ihre Schmerzen. Aber nun kehrten sie zurück, schlimmer als am Anfang, und ihr schlanker Körper bäumte sich wild auf. Zwischen ihren Schultern brannten tausend Höllenfeuer, ihr ganzer Körper schien aus einer einzigen Feuerquelle zu bestehen. Dabei wurde ihr Haß auf den Piraten und seinen Steuermann auch immer größer. Sie versuchte, den brennenden Schmerz zu ignorieren, dachte an den Seewolf und an ihr Schiff, und daran, was aus den Leuten jetzt wohl werden würde. Doch kaum hatte sie diese Gedanken gedacht, da setzte der wahnsinnige Schmerz wieder ein, und sie litt Qualen. Sie wußte nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das Schott von außen entriegelt wurde. Über ihrem Kopf brannten die kleinen schwimmenden Dochte immer noch. Sie würden vielleicht tagelang brennen, sie brauchten nur sehr wenig Öl.
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Kamen sie jetzt, um sie erneut auszupeitschen? Sie glaubte nicht, daß sie auch nur noch einen einzigen Schlag ertragen würde, so geschwächt war ihr Körper. Aber weder Khai Wang noch der Steuermann ließ sich blicken. Durch das Schott trat ein ziemlich junger Chinese, der in der einen Hand eine hölzerne Schale trug. Verlegen grinsend näherte er sich der Korsarin und war von ihrer Schönheit schlagartig entflammt. Schon als er sie an Deck gesehen hatte, war es ihm wie eine Lanze durch die Brust gefahren, und jetzt sah er die Frau ganz dicht vor sich. „Ich bringe Reis“, sagte er und verbeugte sich tief. Siri-Tong wollte aufbrausen und ihm sagen, Khai Wang möge seinen verdammten Reis selbst fressen und daran ersticken, doch dann überlegte sie es sich anders. Dieser junge Bursche konnte nichts dafür, er war nur das Werkzeug der anderen, und vielleicht konnte sie ihn als Helfer einspannen, wenn sie es geschickt anfing. Ihr entging nicht der Blick unverhohlener Bewunderung, den er ihr zuwarf. Trotz der Schmerzen zwang sie sich zu einem kleinen Lächeln. „Du bist nett“, sagte sie, „viel netter als die anderen, die mich ausgepeitscht haben. Wu hat mich geschlagen!“ Er sah ihre zerfetzte Bluse und erschrak. „Wu ist ein Schwein, eine Sau“, flüsterte er, und sah sich um, ob der Steuermann auch nicht hinter ihm stand. „Er hat mich auch ausgepeitscht vor ein paar. Tagen, obwohl ich keine Schuld hatte. Eines Tages werde ich ihn bestrafen.“ Sie heizte seine Stimmung gleich noch etwas an, indem sie auf die Ungerechtigkeit Wus schimpfte. Über Khai Wang sagte sie nichts, denn sie wüßte, daß der Kapitän der Dschunke bei seiner Besatzung ein unwahrscheinlich hohes Ansehen besaß. Niemand wäre auf die Idee verfallen, ihn als Schwein zu bezeichnen. So ließ sie ihre Wut eben an Wu aus.
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Der junge Bursche mußte sie füttern. Geschickt schob er ihr mit zwei hölzernen Stäbchen Reis in den Mund. „Stimmt es, was man sagt“, fragte er neugierig, „du hättest sagenhafte Schätze an Bord und wärst eine Freibeuterin?“ Siri-Tong lächelte. „Ja, das stimmt, ich bin der Kapitän des Schiffes ,Eiliger Drache über den Wassern'. Und wenn du mir hilfst, kannst du zu mir an Bord kommen. Ich werde dich belohnen.“ Jetzt war die Neugier des Mannes geweckt. „Khai Wang wird mich töten, wenn er es erfährt“, sagte er bedauernd. „Ich weiß nicht, wie ich helfen soll.“ „Aber du könntest mir helfen. Er muß es ja nicht erfahren.“ „Eine Frau als Kapitän eines Piratenschiffes“, murmelte der Mann verblüfft. „Das habe ich noch nie gehört.“ „Aber es stimmt.“ „Ja, ich weiß, daß es stimmt.“ Er zauderte, sah sie wieder an und hob hilflos die Schultern. „Ich weiß nicht – ich glaube, ich kann es nicht tun.“ „Ich gebe dir soviel Gold, wie du tragen kannst“, versprach sie eifrig. Himmel, wäre ihr das eine Genugtuung, hier zu entfliehen und Khai Wang zu überlisten. Natürlich würde sie diesen Burschen an Bord nehmen, er setzte immerhin sein Leben aufs Spiel, und wenn er es schaffte, sie von Bord zu bringen, würde sie ihn auch reich belohnen, da stand sie zu ihrem Wort. „Was zahlt dir der hohe Herr?“ fragte sie. „Nicht viel, das Essen und ab und zu mal ein Goldstück. Die anderen kriegen auch nicht viel mehr, außer Wu.“ „Dann müßte es dich doch besonders reizen. Wenn wir erst einmal an Bord meines Schiffes sind, wird der hohe Herr es nicht mehr wagen, uns zu überfallen. Ein zweites Mal gelingt ihm diese List nicht mehr.“ Immer noch zögerte der Mann und war unentschlossen. Seine Angst vor dem hohen Herrn überwog alles andere, aber
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Siri-Tong fühlte, daß sie ihrem Ziel schon ein Stückchen näher war. Sie legte ihre Wange an seine Hand und rieb sie sanft hin und her. Der Mann erstarrte fast. Er stand da und rührte sich nicht. Vermutlich hatte er mit Frauen nicht die geringste Erfahrung. „Iß jetzt den Rest auch noch“, sagte er schließlich mit zittriger Stimme. „Ich werde nachher noch einmal nach dir sehen und dir auch etwas zu trinken bringen, schöne Frau.“ Und dann geriet er ins Schwärmen, als er sie erneut ansah. „Ich kann schreiben“, versicherte er stolz, „und ich werde ein Gedicht über dich schreiben. Deine Augen sind wie der schimmernde Tau einer Lotosblüte im Morgenlicht.“ „Heb dir das Schreiben für später auf“, flehte sie ihn an, „in ein paar Tagen wird man mich in Shanghai hinrichten. Dann wirst du nicht mehr über meine Augen schreiben können, dann wird der Tau des kalten Morgens darin schimmern; und sie werden erloschen sein.“ Der Bursche wich ängstlich zurück und sah sie ungläubig an. ..Das habe ich nicht gewußt“, stammelte er, „ich hielt es für einen Scherz.“ „Es ist kein Scherz, in ein paar Tagen erwartet mich der Henker.“ „Ich werde dir helfen“, versprach er. „ganz bestimmt werde ich dir helfen, wenn du mich an Bord nimmst.“ „Ich verspreche es dir.“ Nach einem letzten Blick zog er sich hastig zurück und verschloß das Schott von außen mit dem Riegel. Siri-Tong dachte nach. Der Mann war noch zu jung, viel zu jung, sie traute ihm eine solche Befreiungsaktion eigentlich nicht zu, und sie wußte noch nicht, wie recht sie damit hatte. So lag sie da, dachte nach und wartete. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. * Ewigkeiten später wurde der Riegel umgelegt, und der Mann erschien wie ein Verschwörer. In der rechten Hand hielt er
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diesmal eine Muck voll Wasser, eine kleine Holzschale, nicht größer als jene, in der sich der Reis befunden hatte. Sie trank fast gierig in langen Zügen und schenkte ihm einen dankbaren Blick. Himmel, dachte sie, ihr ganzes Schicksal lag jetzt in der Hand des jungen Kerlchens, der sich so ungeschickt anstellte. „Kannst du schwimmen?“ fragte er mit vor Erregung heiser klingender Stimme. „Ja, sehr gut.“ „Wir müssen sehr weit schwimmen“, flüsterte er, „aber erst muß ich mich überzeugen, daß niemand in dem Gang ist. Warte, ich werde dir die Fesseln durchschneiden. Aber bleibe solange in der Kammer, bis ich wieder da bin, hast du gehört?“ „Ja, schneide mich los!“ Auch Siri-Tong wurde jetzt von der Erregung angesteckt. Sie würde das ganze Chinesische Meer durchschwimmen, wenn es sein mußte, und sie würde es diesem lausigen Piraten hundertfach heimzahlen. Sie würde nicht eher ruhen, bis er mitsamt seinem Schiff „Fliegende Schwalbe“ auf dem Meeresgrund lag. Ein zweites Mal ließ sie sich nicht überlisten. Da würden Kanonen und Brandsätze sprechen, und das Enterbeil würde die Kerle wie mit einer Sense dahinraffen. Mit zitternden Fingern und an allen Gliedern schlotternd, griff er nach einem Messer im Hosenbund und schnitt ihr die Fesseln durch. Seit langer Zeit konnte sie wieder ungehindert Luft holen, ohne den würgenden Druck der Schlinge im Hals zu spüren. Sie reckte ihre Glieder und versuchte erneut, die Schmerzen zu ignorieren, die sie in langen peinigenden Wellen durchliefen. Der Mann, von dem sie noch nicht einmal den Namen wußte, verschwand geräuschlos, nachdem er ihr noch einmal verschwörerisch zugenickt hatte. Das Schott hatte er wieder hinter sich verschlossen. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte.
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„Keiner zu sehen, nur eine Wache ist an Deck“, flüsterte er. Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchströmte die Rote Korsarin. Sie drückte dem Mann einen Kuß auf die Wange. Sie liefen durch einen schmalen Gang, in dem eine blakende Lampe von einem Balken hing, die unruhig hin und her schaukelte. „Noch nicht gleich an Deck springen“, warnte ihr Begleiter im Flüsterton. „Erst müssen wir die Wache ausschalten.“ Siri-Tong nickte nur. Die Wache! Wenn ihr jetzt die Freiheit winkte, würde sie diesen Kerl mit eigenen Händen erdrosseln. Sie war in der Stimmung einer sprungbereiten Tigerin, die seit Tagen vergeblich der Beute nachgejagt war und die der Selbsterhaltungstrieb zum Angriff zwang. Als sie um die Ecke biegen wollten, blieb sie ruckartig stehen. Khai Wang, der Steuermann Wu und drei weitere Kerle sahen ihnen höhnisch entgegen. Ihre Gesichter waren in dem flackernden Lichtschein verzerrt, ihre Körper warfen auf- und abtanzende Schatten an die Wand. Da wußte Siri-Tong, daß es kein Entrinnen gab. Der Kampf war zu Ende, noch bevor er begonnen hatte. Zu dritt stürzten sie sich auf sie. Um den Mann kümmerte sich niemand, den bannte der Blick Khai Wangs auf der Stelle und nagelte ihn fest. Er ließ den Kopf sinken, fiel in die Knie und bat mit weinerlicher Stimme um Vergebung. Das riß Siri-Tong noch einmal hoch. Sie kratzte, schlug und biß, wehrte sich wie eine Raubkatze, aber es dauerte nicht lange, bis die Männer sie packten und in die Kammer brachten. Dort schloß man sie ein, nachdem sie wieder gefesselt war. * Khai Wang schleifte den Mann an Deck. Er hatte sein Hemd hinten am Hals gepackt und schob ihn vor sich her. Dabei sprach er
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kein einziges Wort. Erst als sie oben an Deck standen, wandte er sich dem totenblassen Mann freundlich zu. „Siehst du, Shing, dein Verhalten hat es bewiesen. Wir beobachten dich schon eine ganze Zeit. Ist es nicht ein übles Verbrechen, gegen die Weisung seines Herrn zu handeln? Ist das nicht eine Todsünde?“ „Ja, es ist eine Todsünde, hoher Herr“, winselte Shing. „Der Teufel muß mich besessen haben, daß ich so handelte. Meine Sinne waren getrübt, ich war verblendet.“ Khai Wang klopfte dem Mann auf den Rücken. „Gegen alles gibt es ein Mittel“, sagte er freundlich, „den 'Teufel treibt man mit dem Schwert aus, und Leute mit getrübten Sinnen kann man auf einem Schiff nicht brauchen. Man schärft ihren Blick, und dann sehen sie in eine viel bessere Zukunft.“ Shing ahnte, was die Umschreibungen des Kapitäns bedeuteten, aber er glaubte nicht daran. Er war schon lange bei Khai Wang, und hatte sich kaum etwas zuschulden kommen lassen. Der hohe Herr würde ihn sicherlich nur hart bestrafen und zu den Ratten sperren. Sein Versuch, kläglich zu lächeln, scheiterte schon im Ansatz, denn Wu hieb ihm grinsend die Faust ins Gesicht, daß er zurücktaumelte und gegen Khai Wang stieß. „Du wagst es, gegen deinen Kapitän tätlich zu werden!“ schrie der Steuermann erbost. „Es war ein Versehen!“ schrie Shing angstvoll. Seine Oberlippe blutete und er wischte hastig mit dem Handrücken darüber. Aus den Augenwinkeln sah er, daß immer mehr Leute an Deck erschienen. Wie Schatten tauchten sie auf, Gespenster der Dämmerung, die aus dem Nichts erschienen und plötzlich da waren. Er sah sich um, fuhr mit der Zunge über seine aufgeschlagenen Lippen und wollte um Hilfe schreien. Es rührte sich keine Hand. Niemand von seinen Freunden tat auch nur die geringste Handbewegung, so, als wären sie alle erstarrt.
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„Bringt mehr Lichter an Deck!“ befahl Khai Wang. Sein Befehl wurde sofort ausgeführt. Kleine flackernde Öllampen wurden aufgehängt, die das Deck des Schiffes in milchiges Licht tauchten. „Möchtest du einen Schluck Reiswein?“ fragte Khai Wang den jungen Burschen. „Schön heiß, mein Freund? Es wird ganz sicher der letzte Reiswein sein, den du trinkst!“ Shing wurde übel. Sein Magen rebellierte, er hielt sich die Hände vor den Mund, um sich nicht zu erbrechen. Jetzt wurde ihm die ganze Tragweite seines Vergehens bewußt. Er konnte keine Antwort geben, denn in seinem Hals saß ein dicker Klumpen, an dem er fast erstickte. Jemand hielt ihm eine Holzschale voll Reiswein an die Lippen, und er schluckte langsam. Nur ein einziges Mal versuchte er zu fliehen, aber es blieb bei dem Gedanken, er vermochte ihn nicht in die Tat umzusetzen. Zu viele Männer standen jetzt an Deck, und die, die vormals seine Freunde gewesen waren, sahen ihn nur stumm an, als sähen sie ihn zum ersten Male in ihrem Leben. Sie alle wußten, daß er etwas verbrochen hatte, aber was es war, das hatte sich noch nicht herumgesprochen und so warteten sie schweigend ab, denn ganz sicher hatte Khai Wang ihnen etwas mitzuteilen. Der hohe Herr tobte nicht, er blieb kühl und freundlich, und seine Stimme war ohne Zorn, als er sprach. Fast glaubten die meisten, ein leises Bedauern herauszuhören. „Ich hoffe, daß alle Mann an Deck erschienen sind“, sagte er. „Wer nicht da ist, erhält später zwanzig Hiebe. Zählt jetzt ab, denn ich habe euch etwas zu sagen.“ Es fehlte niemand, wie sich gleich darauf herausstellte, ausnahmslos alle waren an Deck erschienen. Sie beobachteten Shing, der seinen letzten Reiswein trank und an allen Gliedern zitterte. Fliehen konnte er jetzt nicht mehr, denn sie hatten ihn von allen Seiten umringt.
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„Unter uns ist ein Verräter“, fuhr der hohe Herr ruhig fort. „Shing hat versucht, die Frau zu befreien und ihr zur Flucht zu verhelfen. Wenn wir ihn nicht beobachtet hätten, wäre sein Plan auch gelungen. Wir konnten ihn fassen, als er mit der Frau gerade durch den Gang schlich.“ Gemurmel wurde laut, zögernd klangen leise Verwünschungen auf. „Verräter bringt man zu Tode“, sagte Khai Wang, „wir können sie an Bord nicht brauchen. Und damit das euch allen eine Lehre für die Zukunft ist, werdet ihr zusehen, wenn Shing enthauptet wird.“ Schweigen herrschte, unheimliche Stille lag über dem Schiff, als Khai Wangs Worte verklungen waren. Er warf dem Steuermann einen Blick zu und hob die Augenbrauen leicht an, ohne etwas zu sagen. Wu wußte Bescheid. Er verschwand lautlos und erschien gleich darauf mit einem krummen Schwert in der Hand wieder an Deck. In Shing war alles tot, wie abgestorben. Er fühlte gar nichts mehr, die Welt um ihn herum hatte aufgehört zu existieren. Er war schon jetzt tot und gestorben, er fühlte sich in einer anderen Welt. Er spürte es kaum, als zwei Männer seine Hände nach hinten rissen und ihn auf die Knie zwangen. Der Schein der Öllampen beleuchtete sein starres bleiches Gesicht. „Es ist soweit, Wu“, sagte der Pirat leise. „Mögen ihn seine Ahnen aus dem Weltall zurück auf die Erde schleudern, er hat es nicht besser verdient.“ Der Steuermann ließ das gebogene Schwert durch die Luft sausen und hieb zu. Shings Kopf rollte an Deck und blieb am Schanzkleid liegen. Die beiden Männer ließen den Körper los, der auf die Planken fiel und sich nicht mehr rührte. Khai Wang wandte sich ab. „Merkt es euch gut“, sagte er drohend. „Beschwert den Körper und werft ihn über Bord, wascht das Deck sauber und laßt doppelte Wachen gehen. Einer bleibt die ganze Nacht vor der Kammer stehen. Die
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Frau erhält keine Verpflegung mehr, kein Wasser.“ „Was tun wir mit dem Schädel des Verräters?“ fragte Wu, der sein Schwert einem anderen übergab, damit er es nach unten brachte. „Du weißt nicht, was wir damit tun?“ fragte Khai Wang höhnisch. „Kannst du dir das nicht denken?“ „Ja, hoher Herr! Wir hängen ihn am Mast auf, wie wir es mit unseren Gefangenen getan haben.“ „Du hast keine Phantasie, du Dummkopf!“ „Nein, hoher Herr!“ „Verhülle den Schädel mit einem Tuch und bringe ihn der Korsarin. Sie kann heute nacht darüber nachdenken, was es heißt, einen Mann der Besatzung zu umgarnen.“ Das war ganz nach Wus Geschmack. Er verneigte sich dreimal rückwärtsgehend und verschwand dann, um den Befehl auszuführen. 8. In Siri-Tong war etwas zerbrochen, seit die Flucht mißglückt war. Jetzt gab es keine Hoffnung mehr. Sie lag da und lauschte in sich hinein mit geistesabwesendem Blick und leeren Augen. Die Öllampen flackerten immer noch. Sie versuchte, sich von ihren Fesseln zu befreien. Vielleicht gab es doch noch eine winzige Hoffnung. Wenn sie sich befreien konnte und die Öllampen erreichte, würde sie das ganze Schiff in Brand stecken, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dann in den Flammen umkam. Doch die Fesseln erwiesen sich als zu stark. Es gelang ihr nur, sie ein wenig zu lockern, und nach einer Weile gab sie das Vorhaben wieder auf, weil ihr Rücken schmerzte und die Wunden bei jeder kleinen Bewegung wie Feuer brannten. Vom Deck her hörte sie Schritte. Stimmen sprachen durcheinander, doch die Worte waren nicht zu verstehen, sie klangen wie weit entferntes Gemurmel. Dann wieder sprach eine einzelne Stimme, die Khai
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Wang gehörte, aber sie verstand nicht, was er sagte. An Schlaf war nicht zu denken, das Erlebnis hatte sie doch tiefer aufgewühlt, als sie dachte. Man würde diesen Burschen, der ihr zur Flucht verhelfen wollte, hart bestrafen, das war sicher, und er tat ihr leid. Hoch über ihr polterte etwas, Schritte verklangen, danach kehrte Ruhe ein. Aber sie hatte keinen Schrei gehört, nichts. Vielleicht verschob der Pirat die Strafe auf morgen. Dafür vernahm sie jetzt Schritte auf dem kurzen Gang. Das Schott wurde geöffnet, der Steuermann trat grinsend ein und blickte sie an. Der gedrungene kleine Kerl trug einen Sack in der Hand, den er auf den Boden stellte. Sein Grinsen war derart abstoßend, daß Siri-Tong ihn am liebsten umgebracht hätte, wäre ihr das möglich gewesen. „Na, wie fühlst du dich nach den Schlägen?“ erkundigte er sich lauernd. „Und die mißglückte Flucht ist dir wohl auch in alle Glieder gefahren, was!“ Sie gab keine Antwort. Wenn sie das hier jemals lebend überstand, würde auch der Tag kommen an dem sie sich diesen widerlichen Kerl vor den Degen holte. Daß sie keine Antwort gab, schien den Steuermann zu ärgern. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte er hämisch, „damit du heute nacht nicht so allein bist. Ein Geschenk des hohen Herrn, er meint, du solltest darüber nachdenken. Zeit genug hast du ja!“ Er griff in den Sack, holte den abgeschlagenen Kopf des Mannes hervor und stellte ihn seelenruhig auf den Boden. Dabei beobachtete er genau ihre Reaktion. „Du kannst dich weiter mit ihm unterhalten“, sagte er abschließend. Ohne ein weiteres Wort verschwand er und donnerte das Schott hinter sich zu. Die Korsarin war in vielen Kämpfen hart geworden. Sie hatte gesehen, wie man Männer an der Rah hochzog, wie andere ausgepeitscht oder geköpft wurden, andere wieder waren nur noch tot aus dem Wasser
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aufgetaucht, nachdem man sie kielgeholt hatte.. Aber der Anblick des Kopfes wühlte sie derart auf, daß ein trockenes Schluchzen aus ihrem Mund drang, ein gequältes Stöhnen, das in ein Wimmern überging. Ihr Körper zuckte, es schüttelte sie, und doch konnte sie den Blick nicht abwenden von dem Kopf des Mannes, der ihr zur Flucht verhelfen wollte. Sie hatten ihn enthauptet, schnell und ohne zu zögern, wie es Khai Wangs Art war. Vor ganz kurzer Zeit noch hatten sie Pläne geschmiedet, und jetzt war er tot. Sie drehte sich um, soweit ihre Fesseln das zuließen und schluchzte vor sich hin. Immer wieder wurde ihr schmaler Körper von Krämpfen geschüttelt. In dieser Nacht fand die Rote Korsarin keinen Schlaf, sie war auch nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, sie fühlte sich ausgebrannt und tot, und zum ersten Mal war ihr die eigene Zukunft völlig egal. Nur ihr Haß blieb und schwelte, bis aus dem Schwelen ein Brand wurde, eine Flamme, die bis zum Himmel loderte. Nicht einmal den Höllenhund Caligu hatte sie so gehaßt wie Khai Wang, der sie immer wieder demütigte und erniedrigte, sie bis aufs Blut peinigte und sie dann auslachte. * Am frühen Morgen, als es noch dunkel war, erschienen Wu, zwei Kerle, die sie noch nie gesehen hatte, und etwas später Khai Wang, der sich hohnlachend erkundigte, wie sie geschlafen hätte. Siri-Tong gab keine Antwort, er war Luft für sie. In dieser Nacht hatte sie viel über ihr Leben nachgedacht und gegrübelt. Nein, kampflos wollte sie nicht untergehen, auch wenn sie sich schon geschlagen gegeben hatte. Nach dieser Nacht war alles anders geworden. Irgendwann ergab sich eine Gelegenheit, das ahnte sie, und davon war sie auch fest überzeugt.
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Wu löste die Fesseln, aber erst nachdem er ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte. Er wußte wie gefährlich und unberechenbar diese Frau war. „Der Shu-Kuan will dich sprechen“, sagte Wu. „Wenn du dich nicht anständig benimmst, dann wird dein Kopf genauso auf dem Deck stehen wie dieser da.“ Mit einer verächtlichen Gebärde wies er auf den Schädel. Wu stieß sie vor sich her, Khai Wang und die beiden anderen Kerle bewachten sie. Einer trug eine Armbrust, in die ein eiserner Bolzen gespannt war, der andere hatte Pfeil und Bogen lässig in der Hand. Sie rechnete sich keine Chancen aus, nicht hier und nicht jetzt. Sie warf einen Blick über die Schulter, aber es war noch zu dunkel, sie konnte nichts erkennen, und von „Eiliger Drache“ sah sie nichts, das Schiff lag zu weit weg. Niemand begegnete ihnen. Ein kühler Wind strich über ihr Gesicht und ließ ihre langen schwarzen Haare flattern. Einen richtigen Hafen gab es hier nicht, nur zwei Anlegestege für kleinere Dschunken, und eine dieser Dschunken, mit Gemüse voll beladen, lag ruhig auf dem Wasser. Aus dem Heck drang schwacher Lichtschein. Sie gingen an Hütten vorbei, in denen sich nichts regte, bis sie ein großes erleuchtetes Haus erreichten. Ein Diener öffnete ihr die Tür, bedachte sie mit einem lauernden Blick und ließ die anderen eintreten. In der Mitte des Raumes, der von Öllampen erhellt war, stand ein hoher Würdenträger. Sein Gesicht war schlaff und faltig. Unter den Augen hatte er schwere Tränensäcke, sein schwarzgelacktes Haar war im Genick zu einem dünnen Zopf zusammengebunden, der ihm bis weit auf den Rücken reichte. Er hob matt die fleischige Hand, die mit vielen Ringen geschmückt war, und lächelte unverbindlich. Siri-Tong verzichtete auf Anstand und Sitte und verneigte sich nicht. Der
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Mandarin zog die Augenbrauen hoch, gelangweilt sah er die junge Frau an. „Ist sie das?“ fragte er. „Ja, ehrenwerter Herr“, antwortete Khai Wang etwas unterwürfig. Siri-Tong musterte aus schmalen Augen die spartanische Einrichtung des Raumes. Für den korrupten Mandarin hatte sie nur einen flüchtigen Blick. Der war ohnehin von den Piraten bestochen, und er würde nicht das geringste an ihrer Lage ändern, das stand schon fest, als sie durch die Tür gegangen war. In dem Raum lagen Matten auf dem Boden, die um einen kleinen Tisch gruppiert waren. An der Wand stand ein Schreibpult, das an beiden Seiten mit Drachenköpfen verziert war. In einer kleinen Schale auf dem Boden brannte ein Räucherstäbchen, das die Luft mit betäubendem Duft erfüllte. Ein paar Tuschezeichnungen an den Wänden, die Tempel und Pagoden zeigten, waren alles. Mehr Inventar gab es nicht, bis auf einen schmalen Glasperlenvorhang, der ein anderes Zimmer abgrenzte. Der Shu-Kuan war bereits ausführlich informiert. Er wollte nur noch ganz offiziell dem Gesetz Genüge tun und ihm den Anstrich der Wahrheit geben. Er nahm eine Schriftrolle von dem Pult, rollte sie auseinander und hielt sie dicht vor seine Augen, die hinter den Tränensäcken fast verschwanden. „Mann nennt dich die Rote Korsarin“, leierte er herunter, wobei sich der Tonfall seiner Stimme nicht änderte, „dein richtiger Name lautet Siri-Tong, ein weiterer Name ist nicht angegeben. Du bist in Shanghai-Shi im September des Jahres fünfzehnhundertachtundfünfzig geboren.“ Er sah auf und musterte sie kurz. „Ich habe durch Boten Informationen einholen lassen“, sagte er zur Erklärung. „Ich glaube kein Wort davon“, sagte SiriTong. „Li-Cheng hat Euch alles erzählt, er setzte mich dem Rauch der Wahrheit ...“ „Schweig, oder ich lasse dich betrafen! Du weißt, daß eine Frau den Mann nicht unterbrechen darf. Ich selbst urteile dich nicht ab, das mögen andere tun. Ich habe
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nur die Aufgabe, diese Verbrechen weiterzumelden.“ Siri-Tong sah das verborgene Grinsen in den Gesichtern. Das abgekartete Spiel widerte sie an. Der Shu-Kuan sprach mit leiernder Stimme weiter. „Du bist schuldig der Piraterie, des Mordes unter Vorsatz und des verabscheuungswürdigsten Verbrechens überhaupt, das es gibt. Du hast in Tsingtau ein altes Kaisergrab geplündert.“ „Das stimmt nicht!“ schrie Siri-Tong erbost. „Das ist eine Lüge. Ich habe mich nie an den Kaisergräbern vergangen. Der Kapitän hat sie ausgeplündert und ist dafür hingerichtet worden.“ Der Mandarin lächelte verschlagen. „Was der Kapitän tut, wird auch der Mannschaft angelastet, alle sind mitschuldig.“ „Khai Wang hat auch eben einen Menschen ermorden lassen!“ schrie die Korsarin. „Wer zieht ihn denn dafür zur Rechenschaft?“ „Sie will nur ihre Haut retten, ehrenwerter Herr“, sagte Khai Wang ungerührt. „Ihr wißt selbst, daß ich nie jemanden ermorden lassen würde.“ „Natürlich nicht, ich weiß, daß Ihr ehrenwert und absolut glaubwürdig seid, Khai Wang. Man spinnt Intrigen um Euch. Hüte deine Zunge, Piratin!“ sagte der ShuKuan scharf. „Wenn du keine Beweise bringen kannst, kann es dir passieren, daß man dir die Zunge herausschneidet und deine Augen blendet, wenn sie nicht mehr richtig sehen. Khai Wang ist ein ehrenhafter Mann!“ „Ein Blinder spricht von Farben!“ höhnte die Rote Korsarin mit einem bitteren Auflachen. Wu schlug ihr die Faust an den Hals, und in diesem Augenblick drehte sich der ShuKuan gemessen um und trat an das Pult. Natürlich hatte er nichts gesehen. Unbändiger Zorn wallte in Siri-Tong auf. So also sah es aus, dachte sie angeekelt. Li-Cheng, dieser Hundesohn des Drachenschiffes, hatte alles haarklein erzählt, und jetzt spann man etwas hinzu,
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damit die hohen Herren in Shanghai auch nicht den geringsten Zweifel an ihrer Schuld hatten. Es war leicht auszurechnen, wie der Prozeß enden würde. Man würde sie in allen Punkten schuldig sprechen, und es würden auch genügend Zeugen gegen sie auftreten. Der Shu-Kuan hatte den Tuschepinsel ergriffen, ein großes Blatt in den Holzrahmen gespannt und malte eifrig Zeichen auf das hauchdünne Reispapier. Alle schwiegen, nur ab und zu warfen sich Khai Wang und der hinterhältige Steuermann grinsend einen Blick zu. Es dauerte lange, bis der Mandarin den Pinsel weglegte. Er stellte ihn in ein kleines Glas Wasser, wedelte mit dem Reispapier durch die Luft, bis es trocken war, und rollte es dann zusammen, nachdem er ein Siegel auf den unteren Teil gepreßt hatte. „Bringt sie auf die Dschunke“, sagte er dann. „Der Kapitän ist informiert und weiß Bescheid. Er wird gleich lossegeln. Übergebt ihm das Schreiben hier!“ Er gab Khai Wang die Schriftrolle, der sich ehrfürchtig verbeugte und sie in Empfang nahm. „In dem Schreiben ist bestätigt, daß es sich um die Verbrecherin Siri-Tong handelt, ihre Schandtaten sind aufgeführt, und ich habe hinzugefügt, daß etliche hochstehende Zeugen, die mir persönlich bekannt sind, alles bestätigen. Damit ist der formelle Teil erledigt, alles andere bleibt den ehrenwerten Herren in Shanghai überlassen. Befindet sich das Schiff der Piratin noch vor der Insel?“ „Ja, ehrenwerter Herr, es belauert uns, traut sich aber nicht, uns anzugreifen.“ „Gut, ich werde es beim ersten Dämmerlicht von Kriegsdschunken und Flößen umstellen lassen. Das Schiff wird vermutlich beschlagnahmt werden, denn es gehört nicht der Piratin, sondern dem Großen Chan, der es bauen ließ.“ Der Shu-Kuan hob den rechten Arm mit dem weitgeschnittenen Seidenärmel und zeigte durch eine Handbewegung an, daß damit alles erledigt sei. Anschließend brachte ein Diener, der fast auf den Knien
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hereinrutschte, heißen Reiswein. Auch Siri-Tong erhielt eine Schale, die Wu ihr an die Lippen setzte. Als sie den ersten Schluck verweigerte, goß der Steuermann ihr das heiße Zeug ins Gesicht, gerade in dem Augenblick als der Mandarin seine Schale vors Gesicht hielt, um daraus zu trinken. Natürlich sah er wieder nichts, und Wu entschuldigte sich wortreich. „Das tut mir aber sehr leid“, sagte er heuchlerisch, „das war aber ungeschickt, Frau. Man verspottet doch einen hohen Staatsbeamten nicht, indem man das Getränk mit dem Kopf wegstößt.“ Der heiße Reiswein brannte höllisch in ihren Augen, aber sie störte. sich nicht daran. Sie war über einen gewissen Punkt hinaus, und da zählten solche Kleinigkeiten nicht mehr. Sehr ruhig und gefaßt sagte sie: „Ein Mandarin? Ein korrupter Hurensohn ist das, so benimmt sich kein ehrwürdiger Staatsbeamter, ich kenne keinen, der auch nur so ähnlich handelt wie dieser feige Kuan.“ „Ich werde sie züchtigen lassen, ehrenwerter Herr“, sagte Khai Wang, und er sprach zu dem Mandarin in dem gleichen Tonfall wie mit seinesgleichen. „Nicht nötig, Khai Wang“, erwiderte der Shu-Kuan. „Die Zeit wird sie züchtigen, denn noch ist sie nicht in Shanghai, und die Beleidigungen einer Piratenhure prallen von mir ab, als wären sie nie gesprochen worden. Bringt sie jetzt weg und vergeßt nicht, nachher noch einmal mein Haus aufzusuchen.“ „Vergeßt vor allem nicht, dem Kerl Gold und Perlen mitzubringen“, sagte Siri-Tong, „sonst ist er nicht mehr euer Freund!“ Wu schlug ihr wieder ins Gesicht, aber die Rote Korsarin lachte nur laut und schneidend. „Eines Tages, du triefäugige Wanze“, sagte sie, „stehst du vor meinem Degen, und ich werde dich erst kielholen lassen und dann wie eine Kakerlake aufspießen, das verspreche ich dir!“ Diesmal lachte der Steuermann gehässig.
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„Eines Tages“, sagte er wild, „liegst du unter der Erde, und diesen Tag kann ich schon an den Fingern einer Hand abzählen, so schnell ist er da!“ Der Shu-Kuan war gegangen und durch den Glasperlenvorhang verschwunden, als man Siri-Tong hinausstieß. Wahrscheinlich überschlug er jetzt in Gedanken seine Reichtümer, die die Kerle gleich in sein Haus schleppten. * Draußen war es dämmerig, auf dem fernen Wasser trieben kleine Nebelschleier. Siri-Tong fröstelte. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Jetzt kroch ihr der kühle Wind durch alle Glieder, drang von der Seite in ihre teilweise zerfetzte Bluse und jagte ihr einen kalten Schauer nach dem anderen über den Körper. Sie hielt nach den Dschunken ausschau, die „Eiliger Drache über den Wassern“ umstellen sollten, aber sie sah noch nichts. Himmel, was würde Thorfin. jetzt wohl tun, überlegte sie. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und daher waren ihm auch die Hände gebunden. Bestimmt hätte er längst einen Angriff versucht, aber er konnte das Risiko nicht eingehen und wegen einer höchst zweifelhaften Aktion Schiff und Mannschaft vernichten. Die Piratenschiffe hätten ihn in Grund und Boden geschossen, und so stand er jetzt vielleicht an Deck und fluchte pausenlos, wie es seiner Art in solchen Situationen entsprach. Und wo blieb der Seewolf? fragte sie sich immer wieder. Er wußte nicht, welchen Kurs sie gelaufen war, und war einfach auf gut Glück hinterher gesegelt. Bestimmt segelte er irgendwo an der Küste entlang, in der Hoffnung, das Schiff zu treffen. Aber er mußte noch weit zurück sein. Die schmale Anlegebrücke tauchte aus dem Nebel. Die Männer stießen sie vorwärts, und jetzt sah Siri-Tong die Gemüsedschunke deutlicher, und auch die beiden Kerle, die an Deck standen und ihnen entgegenblickten.
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Die beiden trugen wattierte Jacken und dunkelgrüne Hosen. Sie sahen aus wie Khai Wangs Piraten und etwas anderes waren sie wahrscheinlich auch nicht, denn Khai Wang hätte die Korsarin mit Sicherheit keinem Unbekannten anvertraut. Das Gemüse, das die kleine Dschunke fuhr, roch faulig und war halb verdorben. Weizen, Reisstroh und Säcke, die vielleicht Sojabohnen enthielten, gammelten vor sich hin. Der üble Geruch verstärkte sich in der Nähe des Schiffes noch. Khai Wang geht tatsächlich kein Risiko ein, überlegte sie. Die Kerle auf der Gemüsedschunke hatten absichtlich schlechte Ware geladen, denn immer wieder passierte es den Seglern, daß sie an der Küste von Piraten überfallen wurden, die sich auf diese einfache und billige Art keiner Gefahr aussetzten, an Land zu gehen, und sich trotzdem mit frischem Gemüse versorgen konnten. Für die Gemüsedschunken war es ein Ärgernis, das ihnen auf jeder zweiten Reise blühte und mit dem sie sich abgefunden hatten. Mitunter bezahlten die Piraten allerdings auch. Diese Dschunke würde so schnell keiner überfallen, wenn sie erst einmal den fauligen Geruch des Gemüses wahrnahmen, und damit sank auch die Hoffnung, daß ein anderer sie fand und sich ihr Schicksal änderte. Zu weiteren Überlegungen ließ man ihr keine Zeit, denn Wu gab ihr einen derben Tritt in den Rücken, daß sie von dem kleinen Steg stürzte und zwischen Reisstroh und faulen Weizenhalmen landete. Der Geruch war jetzt fast unerträglich geworden. Zwei Mann rissen sie an den gefesselten Armen hoch und hielten sie fest, ein anderer griff in das Stroh und warf es zur Seite. Bald entstand eine tiefe Mulde, darunter waren die Planken zu sehen. Der Kerl warf eine Matte darauf und deutete mit dem abstehenden Daumen nach unten.' „Da hinein! Spring, sonst helfe ich nach!“
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Ihr blieb nichts anderes übrig, als zwischen das faulige Stroh zu klettern und sich hinzusetzen. „Paßt gut auf sie auf, bindet sie außerdem noch an den Pfosten dort unten“, schärfte Khai Wang den Männern ein und übergab dem Kapitän die Schriftrolle. „Sie ist schlimmer als eine Wildkatze und nutzt jede Gelegenheit zur Flucht. Hier ist euer Wegegeld. Wenn ihr sie nicht nach Shanghai bringt und dort abliefert, werden eure Köpfe bei mir im Mast hängen, bis der Wind sie trocknet. Ihr werdet Zeuge weiter Reisen sein!“ „Wir werden sie nach Shanghai bringen, hoher Herr“, versprach der Kapitän mit einer tiefen Verbeugung. „Und wir werden sie auch anketten, am besten gleich.“ Das geschah. Der Matrose stieg hinunter, schlang einen Strick um Siri-Tongs Hals und knotete ihn hinter dem Pfosten zusammen. Nachdem er noch einmal ihre Fesseln überprüft hatte, nickte er zufrieden vor sich hin. Dann warf er das restliche Reisstroh hinunter, bis sie nicht mehr zu sehen war. „Setzt das Segel!“ befahl Khai Wang. „Und vergeßt nicht, sie bei Nacht an der bewußten Stelle abzuliefern.“ Das mit Bambusbahnen verstärkte Segel wurde hochgezogen. Wu bückte sich und löste die Leinen, die er auf die Dschunke warf. Dann drückten zwei Matrosen die Dschunke mit langen Haken von dem Holzsteg ab, sie wendete schwerfällig und nahm Fahrt auf. „Schade, daß ich nicht dabei sein kann“, sagte der Pirat. „Aber wir haben nicht so viel Zeit. Auf uns wartet ein großer Empfang, der Chan persönlich wird uns einladen, wenn wir die Mumie bringen. Hast du inzwischen für die Verbreitung der Nachricht gesorgt?“ „Es hat sich herumgesprochen, und es wird wie ein Lauffeuer auch die nördlichen Provinzen durcheilen, hoher Herr! Man wird auf uns warten!“ Khai Wang sonnte sich schon im Vorgefühl auf seinen großartigen Erfolg. Er würde der Held des Tages sein und eine
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feierliche Zeremonie einleiten, von der das ganze Land noch lange sprechen würde. Zusammen kehrten sie an Bord zurück. 9. Im Morgengrauen bemerkte die Wache auf „Eiliger Drache über den Wassern-, daß sich von allen Seiten Schiffe näherten. Niemand wußte, woher sie so plötzlich aufgetaucht waren, aber jetzt waren sie da und legten sich auf die Lauer. Der Boston-Mann zählte zwei Kriegsdschunken, die stark armiert waren, sowie etliche besegelbare Flöße und kleinere Boote mit Soldaten. Ein großer Teil von ihnen war mit Armbrüsten ausgerüstet, jenen Waffen, deren eiserne Bolzen absolut tödlich wirkten, wenn sie trafen. Auch der Wikinger, der in dieser Nacht keine Schlaf gefunden hatte, sah den Aufmarsch und kniff die Augen zusammen. „Das gilt uns“, sagte er, „und nicht den lausigen Piraten. Diese gelben Burschen haben etwas vor.“ Die Dschunken warfen Anker, nur die besegelbaren großen Flöße trieben weiter, kreuzten dann gegen den Wind und näherten sich dem schwarzen Segler wieder. Thorfin wußte, daß er sich mit den Kriegsdschunken auf gar keinen Fall anlegen dürfte, so sehr es ihn auch in den mächtigen Fäusten juckte, den unverschämten Kerlen eins aufzubrennen. Aber der Nordmann beherrschte sich. In ihm tobte immer noch ein heilloser Zorn, und die Wut nagte, fraß und bohrte in ihm, daß sie sieh wie blutige Anfänger hatten überlisten lassen, durch „kleine Lichter, die unter Wasser wanderten“. Darüber kam er einfach nicht hinweg. Er überwand eine solche Schlappe nicht so schnell. Auch jetzt war alles völlig ungewiß. Niemand wußte, wohin man die Rote Korsarin entführt hatte, ob sie sich auf dem Drachenschiff oder dem anderen Piratensegler befand, ob sie noch lebte
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oder schon tot war. Es war eine verfahrene und schier ausweglose Situation, das herauszufinden, denn an Bord gab es keinen, der die chinesische Sprache beherrschte, außer Thorfin selbst, der zwei oder drei Sätze kannte. Zum anderen würde ihnen niemand eine Auskunft geben, ihm selbst, dem Wikinger, schon gar nicht. Er wurde nur angestarrt, begafft und bestaunt, was hauptsächlich an seiner Kleidung lag. Aber er ließ sich lieber angaffen und bestaunen, als daß er seine Gewohnheiten abgelegt hätte. Er behielt seinen Helm auf und scherte sich den Teufel darum, ob man hier Felle trug oder nicht. Er trug jedenfalls welche und würde immer welche tragen, mochten die Schlitzaugen von ihm denken, was sie wollten. Juan und Bill the Deadhead, erschienen jetzt ebenfalls auf dem Achterdeck zur Lagebesprechung. Dort lehnten sie am Schanzkleid, starrten düster über die See und versuchten auch, in die weit vorn liegende Bucht einzublicken, doch das gelang ihnen nicht, sie war schlecht einsehbar. „Wer hat heute nacht Wache gehabt?“ fragte der Wikinger und spuckte über Bord in Richtung eines Floßes, das ziemlich nahe an „Eiliger Drache“ herangesegelt war. „Ich habe Eike und Arne eingeteilt“, sagte der Boston-Mann, „und danach Mike und Tammy. Die andere Einteilung hat Juan vorgenommen.“ „Wen hast du an Deck geschickt?“ fragte der Wikinger. „Diego Valeras und Barry Winston, das war alles.“ „Hol sie alle her!“ Als die Männer erschienen, sah der Wikinger sie an. Sein Gesicht war umwölkt, er fühlte sich müde und unausgeruht, und das verbesserte seine Laune keineswegs. „Ist euch etwas aufgefallen?“ fragte er, „ist eins von den beiden Schiffen ausgelaufen?“ Er wußte, daß seine Frage eigentlich überflüssig war, denn wäre das, der Fall
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gewesen, hätte man ihn sofort an Deck gerufen. Außerdem war er selbst alle halbe Stunde oben erschienen und hatte in die Runde geblickt. Aber man konnte ja nie wissen, vielleicht fiel dem einen oder anderen Kerl doch noch etwas ein. Auf Mißjöh Buveur hatten sie als Wache ohnehin verzichtet, denn der sah meist Mäuse oder Ratten über Deck flitzen, wo es keine gab, weil er besoffen war. „Kein Schiff ist losgesegelt“, sagte Eike, auch ein Wikinger, und ebenfalls die anderen verneinten das ganz entschieden. Valeras und Winston schüttelten erst den Kopf, doch besann sich Winston plötzlich. „Eine vergammelte Gemüsedschunke ist an der Küste entlanggesegelt, als es gerade dämmerte“, sagte er. „Die können wir vergessen“, meinte Thorfin, „diese stinkenden Kutschen segeln den ganzen Tag vor unserer Nase entlang, von denen gibt es mehr als Chinesen. Also nichts“, schloß er ärgerlich. Natürlich konnte er nicht wissen, daß sich genau auf dieser vergammelten Dschunke Siri-Tong befunden hatte, die jetzt auf dem Weg nach Shanghai war. Auf diese Idee wäre keiner verfallen. Der Boston-Mann stieß Thorfin an. „Die drüben lassen ein Boot zu Wasser, Nordmann. Sieht so aus, als wäre da einer von diesen Würdenträgern drin!“ „Wenn die glauben, bei uns etwas abstauben zu können, dann werden sie mich von meiner üblen Seite kennenlernen!“ schrie der Wikinger wutentbrannt. „Die gehen mir auf die Nerven, diese scheinheiligen Würdenträger.“ In dem Boot, das jetzt auf dem Wasser tanzte, saßen und standen noch mehrere Männer. Zwei Soldaten waren dabei, dann ein Mann, der ein kostbares Seidengewand trug und ein nichtssagender kleiner Chinese mit einem zerrissenen Hemd und ausgefransten Hosen, die ihm bis an die Waden reichten. Dicht vor der Bordwand von „Eiliger Drache“ wurde das kleine Segel eingeholt. Die beiden Soldaten hielten das tanzende Boot fest.
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Thorfin Njal unternahm nichts, um die Jakobsleiter abzufieren. Breit, wuchtig und von Zorn erfüllt stand er da und blickte in das Boot, aus dem der Würdenträger ungeduldig nach oben sah. Auch der begaffte den Nordmann, starrte auf die Felle, den Helm und wunderte sich über die mächtige Figur, die 'fast phlegmatisch am Schanzkleid lehnte. Der kleine Kerl in dem zerfetzten Hemd rief hinauf: „Der hohe Herr möchte an Bord!“ Das war Portugiesisch in sehr schlechtem Slang, aber Diego Valeras und Pedro Ortiz verstanden ihn und übersetzten es dem Wikinger. „Fiert die Leiter ab“, sagte der Wikinger. Etwas Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht konnte man hei dieser Gelegenheit die Piratenbrut da drüben in die Pfanne hauen und so etwas über den Verbleib der Korsarin erfahren. Der Würdenträger kletterte umständlich an Bord. Zwei Soldaten schoben seinen dicken Hintern nach oben, bis er schnaufend und rotgesichtig an Deck stand und den Wikinger schweigend musterte. „Frage, was diese schlitzäugige Seegurke will!“ fuhr Thorfin den Portugiesen Ortiz an, der leicht zusammenzuckte. Der Würdenträger musterte das Schiff, seine Augen waren überall, vielleicht kam es ihm bekannt vor, dann wandte er sich an den Kerl im zerrissenen Hemd und sprach in hohem singenden Tonfall auf ihn ein. Er sprach immer schneller und schien erregt zu sein. Der Dolmetscher, der die Sprache nur sehr schlecht beherrschte, übersetzte, und dabei schnatterte er ebenfalls so schnell, daß Ortiz alle Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Hoher Herr sagt, ihr schnell wegsegeln von Küste, ihr nicht dürfen hier liegen bleiben. Ganz schnell weg!“ „Wir liegen hier gut“, sagte Thorfin. „Warum?“ Fragen gingen hin und her, und der Dolmetscher wiederholte die Aufforderung mit denselben Worten, ohne auf die Frage näher einzugehen.
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„Leck mich am Arsch!“ brüllte der Wikinger. „Dort drüben liegen Piraten, man hat eine Frau von diesem Schiff entführt, und deshalb bleiben wir hier so lange liegen, bis wir die Halunken zu fassen kriegen. Sag das dem zerrissenen Hemd, Ortiz!“ Ortiz übersetzte wieder, wobei er höflicherweise die Aufforderung des Wikingers ausließ. Der Würdenträger wäre ganz sicher nicht darüber erfreut gewesen. „Wenn nicht weg von Küste, dann Soldaten behandeln euch wie Piraten. Das bedeutet, Arbeit zehn Jahre an Großer Mauer oder Kopf ab mit Schwert! Schnell segeln weg!“ Fast ängstlich hatte der Dolmetscher das hervorgestoßen und dabei seine langen Zähne gebleckt, daß er aussah wie eine kleine dünne Ratte, der man ein zerfetztes Hemd übergestreift hat. Thorfin Njal kriegte fast einen Tobsuchtsanfall, als er das hörte. Er stemmte die Arme in die Hüften und schrie den Zwerg voller Wut an, der sichtlich zusammenzuckte. „Ich habe gesagt, da drüben sind Piraten, du Rattenschwanz!“ brüllte er mit hochrotem Gesicht. „Schlagt erst mal denen die Köpfe ab. Ich will wissen, was aus der Frau geworden ist! Sag das endlich deinem verdammten dicken Seehund!“ Es half nichts. Die Gesichter verfinsterten sich immer mehr. Der Würdenträger gab mit der Hand ein Zeichen zu der Kriegsdschunke, die beiden Soldaten spannten ihre Waffen und legten auf Thorfin an, und der Dolmetscher verstand plötzlich kein Wort mehr. Thorfin besann sich und dämpfte seine Stimme. Eine ungeheure Wut erfüllte ihn, er war bis zum Bersten geladen und hätte den dürren Dolmetscher am liebsten an seinem dürren Hals gepackt und über Bord geschleudert. „Noch einmal von vorn“, sagte er mühsam beherrscht. Aber seinen finsteren Blick vermochte er nicht abzulegen. „Wir haben nichts getan, wir wollen nichts klauen, und wir sind auch keine Piraten. Wir suchen Hilfe. Sag ihm das, Ortiz, und erzähle von
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Siri-Tong, oder stecken diese Bastarde alle unter einer Decke? Das brauchst du ihm nicht zu sagen. Nimm dir Zeit!“ Ortiz wandte sich dem Dolmetscher zu. Diesmal sprach er ruhig und überlegt, legte immer wieder Pausen ein, damit der Bursche ihn ja auch begriff, und wartete dann auf eine Antwort. Die haute den Wikinger allerdings fast um, denn es war immer der gleiche stereotype Satz. „Schnell segeln weg, sonst alle Kopf ab oder Arbeit an Großer Mauer!“ „Was faselt der bloß immer von seiner großen Mauer! Was hat er über Siri-Tong gesagt, über die Piraten?“ „Nichts, er hat darauf nicht geantwortet!“ Ortiz ließ die Schultern hängen. Er sagte: „Ich glaube, der will nichts hören, aber anscheinend weiß er etwas, denn der andere Kerl schüttelt dauernd den Schädel, wenn er etwas sagt.“ Der Boston-Mann räusperte sich. „Auf der Kriegsdschunke werden Brandsätze in die Halterungen gesteckt, Nordmann. Man ladet Musketen und auch auf den Flößen sieht alles nach einem Angriff aus.“ Thorfin Njal sah es jetzt ebenfalls. Auf den Flößen, Dschunken und kleineren Booten herrschte große Emsigkeit. Brandsätze wurden in die Gestelle geschoben, Soldaten mit glimmenden Lunten standen bereit. Es sah so aus, als würde gleich ein großer Feuerregen auf „Eiliger Drache“ niederprasseln. Der Würdenträger drehte sich um. Für ihn war das Thema offenbar erledigt. Ziemlich eilig stieg er über das Schanzkleid und kletterte ins Boot. Von dort aus rief er dem Dolmetscher etwas zu. „Schnell segeln weg“, sagte der noch einmal winselnd, ehe er es ebenfalls eilig hatte, ins Boot zu gelangen. Die Soldaten folgten. Ihre Gesichter waren hart und die Augen zusammengekniffen. Der eine zischte etwas zu Thorfin, der grimmig mit dem behelmten Schädel nickte.
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„Du mich auch, aber gleich mehrmals!“ brüllte der Wikinger, der den Sinn der Worte ohnehin nicht begriff. Aber er wußte, daß es jetzt ernst wurde, und es ihnen an den Kragen ging, wenn sie nicht die Flagge strichen. Mit ihren Kanonen konnten sie nichts ausrichten. „Hievt den Anker!“ befahl er. „Sonst sind wir in ganz kurzer Zeit nur ein brennender Trümmerhaufen, und damit ist der Roten Korsarin auch nicht gedient. Hopp, beeilt euch!“ Diesmal rannte fast die ganze Crew nach vorn, als das Boot mit den Chinesen ablegte. „He, die anderen setzen Segel!“ schrie Thorfin. Besorgt schielte er aus den Augenwinkeln zu den Dschunken. Er sah überall in kalte, abweisende Gesichter. Ja, sie würden feuern, nichts hielt sie davon ab, und „Eiliger Drache“ würde einen prächtigen Brander abgeben. Da mußte die Vernunft siegen, dachte der Wikinger, denn wenn sie kein Schiff mehr hatten, waren sie total verloren. Dann konnten sie auch dem lausigen Piraten nicht mehr folgen. Innerlich aber wurmte es ihn doch, daß sie im Reich des Großen Chan eine Niederlage nach der anderen einstecken mußten, ohne etwas dagegen tun zu können. Erst hatte man sie in die Falle gelockt, dann die Mumie geraubt und das Schiff verwüstet. Jetzt hatten sie die Rote Korsarin entführt, und nun wurden sie hier gewaltsam verscheucht, weil die ganze Brut zusammenhielt, Piraten und Würdenträger, Dolmetscher und Seeleute. Der Anker kam auf, Thorfin stellte sich an den Kolderstock und legte ihn hart nach Backbord. Die schwarzen Segel füllten sich mit Wind und wurden prall. „Eiliger Drache“ legte die Nase herum. Schwerfällig scherte das Schiff herum. „Hundesöhne, verdammte, schlitzäugige Lausebande“, fluchte der Wikinger, und der Stör nickte beipflichtend. „Schlitzäugige Lausebande“, wiederholte er, weil er es liebte, immer Thorfins letzten Satz nachzuquatschen.
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Er kriegte die gute Laune des Wikingers auch gleich zu spüren, der seine Wut an irgendetwas auslassen mußte. Am liebsten hätte er den Kriegsdschunken sämtliche Kugeln nachgeschickt, die sie an Bord hatten, und weil das nicht möglich war, trat er dem verblüfften Stör mit aller Kraft in den Hintern, daß der einen wilden Schrei ausstieß, über das Deck schlitterte, den Niedergang hinabsauste und fluchend auf die Planken segelte. Mit langem Gesicht erhob er sich und brummte etwas vor sich hin. Die Chinesen blickten ihnen nach, als sie aufs Meer hinaussegelten. Aber es löste sich kein Brandsatz, nichts geschah. „In Sichtweite der Küste bleiben wir liegen“, sagte Thorfin zu dem BostonMann, „damit uns die Kerle nicht durch die Lappen gehen. Wir werden kreuzen und die verdammte Küste Tag und Nacht im Auge behalten, und sobald sich einer dieser Kerle sehen läßt, werden wir ihm das Fell gerben.“ „Irgendwann einmal wird ja auch der Seewolf hier vorbeisegeln“, sagte der Boston-Mann. „Wenn der hier ist, lassen wir die Kerle tanzen, dann können wir sie von zwei Seiten in die Zange nehmen, und verdammt, so wahr ich Thorfin Njal heiße, die ganze Küste wird in Flammen aufgehen, ich gebe nicht eher Ruhe, bis die Korsarin wieder an Bord ist.“ Die Kriegsdschunken folgten ihnen ein Stück, dann drehten zuerst die Flöße ab, etwas später die kleineren Boote und schließlich wechselten auch die großen Dschunken den Kurs, als sie sahen, daß das schwarze Schiff in die Weite des Meeres hinaussegelte. Erst als die Küste nur noch als ganz feiner Strich zu sehen war, ließ der Wikinger Segel wegnehmen, und begann zu kreuzen. Die Männer hatten jetzt nur noch eine Aufgabe. Sie alle waren pausenlos auf Wache und suchten die ferne Küste ab, denn irgendwann mußten die Piraten ja einmal auslaufen, und auf diese Gelegenheit wartete Thorfin Njal nur.
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Dann würden ihn auch zwanzig Kriegsdschunken nicht mehr davon abhalten, hier die Hölle zu entfesseln.
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Aber der ganze Tag verging und nichts geschah. Allmählich wurde der Wikinger immer nervöser.
ENDE