Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 583 Zone-X
Die Fünfte Kolonne der Molaaten von Hans Kneifel Der Vorstoß zum Flekto-Y...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 583 Zone-X
Die Fünfte Kolonne der Molaaten von Hans Kneifel Der Vorstoß zum Flekto-Yn In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen einigermaßen genau bestimmt zu haben glaubt. Während man gegenwärtig auf der SOL eine hektische Suche nach den Unterlagen über eine Waffe gegen das Hypervakuum veranstaltet, mit dem Hidden-X sich vor ungebetenen Besuchern schützt, geht ein Aktionsplan Atlans seiner Vollendung entgegen. Der Plan sieht einen Vorstoß zum Flekto-Yn vor. Ausgeführt wird dieser
Plan durch DIE FÜNFTE KOLONNE DER MOLAATEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide bringt die Fünfte Kolonne zum Einsatz. Sanny - Anführerin der Fünften Kolonne der Molaaten. Oserfan - Ein Gefangener erhält die Freiheit. Isydor und Cerbelin - Zwei Robotmolaaten. Cryss'Narm - Ein Krymoraner.
1. Erster Tag Zwölfter Oktober An Bord der SOL Breckcrown Hayes streckte seine langen, muskulösen Beine unter dem niedrigen Tisch aus. Langsam hob er den Becher, nahm einen tiefen Schluck und blickte dem Arkoniden in die Augen. »Dich läßt dieser Dunkelplanet Krymoran nicht mehr los, wie?« fragte er. »Immerhin ist Krymoran eine Station auf der Suche nach unserem Gegner. Jeder von uns weiß, daß die Endphase unserer Auseinandersetzungen mit Hidden-X bevorsteht.« »Du sagst das in einer Weise, als würde der letzte Kampf morgen früh ausbrechen«, knurrte Breckcrown. »Das ganz sicher nicht. Du weißt, auf welche Art von Auseinandersetzung unser Gegner spezialisiert ist.« Sie wußten es – alle! Hidden-X war heimtückisch und kämpfte nicht selbst. Es ließ andere für sich die tödlichen Auseinandersetzungen führen. »Und auch der Plan meiner Friedenszellen« gab Atlan halblaut zu, »erfüllt die Erwartungen nicht, die ich in ihn gesetzt habe. Denke an die Roxharen.« »Ich denke eher an den verschollenen Oserfan«, sagte Hayes knapp.
»Die Vorbereitungen laufen, nicht wahr?« »Ich denke auch an die Molaaten auf Krymoran«, setzte Atlan hinzu. »Wir werden auch diesmal eine Lösung finden.« Zusammen mit Hayes und den maßgeblichen Solanern, unterstützt von fast jedem an Bord, waren unterschiedliche Maßnahmen durchgespielt und schließlich realisiert worden. Trotz aller Fortschritte blieb Atlan ungeduldig und unzufrieden. Es ging nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Trotzdem blieben sie alle voller Entschlossenheit. Der High Sideryt stand auf und lehnte sich an das Schott. Sie befanden sich in Atlans eigenem Wohnraum. »Einen Moment«, sagte Hayes, berührte eine Kontaktplatte, und ein Bildschirm flammte auf. Die Ortungsabteilung meldete sich. »Hat sich Wajsto Kölsch inzwischen gemeldet? Haben wir irgendeine Nachricht von der HAUDEGEN?« fragte Hayes. »Nichts, High Sideryt«, lautete die Antwort. »Wir erwarten auch keine Meldung. Eine Meldung würde bedeuten, daß Kölsch auf dem Flug zu den Chailiden in Schwierigkeiten geraten ist.« »Alles klar«, brummte Hayes und schaltete ab. »Sehen wir also nach, was die kleinen Molaaten unternehmen«, sagte der Arkonide. »Das ist dein Job, Atlan.« »So sehe ich das auch. Kümmerst du dich um die beiden verschwundenen Buhrlos?« »Ja. Ich habe schon alles unternommen.« Sie schüttelten sich kurz die Hände. Atlan lehnte sich, nachdem Breckcrown den Raum verlassen hatte, mit geschlossenen Augen zurück und verschränkte die Arme im Nacken. Die Chailiden sollten dazu gewonnen werden, als »geistiges Potential« gegen den schmerzenden Mentaldruck zu dienen, der von Hidden-X kam und einen Vorstoß auf breiter Front unmöglich machte. Bisher konnten nur Mentalstabilisierte sich in die
Auseinandersetzung wagen – und das bedeutete, daß die Schlagkraft der notwendigerweise kleinen Gruppen zu gering war. Nach einigen Minuten löste sich der Arkonide aus seiner Bewegungslosigkeit und trat an den Terminal, der ihn mit SENECA verband. Atlan identifizierte sich, als das charakteristische Zeichen auf dem Schirmbild aufleuchtete, und fragte: »Du weißt von der Suche nach der sogenannten Waffe gegen das Hypervakuum.« »Ich weiß«, erwiderte SENECA sachlich, »daß Sanny und unzählige andere Kommandos praktisch das ganze Schiff durchsuchen.« »Mit Erfolg?« »Bis jetzt haben die vielen Kommandos alles Denkbare gefunden. Aber ich habe nicht beobachten können, daß Unterlagen oder einschlägige Pläne aufgetaucht sind. Ich melde mich sofort in SOLCity, wenn ich etwas feststelle.« »Einverstanden.« Atlan streckte die Hand aus, um die Verbindung zu trennen. »Und auch die beiden verschwundenen Buhrlos sind nicht wieder aufgetaucht?« »Nein«, antwortete SENECA. »Sie melden sich nicht, und ich bin sicher, daß sie sich bewußt einer Entdeckung entziehen.« »Wir werden sie weitersuchen«, meinte Atlan nachdenklich. »Das hat etwas zu bedeuten. Mein Mißtrauen ist wach, SENECA.« »Verständlich. Jedenfalls haben Morszek und Bessborg die SOL nicht verlassen«, versicherte die Biopositronik und trennte die Verbindung. Anschließend schaltete sich Atlan in das Interkomnetz ein. Eine grell ausgeleuchtete Hangarschleuse erschien auf dem Bildschirm. Atlan sah einige Sekunden lang der Betriebsamkeit zu, die rund um die Space-Jet herrschte. Bordmechaniker und Spezialrobots testeten die Systeme und machten den Diskus
startfertig. »Atlan!« meldete sich ein Mechaniker. »Willst du wissen, wie weit wir sind?« »So ist es. Wie sieht es mit der PARTISAN aus?« »Einwandfrei. Die Jet ist in einem hervorragenden Zustand. Fliegst du selbst?« Atlan nickte. »Ja. Wir alle werden wieder mit dem Mentaldruck zu kämpfen haben. Allein schon aus diesem Grund muß das Vehikel tadellos in Ordnung sein. Klar?« »Selbstverständlich. Irgendwelche Sonderwünsche? Gepolsterte Pilotensessel oder ein besonderes Musikprogramm für den Linearflug?« Atlan lachte schallend und erklärte mit plötzlicher Fröhlichkeit: »Laßt euch etwas einfallen. Mir ist fast alles recht.« »Machen wir, Atlan.« »Wir haben vor, in rund vierundzwanzig Stunden zu starten. Uns erwartet ein volles Programm auf Krymoran. Falls ihr etwas braucht, sagt es Breck. Der High Sideryt weiß, was davon für die SOL abhängt.« »Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte der Mechaniker, winkte und schaltete den Bildschirm ab. Atlan als Chef der Fünften Kolonne; das war ein Thema, das ein wenig Aufregung in das Bordleben brachte.
* Unruhe erfüllte Kyrm-Shartt oder, wie die Stadt auch genannt wurde, den Ort der gebrochenen Steine. Noch nie hatte das Volk, dem Harre'Arft angehörte, innerhalb so kurzer Zeit so viele Verwundete, so viele Tote zu beklagen gehabt. Viele Helligkeitswechsel, mehr als zehnmal zehn, waren seit dieser
unglückseligen Stunde vergangen. Harre'Arfts Überlegungen hatten sich seit dem Erlebnis geschärft. Jetzt würde er diese Überlegungen öffentlich niederlegen, also an den Fels schreiben.
* Harre'Arft biß das Ende des Fyll-Stengels ab und fing zu schreiben an. »Jeder, der hier stehenbleibt, soll lesen, was beschlossen wurde. Viel Leid kam über Kyrm-Shartt und, wie wir meinen, über andere Städte unserer Welt. Selbst die Ältesten erinnern sich nicht, daß vom Auftauchen einer Handvoll Fremder jemals solch chaotische Folgen ausgegangen sind. Wenn wir alle Gerüchte in richtige Zusammenhänge bringen, dann geschah dies: – Eine Helligkeitsperiode begann, und ein riesiges schwebendes Ding erschien. Die Besucher stiegen auf die Außenfläche unserer Welt hinaus und gingen umher, von unseren Jägern beobachtet. Sie sprachen durch seltsame Geräte mit den vielen kleinen Wesen mit den Pelzen in der Farbe jungen Laubes. Auch vermochten sie, mit jenen großen, schlanken Ausgesetzten zu sprechen, die abseits der Lager hausten und von den Kleinen unterstützt wurden. Ganz plötzlich schlug eine unbekannte Macht zu. Sie überzog die Oberfläche und sogar Teile der Kammern, Säle und Korridore zumindest unserer Stadt mit dem giftigen Nebel einer Verwirrung des Verstandes. Wahnsinn brach offen aus, Haß und die Sucht, andere zu töten. Wir wurden gezwungen, gegen die Fremden vorzugehen. Wir erkannten – viel zu spät! – daß wir manipuliert wurden.« Harre'Arft hörte zu schreiben auf. Der Fyll-Wurzelstrunk war trocken geworden. Er warf ihn weg, hob einen neuen auf und ordnete seine Überlegungen. Was wußte er? Welches Rätsel verbarg jene grausame Mächtigkeit,
von der nur Haß und Tod ausgesandt wurden, vor den Krymoranern? Und wohin waren die Fremden verschwunden? Kamen sie wieder? Harre'Arft schrieb weiter: »Es ist sicher, daß wir nur gewinnen können, wenn wir mit den Fremden sprechen können. Oder mit denen, die ›Molaaten‹ genannt werden. Und vielleicht hat es auch einen Sinn, mit den Rebellen Fragen zu klären, denn sie haben sicher eine andere Sicht aller der Probleme, die uns bedrängen. Es muß sich vieles ändern. Wir müssen jene Macht kennenlernen, die uns manipuliert. Und eines Tages müssen wir sie bekämpfen. Aber wo finden wir jenen Mächtigen, von dem unser Leben abhängt?«
* Selbst Bjo Breiskoll, der schon viele abenteuerliche Versuche miterlebt hatte, schüttelte halb anerkennend, halb verblüfft den Kopf. »Erstaunlich«, murmelte er leise. »Hübsch, dieser Cerbelin, nicht wahr?« fragte Sanny rhetorisch. »Auch Isydor wird, scheint mir, ein wahres Kunstwerk.« Auf den Montagetischen lagen bewegungslos zwei seltsame Mischwesen. Sie bestanden zu zwei Dritteln, jedenfalls was ihre Außenhaut betraf, aus einem kurzhaarigen, weichen Pelz in demselben sanften Grünton, wie er auch Sannys Pelz kennzeichnete. Der Kopf war klein und rund und nur zum Teil mit bronzefarbenem Fell überzogen. Statt der kreisförmigen Pupillen befanden sich hochwertige Linsenkombinationen in den Außenhöhlen. Auch einige Teile des Körpers waren weit geöffnet und ließen das technische Zubehör eines Robots erkennen. »Sie werden beide von echten Molaaten – wenigstens optisch – mit
Sicherheit nicht zu unterscheiden sein«, kicherte Sanny. »Immerhin haben sie mich als Modell genommen.« Sie zeigte auf die Techniker und dann auf das Schott, das diesen Raum mit einem der Fabriksektoren verband. »Hoffentlich ist euer Dimensionstransmitter derselben Ansicht.« »Wir sind sicher, daß die Kennung des Transmitters auf einfacher optischer Basis funktioniert. Entweder arbeitet er mit Molaaten, oder er arbeitet nicht, weil alles Nichtmolaatische ihn sperrt. Entsprechende Versuche haben stattgefunden.« Bjo winkte ab und bewegte sich in seiner eigentümlichen Geschmeidigkeit rund um den kompliziert ausgestatteten Werkbank-Montagetisch herum. »Entschuldige«, wandte sich Bjo wieder an Sanny und zwinkerte. »Aber mir scheinen die Namen keineswegs typisch molaatisch zu sein. Besonders Isydor …« Diesmal winkte sie nachlässig ab. »Dient zur genauen Unterscheidung.« Eine der Maschinen richtete sich halb auf, deutete mit einem der unfertigen Stahlplastik-Pelzarme auf Breiskoll und sagte mit haargenau der Stimme, die Bjo von Sanny kannte: »Ich bin Teil einer Relaiskette. Ich würde mich freuen, wenn du auch Mitglied der Fünften Kolonne wärest.« Bjo grinste, zwinkerte mit seinen schräggestellten Augen und versicherte: »Ihr habt gewonnen.« Die beiden Spezialroboter waren jeweils exakt achtundvierzig Zentimeter groß. Sie würden, wenn die weiche Verkleidung ganz geschlossen und befestigt war, zwei Molaaten bis aufs sprichwörtliche Haar gleichen. Cerbelin und Isydor enthielten zusätzlich zum normalen Bewegungsapparat, der Mikropositronik für die Steuerung und dem Sinnes- und Wahrnehmungsapparat einen ausklappbaren Kleintransmitter. Natürlich würde dieses Gerät, wenn es ausgefahren war, die perfekte Tarnung zerstören.
Die Hyperfunkanlage, der Impulsstrahler in einem Arm und der Paralyse-Schocker im anderen Handgelenk, waren weniger aufwendige Bestandteile der Konstruktion. Bjo wußte, wie Atlan diese beiden Robotmolaaten verstanden haben wollte. Sie sollten als taktische Reserve dienen, als Überraschung für potentielle Gegner und als Relaiskette. »Du bist der Chef der Kommandogruppe«, sagte Bjo. »Du mußt mit diesen Kunstartikeln zurechtkommen.« »Wir sind gebaut worden, um keine Schwierigkeiten zu machen«, erklärte mit Druxos Stimme der Robot Cerbelin. »Unlogisches Verhalten kann von uns nicht erwartet werden.« . »Offensichtlich stand für den Wortschatz Tristan Bessborg Modell«, sagte Breiskoll. »Hat er sich gemeldet?« »Weder er noch Hreila sind aufgetaucht«, antwortete Sanny. »Wann will Atlan losfliegen?« »In einem Tag.« »Es sind noch viele Einzelheiten des Aktionsplans zu besprechen«, äußerte sich die kleine Molaatin. »Das Risiko ist nicht klein.« »Das Risiko ist unberechenbar groß«, brummte Bjo. In den Gedanken der hier Versammelten spürte er nur Entschlossenheit und schieren Tatendurst, und Sanny strahlte den Drang nach Rache aus. »Hidden-X ist für die Zerstörung unserer Heimatwelten verantwortlich«, sagte Sanny. »Und auf Krymoran warten Tausende Molaaten auf unsere Hilfe. Niemand sonst kann ihnen helfen. Deswegen sind wir so begierig darauf, den Feind, der auch euer Feind ist, vernichtend zu schlagen.« »Ich kann's verstehen.« Bjo setzte sich auf einen Schaltschrank und sah zu, wie die Techniker nach einer Weile weiterarbeiteten.
*
Die Hochleistungsbatterie hatte als erstes ihre Funktion eingestellt. Eine viel zu lange Zeit war es dunkel gewesen. Dann brachten sie ihm kleine, schüsselartig ausgehöhlte Steine, in denen sich pflanzliches oder tierisches Öl befand. In der Flüssigkeit schwamm ein Docht, den sie an einer Fackel anzündeten. Die Flamme rußte erbärmlich, aber immerhin war seine Kammer beleuchtet, und er verlor seine Angst vor der Dunkelheit. Knirschend bewegte sich der Steinkoloß des Eingangs. »Nicht schon wieder Pilze und Grünzeug, über dem Feuer gegrillt!« stöhnte Oserfan auf. »Nein. Braten und Früchte.« »Das bedeutet, daß ihr gejagt habt. Wie sieht es draußen aus … oder vielmehr oben? Etwas Neues?« »Die Roxharen suchen überall nach Überlebenden oder Toten.« Der Translator arbeitete noch immer. Er hatte die Feinheiten der Sprache erfaßt, und es gab so gut wie nichts mehr, das nicht sinnentsprechend übersetzt wurde. »Du willst mir sagen, daß meine Freunde gekommen sind und mich abholen?« erkundigte sich Oserfan sarkastisch. Er hatte an dem kleinen grauen Farbstreifen im Nacken und an den beiden Narben an den Oberarmmuskeln seinen »Freund« Cryss'Narm erkannt. »Noch nicht«, erwiderte der Rebell ausweichend. »Wann?« »Wer weiß, Oserfan.« Inzwischen befanden sich eine Art Schreibpult, ein steinerner Würfel, der als Hocker und ein anderer, größerer, der als Tisch diente, in der Kammer. Oserfan hatte seinen Einsatzanzug ausgezogen, gesäubert und soweit überprüft, daß er ihn jederzeit anziehen konnte. Da die Kammer warm war, konnte er im gewohnten Lendenschurz – mit leeren Taschen! – die wenigen Schritte hin und her laufen. Der Molaate sah schweigend zu, wie
Cryss das Essen auf den Tisch stellte und sich bis zur Tür zurückzog. Dort ließ er sich auf alle vier Gliedmaßen nieder und betrachtete Oserfan, als sähe er ihn zum erstenmal. »Wir haben einen Kurier zur Nachbarstadt geschickt«, meinte er, während Oserfan sich über die Schenkel eines gebratenen Vogels hermachte. »Nach … Kyrm-Shartt?« »Ja.« »Was ist daran so wichtig für mich?« wollte der Molaate wissen. »Er wird den anderen Krymoranern sagen, was wir wissen. Er wird ihnen unsere neuen Erkenntnisse vortragen.« »Ich glaube, es sind meine Antworten auf deine endlosen Fragen.« »Das trifft zu.« Oserfan hatte, wie er glaubte, sämtliche Argumente gebraucht, die ihm hätten nützen können. Aber jedesmal hatte Cryss ihn auf später vertröstet. Inzwischen hatte sich Oserfan eine neue Taktik zurechtgelegt, die er noch heute anzuwenden gedachte. Langsam beendete er seinen Imbiß und knüllte die dünnen, hellgrünen Blätter mit den Abfällen zusammen. »Hat der Kurier auch den Begriff Hidden-X auswendig gelernt?« Cryss'Narms Stimme drückte Verblüffung oder Beleidigtsein aus. »Provt'Shok ist mein bester Mann. Er hat sogar beobachtet, wie das Raumschiff eine große Gruppe Molaaten und zumindest einen Roxharen an Bord genommen hat, bevor es senkrecht nach oben davonflog wie ein Stein aus meiner Feuerbüchse.« Davon hatte Cryss bisher nicht berichtet. Oserfan richtete sich auf und fragte überrascht und verärgert: »Warum erfahre ich erst heute davon?« »Weil es dich mehr geschmerzt hätte, wenn du erfahren hättest, daß dich deine Freunde aufgegeben haben.« »Daran ist etwas Wahres, zweifellos«, bekannte Oserfan. Er holte tief Luft, starrte in die riesigen Augen des Wesens vor ihm und sprach mit allem Nachdruck, dessen er fähig war.
»Hör zu. Ich bin dein Gefangener. Ich habe versucht, zu fliehen und bin niemals weiter als in den Vorraum mit den Beobachtungslöchern gekommen. Ich habe schätzungsweise fünfzehntausend Fragen beantwortet. Ich bin hier eingeschlossen. Entweder du läßt mich mit meinem Funkgerät – du weißt, welchen Apparat ich meine – ins Freie hinaus, damit ich mit den anderen Molaaten reden kann, und damit ich nach meinen Freunden im Raumschiff rufen kann. Oder du wendest das verkürzte Verfahren an. Das bedeutet, daß du mich mit deiner Feuerbüchse tötest. Ich habe es satt. Klar?« Er machte eine entsprechende Geste, setzte sich auf sein Lager und ignorierte den Rebellen. Cryss war von dem Ausbruch, der vom Translator auch in steigender Lautstärke wiedergegeben wurde, überrascht. Er richtete sich auf und entblößte seine blitzenden Nagezähne. Aus seinem Rachen kam ein scharfes Zischen. Dann drehte sich der Rebell herum, hantierte an dem Öffnungsmechanismus der Steinplatte und öffnete sie halb. Er sagte knapp: »Wir sehen weiter. Zumindest müssen wir warten, bis der Kurier zurückkommt.« Wütend knurrte Oserfan: »Ich rechne damit, daß die anderen ihn wegen seiner ketzerischen Reden totschlagen. Dann sterben auch deine Pläne. Und schließlich bin auch ich nutzlos geworden und kann sterben. Und mit mir stirbt die große Idee der kosmischen Verbrüderung, über die wir nächtelang diskutiert haben. Schöne Aussichten, Cryss. Du solltest gehen und mich allein lassen.« Cryss blieb regungslos stehen und schloß schließlich ohne ein weiteres Wort den Steinblock.
3.
Zweiter Tag Dreizehnter Oktober SOL: Hauptzentrale »Jenseitsmaterie«, sagte Lyta Kunduran gerade. »Ein Reflektor von rund sechzehntausend Kilometer Durchmesser. Ich hoffe, alle diese Einzelheiten werden nicht nur von deinem Team geklärt, Atlan, sondern auch hier bekannt.« Atlan schnippte mit den Fingern und deutete auf Cerbelin. Auf dem Brustteil der Einsatzkombination dieses Molaatenrobots prangte die Nummer 10 A. Das Briefing fand in der Zentrale der SOL statt, und fast alle Verantwortlichen waren hier versammelt. »Dafür bin ich verantwortlich«, erklärte Cerbelin. »Ich werde als bewegliche, zur Verteidigung fähige Relaisstation an der Oberfläche von Krymoran bleiben. Nach allem, was ich in meinen Erinnerungsspeichern habe, wird eine Datenübermittlung durch den Ortungsschutzschirm des Dunkelplaneten schwer, wenn nicht unmöglich sein. Ich gebe mein Bestes.« Breckcrown Hayes nickte. Offensichtlich überzeugte ihn das Verhalten der Maschine. Es war tatsächlich sehr schwierig, wirkliche Unterschiede zu lebenden Molaaten auf den ersten Blick zu erkennen. »Du bekommst also deine Informationen von Isydor beziehungsweise 10 B. Isydor bleibt bei der Hauptcrew?« wollte Breiskoll wissen. »So ist es gedacht. So wurde es mit Atlan, Sanny, Ajjar und meiner persönlichen Kontaktmolaatin Zonza abgesprochen«, erwiderte Isydor mit maschinellem Selbstbewußtsein. »Immerhin wird ein Phänomen, das als ›Mentaldruck‹ bezeichnet wird, auf unsere Gehirne keinen Einfluß haben.« »Zutreffend«, sagte Atlan und grinste. Er deutete auf sich und fuhr fort: »Auch der Pilot der Jet PARTISAN weiß, was er zu tun und wo er zu landen hat.«
»Ich wünsche uns allen jede Menge Erfolg«, knurrte Hayes wortkarg. »Startklar, Atlan?« »Fertig.« Die Informationen, die von dem unglücklichen Roxharen Fefer stammten, waren eine weitere Herausforderung. Ein Parabolspiegel aus reinem Nickel in dieser unglaublichen Größe, an dem Fefer mitgearbeitet hatte, dazu die Erwähnung der mitunter tödlichen Jenseitsmaterie, allein schon diese beiden Begriffe deuteten darauf hin, daß der Schritt oder Sprung ins Flekto-Yn die Lösung vieler Fragen bringen konnte. »Die Mentalstabilisierung wird halten? Auch unter Belastung?« fragte Bjo und wechselte einen langen Blick mit Atlan. »Bisher war die Behandlung bei allen erfolgreich«, sagte der Arkonide. »Warum soll sie gerade jetzt versagen? An den Komponenten hat sich nichts geändert.« Zehn Molaaten und zwei Robotmolaaten wollten den Einsatz allein wagen. Der Dimensionstransmitter nahm keine anderen Wesen auf. Natürlich wäre nicht nur Atlan gern bei dem Kommandounternehmen dabei gewesen. Aber es war sinnlos. »Ihr werdet in den Hangar gebracht«, sagte Atlan zu den Robotern 10 A und 10 B. »Ich bin in wenigen Minuten dort.« Aus den Speichern des HORTS waren sämtliche Daten und Berechnungen überspielt worden, die einen verzögerungsfreien und ungefährlichen Flug in den Mittelpunkt der Zone-X ermöglichten. Sämtliche Bahnen der Leuchtbojen waren ebenso bekannt wie die Positionen der entdeckten Dunkelplaneten. Die Roboter verließen die Zentrale. Atlan hob grüßend die Hand und nickte Breckcrown zu. »Ich bleibe mit euch in Verbindung, solange es möglich ist.« »Und wir benachrichtigen dich sofort, wenn wir die zwei Buhrlos gefunden haben«, versicherte der High Sideryt. »Geht in Ordnung.« Atlan ließ sich von Bjo Breiskoll zur Hangarschleuse bringen. Die
zehn Molaaten waren an Bord, die beiden Robots standen nebeneinander an der Wand der Pilotenkanzel. Sanny kauerte im Sessel des Astrogators und winkte Atlan zu. Der Arkonide setzte sich, befestigte die Gurte und kippte eine Reihe von Schaltern. »Space-Jet PARTISAN fertig zum Ausschleusen«, sagte er ins Mikrophon. »Schleusenkommando fertig. Achtung. Druckausgleich.« Die Jet schwebte langsam durch das hell erleuchtete Viereck der Schleuse hinaus in den seltsamen Weltraum. Atlan beschleunigte und nahm die Kursprogrammierung vor. Auf dem Ortungsschirm zeichnete sich die Konstellation der Dunkelplaneten und der Bojen ab, und die Jet pendelte schnell ihren Kurs nach der Datenflut ein, die aus dem Autopiloten kam. Ein neuer Vorstoß im Kampf gegen Hidden-X hatte begonnen.
* Hidden-X bemerkte auch dieses Vorgehen. Oder die Mentalstrahlung arbeitete unabhängig vom Willen und von den Befehlen des Feindes. Atlan hoffte, daß Hidden-X selbst nicht alles sah und entdeckte. Es gab genügend Beispiele dafür, daß der Gegner keineswegs stets allgegenwärtig war. »Wird der Druck nicht zu stark für euch?« fragte Atlan nach einiger Zeit. Er wandte sich hauptsächlich an Gynn, Susini, Vicavo, Razzu und Zonza, deren Konditionierung nur kurze Zeit zurücklag. »Es braucht viel Kraft, dieser Strahlung zu widerstehen«, erwiderte Ajjar halblaut. Sein Gesicht ließ die inneren Qualen nur undeutlich erkennen, aber durch das kurze Haar des Pelzes sickerten breite Schweißbahnen. »Schafft ihr es?« »Wir geben uns alle Mühe«, ächzte Gynn.
»Ich weiß, daß es hart ist«, murmelte Atlan. »Während des Linearsprungs läßt die Wirkung ein wenig nach, und auf Krymoran befinden wir uns offensichtlich in einem toten Winkel.« »Hoffentlich … behältst du recht«, stöhnte Pina. Auch Atlan fühlte die mentale Strahlung. In den Gehirnen wuchs mit jeder Lichtsekunde Abstand von der SOL der schmerzende Drang, die Mission abzubrechen und zurückzukehren. Der Wille, die mentale Strahlung zu brechen und ihrem Diktat zu widerstehen, war stark – jeder der Insassen der PARTISAN, abgesehen von den beiden Maschinen, hatte die Hilfe der medizinischtechnischen Einrichtungen in Anspruch genommen. Die Stabilisierung hielt. »Ich weiß, daß wir es überstehen«, sagte Atlan und kontrollierte die Funktionen der Jet. »Versucht, euch abzulenken.« Ein verborgenes Relais sprang an. Aus sämtlichen Lautsprechern der Steuerkanzel drang Musik. Ein stark rhythmisches Stück, laut und in vorzüglicher Wiedergabe, erfüllte plötzlich das Innere der Jet. Sofort wurden sie positiv abgelenkt und erfaßten, was passiert war. Die Musik, offensichtlich von SENECA bearbeitet, vermochte vorübergehend abzulenken und sämtliche Wirkungen der Mentalstrahlung zu dämpfen. Atlan schaffte es tatsächlich, breit zu grinsen und zu rufen: »Das waren die Raumschiffmechaniker. Sie haben versprochen, sich etwas einfallen zu lassen.« Die PARTISAN führte eine kurze Linearetappe durch und tauchte kurz vor dem Ziel wieder auf. Der Autopilot brachte die Ergebnisse der Ortung in Deckung mit den gespeicherten Daten, und in einer weiten, weichen Kurve jagte die Jet auf Krymoran zu. Es war ein Zufall, daß sich die grelle Leuchtboje in der unmittelbaren Nähe des Dunkelplaneten befand. Wieder zeigte sich der Ortungsschutzschirm nur dadurch, daß sich das Bojenlicht als schimmernder Kreis auf dem kugelförmigen Schirm brach. Atlan bremste die Jet ab, schlüpfte durch den Ortungsschutzschirm und befand sich über der dunklen Seite des
Planeten. Der mentale Druck ließ nach. Noch immer gaben die Lautsprecher Musik wieder, wenn auch inzwischen stark gedrosselt. Atlan wandte sich an Sanny. »Es wird ganz einfach sein, das Gelände der Schlucht schnell wiederzufinden.« »Wir haben ja die Karten und Photos aus dem HORT«, stimmte die Molaatin zu. »Ich habe mir die Landschaft einigermaßen gut eingeprägt.« »Ich auch«, knurrte der Arkonide. Mit seinem photographisch exakten Gedächtnis würde er nur geringe Schwierigkeiten haben, die Ebene, den Gebirgszug und die Schlucht wiederzufinden. Die Jet kippte und ging in einen äquatorialen Orbit. »Ich hoffe, wir erfahren etwas über Oserfans Schicksal«, meldete sich Drux und beobachtete auf den Schirmen, wie vor der Jet sich die Kunstsonne über den gekrümmten Horizont heraufschwang. »Ganz sicher nicht jetzt.« »Nein. Überhaupt, ich glaube nicht«, korrigierte Filbert, »daß er nicht mehr lebt.« »Hebt euch die Spekulationen bitte für später auf!« rief Ajjar und schob den Lautstärkeregler der Musikwiedergabe fast auf die Minimalstellung zurück. Unter der Jet zog die Landschaft vorbei, veränderte sich unaufhörlich unter der Einwirkung von Licht und Schatten, und wieder schlugen die seltsamen Effekte dieser dahinrasenden Kunstsonne die Eindringlinge in den Bann. Die Jet flog über dem Äquator dahin, änderte dann, als sich das eintrocknende Meer zeigte, abermals die Richtung und steuerte auf die hintereinander gestaffelten Gebirgszüge zu. Atlan projizierte eines der mit Meßlinien versehenen Höhenphotos auf einen Kontrollschirm, verglich die gegenwärtige Abbildung der Ortung mit den Linien des Zielanflugs und brachte die Jet tiefer
hinunter. »In zwanzig Minuten sind wir an Ort und Stelle.« »Was wirst du tun, nachdem du uns abgesetzt hast?« »Vermutlich direkt wieder zurück zur SOL fliegen«, antwortete der Arkonide. »Ihr könnt euch bereitmachen zum Ausstieg.« Sanny strich über ihren haarlosen Schädel und warf nach kurzer Überlegung ein: »Willst du etwa die Jet in der Schlucht vor dem Transmitter landen?« »Auf alle Fälle versuche ich es«, gab Atlan zurück. Der Diskus, inzwischen im vollen Licht des falschen Mittags, schwebte in einem weit auseinandergezogenen Zickzackkurs, ständig langsamer werdend und tiefer sinkend, auf das erkannte Ziel zu. Im Schlagschatten der höchsten Berggipfel lösten sich langgezogene Nebelschwaden und breite Bänke auf. Razzu stieß hervor: »Dort! Ich kann das Lager erkennen, in dem wir alle waren.« »Es ist in der Nähe der Schlucht, wie du weißt«, erwiderte Gynn. Atlan kippte die PARTISAN und ging in den Landeanflug über. Die Schmerzen und die unausgesprochenen Befehle der Mentalstrahlung wirkten längst nicht mehr so stark. »Kein Zweifel«, brummte der Arkonide und verglich immer wieder die beiden Darstellungen miteinander. Die nächste Kurve wurde enger. Unter der Jet tauchten die geröllübersäten Flanken der Schlucht auf. Atlan lenkte die PARTISAN einige hundert Meter über dem Einschnitt entlang auf die abschließende Felswand zu. Nichts rührte sich, es erfolgte keine Gegenwehr. Atlan hielt die Jet über der breitesten Stelle des Schluchteinschnittes an. Dann sank die PARTISAN senkrecht nach unten und fuhr die Landebeine aus. Nur wenige Meter vor der hervorragend getarnten Felswand kam sie zum Stehen. »Das war's«, sagte Atlan leise. »Das Glück braucht jetzt ihr.«
Die Molaaten und die Roboter lösten die Gurte und verließen nacheinander die Steuerkanzel. Sie hatten kein Gepäck mitgeschleppt; ihre gesamte Ausrüstung befand sich in den Einsatzanzügen. »Sanny?« sagte Atlan und winkte. Während sich die Bodenschleuse öffnete und der Ausstieg zischend nach unten fuhr, kam die kleine Molaatin heran und lehnte sich gegen das Pult vor Atlan. Mit einem harten klickenden Geräusch löste sich der Gurtverschluß des Arkoniden. »Du willst mir etwas Wichtiges sagen.« »Ja. Ich rechne damit, daß der Dimensionstransmitter den Roboter nicht befördert.« »Ich habe mir alles sorgfältig überlegt. Ich habe berechnet«, widersprach die Molaatin, »daß Isydor mitgenommen wird. Die Anlage arbeitet selektiv auf optischer Basis. Du weißt es ebenso gut wie ich.« »Ich werde warten, bis ihr dort verschwunden seid.« Atlan deutete auf die Felswand. Sanny schüttelte energisch den runden Kopf. »Nein. Wir müssen auf jeden Fall ausharren, bis eine neue Gruppe von Molaaten den BEFEHL hört und sich zum Abstrahlen bereit macht.« »Ich habe ein ungutes Gefühl«, bekannte der Arkonide. »Das ist unser Kampf, Freund Atlan. Rund fünfzigtausend Molaaten warten auf Krymoran auf ihre Rettung. Wir schaffen es, wenn wir auch nur die geringste Chance sehen.« »Meinst du, daß Chybrain helfen kann, oder helfen wird?« fragte Atlan so leise, daß es außer ihnen kein anderer hören konnte. Sanny starrte ihn voll anerkennender Bewunderung an und flüsterte zurück: »Weißt du, was ich träume? Oder hast du es dir ausgerechnet?« Der Arkonide schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Beides ist richtig.«
»Ich hoffe darauf, Atlan, aber ich rechne nicht damit. Auf alle Fälle bleibt Cerbelin hier zwischen den Felsen versteckt.« Atlan begleitete Sanny zur Schleuse. »Es bleibt zwischen uns?« wisperte Sanny. Atlan hielt ihre winzige Hand, während sie die ersten Stufen der Leiter hinunterturnte. »Ich werde es nicht laut bekanntgeben«, versicherte Atlan. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen und euch helfen.« »Du hast uns schon genug geholfen, mein großer, weißhaariger Freund. Du wirst uns wohl auch weiterhin unterstützen müssen. Aber das, was wir hier und jetzt versuchen, ist ein molaatisches Problem. Habe Vertrauen zu uns und unseren Fähigkeiten, Atlan.« Wieder lächelte Atlan und erwiderte in tiefer Nachdenklichkeit: »Hätte ich kein Vertrauen, wäre ich nicht hier. Euch allen viel Glück.« Im Schleusenraum drückte Atlan einige Kontaktplatten und wartete die Signale ab. Die Leiter zog sich in die Unterschale zurück, die Schleuse schloß sich. Er schwebte durch den Zentralschacht aufwärts, setzte sich in den Pilotensessel und ließ die Jet senkrecht aufsteigen, während sich die Landestützen zurückzogen. »Hoffentlich hat uns Hidden-X nicht gesehen«, murmelte er. Unter allen Figuren, die durch die Universen geistern, meldete sich der Logiksektor spöttisch, bist du sicherlich derjenige mit dem größten und am wenigsten berechtigten Optimismus! Die Jet wurde schneller, schraubte sich mit höchsten Beschleunigungswerten in den Himmel von Krymoran hinauf, durchbrach die Schlieren der Innenschale des Ortungsschutzschirms und entkam, ohne daß Hidden-X zugeschlagen hätte, in den freien Weltraum. Der Kurs zurück zur SOL war bereits programmiert.
* Zweiter Tag
Dunkelphase nach Sonnenuntergang Planet Krymoran Als Cryss'Narm wieder in Oserfans Kammer kam, folgten ihm drei seiner Rebellen. Einer von ihnen trug das Essen. Der andere richtete ein doppelläufiges Feuerrohr auf den Molaaten. Der dritte trug in einem Korb, der aus trockenen Ruten geflochten war, irgendwelche Teile oder Bruchstücke. Er stellte den Korb direkt vor Oserfan auf den hellpolierten Steinboden. »Ist dein leichtfüßiger Kurier zurückgekommen, ohne daß man ihn gesteinigt hat?« erkundigte sich der Molaate bissig. Oserfan hatte nicht das geringste Gefühl mehr für die Zeit, die zwischen jetzt und einem beliebigen Ereignis in der nahen Vergangenheit abgelaufen war. Er kippte den Korb, so daß er im zuckenden Licht den Inhalt sehen konnte. »Das läßt mich hoffen«, sagte er nach einigen Sekunden fassungslosen Schweigens. »Der Kurier kam zurück. Eine Abordnung aus Kyrm-Shartt will mit uns sprechen.« In dem Geflecht lagen Teile der technischen Ausrüstung Oserfans. Er hob nacheinander die Elemente des Funkgeräts hervor und hoffte, sie wieder richtig zusammensetzen zu können. Das Ersatzmagazin der Waffe, verschiedene Meßgeräte, Vibromesser und andere, weniger wichtige Gegenstände lagen darinnen. Er legte sie neben sich auf das Lager und setzte staunend und voller plötzlicher Hoffnung hinzu: »Bedeutet das etwa, daß ihr mich freilaßt?« »Ja. Aber nicht sofort.« »Wie kann ich das verstehen?« Oserfan blickte mißtrauisch zu dem Rebellen, der unverändert auf ihn mit dem riesigen Feuerrohr zielte. Cryss erwiderte nachdenklich: »Es ereignen sich an der Oberfläche wieder ungewöhnliche Dinge.
Unsere Jäger-Späher berichten, daß eine kleine Gruppe deiner Freunde abgesetzt wurde.« »Und … das Fluggerät?« fragte er aufgeregt. »Es hat sich entfernt. Aber es war nicht sehr groß.« »Was berichten deine Späher noch?« »Diejenigen, die in der Schlucht ausstiegen, sind verschwunden.« »Verschwunden? Wie?« »Die Späher können sie nicht mehr sehen.« Oserfan war mehr als überrascht. Trotzdem glaubte er nicht, daß seine Gefangenschaft zu Ende war. Cryss'Narm hatte zweifellos noch irgendeine unangenehme Überraschung vorbereitet. Bedächtig, um Zeit zu gewinnen, verstaute er seine Ausrüstungsgegenstände in den Taschen des Anzugs und testete sie vorher. Er sagte sich, daß er mit seiner verschwindend geringen Hoffnung wohl doch recht gehabt hatte. Die Solaner waren zurückgekommen. Mehr wußte er nicht; vielleicht gab es später die notwendigen Erklärungen. Eines war für ihn sicher: der Kampf gegen Hidden-X ging weiter. »Ich nehme an, daß ich den Abgeordneten der Städte einen Vortrag halten soll.« »So etwas Ähnliches habe ich vor«, sagte der Rebell. »Und – dieses Treffen wird außerhalb der Stollen und Säle stattfinden.« »Also im Freien.« »In einer Dunkelphase, ja, so haben wir alle gleiche Möglichkeiten.« Oserfan hatte alle denkbaren Modelle seiner Gefangenschaft, seiner Befreiung und seines Todes in Gedanken durchgespielt. Die Rebellen wollten mit seiner Hilfe ihre Artgenossen überzeugen, daß letzten Endes eine andere, neue Zeit für die Bewohner der unterplanetarischen Städte angebrochen sei. Oder daß es an der Zeit wäre, mehr Zeit des Lebens an die Oberfläche zu verlagern und dort mit den Fremden zu sprechen. Oserfan war es nicht gelungen festzustellen, wie riskant der Versuch von der Rebellengruppe unter
Cryss'Narm wirklich war. »Gleiche Möglichkeiten – zu welchem Zweck?« Die Antwort des Rebellen überraschte ihn abermals. »Ich bin sicher, daß unsere gesamte Welt von einem mächtigen Wesen in der Hand gehalten wird. Dieses Wesen – du nennst es Hidden-X – manipuliert uns. Es ist am Tod der Fremden und vieler von uns schuld. Du sollst ihnen berichten, was du weißt. Was du und deine Freunde tun, um Hidden-X zu bekämpfen. Alle sollen hören, daß Kampf möglich ist und zu einem Erfolg führt.« Oserfan nickte und entgegnete: »Ich tue es gern. Und anschließend darf ich meine Leute rufen und bin frei?« »So ähnlich ist es geplant.« Der Krymoraner senkte endlich seine schwere Feuerbüchse und ließ die hakenförmigen Hähne zurückschnappen. Oserfan griff nach dem Essen und steckte sich ein paar Brocken in den Mund. »Wann?« fragte er heiser. »In einem Helligkeitswechsel.« »Einverstanden.« Schweigend verließen die Rebellen seine Kammer.
* Für Sanny hatte die Szene nur noch wenig exotische Wirkung. Die Sonne raste über den Himmel. Ein warmer Wind bewegte die Blätter und Zweige der Gewächse, die zwischen den Geröllmassen wucherten und über den Rändern der Schlucht zu sehen waren. Die Schatten wanderten in großer Geschwindigkeit und veränderten das Aussehen der Felsen und der Verstecke. Die Einsatzanzüge der Molaaten waren schon an Bord der SOL in den vorherrschenden Farben der Felsen Krymorans hergestellt worden. Grüne und unterschiedlich braune und gelbe Linien und Flecken machten die »Fünfte Kolonne« tatsächlich fast unsichtbar. »Hier Ajjar. Wie lange müssen wir warten?« flüsterte die Stimme
des Molaaten aus sämtlichen Anzuglautsprechern. »Vermutlich so lange, bis der BEFEHL an eine Gruppe Molaaten ergeht«, wisperte Sanny zurück. »Warum hat der Dimensionstransmitter nicht auf uns reagiert?« fragte Filbert. »Keine Ahnung«, meldete sich Ajjar. »Wir haben es mehrmals versucht.« »Vielleicht kann ich es euch sagen«, versuchte Sanny eine Erklärung. »Ja, warum?« Es war Zonzas Stimme. Die junge Molaatin erinnerte sich während der ereignislosen Wartezeit ständig an die primitiven Lager und die qualvollen Umstände, unter denen sie und ihre Freunde gelitten hatten. »Weil zahlreiche Sensoren des Dimensionstransmitters offensichtlich erkannt haben, daß wir nicht dem BEFEHL unterworfen sind.« »Befriedigt mich nicht, deine Erklärung«, murmelte Gynn. »Du hast erzählt, daß sich die Portale vor dir geöffnet haben, weil sie einfach auf Molaaten programmiert waren.« »Das war vor knapp zwanzig Tagen«, sagte Sanny. »Inzwischen hat auch der Transmitter etwas gelernt.« »Jedenfalls läßt er uns nicht ohne weiteres ein«, erklärte Vicavo. »Überdies sind die Gruppen der Molaaten, die dem BEFEHL gehorchen, viel zahlreicher«, beschied Sanny. »Deswegen warten wir auch.« Mit wenigen Sprüngen konnten die lauernden Molaaten ihre Deckung verlassen und den Eingang zum Dimensionstransmitter erreichen. Diesmal meldete sich Susini und meinte: »Ich glaube, es wird länger dauern.« »Wie lange auch immer«, sagte Sanny hart, »wir warten. Wenn es dunkel wird, kann die Hälfte von uns schlafen. Notfalls wecken uns
Cerbelin und Isydor.« »Klar.« Es herrschte eine erstaunliche Ruhe. Hin und wieder knisterte es in den Nadelgewächsen. Einige Vögel kreisten über dem Einschnitt der Schlucht. Mehrmals glaubten die Molaaten die tiefschwarzen Körper der Krymoraner zu sehen, aber dies konnten auch Tiere oder Bewegungen der Pflanzen im Schatten sein. Die Angehörigen des Kommandos waren hervorragend ausgerüstet und proviantiert. Sie begannen sich zu langweilen; einige schliefen tatsächlich in kurzen Intervallen. Aber die Wachsamkeit ließ allgemein nicht nach. Die Molaaten lagen im Sand oder auf dicken Schichten von abgestorbenem Laub und hatten es nicht unbequem. Die Dunkelheit kam in der gewohnten Schnelligkeit. Nebel zogen auf und senkten sich in die Schlucht. Bald überzogen sich die Steine und die Blätter mit einer Schicht großer Tropfen, die abperlten und herunterliefen und im Boden versickerten. Ebensolche Wassertropfen kondensierten an den Enden der Blätter und erzeugten beim Herunterfallen monotone Geräusche. »Es ist angenehmer, hier und auf diese Art zu warten als in unseren nassen Siedlungen«, erinnerte sich Razzu. »Ich entsinne mich an unsere Gegenwehr, als hier überall Roxharen und Krymoraner waren und auf uns feuerten«, setzte Sanny hinzu und warf einen Blick in die Richtung des riesigen Felsrutsches, den Atlans gezielte Impulsstrahlen ausgelöst hatten. »Du solltest besser schlafen«, murmelte gähnend Ajjar. »Ich bin mit der Wache dran.« »Ich kann nicht schlafen. Bin viel zu aufgeregt.« Trotzdem schlief sie wenige Minuten später ein und bemerkte ebenso wenig wie die anderen, daß einige Krymoraner sie beobachteten. Langsam verging die Dunkelperiode. Die Helligkeit kam, und der kurze Tag auf Krymoran wiederholte
sich, abermals ereignislos. Etwa in der Mitte der folgenden Dunkelperiode hörten die Molaaten in ihren Funkempfängern die seltsamen Stimmen. Eine Sprache, die sie nicht verstanden. Aber die Stimme kam Sanny und Drux seltsam vertraut vor. Atemlos horchten sie und versuchten, etwas zu verstehen.
4. Die Finsternis wurde durch etwa zwei Dutzend jener Schalen voller Fett oder Öl unterbrochen, in denen dicke, brennende Dochte schwammen. Die Flammen waren fast so lang wie sein Unterarm und tanzten bei jedem Windhauch. An ihren Spitzen entstanden dunkelgraue Rauchfäden, die sich in der Dunkelheit über den phantastisch geformten Felsen des Auditoriums verloren. An die vierzig Krymoraner starrten Oserfan schweigend an. Oserfan fühlte sich auf wundersame Weise befreit und gelöst. Wind fuhr über sein Gesicht. Sein Einsatzanzug war offen; er genoß den Kontakt mit den ersten Nebelfetzen, die zwischen den mächtigen Bäumen ihre Finger nach der schweigenden Versammlung ausstreckten. Er wußte nicht, wo er sich befand. Den Eingang nach Kyrm-Shartt, oder wie diese Stadt auch heißen mochte, würde er niemals allein finden. »Stellt eure Fragen«, sagte er leise. Der Translator, der vor ihm auf einem Stein lag, arbeitete noch immer unermüdlich. Zweifellos waren seine Zuhörer Abordnungen verschiedener unterplanetarischer Siedlungen. Einige von ihnen waren staubbedeckt und sahen aus, als hätten sie einen langen Weg hinter sich. Sie alle starrten ihn aus großen Augen an, von denen die Schutzhäute nach oben geglitten waren. Die Flammen spiegelten sich in den nachtsichtigen Sinnesorganen.
»Warum nennt ihr das Wesen, das uns alle führt, ohne daß wir es merken, Hidden-X?« Der Translator übersetzte. Oserfan erklärte den Begriff. »Ich entnehme deiner Erzählung und dem, was der Kurier über die Unterhaltung zwischen dir und Cryss'Narm berichtete, daß ihr in einer riesigen Stadt aus Metall lebt.« Oserfan lachte kurz; eine treffende Definition der SOL aus der Sicht der Planetarier. Er entgegnete: »Ich bin es nicht, der euch dazu bringen will, an der Oberfläche zu leben – die ihr tatsächlich ›Außenwelt‹ nennt.« »Aber seine Freunde und er bewegen sich an der Oberfläche ebenso geschickt wie wir in den Kavernen«, rief Cryss, der seine Argumentation gefährdet sah. »Denkt nur an den Fremden, der euch entwischt ist.« »Wer ist euch davongerannt?« fragte Oserfan plötzlich alarmiert. Gab es noch einen anderen Gefangenen? »Ein Wesen, dreimal so groß wie du. Es hatte einen seltsamen Pelz und sah ganz anders aus …« Einige Minuten später wußte Oserfan, daß es sich nur um Hreila Morszek handeln konnte. Er fragte noch drängender: »Was habt ihr mit meiner Freundin gemacht?« »Wir nahmen kleine Proben des glatten Pelzes.« »Wozu?« »Wir sollten ein Präparat entwickeln, das in den Körper deines Freundes einsickert und bestimmte Reaktionen auslöst, sobald eine chemische Veränderung im Körper vor sich gegangen ist.« »Eine schädliche Reaktion!« »Nicht für uns. Vielleicht ist es ein Gift, das dich und deinesgleichen umbringt«, war die Antwort. »Ihr habt dies nicht aus freien Stücken getan.« Verwunderung breitete sich unter den Krymoranern aus. Sie begriffen, daß sie abermals manipuliert worden waren. Zwar betraf dieser Zwang auch diesmal nur eine einzelne Gruppe der
Planetarier, aber es war der gleiche Zwang gewesen, der wiederum eine andere Anzahl an die Oberfläche hinausgejagt und ihnen befohlen hatte, Fremde zu töten. »Nein.« »Ihr müßt aus diesem Zwischenfall deutlich sehen können, daß Hidden-X auch euren freien Willen einschränkt. Oder seid ihr etwa gewohnheitsmäßig Vergifter und Töter von fremden Besuchern?« fragte Oserfan provozierend. Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch die kleine Versammlung. »Viele von uns fragen sich, ob es nicht richtiger ist, mit den Fremden zu sprechen«, rief schließlich, ein Vertreter der Stadt. Es war keiner von Cryss' Jägern. Oserfan, der eben die Konsequenzen dessen durchdacht hatte, was mit Hreila geschehen war, schreckte auf. »Dann nehmt Bratenstücke, leckere Salate aus euren lichtscheuen Pflanzenzüchtungen und setzt ein fröhliches Lächeln auf …«, begann er. »Du willst uns lächerlich machen!« schrie ein Krymoraner. Oserfan rief, etwas lauter: »Keineswegs. Geht zu den Molaaten und gebt ihnen, was sie nicht haben. Sie geben euch sicherlich, was sie besitzen, nämlich alle ihre Fähigkeiten. Ich bin Molaate. Ich weiß, was sie können, und wie dankbar sie euch sein werden.« »Genau das will ich. Nichts anderes. Deswegen werden wir von euch Rebellen genannt«, schrie Cryss. Wieder ergriff Unruhe die Versammlung. Also Hreila, dachte Oserfan und dachte an ähnliche schmutzige Methoden von Hidden-X. Die Buhrlosfrau wurde von den Krymoranern, die wohl über viele Fähigkeiten verfügen, mit einem Langzeitgift infiziert. Und sie wurde wohl in die SOL gebracht. Sonst wäre dieser Plan unseres Gegners unbrauchbar geworden. »Wie bringe ich diese Nachricht zu Hayes und Atlan?« murmelte er im Selbstgespräch.
Ein Krymoraner stellte sich aufgeregt auf seine Hinterbeine und rief: »Ihr habt riesige Schiffe aus Stahl; ihr habt Waffen und kennt, was außerhalb unserer Welt ist. Ihr könnt gegen den Mächtigen kämpfen. Aber wir? Welche Möglichkeiten haben wir? Unsere Feuerrohre etwa?« »Eure Möglichkeiten sind tatsächlich gering«, erwiderte er. »Aber allein das Wissen, daß es Hidden-X gibt, wird seine Macht verringern.« »Bist du sicher?« Plötzlich mischte sich ein anderes Geräusch in die Diskussion. Oserfan reagierte zuerst nicht. Dann begriff er. Eine Stimme! Aus den Lautsprechern des Anzugempfängers. Molaatisch! Einwandfrei einige Worte in seiner Muttersprache! Er hob seine Hände, schaltete den Translator ab und zog eine Feuerschale näher heran. Er sah mit zitternden Fingern die Einstellungen und die Steckverbindungen des Funkgeräts nach, regulierte die Frequenz neu ein und schaltete auf maximale Sendekapazität. »Hier spricht Oserfan«, sagte er stockend. »Bitte! Meldet euch!« Er hörte erschreckte Atemzüge, einige wild durcheinander gesprochene Sätze, dann: »Still! Ruhe. Sanny hier. Habe ich richtig gehört? Oserfan?« »Ich bin hier. An der Oberfläche. Ich … lebe«, stotterte er. »Seid ihr tatsächlich da?« Er sagte sich, daß dies eine unendliche törichte Frage war, aber schon hörte er die Antwort und winkte Cryss'Narm und seine Rebellen zurück. Sie blieben verwirrt stehen und begriffen nicht, warum er derart aufgeregt war. Klar und deutlich kam der nächste Satz aus dem Lautsprecher. »Wir verstecken uns vor dem Dimensionstransmitter, Oserfan. Die Verständigung ist mehr als klar. Wir können nicht mehr weit voneinander entfernt sein.«
Er sprudelte die nächsten Worte heraus. »Vielleicht bringen mich die Krymoraner zu euch. Ist Atlan bei euch? Ich habe wichtige Nachrichten.« »Wir haben, denke ich, eine Möglichkeit, die SOL anzufunken. Bist du in Gefahr?« »Nein. Ich halte Vorträge über … Völkerverständigung«, sagte er und fühlte, wie seine erste Erregung abklang. »Ich freue mich so, daß ihr da seid.« »Wir sind ein Kommando von zehn Molaaten. Oggar hat eine Gruppe mitgenommen. Wir rechneten nicht damit, dich wiederzusehen.« »Bis vor kurzem rechnete ich auch nicht damit. Ich muß jetzt weitermachen, meine neuen Freunde werden nervös. Hört zu. Ich schalte den Translator ein …« Er verringerte die Lautstärke der Lautsprecherwiedergabe. »Cryss'Narm sagte mir, daß meine Freunde aus der SOL gelandet sind … einige von ihnen. Ich will zu ihnen, so bald wie möglich. Wer stellt die nächste Frage?« Die Krymoraner blieben unruhig. Zwar schienen die Rebellen zu begreifen, was Oserfan in den letzten Sekunden unternommen hatte, aber den anderen war es unheimlich. Eine Art Kulturschock wirkte sich aus. Dennoch war Oserfan nicht gefährdet. »Warum soll uns allein das Wissen nützen, daß es diesen Gegner gibt?« »Wenn eine Gefahr erkannt wurde«, antwortete der Molaate, »dann kann man sich dagegen wehren. Es wird, zugegeben, schwer sein, sich gegen Hidden-X zu wehren. Aber wenn ihr wirklich bereit seid, mit den Molaaten und den wenigen Roxharen zusammenzuarbeiten …« »… aber sie sind ganz verschieden von uns!« Ruhig deutete Oserfan auf Cryss'Narm. Der Rebell richtete sich auf. Er spürte, daß sein ehemaliger Gefangener entscheidende Worte zu sagen hatte. Oserfan erklärte:
»Wir haben es auch geschafft. Nicht wahr, Rebell?« »Er hat recht. Er lebte in einer kleinen Kammer. Wir sprachen oft miteinander. Er aß sogar fast alles, was wir auch essen.« »Das gilt für den Rest der Molaaten auf dieser Welt«, bekräftigte Oserfan deutlich. »Ich sage es noch einmal. Ihr müßt bereit sein, Neues anzunehmen. Glaubt mir, daß weder die Molaaten noch die Roxharen noch meine Freunde aus dem Schiff euch irgend etwas antun wollen. Sie sind froh, wenn sie ein bißchen … Gastfreundschaft bekommen.« »Ihr solltet tun, was er sagt«, erklärte ein anderer Rebell. »Und in welcher Weise bereichert es uns?« wollte ein Krymoraner wissen. »Ihr habt sogar von uns einen Namen bekommen«, rief Oserfan. »Wir geben euch einige Translatoren. Sie funktionieren lange genug, und ihr könnt ganz einfach mit den Fremden sprechen und sie alles fragen. Jeder von ihnen, und das verspreche ich euch, wird ebenso jede Frage beantworten wie ich. Ihr habt, sozusagen, zehntausend Fragenbeantworter!« Dann setzte er hinzu: »Und hoffentlich gleich einen weniger. Cryss'Narm, du hältst dein Versprechen? Bringe mich zu meinen Freunden. Den Übersetzer lasse ich hier oder gebe ihn dir, wenn wir dort sind.« Der Rebellenanführer wandte sich an die Teilnehmer dieser seltsamen Versammlung und sagte einige Worte. Oserfan hörte die Übersetzung des Geräts. »Ich sage, daß er mutig war. Er hat uns alles erklärt, was er weiß. Ich habe ihm mein Wort gegeben.« Durch die Versammlung ging ein seltsames Gemisch aus Lauten, abgerissenen Wörtern und dem harten Scharren und Knirschen der Krallen auf dem Gestein. Erregt hoben die Rebellen wieder ihre Feuerrohre. Dann stellte sich ein Krymoraner mit grauen Stellen im schwarzen Fell auf die Hinterläufe und rief:
»Bringt ihn noch in dieser Dunkelperiode zu seinen Freunden. Es ist richtig, was er gesagt hat. Vielleicht ändert sich bald sehr viel. Und wenn sich nichts ändert, dann wissen wir, daß wir überleben können. Aber ich denke, daß wir darauf hoffen können. Die Zukunft sieht anders aus.« Oserfan murmelte, mit seinen Gedanken längst bei Sanny und den anderen: »Die Zukunft sieht immer anders aus, Freunde. So oder so.« Dann näherte er sein Kinn dem Mikrophon und sagte ihnen, daß es nicht mehr lange dauern würde.
* Die Krymoraner waren Pragmatiker. Obwohl Oserfan im schwachen Licht von Fackeln und Ölschalen einen Teil des Eingangs der unterplanetarischen Stadt gesehen und die kunstvolle Steinmetzarbeit bewundert hatte, schienen sie von irgendwelchen Zeremonien nichts zu halten. Zwei Rebellen näherten sich ihm, packten ihn an den Armen und hielten ihn auf dem Rücken eines dritten fest. Er hatte nicht einmal Gelegenheit, den Krymoranern zuzuwinken oder auf andere Art und Weise Abschied zu nehmen. Ein schneller Ritt durch die Dunkelheit fing an. Es ging über Felsen, zwischen Gehölzen hindurch, durch Nebelschwaden und Hänge auf- und abwärts. Sekunden später blieb der letzte Rest von Licht hinter ihm zurück; es herrschte die absolute, undurchdringbare Finsternis. Jetzt verlor er den Rest jeglicher Orientierung. Die drei schlanken, langen Körper bewegten sich durch das Gelände, als sei es heller Tag. Seine Hände umklammerten einen Gurt, der sich um die Schultern des Rebellen wand. Oserfan sprach abgehackt ins Mikrophon.
»Ich komme, Sanny.« »Wo bist du? Wir können nichts hören und nichts sehen.« »Schaltet einen Scheinwerfer ein«, bat er und lachte ängstlich auf, als ihn ein zurückschnellender Ast im Nacken traf und beinahe aus seinem unsicheren Sitz riß. »Keine Ahnung, wo wir sind.« Vorsichtig hob er den runden Kopf und spähte nach vorn. Die drei Krymoraner stürmten einen Hang hinauf, dessen Steigung immer mehr zunahm. Oserfan hörte ihre Atemzüge, die schärfer und lauter wurden. Dann entnahm er aus den Bewegungen der Wesen, daß sie irgendwelchen Hindernissen auswichen. Plötzlich zuckte vor ihm, rechts vorn und nicht allzuweit entfernt, ein senkrechter Lichtbalken auf. Sanny hatte einen Scheinwerfer senkrecht nach oben gerichtet und eingeschaltet. »Ich sehe den Lichtstrahl«, sagte er. »Vermutlich kommen wir über ein Geröllfeld. Ich kann noch immer nichts erkennen.« »Wir warten auf dich, Oserfan.« Er erkannte die Stimme von Pina. Wieder mußte er sich festhalten, um nicht vom Rücken des Krymoraners geschleudert zu werden. Wie Schlangen bewegten sie sich, zahllose Hindernisse umgehend, einen höllisch steilen Hang aufwärts, blieben am Scheitelpunkt kurz stehen und schlängelten sich dann einen noch steileren Hang abwärts. Als sie viermal die Richtung geändert hatten, sah der Molaate die Lichtquelle. »Der Steinschlag, Sanny«, sagte er gepreßt, »das sind wir. Drei Krymoraner und ich. Ich sehe dich und deinen Scheinwerfer.« Das letzte Stück des Steilhangs lag hinter ihnen, als eine kleine Lawine aus Sand, Geröll und kleinen Felsbrocken hinter ihnen abwärts polterte. Die Krymoraner wichen seitwärts aus und hielten in der Mitte der Gruppe an. Zusätzliche Scheinwerfer wurden eingeschaltet und richteten sich auf die schwarzen Wesen. Oserfan schaltete das Funkgerät ab und rief: »Nicht direkt in ihre Augen. Sie werden geblendet. Sie sind
nachtsichtig.« Sofort schwenkten die gleißenden Strahlen herum. Erschöpft rutschte Oserfan von seinem Sitz. Seine Hände waren schweißnaß. Er rannte auf Sanny und Pina zu, umarmte sie und begrüßte Drux und Filbert. »Das sind die Rebellen von Cryss'Narm«, meinte er dann und deutete auf die Krymoraner, die sich wieder aufgerichtet hatten. »Sie brauchen ein paar Translatoren.« Er löste den Verschluß seines Geräts und reichte es dem nächststehenden Planetarier. »Es wird wirken, wie ich es versprochen habe«, sagte er. »Keine Angst, Freunde! Sie haben mich gut behandelt.« Zwei weitere Translatoren wechselten den Besitzer. Oserfan erklärte, wie sie funktionierten. Die Molaaten – es waren zwölf – umstanden die Fremden und musterten sie argwöhnisch. Ein Krymoraner bewegte sich, zog Oserfans Waffe hervor und reichte sie dem Molaaten. In Oserfans Sprache sagte er schwerverständlich: »Als Zeichen, daß wir dir glauben. Wir gehen jetzt.« Oserfan hob die Hand und bemühte sich, die Sprache der Krymoraner richtig zu benutzen. »Wir danken. Wir kämpfen gegen Hidden-X. Wir kämpfen für euch.« Die Krymoraner hoben ihre Klauen, senkten die Körper zu Boden und rannten auf die Felsen zu. Kurze Zeit darauf waren sie verschwunden, und nur nachrutschendes Geröll ließ erkennen, daß sie sich über den Steilhang der Schlucht entfernten. Gierig trank Oserfan aus einer der Vorratsflaschen, setzte sie ab und fragte, plötzlich wieder aufgeregt: »Wie war das mit Hreila? Habt ihr Verbindung zur SOL?« Ein Molaate, den er nicht kannte, kam auf ihn zu und blieb abwartend stehen. »Das ist Isydor«, erklärte Ajjar. »Ein täuschend nachgemachter
Robot. Er kann an die SOL einen Rafferfunkspruch abstrahlen. Gib ihm den Text, Oserfan.« Oserfan sagte der Maschine kopfschüttelnd, was er von Hreila wußte, und fügte seine Vermutungen hinzu. »Das sieht diesem Teufel ähnlich«, stieß Gynn haßerfüllt aus. »Ich werde mir eine besondere Strafe für Hidden-X ausdenken.« »Du wirst warten müssen«, spottete Razzu, »bis er vor dir auf den Knien liegt. Falls er so etwas wie Knie haben sollte.« »Fertig, Oserfan?« fragte der Robot mit der perfekten Stimme eines Molaaten. Oserfan nickte. Zwei Scheinwerfer wurden abgeschaltet. Noch immer stand die Gruppe in der Mitte der Schlucht und direkt vor einer glatten Felswand. Oserfan setzte sich auf einen Stein und sagte müde: »Fertig. Sage uns, ob du eine Bestätigung bekommst.« »Sofort.« Die Molaaten umringten ihn und sprachen auf ihn ein. Er stellte Fragen und wußte binnen kurzer Zeit alles, was ihm wegen seiner Gefangenschaft entgangen war. Der Robot strahlte den gerafften Funkspruch in einem kurzen, mit höchster Kapazität gesendeten Impuls ab. Die Gefahr, daß Hidden-X den Text »abhörte«, mußten sie in Kauf nehmen. Isydor meldete nach einigen Minuten, daß der Funkspruch empfangen und bestätigt worden war. »Nun ist der Wissensstand bei allen gleich«, brummte Ajjar. »Ich setze als selbstverständlich voraus, daß du das vorläufig letzte Mitglied der Fünften Kolonne bist, Oserfan.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Sanny hob die Hand und senkte ihre Stimme zu einem eindringlichen Flüstern. »Ich habe nachgerechnet. Es steht fest, daß Hreila bei allen Angriffen, die wir hier erlebt haben, bewußt geschont wurde. Hidden-X hat auch den HORT nur deshalb entkommen lassen, weil die Buhrlofrau unversehrt zurück zur SOL kommen mußte.«
»Ein hinterhältiger Plan!« Gynns Haß wurde deutlich. Er war erregter, als es zweckmäßig war. »Eine lebende Zeitbombe in der SOL«, meinte Drux beunruhigt. »Aber Atlan und der High Sideryt werden sich wehren können. SENECA wird ihnen helfen. Früher oder später haben sie Hreila Morszek gefunden und isoliert.« »Als die PARTISAN abflog, war Hreila noch nicht gefunden.« »Tristan Bessborg ebenfalls nicht. Beide sind oder waren verschwunden«, schaltete sich Ajjar ein. »Meine paramathematischen Berechnungen können leider keine Prognosen sein«, murmelte Sanny. »Jedenfalls bedeutet die Existenz Hreilas für die SOL eine Bedrohung. Wie groß, kann ich nicht sagen.« »Da sie von dieser unsichtbaren Bestie aufgebaut ist, kann sie nichts anderes als eine tödliche Drohung sein. Falls wir zurückkommen, finden wir ein Totenschiff, das sage ich euch«, stieß Gynn hervor. Susini legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Du darfst dich nicht hinreißen lassen. Wir müssen diesen Kampf mit kühlem Kopf führen«, warnte sie. »Das kann ich nicht.« »Du wirst irgendwann für diese unkontrollierten Empfindungen teuer bezahlen müssen«, sagte Sanny in unüberhörbar ernstem Ton. Sie dachte nicht mehr daran, sich von dem Werben Gynns beeindrucken zu lassen. Hatte er es tatsächlich endgültig aufgegeben? Oder wollte er sich im Kreis der anderen Molaaten keine Blöße geben? Oserfan stand auf und erklärte ruhig: »Wir warten also weiter. Noch ist es eine Weile lang dunkel. Wir sollten Wachen aufstellen. Alle anderen müssen sich ausruhen. Ich rechne damit, daß der BEFEHL die Molaaten nur bei Tageslicht erreicht.« »Wir sind nicht nachtsichtig. Sie würden die Schlucht nicht
finden.« Sanny wußte, daß herabfallendes Geröll sie aufwecken würde, denn alle Ankömmlinge mußten sich über die Sperre einen Weg bahnen, die Atlans Schüsse aus den Felswänden gesprengt hatte. Der vorletzte Scheinwerfer wurde abgeschaltet. Nachdem sich sämtliche Teilnehmer des Kommandos in ihre Verstecke zurückgezogen hatten, erlosch auch die letzte Lichtquelle.
5. Razzu war, bevor er völlig aufwachte, in dem seltsam schwebenden Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen: er wußte, daß er Teile dieses Wachtraums bewußt steuern konnte. Seine Gedanken schwangen zwischen der kümmerlichen Existenz auf Krymoran und seinem Status jetzt hin und her. Er hatte den Solanern viel, wenn nicht alles zu verdanken. Er würde, wenn Hidden-X seine Artgenossen manipulierte, nichts spüren außer einem dumpfen Schmerz in seinem dröhnenden Schädel. Er war stabilisiert, hervorragend ausgerüstet – kein Vergleich mit der Situation noch vor rund dreißig Tagen. Für ihn hatte sich eine neue Welt aufgetan. Er wußte, daß seine kühnsten Träume in Erfüllung gegangen waren. Zwar fühlte er nicht den bedingungslosen Haß, den Gynn ausströmte, aber er war entschlossen, so viel wie möglich für die unzähligen heimatlosen Molaaten zu tun, die hier warteten, ohne zu wissen, welche Zukunft sie hatten. Er wußte, daß die nächsten Tage Kampf bedeuteten. In seine Traumbilder mischten sich reale Geräusche. Er öffnete die Augen und merkte, daß die Helligkeit fortgeschritten war. Aber noch befand sich die Kunstsonne nicht über der Schlucht. Die Geräusche bestanden aus dem Rieseln von grobem Schutt, dem Poltern kleiner Steine und undefinierbaren Lauten. In seinen Anzuglautsprecher flüsterte eine Stimme:
»Sie kommen. Die letzten elf, klar?« Razzu wälzte sich leise herum, zog seinen Paralysator und schob sich auf seinem Lager aus Blättern zwischen den Felsblöcken nach vorn. Er überblickte den annähernd runden Platz vor der Felswand und den breiten, ausgetretenen Pfad. Ihm gegenüber hoben Ajjar und Oserfan kurz die Hände. Auch sie hielten Waffen. Kurze Zeit später meldete sich Isydor. »Ich zähle hundertneun Molaaten. Sie klettern, halb in Trance, über die Felstrümmer.« »Verstanden.« Razzu blickte hinüber zu Gynns Versteck. Der Kamerad lag getarnt hinter einem niedrigen Busch und zielte. »Nachschub an Kleinen Baumeistern …«, wisperte jemand. »… mit dem Transmittertor zum Hypervakuum.« »Still. Sie kommen.« Ohne erkennbare Ordnung kamen die ersten Molaaten auf den Pfad heraus. Sie schienen von der Felswand magisch angezogen zu werden. Ihre Augen waren offen. Keiner sprach mit dem Nebenmann. Die Molaaten boten, wie nicht anders zu erwarten, ein Bild des Elends; sie waren abgemagert und ungepflegt und besaßen nicht ein Stück Ausrüstung oder Vorräte. Sie gehorchten blind und stumm dem BEFEHL. »Warten!« befahl Oserfan. Immer mehr Gestalten bevölkerten den Boden der Schlucht. Als die vordersten einige Schritte von der Felswand entfernt waren, öffneten sich lautlos die beiden Portalhälften und drehten sich nach innen. Zwischen Anfang und Ende der lockeren Kolonne in mehreren Gruppen betrug die Distanz etwa fünfzig Meter. Die ersten Baumeister verschwanden im kurzen Stück des Korridors. »Jetzt!«
Razzu zielte auf den vorletzten Molaaten und feuerte den Paralysator ab. Noch als die kleine Gestalt zu Boden sank, schoß er ein zweitesmal und sah, wie rund ein Dutzend Molaaten zusammenbrach. Schon sprangen seine Kameraden auf, schoben die Waffen in die Schutzhüllen und schlossen sich der Prozession an. »Elf. Keiner schießt mehr.« Das war Ajjars Stimme. Razzu und Gynn liefen schnell bis zum Pfad, sprangen über einige regungslose Körper und reihten sich ein. Die Roboter bewegten sich; Cerbelin bezog sein endgültiges Versteck. Es war ein Loch, von übereinander gefallenen Geröllbrocken gebildet. Isydor marschierte neben Susini auf das Portal zu. Noch einmal meldete sich Sanny. »So wenig miteinander sprechen wie möglich. Geräte ausschalten.« »Verstanden.« Der Korridor nahm sie auf, als die Spitze des Zuges längst in dem Höhlensystem war. Razzu drehte sich um, blickte an dem verkniffenen Gesicht Gynns vorbei und sah im grellen Licht des Tages draußen elf bewegungslose Körper liegen. Dann bewegten sich die schweren Torflügel wieder. Sie schlossen sich. Auf Razzu hatte dieses fast lautlose Herumschwingen etwas Endgültiges. Er unterdrückte aber seine Furcht und ging geradeaus weiter. Er merkte nicht, daß Gynn von seiner Seite verschwunden war. Er dachte bereits an die Transmitter-Gegenstation und an das, was sie dort erwartete. Leise kam Ajjars Stimme: »Isydor, du weißt, was zu tun ist?« »Ich vergesse nichts.« Die Robotmaschine lief mit schnellen Schritten quer durch den sich öffnenden Raum und verschwand hinter einigen Blöcken aus farbigem Metall. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegten sich
die mehr als hundert Molaaten durch das Gewirr der Säulen, zwischen den einzelnen Elementen der Anlage hindurch, vorbei an den Spuren der Strahlschüsse und der rußgeschwärzten Flanken der Geräte, Schienen, Röhren und Speicherbänke. Vor ihnen lag die Abstrahlfläche der Anlage. »Achtung.« Die Mitglieder des Kommandounternehmens schlossen die Helme der Anzüge nicht. Hidden-X hatte dort, wo die Transmitterstrecke endete, eine atembare Luft hergestellt und dafür gesorgt, daß seine Sklaven überlebten. Aber die Hände der Molaaten lagen auf den Kolben der Waffen. Zusammen mit den anderen Molaaten – sie beachteten einander ebenso wenig wie die Artgenossen in den Kampfanzügen – stellten sich Sannys Kameraden auf die Abstrahlstelle. Ein positives Zeichen – jedenfalls wertete es Sanny nicht anders,war der Umstand, daß die zahlreichen Wartungsroboter und die Abwehrmechanismen bis zu dieser Sekunde nicht reagiert hatten. Das Abstrahlfeld hatte sich bereits aufgebaut. Die Anlage schaltete. Sämtliche Molaaten wurden schlagartig abgestrahlt. Als sich das Geräusch des Vorgangs zwischen den Wänden der Halle gelegt hatte, herrschte wieder ereignislose Ruhe.
* Zwischen den Teilen der riesigen Anlage, deren Funktionsschema schwer zu durchschauen war, bewegte sich etwas. Jenseits des Haupteingangs, am Ende des Verbindungskorridors vor den Sperrsystemen gegen unerwünschte Eindringlinge, schob sich Gynn zwischen den kantigen Verkleidungen der Maschinen hervor. Die Hallen waren leer. »Sie sind alle in der Abstrahlhalle dort vorn«, flüsterte er. Aus den Hallen der Energiesteuerung unter dem zentralen Robotrechner
kamen zwei Wartungsroboter. Sie glitten die schräge Rampe herauf, bogen nach links ab und verschwanden über den polierten Fels des Bodens. »Und ich werde es dir zeigen, Hidden-X«, sagte der Molaate grimmig. Er hatte sie alle ausgetrickst. Wenn Sanny und ihr Team im FlektoYn ankamen, würden sie merken, daß er fehlte. Gynns Ziel war noch unklar. Selbstverständlich, sagte er sich, würde er die Rückkehr der zehn Freunde abwarten. Wahrscheinlich brachten sie, wenn sie das Flekto-Yn verlassen konnten, andere Molaaten mit. Gynn nahm aus der Beintasche des Anzugs eine längliche, graue Schachtel und klappe einen Schutzdeckel hoch. Er drückte einen kleinen Schalter und aktivierte damit den Empfänger. Langsam blickte sich Gynn um. Er hatte viel Zeit. Er ging unentschlossen hin und her und blieb schließlich vor einem Steuerpult stehen. Er schaffte es, das Oberteil des Pultes zu erklettern. Er entfernte einen Teil der Abdeckung und heftete das magnetische Unterteil der Spezialbombe an die Metallfläche. Er grinste zufrieden, als er wieder auf den Boden heruntersprang. Er wußte aus Sannys Berichten, wo die Gefahrenstellen des Dimensionstransmitters lagen. Bisher bewegte er sich in ungefährlichem Gebiet. Zwischen Isydor und Cerbelin bestand keine Funkverbindung. Das Tor und Strahlensperren neutralisierten die Funkimpulse. Also erfuhr auch niemand in der SOL, was im Berg vorging. Gynn huschte im Schutz der einzelnen Bauelemente bis an die Wand dieses Saales und versuchte, so leise wie möglich die Halle des Robotrechners zu durchqueren. Noch zweimal blieb der Molaate stehen und heftete weitere Bomben an wichtige Teile des Rechners. Oder an Teile, von denen er fest überzeugt war, daß sie über die Funktionen entschieden. »Niemals wird Hidden-X wieder diesen Felsenkeller benützen
können«, brummte er. Der Sender, der die Bomben zünden würde, befand sich im Robotkörper Isydors. Der Robot war bisher nicht aufgetaucht. Gynn verzichtete darauf, ihn zu rufen. Wieder blieb Gynn stehen und duckte sich hinter ein Bündel von isolierten Rohren. Ein Trupp von nicht weniger als fünfundzwanzig Wartungsrobotern, von denen es alle denkbaren Größen und Formen gab, schwärmte aus, nachdem sich auf der gegenüberliegenden Seite der Rechnerhalle ein großes Schott geöffnete hatte. Der Molaate hielt den Atem an und beobachtete die Maschinen. Sie schienen ein Testprogramm durchzuführen, denn sie schwebten an die Pulte, öffneten Schaltschränke und hantierten mit seltsamen, waffenähnlichen Geräten. Unter dem Rechnerraum und der Energiesteueranlage befand sich einer der drei Abstrahlräume. Die Molaaten, denen Sannys Team gefolgt war, hatten allerdings einen der geradeaus gelegenen Sender-Empfänger benutzt. Gynn setzte sich, die nächste Bombe in der Hand, auf ein kastenförmiges Element und versuchte, weitere Einzelheiten des Transmitters genügend intensiv zu erkennen, so daß er die Bomben an den sinnvollen Stellen deponieren konnte. Er selbst hatte noch drei jener hochbrisanten Sprengstoffpakete bei sich, ein gutes halbes Dutzend trug der Robot. Klirrend, summend und klickend arbeiteten die Maschinen. Sie waren Erzeugnisse einer Technik, die Gynn völlig fremd war. An einem Dreifachrohr rollte auf breiten, federnden Walzen ein vielarmiger Robot in Gynns Richtung. Mit langen Gliedmaßen, die sich unaufhörlich klickend in Kugelgelenken bewegten und verkanteten, tastete die Maschine die Röhren ab, bremste, summte zornig auf und glitt weiter. Gynn ahnte, daß zwischen diesem Gerät und einer Zentrale ein ununterbrochener Datenstrom hin und her ging. Konnte ihm das Gerät gefährlich werden?
Er tastete sich an der Wand entlang weiter ins Innere der Anlage hinein, erreichte das nächste Sperrgebiet und wußte, daß sich schräg dahinter das Reservoir der Roboter befand. »Achtung«, sagte er sich. Seltsamerweise mußte er wieder an Sanny denken, dieses bezaubernde Mädchen, das seine Annäherungsversuche so hartnäckig abwies, obwohl er sie wirklich ernst meinte. Aber als eine andere Maschine, die eine Handbreit über dem Boden heransirrte, einen dröhnenden Summton ausstieß, schrak er zusammen und flüchtete in langen Sätzen geradeaus. Genau zu diesem Zeitpunkt kam ihm zum erstenmal der Gedanke, daß er doch besser mit den anderen hätte gehen sollen. Er aktivierte wieder sein Funkgerät. Gynn legte einen Spurt ein und huschte eine Rampe hinunter. Die Pläne des Transmitters kannte er wie jeder der Fünften Kolonne, aber er kannte die Gefahrenpunkte nicht. Der Robot blieb hinter ihm zurück, schwenkte herum und begann, einen großen Schaltschrank auseinanderzunehmen. Gynn entdeckte nach kurzer Suche im Vorraum des Transmitterprojektors, der nach unten ausgerichtet war, große Kontrollschränke. Hier legte er, nachdem er sie geschärft hatte, die letzten Bomben ab. Als er ein wenig erleichtert eine Anzahl kleinerer Kammern entdeckte, die leer waren, schloß er die Schotte hinter sich und versuchte, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten. »Isydor. Hier spricht Gynn. Melde dich«, sagte er drängend ins Funkgerät. »Ich bin im Versteck.« In den Kammern befanden sich Bildschirme und zahlreiche, unbekannte Geräte. Sie waren in rasterartigen Elementen in die Wände eingebaut. Gynn musterte sie, und es juckte ihn in den Fingerspitzen, sämtliche Schalter zu drücken und Regler zu bewegen, um ein gigantisches Chaos hervorzurufen. Wieder beherrschte er sich und unterließ es, auch nur einen einzigen Schalter zu betätigen. Das Chaos würde ihn vernichten und
die Rückkehr seiner Kameraden unmöglich machen. »Hast du deine Bomben bereits ausgelegt?« »Nein. Nicht eine einzige.« »Warum nicht?« »Ich fühle mich unausgesetzt von den Wartungsrobots und den automatischen Überwachungsgeräten beobachtet.« »Dann bleibe dort. Wir sehen später weiter. Ist der Sender getestet?« »Ich kann auf deinen Befehl sofort deine Bomben zünden«, antwortete Isydor. »In meiner Umgebung ist jedenfalls keine erhöhte Aktivität feststellbar.« »Ich habe ebenfalls ein gutes Versteck.« Immer wieder war Gynn zwischen beiden Extremen hin und her gerissen. Hidden-X mußte ausgeschaltet werden. Mit der Vernichtung dieses Transmitters war nur ein erster Schritt auf diesem Weg getan. Ungeduld packte den Molaaten. Er stand auf, aß einige Rationswürfel und schlich dann in die Richtung, in der das Versteck Isydors lag. Zusammen mußten sie noch andere Teile des Dimensionstransmitters in tödliche Fallen verwandeln, indem sie alle Bomben an besonders guten Stellen versteckten. »Ich komme«, sagte er. »Ich bin bereit«, erwiderte Isydor über Funk. »Mindestens drei neuralgische Punkte habe ich bereits angemessen.«
6. Dritter Tag Vierzehnter Oktober An Bord der SOL. Igh Hargar massierte die Umgebung seiner Augen, gähnte mehrmals und schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit
loszuwerden. Er hatte zu lange gearbeitet. Das Labor war leer; in diesen Tagen, in denen nichts geschah, während die SOL wartete, störte niemand seine Arbeit. In der SZ-2 herrschte die Ruhe der Nachtperiode. Aus einem Lautsprecher, den eine Mitarbeiterin abzuschalten vergessen hatte, kam leise Musik. Hargar hörte sie zwar, nahm sie aber nicht bewußt wahr. Er ging hinüber zum Automaten und kam mit dem Becher voll dampfendem Kaffee wieder an seinen Arbeitstisch zurück. Hargars Aufgabe bestand darin, Statistiken aller wichtigen Vorräte an Bord anzufertigen. Die Stabsspezialisten und der High Sideryt brauchten sie zur Planung. Jetzt, in der Periode der Ruhe, konnte er sämtliche Werte aus allen Stationen und Vorratsstellen abrufen und erhielt einwandfreie Parameter, ohne gestört zu werden. Nachdenklich betrachtete Hargar seine Arbeit und sagte sich, daß die SOL im Augenblick mit Vorräten und Basisstoffen aller Art reich ausgestattet war. Wenn er morgen oder übermorgen die Ergebnisse in der Zentrale vorlegte, würde Hayes, was sehr selten vorkam, zufrieden grinsen. Der Reinigungsrobot, der seit Minuten zwischen den Pulten umherfuhr, summte ärgerlich auf. Igh hob den Kopf, verbrannte sich fast die Zunge an dem bitteren, heißen Kaffee und sah, daß die kleine Maschine ein Drittel des Büros gereinigt hatte. Der Bodenteppich zeigte breite Streifen, die bereits gesäubert waren. Jetzt versuchte das Gerät, eine Schwingtür zur Materialkammer aufzustoßen. »Die Tür klemmt, du Idiot«, brummte Hargar, ging langsam hinüber und verschüttete einige Tropfen Kaffee auf den Teppich. Der Robot nahm einen Anlauf und wollte die Tür nach innen schieben. Sie sperrte. Hargar stellte den Becher ab, schob den Robot zur Seite und zog die Schwingtür nach außen auf. Der Kontakt klickte, das Innere der Kammer erhellte sich. Zwischen der Wand und der Türkante lag ein Körper. Er war in
eine Borduniform gekleidet. Hargar runzelte die Brauen; der Körper war nicht länger als die Kammer tief, also bestenfalls knapp eineinhalb Meter. Er kannte diesen Mann nicht. Hargar ließ sich auf ein Knie nieder, tastete nach dem Puls des Mannes mit dem haarlosen Kopf und stellte fest, daß er tot war. Langsam richtete er sich auf und versuchte sich zu erinnern. »Es wird ein Buhrlo gesucht«, brummte er zerstreut. »Und seine Freundin. Aber dieser Mann ist kein Buhrlo. Wenigstens sieht er ganz anders aus.« Hargar ging zum Interkom, drückte die leuchtendrote Taste und rief drängend ins Mikrophon: »Hier Hargar, Nachtdienst. Zeichenraum, administrative Abteilung, Deck Zweiundzwanzig. In unserem Büro habe ich soeben einen Toten gefunden.« Sofort tauchte das Gesicht eines Wachhabenden aus der Einsatzzentrale auf. Es war ein flüchtiger Bekannter Hargars. »Du? Einen Toten? Wer ist es?« »Ich kenne ihn nicht. Ein kleiner Mann, etwa eineinhalb Meter groß. Kümmerst du dich darum?« »Das ist mein Job. Wir rücken gleich an.« Im Hintergrund hörte Hargar die Signale, mit denen der Wachhabende sein Team zusammenrief. Minuten später drängten sich ein Medorobot, eine halbrobotische Schwebeplattform und drei Männer in dem hellen Büroraum. Der Medorobot fuhr seine Sonden aus und stellte nach kurzer Überprüfung fest: »Der Mann ist tot. Es ist ein Buhrlo.« Hargar blickte unsicher um sich und murmelte: »Buhrlo? Dann kann es nur Tristan Bessborg sein. Hat jemand inzwischen Hreila Morszek gefunden?« Dann schüttelten die Sanitäter die Köpfe. »Buhrlo? Aber die Haut sieht ganz anders aus. Wie bei normalen
Solanern.« Hargar hob die Schultern, ging wieder zum Interkom und wählte die Bordpositronik an. Sofort meldete sich SENECA. »Unheimliche Sache«, bemerkte der Statistiker mit einem flauen Gefühl im Magen. »Wir haben einen toten Buhrlo gefunden. Der Medorobot bestätigt, daß es keinen Hinweis auf Gewalteinwirkung gibt.« »Bessborg wird dringend gesucht. Sagtest du einen Buhrlo?« antwortete SENECA. »Richtig. Von Hreila hier bei uns keine Spur. Wir untersuchen gerade alle Einbauschränke und Nebenräume.« »Ich kümmere mich darum und benachrichtige die Verantwortlichen«, erklärte SENECA. »Auch wenn es spät geworden ist.« »Ein guter High Sideryt schläft niemals«, brummte Hargar und sah zu, wie der Robot den leblosen Körper auf die Plattform hob, ein Stück sterile Folie aus einem Schlitz zog und den Leichnam damit bedeckte. Als die Männer sich zwischen den Arbeitstischen trafen und über den seltsamen Fund sprechen wollten, meldete sich wieder SENECA. »Wir haben uns entschlossen, den Leichnam von Hage Nockemann untersuchen zu lassen. Also soll die Bahre zum Labor Dr. Nockemanns gebracht werden.« »Es wird immer undurchsichtiger.« »Daß sich eine Buhrlohaut innerhalb von höchsten ein paar Tagen in eine normale Epidermis verwandelt, davon habe ich auch noch niemals gehört«, sagte der Wachhabende. »Ich bin zwar kein Mediziner, aber …« Auf der Bildplatte des Interkoms erschienen Gesicht und Oberkörper des Galaktogenetikers. Er hob die Hand und zwirbelte dann seinen Schnauzbart. »Ja. Bringt den armen toten Buhrlo in mein Labor. Ich werde ihn untersuchen. Ich werde schon herausfinden, was ihm gefehlt hat.«
»Wird gemacht, Hage«, rief einer aus dem Medoteam. Die Bahre und die Wachleute entfernten sich. Igh Hargar entdeckte seinen Kaffeebecher und trank den kalten Kaffee aus. Der Gesichtsausdruck Nockemanns war ernst gewesen. Tristan und Hreila waren mit dem Atlan-Team auf dem Dunkelplaneten gewesen. Es war denkbar, daß sie von dort etwas mitgeschleppt hatten, ohne es zu wissen. Eine Seuche? Dann würden auch die anderen Teilnehmer isoliert werden – freiwillig. »Nein. Keine Seuche. Oder doch? Eine Krankheit, die nur Buhrlos befällt?« Heute würde er nichts mehr zuwege bringen. Er warf den Plastikbecher in den Abfallvernichter und schaltete, ehe er seinen Arbeitsplatz verließ, sämtliche Beleuchtungskörper aus.
* Der Körper lag ausgestreckt auf dem Labortisch. Batterien von Tiefstrahlern leuchteten jeden Quadratzentimeter der Haut aus. Bessborgs Augen waren geschlossen, der Mund halb offen und zeigte die Andeutung eines Lächelns. Die rötliche Farbe und der glasähnliche Charakter der Haut waren vergangen. Nur die wulstartigen Muskelverspannungen um die Sinnesorgane ließen noch erkennen, daß es sich tatsächlich um einen Angehörigen der »Gläsernen« handelte. Der Robot Blödel verkürzte seinen Tentakelarm und erklärte: »Die Identifikation ist abgeschlossen.« »Und es besteht kein Zweifel, daß es Tristan Bessborg ist«, stellte Hage fest und schob ein langes, graues Haar aus der Stirn. Er selbst zweifelte nicht daran, denn inzwischen hatte er mit SENECA, Hayes und Atlan gesprochen. Sie würden in wenigen Minuten im Labor eintreffen. Inzwischen befanden sich mehrere Hautproben unter den
Mikroskopen, waren Sonden eingeführt und Scanner eingeschaltet worden. Einige erste Ergebnisse konnte Nockemann bereits vorweisen. Ununterbrochen summten die Diagnosegeräte. Auf den Bildschirmen zeichneten sich Kurven, Diagramme und Schaubilder ab, die nur der Fachmann deuten konnte. Plötzlich unterbrach Hage sein Hantieren und sprang zum Interkom. »Hagemann hier«, sagte er, als sich SENECA meldete. »Wichtige Sache! Finde heraus, ob auch andere Buhrlo sich schlecht fühlen, irgendwelche Beschwerden mit der Haut haben oder andere, entsprechende Symptome. Es eilt.« »So schnell wie möglich hast du die Ergebnisse.« Hage hatte festgestellt, daß die Haut sich innerhalb von rund vierundzwanzig Stunden verändert hatte. Der Körper des Buhrlos war zusammengebrochen. Allgemeine Schwäche war die medizinische Todesursache. Aber was war der Grund für die Veränderung der Epidermis? Atlan öffnete das Schott und blieb an der Wand stehen. »Was denkst du, Hage?« fragte er voller Spannung. Nockemann richtete sich auf und zeigte auf das Sichtfeld des Mikroskops. »Eine Dermalgie«, knurrte er. »Kein Zweifel.« »Eine … was?« Nockemann schien kurz nachzudenken und antwortete ausgesprochen unwillig: »Eine Hauterkrankung. Eine verblüffend schnelle und radikale Veränderung, wie jedermann leicht sehen kann.« »Etwas, das du kennst, Hage?« »Nein. Unbekannt.« Atlan hatte, als ihn die Nachricht von der Auffindung Tristans erreichte, ein Gefühl aufkommender Panik nicht unterdrücken können. Jetzt hatte er die Vorahnung sehr schlimmer Dinge. Hreila war von den Krymoranern mit einem Gift infiziert worden, wie er inzwischen wußte, und mit großer Wahrscheinlichkeit war ihr Freund von ihr angesteckt worden. Der nächste Leichnam würde
also Hreila Morszek sein. »Also, für mich«, wandte der Arkonide ein, »ist es eine künstlich herbeigeführte Erkrankung. Ausgelöst durch die Manipulationen von Hidden-X, das sich der Krymoraner bedient hatte. Verdammt, Hage – das klingt alles niederschmetternd.« »Noch habe ich praktisch nichts gesagt. In einem Tag oder so weiß ich mehr.« Wieder schwang das Schott auf. Die breite Gestalt Breckcrowns Hayes' schob sich herein und blieb neben Atlan stehen. »Seuche?« fragte er grollend. Atlan breitete unschlüssig die Arme aus und sah zu, wie Nockemann seine Untersuchungen weiterführte. Blödel half ihm schweigend. Nach etwa zehn Minuten, in denen Nockemann sämtliche Anzeigen kontrollierte, die ausgedruckten Analysen miteinander verglich und immer wieder den Sitz der Sonden und die Arbeit des Medorobots checkte, sagte er: »Ich weiß nicht, was ihn wirklich umgebracht hat.« Der Körper des kleinen Buhrlos lag starr im Licht der Spezialscheinwerfer. Nockemann kam um den Tisch herum und baute sich vor Atlan und Hayes auf. »Also, Breck, es ist anmaßend, wenn ich etwas mit Sicherheit sagen würde. Vielleicht wirken Faktoren zusammen, die ich längst noch nicht kenne. Aber ein paar Dinge sind unumstößlich. Hreila und Tristan waren, nachdem Hreila wieder auftauchte, ununterbrochen versteckt und wohl stets beieinander.« »Und Bessborg ist ebenso unzweifelhaft tot.« Atlan nickte und wartete auf einen Einwurf des Logiksektors. Das Extrahirn schwieg. »Und seine Haut ist verändert«, fügte der High Sideryt hinzu. »Es ist eine Krankheit, von der nicht einmal etwas in SENECAS Speichern vorhanden ist.« »Ebenso wenig wie über das Hypervakuum«, knurrte Hayes. »Was bedeutet die Morszek-Dermalgie für uns, für das Schiff?«
wollte der Arkonide wissen. »Keine Ahnung«, sagte Nockemann. »Auf keinen Fall etwas Gutes.« Sie blickten einander in die Augen. Ohne, daß sie ein Wort darüber verloren, ahnten sie, daß von Krymoran etwas eingeschleppt worden war, das sich innerhalb der SOL ausbreitete und potentiell höchst gefährlich war. Ein Signal ertönte, das Bild des Interkoms wechselte. »Hier spricht SENECA. Mein Alarm und der Rundruf hat unter den Buhrlos – und nicht nur in ihren Reihen – Unruhe ausgelöst.« »Also … neue Krankheitsfälle?« »So verhält es sich. Es haben sich während der letzten halben Stunde vierunddreißig Buhrlos gemeldet. Jeder von ihnen leidet unter Schmerzen im Bereich der Haut. Aber eine Veränderung der Epidermis ist bisher noch nicht eingetreten.« Atlan fragte sofort: »Was hast du angeordnet?« »Es war nur in den seltensten Fällen nötig. Sie suchen selbst die nächstgelegene Medostation oder eine der Bordkliniken auf. Man fängt dort mit Untersuchungen und Behandlungen an. Mehr mit Untersuchungen, denn die Behandlungen beschränken sich auf Schmerzbekämpfung und psychotherapeutischen Zuspruch. Ich werde sofort eine Namensliste ausdrucken.« »In Ordnung«, rief Nockemann. »Und alle Untersuchungsergebnisse sämtlicher Kliniken sofort an mich. Ich schalte die Speicher auf Input.« »Verstanden«, schloß die Bordpositronik. Atlan konnte seinen Blick nicht von dem ausgestreckten Leichnam losreißen. Er mußte sich sagen, daß Hidden-X abermals einen mächtigen Schlag gegen die SOL geführt hatte. »Außerdem kann ich jetzt natürlich noch nicht bestätigen oder verneinen, ob alle bisher festgestellten Symptome tatsächlich die direkten Auslöser des Todes von Tristan waren«, erklärte
Nockemann den schweigenden Männern neben dem Schott. Hayes ließ den Kopf hängen und murmelte: »Wir müssen Hreila finden. Unbedingt.« Atlan lachte ohne einen Funken Humor auf und erwiderte: »Seit Tagen suchen zahlreiche Kommandos sämtliche Hohlräume der SOL ab. Bisher haben wir nicht einmal eine Spur gefunden.« Diesmal war es Breck, der heiser lachte: »In den wilden Jahren, bevor du an Bord kamst, Atlan, haben sich hier ganze selbständigen Gruppen gebildet, die wir jahrelang nicht gefunden haben. Es gibt noch mehr Verstecke im Schiff, als selbst SENECA weiß.« In dieser Nacht würden sie wohl keine aufregenden Erklärungen und Neuigkeiten mehr erfahren. Atlan verabschiedete sich von Hayes und Nockemann und verließ das Labor. Seine Gedanken schwangen, kaum daß er draußen im Korridor stand und in seinen winzigen Bordgleiter kletterte, zurück zu Sanny, Ajjar und den anderen Molaaten, die inzwischen dort angekommen waren, wo der Transmitter sie ausgespien hatte. Höchstwahrscheinlich im Flekto-Yn.
* Eben noch hatten sie die Projektoren gesehen, die Menge der bewegungslosen und willenlosen Molaaten und die bearbeiteten Wände der Abstrahlhalle. Dieses Bild zitterte noch in allen Teilnehmern dieses Kommandounternehmens nach, als sie in der Gegenstation standen. Der erste Eindruck war, daß auch die letzten Reste des mentalen Druckes schlagartig verschwunden waren. Jeder von ihnen atmete erleichtert auf. Einige Sekunden lang wirkte nichts auf sie ein. Sie hatten Zeit, um sich kurz orientieren zu können. Die
Dimensionstransmitter-Gegenstation glich bis auf wenige, aber gravierende Unterschiede derjenigen im Berg des Dunkelplaneten. Die Wände, die fast unmittelbar neben dem Rand der runden Transportplattform in die Höhe wuchsen, bestanden aus einem silbern und poliert schimmernden Metall. Nickel? Sie waren ohne Verzierungen und gingen in einer starken Rundung in die Decke über, aus der ebenfalls die Mündungen zahlloser technischer Einrichtungen hervorstachen. Aus einer unregelmäßig verteilten Anzahl von Löchern und Vertiefungen kam ein gelblich getöntes Licht. Eine Stimme wurde hörbar, aber es war nicht das Dröhnen der Hidden-X-Stimme. »Verlaßt den Raum durch die Pforten, die sich zu eurer Begrüßung öffnen.« Gleichzeitig wurde die Beleuchtung schwächer. Lichtstrahlen richteten sich auf ein breites, aber unverhältnismäßig niedriges Schott, das sich nach beiden Seiten und nach oben in die Metallwand zurückzog. »Los«, flüsterte Sanny. »Denkt daran! Wir sind willenlose Geschöpfe.« »Und je länger wir diese Fiktion aufrechterhalten«, unterstrich Ajjar diese Warnung, »desto erfolgreicher können wir handeln.« Zonza, eingekeilt zwischen den tatsächlich willenlosen, »Kleinen Baumeistern«, sagte verhalten: »Hat jemand Gynn gesehen? Ich vermisse ihn.« »Tatsächlich«, brummte Oserfan nach einigen Sekunden. »Er ist nicht hier.« Sanny stöhnte auf. Es brauchte nur wenig Nachdenken, um herauszufinden, daß er sich im Transmitter auf Krymoran verborgen hatte und jetzt dort wartete. Aber zusammen mit den mehr als hundert Molaaten ging auch sie von der Transmitterplattform herunter und auf das hell erleuchtete Schott zu. Die anderen Molaaten, die nicht mentalstabilisiert waren, wurden
von Hidden-X oder einer untergeordneten Instanz in gewisser Weise geführt und geleitet. Der geistige Druck auf sie schien im Augenblick nicht sonderlich groß zu sein. Es dauerte Minuten, bis sich hinter der großen Gruppe die Schotte mit leisen, schleifenden Geräuschen wieder schlossen. Vor ihnen breitete sich ein gigantischer Raum aus … Die Stimme erklärte: Das ist eure neue Heimat. Die Halle der Molaaten. Sanny blickte sich um. Neben dem Rahmen dieser Portale erhob sich eine Anlage, die stufenförmig angelegt war. In den glänzenden Wänden verschwanden die dicken Rohre, in die farbige Kabelstränge mündeten. Die Steuerelemente, meist versteckt und unzugänglich, entsprachen in der äußeren Form denen auf Krymoran. Sanny sagte sich, daß sie genau an dieser Stelle einzugreifen versuchen mußte. Doch nicht jetzt. Die Halle der Molaaten: Eine gigantische Anlage mit neun Wänden. Die Grundfläche betrug schätzungsweise zweitausend Meter zu viertausend Meter. Die Wände waren unregelmäßig groß und zwar winklig, aber nicht rechtwinklig zueinander angeordnet. Eine Unzahl indirekter Beleuchtungskörper ließ Teile des Bodens erkennen und modellierte sie deutlich heraus. Rund achtzig Meter vom Boden war die Decke dieses erstaunlichen Hohlkörpers entfernt. Im Licht mehrerer Kunstsonnen erkannten die Molaaten des Sannys-Teams, daß Teile der Decke zueinander gekippt waren, und daß sich in dieser unregelmäßigen Fläche mehrere Parabolspiegel befanden. Sie wirkten wie runde Unterbrechungen und besaßen unterschiedliche Durchmesser und Größen. Und es gab hier Gärten oder ähnliches, kleine Wälder und einen Boden, der unregelmäßig modelliert war. »Weiter. Hier leben unzählige Molaaten«, drängte Filbert.
Vom Schott führte eine gewundene Straße aus durchlöchertem hellen Metall abwärts und war von winzigen Hügeln gesäumt und von Buschwerk, in dessen Zweigen große, orangefarbene Früchte glänzten. Etwa zwanzig Ausgänge waren zu erkennen, ehe die Molaaten keine Sicht mehr hatten. Die Säulen, Rahmen, Quertraversen und Portale bestanden alle aus demselben Metall. »Und es ist doch Nickel!« sagte Oserfan bedächtig. »Meinetwegen. Sind wir nun im Flekto-Yn oder nicht?« fragte Susini flüsternd zurück. Die Mitglieder des Teams versteckten sich in der fast identisch reagierenden Menge der rekrutierten Sklaven. »Höchstwahrscheinlich.« Die Gewächse in diesem Raum waren ziemlich alt. Wenn Sanny an die Bäume auf Krymoran und anderen Planeten dachte, schien ein Alter von hundert oder mindestens fünfundsiebzig Jahren nach SOL-Norm nicht unsinnig. Die Eindringlinge sahen Hütten, aus Holz gezimmert und mit Zweigen bedeckt. Sie entdeckten Felder und Äcker, klein, aber sorgfältig bearbeitet. Zwischen den Hütten, die teilweise mehrstöckig waren, liefen schmale, aber tief ausgetretene Pfade. Überall waren Molaaten; Hunderte und Tausende liefen umher, arbeiteten oder lagen irgendwo und schienen zu schlafen. Es herrschte eine fast irreale, chaotische Art der Bewegungen und des Verhaltens hier. Die Geräusche, von den Metallwänden und -decken vielfach gebrochen, unterstrichen den Eindruck des wilden, unkontrollierbaren Durcheinanders. Die Straße wurde etwas schmaler und wand sich unter einer Brücke aus Nickel nach rechts, wo sie sich verzweigte. Ajjar meinte nach einigen Dutzend weiterer Schritte: »Irgendwann hat man von den Dunkelplaneten Material und Pflanzen und anderes Zeug hierher geschafft.« Das Licht der Kunstsonne wurde von den zahlreichen Spiegeln reflektiert.
Es schien, je nach Standort des Betrachters, eigene Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln und erzeugte verblüffende Wirkungen. Strahlenbündel schienen hin und her zu huschen. Teile der Anlage wurden heller, andere schienen dunkler zu werden. Eindeutig blieb, daß dieser riesige Raum die Wohnstatt der Kleinen Baumeister war. »Es ist tatsächlich Nickel«, sagte Oserfan nach einer Weile. »Zwar verändert das Metall dank unterschiedlich strukturierter Oberfläche sein Aussehen, aber hier finden wir wieder die Ergebnisse der Beutezüge jener Nickeldiebe.« »Wir sind also im Flekto-Yn«, stellte Razzu fest. »Zweifellos.« Hin und wieder sahen die Eindringlinge auch einige Roxharen. Sie waren hier ebenso verwahrlost und allein wie abseits der Molaatenlager auf Krymoran. Aber es schien, daß einige wichtige Elemente dieser Notkultur von ihnen stammten. »Hidden-X bestimmte offensichtlich«, meinte Ajjar nach einer weiteren Wegstrecke, »diesen Raum als Aufenthaltsebene für die Baumeister. Aber sonst hat es sich nicht um deren Bedürfnisse gekümmert.« »Und wenn es zu wenige Helfer hat, holt es sie sich aus seinem Vorratslager auf Krymoran«, setzte Pina wütend hinzu. Hinter einer weiteren Brücke gabelte sich die Straße aus gerastertem Metall. Die Masse der Molaaten teilte sich in zwei annähernd gleichgroße Hälften. Keiner von ihnen zögerte nur eine Sekunde lang, zu welcher Hälfte er gehörte. Auf einen Wink Sannys schlossen sich die Eindringlinge der Gruppe an, die nach rechts weiterging. An einer der nächsten Straßenkreuzung standen zwei Molaaten, die sich von allen anderen deutlich unterschieden. Sie trugen saubere Lendenschurze und breite Bänder aus Nickel an den Oberarmen. »Zwei Aufseher!« wisperte Drux. »Auch das gibt es hier.« Inzwischen waren sie überzeugt, daß sie der Transmitter
tatsächlich ins Flekto-Yn gebracht hatte. Die große Menge an Molaaten, die sich im Lauf der Zeit hier unfreiwillig aufgehalten hatte, schuf sich Stück um Stück Lebensbedingungen, die ein Minimum an Komfort bedeuteten. Immerhin schienen sie ohne größere Schwierigkeiten überleben zu können. »Glücklicherweise erkennen wir die Vorarbeiter. Sie werden sich nicht gerade beliebt gemacht haben.« »Vermutlich sind sie irgendwie privilegiert.« »Das werden wir alles genau feststellen«, erklärte Oserfan grimmig. Ajjar widersprach leise. »Falls uns genügend Zeit bleibt.« Es mochte sein, daß die Aufseher freiwillig mit Hidden-X zusammenarbeiteten, weil sie sich irgendwie Vorteile erhofften. Die Gruppe der Fremden schob sich in die Mitte des Trupps hinein. Sanny wollte nicht riskieren, daß sie schon allen wegen ihrer Anzüge und der Ausrüstung erkannt wurden. Flüsternd sprachen sie miteinander. Sie schätzten, daß es in dieser Halle rund zehntausend Molaaten gab. Wieviel Roxharen hier noch ihr bedauernswertes Dasein fristeten, ließ sich nicht ermitteln. Gleichgültig glitten die Blicke der beiden Aufseher über die Neuankömmlinge hinweg. Die Molaaten wußten offenbar, wohin sie sich zu bewegen hatten. Inzwischen befanden sich Sanny und ihr Team etwa im Zentrum der langgestreckten Halle. Zahllos unterschiedliche Eindrücke waren verarbeitet worden und summierten sich zu einem Bild. Das Ergebnis war alles andere als optimistisch. »Niemand benutzt die Tore«, schaltete sich Susini ein, als die Gruppe von dem breiten Weg abbog und auf weitaus schmaleren Pfaden zwischen den mehrstöckigen Hütten entlang wanderte. Nur die willenlosen Molaaten kannten das Ziel. »Wahrscheinlich deswegen, weil sie verschlossen sind«, flüsterte Filbert. »Sie sehen verdammt massiv aus.« »Ruhig. Wir dürfen nicht auffallen.«
Bisher hatte es keinen unvorhergesehenen Zwischenfall gegeben. Inzwischen befanden sie sich in einem eigentümlichen Sektor der Halle. Hier wechselten einander große Fruchtbäume und Holzhütten ab. Die Hütten waren alt und verwittert und wurden teilweise mit dicken Stricken aus Pflanzenfasern an den Bäumen festgehalten. Die Baumgruppen mit ihren ausladenden Zweigen hielten das grelle Licht der Kunstsonne und die Reflexe aus den Parabolspiegeln ab, filterten es und bildeten vielfache Schatten. In einigen Zweigen kletterten Molaaten umher und sammelten Früchte in geflochtenen Körben. Die neu Angekommenen wurden aufmerksam, aber ohne erkennbare Reaktionen betrachtet. Sanny hob kurz den Arm und sagte: »Laßt uns erst einmal ein Quartier beziehen. Immerhin sind wir unabhängig, weil wir von der befehlenden Stimme nicht mehr erreicht werden.« Abermals verzweigten sich die sandigen Wege. Auf ein unhörbares Kommando hin schwenkten die Molaaten herum und verteilten sich, indem sie auf die Eingänge von rund einem halben Dutzend Hütten verteilten. Mit schnellen, präzisen Handbewegungen dirigierte Ajjar, Oserfan und Sanny die Angehörigen ihres Teams in zwei Räume, die im »Erdgeschoß« eines windschiefen Holzgebäudes lagen. Minuten später hatten sie die Räume in Besitz genommen und ihre Ausrüstung teilweise ausgepackt. Wachen standen an den Fenstern und an den Türen. Noch ehe Sanny eine weitere Anordnung geben konnte, hörten sie wieder die Stimme von Hidden-X. Ihr habt jetzt Zeit, eure neue, schöne Welt in Besitz zu nehmen. Ruht euch aus, macht es euch bequem, entspannt euch! Oserfan zischte: »Welch ein Zynismus!« Unbeeindruckt von diesem Zwischenruf erscholl die Stimme auch in den Gehirnen jener Molaaten, die ihr nicht gehorchen mußten. Trotzdem hörten sie gebannt und
regungslos zu. Wenn ihr gebraucht werdet, sei es zu einer interessanten Schulung, oder um kleinere Arbeiten auszuführen, werde ich mich wieder melden. Entspannt euch. Bemächtigt euch der Schönheit eurer neuen Heimat. Sanny setzte sich auf ein brüchiges Möbel, das wie ein Hocker aussah, blickte jeden Teilnehmer dieses schwierigen Unternehmens schweigend an und meinte schließlich mit den ersten kleinen Zeichen der Müdigkeit: . »Wir haben unser Ziel erreicht. Wir sind im Flekto-Yn. Wir müssen uns so verhalten, als wären wir beeinflußbare Molaaten. Das ist wohl jedem von uns klar. Was mir im Augenblick echte Sorge bereitet, ist die Ungewißheit darüber, was Gynn, dieser Hitzkopf, plant.« »Wir müssen hier sehr schnell Verbündete finden«, schlug Drux vor. »Sollen wir uns auf die Aufseher konzentrieren?« »Noch nicht. Erst einmal in Ruhe alles ansehen und überlegen«, schränkte Zonza ein. »Möglicherweise beobachtet uns Hidden-X im Moment nicht so genau. Wenn es für seine Sklaven eine Ruhepause anordnet, dann ist es vielleicht auch müde.« »Wir sind einverstanden«, meinte Oserfan und deutete auf Sanny. »Was immer ihr unternehmen wollt … seid vorsichtig.« »Noch etwas!« meinte Vicavo drängend. »Ja?« »Wir müssen uns ebenso verhalten wie die anderen Opfer von Hidden-X. Alle Angehörigen unseres Volkes befinden sich mehr oder weniger in Trance. Ebenso müssen wir uns verhalten.« Pina fragte provozierend: »Was genau sind unsere Ziele?« Sanny brauchte nicht zu überlegen, ihre Antwort war schon lange formuliert worden. »Wir müssen die Sklaven unseres Feindes befreien und ihm selbst soviel wie nur irgend möglich schaden.« »Einverstanden.« Der Befehl des unsichtbaren Herrschers über das Flekto-Yn war
von allen Molaaten gehört und verstanden worden. Über die Halle senkte sich eine Art Ruhe, eine falsche Abendstimmung, deren Wirkung unterstrichen wurde, indem sich die Helligkeit der Kunstsonnen verringerte. Etwa zwei Stunden waren vergangen, seit die Gegenstation des Dimensionstransmitters die Angehörigen des Todeskommandos hierher abgestrahlt hatte. Wieviel Zeit blieb ihnen noch? fragten sich Sanny und Oserfan. Einige Minuten verstrichen, ohne daß etwas Wichtiges geschah. Die Eindringlinge waren sich bewußt, daß sie auf einem dünnen Seil balancierten. Ihre einzige Chance lag darin, möglichst schnell zu handeln und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Sanny stand, nachdem sie gegessen und aus dem flachen Vorratsbehälter getrunken hatte, plötzlich auf und meinte in hartem Tonfall: »Wir schwärmen aus. Zeit: eine Stunde. Jeder von uns versucht, möglichst viel Informationen zu bekommen. Ich vermute, daß in Bälde die Aufseher anfangen werden, auch bei uns herumzuschnüffeln.« »Eine gute Idee«, sagte Oserfan und deutete zu einem Fenster hinaus. »Ich mache mich sofort auf den Weg.« »Tue dies.« Es war relativ leicht gewesen, hier einzudringen. Den Saal der Molaaten zu verlassen, würde ungleich schwieriger werden. Sanny hatte alle technischen Einzelheiten, deren sie gewahr worden war, registriert und hatte versucht, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Es würde mehr als schwierig sein, den Kode aufzubrechen, der die Portale öffnete und eine gefahrlose Rückkehr ermöglichte. Sie winkte Ajjar und sagte: »Wir müssen den Kode zum Transmitterraum knacken. Vielleicht noch nicht jetzt, aber in einigen Stunden. Wir müssen uns und die anderen wieder nach Krymoran abstrahlen lassen.« Oserfan nickte mehrmals, verzog sein Gesicht und brummte: »Es ist nicht gerade wenig, was du vorhast. Fragen wir erst einmal die unfreiwilligen Arbeiter, was sie denken.«
Filbert, Drux und Pina standen auf, verließen den Raum und liefen die knarrende Treppe aus roh behauenen Holzteilen hinauf. Langsam folgten Sanny und versuchte zuzuhören. In einem großen Raum hausten rund zwanzig Molaaten. Es herrschte, obwohl sie nur wenig persönlichen Besitz hatten, eine unbeschreibliche Unordnung. Pina wandte sich an einen älteren Mann, dessen große Augen Verwirrung und Unsicherheit ausdrückten. »Wir sind hier, um euch zu helfen – nach Möglichkeit. Was tut ihr hier? Welche Arbeit habt ihr zu tun?« Die Molaaten starrten die Fremden an, ohne zu begreifen. Sie schienen sich in halber Trance zu bewegen. Endlich kam eine zögernde Antwort. »Wir haben einen Raum ausgebaut, zuletzt. Metallarbeiten führen wir durch. Eine Stimme sagt uns, was wir machen, was wir reparieren, mit welchen Werkzeugen.« Es gab, wenigstens in diesem halbzerfallenem Haus, keinen Vorarbeiter. Schnell stellten das die Eindringlinge fest. Aber sie sahen von ihrer Position aus jene Männer mit den Nickelarmbändern nahe den anderen Wohnbauten. »Wie lange seid ihr hier?« »Lange. Es wird niemals Nacht, niemals dunkel. Sehr lange. Mehrmals sind die Früchte reif geworden.« »Nicht gerade präzise Auskünfte«, murmelte Filbert. »Wißt ihr, wozu eure Arbeit gut ist?« Verständnislos bewegten sich die Molaaten, ihre Augen irrten immer wieder ebenso ab wie ihre Gedanken. »Wir schmelzen Nickel und verformen es. Andere von uns bauen Spiegel und Maschinen.« »Maschinen – zu welchem Zweck?« fragte Drux drängend. »Niemand weiß es. Einer macht dies, der andere etwas ganz anderes, und wieder andere bringen die Maschinen weg und bauen sie irgendwo ein.«
»Ich verstehe«, murmelte Pina resignierend. Sie würden von den Molaaten keine zufriedenstellende Antworten bekommen. Sie konnten gar nicht irgend etwas berichten, das wertvolle Informationen lieferte, denn sie alle handelten unter Zwang und wurden von Hidden-X unwissend gehalten. Sie kannten nur das unmittelbare Geschehen und erkannten keinen Zusammenhang. Wieder wallte Wut in den Teammitgliedern hoch; ihr Ziel, diese versklavten Artgenossen zu befreien, würden sie um jeden Preis zu erreichen versuchen. »Zehntausend oder mehr Molaaten können natürlich im Lauf der Zeit, selbst wenn sie wie dumme Sklaven behandelt werden, eine Unmenge von Teilen herstellen. Das bedeutet, daß das Flekto-Yn entweder unaufhaltsam wächst oder innen mehr und mehr ausgebaut wird.« »Ist auch meine Überzeugung«, stimmte Drux bei und schüttelte sich, als er die geistige Stumpfheit rund um sich herum registrierte. Und … er wußte, wie leicht es war, jene Molaaten wieder zu kurieren. Sie mußten nur aus dem Einflußbereich von Hidden-X herausgebracht werden. Nur? Es war das Schwierigste von allem. »Sanny wollte sich um den Transmitter kümmern«, sagte Filbert. Die Teamchefin nickte schweigend. »Und wir werden uns hier etwas umsehen«, sagte Drux. »Wann sollen eure Arbeiten fertig sein? Wißt ihr etwas darüber?« fragte Drux, obwohl er fest damit rechnete, auch in diesem Fall eine unbefriedigende oder gar keine Antwort zu bekommen. Zur allgemeinen Verwunderung erwiderte eine junge Molaatin: »Aufseher sagen, daß wir bald fertig sind. Sie meinen, daß es nur noch wenig unbearbeitetes Metall gibt.« »Aha. Und was passiert dann mit den vielen Arbeitern?« Die Molaatin machten Gesten der Unschlüssigkeit. »Wir wissen es nicht.« Drux wandte sich an Sanny und deutete in die Richtung, aus der
sie gekommen waren. Wieder nickte Sanny. »Oserfan, Ajjar und ich werden versuchen, die Transmitter einzuschalten. Aber es ist die Frage, wie wir zehntausend Molaaten möglichst schnell nach Krymoran bringen.« »Uns wird etwas einfallen«, versicherte Sanny. Die Probleme schienen unlösbar. Sie bestanden nicht so sehr darin, ungesehen und möglichst schnell den Transmitter als Sendetransmitter umzukoppeln, sondern darin, daß Hidden-X auf irgend eine Weise sah oder erfuhr, was die Eindringlinge vorhatten. Sanny entschied sich nach einigem Nachdenken: »Wir bilden fünf Gruppen«, sagte sie schließlich. »Niemand außer uns entfernt sich allzuweit von dieser lächerlichen Basis hier. Wir sammeln Informationen. Sollten uns Aufseher oder Vorarbeiter dabei stören, dann müssen wir sie paralysieren und hierher bringen. Hat jemand eine bessere Idee?« »Noch nicht«, rief Oserfan von der Treppe her. »Mit entscheidenden Schlägen sollten wir noch warten.« Sanny hatte einige wenige Erfahrungen mit dem Transmitter auf Krymoran sammeln können. In der vergangenen Zeit hatte sie ihre paramathematische Fähigkeit bemüht und versucht, die notwendigen Handgriffe und Schaltungen zu berechnen, mit denen sie die Maschinerie beherrschen konnte. Oserfan, Ajjar und sie selbst verabschiedeten sich kurz von den anderen des Teams, vereinbarten einen Funkkode und verließen die Holzhütte. Filbert winkte Zora, entsicherte den Paralysator und zeigte durch die offene Luke des windschiefen Fensters. »Dort hinten ist die Ernte in vollem Gang. Ich sehe einige Aufseher. Sie werden unsere Fragen beantworten, wenn wir sie entsprechend behandeln.« »Ich komme mit.« Die Gruppen ließen nur die wirklich auffallenden Teile ihrer Ausrüstung zurück. Vicavo entschloß sich, als Wache dazubleiben. Sie schaute den Teams nach, die sich stets im Sichtschutz von
kleinen Gebäuden, Büschen und Bäumen bewegten. In ihrem Sichtbereich lag eines der Tore. Es war etwa sechshundert Meter entfernt. In der Nähe dieses Durchgangs konnte Vicavo nur wenige Molaaten sehen. Sie kümmerten sich um einen Geländestreifen, der wie ein Acker aussah. Einige von ihnen schleppten Wasser in ledernen Eimern herbei und gossen es über die Pflanzen. Ein Aufseher – sie erkannte ihn, weil das Licht der gespiegelten Kunstsonnen sich an den breiten Armbändern aus Nickel brach, stand daneben und sah halb interessiert zu. Normalerweise, dachte die Molaatin, würden sich die Vorarbeiter ganz anders verhalten müssen. Wenn niemand wußte, ob und wann die Arbeiten im Flekto-Yn fertig waren – am ehesten müßten dies die Aufseher wissen. Ihnen gestattete der Herr dieses Bauwerks mit Sicherheit ein weitaus größeres Maß an Unabhängigkeit. Also wußten sie es selbst nicht! »Das macht mich noch nachdenklicher«, murmelte Vicavo. Und plötzlich begriff sie mit erschreckender Deutlichkeit, was sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Zwei Dinge sprangen sie förmlich an. Sie selbst hätte um ein Haar das Schicksal der zehntausend versklavten Molaaten geteilt. Und: Sie befanden sich im Flekto-Yn! Dieses Bauwerk, das nur Sanny einmal kurz gesehen und längst nicht verstanden hatte, war der Gegenstand von zum Teil abenteuerlichen Thesen. Wie auch immer die Wirklichkeit aussah; das Flekto-Yn, Wohnsitz des unbarmherzigen und unsichtbaren, verschlagenen und völlig unlogisch reagierenden Gegners, befand sich irgendwo. Dieses IRGENDWO war schwer zu definieren. Unendlich weit entfernt, in einer anderen Dimension, im Hypervakuum … jedenfalls weit von der Wirklichkeit entfernt, ob sie nun Krymoran oder SOL hieß. Wo war Vicavo wirklich? Wie würde Hidden-X, falls es nur einen winzigen Verdacht
schöpfte, die Eindringlinge bestrafen? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, diese Mission erfolgreich zu beenden? Jetzt verstand sie, warum Gynn im Abstrahlteil des Transmitters auf Krymoran zurückgeblieben war. Eine Stunde später: Vor ihnen breitete sich die schwer zu entziffernde Anlage aus. Die stufenförmig übereinander angeordneten Elemente bestanden fast ausschließlich aus Nickel, wie es zu erwarten gewesen war. Oserfan hatte nach Sannys Anweisungen bereits einige Schalter betätigt, und mehrere Instrumente zeigten irgendwelche Werte an. Diese wenigen Informationen genügten der Molaatin bereits, ihr gedankliches Modell weiterzuentwickeln. »Ihr achtet auf die Aufseher?« fragte sie leise. Oserfan beruhigte sie. »Ja. Ajjar liegt dort hinter dem Busch und hat den entsicherten Paralysator in der Hand.« »Wir müssen unbemerkt bleiben.« »Richtig.« »Dann drehe den Schalter in der obersten Reihe, den vierten, bis zum rechten Anschlag«, sagte sie. »Klar.« Links von der kleinen Gruppe befand sich das riesige Schott. Es würde aufgleiten, wenn Sanny es wollte; diese Schaltung zu entschlüsseln, war sehr einfach gewesen. Es war auch nicht schwer, die automatische Schaltung zu beseitigen, von der die Transmitteranlage aktiviert wurde. Aber um von Empfang auf Sendung zu schalten, brauchte es noch sehr viele Überlegungen. Berechnungen und hauptsächlich jene Einfälle und Sicherheiten, die aus Sannys Parafähigkeit entsprangen. Und immer wieder packte sie die Angst davor, von Hidden-X beobachtet zu werden. »Weiter«, flüsterte sie. »Klemme den Magnetschalter neben das Instrument mit dem Buchstaben.«
»Ja. Ausgeführt.« Keine fünfzig Meter von dem schimmernden Schaltelement entfernt gingen die Molaaten ihren »Freizeitbeschäftigungen« nach. Sie bestanden offensichtlich darin, mittelgroße Bäume abzuernten und in den Büschen nach irgendwelchen Früchten oder Beeren zu suchen. Durch die Baumkronen und über das Band der Straße hinweg sah man die Bretter und Bohlen eines mehrstöckigen Hauses. »Weiter«, murmelte Sanny. »Den Regler abklemmen und nach links umlegen.« Auch Sannys oberstes Ziel war die Befreiung ihrer Artgenossen. Knechtschaft und Sklaverei haßte sie seit langer Zeit so intensiv wie nichts anderes. Seit die Molaatin das Elend in den Lagern oder Siedlungen auf Krymoran gesehen hatte, spätestens seit diesem Zeitpunkt, haßte sie Hidden-X, ohne es zu kennen oder auch nur annähernd zu wissen, was dieses Wesen darstellte. Hidden-X Wer oder was war Hidden-X? Sannys Überlegungen mischten sich und begannen, Knoten und Schleifen zu bilden. Sie begriff es nicht – genauer: sie hatte es trotz unendlich vieler Überlegungen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht geschafft, zu verstehen, warum Hidden-X so und nicht anders agierte und reagierte. War Hidden-X böse? Oder rasend vor Wut, weil sich die SOL in seinen Machtbereich geschoben hatte? Oder war auch Hidden-X nur das Werkzeug anderer, weitaus größerer Mächte? Wieder kristallisierte in Sannys Verstand das multidimensionale Schema der Anlage aus; sie begriff, wie die nächsten Fiktionen aussehen mußten. Sie bat Oserfan und Ajjar um entsprechende Schaltungen. Sie sah, was die Schaltungen im Innern der Anlage bewirkten. Bald würde sie an ihrem Ziel sein, was in diesem Fall nur bedeuten konnte, daß ein einfacher Fingerdruck oder das Berühren einer Kontaktfläche den Transmitter nicht nur einschalten, sondern als Sendegerät anlaufen lassen würde. »Dieses Problem ist bald gelöst, Oserfan«, sagte sie. Oserfan
blickte sie, durch den Tonfall ihrer Stimme alarmiert, prüfend an. Er fragte knapp: »Welches Problem?« »Das Problem dieses Transmitters«, flüsterte sie. »Von Anfang an hat der Erbauer dieser Anlage damit gerechnet, sie in beide Richtungen benutzen zu können.« »Ich glaube dir.« Sanny überprüfte immer wieder sämtliche Schaltungen, errechnete die Diagramme und entdeckte immer neue Strukturen. Möglicherweise hatte ihr der Zufall in die Hände gespielt. Sie hatte die Schwierigkeiten von Anfang an eindeutig überschätzt. Nach weiteren dreißig Minuten schüttelte sich die Molaatin, atmete keuchend tief ein und aus und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Innerhalb von wenigen Sekunden funktioniert diese Anlage genau so, wie wir es wünschen und brauchen.« »Ausgezeichnet«, antwortete Oserfan. »Wann bringen wir die zehntausend Molaaten durch den Transmitter?« »Bei der ersten, passenden Gelegenheit«, erklärte Sanny und senkte den Kopf. Die paramathematischen Berechnungen schienen sie mehr als nur erschöpft zu haben. Die drei Mitglieder des Teams nickten einander zu und schlenderten auf die Bäume zu, viel zu aufgeregt, um sich unverdächtig bewegen zu können. »Zurück zu unserem Hotel für verarmte Fremdlinge?« fragte Ajjar heiser vor Nervenanspannung. »Ja. Genau dorthin.« Sie schafften es ohne Zwischenfall – jedenfalls ohne spürbaren Zwischenfall –, von der Schaltwand bis zu den schützenden Bäumen und dort über die geschwungenen Teile der Nickelstraße ins Innere der acht Quadratkilometer großen Halle der Molaaten vorzustoßen. Hidden-X hatte noch nicht zurückgeschlagen. Die Wahrscheinlichkeit, daß diese schnelle Aktion tatsächlich zum dringend erhofften Erfolg führen konnte, war um mehrere Potenzen
angewachsen. »Es hat bisher keinen einzigen Funkkontakt gegeben«, flüsterte Sanny nach einigen Dutzend Schritten. »Kann nur ein Vorteil sein.« »So ist es.« »Wir gehen zurück in den Schuppen aus moderndem Holz, klar?« »Klar.« Sanny, die zwischen Oserfan und Ajjar ging, schwankte hilflos. Sie fühlte sich körperlich erschöpft und, was ihren Verstand betraf, ausgelaugt. Die Versuche, den hochkomplizierten Kode zu knacken, hinterließen ihre Spuren. Sie wünschte sich eine lange Pause, in der sie schlafen und sich ausruhen konnte. Sie wußte, daß dies im gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich war und, was weitaus schwerer wog, gefährlich sein würde. Die Verantwortung für diesen Einsatz trug einzig und allein sie selbst. »Diese verdammte Helligkeit.« Oserfan sprach mit dieser leichthin ausgebrachten Äußerung aus, was die Molaaten seit Stunden plagte. Auf Krymoran hatten die geringen Abstände zwischen Tag und Nacht, die dem Metabolismus aller lebenden Wesen widersprachen, sie geschwächt und nervös gemacht. Hier, in der Halle der Molaaten, gab es nicht einmal diesen Wechsel. Hier war es immer gleich hell. Dies stellte eine Beeinträchtigung der Eindringlinge dar, und auf jeden Fall prägte es das zustandsbedingte Verhalten der zehntausend manipulierten Molaaten. »Ja. Wir sind noch lange nicht fertig mit diesem Job, Sanny«, murmelte Oserfan. Seine Miene spiegelte Widerwillen, Entschlossenheit und Härte wider. »Wir, die Fünfte Kolonne«, meinte Ajjar und fühlte sich trotz allem, recht zufrieden, »werden es schaffen. Hidden-X wird sich ärgern.« »Es ist wichtig, daß wir gewinnen.« Am Rand der Nickelstraße, unter dem grell strahlenden Licht der
Kunstsonne, umgaukelt von den Reflexen der Hohlspiegel und der parabolischen Spiegel, trotteten die drei Molaaten auf die Basis zu. Trotz aller Erschöpfung versuchten sie zu erkennen, was neben ihnen vorging. Aber die Szene war friedlich und ruhig. Der unbekannte Gegner hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts bemerkt und auch nicht reagiert. Hundertfünfzig Schritte später blieben Sanny und die beiden Freunde stehen, weil sie ein Impuls mit aller Kraft traf. Die Stimme, die sie bereits kannten und als mentalen Eindruck lange genug studiert und miterlebt hatte, erscholl wieder lautlos in ihren Köpfen. Hidden-X sprach, befahl … Viel ist gearbeitet worden in der letzten Zeit. Alle die Kleinen Baumeister haben sich eine lange, gemütliche Pause verdient. Wir alle kehren zurück in die grüne, kühle Gemütlichkeit der Wohnhalle. Entspannt euch. Schlaft. Ruht euch aus. Bald sind alle Arbeiten, mit denen wir uns beschäftigen, beendet. Eine kleine Pause entstand. Die Angehörigen des Sanny-Teams hörten jedes Wort, erfaßten die Bedeutung und zogen blitzschnell ihre Schlüsse aus dieser Mitteilung. Und wieder … Ihr habt nicht verstanden, was das alles soll. Aber jeder von euch hat an einem Werk mitgearbeitet, das von kosmischer Wichtigkeit ist. Eine Grenze im Universum hat sich aufgetan, eine undurchdringliche Barriere wurde errichtet die niemand niederreißen kann. Ich bin stolz auf euch. Ich bin begeistert von eurer Arbeit. Ihr selbst könnt stolz auf eure Arbeit sein. Entspannt euch, ruht euch aus, schlaft … »Wir nicht«, brummte Sanny. Sie erkannte, was diese Mitteilung für sie alles bedeutete. »Der nächste Schritt ist, Freunde und Mittelsmänner bei den halb schwachsinnigen Molaaten zu finden«, sagte Oserfan. »Wir können ihnen alles versprechen.« »Einverstanden. Der richtige Weg«, knurrte Ajjar.
»Warten wir es ab.« . Die drei Molaaten erreichten das Haus, in dem sich der Rest des Teams aufhalten sollte. Sie trafen nur Vicavo an, die zwei Aufseher bewachte, die im Paralysatorschock auf den rissigen Dielen lagen. Ein junger Molaate lehnte an der Wand, blickte von den beiden betäubten Vorarbeitern zu den neu Eintretenden und war voll sprachlosem Entsetzen: Sanny stieß hervor: »Ihr habt die Durchsage von Hidden-X gehört?« »Ja. Wir haben einige Stunden Zeit. Die Aufseher sagten uns, daß in kurzer Zeit alle Molaaten hierher zurückkommen.« »Hierher – das ist die riesige Nickelhalle?« fragte Oserfan. »So verhält es sich. Wie bringen wir zehntausend Freunde in den Transmitter?« Sanny stöhnte: »Wir müssen sie mit einer Hidden-X-Stimme dorthin treiben.« Vor dem Haus entstanden Bewegungen und Lärm. Razzu, Zonza und Drux trieben mit Nachdruck etwa ein Dutzend Molaaten in den Raum hinein. Die Kleinen Baumeister schienen weniger abgestumpft zu sein als alle anderen, die man inzwischen getroffen hatte. Sie sprachen durcheinander, und Oserfan glaubte zu erkennen, daß sie freudig erregt waren. Er wandte sich an den Nächststehenden. »Ihr habt euch mit uns angefreundet.« Mit großen, leuchtenden Augen erwiderte der junge Mann, einen Schraubenschlüssel aufgeregt zwischen den Fingern drehend: »Wir flüchten mit euch. Er hat es uns gesagt … das Ende unserer Gefangenschaft ist nahe.« Sanny hob abwehrend beide Arme und rief leise: »Halt. Langsam. Wie wollt ihr Zehntausend dorthin bringen?« Als sei es die selbstverständlichste Sache aller Zeiten, erwiderte der junge Molaate: »Die Aufseher. Wir gehorchen ihnen, weil sie sicher wissen, was
geschehen soll.« »Wieviele Aufseher gibt es?« »Nicht weniger als zweihundert«, lautete die Antwort. Pina kam herein und stöhnte auf. »Acht Quadratkilometer Halle! Ich habe versucht, ein Lautsprechersystem oder etwas Ähnliches zu entdecken. Nichts. Das einzige System ist die uns allen wohlbekannte und gefürchtete Stimme. Wir werden sie, fürchte ich, nicht imitieren können.« »Schwerlich«, schloß Sanny und ließ sich auf einen brüchigen Hocker fallen. Zonza und Susini brachten zwei Aufseher herein, die von mehreren Molaaten bewacht wurden. Man hatte ihnen mit Pflanzenfasern die Arme im Rücken zusammengebunden und ihnen die breiten Nickelarmbänder abgenommen. Oserfan packte einen Aufseher am Gürtel, zog ihn zu sich heran und sagte in unverkennbar drohendem Tonfall: »Hilfst du uns oder deinem unbekannten Herrn?« Der ältere Molaate blickte ihn voller Erstaunen, Erschrecken und aufkommender Angst an. »Ich bin völlig überrascht«, stammelte er. »Wer seid ihr?« Oserfans Antwort hatte etwas Endgültiges. »Wir sind hier, um euch alle zu befreien. Du kannst es dir noch aussuchen. Wir oder der Herrscher des Flekto-Yns. Wer also?« Ein Strahlen veränderte den Blick des Aufsehers. Er hatte seine Kollegen bewegungslos auf dem Bretterboden liegen sehen. Trotzdem klang es ehrlich, als er erwiderte: »Wir alle.« »Dann sage uns, wie wir sämtliche Molaaten und die wenigen Roxharen innerhalb kürzester Zeit in den Transmitterraum schaffen können.« Sofort erwiderte der Aufseher: »Das geht nur, wenn alle Aufseher sich zusammentun und über ihre Rufgeräte die anderen ansprechen. Ich kann euch helfen. Ist es wahr? Helft ihr uns? Ist endlich das Ende dieser verdammten Sklaverei in Sicht?« Sanny und Oserfan glaubten dem einzelnen Aufseher nicht alles.
Sie verstanden zwar, daß auch er lieber überall woanders sein würde als ausgerechnet hier, aber sie blieben skeptisch. »Du und deine Freunde müssen dort hinausgehen«, sagte Ajjar drohend. »Ihr müßt, ohne daß euer Sklavenhalter etwas davon erfährt, alle Molaaten und Roxharen zum Schott treiben. Dort warten wir und bringen euch weg von hier. Das ist die unwiderruflich letzte Chance für euch alle. Auch für uns alle. Und ihr Aufseher solltet die Nickelarmbänder herunterziehen und wegwerfen, denn sonst schlagen euch die Sklaven tot.« Schweigend nickte der Aufseher. Er deutete auf die beiden paralysierten Kollegen. »Diese beiden?« »Man kann sie tragen. Hole eine Handvoll deiner AufseherFreunde hierher. Wie lange dauert noch die Schlafpause, die vom Chef ausgerufen wurde?« Bereitwillig erwiderte der Aufseher, während er die breiten Bänder von seinen Oberarmen herunterzog: »Noch einige Zeit.« Ajjar keuchte auf und fragte mit einer Stimme, die ein Übermaß an Ungeduld und Zweifel erkennen ließ: »Einige Zeit? Kann eine Ewigkeit bedeuten oder eine Stunde. Wie lange also?« »Genügend lange, damit sie alle ausschlafen können. Dort! Seht ihr die Tore? Sie sind offen, und von überall kommen die Molaaten hierher.« Die Situation war einzigartig. Wieder kamen zwei der Eindringlinge zurück und zerrten einige Aufseher mit sich. Niemand wußte, wie die Probleme zu lösen waren. Ob die Aufseher tatsächlich im positiven Sinn tätig werden würden oder nicht, konnte niemand ahnen. Das Risiko wurde nicht geringer. Tatsächlich hatten sich zumindest einige der schweren Nickeltore geöffnet. Durch die breiten Spalten strömten schweigend, aber in beträchtlicher Eile, Hunderte und aber Hunderte Molaaten in den
Saal hinein. Zwischen ihnen sah man, verloren und halb abwesend, hin und wieder den einen oder anderen Roxharen. »Ihr geht hinaus, sprecht mit den anderen Aufsehern und sagt ihnen, daß sie alle Molaaten zum Transmitter bringen sollen. Und noch etwas! Nehmt die Nickelringe ab. Sonst werdet ihr von unseren hilflosen Freunden totgeschlagen.« »Ich gehe!« sagte einer der Aufseher und schleuderte die Abzeichen seiner Würde klirrend in einen Winkel. »Du weißt, daß wir deinen Weg verfolgen und mit tödlichen Waffen auf dich zielen?« erkundigte sich Vicavo drohend. Der Aufseher nickte und versicherte glaubwürdig: »Bisher haben wir getan, was nötig war. Wir verhinderten das Schlimmste. Später könnt ihr über uns richten und urteilen.« »Später ist unwichtig. Jetzt ist entscheidend«, knurrte Oserfan. »Los! Fange dort hinten an.« Vier Vorarbeiter entledigten sich ihrer Insignien und rannten davon. Die Eindringlinge berieten sich leise miteinander. Sie spielten mit hohem Einsatz. Wenn sie daran dachten, daß alle Molaaten eine deutliche Art von Gruppenidentität entwickelten, dann hatten sie womöglich gewonnen. Wenn nicht, entkamen vielleicht gerade sie und eine Handvoll anderer, aber nicht der riesige Rest der Kleinen Baumeister. Sie schauten den davonrennenden Aufsehern nach. Jedesmal, wenn die Aufseher auf eine Gruppe ihrer Schützlinge trafen, hielten sie an und gaben zu erkennen, daß sie in einer wichtigen Mission unterwegs waren. Schweigend und voller Aufmerksamkeit beobachteten die Teammitglieder die Reaktionen. Kleine Gruppen und einzelne Molaaten schienen zu verstehen und zu gehorchen, ließen alles stehen und liegen und gingen langsam, aber unaufhaltsam in die Richtung des riesigen Schotts. »Also doch!« »Sie treiben kein falsches Spiel«, flüsterte Filbert. »Sanny! Solltest du nicht zu deinen Schaltpulten gehen?«
»Noch nicht.« Einige der Teammitglieder hatten Molaaten getroffen, die nicht so sehr unter dem Diktat der BEFEHLE standen und trotzdem keine Aufseher oder Vorarbeiter waren. Man konnte sie mit einiger Vorsicht und Zurückhaltung als Freunde oder Vertraute bezeichnen, ohne allzu falsch zu liegen. »Überall bilden sich Gruppen«, sagte Filbert. »Und sie gehen tatsächlich alle auf den Transmitter zu.« »Wir haben es auch den Roxharen gesagt oder es zumindest versucht«, unterbrach einer der unfreiwilligen Kleinen Baumeister. »Ich setze mich auch in Bewegung«, sagte Drux und bedeutete einigen Molaaten, die bewußtlosen Aufseher aufzuheben und zu tragen. Der Zufall hatte ihnen zweifellos geholfen. Hidden-X schien sein Interesse auf etwas anderes zu konzentrieren und vernachlässigte seine Kontrolle über den Saal der Molaaten. Obwohl sich inzwischen deutliche Unruhe breitmachte, obwohl die Molaaten immerhin versuchten, im Sichtschutz der Bäume zu bleiben, konnte man allein schon vom bloßen Zusehen erkennen, daß eine deutliche Fluchtbewegung eingesetzt hatte. Sie war ansteckend; mehr und mehr Baumeister waren in Richtung des Transmitters unterwegs. »Die Tore werden geschlossen«, stellte Zonza nach einer Weile fest. »Alle Molaaten des Flekto-Yns befinden sich hier. Hoffentlich habe ich recht.« »Wir müssen zum Transmitter, Sanny!« drängte Ajjar. »Ja. Es eilt.« Sanny, Oserfan und Ajjar verließen die Hütte und gingen zwischen den einzelnen Flüchtlingen und den kleinen Gruppen auf die unregelmäßige Wand zu, in der sich das Schott befand. Ab und zu tauchte ein Roxhare auf. Die Molaaten packten ihn, gestikulierten und zogen ihn mit sich. Hin und wieder fauchte ein Paralysator auf; ein Aufseher, der sich den Wandernden entgegenstellte, brach zusammen und wurde mitgeschleppt.
Vor einem der vielen Tore in den Nickelwänden versammelte sich eine Gruppe aufgeregter Molaaten, zwischen denen die hageren Gestalten einiger Roxharen hervorragten, Zonza, Razzu und Pina rannten hinüber, wobei sie darauf achteten, stets im Sichtschutz der Bäume zu bleiben. »Was ist los? Warum versammelt ihr euch hier?« »Das Tor hat sich geschlossen.« »Was bedeutet das?« »Es sind noch Gefangene dort draußen.« Pina sah sich um. Zwei Aufseher standen abseits der Gruppen und wußten nicht, was sie tun sollten. Mit einigen Sätzen waren die Fremden bei ihnen und richteten die Paralysatoren auf die Vorarbeiter. »Ihr könnt die Türen öffnen«, sagte Razzu scharf. »Los! öffnet das Portal.« »Wir dürfen nicht … haben keinen BEFEHL.« »Mann!« sagte Razzu drohend. »Wir sind hier, um alle Molaaten wegzubringen. Du kannst allein hier zurückbleiben, aber …« »Wir werden bestraft, wenn wir eigenmächtig handeln.« »Es wird niemand mehr sein, der euch bestraft. Los! Ihr kennt die Schaltung.« Die Menge nahm eine drohende Haltung ein. Jenseits der Straße und einiger brückenartiger Überwege glitt jetzt fast geräuschlos das Schott zum Transmitterraum auf. In fasziniertem Staunen sahen es die versammelten Molaaten. »Das ist der Weg zur endgültigen Freiheit«, drängte Pina. »Macht schnell. Wir helfen euch.« Die zwei Aufseher kämpften schweigend mit ihren Ängsten und Befürchtungen. Sie blickten sich an, rissen sich dann die Nickelbänder ab und rannten zu einem Schaltterminal. Sekunden später öffnete sich das Nickelportal, und eine Masse aufgeregter Molaaten stürzte herein und wurde von den anderen mit gedämpftem Jubel begrüßt.
»Dorthin müßt ihr gehen«, rief Zonza und zeigte auf das offene Riesenschott. Razzu lief bereits mit einer schnell gebildeten Gruppe darauf zu. Die anderen folgten, während noch immer verzweifelte Molaaten in die Halle hineindrängten. Inzwischen schien die Aufregung alle Lebewesen in diesem gigantischen Raum gepackt zu haben. Die Angehörigen von Sannys Team wurden noch unruhiger. Hidden-X mußte einfach merken, was hier vor sich ging! Die Transmitterhalle füllte sich mit stoßenden, schiebenden Molaaten. Oserfan rannte um die Plattform herum und schrie seine Befehle. Endlich begriffen die Molaaten, daß eine bestimmte Ordnung und Disziplin eingehalten werden mußte. »Achtung!« Sanny führte die entscheidenden Schaltungen durch. Der Transmitter baute sein Wirkungsfeld auf und strahlte einige hundert Molaaten und eine Handvoll Roxharen ab. Oserfan und Ajjar gaben sofort den Durchgang frei und trieben zur Eile an. Wieder strömten die Flüchtenden herein. Sie hatten gemerkt, daß der wichtigste Faktor dieser Aktion die Eile war. Jeder wollte sich in Sicherheit bringen. Die meisten begriffen, daß sie unrettbar verloren waren, wenn der unsichtbare Herrscher des Flekto-Yns die Vorgänge bemerkte. Wieder entlud sich der Transmitter und hinterließ nur die leere Plattform. »Weiter! Schneller!« Zonza wurde von einer schiebenden und zerrenden Gruppe mitgerissen, auf der Transmitterplattform eingekeilt und nach Krymoran abgestrahlt. Als sie sich in der Felsenhalle befand, wußte sie, daß sie ein Chaos gegen ein anderes vertauscht hatte.
7. Dritter Tag Auf Krymoran
Schlucht des Dimensionstransmitters Als die ersten Aggregate anliefen und die unterschiedlichen summenden und aufheulenden Geräusche sich an den Wänden und Decken brachen, schrak Gynn aus einem unruhigen Schlaf hoch. Augenblicklich wußte er, was passiert war. Er schaltete das Funkgerät ein und rief: »Isydor! Halte dich bereit, einzelne Bomben zu zünden. Zuerst die Portale. Und dann benütze die Relaisstation zur SOL.« »Verstanden.« Jede Sekunde rechnete Gynn damit, daß eine von panischer Furcht erfüllte Masse ängstlicher Molaaten binnen weniger Minuten aus den Korridoren hervorbrechen würde. Er überlegte nicht mehr lange, zog den Sender aus der Tasche und drückte die erste Taste. Ein Funkimpuls zündete die erste Sprengladung. Mit einem donnernden Krachen zerbarst die Steuerung des Transmittersenders. Glühende Teile wirbelten in alle Richtungen und rissen Furchen in die Felswände. Eine zweite, noch stärkere Detonation kam aus dem Eingangsbereich. »Ausgezeichnet«, rief Gynn und rannte weiter. Wieder ein Knopfdruck, abermals zerfetzte eine Explosion einen Teil der Anlage. Die Sperre, mit der sich Hidden-X gegen unbefugtes Eindringen zu schützen versuchte, ging in Flammen auf. Riesige Ventilatoren liefen an und versuchten, den Rauch abzuziehen. Automatische Löschanlagen versprühten farbigen Schaum. Lärm war zu hören. Im Zickzack, den aufgescheuchten Robotern ausweichend und über die rauchenden Trümmer springend, – rannte Gynn auf die mittlere Abstrahlplatte zu. Sanny hatte es also geschafft! Er hoffte, daß Isydor zusammen mit Cerbelin die SOL von diesem Erfolg benachrichtigte. Es gab keinen Grund, an der Zuverlässigkeit der Maschinen zu zweifeln. Ein Windstoß ging durch die Anlage.
»Also hat Isydor das Tor gesprengt«, freute sich Gynn. Er hob beide Arme, als die ersten Molaaten auf ihn zurannten. »Schneller!« schrie er. »Dort entlang! Klettert über den Geröllberg. Ihr werdet ein Lager finden …« Seine Schreie beschleunigten die Geschwindigkeit, mit der die Kleinen Baumeister durch die Transmitteranlage rannten. Keine Minute später hatte sich der riesige Raum abermals mit Flüchtlingen aus dem Flekto-Yn gefüllt. Wieder schrie ihnen Gynn zu, in welche Richtung sie zu rennen hatten. »Habt ihr Sanny gesehen?« rief er. Niemand antwortete. Die Molaaten rannten ihn fast um. Er sprang zurück und hörte den Donner der nächsten Detonation, die von Isydor ausgelöst wurde. In der Luft breiteten sich Staub und Rauch aus. »Isydor?« »Ich höre.« »Hast du Verbindung mit Cerbelin?« »Positiv. Er weist den Molaaten den Weg.« »Die SOL? Hat sie die Meldung bestätigt?« »Positiv. Die Aktion, von Atlan geleitet, läuft in vollem Umfang an. Die Ziele sind ausgesucht.« »Das Transmittertor ist geöffnet?« »Beide Torflügel lassen sich nicht mehr schließen.« »Ausgezeichnet. Weiter so.« Gynn schätzte, daß jeder Transmittereinsatz zwischen fünfhundert und siebenhundert Molaaten hierher beförderte. Er rechnete weiter, daß sich mehrere tausend im Flekto-Yn befunden hatten. Also war es sinnvoll, wenn er hier blieb und dafür sorgte, daß die umgepolten Abstrahlplattformen so schnell wie möglich geleert wurden. Er zog den Impulsstrahler, regelten ihn ein und feuerte auf eine Gruppe von zwei großen Reparaturrobots, die direkt in seine Richtung schwebten. Wieder erschien, scheinbar aus dem Nichts, eine riesige Menge
Molaaten. Gynn sprang auf ein Pult, deutete zum Ausgang und schrie ihnen die Warnungen zu. Die meisten von ihnen waren erstaunlich diszipliniert. Sie rannten, so schnell es ging, auf den fernen Ausgang zu. Aus einer der letzten Gruppen löste sich eine einzelne Gestalt. Überrascht sah Gynn, daß sie einen Einsatzanzug trug. Zonza! »Du bist die erste?« stieß er voller Erleichterung aus. »Wieviele kommen noch?« Sie rannte auf ihn zu und ließ sich auf den Sockel des Pultes ziehen. Atemlos sagte sie: »Wir schaffen es, Gynn. Sanny, und Oserfan und Ajjar schalten den Transmitter. Wir haben rund ein Drittel losgeschickt.« Er lachte und sagte: »Inzwischen sind es mehr. Dort kommt die nächste Transmitterladung.« »Ausgezeichnet. Wir zittern vor Ungewißheit – wenn Hidden-X merkt, was im Flekto-Yn vorgeht, schlägt es zu.« »Wo sind die anderen?« Zonza deutete nach oben. Gynn begriff; sie meinte den Ort, an dem die Kleinen Baumeister ihre Sklavenarbeit verrichtet hatten. Wieder spie der Transmitter eine Schar Molaaten aus. Razzu und Vicavo waren unter ihnen, orientierten sich blitzschnell und entdeckten Gynn und Zonza. »Hier bist du. Wir haben gerätselt, was du hier alles anstellst in deinem schauerlichen Eifer«, brummte Razzu. »Diese Zerstörungen – deine Sache?« Gynn nickte grimmig. Er war von dem Erfolg der Aktionen tief aufgewühlt und hoffte, daß auch die letzten Schritte mit etwas Glück erfolgreich sein würden. »Ja. In absehbarer Zeit wird diese Anlage niemanden mehr ins Flekto-Yn befördern. Das ist sicher.« Die Masse der rennenden Molaaten riß nicht mehr ab. Gynn stellte sich nur unter Schwierigkeiten die Zustände vor, die außerhalb der
Portale in der Schlucht herrschen mochten, wo Tausende Molaaten über die Geröllflächen kletterten. Er beruhigte sich und fragte vorsichtig: »Und was tun Sanny und die beiden Ältesten?« Razzu sagte in bewunderndem Tonfall: »Sie nehmen das meiste Risiko auf sich. Sie schalten den Transmitter, denn alle Molaaten aus dem Flekto-Yn bewegen sich in Trance und gehorchen nur der Stimme.« Wieder zerstörte Gynn zwei Roboter. Unverändert erfüllte das Heulen der schweren Aggregate die Säle und Hallen im Fels. Die charakteristischen Arbeitsgeräusche des Transmitters rissen nicht mehr ab. Einzeln und in Gruppen kamen die Molaaten aus den breiten Eingängen und rannten, halb instinktiv, in die Richtung, in der auch der Qualm abzog. Sie verstanden nicht, was um sie herum vorging, aber augenscheinlich trieb sie ein Instinkt vorwärts. Irgend etwas in ihnen sagte, daß sie in die endgültige Freiheit rannten. »Nachrichten von Atlan?« fragte Gynn nach einigen Minuten über Funk. Die beiden Roboter funktionierten perfekt. Diesmal erwiderte Cerbelin knapp: »Einige Kreuzer und Korvetten sind gestartet und befinden sich im Anflug. Liegen weitere Befehle für mich vor?« »Nicht im Augenblick«, erklärte Gynn und nickte den anderen strahlend zu. Er hoffte, daß Sanny nach diesen spannenden Stunden endlich erkennen würde, was er wirklich wert war. Dann würde sich ihre ablehnende Einstellung ihm gegenüber wohl ins Gegenteil verwandeln. »Wenn Atlan diesen Einsatz leitet, ist das Problem schnell beseitigt.« »Das sogenannte Problem sind etwa zehntausend Molaaten vom Flekto-Yn und schätzungsweise fünfzigtausend Kleine Baumeister, die in fünf Lagern oder Siedlungen auf der Außenwelt von
Krymoran hausen«, sagte Zonza nachdrücklich. »Leicht wird es nicht sein, Gynn.« Sie warteten einige Minuten. Ununterbrochen arbeitete der Dimensionstransmitter. Sanny und Oserfan schalteten also noch immer. Bei der nächsten Transmitteraktivität waren Filbert und Drux unter den fliehenden Molaaten. Nach der Begrüßung fragte Vicavo aufgeregt: »Kam es uns nur so vor – oder läßt der massierte Andrang etwa tatsächlich schon nach?« Drux gab seine letzten Eindrücke wieder. »Jetzt kommen aus allen Winkeln und Ecken der Nickelhalle die letzten Flüchtlinge. Entweder haben sie zu spät von der Aktion erfahren, oder sie sind irgendwie aufgehalten worden. Der erste Ansturm ist vorbei. Übrigens, es gibt nicht viele Roxharen im Flekto-Yn. Sie sind von Hidden-X schlicht und einfach vergessen worden, weil es sie nicht mehr braucht.« »Was bedeutet das für uns?« wollte Gynn wissen. Die Ungewißheit folterte sie hier ebenso wie im Saal der Molaaten. Natürlich wollten sie ausnahmslos alle, daß auch der letzte Sklave aus ihrem Volk aus der Macht dieses seltsamen Feindes entkam. Im Zweifelsfall indessen erwarteten sie natürlich, daß sich Sanny, Oserfan und Ajjar ebenso retteten, nötigenfalls mit einem erhöhten Risiko. Aber im gegenwärtigen Zeitpunkt war nichts mehr zu ändern oder zu beeinflussen; jeder war sich des Risikos voll bewußt gewesen, als sie von der SOL aufgebrochen waren. »Dieses Flekto-Yn …«, fing Zonza an. »Es war schauerlich. Besonders die Vorstellung, nicht zu wissen, wo wir uns eigentlich befanden. Im Linearraum, in einer anderen Dimension, zeitversetzt, in irgendeinem abenteuerlichen, mit den Sinnen nicht mehr zu erfassenden Universum …« Sie schauderte und schüttelte sich. In ihre großen Augen trat ein
seltsamer Ausdruck. Wieder strömten Hunderte Molaaten an ihnen vorbei und beachteten sie nicht. Sie hatten es eilig, und sie wußten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal, daß sie sich wieder auf Krymoran befanden. Aber jede weitere Stunde, besonders dann, wenn sie sich im Einflußbereich der neuen Heimat SOL befanden, würden sie ihre Benommenheit verlieren. Zonza und Razzu wußten, was sie dachten – ihnen war es nicht anders ergangen. »Ich war nicht dort, nicht im Bauwerk aus Nickel«, brummte Gynn unschlüssig. »Aber ich glaube dir. Verdammt! Wo bleiben Sanny und die anderen?« Pina und Susini bahnten sich einen Weg durch den nächsten Schwung Molaaten. Wieder versuchten die Teamkollegen, die Menge aufgeregter Flüchtlinge so schnell wie möglich durch die Korridore und über die Rampen zu schleusen. Noch immer waren Sanny und die beiden anderen im Flekto-Yn … das Warten zerrte an den Nerven. Das Funkgerät knackte. Cerbelins Stimme sagte: »Soeben ist der erste Kreuzer gelandet. Er setzte neben Siedlung Alpha auf. Ich höre, daß die Einschiffung in rasender Eile vor sich geht. Wo sie gelandet sind, ist es Nacht.« Gynn flüsterte: »Oserfan hat also vergeblich für die sogenannte Völkerverständigung plädiert. Wenn alle Molaaten weggeholt werden … wer soll den Krymoranern Ratschläge für kulturelle Fortentwicklung geben?« »Das bedrückt mich kaum«, gestand Gynn. »Wir waren jahrelang hier, und keiner dieser Schwarzpelze hat je das Wort an uns gerichtet … es gibt, bei allem Verständnis, weitaus wichtigere Probleme.« »So ist es.« Noch einmal meldete sich der Roboter, der in der Schlucht
stationiert war. Er stand wohl in ständiger Verbindung mit den Funkzentralen der Korvetten und Kreuzer, die durch den Ortungsschutzschirm drangen und sich ihre Landeziele aussuchten. Cerbelin sagte völlig ungerührt: »Soeben ist Atlan mit einem Kreuzer nahe der Transmitterschlucht gelandet. Aus zwei unterschiedlichen Richtungen rennen die Molaaten zur Schleuse. Aus dem Lager und aus der Schlucht.« »Also ist der Schluß unserer Aktionen auch hier abzusehen«, brummte Susini. In der SOL gab es ohne sonderlich große Schwierigkeiten Platz für fünfzigtausend Molaaten oder mehr. Versorgungsschwierigkeiten existierten laut der letzten Berechnungen schlimmstenfalls in unwichtigen Teilbereichen. Ob es möglich war, den Molaaten eine zufriedenstellende Heimat zu verschaffen, würde erst an Bord geklärt werden können. Und noch immer hatte Hidden-X nicht reagiert. »Hat Atlan irgendwelche Nachrichten für uns?« erkundigte sich Razzu über Funk beim Molaatenroboter. »Keine Nachrichten gespeichert. Er fragte nur nach Sanny, Oserfan und Ajjar.« »Strahle folgende Information ab: alle drei sind noch im Flekto-Yn. – Klar?« »Verstanden«, schloß Cerbelin. Der Strom der Molaaten aus der Ankunftshalle des Transmitters wurde zwar unwesentlich dünner, aber er riß nicht ab. Hunderte Molaaten, einander auf gespenstische Weise ähnlich, rannten keuchend und stolpernd an den wartenden Teammitgliedern vorbei. Vergebens versuchten Gynn und die anderen, zwischen ihnen Sanny und Ajjar und Oserfan zu entdecken, aber die drei befanden sich noch im Flekto-Yn. Gynn sprang von dem Gerät, warf einige Blicke auf die Trümmer der ausgeschalteten Wartungsroboter und hob dann den Arm. »Ich halte es nicht mehr aus«, stöhnte er und spurtete los. »Ich bin
draußen. He, Cerbelin! Ist es eigentlich Tag oder Nacht?« »Wir haben noch einhundertachtzehn Minuten Helligkeit bis zum Einbruch der definitiven Nacht.« »Gut.« Gynn erreichte den Eingang. Die Torflügel waren aus den Lagern gerissen; nicht anders als vor dem Einsatz der Bomben ausgerechnet. Überall sah er Molaaten. Viele von ihnen waren erschöpft, lagen im staubigen, verdorrten Gras der Schlucht und rangen nach Luft oder schienen die Kunstsonne als neuen Ausdruck der Freiheit zu genießen. Gynn rannte zwischen ihnen im Zickzack auf die Geröllhalde zu. Er sah, wie ein gigantischer Körper aus glänzendem Stahl hinter den Felswänden der Schlucht stand und im Widerschein der künstlichen Sonne schimmerte. Luken standen weit offen, zwischen ihnen und dem unsichtbaren Boden rasten schwere Gleiter hin und her. »Wir schaffen es tatsächlich …«, murmelte Gynn. Er sah aus weiter Ferne, wie Dutzende, Hunderte, Tausende von Flüchtlingen in das riesige Schiff gebracht wurden. Noch immer warteten sie auf Sanny und die zwei anderen. Der Rest des Teams befand sich auf Krymoran; sie hatten durchgezählt. »Cerbelin. Ich brauche eine Verbindung mit Atlan. Schaffst du's?« »Mit Schwierigkeiten. Ich versuche es und melde mich wieder.« Eine Korvette heulte, lange Kondensstreifen hinter sich herziehend, in mittlerer Höhe quer über die Schlucht und verschwand jenseits von Gynns Sichtbereich. Rechts und links von Gynn strömten Molaaten auf den Schuttberg zu und kletterten über die Brocken. Dann summte der Empfänger auf. »Hier Pina. Gynn?« »Ich höre. Schwierigkeiten?« »Ja. Zuletzt wurden es immer weniger im Transmitterraum. Dann kamen nur noch fünfzig Molaaten. Und jetzt bleibt die Plattform leer.«
»Verdammt«, schrie Gynn unbeherrscht. »Sanny?« »Niemand ist bis jetzt aufgetaucht.« Gynn blieb auf der Stelle stehen. Er ahnte, was diese Mitteilung bedeutete. Sanny, Oserfan und Ajjar waren entdeckt worden. Im Flekto-Yn; abgeschlossen und getrennt von jedem Bezug zur Wirklichkeit jetzt und hier. Hidden-X hatte eingegriffen. Die Transmitterstrecke zwischen dem Nickelbauwerk und Krymoran war unterbrochen. Mit Sicherheit für alle Zeiten.
* Sanny drehte die bezifferte Rändelschraube des Geräts, stellte einen Vorlauf von fünfzehn Sekunden ein und winkte Oserfan und Ajjar. »Hier. Schnell«, keuchte sie. »Wir sind allein. Letzte Chance.« Oserfan und Ajjar rannten die wenigen Meter bis zur Abstrahlplattform. Sanny drückte den Startknopf, des Zeitschalters und verließ ihren Posten am Terminal. Vom Rand der arbeitenden Fläche bis hierher waren es rund fünfundzwanzig Meter. Hinter ihr lief unhörbar die Uhr ab … die Spannung drohte übermächtig zu werden. Hidden-X dachte sie. Wann wird unsere Aktion bemerkt, wann geschieht etwas …? Noch während sie voller mühsam unterdrückter Panik nachdachte, reagierte der Herr des Flekto-Yns. Sämtliche Anzeigen erloschen. Batterien von unterschiedlichen Beleuchtungskörpern wurden abgeschaltet. Die Plattform schien zu veröden, als Sanny sie erreichte. Ihr Körper schien für einen Sekundenbruchteil zu versteinern. Sämtliche Empfindungen hörten auf. Ein Moment der Stille und Bewegungslosigkeit dehnte sich unendlich lang aus. Dann änderte sich die Szene.
Stille. Halbdunkel. Völlig veränderte Umgebung. Sanny stöhnte auf. »Wo … was ist … wir haben verloren.« Oserfan, Ajjar und sie befanden sich in einer kleinen Zelle, deren Wände aus poliertem Nickel bestanden. Es gab keinerlei Inventar, keine Türen, keine anderen Öffnungen, nur drei Gefangene und sechs glatte Flächen … aus Nickel. Oserfan sagte leise, mit Grabesstimme: »Wir sitzen fest. Wir waren wieder einmal zu gründlich.« Sanny seufzte tief auf und erwiderte resignierend: »Denke an deine Gefangenen auf Krymoran. Es gibt immer einen Hoffnungsschimmer. Im Moment scheint sich alles gegen uns verbündet zu haben.« Sie versuchte sich zu entspannen, setzten sich auf den glatten, kühlen Nickelboden und warteten. Sie konnten nichts anderes tun.
* Nach einer Wartezeit, die ihnen wie eine kleine Ewigkeit vorkam, tauchte Chybrain auf. Chybrain glühte stark. Sanny erfuhr von ihm, daß er ihr nicht helfen könnte. Noch während Chybrain diese seine Botschaft übermittelte, verwandelten sich die vier Wände der Zellen in Flächen, die rot und grün schimmerten. »Jenseitsmaterie«, hing ein Begriff in der Luft. Chybrain vermochte die Wände nicht mehr zu durchdringen. Vor den Augen Sannys löste er sich auf und verschwand. Sanny vermochte nicht zu erklären, ob er »tot« war oder nicht. Der nächste Schlag war so schnell gekommen, daß ihnen nichts anderes mehr blieb als die tiefste, schwärzeste Niedergeschlagenheit.
* »Schneller!« »Laßt euch nicht hetzen!« »Und ich will, daß nicht ein einziger auf diesem verdammten Planeten zurückbleibt!« Befehle schwirrten hin und her. Roboter und Besatzungsmitglieder, Gleiter und Transporteinheiten, Molaaten mit Megaphonen, Solaner mit Translatoren und Megaphonen rund um die gelandeten Schiffe entfesselten die Solaner ein Inferno. Allein schon die Geräuschentwicklung trieb die Molaaten zu Hunderten und Tausenden in die Schleusen. Atlan tat gleichzeitig zehn verschiedene Dinge. Ununterbrochen liefen Vollzugsmeldungen ein. Wieder ein Teil eines Lagers geräumt. Nachprüfen! Schickt Roboter hin! Schneller! Vergeßt die Roxharen nicht. Weiter. Wenn ihr etwa startet und auch nur einen einzigen Molaaten zurücklaßt, dann habt ihr in der SOL ausgesprochen üble Tage. Eine Korvette startete und ließ drei Space-Jets zurück, die über dem Gebiet des verlassenen Lagers kreisten und aus voll aufgedrehten Außenlautsprechern den Molaaten Verhaltensmaßregeln zubrüllten. Eine zweite Korvette startete, in sämtlichen Räumen befanden sich etwa dreitausend Molaaten. Der erste Schritt zur Freiheit war getan. Nur einmal hielt der Arkonide in seiner Tätigkeit inne. »Ich habe verstanden«, sagte er voller Betroffenheit. »Ich verspreche euch, daß wir alles tun werden, um sie herauszuholen. Aber jetzt ist diese Aktion wichtiger.« Die Siedlungen der Molaaten und die Höhlen, in denen die Roxharen hausten, waren verlassen. Wieder startete ein
vollbeladenes Schiff. Von allen Teilen des Planeten liefen binnen Stundenabständen die Meldungen ein, daß die Schiffe startbereit waren. In den Dunkelzonen sorgten wahre Lichtfluten aus den Batterien der Landescheinwerfer dafür, daß kein Molaate zurückblieb. Wo es noch Licht gab, überzog Atlan die Landschaft mit dem donnerartigen Brüllen der Befehle aus den Außenlautsprechern. Jets rasten über die Peripherie der Lager und versuchten, einzelne Molaaten zu finden und einzusammeln. Ein Schiff nach dem anderen startete, und nur die Korvette, in der Atlan alle Informationen aufnahm und verarbeitete, stand nahe der Schlucht. »Vergewissert euch«, sagte er in mühsam erzwungener Ruhe, »daß wir alle Teilnehmer des Sanny-Teams mitnehmen, und daß der Transmitter funktionsunfähig gemacht wird.« Die Kommandos der Solaner arbeiteten mit der gewohnten Zuverlässigkeit. Als das letzte Beiboot der SOL startete, waren alle überzeugt, daß es auf dem Dunkelplaneten nicht einen einzigen Fremden mehr gab.
* Als die Korvette eingeschleust war und sich die Schleusentore geschlossen hatten, meldete sich abermals der Gegner. Nur drei Personen an Bord der SOL hörten die laute, dröhnende Stimme von Hidden-X. Das Flekto-Yn ist trotz eurer Sabotageversuche fertig geworden. Ich habe meine Rache an euch vollzogen. Die folgende Zeit wird euch zeigen, wer der Herrscher ist. Drei neue Sklaven habe ich von euch erhalten – sie werden mir, ob sie wollen oder nicht, wertvolle Dienste leisten. Oserfan, Sanny und Ajjar … ihr habt schon jetzt verloren, Atlan.
Ich richte mein Wort nur an euch drei, denn ihr seid die wahren Schlüsselfiguren an Bord der SOL. Ihr habt euch gewehrt wie ein wahrer, qualifizierter Gegner. Und trotzdem war ich es, der gewonnen hat. Es gibt keine echte Chance gegen mich, Atlan, Breiskoll und Hayes. Meine Rache an euch werde ich auf meine Weise vollziehen. Und meine Rache wird euch vernichten.
ENDE
Die vielen tausend Sklaven des Hidden-X konnten von der Fünften Kolonne der Molaaten gerettet und in die Freiheit geführt werden. Doch auch dieser Teilsieg über den Gegenspieler der Solaner ging nicht ohne Opfer ab. Nun aber, bevor man den Kampf gegen Hidden-X fortführen kann, gilt es, den rund 100.000 befreiten Gefangenen den Start in eine neue Zukunft zu ermöglichen. Mehr zu diesem Thema berichtet Horst Hoffmann im nächsten Atlan-Band. Der Roman trägt den Titel: AUFBRUCH DER MOLAATEN