Brian Moore
Die Frau des Zauberers
Emmeline, jung und hübsch, lebt als Frau des mit Automaten und elektromagnetischen ...
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Brian Moore
Die Frau des Zauberers
Emmeline, jung und hübsch, lebt als Frau des mit Automaten und elektromagnetischen Kunststücken experimentierenden Zauberers Henri Lambert in der französischen Provinz. Als Napoleon III. die Eheleute 1856 an den Pariser Hof ruft und danach nach Algerien schickt, geraten sie ins Zentrum der politischen Macht; denn Lambert soll die Moslems durch seine Zaubertricks von der Überlegenheit der künftigen Kolonisatoren überzeugen. Emmeline hingegen kann diese Art von Betrug nicht akzeptieren…
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Brian Moore
Die Frau des Zauberers Roman Am dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes
Titel der 1997 bei Bloomsbury, London, erschienenen Originalausgabe: ›The Magician’s Wife‹ Copyright © 1997 by Brian Moore Umschlagillustration: Jean Portaels, ›Portrait d’une jeune Nord-Africaine‹, 1874 Foto: Musée des Beaux-Arts, Charleroi
Für Jean comme d’habitude
2004
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1998 Diogenes Verlag AG Zürich ISBN 3 257 061846
ERSTER TEIL Frankreich 1856
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Eins Der Colonel verließ das Haus um fünf Uhr. Als seine Kutsche zum Haupttor fuhr, legte Emmeline ihre Perlstichstickerei zur Seite, trat ans Fenster ihres Salons und schaute hinaus. Dieser Besucher war ihr ein Rätsel. Er mußte wichtig sein. Seit zwei Wochen hatte ihr Mann niemanden mehr empfangen, hatte sich in seine Werkstatt zurückgezogen und Anweisung gegeben, ihn nicht zu stören. Als sich die Kutsche des Colonels dem Tor näherte, ruckelte ein bunt bemalter, mechanischer Torhüter auf einer Stromschiene aus seinem Häuschen und berührte das Schloß. Das Tor schwang auf, der Automat hob steif den rechten Arm zum Gruß, und kaum war die Kutsche über den vorm Tor im Boden verborgenen Signaldraht gefahren, fiel das Tor langsam wieder zu. Während die Kutsche in einer Staubwolke auf der holprigen Straße in Richtung Tours verschwand, rumpelte der Automat zurück ins Wachhäuschen, während eine elektrische Klingel im Haus verkündete, daß der Besucher abgereist war. Bald darauf hörte Emmeline es erneut läuten. Sie schaute auf das Klingelbrett in ihrem Salon. Diesmal dürfte Jules gemeint sein. Er würde gleich nach oben kommen, um ihr zu sagen, daß der Herr sich nicht von seiner Arbeit freimachen und ihr daher beim Abendessen keine Gesellschaft leisten könne. Vor zwei Wochen war termingerecht eine neue Marionette aus der Werkstatt eingetroffen, in der sie die Handwerker ihres Mannes nach genauen Angaben gefertigt hatten. Doch irgend etwas stimmte mit dem Mechanismus nicht. Die Hand der Puppe, die mit einem Tintenstift auf einem Blatt Papier Silhouetten malen sollte, bewegte sich völlig willkürlich und 5
zeichnete sinnlose Kritzeleien. Ihr Mann hatte sofort damit begonnen, sie sorgsam, ja nahezu zwanghaft auseinanderzunehmen, wie er es stets tat, wenn mit einer seiner Marionetten etwas nicht stimmte. Dann war kaum mit ihm zu reden, und sie versuchte es auch gar nicht. Er verstand sich auch nicht länger als Zauberer. Er war jetzt Erfinder, ein Wissenschaftler. Doch würde ein echter Wissenschaftler seine Zeit damit vergeuden, mechanische Marionetten zu basteln? Am Brett über ihrem Kopf schrillte eine Klingel. Das würde Jules sein. Sie ging an ihren Sekretär und drückte auf einen Knopf. Die Tür öffnete sich automatisch. »Verzeihen Sie, Madame, aber Monsieur übermittelt Ihnen seine Grüße und läßt anfragen, ob Sie sich, falls es Ihnen genehm ist, in zehn Minuten im grünen Salon mit ihm treffen könnten?« »Sagen Sie ihm, ich komme.« Als Jules sich zurückzog, schloß der elektrische Hebelarm die Tür hinter ihm. Sie ging an ihren Frisiertisch, setzte sich vor den dreiteiligen Spiegel und begann, ihr Haar zu bürsten. Sie legte größten Wert darauf und kämmte sich dreimal am Tag, strählte ihre lange, dichte Mähne und zählte die Bürstenstriche. Sie tat es nicht für ihn. In letzter Zeit fragte sie sich manchmal, ob es ihm überhaupt auffiel, daß sie nur noch zu jenen seltenen Anlässen Mascara oder Rouge auftrug, wenn sie zum Essen ausgingen. Doch was hatte es selbst dann für einen Sinn, sich herauszuputzen und schön zu machen? Es war doch immer dasselbe: Sobald sie einen Raum betraten, waren alle Augen auf ihn und nur auf ihn gerichtet, auf den berühmten Henri Lambert. Darf ich Sie fragen, Madame Lambert, wie es ist, mit einem großen Zauberer verheiratet zu sein? Ist es nicht aufregend, an der Seite eines solchen Mannes zu leben? 6
Anfangs war es tatsächlich aufregend gewesen. Emmeline hatte sich gefreut, Rouen gegen die Vergnügungen von Paris einzutauschen. Sie wohnten im siebten Arrondissement in einem möblierten Appartement, ein Geschenk eines Verehrers, so hatte Henri erzählt. Außerdem besaß er ein Atelier in Neuilly, in dem drei Handwerker mit der Herstellung und dem Bemalen von Automaten und elektrischen Apparaten beschäftigt waren, und in der Nähe des Palais Royal gehörte ihm ein kleines Theater, in dem er zu jeder Saison seine soirées fantastiques gab. In den ersten beiden Ehejahren nahm er sie auf zwei Auslandstourneen mit; die eine führte nach Berlin, die andere nach Madrid. Emmeline hatte sich gefreut, diese Städte kennenzulernen, und gehofft, noch viele andere zu sehen. Doch nach ihrer ersten Fehlgeburt entschied Lambert, daß er sein Pariser Theater nicht mehr benötigte und daß er auch nicht mehr im Ausland auf Tournee gehen wollte. »Ich habe mir längst einen Namen als Künstler gemacht«, sagte er. »Jetzt wird es Zeit, mich stärker meinen Erfindungen zu widmen. Und deshalb habe ich beschlossen, Liebste, mit meinen Bediensteten und allem Komfort in einem Haus auf dem Land zu leben, wo wir unsere Kinder aufziehen können und ich ungestört zu arbeiten vermag.« Sogleich kaufte er auf seine ihm eigene, geheimnistuerische Art dieses Landhaus außerhalb von Tours und richtete es ein, ohne ihr vorher auch nur das Gut zu zeigen. Als sie daher zum ersten Mal das Manoir des Chênes in dem Wissen betrat, daß dies nun ihr Zuhause sein würde, war sie zugleich froh, beunruhigt und enttäuscht. Froh, weil die Zimmer größer und prächtiger als die Zimmer im Haus ihrer Eltern waren, beunruhigt wegen der vielen seltsamen Apparaturen und enttäuscht, weil das Haus an der Landstraße nach Tours lag, 7
einer langweiligen, von Paris weit entfernten Stadt. Es war, so dachte sie, eigentlich kein Landhaus, sondern ein Theatermuseum. In nahezu allen Räumen befanden sich elektrische Vorrichtungen, ein großes Puppentheater mit beleuchteter Bühne stand in der Eingangshalle, und an den Wänden hingen die Portraits von Zauberern vergangener Zeiten sowie große, gerahmte Plakate von Lamberts Galavorstellungen vor der Königin von England, der Zarin von Rußland, vor König Louis Philippe und Kaiser Napoleon III. Außer dem Geläute und dem Ticken von zweiundvierzig Uhren erklang auch unablässig ein elektrisches Glockenspiel in den verschiedensten Tonfolgen, die dem Herrn des Hauses verrieten, daß ein Besucher gekommen oder gegangen war, daß ein Bediensteter ein gewisses Mahl zubereitete, die Gärtner an einer bestimmten Stelle auf dem Gut arbeiteten, die Morgenpost eingetroffen oder abgesandt worden war, oder daß die elektrischen Grotten und Installationen angegangen waren, weil jemand sich ihnen genähert hatte. Von seinem Arbeitszimmer im verliesartigen Keller aus kontrollierte und beobachtete Lambert all diese Vorgänge. Jetzt, wenige Augenblicke, nachdem Jules sie verlassen hatte, schlugen die Uhren überall im Haus die Viertelstunde. Sie eilte aus ihrem Salon und hastete die Haupttreppe ins ebenerdige Empfangszimmer hinunter. Beim Eintreten schaute sie sofort auf die Uhr über dem Kamin, die absichtlich so plaziert war, daß sie jeden erstaunte, der sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Von Glas umschlossen und anderthalb Meter hoch, ging sie auf die Sekunde genau. Henri lebte auf die Sekunde genau. Sie wußte, daß er in weniger als einer Minute im Türrahmen stehen würde. »Emmeline!« Wie stets glich sein Erscheinen einem Auftritt; er breitete die 8
Hände aus, als wollte er sie umarmen, und drehte dabei die Handteller nach oben, damit man sehen konnte, daß er nichts zu verbergen hatte. Wenn er daheim arbeitete, trug er normalerweise eine alte Samtjacke über einem offenen Hemd und einer karierten Hose, die er sich in einem Laden besorgte, der Arbeitskleidung für Köche und Küchenpersonal verkaufte. Doch heute war er wie zu einer Vorstellung angezogen, trug einen dunklen Frack, eine weiße Leinenweste, ein Hemd mit rotem Seidentuch sowie eine enge Hose aus dunkelgrauer Wolle. Mit ebendieser Kleidung war er als der erste Zauberer berühmt geworden, der nicht in prunkvollen orientalischen Gewändern oder extravaganten Bühnenkostümen, sondern als ein distinguiert angezogener Herr auftrat, der sich von den Menschen in seinem Publikum kaum unterschied und deshalb erst recht geheimnisvoll und wie ein Hexenmeister wirkte. Und siehe da, schon fuhr seine schlanke weiße Hand in die Innentasche seines Fracks, zauberte eine golden bedruckte Einladung hervor und hielt sie ihr hin. »Wir fahren nach Compiègne, meine Liebe.« »Nach Compiègne?« »Ja. Wir sind für die letzte Oktoberwoche zu einer série eingeladen.« Zu einer série? Der Kaiser pflegte ausgewählte Gäste zu einer Woche Jagdpartien und rauschender Feste einzuladen, alle Welt hatte von diesen prachtvollen Veranstaltungen gehört, in Paris waren sie in aller Munde. Wollte Henri eine Vorstellung geben, das mußte es wohl sein. Doch warum ich? »Warum sollte ich eingeladen werden, Henri, wenn du dort eine deiner Vorstellungen gibst? Vor Aristokraten, wichtigen Leuten. Mich wollen die dort nicht sehen.«
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Er reichte ihr die Karte mit den Goldbuchstaben. »Lies.« Sie starrte auf die verschnörkelte Zierschrift:
Maison de l’Empereur Palais des Tuileries, 20 octobre 1856 Monsieur, Madame Henri Lambert Monsieur, auf Anweisung des Kaisers habe ich die Ehre, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Sie hiermit ebenso wie Madame Henri Lambert eingeladen sind, sieben Tage, als da sind die Tage vom zweiundzwanzigsten November bis zum achtundzwanzigsten November, im Palast zu Compiègne zu verbringen. Am zweiundzwanzigsten November werden bei Ankunft des Zuges, der Paris um zwei Uhr dreißig verläßt, Hofkutschen auf Sie warten, um Sie zum Palast zu bringen. Seien Sie, werter Herr, Hochachtung versichert.
meiner
außerordentlichen
Vicomte de Laferrière Grand Chambellan »Die Einladung ist an uns beide gerichtet. Und ich bin keineswegs gebeten worden, eine Vorstellung zu geben. Man hat mir gesagt, daß der Kaiser mich in einer Angelegenheit von 10
nationaler Bedeutung sprechen möchte.« Sie starrte ihn an. »Wovon redest du?« »Mehr kann ich dir nicht sagen – jedenfalls jetzt noch nicht. Es ist alles höchst vertraulich.« »Aber Henri, ich kann da nicht hin. Ich hätte schreckliche Angst.« Er wandte sich von ihr ab, ging ans Fenster und sah die Auffahrt hinunter. Er besaß die Angewohnheit, in Schweigen zu versinken, wenn er sich ärgerte. »Das ist doch bestimmt ein Versehen, Henri. Nicht wahr?« »Das ist kein Versehen. Es ist eine große Ehre, verstehst du? Alle – die oberen Zehntausend, Adlige, Millionäre, Künstler, sie alle träumen davon, nach Compiègne eingeladen zu werden. Und du beklagst dich doch immer, wie langweilig es hier sei! Dies ist die Chance deines Lebens. Wir werden die persönlichen Gäste von Napoleon III. sein. Und die Gäste der Kaiserin! Eine ganze Woche lang!« »Eine Woche? Was sollen wir denn anziehen? Wir gehören einfach nicht in diese Kreise.« »Keine Angst. Colonel Deniau hat mir freundlicherweise eine Liste all der Sachen überreicht, die wir für unseren Aufenthalt benötigen. Ich werde mir eine Hofgarderobe schneidern lassen müssen. Und du wirst mindestens zwanzig Kleider brauchen. Für die Damen gilt, daß sie sich unter keinen Umständen zweimal im selben Kleid zeigen. Das wird eine herrliche Zeit, Emmeline. Man wird für unsere Unterhaltung sorgen, wir werden unter der crème de la crème lustwandeln und abends in Gesellschaft Ihrer Majestäten speisen.« »Aber wir gehören nicht … Ich will einfach nicht! Außerdem würde es ein Vermögen kosten! Und meine Schneiderin kann 11
mir nichts Anständiges nähen. Ich müßte nach Paris fahren, aber dafür habe ich überhaupt keine Zeit. Und was soll ich in Compiègne den ganzen Tag unter all den adligen Damen, die mich doch nur geringschätzig anstarren würden? Und du, in deinem Hofstaat, dinierst mit Grafen und Marquisen. Da haben wir nichts verloren, Henri. Wir müssen absagen, erfinde irgendeine Ausrede.« »Unsinn! Was soll das heißen, wir hätten dort nichts verloren? Ich habe schon so manchen König kennengelernt; ich war in den Tuilerien, der Kaiser kennt mich …« »Aber doch als Künstler, nicht als Gast!« »Ich bin nicht als Künstler eingeladen, Emmeline. Ich wurde gebeten, etwas für mein Land zu tun, etwas von höchster Wichtigkeit. Allein deshalb will mich der Kaiser sehen. Man versucht, mich zu überreden.« »Wozu will man dich überreden?« »Ich erzähle es dir, falls ich mich entschließe, den Auftrag anzunehmen. Aber jetzt hör mir zu. Als Colonel Deniau diese Angelegenheit vor etwa zwei Monaten, also gegen Ende August, zum ersten Mal erwähnte, da ist er eigens deswegen hergekommen, weißt du noch?« »Nein, das weiß ich nicht. Ich habe ihn nie gesehen; du hast mich nie vorgestellt. Und heute habe ich ihn auch nur von hinten gesehen, als er fortging. Wer ist er denn überhaupt?« »Er ist der Leiter des Bureau arabe, Frankreichs politischer Dienstbehörde in Nordafrika. Jedenfalls habe ich ihm im August seine Bitte abgeschlagen. Ich hatte hier viel zu tun, und meine Entscheidung stand sofort fest. Doch jetzt kommen sie mit dieser Einladung. Offenbar will nun der Kaiser persönlich versuchen, mich zu überreden.« 12
»Der Kaiser?« »Ja! Stell dir vor, Napoleon III. macht mir den Hof. Und was deine Angst betrifft, du könntest dich unbehaglich fühlen, so denke daran, daß man dich als Frau eines Erfinders behandeln wird, und der ist ebenso hoch angesehen wie ein Bildhauer, ein Schriftsteller oder sonst eine der prominenten Persönlichkeiten, die bei diesen séries zu Gast sind.« Sie schaute ihn an, wie er dort am Fenster stand, die Hand zwischen die Knöpfe seiner Weste geschoben, wie es der von ihm bewunderte Bonaparte stets getan hatte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als stünde er auf der Bühne und lauschte auf eine Frage aus dem Publikum, sein Lächeln, seine sanfte Stimme, die sie ablenken, die sie ihre Ängste vergessen lassen wollte. Doch natürlich ging es nicht darum, wie man ihn behandeln würde, sondern darum, wie sie eine Woche in Compiègne überstehen sollte, eine Woche des Errötens, der abschätzigen Blicke, der Peinlichkeiten, wenn sie nicht wüßte, was sie sagen sollte. »Ich habe von den séries in Compiègne gelesen«, sagte sie. »Und es ist allgemein bekannt, daß man seine Bediensteten mitbringt. Ich würde eine Zofe brauchen. Kannst du dir Thérèse in dieser Rolle vorstellen? Sie hat nicht einmal die nötige Zofentracht. Und soll Jules etwa dein Kammerdiener sein? Hör auf mich, Henri. Sag ihnen, daß ich krank bin. Schreib, daß du allein kommst. Wenn sie so versessen darauf sind, dich für sich zu gewinnen, dann wird es ihnen doch nichts ausmachen, wenn ich daheim bleibe. Außerdem würde es viel billiger sein. Hast du eine Ahnung, was dich all diese Kleider kosten würden, wenn ich sie bei einer Pariser Schneiderin anfertigen ließe?« »Keine Angst«, sagte er. »Ich komme schon dafür auf. Und für die Reise kannst du dir eine Zofe anstellen. Jules werden wir entsprechend herausputzen.« 13
»Das ist doch erst der Anfang …« »Jetzt höre mir zu, Emmeline. Wir werden folgendes machen: Ich schicke dich unverzüglich nach Paris. Madame Cournet wird dich unter ihre Fittiche nehmen; sie kennt sich in diesen Dingen aus. Ich habe stets ihren Rat eingeholt, wenn ich bei Hofe auftrat. Sie wird dir eine Schneiderin suchen, eine Zofe, was immer du brauchst. Allerdings wirst du für die Dauer der Anproben in Paris bleiben müssen.« »In Paris? Aber das kann Wochen dauern.« »Wir werden am zweiundzwanzigsten nach Compiègne fahren. Das ist in genau vier Wochen, du hast also Zeit genug. Ein Monat in Paris, das wird wie Ferien für dich sein. Du beschwerst dich doch immer, wie langweilig es hier ist.« »Dann würde ich dich also vier Wochen lang nicht sehen?« »Ich weiß nicht. Vielleicht komme ich für ein, zwei Tage nach Paris, doch in der Zwischenzeit muß ich mich hier um meine Arbeit kümmern. Also, was meinst du? Glaubst du, daß du morgen schon fahren kannst? Dann würde ich nämlich gleich die Droschke bestellen, die dich zum Bahnhof bringt. Der Zug nach Paris fährt um zwölf Uhr mittags.« »Und wenn ich sage, daß ich nicht fahren will?« »Meine Liebe, ich habe die Einladung bereits in unser beider Namen angenommen. Morgen wird Colonel Deniau dem Grand Chambellan meinen Dank übermitteln. Wir müssen also fahren, Emmeline; ich kann dir keine Wahl lassen.« Sie fühlte sich den Tränen nahe, als sie hörte, wie er nach Jules läutete. »Möchtest du heute abend mit mir zusammen essen?« fragte er. »Ich bin zwar im Augenblick mit meiner Arbeit in einer heiklen Phase, aber da du morgen fährst …« »Nein, ich werde auf meinem Zimmer essen. Wenn ich 14
morgen wirklich abreisen soll, habe ich noch allerhand zu packen.« Er ging auf sie zu. Sie hielt die Tränen zurück, drehte sich aber nicht nach ihm um. Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf den Nacken. »Du bist ein Engel«, sagte er. »Was würde ich nur ohne dich anfangen?« Der Kaiser. Die oberen Zehntausend. Das Zweite Kaiserreich. Alle Welt redete von diesem neuen Paris. Im vorletzten Jahr hatte Emmeline an einem Septemberabend in der Rue de Rivoli in einer Zuschauermenge gestanden und die lange Reihe der Kutschen bestaunt, die in den Hof des Palais des Tuileries rollten. Aus diesen Kutschen sah sie Herren in Kniehosen und Seidenstrümpfen steigen, Offiziere in ordengeschmückten Paradeuniformen, die Damen in bauschigen Krinolinen, die Brüste nahezu unbedeckt, Hals und Arme mit Perlen, Rubinen und Diamanten geschmückt. Während die Gäste im Schutz einer Markise zur Eingangshalle des Pavillon de l’Horloge wandelten, machte sie eine Frau in der Menge auf die beiden berühmten Schönheiten, die Duchesse de Pourtales und die Marquesa de Contadades, aufmerksam. Die Schweizer Garde mit ihren Hellebarden und Helmbüschen stand stramm. Es war ein Anblick, den Emmeline niemals vergessen würde, ein Anblick, den sie an jenem Abend genossen hatte, als würde sie Theaterschauspieler bei einem Kostümreigen bewundern, als werfe sie einen Blick auf die große Welt, die sie kennenlernen würde. Und nun hatte ihr Mann diese Welt plötzlich betreten. »Mein liebes Kind«, sagte Madame Cournet lächelnd. »Falls Sie sich Gedanken machen, wie man Sie empfangen wird, dann 15
vergessen Sie nicht, daß Ihre Kleider von Monsieur West entworfen wurden, und das allein zählt. Compiègne ist eine Modenschau. Doch mit einer Garderobe von West erkennt man in Ihnen sofort die Dame von Rang. Er ist kein Schneider, er ist ein Künstler. Selbst die Kaiserin wird von ihm eingekleidet.« »Die Kaiserin?« fragte Emmeline. »Aber dann wird es ein Vermögen kosten.« Madame Cournet lächelte und tippte sich mit der silbernen Lorgnette, die sie handhabte wie eine Lehrerin ihren Zeigestock, an die Nase. »Nicht gerade ein Vermögen«, erwiderte sie. »Aber eine Originaltoilette, wie Monsieur West sie für die Damen der séries entwirft, wird Ihrem Gatten schon ein nettes Sümmchen abverlangen. Übrigens ist es de rigueur, sich dreimal am Tag umzuziehen. Also brauchen Sie acht Kleider, inklusive einer Reisegarderobe, sieben Ballkleider und fünf Teekleider. Doch der Aufwand lohnt sich. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie nach der neuesten Mode gekleidet sein werden.« »Da muß ich meinen Mann fragen«, sagte Emmeline, und ein Funke Hoffnung blitzte in ihr auf. Zwanzig Kleider vom Modeschöpfer der Kaiserin? Vielleicht würde Henri doch noch Vernunft annehmen. »Das dürfte nicht nötig sein«, sagte Madame Cournet. »Monsieur Lambert gab mir bereits die Erlaubnis, einen Termin für Sie zu vereinbaren. Sie werden am Donnerstag um drei Uhr in Monsieur Wests Villa in Suresnes erwartet. Glauben Sie mir, dieser Nachmittag wird einer der schönsten Ihres Lebens. Welch ein Geschmack, was für ein Künstler! Sie werden bezaubert sein.« Als Emmeline mit Madame Cournet am Donnerstag um genau drei Uhr nachmittags die Villa im Vorort von Paris 16
betrat, trug sie nebst Mantel und Hut ihr bestes Kleid und wurde von einem Dienstboten in ein Empfangszimmer geführt, das vor goldbordierten Sesseln, goldenen Spiegeln, bestickten Kissen sowie kleinen, mit Nippes und Fotos in silbernen Rahmen beladenen Tischen nur so strotzte. Man bat sie, auf einem großen, roten Satinsofa Platz zu nehmen. In einem Nebenzimmer verspritzte ein Brunnen unablässig einen Strahl Eau de Cologne und verbreitete einen süßen, doch durchdringenden Geruch. Zehn Minuten später trat Monsieur West in Begleitung dreier junger Assistenten auf. Er war ungeheuer dick, sprach Französisch mit einem englischen Akzent, so daß Emmeline ihn kaum verstand, und trug ein weites Seidenwams zu einer schwarzen Samthose und einem riesigen Samtbarett, das ihm übers rechte Auge fiel. Er nannte sich selbst einen Künstler, und nachdem er Emmeline wie ein Möbelstück inspiziert hatte, fertigte er in der folgenden Stunde Skizzen und Aufzeichnungen an, nach denen in den nächsten Wochen Kleider für den Vormittag aus grauem Samt, schwarzem Samt oder dunkelblauem, mit Zobelfell besetztem Popelin entstehen sollten. Dann waren da noch die Zobelfellund Chinchillahüte, dazu die passenden Mäntel, fünf Gewänder für den Nachmittag sowie sechs üppige Abendgarderoben; und jedes Kleid, jeder Mantel und jeder Rock ließ auf je eigene Weise erkennen, daß es sich hierbei zweifellos um das einzigartige Werk eines Künstlers der haute couture handelte. Alle Abendkleider hatten eine Krinoline, so daß Emmeline üben mußte, sich in ihnen zu bewegen, da sie keineswegs einfach zu tragen waren. Außerdem mußte sie unter den weiten Reifen Hosen anziehen. Und da ihr die entsprechenden Schmuckstücke fehlten, die Monsieur West für unerläßlich hielt, führte Madame Cournet sie zu einer diskreten Boutique, die ihr gegen ein enormes Pfand für einen Monat Fächer, Armreifen und 17
Stirnbänder lieh. Als die Toilette schließlich beisammen war, stellte Madame Cournet für die Woche in Compiègne eine Frau namens Françoise ein, die dreißig Jahre im Haushalt des Comte de Maine als Zofe der Gräfin in Diensten gestanden hatte. Diese alte, ebenso unterwürfige wie gestrenge Frau versetzte Emmeline nur noch mehr in Unruhe, während sie in der Nacht auf den zweiundzwanzigsten November in ihrem Bett im Hotel Montrose lag und der Ankunft ihres Mannes am nächsten Morgen entgegensah, jenem Tag, an dem die série beginnen sollte. »Die Dienstboten werden in einem separaten Abschnitt des Zuges reisen«, hatte Madame Cournet erklärt, »doch obliegt es Ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, daß sie und Ihr Gepäck eine Stunde vor Abfahrt am Bahnsteig sind.« So brachte Emmeline im eleganten Reisekostüm des Monsieur West die alte Frau am Morgen des zweiundzwanzigsten November zur Gare du Nord, vor deren Eingang Jules stand – der in seiner neuen Uniform recht unbehaglich dreinschaute – und vier Koffer sowie sechs große Holzkisten bewachte, in denen die Krinolinen untergebracht waren. Sobald die Gepäckträger gerufen waren, folgten die beiden Bediensteten dem Gepäck in den Bahnhof, während Emmeline am Eingang zurückblieb, da sie nicht als erster Gast eintreffen wollte. Als sie schließlich gegen zwei Uhr hineinging, sah sie gleich auf Bahnsteig eins unter einem Schild mit der Aufschrift Extra et Impérial einen eleganten Zug warten, dessen Waggons der napoleonische Adler schmückte. Neben dem Schild stand ein Herr, der, als er sie näher kommen sah, sich als Vicomte Walsh vorstellte, seines Zeichens kaiserlicher Kammerherr. Sie sah sich genötigt, ihm anzuvertrauen, daß ihr Mann noch nicht eingetroffen war. 18
»Aber es ist doch noch früh, Madame. Möchten Sie, daß ich Sie zu Ihrem Platz begleite? Ich werde ihm ausrichten, wo Sie zu finden sind.« Er half ihr in den Zug und brachte sie in einem großen Salonwagen unter, der mit bequemen Sesseln und Tischen ausgestattet war, auf denen einige illustrierte Journale lagen. Sie bedankte sich und blieb allein und ein wenig verlegen bis Viertel nach zwei Uhr dort sitzen, als sich plötzlich die vorderen sieben Waggons der ersten Klasse mit Herren in Morgengarderobe und Damen in Reisemänteln und Hüten zu füllen begannen. Man schien sich bereits zu kennen, da viele sich zunickten und Bemerkungen über Bekannte austauschten, über Empfänge, Bälle und andere Dinge, von denen Emmeline nichts wußte. Ihre Verlegenheit steigerte sich zur Panik. Wo blieb Henri? Um genau fünfundzwanzig Minuten nach zwei stieß die Lok einen durchdringenden Pfiff aus. Und als hätte er es so geplant, spazierte im selben Moment Lambert auf den Bahnsteig. Er blieb stehen, um den kaiserlichen Kammerherrn etwas zu fragen, kam, sobald er das Abteil betrat, auf Emmeline zu und küßte sie höflich auf beide Wangen. Er hatte sie seit einem Monat nicht gesehen, doch seine ersten Worte waren: »Wo ist Jules?« »Er ist im Zug, aber die Dienstboten sind in einem anderen Teil des Zuges untergebracht.« »Hat er mein Portefeuille dabei?« »Was für ein Portefeuille?« »Es sieht wie eine Künstlermappe aus, eine Zeichenmappe, du weißt schon. Du hast sie oft auf der Bühne gesehen.« »Meinst du die Mappe, aus der du Dinge hervorzauberst?« »Genau die. Sie dürfte kaum zu übersehen gewesen sein, wenn 19
sie bei meinem Gepäck war.« »Wir haben so viel Gepäck, da ist mir die Mappe nicht aufgefallen.« »Nun, und wo sind die Gepäckwagen?« »Dafür haben wir keine Zeit mehr, Henri. Der Zug fährt gleich ab. Sieh doch, die Türen werden bereits geschlossen.« Widerstrebend setzte er sich ihr gegenüber, nachdem er zuvor den übrigen Herren und Damen im Waggon zugenickt hatte, Fremde, die sein Nicken höflich und kühl erwiderten. Um zwei Uhr dreiunddreißig verließ der kaiserliche Zug mit einem zweiten, durchdringenden Signal den Bahnhof. Das Portefeuille? Sie saß da und wrang verzweifelt ihre Handschuhe. Er hat mich angelogen. Er will doch eine Vorstellung geben. Wir sind nicht als Gäste geladen, sondern als Zauberer mit Frau. Sie beugte sich vor. »Was hat es mit diesem Portefeuille auf sich?« fragte sie flüsternd. »Du hast doch gesagt, so etwas bräuchtest du nicht.« Er lächelte und kehrte seine schmalen Handflächen nach oben. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt, Liebling. Doch Colonel Deniau hielt es für eine willkommene Geste, sollte ich mich an einer der Abendunterhaltungen beteiligen wollen.« Und als hätte er gespürt, daß die anderen Reisenden im Waggon seiner Unterhaltung lauschten, wandte er sich zu ihnen um und sagte: »Entschuldigen Sie, aber wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Dies ist unser erster Besuch in Compiègne. Man hat mir gesagt, man erwarte von uns Gästen, daß wir uns während der série gegenseitig unterhalten. Ist das nicht so?« Einer der Herren, dessen Anzug von englischem Schnitt war und dessen rechtes Augenlid auf eine Weise herabhing, die ihm 20
ein wahrhaft bösartiges Aussehen verlieh, nickte und sagte: »Ja, das stimmt. Ich muß Sie allerdings warnen, diese Abendunterhaltungen sind über die Maßen langweilig. Sind Sie nicht Lambert? Ich habe Sie auf der Bühne gesehen.« »Henri Lambert. Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?« »Meine Hochachtung, Madame. Ich muß schon sagen, ich bin überaus zuversichtlich, daß wir uns mit Ihrem Mann in unserer Mitte ausgezeichnet unterhalten werden.« Emmeline spürte, wie sie rot anlief. Ganz wie sie befürchtet hatte: Alle übrigen Anwesenden im Waggon waren Adlige, die ihr mit jedem Blick warnend anzudeuten schienen, daß sie trotz Madame Cournets Unterweisungen und Monsieur Wests vollendeter Toilette ausgeschlossen blieb, die Tochter eines Arztes eben, die in einem Konvent in Rouen mehr recht als schlecht erzogen worden war, die Frau eines Mannes, der trotz Ruhm und aller Ambitionen bloß ein Bühnenkünstler blieb. Genau eineinhalb Stunden nach Abfahrt des kaiserlichen Zuges von der Pariser Gare du Nord traf man im fünfundfünfzig Meilen entfernten Compiègne ein. Als die Passagiere den Bahnhof verließen, wurden sie von zahlreichen Stadtbewohnern und Zuschauern erwartet, die sich versammelt hatten, um jene edlen Damen und Herren, jene Diplomaten, Künstler und ausländischen Würdenträger zu betrachten, die vom Kaiser zur letzten série des Jahres geladen worden waren. Emmeline, die sich vor der Novemberkühle tief in ihren neuen Reisemantel verkroch, sah den hin und her hastenden Dienstboten zu, die das Verladen von Dutzenden von Reisekoffern auf Gepäckkarren überwachten. Am Bahnhofseingang standen hintereinander gereiht zehn Kremser, die dunkelgrünen Kutschkästen rot umrandet, jeder Wagen von vier Pferden 21
gezogen. Auf den Leittieren hockten Postillione in kurzen roten Samtjacken und schwarzen Samtkappen über weißen Perücken, deren mit schwarzen Schleifen gebundene Zöpfchen auf und ab wippten, wenn die Postillione in die Hörner stießen und die Peitschen knallen ließen, während die Kremser durch die stille Stadt Compiègne rumpelten. Nach den Kremsern kamen die Wagen der Dienstboten und zuletzt die Gepäckkarren, auf denen Berge von Koffern hin und her schwankten. Sobald die Prozession das Kopfsteinpflaster der Stadt hinter sich gelassen hatte, fuhren die Kutschen über die Straßen und Wege eines weitläufigen, herrschaftlichen Jagdwaldes, in dem an jeder Biegung rot bemalte Schilder zum Schloß von Compiègne wiesen. Und als sie schließlich auf den Haupthof des Schlosses einbogen, starrte Emmeline zu den riesigen Gebäuden aus dem achtzehnten Jahrhundert, den Flügeln, Türmen und einer Unzahl von Fenstern empor. »Wie schön, wie wunderschön«, sagte ihr Mann und wandte sich mit zufriedenem Lächeln zu ihr um, während die Postillione die Pferde abrupt vor den Eingangsbögen zum Stehen brachten. »Was für ein schöner Ort, um dort eine Woche zu verbringen!« Doch Emmeline starrte unbehaglich auf die große steinerne Treppe, auf der eine Reihe Dienstboten warteten, um den Gästen beim Aussteigen behilflich zu sein, Dienstboten, deren Livreen und gepuderte Perücken ihr jenen Abend vor zwei Jahren in Erinnerung riefen, als sie unerkannt in der Menge vor den Tuilerien stand und ihren ersten Blick auf diese verwirrende Welt geworfen hatte. Jetzt mußte sie mit den übrigen Gästen aussteigen und so tun, als gehörte sie dazu, während sie auf den Grand Chambellan zugingen. Nach einer förmlichen Begrüßung überließ er sie dem Zeremonienmeister, der sie durch eine Anzahl prachtvoller, ebenerdiger 22
Empfangsräume in einen langgezogenen Saal brachte, wo eine Vielzahl von Kammerdienern darauf warteten, sie auf ihre Zimmer zu geleiten. Als Emmeline dem ihnen zugeteilten Kammerdiener folgte, sah sie Lambert einem gutaussehenden Colonel mit vernarbtem Gesicht, militärischem Schnauzer und sonnengebräunter Haut zuwinken. »Wer ist das?« »Das ist Colonel Deniau. Ich werde dich nachher vorstellen.« »Er hat all dies eingefädelt, nicht wahr?« »Ja, das habe ich dir doch schon erzählt. Er ist hier mein Mittelsmann.« Sie musterte den Colonel, während der Kammerdiener sie zu einer breiten Marmortreppe komplimentierte, die zu den oberen Stockwerken des Schlosses führte. Am Fuße dieser Treppe reichte ein zweiter Kammerdiener jedem ankommenden Gast eine mit einem gelben Band verzierte, numerierte Karte. Dann folgte sie mit ihrem Mann dem ihnen zugewiesenen Kammerdiener die Treppe hinauf. Im ersten Stock trennten sich einige Gäste von ihnen, darunter auch der Colonel, um in diverse Flure geführt zu werden. Dieser Vorgang wiederholte sich, sobald sie in den zweiten Stock gelangten. Emmeline fiel auf, daß die Zimmer, zu denen diese privilegierten Gäste geleitet wurden, offenbar Suiten waren, zumeist mit Blick auf den Park. Die übrigen Gäste mußten eine weitere Treppe zum oberen Stock des Schlosses hinaufsteigen. Mit dem einzig noch verbliebenen Paar erklommen Emmeline und Lambert schließlich die letzte Stiege zu einigen Zimmern unmittelbar unter dem Dach. Unterwegs zischte die Dame vor Emmeline ihrem Mann verärgert zu: »Du mußt dich beschweren, Théophile, das ist wirklich eine Schande.«
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»Bitte, Florence, ich kenne mich da aus. Die Zuweisungen erfolgen nach einem Plan. Den können wir jetzt unmöglich noch ändern.« Ihr Kammerdiener führte sie zu einer Tür. Daran hing an einem gelben Bändchen eine weiße Karte ähnlich jener, die ihnen zuvor ausgehändigt worden war. In eleganter Schrift standen darauf eine Nummer und ihre Namen. Der Kammerdiener hielt ihnen die Tür auf und führte sie in eine kalte Mansarde mit schrägen, holzgetäfelten Wänden und einem Ausblick auf Türmchen und Dächer. Der angrenzende zweite Raum war ein kleines, dunkles Schlafgemach. Als Emmeline hineinging, um Hut und Mantel abzulegen, rief ihr Mann aus dem Wohnzimmer: »Ich schätze, das Zimmer wird für uns beide zu klein sein. Ich schlafe lieber hier auf dem Sofa.« Er war diskret wie immer. Es klopfte. Drei Soldaten der königlichen Wache traten ein und brachten ihre Koffer sowie die großen Kisten mit den Krinolinen, die fast den ganzen freien Raum im Wohnzimmer in Beschlag nahmen. Lambert griff gleich nach seinem Portefeuille, schlug es erleichtert auf und stellte es dann an die Wand. »Man wird Ihre Dienstboten umgehend zu Ihnen heraufschicken, Monsieur«, sagte der Kammerdiener. »Außerdem möchte der Grand Chambellan Sie daran erinnern, daß um sieben Uhr dreißig zu Abend gegessen wird und der Kaiser und die Kaiserin Sie um sieben Uhr in der grande salle des fêtes begrüßen.« Die Tür schloß sich. Sie sah, wie Henri im vorderen Zimmer im Kamin herumstocherte. »Hier ist es eiskalt«, sagte sie. »Das sind bestimmt die Mägdezimmer.« 24
Er tat, als hätte er sie nicht gehört. Sie fühlte sich benommen und setzte sich aufs Bett. Ihre Nerven, das wußte sie, aber das Wissen half nichts. Madame Cournet hatte ihr gesagt, daß sie sich dreimal am Tag umziehen sollte. Jetzt war es halb fünf. Da sie sich für den kaiserlichen Empfang in der grande salle des fêtes vorbereiten mußte, blieb keine Zeit mehr, das Nachmittagskleid anzuziehen, also suchte sie das Abendkleid aus schwarzer Spitze über weißem Tüll mit dem tiefen Dekolleté heraus, dazu die grüne Samtschleife und die Krinoline. Madame Cournet hatte ihr dieses Kleid für die erste Begegnung mit Kaiserin und Kaiser empfohlen. Nachdem sie ihre Toilette mit Hilfe von Françoise, der alten, doch geschickten Zofe, vervollständigt hatte, betrat Emmeline kurz vor sieben Uhr das Wohnzimmer. Ihr Gatte hatte sich an die zuvor ergangene Anweisung gehalten und sich für diesen ersten Abend bei Hofe eine weiße Kniehose mit weißseidenen Strümpfen nebst einem Frack angezogen. Sie sah, wie er sich vor Kälte die Hände rieb, während er sein Bild in einem hohen Spiegel betrachtete, der in einer Ecke des Wohnzimmers hing. Das Feuer war längst ausgegangen. »Bist du soweit, Emmeline? Wir dürfen nicht zu spät kommen.« »Wie erfahren wir, wohin wir gehen müssen?« »Ich habe dir doch gesagt«, erwiderte er, »daß hier alles nach Plan läuft. Du wirst schon sehen.« Damit sollte er recht behalten, denn als sie ihr Zimmer verließen, wartete ein Kammerdiener im Flur. Mit einer Verbeugung deutete er an, daß sie ihm folgen sollten. Er führte sie die Treppen hinunter und durch lange Korridore, bis sie zur grande salle des fêtes gelangten. Lakaien standen vor der Tür zu diesem riesigen Saal. Emmeline schaute zu den 25
Deckenmalereien hinauf, bestaunte die glitzernden Kristallüster und musterte beklommen die eintreffenden Gäste. Pünktlich um zehn nach sieben verkündete ein Lakai die Ankunft des Grand Chambellan Vicomte de Laferrière und der Grande Maitresse, Duchesse de Bassano, die gemeinsam die Reihe der Gäste abschritten und höfliche Willkommensgrüße murmelten. Emmeline wußte nicht, ob sie einen Knicks machen oder mit dem Kopf nicken sollte, also blieb sie stehen und wackelte wie töricht mit dem Kopf, während diese vornehmen Personen an ihr vorüberschritten. Obwohl sich mittlerweile fast hundert Menschen in diesem riesigen Salon aufhalten mußten, wirkte er noch immer wie verlassen. Ein Kammerherr trat zu Henri. »Monsieur, die Dame, die Sie zu Tisch geleiten werden, heißt Madame de Deauville. Sie steht dort drüben neben ihrem Mann, Monsieur de Deauville.« »Und wer wird mich zu Tisch geleiten?« flüsterte Emmeline, als der Kammerherr weiterging. »Ich habe dir doch gesagt, Liebling, daß hier alles nach Plan verläuft. Mach dir keine Sorgen. Der Colonel meinte, es sei ganz wie bei einer militärischen Operation.« Zehn Minuten später wurde die Tür zur grande salle des fêtes geschlossen, als wollte man ihnen zu verstehen geben, daß nun auch der letzte Gast eingetroffen sei. Der Grand Chambellan verschwand durch eine kleine Tür etwa in der Saalmitte. Sogleich begannen die Gäste, sich in zwei langen Reihen aufzustellen. Die kleine Tür öffnete sich erneut, und Emmeline sah das herrschaftliche Paar eintreten. Der Kaiser wirkte anders als auf den Fotografien und Gemälden, er schien kleiner zu sein, gedrungener, der gewichste Schnurrbart sah länger aus, und die Augenlider hingen schwer herab, als wäre er gerade erst aufgewacht. Er war ebenso wie die übrigen Männer angezogen, 26
trug eine weiße Kniehose, Seidenstrümpfe und flache Halbschuhe, seine einzige Auszeichnung waren Ordensband und Großkreuz der Ehrenlegion. Doch es war die Kaiserin, majestätisch in weißem, flitterbesetztem Tüll mit Brillantendiadem und Perlenhalsband, die Emmeline in ihren Bann schlug. Sie sah sofort, daß das Kleid der Kaiserin zwar prächtiger als ihr eigenes, doch ebenfalls das Werk von Monsieur West war. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr unsicher. Dank Monsieur West gehörte sie zu dieser Versammlung dazu. Sie und auch ihr Mann. Schließlich war Henri ebenso wie der Kaiser gekleidet. Langsam schritten sie die Reihen der Gäste ab, der Kaiser den Männern, die Kaiserin den Frauen zugewandt. Während Ihre Majestäten vorüberdefilierten, verbeugten sich die Männer, und die Damen versanken mit weitem Schwung ihrer Krinolinen in einen Hofknicks. Als die Kaiserin an ihr vorbeikam, ließ Emmeline sich so tief zu Boden sinken, daß sie in den vielen Falten ihres Kleides beinahe zu ertrinken glaubte. Die Kaiserin lächelte ihr ebenso zu, wie sie all den übrigen Frauen zugelächelt hatte, und murmelte »Guten Abend«, ehe sie weiterging. Vor Erleichterung lief Emmeline rot an, erhob sich wieder und sah, wie Lakaien die Türflügel aufzogen, während der Kaiser zur Kaiserin ging und ihr seinen Arm anbot, um dann sein Gefolge in den Bankettsaal zu führen. Überall sah Emmeline Herren zu ihren Damen schreiten, um ihnen ihren Arm anzubieten. Panik stieg in ihr auf. Wer würde …? Doch dann sah sie Colonel Deniau mit ausgestrecktem Arm herbeieilen. Dankbar legte sie ihre Hand auf seinen Frackärmel und reihte sich in die Prozession ein, die zur langen Galerie vorrückte, während Emmeline fürchtete, sie könnte in ihren neuen Schuhen auf dem kräftig gebohnerten Parkett ausrutschen. Gleich darauf 27
liefen die Gäste durch ein langes Spalier der kaiserlichen Leibgarde cent-gardes hindurch, Soldaten, die eine Uniform aus hellblauen Jacken, weißen Kniehosen und silbernen Helmen trugen, deren weiße Pferdehaarmähnen auf ihre Rücken herabhingen. Die cent-gardes standen stramm, starrten stur geradeaus und ignorierten die vorüberziehende Parade der Damen und ihrer glitzernden Juwelen, der Offiziere in ihren Galauniformen und der Diplomaten mit ihren Auszeichnungen und Ordensbändern. Als Emmeline an diesen statuenhaften Soldaten vorüberschritt und dabei immer wieder den Kopf wandte, um einen Blick auf ihren Begleiter zu werfen, stieg plötzlich ein schwindelerregendes Vertrauen in ihr auf. In diesem herrlichen Kleid und am Arm dieses Offiziers gehörte sie zu diesem prächtigen Ereignis irgendwie dazu. Kaum hatte der Zug den Speisesaal erreicht, führte der Grand Chambellan den Kaiser und die Kaiserin in die Mitte des Saals und plazierte sie einander gegenüber an der langen Tafel. Sobald sie saßen, brachten Kammerdiener die Gäste zu ihren Plätzen. Colonel Deniau, der keinen Platzanweiser zu brauchen schien, führte Emmeline an den königlichen Herrschaften vorbei zum unteren Ende der Tafel und setzte sich ihr zur Rechten. Der Tisch glich einem weißen Leinenfeld, das in gewissen Abständen mit Blumengestecken, weißen Tafelaufsätzen mit Bonbons und größeren, mit Obst gefüllten Schalen geschmückt war. Das Geschirr bestand aus weißem Sèvres-Porzellan, verziert mit einem goldenen N, über dem die kaiserliche Krone thronte. Mindestens fünfzig Lakaien warteten darauf, den Gästen den Stuhl zurechtrücken zu dürfen. In einer großen, kreisrunden Loggia über den Terrassentüren begann eine Militärkapelle zu spielen, so daß Emmeline für den Augenblick kein Wort sagen mußte. Sie tat, als lächle sie, nickte im Takt der Musik und gab dem Colonel so die Möglichkeit, sich der Dame zu seiner 28
Rechten zu widmen. Als eine weitere Reihe Lakaien eintraten, die als ersten Gang eine Suppe brachten, beugte sich Colonel Deniau zu ihr und sagte: »Ich muß Sie warnen, Madame, man wird heute abend reichlich auftischen, doch wir werden ziemlich schnell essen müssen. Der Kaiser hält sich mit den Mahlzeiten nie länger als eine Stunde auf. Aber das kann auch ein Segen sein, finden Sie nicht? Solche Angelegenheiten können einfach schrecklich ermüden.« »Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich habe so etwas noch nie mitgemacht.« »Das überrascht mich, Sie scheinen sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit in diesen Kreisen zu bewegen. Falls dies aber Ihre erste Einladung zu einer série ist, möchte ich wetten, daß es nicht Ihre letzte sein wird. Sie sind Compiègnes neueste Zierde.« »Ich hoffe, Sie irren sich«, sagte sie, freute sich aber dennoch über seine Worte. »Warum hoffen Sie das?« »Weil ich nicht hierher gehöre. Das ist nicht meine Welt.« »Meine Liebe«, sagte der Colonel, beugte sich vor und strich mit den Fingern sanft über ihren bloßen Arm. »Ich will Ihnen keine übertriebenen Komplimente machen. Sie sind jung, charmant und – wie soll ich sagen? Ihr Gatte muß ein wenig von seinem Zauber zu Hilfe genommen haben, um Sie vor den Aufmerksamkeiten anderer Männer zu verbergen. Es gibt keine Welt, die Ihnen nicht offenstünde.« Sie wich seinem Blick aus. Ich darf nicht auf ihn hereinfallen. Männer seines Schlags werfen mit Komplimenten um sich, als wären sie Konfetti. »Sie sind zu freundlich, Monsieur. Doch ich komme vom Land und bin ein sehr gewöhnlicher Mensch. 29
Ehrlich gesagt, ich wäre glücklicher, könnte ich daheim in meinem Zimmer sitzen und hätte mein Abendessen auf einem Tablett vor mir.« Er lachte. »Ist das wirklich wahr? Aber werden Sie diesen Abend nicht als einen besonderen Abend in Erinnerung behalten? Schließlich ist der Mann dort drüben der Neffe von Bonaparte und selbst eine höchst ungewöhnliche Person. Bedenken Sie doch nur: Er kam aus dem Exil, riß die Macht an sich und krönte sich zum Kaiser von Frankreich. In der Tat, eine erstaunliche Leistung! Und heute abend gehören Sie zu seinem Hof. Ich könnte sogar behaupten, daß wir heute abend Geschichte machen.« »Ebenso wie die einfachen Menschen, die heute abend in den Straßen von Rouen ihre Einkäufe erledigen.« »Aha, Sie sind wohl eine Revolutionärin, wie?« »Nein, nein«, sagte sie errötend, da es sie selbst überraschte, so offen zu ihm gewesen zu sein. »Wie gesagt, ich bin nur eine einfache Frau. Deshalb habe ich das gesagt.« »Nun, wir wollen darüber nicht streiten. Allerdings kann ich jetzt, da ich Sie kennengelernt habe, Ihren Worten kaum glauben. Doch da es auch mein Verschulden ist, daß Sie heute abend hier sind, hoffe ich, Ihnen beweisen zu dürfen, daß eine Woche in Compiègne recht angenehm sein kann. Es führen herrliche Spazierwege durch Park und Wald. Und falls Sie einen Ausflug machen oder die Stadt besichtigen wollen, gibt es alle Arten von Kutschen, mit denen Sie fahren können. Falls Sie aber reiten wollen, warten in den kaiserlichen Ställen einhundertfünfzig Pferde auf Sie. Spielen Sie gern Karten, lieben Sie Scharaden? Der Kaiser findet Gefallen daran. Und natürlich können sich die Damen auch den Jagdgesellschaften anschließen und der Jagd zusehen. Ein überaus 30
beeindruckender Anblick.« »Zusehen, wie Männer auf Vögel schießen, wie Hunde einen Hirsch zu Tode hetzen?« sagte Emmeline. »Nein, danke, mich dauern die Tiere. Beim Kartenspiel habe ich kein Geschick; und Scharaden mit dem Kaiser spielen? Ich würde vor Angst im Boden versinken. Nun, verstehen Sie jetzt, warum ich lieber zu Hause wäre?« Er lachte. »Ja, jetzt begreife ich langsam. Ich schäme mich, Ihnen diesen Besuch zugemutet zu haben. Dennoch will ich mir Mühe geben, Sie in dieser Woche ein wenig aufzuheitern. Wenn ich darf.« Bei diesen Worten lächelte er, wie um das Gespräch abzuschließen, und wandte sich der Dame an seiner rechten Seite zu. Was hatte er damit gemeint? Wollte er ihr nur schmeicheln, sie für das gewinnen, was immer Henri auch tun sollte, oder gehörte er zu jenen Roués, die hier in Compiègne einfach ignorierten, daß sie Henris Frau war? Jedenfalls schaut er mich so an. Verwandelt mich dieses Kleid in jemanden, der ich nicht bin? Diese alte Frau ist mit meinem Haar heute abend wirklich viel besser zurechtgekommen, als ich es jemals geschafft hätte. Angenommen, ich gehörte tatsächlich dazu, würde mich jeden Abend prächtig anziehen, Herzöge und Grafen würden sich vor mir verbeugen, der Colonel meinen Arm nehmen? Als hätte sie laut gedacht, drehte sich im selben Augenblick der ältere Herr zu ihrer Linken um, stellte sich als Comte de Burgos vor und begann sogleich, von Jagdhunden zu reden. »Auf die Jagd freue ich mich ganz besonders, Madame, sie ist für übermorgen angesetzt, wissen Sie. Der Kaiser besitzt eine herrliche Meute. Englische Hunde. Außerdem hat er einen phantastischen Züchter. Er behandelt die Hunde fürwahr liebevoll und läßt zu, daß sie ihren natürlichen Instinkten 31
folgen. Verstehen Sie, es ist falsch, die Tiere zu schlagen. Sie verlieren dann ihren Jagdinstinkt. Muß ein famoser Anblick sein, die ganze Meute in wilder Jagd. Einhundert Hunde, stellen Sie sich das nur vor. Das würde Ihnen auch gefallen, nicht wahr, junge Frau? Sie kommen doch, ja?« Sie reagierte mit einem Kopfnicken, von dem sie hoffte, daß es sowohl Zustimmung wie Ablehnung bedeuten mochte, und fühlte erneut Panik in sich aufsteigen. Adelige, Jagdhunde, von all dem verstand sie nichts. Wie sollte sie diese Unterhaltung überstehen, diesen Abend, diese Woche? Doch dann blickte sie nach rechts. Der Colonel sprach zwar mit seiner Nachbarin, fing aber ihren Blick auf und lächelte sie verschwörerisch an. Beruhigt griff sie nach der Karte. Es gab sechs Gänge: Suppe, Gänseleberpastete, Fisch, Braten, Hummer und Nachtisch. Wie sollten sie all dies in einer Stunde bewältigen? Doch während die Kapelle spielte und die Teller aufgetragen wurden, mußte sie sich wenigstens nicht mit dem Grafen de Burgos unterhalten, der, sobald er das Essen sah, offenbar alle Bemühungen um Konversation vergessen hatte. Kaffee und Likör wurden ausgeschenkt, und um Punkt acht Uhr dreißig erhoben sich Kaiser und Kaiserin. Sogleich traten die Lakaien vor, zogen den Gästen die Stühle fort und zwangen sie so, aufzustehen. Emmeline sah unsicher zum Colonel hinüber, der ihr seinen Arm anbot, sie im Gefolge über den langen Korridor führte, in dem die cent-gardes so unbeweglich wie zuvor standen, und in die grande salle des fêtes geleitete, wo er sich entschuldigte, um sich in eine andere Ecke des Saales zurückzuziehen. Weit hinten, am anderen Ende des riesigen Raumes setzte sich ein Herr an ein Pianino und begann, eine Melodie zu spielen. Allein gelassen und von ihrer Umgebung unbeachtet, wanderte Emmeline ziellos zwischen den Grüppchen sich 32
unterhaltender Gäste umher. Einige Paare begannen zu tanzen, von den wie besorgte Kindermädchen umherstreifenden Kammerdienern dazu aufgefordert, die sie näher zum Klavier drängten, dessen Musik in diesem ungeheuren Saal verzagt und irgendwie falsch klang. Dann entdeckte Emmeline den Colonel, der sich durch die Menge drängte und jemanden zu suchen schien. Henri war an seiner Seite, offenbar hielten sie nach ihr Ausschau. Emmeline eilte ihnen entgegen und winkte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Endlich!« rief ihr Mann, als sie bei ihnen war. »Wie geht es dir, meine Liebe? Gefällt es dir? Der Colonel sagte, er wäre dein Tischherr gewesen.« »Womit ich ein überaus günstiges Los gezogen habe«, sagte der Colonel und bedachte sie wieder mit diesem besonderen Lächeln. »Nun, da ich Sie beide wieder vereinen konnte …«, er wandte sich an Lambert. »Übrigens wurde mir mitgeteilt, daß es heute abend auf keinen Fall stattfindet.« Damit verbeugte er sich, ging und wurde sogleich von zwei Herren angesprochen, mit denen er eine angeregte Unterhaltung begann. Sie stand verlassen neben Henri, der sich nicht um sie gekümmert hatte, Henri, dem es offenbar eine derart große Ehre war, unter diesen Leuten sein zu dürfen, daß er das Offensichtliche übersah: Er und Emmeline standen auf der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter, ignoriert, in eine kalte Kammer unter dem Dach abgeschoben.
»Was wird heute auf keinen Fall stattfinden?« fragte sie. »Wovon redet er?« »Unsere Audienz beim Kaiser. Aber das überrascht mich nicht, wahrscheinlich will er sich unter vier Augen mit mir unterhalten. Die Sache ist einfach zu wichtig, um sie vor anderen Leuten zu erörtern.« 33
»Wenn es so wichtig ist und du ihm so wichtig bist, warum hausen wir dann in dieser kalten Mansarde?« »Beim Essen heute abend, Liebling, sagte der Komponist Gounod, daß sein Zimmer klamm und kalt sei, die Fenster zu den Ställen hinausgehen und daß andere Gäste sich aus ähnlichen Gründen beschweren. Offenbar ist dergleichen bei den séries normal und Compiègne zwar ein Schauplatz der französischen Geschichte, deshalb aber nicht unbedingt gemütlich.« »Und was ist mit Colonel Deniau? Den hat man bestimmt nicht in einem klammen Zimmer untergebracht.« »Ich weiß nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt. Aber warum jammerst du so? Es hat mich viel Geld gekostet, dich herzubringen. Da könntest du doch wenigstens den Versuch machen, dich zu amüsieren.« Sie gab keine Antwort, da sich ihnen im selben Augenblick ein Kammerdiener näherte, um sie zu fragen, ob sie nicht tanzen wollten. »Wenn wir möglichst viele Leute zum Tanzen bewegen können«, erklärte er, »tanzt vielleicht auch der Kaiser.« Sofort nahm ihr Mann, als wäre er ein Dienstbote und kein Gast, ihren Arm und führte sie auf die Tanzfläche. »Warum tanzen wir?« fragte sie. »Das gefällt dir doch gar nicht. Warum tun wir, was dir nicht gefällt?« »Weil wir gute Manieren haben, deshalb. Außerdem finde ich es besser zu tanzen, als bei Leuten herumzustehen, die ich noch nicht kennengelernt habe. Morgen um diese Zeit kennen wir sicher bereits viele interessante Männer und Frauen, und du wirst dich hier wie zu Hause fühlen.« »Meinst du?« Er schwenkte sie in einem weiten Walzerschritt herum, 34
schaute zur Decke hinauf und seufzte. »Ich werde dich niemals verstehen. Weißt du, daß du heute abend so schön aussiehst wie nie zuvor? Dieses Kleid ist herrlich, einfach wundervoll. Und dein Haar und diese Juwelen! Ich bin so stolz auf dich, meine Liebe.« Was sollte sie darauf erwidern? Was er auch immer mit dieser Fahrt nach Compiègne bezweckte, er würde sein Ziel wie stets konsequent verfolgen. Falls er deshalb ein Vermögen für Kleider ausgeben mußte, würde er es eben tun. Falls er deshalb in einer kalten, klammen Mansarde hausen mußte, auch gut. Und sollte es bedeuten, daß man sie in den nächsten Tagen ignorieren oder brüskieren würde, dann würde sie dies eben ertragen müssen. Er war nicht umsonst Henri Lambert, der Mann, der Hunderte und Aberhunderte von Stunden allein in einem Zimmer gesessen und mit Karten und Münzen trainiert hatte, bis er jede Fingerfertigkeit, die in Büchern über magische Kunst beschrieben stand, perfekt beherrschte: Er war der Erfinder mechanischer Marionetten, die Gebäck und Gebräu anrühren, Tore öffnen und auf Hochseilen wandeln konnten, ein Tausendsassa der Elektrik, der die Geheimnisse der neuen Wissenschaft nutzte, um in seinem so leichtgläubigen Publikum den Anschein zu erwecken, daß er mit den Mächten der Finsternis im Bunde sei. Gewiß, er war ein freundlicher Mensch, und sicherlich liebte er sie auch, doch glich seine Liebe nicht der eines gewöhnlichen Mannes. Sie war, wie alles, was er erreicht hatte, wie alles, was er zu erreichen suchte, irgendwie mit seinem Leben der Illusion verknüpft. Kurz nach neun Uhr gesellte sich der Colonel wieder zu ihnen und stellte sie einem älteren Bankier vor, der Lamberts Aufführung in Sankt Petersburg vor der Zarin von Rußland gesehen hatte. »Ein außergewöhnlicher Abend, mein Herr. Ich 35
weiß noch, daß die Zarin ungemein beeindruckt war, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, daß Sie diese Woche bei uns sind. Diese série wird bestimmt viel interessanter als die letzte, auf der ich war. Darf ich annehmen, daß Sie uns mit einer Darbietung Ihrer Kunst beehren werden?« »Ich bin nicht gekommen, um eine Vorführung zu geben«, sagte Lambert verstimmt, »doch wenn man mich bittet, werde ich vielleicht an einer der Abendunterhaltungen teilnehmen.« Der alte Bankier lächelte. »Wunderbar. Ich freue mich darauf.« »Und die série, zu der Sie zuletzt geladen waren?« fragte der Colonel. »Wer war außer Ihnen noch zu Gast?« »Prinz Metternich nebst Anhang sowie ein paar adlige Ausländer. Der Herzog von Hamilton kam zur Jagd, und ein russischer Großherzog war auch zugegen. Man nennt das die elegante série. Eigentlich eine ziemlich langweilige Angelegenheit.« Sie sah, daß Henri keineswegs gefiel, was er zu hören bekam. »Also gibt es verschiedene séries?« fragte er. »O ja. Der Kaiser gibt jedes Jahr vier séries. Und jeder fragt sich besorgt, zu welcher er eingeladen wird. Natürlich will alle Welt eingeladen werden, aber zu welcher série? Das ist eine Frage des Ansehens. Es gibt da eine Geschichte –« Der alte Bankier brach in ein erschreckend lautes Gelächter aus. »Ich hörte, wie sich zwei Damen unterhielten und die eine die andere fragte: ›Sind Sie in der eleganten série?‹ ›Aber nein‹, lautete ihre Antwort, ›ich bin in der, in der Sie auch sind.‹« »Und welche série ist dies hier?« fragte Lambert. »Nun, die politische, nehme ich an. Es sind einige Ingenieure eingeladen, die mit dem Suezkanalprojekt zu tun haben, dann 36
einige Bankiers, unter anderem ich selbst – diese großen Vorhaben müssen schließlich finanziert werden, wissen Sie, und Baron Haussmann mit seinen neuen Plänen für die Pariser Boulevards ist natürlich auch hier. Außerdem eine Reihe politisch bedeutsamer Herren wie Sie selbst, nicht wahr, Colonel? Sie gehören doch zum Afrikaabenteuer des Kaisers, wenn ich mich nicht irre?« Der Colonel lächelte. »Ich diene in Afrika, stimmt, doch ich bin hier als Freund von Monsieur Lambert. Der Kaiser ist von seinen Fähigkeiten überaus fasziniert.« »Nun, ich hoffe, wir bekommen alle Gelegenheit, sie bewundern zu dürfen«, sagte der alte Bankier. »Aha, jetzt gehen sie hinein.« Emmeline schaute in die angedeutete Richtung und sah, wie der Kaiser und die Kaiserin in Begleitung von etwa einem Dutzend Gäste einen kleinen, intimen Salon betraten. »Nun wird bestimmt gleich der ganze Saal tanzen.« »Gewähren Sie mir die Ehre, Madame?« fragte Colonel Deniau, und schon wirbelte er sie im Takt eines Walzers herum, der undeutlich von fern herüberklang. Sie tanzten. Er lächelte sie an, sagte aber kein Wort, und sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken, während er sie durch den riesigen Saal führte. Erst als der Tanz zu Ende ging, merkte sie, daß er sie in eine Ecke weit fort von ihrem Mann dirigiert hatte. »Sie tanzen wunderbar«, sagte er. »Wollen wir es noch einmal wagen?« Und so tauschten sie zwischen den Tänzen nichtssagende Worte, doch hielt der Colonel sie mit keineswegs ebenso nichtssagenden Blicken in Bann, bis der Kaiser und sein Gefolge den Salon wieder verließen. Tee und Kuchen wurden serviert, 37
und einige Minuten später verbeugten sich Ihre Majestäten vor ihren Gästen, gingen zur Tür, drehten sich um, verbeugten sich noch einmal und verschwanden mit einer letzten, tiefen Verbeugung aus ihren Augen. Als wäre er entlassen worden, eilte Lambert sogleich durch den Saal und griff nach Emmelines Arm. »Laß uns jetzt nach oben gehen, Liebling. Du mußt müde sein.« Er wandte sich an Deniau. »Bis morgen also, Colonel.« Der Colonel schaute sie an. »Bis morgen, Madame.«
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Zwei Sie wachte auf – doch wo? Dunkle Holzdecke, fahles Winterlicht, klamme Leinenlaken an ihrem Nacken, in der Nacht aufgewacht, verfroren, verwirrt, aufgeschreckt aus einem Traum von den cent-gardes, von einer lächelnden Kaiserin, Kremsern, einem dunklen, attraktiven Gesicht, doch jetzt war es heller Tag, und ihr Mann im Morgenmantel im Nebenzimmer sah zu, wie ein perückentragender und gepuderter Lakai ein Tablett mit silbernen Kännchen Milchkaffee abstellte und sich dann wieder zurückzog. »Wie spät ist es?« rief sie. »Neun Uhr. Alles läuft wie am Schnürchen. Man hat uns einen Plan für den Tagesablauf gebracht.« Sie sah zu, wie er ein Blatt Papier vom Tablett aufhob. Er las vor: »Programm für den heutigen Tag: Frühstück um neun, Mittagessen um elf, Jagdpartie um zwei und ein Konzert um neun Uhr abends.« Er schenkte eine Tasse Kaffee ein und brachte sie ihr ins Schlafzimmer. »Ich werde jetzt einige Notizen überarbeiten«, sagte er. »Was hast du vor? Bis zum Mittag bleiben uns noch einige Stunden.« »Regnet es?« »Nein.« »Dann gehe ich spazieren.« Er nickte und ging zurück an den Schreibtisch im Wohnzimmer. Genau wie daheim blieb es ihr selbst überlassen, sich zu amüsieren. Sie schaute auf die erst zur Hälfte ausgepackten Koffer, auf die Unordnung und das 39
Durcheinander im kleinen, dunklen Schlafzimmer. Was sollte sie anziehen? Welches ihrer Morgenkostüme eignete sich am besten für einen Spaziergang im Park? Madame Cournet hatte gesagt, daß sie sich am Ende des Vormittags fürs Mittagessen umziehen müsse. Sie beschloß, Françoise, diese hochnäsige alte Zofe, nicht zu rufen, vorläufig jedenfalls nicht. Ich ziehe mich an und gehe hinaus, und wenn ich mich zum Essen umziehe, kann sie mir mein Haar machen. Sie entschied sich fürs schlichteste Morgengewand, ein braunes Leinenkleid mit einem Robbenfellkragen, dazu den passenden Mantel, Hut und Muff. Lambert schaute nicht einmal auf, als sie so ausstaffiert das Wohnzimmer betrat. »Wie erfahre ich, wo ich Spazierengehen kann?« »Draußen steht ein Lakai«, sagte er. Ein Page in grüner Livree geleitete sie durch das Labyrinth der Schloßtreppen und Flure zu einer Tür, die zu einer Reihe von Gärten führte. »Es könnte Regen geben, Madame, ich würde Ihnen daher den Spaziergang unterm Spalier empfehlen. Dort sind Sie geschützt.« Das Spalier, tausend Meter lang, dunkel, über ihrem Kopf das Blätterdach und sie die einzige Spaziergängerin, die erste halbe Stunde allein, bis sich schließlich ein Priester in purpurnem Talar blicken ließ, der wie in einem klösterlichen Wandelgang in seinem Brevier las und ihre Anwesenheit im Vorübergehen mit einem Kopfnicken quittierte. In ihrem Mantel mit Robbenfellbesatz und ihrem Hut, die Hände behaglich im Robbenfellmuff vergraben, malte sie sich aus, eine der eleganten Gesellschaftsdamen zu sein, die sie so oft gesehen hatte, wenn sie ihren Morgenspaziergang unter den Arkaden an der Place des Vosges unternahmen. Kleider von Monsieur West, eine Einladung nach Compiègne, vor der Kaiserin in einen Knicks 40
versinken, am selben Tisch wie Louis Napoleon sitzen, ein hübscher Colonel, der mich anlächelt, eine Zofe, die mich anzieht und frisiert, und doch werde ich nächste Woche wieder in Tours sein, im Manoir des Chênes, mein Mann wird sich in sein Atelier zurückziehen, seine Marionette unser Tor den Händlern aus dem Dorf öffnen, die glauben, wir seien mit dem Teufel im Bunde, das Glockenspiel wird ihm jede Bewegung im Haus anzeigen, und Tag und Nacht werden zweiundvierzig Uhren die Sekunden verticken, die Stunden, die Jahre. Compiègne, die cent-gardes, die Kremser, das herrschaftliche Defilee, Kaiser und Kaiserin, all das wird lang vergangen sein. Meine neue Garderobe wird mein Ankleidezimmer füllen, Krinolinen, die auf immer fortgepackt werden, denn wann sollte ich sie anziehen, selbst bei einem Ausflug nach Paris böte sich keine Gelegenheit. Die Nachmittagskleider kann ich in Tours tragen, doch haben wir keine Freunde dort, niemand, der mich darin bewundern kann. Die Mäntel und Hüte und Morgenkleider werde ich tragen, immer und immer wieder, bis sie aus der Mode sind und neben meinem Hochzeitskleid und einem Erstkommunionskleid im Schrank hängen. Sie hörte den Regen herabprasseln, doch der Wandelgang blieb trocken, geschützt vom dichten Laub über ihr. Man stelle sich dies riesige Schloß vor, mit all seinen Dienern, Möbeln, Gemälden, Wandbehängen, und doch wird es nur einige Wochen im Jahr genutzt. Wenn maman noch leben würde, könnte ich ihr von den Kleidern erzählen, dem Tanz, den centgardes und meinem Hofknicks vor der Kaiserin, aber Papa würde nicht glauben, daß wir eingeladen waren, weil der Kaiser möchte, daß Henri ihm einen Dienst erweist, was sollte das denn sein, würde er fragen, dein Mann ist doch kein Soldat oder Diplomat, was kann er schon von ihm wollen, wie könnte der 41
ihm mit seinen Tricks schon nützen. Am Ende des Spaliers sah sie Hecken, Pfade, Gartenanlagen verlassen hinter einem Regenvorhang daliegen. Wie spät es wohl sein mochte? Sie schaute zurück. Der Priester war verschwunden. Plötzlich machte sie sich Sorgen und rannte den dunklen, nun so endlos lang scheinenden Spalierweg zur Tür zurück, wo der Page auf einem Hocker saß und wartete. Er sagte ihr, wie spät es war. Mittagessen um elf, kaum eine halbe Stunde zum Umziehen. Er brachte sie zurück auf ihr Zimmer und ging die Zofe holen. Verzweifelt saß Emmeline mit bloßen Schultern da, während die alte Zofe, den Mund voller Nadeln, ihr das Haar aufsteckte. Im Wohnzimmer beendete Lambert seinen Eintrag ins Notizbuch und sagte verstimmt: »Warum hast du so getrödelt? Wir sind jetzt schon spät dran. Es ist fünf vor elf. Wie kannst du mir das nur antun?« »Dann geh doch schon vor, wenn du magst, und entschuldige mich.« »Das werde ich auch tun. Wenigstens einer von uns beiden sollte pünktlich sein.« Er schlug das Buch zu und ging hinaus. »Vielleicht sollte ich gar nicht hinuntergehen«, sagte sie halb zu sich selbst, halb zur alten Zofe. »Es würde ja doch nicht auffallen.« »Was glauben Sie, Madame, es würde bestimmt auffallen. Welches Kleid, Madame?« Sie entschied sich fürs blaue Popelinekleid mit dunkelblauem Samtbesatz und zwängte sich hinein, während die alte Zofe sich umständlich mit dem Verschluß ihres Armreifs abmühte. »Sie sind jetzt soweit, Madame. Bon appétit.« Ein Lakai wartete vor der Tür. Sie folgte ihm die Treppen hinunter, durch endlose Korridore in den großen Saal, wo – ein 42
schlechtes Zeichen – die cent-gardes bereits bequem standen und erst wieder in Habachtstellung erstarrten, als sie vorübereilte. Die Tür zum Speisesaal war geschlossen. Ein Page öffnete rasch, und der Lakai ließ sie ein. Das Essen hatte bereits begonnen. Errötend und mit gesenktem Kopf folgte sie dem Lakai und hastete die lange Tafel entlang. Wo war Henri? Wo sollte sie sitzen? Sah der Kaiser auf, als sie an ihm vorübereilte? Der Grand Chambellan jedenfalls tat es. »Beim Mittagessen gibt es keine Sitzordnung«, flüsterte der Lakai. »Wollen Madame nicht hier Platz nehmen?« Ein Stuhl wurde zurückgezogen, und endlich saß sie. Die Dame ihr gegenüber hieß sie mit einem Lächeln willkommen und flüsterte dann ihrem Nachbarn, einem jungen Adligen, etwas ins Ohr, der sich daraufhin die Hand vor den Mund hielt, als müsse er ein Lachen unterdrücken. Wovon reden die? Machen die sich über mich lustig? Und dann entdeckte sie Henri am anderen Ende des Tisches, wie er sich vorbeugte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihr dann einen wütenden Blick zuzuwerfen. Sie versuchte, ihn anzustarren, bis er verlegen würde, doch als wolle er ihr eine Abfuhr erteilen, wandte er sich um und redete vergnügt auf die Dame zu seiner Linken ein. Wo ist der Colonel? Die Tafel war so lang, beinahe hundert Gäste fanden daran Platz, er konnte überall in der Menge sitzen. Sie wandte sich dem Herrn an ihrer rechten Seite zu. »Guten Morgen«, sagte sie. »Nicht gerade schön, dieser Morgen, nicht wahr, Mademoiselle? Draußen regnet es. Ich schätze, man wird die Jagdpartie von heute nachmittag absagen. Ist Ihr Begleiter ein 43
guter Waidmann?« Was hatte er gesagt? Verwirrt lächelte sie ihn an. Er hatte sie Mademoiselle genannt. Ein Waidmann? »Zu dieser série gehören einige ausgezeichnete Waidmänner«, fuhr ihr Nachbar fort. »Fürst von Löwenstein zum Beispiel, ein Österreicher. Letztes Jahr hat er in Compiègne tausendzweihundert Vögel an einem Tag erlegt. Sehr beachtlich. Eigentlich bin ich froh, daß es regnet. Ich bin nämlich ein erbärmlicher Schütze.« »Ich hoffe, es regnet die ganze Woche.« Ihr Nachbar lächelte. »Um meinetwillen, Mademoiselle? Wie lieb von Ihnen.« »Nein«, sagte sie, »ich habe dabei eher an die Vögel gedacht.« Er lachte. »Ich sehe, Sie haben ein weiches Herz, doch vergessen Sie nicht, daß Sie gerade dabei sind, einen Fasan zu verspeisen.« Sie schaute auf ihren Teller. Ein Lakai trat vor und füllte aus einer Kristallkaraffe ihr Weinglas auf. Daraufhin hob ihr Nachbar sein Glas. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Das war nicht fair. Verzeihen Sie mir und erlauben Sie, daß ich mich vorstelle. Ich bin Jean de Courcel. Und Sie, Mademoiselle?« »Lambert«, sagte sie. »Und es muß Madame heißen.« »Lambert? Sind Sie etwa die Frau des Zauberers? Es heißt, er sei auch hier.« »Das bin ich.« Er lächelte und schaute sie erneut an, diesmal allerdings mit einer gewissen Herablassung, davon war sie überzeugt. »Aha! Dann dürfen wir uns gewiß auf einen unterhaltsamen Abend freuen, nicht wahr? Sie müssen mich unbedingt Ihrem 44
Mann vorstellen. Zauberer und ihre Tricks haben mich schon immer fasziniert.« Der Regen hatte aufgehört. Als die Gäste vom Tisch aufstanden, schien eine kalte Novembersonne durch die hohen Terrassenfenster, die auf die Gärten hinterm Schloß blickten. Emmeline wartete an der Tür des Speisesaals, bis Lambert sich zu ihr gesellte, um dann in verärgertem Schweigen mit ihr den langen, von den cent-gardes gesäumten Korridor zu durcheilen. Am Ende des Korridors stand ein Grüppchen Kammerdiener im Gespräch mit einigen Gästen, zu denen auch Colonel Deniau zählte, der, kaum hatte er sie erblickt, zu ihr kam, sich verbeugte und ihr die Hand küßte, ein echter Kuß, feuchte Lippen auf der Haut. »Guten Morgen, Madame. Lambert, mein Lieber, ich habe Neuigkeiten für Sie. Können Sie schießen?« Sie sah, wie Henri sie warnend anschaute. »Nicht besonders«, sagte er und lachte gezwungen. »Aber ich weiß, wie man eine Flinte hält, nur habe ich weder eine Waffe noch entsprechende Kleidung dabei.« »Ich auch nicht«, sagte der Colonel. »Aber man wird uns sicher mit allem Nötigen versorgen. Der Kaiser lädt uns jedenfalls ein, heute nachmittag an seiner Jagdpartie teilzunehmen. Die Einladung gilt natürlich auch für Madame. Um zwei Uhr stehen die Kutschen im großen Hof für uns bereit.« Er drehte sich zu Emmeline um. »Die Kaiserin wird dabei sein, so daß sich Ihnen Gelegenheit bietet, sie kennenzulernen. Vergessen Sie nicht, sich warm anzuziehen. Ich freue mich auf den Nachmittag mit Ihnen.« Mit einer Verbeugung und einem Lächeln wandte er sich um 45
und ging hinaus in den Garten. »Was ist nur über dich gekommen?« fragte sie. »Warum behauptest du, daß du schießen kannst? Du bist doch noch nie auf einer Jagdpartie gewesen, jedenfalls hast du mir gesagt, du hättest für so etwas nichts übrig. Außerdem ist es brutal, gräßlich und dumm.« »Ich weiß, ich weiß, aber ich muß mit, ich muß einfach! Um Himmels willen, Emmeline, schließlich ist es eine Einladung von Louis Napoleon persönlich. Bitte, meine Liebe. Und du bist auch eingeladen. Eine Absage wäre eine Beleidigung der Kaiserin. Bitte, ja? Habe ich denn je zuviel von dir verlangt?« »Nein«, sagte sie, doch ihr war zum Weinen zumute. »Also kommst du, ja?« Um zwei Uhr halfen Lakaien ihnen beim Einsteigen in die Gesellschaftswagen und deckten sie mit warmen Decken zu. Der Colonel saß neben Emmeline; unter der Decke berührten sich ihre Beine. Ihnen gegenüber wechselte Lambert gelegentlich ein Wort mit seiner Nachbarin. Fanfaren erschollen im Innenhof, als der Kaiser in Begleitung eines Herrn, bei dem es sich, so der Colonel, um den österreichischen Botschafter Fürst Metternich handelte, durch den großen Torbogen trat. Die beiden Herren bestiegen den wartenden Einspänner, und der Kaiser nahm die Zügel in die Hand. Dann schritt die Kaiserin mit elegantem, von Goldborten gesäumtem Dreispitz und in grünem Jagdkleid die weitläufige Steintreppe herab. An ihrer Seite war die Fürstin von Löwenstein, die Frau des berühmten Schützen. Diese Damen setzten sich in eine Viktoria. Mit einem Peitschenknall ließ der Kaiser seinen Einspänner anfahren und lenkte die 46
Kutschenkavalkade vom Hof in ein Netz von Privatwegen, das die riesigen Flächen des königlichen Forstes durchzog. Emmeline kuschelte sich in ihren Reisemantel, bedeckte ihre Robbenfellstiefel mit dem schweren Bärenfell und spürte, wie sie vom Schaukeln der Kutsche immer wieder gegen Colonel Deniau gepreßt wurde, was diesen ebenso zu amüsieren wie ihm zu gefallen schien. »Ist Ihnen warm genug?« fragte er. »Ich fürchte, es wird ein ziemlich kalter Nachmittag.« »Ich finde es hier sehr gemütlich«, erwiderte sie. »Offen gestanden, würde ich lieber in der Kutsche bleiben und nicht zusehen müssen.« »Aber Sie sind doch früher schon einmal auf einer chasse à tir gewesen, nicht wahr? Ihr Gatte ist bestimmt ein recht guter Schütze.« »Hat er Ihnen das gesagt?« Er lachte. »Nein, aber er scheint eine Menge über Gewehre zu wissen.« »Ich habe ihn noch nie schießen sehen«, sagte sie. »Er zaubert sich seine Vögel und Kaninchen immer aus dem Hut.« Wieder lachte er und schaute sie mit einem vergnügten, komplizenhaften Lächeln an. Warum habe ich das gesagt? Aus Ärger über Henri, ja, aber da ist noch etwas. Ich möchte, daß wir uns gemeinsam über ihn lustig machen. Sie konnten vor sich jetzt einen weiten, offenen, von dichtem Wald gesäumten Platz erkennen. Eine große Menschenmenge harrte dort bereits ihrer Ankunft. Beim Aussteigen schien es Emmeline, als hätten sich alle Einwohner von Compiègne als Treiber und Zuschauer eingefunden. Die Kammerherren 47
brachten die Waidmänner an ihren Platz in der langen Reihe, in deren Mitte der Kaiser stand, zu seiner Rechten Fürst Metternich, zur Linken Fürst von Löwenstein. Sie sah, daß man ihren Mann und den Colonel fast am Ende der Reihe aufgestellt hatte. Sobald die Waidmänner ihre Positionen eingenommen hatten, wurden die Damen gebeten, sich hinter ihnen aufzustellen, viel zu nahe, wie Emmeline fand, denn unmittelbar hinter den Damen wiederum standen die Jagdhelfer, die voreilten, um die Gewehre ihrer Herren erneut zu laden. Plötzlich hob Louis Napoleon die Hand, und mit gewaltigem Getöse rückten die Reihen der Treiber durch den Wald vor und scheuchten die Vögel aus den Bäumen auf, die Kaninchen und Hasen hinaus ins Freie. Aberhunderte von verschreckten Tieren waren in ein Gebiet getrieben worden, aus dem sie nicht entkommen konnten, und nun wurden sie in ihren Tod gehetzt. Wie betäubt vom Donnern der Gewehre stand Emmeline da, schloß die Augen vor dem vom Himmel fallenden Regen toter Tiere und hörte, wie sich um sie herum die Treiber auf die toten und sterbenden Kreaturen stürzten, um sie in numerierte Säcke zu stopfen, damit jeder Waidmann hinterher wußte, wie groß seine Beute war. Henri? Und der Colonel? Sie drehte sich um und schaute die Reihe entlang. Lambert hob das Gewehr, feuerte und ließ sich von seinem Lakaien ein frisch geladenes Gewehr reichen, die Bewegungen geschmeidig, doch theatralisch wie stets, und vor lauter Eifer, für einen dieser reichen, untätigen Aristokraten gehalten zu werden, schien Henri keinen Gedanken an den Schlachtsport zu verschwenden. Sie schaute an ihm vorbei zu Colonel Deniau. Mit seinem vernarbten, reglosen Gesicht stand er da wie ein Soldat, feuerte erbarmungslos auf den unsichtbaren Feind am Himmel und 48
ignorierte die elenden toten und sterbenden Tiere, die ihm zu Füßen fielen. Ihr war übel, sie wandte sich hierhin und dorthin, um den Gewehre ladenden Jagdhelfern auszuweichen, den Männern, die tote Vögel einsammelten, den peitschenden Echos der Schüsse, dem Geruch des Schießpulvers, dem Gestank des Todes, und plötzlich spürte Emmeline, daß sie sich übergeben mußte, also raffte sie ihr langes Kleid und rannte zurück zu den Kutschen. Die Kaiserin drehte sich um, sah Emmeline, sah ihr blasses Gesicht, ihre Panik. »Ist alles in Ordnung, meine Liebe?« Emmeline brachte kein Wort hervor, nickte nur und würgte. »Es ist zu kalt«, sagte die Kaiserin. »Daran ist diese Novemberfeuchtigkeit schuld. Wir fahren zurück, und Sie sollten ebenfalls umkehren, wenn Sie nicht wohlauf sind.« Gleich darauf half man der Kaiserin und ihrer Zofe in die Kutsche. Emmeline wandte sich ab, um nicht gesehen zu werden, und übergab sich. Ein Kammerdiener eilte über das Gras auf sie zu. »Madame ist unpäßlich. Würden Sie lieber zurückfahren, Madame?« Sie nickte kläglich mit dem Kopf und tastete in ihrem Muff nach einem Taschentuch, um sich den Mund abzuwischen. Dann hörte sie, wie der Kammerdiener »Georges!« rief. Ein Kutscher kam und legte grüßend die Hand an die Mütze. »Wenn Madame mir folgen wollen?« Er führte sie zu einem Phaeton, half ihr hinauf und deckte sie mit einem warmen Mantel zu. Einige zuschauende Dorfbewohner drehten sich um und sahen ihr nach, als die kleine Kutsche über die königlichen Wege davonrollte. Aus der Ferne klang das wütende Stakkato der Gewehre wie das 49
Krächzen von Krähen. Und dann war sie allein, es war still, und sie war fort vom Lärm des Gemetzels, hörte nur das Klappern der Hufe. Auf der Bank vor ihr saß der Kutscher mit nickendem Kopf, während der Phaeton zurück zum Schloß von Compiègne schaukelte. Es wurde dunkel. Einzelne Tropfen verdichteten sich zu einem Nieselregen. Der Kutscher spannte einen Schirm auf, reichte ihn Emmeline und trieb dann das Pferd zum Galopp an. Sie saß mit geschlossenen Augen da, den Kopf zurückgelehnt, so hielt sie den Schirmstock wie ein Prozessionskreuz umklammert, und wieder stieg Übelkeit in ihr auf. Wenn es weiter regnete, würde man die Jagdpartie abbrechen, und dann kämen sie ins Schloß zurück, um nach neuer Zerstreuung Ausschau zu halten. Vögel töten, Hirsche jagen, Teegesellschaften, Bankette, Scharaden, Konzerte, Tanzen, was es auch sei, Hauptsache, sie überwanden die Langeweile, den Snobismus, die Eintönigkeit ihres Lebens. Warum wollte ich mir einreden, daß der Colonel nicht dazugehört? Schließlich hat er uns hergebracht, wie könnte er da an jemandem wie mir Gefallen finden? Was er auch immer von Henri will, es kommt ihm zupaß, und es amüsiert ihn, mit mir zu flirten; ich wäre eine Närrin, wollte ich etwas anderes glauben. Wenn mich diese Kutsche doch nur nach Rouen brächte. Papa würde mir eine Medizin gegen diese Übelkeit geben; Marie würde mich ausziehen, mir einen Kräutertee zubereiten und eine Wärmflasche in mein Bett legen. Ich sage Henri, ich bin krank, ich sage ihm, ich habe Fieber, ich sage ihm, ich kann hier nicht krank sein, und bitte ihn, mich mit der alten Zofe nach Tours zurückzuschicken, die kann sich um mich kümmern, er braucht nicht mitkommen, er kann die restliche Woche bleiben, kann sich in Szene setzen, mit dem Kaiser über das reden, was der von ihm will, jedenfalls wird er 50
wütend auf mich sein, er war heute morgen schon wütend, weil ich zu spät zum Essen gekommen bin und weil ich nicht mit auf diese chasse à tir wollte. Keiner wird mich vermissen. Ich gehe jetzt ins Bett. Und morgen früh fahre ich. Der Phaeton rumpelte durch die hohen Torbögen, die in den Innenhof führten. Als sie über den Platz fuhren, signalisierte der Haushofmeister vor der Tür die Ankunft einer Kutsche. Zwei Lakaien kamen herbeigeeilt, um Emmeline beim Aussteigen zu helfen. »Madame fühlt sich nicht wohl«, rief der Kutscher von seinem Bock herunter. Sogleich schaute der Majordomus auf eine Liste und rief die Nummer des Lambertschen Zimmers, woraufhin die Lakaien sie wie besorgte Krankenschwestern die langen Treppen hinauf in ihr Zimmer führten. Ein dritter Diener brachte Brennholz und zündete ein Feuer im Wohnzimmerkamin an. »Sollen wir Ihre Zofe rufen, Madame?« »Nein, danke.« Sie ging ins dunkle Schlafzimmer, schloß die Tür, zog ihr Kleid und ihr Korsett aus und legte sich ins Bett. Wie eine Welle schlug die Übelkeit über ihr zusammen und ebbte wieder ab. Augenblicke später fiel sie erschöpft in Schlaf. »Madame? Würden Sie bitte? Könnten Sie dies bitte trinken?« Sie wachte im abgedunkelten, nur von zwei flackernden Kerzen erhellten Zimmer auf. Die alte Zofe beugte sich über sie und bot ihr in einer eleganten Porzellantasse einen Schluck Kräutertee an; das leichte Zittern ihrer Hände ließ die Tasse auf dem Unterteller klirren. »Wie spät ist es?« 51
»Acht Uhr, Madame.«
Acht Uhr. Dann sind sie bald mit dem Abendessen fertig. »Ich habe Sie nicht geweckt«, sagte die alte Zofe, »weil der Arzt angeordnet hat, daß Sie sich ausruhen.« »War der Arzt hier im Zimmer?« »Ja, mit Ihrem Mann, Madame. Sie haben vor einiger Zeit hereingeschaut. Monsieur ist jetzt beim Essen. Er sagte, er wolle heute abend noch vorm Konzert nach Ihnen sehen. Wie geht es Ihnen, Madame? Fühlen Sie sich besser?« »Ich weiß nicht«, sagte sie, doch sie wußte es. Die Übelkeit war vorbei, ihr war nicht mehr kalt, der widerliche Anblick vom Nachmittag nur noch Erinnerung. Mir geht es gut, doch wenn ich nach Hause will, darf ich das nicht sagen. »Danke für den Tee, Françoise.« »Ruhen Sie sich jetzt aus, Madame.« Als sie das nächste Mal aufwachte, kniete ihr Mann am Bett und streichelte ihre Hand. Und kaum blickte sie in sein besorgtes Gesicht, sah sie, was sie einfach nicht ignorieren konnte: Trotz seines selbstsüchtigen Benehmens, seiner Unfähigkeit, ihre Einsamkeit, ihre Langeweile zu verstehen, trotz seines unmäßigen Ehrgeizes liebte er sie. »Wie geht es dir, meine Liebe?«
Wie könnte ich ihn anlügen? »Besser«, sagte sie. »Ich bin untröstlich. Erst als ich von der Jagdpartie zurückkam, habe ich erfahren, was passiert ist. Ich habe dich zwar gesucht, als die Strecke gelegt wurde, aber ich muß gestehen, als es hieß, du seist bereits zurückgefahren, da dachte 52
ich, das hättest du nur getan, um mich zu ärgern. Ach, Liebes, es tut mir leid. Ich hätte mich besser um dich kümmern sollen.« »Ist nicht weiter schlimm«, sagte sie. »Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie all diese Tiere umgebracht wurden.« »Nun, immerhin wissen wir jetzt, was zu tun ist«, sagte er. »Am Samstag soll es eine Hirschjagd mit anschließender Jagdzeremonie geben. Ich rede mit Deniau. Wir lassen dich entschuldigen.« Er erhob sich aus seiner knienden Haltung. »Außerdem habe ich eine gute Neuigkeit, Liebling. Am Freitag empfängt der Kaiser dich, Deniau und mich zu einer Privataudienz. Also können wir uns bis dahin ausruhen und ein paar angenehme Tage verbringen. Außerdem habe ich gehört, daß es morgen einen Theaterabend geben soll, nichts Geringeres als das Théâtre Français. Hoffentlich geht es dir dann so gut, daß du mitkommen kannst.« Er beugte sich über sie und küßte ihre Wange. »Doch schlaf jetzt. Gute Nacht.«
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Drei Das Schloßtheater, so groß wie nur irgendeines in Paris, wurde von vielen tausend Wachskerzen erhellt, deren romantischer Schimmer die Kleider und Juwelen der Damen im Publikum erst richtig zur Geltung brachte. Die Kaiserliche Loge war wie eine Muschel geformt und reichte vom ersten Rang bis hinunter ins Parkett. Die Sitze der Majestäten befanden sich in der Mitte, daneben und dahinter die Plätze der Damen und einiger der bedeutendsten Herren. Die übrigen Herren saßen im Parkett und spazierten während der Pausen im Theater umher. Außer den Gästen des Kaisers hatte man noch eine große Gesellschaft aus einem benachbarten Château eingeladen, um die hinteren Reihen zu füllen. In der plötzlich eintretenden Stille erschien die Kaiserin in der herrschaftlichen Loge, gefolgt vom Kaiser, der sich lächelnd mit den Fingern über die Enden seines langen, gewichsten Schnurrbarts strich. Beim Anblick der Majestäten erhob sich das gesamte Publikum, die Damen versanken in einen Knicks, die Herren verbeugten sich, und die Majestäten neigten dankend den Kopf. Dann öffnete sich auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters der Vorhang. Das Bühnenbild hatte man aus Paris mitgebracht. Die Hauptrollen waren mit den namhaftesten Schauspielern besetzt, dem großen Coquelin, Madeleine Brohan und Madame Favard, allesamt Mitglieder des Théâtre Français. In ihrem schönsten Kleid von Monsieur West saß Emmeline in der zweiten Logenreihe. Sie schaute sich um und fühlte sich wie verzaubert, die Juwelen, die Kleider gaben ihr das Gefühl, daß ihr dieser Abend trotz allen inneren Widerstrebens eines 54
der größten gesellschaftlichen Ereignisse ihres Lebens bescheren würde. Beinahe vom ersten Augenblick an nahm sie das Stück so gefangen, daß Coquelin und Madeleine Brohan für sie zu den lebenden Verkörperungen der dargestellten Charaktere wurden. Und da es ein Rührstück war, mußte sie weinen, so daß sie das Geschehen mit feuchtem Spitzentuch verfolgte. Im entracte kamen ihr Mann und Colonel Deniau zu ihr in die Loge. Sie schienen ihr an diesem Abend ebenfalls wie verwandelt. Selbst Lambert, der sonst jede Theateraufführung mit professionellem Blick prüfte, schien heute abend so begeistert und verzückt wie ein junger Bursche, der sein erstes Theaterstück erlebt. Um halb elf Uhr war die Vorstellung zu Ende, und das gesamte Publikum folgte dem Kaiser und der Kaiserin in die grande salle des fêtes. Der Kaiser bat die Schauspieler zu sich, die, nachdem sie sich ihrer Kostüme entledigt hatten, unter allgemeinem Applaus den Saal betraten. Emmeline beobachtete, wie Coquelin sich mit dem Kaiser unterhielt, wie es ihm gelang, den Kaiser aufzuheitern, daß er mit ihm auf eine gefällige Art scherzte und schwatzte, wie es keiner der distinguierten Gäste in den vorangegangenen Tagen getan hatte. Aus irgendeinem Grund fand sie dies beruhigend, und auf einmal fühlte sie sich so sicher wie seit ihrer Ankunft in Compiègne nicht mehr. Der Kaiser war auch nur ein Mensch, er wollte sich vergnügen, er, der auf der obersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter stand, schaute keineswegs auf Coquelin herab, auf jemanden, der wie ihr Mann auf einer Bühne auftrat. Um elf Uhr wurden Erfrischungen serviert, die Kutschen fuhren vor, und nachdem die Künstler dem kaiserlichen Paar ihre Reverenz erwiesen hatten, verabschiedeten sie sich. Dann zogen sich Kaiser und Kaiserin zurück. Die Gäste vom benachbarten Schloß fuhren in ihren Kutschen davon und 55
ermöglichten es so den übrigen Anwesenden, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen. Auch am nächsten Morgen hielt der Stimmungsumschwung vor. Sie fühlte sich frei, wie auf Wolken, und ließ sich von der grandeur um sie herum nicht länger einschüchtern. Als nach dem Frühstück der Zeremonienmeister zu ihnen kam, um wie gewohnt zu fragen, was sie zu tun gedächten, und Lambert wie gewohnt sagte, daß er lesen wolle, fragte sie zu ihrer eigenen Überraschung, ob sie sich nicht einige Sehenswürdigkeiten in der Umgebung anschauen könne. »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte der Zeremonienmeister. »Es gibt ganz in der Nähe ein schönes Schloß, das Château de Pierrefonds, eine ehemalige Ruine, die der Kaiser wieder aufbauen läßt, eines seiner großen Projekte, das allemal einen Besuch lohnt.« In diesem Augenblick sah Emmeline, wie Colonel Deniau näher kam und nun direkt hinter Henri stand. »Das Château de Pierrefonds, haben Sie gesagt? Das würde ich sehr gern sehen. Würden Sie mir erlauben, Sie zu begleiten, Madame?« »Wunderbar«, sagte Henri und drehte sich zum Colonel um. »Wenn Sie mitfahren, brauche ich kein schlechtes Gewissen haben.« Ihr fiel auf, daß der Colonel in seiner komplizenhaften Art die Bemerkung ihres Mannes ignorierte, um statt dessen sie selbst anzuschauen und auf ihre Antwort zu warten. »Ich muß noch mein Reisekostüm anziehen«, sagte sie, »aber ich könnte in etwa einer halben Stunde fertig sein.« »Ein Landauer mit Picknickkorb wird im Haupthof auf Sie warten, bis Sie soweit sind«, sagte der Zeremonienmeister. 56
Sie lächelte den Colonel an. »Würde Ihnen das recht sein?« »Das wäre ausgezeichnet, Madame. A bientôt.« Der Wald von Pierrefonds grenzte an den königlichen Forst von Compiègne. In Decken und Pelze gehüllt und Seite an Seite sitzend fuhren sie im Landauer auf gewundenen Waldwegen hinaus in den Novembernebel, während trockene, welke Blätter unter den Hufen und Rädern raschelten. Anfangs schwiegen sie und genossen den weiten Ausblick auf Bäume und Seen, doch dann verwickelte Deniau sie in eine höfliche Konversation über das Theaterstück vom gestrigen Abend und über die Schauspieler. Plötzlich sagte er: »Sie wirken heute zufriedener als gestern, und das nicht nur, weil Sie wieder gesund sind. Es scheint, als sei Ihnen der Aufenthalt hier nicht länger verhaßt. Habe ich recht?« »Ja.« »Das freut mich. Es war meine Idee, Sie nach Compiègne einzuladen, wußten Sie das?« »Nein, ich hatte keine Ahnung«, erwiderte sie. »Doch sagen Sie, warum wollten Sie mich hier haben?« »Weil Sie Teil meines Plans sind. Ich weiß, das klingt verwirrend, doch wird Ihnen wohl alles klar werden, wenn wir am Freitag den Kaiser treffen. Sie spielen eine bedeutende Rolle in dieser Angelegenheit. Ja, stimmt – ich habe einen Fehler gemacht. Ich hatte geglaubt, Sie wären von Compiègne begeistert. Und als ich meinen Irrtum bemerkte, war ich entsetzt, aber jetzt – hat das gestrige Stück Ihre Meinung geändert? Das wäre schön.« Wovon redete er? »Warum bin ich Teil Ihres Plans?« fragte sie. »Erzählen Sie.« 57
»Jetzt nicht, doch ich werde es Ihnen bald erzählen, das verspreche ich Ihnen.« Ihre Fahrt durch den kühlen Novembernebel endete an einer abrupten Wegkehre, hinter der sich plötzlich die riesige Feste des Château de Pierrefonds über der kleinen Stadt gleichen Namens erhob. Der Straße folgend, die zum Schloß hinaufführte, erreichten sie in ihrer Kutsche ein Tor, fuhren über einen Weg durch ein zweites Tor auf einen Hof, ratterten schließlich über eine Zugbrücke und kamen vor dem Hauptportal zum Stehen. Während der Colonel ihr beim Aussteigen half, sagte er: »Wollen wir nicht lieber auf die Führung verzichten? Da wird immer soviel geredet. Lassen Sie mich Ihnen das Schloß zeigen, ich kenne mich hier einigermaßen aus. Meinen Sie nicht, daß es viel lustiger wäre, diesen Ort auf eigene Faust zu erkunden?« Nachdem er abgewinkt hatte, als ein Diener sie herumführen wollte, gingen sie durch das düstere Gewölbe einer Kapelle und stiegen einige hundert Steinstufen zu einer Plattform hinauf, die ihnen einen Blick über die kleine Stadt und den angrenzenden Wald bot. Ein kalter Wind blies über die Zinnen, als sie dort nebeneinander standen und hinabschauten. Emmeline zitterte und wandte sich um. Sogleich nahm Deniau seinen pelzbesetzten Umhang und legte ihn ihr um die Schultern, eine Geste, wie sie jedes Gentlemans würdig gewesen wäre, doch ließ Deniau den Umhang nicht los, sondern hielt ihn für einen langen Augenblick gegen ihren Körper gepreßt. »Ich sehe schon, daß Sie für ein wärmeres Klima geschaffen wurden«, sagte er. »Sie brauchen die Sonne und den offenen Raum, Sie brauchen die Wüste. Die Wüste ist von einer Schönheit, wie man sie sich nicht vorstellen kann, solange man sie nicht gesehen hat. Sie müssen unbedingt einmal nach 58
Afrika.« Mit diesen Worten ließ er den Umhang los, den sie nun eng um ihre Schultern zog. »Afrika? Warum sollte ich nach Afrika fahren? Ich verstehe Sie nicht.« »Das werden Sie schon noch verstehen.« Er nahm ihren Arm. »Gehen wir hinunter und schauen wir uns um. Comte de Vogué hat dieses Schloß vor kurzem besucht und mir erzählt, daß er es eigentlich nicht besonders interessant findet. Allerdings hat vor hundert Jahren jemand das Glück gehabt, es für ganze achttausend Francs kaufen zu können. Unglaublich, nicht wahr? Und jetzt läßt es der Kaiser wieder instand setzen. Eines sei allerdings wirklich erstaunlich, sagte Vogué, nämlich der riesige Kaminsims in der salle des gardes. Wollen wir den suchen und dort unser Picknick einnehmen?« Vom Schloßdiener gerufen brachte ihr Kutscher den Picknickkorb in die salle des gardes, eine riesige, leere Halle, die nur mit alten Steinbänken bestückt war und von einem Kamin beherrscht wurde, dessen Feuerstelle so groß wie ein Stall und dessen Kaminzug knapp fünfzehn Meter hoch war, übersät mit Hunderten von gemeißelten Eichhörnchen, die mit steinerner Neugier auf sie herabstarrten. Der Kutscher legte eine Decke vor den Kamin und breitete das kalte Fleisch, Obst, Kuchen und Wein aus. Der Schloßdiener, dem nicht entgangen war, daß sie zu den Gästen der kaiserlichen série gehörten, brachte Kienspan sowie einige größere Scheite und zündete im riesigen Gewölbe des Kamins ein kleines Feuer an. Dann zogen sich Diener und Kutscher zurück und ließen sie in der widerhallenden Weite des Saals allein. Durch die hohen, engen Fenster erhellte eine späte, von kalten Novembernebeln verhangene Nachmittagssonne die dunklen Ecken mit goldenem Dämmerlicht. Emmeline warf die Kapuze 59
ihres Mantels zurück, entblößte den Hals und ließ ihre schwere Lockenpracht über die Wangen herabfallen. Das Feuer krachte und loderte hell auf, und der Rauch zog in trägen Wirbeln über die geschwärzten Kaminwände. Als Emmeline sich vorbeugte, fiel das goldene Dämmerlicht auf ihre Schultern und ihr Haar. »Sie sehen wie ein mittelalterlicher Engel aus«, sagte Deniau, rückte näher, langte nach der Weinflasche und reichte ihr ein Glas. »Wissen Sie, wie die Deutschen Brüderschaft trinken? Nein? Ich zeige es Ihnen. Halten Sie Ihr Glas hoch.« Er beugte sich vor und schob seinen Arm durch ihren, eine Geste, die ihre Gesichter nahe zueinander brachte. »Jetzt lassen Sie uns trinken«, sagte er. »Auf unsere Freundschaft.« Sie war verlegen, denn es lag etwas gefährlich Intimes in dieser Geste, dieser Berührung ihrer Körper, in seinem dunklen, attraktiven Gesicht dicht vor ihren Augen, so daß sie das Glas Wein in einem Zug austrank, ohne recht zu merken, was sie da tat. Als sie ihm ihren Arm entzog, schaute er sie seltsam an. »Freunde? Sind wir jetzt Freunde?« »Natürlich.« Sie senkte den Kopf, mied seinen Blick. »Madame«, sagte er. »Sie sind mir ein Rätsel.« »Warum?« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Sie sind es einfach. Ihr Lächeln ist so geheimnisvoll wie das Lächeln der Gioconda. Sagen Sie, warum sind Sie die Frau eines Zauberers geworden?« Jetzt war sie diejenige, die lachte. »Weil er mich bei einer seiner Vorstellungen zu sich auf die Bühne gerufen hat.« »Hat er Sie verzaubert, ja?«
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Sie lächelte. »So könnte man sagen.« »Und hält er Sie immer noch in seinem Bann?« Sie schaute zu dem kleinen, kalten Himmelsrund am Ende des großen Kaminzugs hinauf. Was soll ich darauf antworten? Ja?
Wenn es doch nein heißen müßte? »Tut mir leid«, sagte er. »Ich war zu vorwitzig. Jedenfalls weiß ich, daß Lambert in Ihrem Bann steht. Sie haben einen Zauberer verzaubert. Sie müßten nur einmal hören, wie er von Ihnen redet.« Er schenkte Wein nach und hielt ihr das Glas hin. Sie schaute in diese dunklen Augen, die sie zur Komplizin machen wollten. Doch sie lehnte das Glas ab. »Danke, ich muß zurück. Die Regeln schreiben vor, daß die Damen um vier Uhr auf ihren Zimmern zu sein haben. Dann nämlich wird die Kaiserin nach mir schicken, falls sie mich zum Tee einlädt.« Er lächelte. »Sagen Sie, glauben Sie wirklich, daß Sie eingeladen werden?« »Nein, aber ich möchte trotzdem zurück. Bitte!« Er stand sofort auf. »Natürlich, Madame.« Nachdem sie ihr Reisekostüm gegen ein Nachmittagskleid aus blauer Ripsseide vertauscht hatte, hörte sie um zwanzig nach vier auf ihrem Zimmer in Compiègne ein Klopfen. Die alte Zofe ging zur Tür, im Flur warteten ein Lakai und ein kleiner Junge. »Monsieur Lambert?« fragte der Lakai. »Monsieur Lambert ist im Theater«, erwiderte die alte Zofe. »Er läßt ausrichten, daß Sie den Jungen dorthin bringen möchten.« 61
Kaum war die Tür wieder geschlossen, fragte Emmeline mit einem Seufzer der Erleichterung: »Halten Sie es immer noch für möglich, Françoise, daß sie mich zu sich bittet?« »Ich schätze, dafür ist es jetzt zu spät«, sagte die Zofe. »Normalerweise werden die Einladungen einige Minuten nach vier überbracht. Und wenn ich mich recht entsinne, Madame, ergehen sie gewöhnlich nur an Damen aus dem Bekanntenkreis der Kaiserin.« »Monsieur ist also im Theater«, sagte Emmeline. »Ja, Madame. Er ist mit diesem Jules dort. Jules sagt, sie kümmern sich um die Vorstellung.« »Eine Vorstellung? Wann?« »Heute abend, glaube ich, Madame.« Um acht Uhr wurde sie zum Essen begleitet, diesmal jedoch nicht von Colonel Deniau, sondern von einem Herrn, dessen Namen sie nicht verstanden hatte, einem korpulenten, mürrischen Mann, der während der gesamten Mahlzeit unablässig redete. »Ist Ihnen kalt?« lautete seine erste Frage, und dann beklagte er sich, ohne ihre Antwort abzuwarten, daß sein Zimmer in einem Teil des Schlosses liege, in dem es überall ziehe und daß der Kamin in seinem Zimmer qualme. »Wenn man kein Fürst, Baron oder irgendeine grande horizontale ist, die der Kaiser in sein Bett locken will, friert man einfach ständig. Und dieses Unterhaltungsprogramm! Ich war vor zwei Jahren hier, und da mußten wir gleich an vier Abenden an diesen langweiligen Scharaden teilnehmen. Es gibt hier ganze Zimmer voller Theaterkostüme, und man wird gebeten, sich irgendeine lächerliche Verkleidung auszusuchen, um so eine dämliche Sentenz darzustellen. Zum Glück ist dies keine aristokratische série. Aristokraten lieben Scharaden. Ich weiß 62
nicht, wie Sie dazu stehen, Madame, aber ich finde die Aristokratie entsetzlich blöde. Dieu merci, so nennt man eine drittklassige série wie diese, in der, doch das dürfte Ihnen bereits aufgefallen sein, die Mehrzahl der Gäste keineswegs zur crème de la crème zählt, sondern reiche Bürger, Bankiers oder betuchte Ausländer sind, Leute also, die der Kaiser sich auf irgendeine Weise dienstbar machen will. Ist Ihr Mann auch hier?« »Ja, dort drüben.« »Tut mir leid. Ich hoffe, ich bin in kein Fettnäpfchen getreten. Er ist doch kein Bankier, oder?« »Nein.« »Gut. Übrigens, da ich gerade über das Unterhaltungsprogramm geschimpft habe, muß ich doch sagen, daß die Theatervorstellung gestern abend gar nicht übel war. Was meinen Sie, Madame?« »Ich fand sie wundervoll.« »Gäbe es so etwas doch nur jeden Abend, dann müßten wir nicht vor Langeweile sterben. So etwas brauchen wir hier. Professionelle Unterhaltung. Ich frage mich bloß, was man uns heute abend vorsetzen wird.« Emmeline schaute an der langen Tafel hinab zu Lambert, der sich wie üblich angeregt mit seinen Tischnachbarn unterhielt. Keine erstklassige série, hatte der Mann gesagt. Ausländer, Bankiers, Leute, die sich der Kaiser auf irgendeine Weise dienstbar machen will. Doch was kann er nur von Henri wollen? Ein Lakai räumte ihren Dessertteller ab und servierte Kaffee. In knapp einer Stunde würde Henri vor all diesen Leuten stehen, nicht als Gast, sondern als Zauberer, um sein Publikum zu amüsieren und zu zerstreuen. Dann ist meine Scharade zu 63
Ende. Und ich werde wieder die Frau des Zauberers sein. Nachdem das kaiserliche Paar um neun Uhr die Hof knickse und Verbeugungen des Publikums entgegengenommen und sich in die Kaiserliche Loge begeben hatte, verkündete der Zeremonienmeister, daß zwei der geladenen Gäste bis zum Beginn des Tanzes das Unterhaltungsprogramm bestreiten würden. Nach diesen Worten hob sich der Vorhang. Auf der Bühne stand ein hochgewachsener Herr, der ein Gedicht vorlas. Emmelines Nachbar murmelte: »Das ist Théophile Gautier.« Wenigstens ist Henri in guter Gesellschaft, dachte Emmeline. Selbst sie hatte schon von Gautier gehört: Ihr Vater hatte sie einmal wissen lassen, daß der Schriftsteller Gautier ein Genie sei. Doch als sie während der Lesung zur Kaiserlichen Loge hinaufschaute, sah sie, daß der Kaiser in seinem Sessel zusammengesunken war und die Augen wie im Schlaf geschlossen hielt. Als der Schriftsteller nach einer halben Stunde zu lesen aufhörte und sich vor seinen Zuhörern verbeugte, schien der Kaiser immer noch zu dösen. Die Kaiserin eröffnete den Applaus. Dann sah Emmeline, wie der Kaiser die Augen öffnete, verhalten klatschte und sich zu seinen Gästen umwandte. Der Vorhang fiel. Nach einer kurzen Pause spazierte der Zeremonienmeister durch die Menge der im Parkett versammelten Herren und schaute zur Kaiserlichen Loge, um den Blick des Kaisers aufzufangen. Als der Kaiser ihm daraufhin seine Zustimmung signalisierte, klopfte der Zeremonienmeister dreimal mit seinem Stab auf die Bodendielen, und der Vorhang gab eine Bühne frei, die bis auf einen kleinen Kartentisch im Hintergrund und eine einfache hölzerne Staffelei in der Bühnenmitte – wie sie Künstler für ihre Zeichnungen benutzen – völlig leer war. Auf 64
dieser Staffelei lag ein schmales grünes Lederportefeuille, auf dem in goldenen Lettern folgende Inschrift prangte: HENRI LAMBERT
Cartons de Dessins Das Publikum wartete. Nach dreißig Sekunden Stille trat Lambert in eben dem Frack, den er zum Abendessen getragen hatte, aus der Seitenkulisse, in der Hand einen kleinen Ebenholzstab mit olivenförmigen Elfenbeinspitzen an beiden Enden. Er lächelte, verbeugte sich vor dem Publikum, ging einmal um das Portefeuille herum und zeigte dabei mit seinem Stöckchen, daß sich nichts unter der hölzernen Staffelei verbarg. Dann legte er den Stab auf den Tisch im Hintergrund und öffnete das schmale Portefeuille, damit jeder sehen konnte, daß es leer war. Er drehte sich zum Publikum um, verbeugte sich, öffnete das Portefeuille erneut und zog ein Bündel Kupferstiche hervor. Das Publikum klatschte. Dann öffnete er wiederum das Portefeuille und entnahm ihm vier Turteltauben, um sie gleich darauf fliegen zu lassen. Der Applaus wuchs, als er das Portefeuille schloß, lächelte und es erneut öffnete, um diesmal drei große Kupferkasserollen herauszunehmen. Er nahm den Deckel von der ersten Kasserolle, damit man sehen konnte, daß sie grüne Bohnen enthielt, in der zweiten verbarg sich eine lodernde Flamme und in der dritten kochendes Wasser. Nachdem er seinem Publikum derart den Inhalt der Töpfe gezeigt hatte, wandte er sich wieder der Staffelei und dem Portefeuille zu, dem er nun einen großen Käfig mit winzigen, von Stange zu Stange hüpfenden Vögeln entnahm. Der Applaus schwoll an, und als Emmeline zur Kaiserlichen Loge aufblickte, sah sie, wie der Kaiser lächelte, wie er klatschte und seine 65
verschlafenen Eidechsenaugen begeistert glitzerten. Lambert machte eine Verbeugung zur Kaiserlichen Loge hinauf, wandte sich dann wieder dem leeren Portefeuille zu und schnipste die Mappe mit dem Zeigefinger auf. Im selben Moment sah der Kopf eines kleinen, lächelnden Jungen daraus hervor. Lambert griff hinein, zog den Jungen aus dem Portefeuille und setzte ihn auf die Bühne. Emmeline erkannte in ihm jenen Jungen wieder, den sie am Nachmittag bereits vor ihrem Zimmer gesehen hatte. Mit erhobener Hand gebot Lambert dem Applaus nun Einhalt und deutete auf die Seitenkulisse. Sein Diener Jules trat hervor und brachte eine niedrige Holzbank zur Bühnenmitte. Dann holte er noch drei kleine Schemel, die er neben drei langen Rohrstöcken zuoberst auf die Bank plazierte. Das Gesicht dem Publikum zugewandt, den Jungen an seiner Seite, zog Lambert eine kleine Flasche aus seiner Tasche. »Eure Majestäten, meine Damen und Herren! Ich habe entdeckt, daß dem Äther eine neue und wunderbare Eigenschaft innewohnt. Sobald diese Substanz auf das höchste konzentriert wird und man es einem menschlichen Wesen erlaubt, sie einzuatmen, wird sein Körper leicht wie ein Ballon.« All das sagte er mit jener Stimme, die Emmeline insgeheim seine professionelle Stimme nannte, eine Art zu reden, die er sorgsam einstudiert hatte, um wie ein Wissenschaftler und nicht wie ein Schauspieler zu klingen. Er ließ den kleinen Jungen nun auf den mittleren Schemel klettern und die Arme ausbreiten. Dann klemmte er je einen langen Rohrstock unter die Arme, um sie in Kreuzpositur zu halten, entkorkte seine Flasche und hielt sie dem Kind unter die Nase. Äthergeruch verbreitete sich im Theater. Das Betäubungsmittel ließ das Kind sogleich in Schlaf versinken. Lambert bückte sich, zog ihm den Schemel 66
unter den Füßen fort und ließ es, einzig von den Stöcken unter den ausgebreiteten Armen gehalten, mitten in der Luft hängen. Mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen schaute das Publikum zu, während Lambert zuerst den langen Stock unterm rechten Arm des Kindes entfernte, so daß nur noch eine einzige Stütze unterm linken Ellbogen verblieb. Dann legte Lambert seinen Zeigefinger an die Hüfte des Kindes und kippte den Körper zur Seite, hob das Kind in eine waagerechte Lage und ließ es scheinbar gewichtslos schweben, denn die einzige Verbindung zur Erde war nun der schlanke Stab unter seinem Ellbogen, ein Stock, der auf einem kleinen Schemel ruhte, der wiederum auf einer niedrigen Holzbank stand. Lambert verbeugte sich vor der Kaiserlichen Loge. Applaus brandete auf, und Bravorufe füllten das Theater, als Lambert sich wieder dem Kind zuwandte und den gewichtslosen Körper mit dem Zeigefinger zurück in eine senkrechte Position schob. Er strich dem Kind mit der Hand übers Gesicht, weckte es auf, fing den Jungen, als er auf dem Schemel ins Wanken geriet, in seinen Armen auf und half ihm sicher auf die Bühne hinab. Dann nahm er das Kind bei der Hand und verbeugte sich erneut vor der Kaiserlichen Loge. Der Vorhang fiel. Die Musik an diesem Abend in der salle des fêtes entsprang einem neuen Wunderwerk, einem mechanischen Piano, dessen Kurbel pflichtschuldigst von einem der Kammerdiener gedreht wurde. Doch es tanzten nur wenige Gäste. Emmeline hörte, wie man sich rings um sie herum über die rätselhafte und faszinierende Vorführung ihres Gatten unterhielt. »Lambert? Ich habe ihn zum ersten Mal gesehen, aber er ist natürlich berühmt.« »Ich weiß, daß er vor einigen Jahren noch sein eigenes Theater 67
in Paris hatte. Damals waren die soirées fantastiques der letzte Schrei.« »Und ich dachte, er hätte sich von der Bühne zurückgezogen.« »Weißt du noch, Hortense, daß wir ihn gesehen haben, als ich noch in Madrid stationiert war? Die Vorführung fand bei Hofe statt, und der König war persönlich anwesend.« »Aber natürlich, ich habe mich hinterher ganz seltsam gefühlt, beinahe so, als hätte ich etwas Übernatürlichem beigewohnt. Und heute abend war mir wieder genauso zumute.« »Aber nein, ist doch nur ein Trick. Aber äußerst geschickt gemacht.« »Nun, ich muß sagen, er ist eine Klasse besser als jeder Zauberer, den ich bisher gesehen habe. Wie er das Kind schweben ließ, das war wirklich unheimlich.« Solche und ähnliche Kommentare kamen ihr zu Ohren, während sie auf der Suche nach Henri und Colonel Deniau zwischen den Gruppen der Gäste umherschlenderte. Doch ihr Gatte war nirgends zu sehen, und erst nachdem sie den riesigen Raum zweimal durchquert hatte, entdeckte sie Colonel Deniau, der sogleich seine Unterhaltung mit einer älteren Dame abbrach und zu ihr eilte. »Ah, Madame! Emmeline! Ich habe bereits überall nach Ihnen gesucht. Wir werden in wenigen Minuten im petit salon erwartet. Ihr Mann ist von Bewunderern umlagert, aber ich werde ihn schon noch rechtzeitig loseisen. Wenn Sie nur hier stehenbleiben, bringe ich ihn her, und wir können alle zusammen hineingehen.« Erneut allein unter lauter Fremden schaute Emmeline auf die Tür zum petit salon, in den sich Kaiser und Kaiserin jeden Abend um zehn Uhr mit einigen privilegierten Gästen zu einem 68
einstündigen Gespräch zurückzogen. Jetzt war es halb elf. Rasch kehrte sie sich zu den Spiegelwänden um und musterte ihr Haar. Man wird mich vorstellen. Ich werde etwas sagen müssen. Nein, überlaß Henri das Reden. Ich verbeuge mich einfach oder mache einen Knicks. Was denn nun? Ganz ruhig. Mir bleibt nicht mal die Zeit, mir das Haar zu kämmen. Warum habe ich bloß vorher nicht daran gedacht? Doch gerade als der Strudel ihrer Verwirrung sie zu verschlingen drohte, kamen Deniau und Lambert auf sie zu. Lambert lächelte und wirkte bei dem Gedanken an die bevorstehende Audienz kein bißchen nervös. »Aha, da bist du ja, meine Liebe. Ist doch hervorragend gelaufen, findest du nicht? Man scheint allgemein begeistert zu sein. Ehrlich gesagt, ich hatte noch keine Gelegenheit, wieder ein wenig zu mir zu kommen.« Er wandte sich an Deniau. »Sie hatten recht, Charles. Es war ein gelungener Einfall, mich heute abend auftreten zu lassen. Nicht zuviel, keine richtige Vorstellung, aber doch genug, um dem Kaiser einen soupçon von dem zu geben, was ich zu leisten vermag.« »Seine Majestät ist offenbar entzückt«, sagte Deniau. »Ich habe den Kaiser beobachtet, während Sie auf der Bühne waren.« Er lächelte Emmeline zu. »Sind wir soweit?« Er nahm ihren Arm. Die Kammerherren, die vor der Tür zum petit salon Posten standen, verbeugten sich vor Deniau und traten zur Seite. Plötzlich befand sich Emmeline in einem mit prachtvollen Möbeln ausgestatteten Salon, der in der hinteren Hälfte von einer riesigen weißen Marmorstatue des kaiserlichen Onkels, von Napoleon I., in vertrauter Pose mit in die Weste geschobener Hand beherrscht wurde. Etwa zwanzig Personen befanden sich in dem Raum, die meisten davon gehörten zum Freundeskreis der Majestäten und wurden bei jedem Essen in 69
begünstigter Nähe zum kaiserlichen Paar plaziert. Emmeline sah die von Bewunderern umgebene Kaiserin, die mit Gautier sprach, jenem Dichter, der vor ihrem Mann aufgetreten war. Der Kammerherr bat sie nun, ihm zu folgen, und führte sie durch das Gedränge direkt ans andere Ende des Saals, wo der Kaiser zu Füßen der Statue seines Vorfahren wie ein König auf einem Thron saß und einem gedrungenen Herrn zuhörte, der in der demütigen Haltung eines Bittstellers vor ihm stand. Nachdem dieser Mann sich verbeugt hatte und vom thronähnlichen Sessel zurückgewichen war, näherte sich der Kammerherr dem Kaiser und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Seine Majestät blickte auf, doch blieb sein schläfriger Blick an Emmeline und nicht an ihrem Gatten haften. Dies war, wie sie sich zu ihrer Verblüffung gestehen mußte, der taxierende Blick eines Lüstlings, ein Eindruck, den der lange, schmale, gewichste Schnauzer sowie der ziegenbockspitze Bart, der den Kaiser wie einen Satyr auf einem Gemälde von Rubens ausschauen ließ, noch betonten. Der Kaiser wandte sich dann an Deniau und begrüßte ihn lächelnd mit den Worten: »Ach, Colonel, da sind Sie ja.« »Euer Majestät, darf ich Ihnen Monsieur und Madame Lambert vorstellen?« Überzeugt, gleich auf ihre Krinoline zu treten, machte Emmeline einen hastigen und unbeholfenen Knicks. Ihr Mann verneigte sich auf geradezu orientalische Manier. »Ein wirklich wundervoller Abend«, sagte der Kaiser zu Lambert. »Sie sind ein Nekromant, mein Herr. Ich glaube, ich habe Sie vor einigen Jahren schon einmal gesehen. War das in Fontainebleau?« »Sehr wohl, Majestät, ich hatte die Ehre.«
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»Und diese entzückende Dame ist Ihre Frau? Ach, wie gern würde ich hier sitzen und mit Ihnen reden, meine Liebe. Das Ärgerliche an diesen abendlichen conversations ist nur, daß eigentlich keinerlei Konversation möglich ist. Zu viele Leute. Wenn ich mich nicht irre, werden wir morgen nachmittag unser Projekt besprechen, nicht wahr, Colonel?« »Ganz recht, Majestät.« »In diesem Fall muß ich Madame Lambert einfach bitten, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren. Dann würde ich mich nämlich ganz besonders auf unser Treffen freuen.« Bei diesen Worten des Kaisers sah Emmeline die Kaiserin und Fürst Metternich näher kommen und merkte sogleich, daß die Kaiserin verstanden hatte, was gesagt worden war. Sie bemerkte, wie die Kaiserin sie mit einem kühlen Blick musterte, sich dann zu ihrem Mann umwandte und sagte: »Mon ami, ich glaube, es wird Zeit, daß wir uns wieder zu den anderen gesellen.« Der Kaiser stand gleich auf, verbeugte sich vor Emmeline und reichte der Kaiserin den Arm. Gemeinsam gingen sie zur Tür, die zur grande salle des fêtes führte, und die Kammerherren bedeuteten den übrigen Gästen im petit salon, ihnen zu folgen. Nachdem sich dann später das kaiserliche Paar zurückgezogen hatte und die Gäste zu Bett gingen, blieb Lambert auf einem Treppenabsatz stehen, legte seine Hände auf ihre Schultern und schaute sie aufmerksam an. »Das war heute dein Abend«, sagte er, »nicht meiner.« »Was meinst du damit?« »Weißt du das nicht? Der Kaiser hat ein Auge auf dich geworfen. Und Deniau ist heute nachmittag mit dir nach 71
Pierrefonds gefahren. Picnic à deux. Muß ich da nicht eifersüchtig sein?« Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
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Vier »Madame? Madame Lambert?« Emmeline ging im winterlichen Sonnenlicht zwischen den Fuchsienrabatten der Schloßgärten spazieren, als sie ihre Zofe den Pfad entlangeilen sah. »Was ist denn, Françoise?« Außer Atem stammelte die alte Frau: »Madame, Marquis de Caux läßt Ihnen ausrichten, daß Sie beim déjeuner neben Seiner Majestät sitzen werden. Sie müssen deshalb bereits an der Tür zur grande salle warten, wenn Ihre Majestäten den Saal betreten, also sollten Sie sich lieber sofort umkleiden, Madame.« »Und mein Mann?« »Die Einladung gilt nur für Sie.« Um fünf vor elf wartete Emmeline mit den anderen Gästen vor der grande salle und sah, wie sich die Türflügel öffneten, um das kaiserliche Paar einzulassen. Im selben Augenblick trat ein Gentleman, der sich als Marquis de Caux vorstellte, zu ihr, reichte ihr seinen Arm und führte sie quer durch den langen Saal eben dorthin, wo der Kaiser und seine Entourage gerade Platz genommen hatten. Der Kaiser erhob sich nicht, lächelte ihr aber zu, als sie sich setzte. Die Kaiserin bedachte sie über den Tisch hinweg mit einem huldvollen Lächeln. Dann gab der Kaiser dem maître d’hôtel ein Zeichen, und sogleich wurden die ersten Speiseplatten in den Speisesaal gebracht. Hinter dem Stuhl des Kaisers stand sein persönlicher chasseur, der die Platten entgegennahm und sie Seiner Majestät offerierte. Nachdem der Kaiser sich selbst bedient hatte, gab sein Leibjäger die Platte an den maître d’hôtel zurück zum Zeichen dafür, daß 73
man nun auch den übrigen Gästen auftragen solle. »Können Sie Krocket, meine Liebe?« fragte der Kaiser und wandte sich an Emmeline. »Nein, Euer Majestät.« »Man hat mir gesagt, es sei in London gegenwärtig der letzte Schrei, und ich würde gern wissen, was es mit all dieser Aufregung auf sich hat. Wissen Sie, ich habe mir in Paris ein Spiel bestellt, und falls es eintrifft, ehe Sie Compiègne verlassen, sollten wir es unbedingt zusammen lernen. Würde Ihnen das gefallen, meine Liebe?« »Ist Krocket ein Kartenspiel, Majestät? Ich fürchte, ich stelle mich bei Kartenspielen schrecklich dumm an.« Der Kaiser lachte. »Nein, man spielt es im Freien, und offenbar muß man versuchen, einen Ball mit einem Schläger zu treffen. Nun, wir werden ja sehen. Sagen Sie, wollen Sie Ihren Gatten nach Afrika begleiten? Ich meine, falls ich ihn überreden kann, uns zu helfen? Jedenfalls hätte ich Sie heute nachmittag gern an meiner Seite. Auf meiner Seite und an meiner Seite.« Er lächelte und legte eine Hand auf ihren Arm. Sie spürte, wie sie errötete, als sie auf die behaarte kaiserliche Hand schaute, die mit langen, manikürten Fingernägeln ihre Haut kitzelte. Dieser Mann, der Sohn von Hortense de Beauharnais, der Neffe von Bonaparte, musterte sie mit wollüstigem Blick, mit begehrlichem, ein wenig spöttischem Lächeln. Nach Afrika? Wieso nach Afrika? »Und lassen Sie uns die chasse à courre nicht vergessen.« Er verstärkte seinen Griff und beugte sich vor, bis sein langer, gewichster Schnurrbart nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. »Sie werden am Sonntag abend mein Gast bei der cureé sein.« 74
»Cureé?« Sie lächelte ihn vage an. »Was ist das, Majestät?« »Das Finale der Hirschjagd. Haben Sie noch nie davon gehört? Nun, warum auch. Sie sind noch so jung. Und wie hübsch Sie sind. Wirklich, sehr hübsch.« Mit diesen Worten schob er seinen Teller fort, der sogleich von seinem chasseur abgeräumt wurde. Dann trug man den zweiten Gang auf, und während der Kaiser davon kostete und sich der Dame zu seiner Linken zuwandte, begann der ältere Herr, der rechts von Emmeline saß, ihr vom Vierpaartanz lancier zu erzählen. »Ich denke mit Schrecken daran«, sagte er. »Ich bin einfach zu alt dafür, doch wenn man dazu aufgefordert wird, kann man unmöglich ablehnen. Tanzen Sie gern, Madame? Vielleicht sollte ich Ihnen verraten, daß der Kaiser großen Gefallen am lancier findet.« In diesem Augenblick begann Emmeline, die Gesprächsregeln der oberen Gesellschaft zu begreifen. Sie mußte nicht verstehen, was man ihr sagte, sie brauchte nur mit vagen Gesten der Zustimmung, mit einem Lächeln oder einem Kopfnicken zu antworten. Das Gespräch diente keinem Zweck, es war nur eine kurze Unterbrechung im Auftischen der Speisen, die erbarmungslos rasch aufeinanderfolgten, um der kaiserlichen Forderung Genüge zu tun, daß kein Essen länger als eine Stunde zu dauern hatte. Als daher der Kaiser fünfzig Minuten später aufstand und sein chasseur den Stuhl vom Tisch fortzog, traten auch alle übrigen Lakaien vor und legten ihre Hände auf die Stühle der Gäste zum Zeichen dafür, daß nun alle aufzustehen hatten. Die Stühle wurden vorgezogen, und die Prozession der Gäste folgte dem herrschaftlichen Paar in die grande salle. Emmeline, die von Marquis de Caux begleitet wurde, sah plötzlich ihren Mann auf sich zu kommen. Er verbeugte sich vor dem Marquis, nahm 75
ihren Arm und führte sie in die Loggia hinauf. »Was hat er zu dir gesagt?« »Wer?« »Der Kaiser. Ich sah, wie er mit dir redete. Hat er dir gesagt, warum er uns eingeladen hat?« »Er möchte, daß ich nach Afrika fahre. Mit dir. Was hat das zu bedeuten, Henri? Warum willst du mir nicht sagen, worum es geht?« »Weil es vertraulich ist. Du wirst es bald genug erfahren. Hat er sonst noch was gesagt?« »Er möchte, daß ich heute nachmittag auf seiner Seite bin, was immer er auch damit gemeint hat.« »Dann wollen sie mich also wirklich.« Er lächelte. »Und was hat er über mich gesagt?« »Gar nichts.« »Ich habe ihn übrigens während des ganzen Essens beobachtet. Er hat dich immerzu angelacht oder dir zugelächelt. Und dann habe ich gesehen, wie er seine Hand auf deinen Arm legte. Weißt du, daß er in dem Ruf steht, ein schrecklicher Roué zu sein? Hat er …?« »Hat er was?« »Als er seine Hand auf deinen Arm gelegt hat, worüber hat er da geredet?« »Über Krocket.« »Krocket?« »Ja. Ein Spiel. Er möchte, daß wir es gemeinsam lernen.« »Wir beide?« »Nein, Louis Napoleon und ich.« Sie begann zu lachen. Er sah 76
aus, als hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. »Deniau wartet um Punkt zwei Uhr unten an der Haupttreppe auf uns«, sagte er. »Verspäte dich nicht.« Und er ging fort. Als Colonel Deniau an diesem Nachmittag die große Schloßtreppe herunterkam, hätte Emmeline ihn in seiner imposanten Paradeuniform mit weitem Cape und goldblattgeschmücktem Käppi beinahe nicht erkannt. Wie die meisten Herren der série hatte der Colonel bis dahin Zivil getragen. Durch die Uniform wurden sein dunkles, attraktives Aussehen und seine militärische Haltung noch betont, so daß Emmeline, als sie ihn auf sich zukommen sah, plötzlich eine heiße, schuldbewußte Erregung packte. Sie eilte ihm unwillkürlich entgegen, und als er sich verbeugte, um ihr die Hand zu küssen, schien es, als wäre er selbst auch von ihrer Stimmung angesteckt. »Wo ist Ihr Mann?« »Er kommt um exakt drei Minuten vor der verabredeten Zeit«, sagte sie. »Das macht er immer.« »Genau wie der Kaiser«, sagte Deniau. »Ihnen ist ja bestimmt schon aufgefallen, daß er seine Zeit in klare Abschnitte einteilt. Doch wer wollte ihm daraus einen Vorwurf machen? Ihm geht momentan ziemlich viel durch den Kopf.« Sie wußte nicht, was dem Kaiser durch den Kopf gehen mochte. Krocket vielleicht? Doch sie schwieg. Pünktlich wie sie es vorhergesagt hatte, gesellte sich Lambert zu ihnen, und zu dritt gingen sie den langen Korridor entlang, öffneten eine Tür und traten in ein Vorzimmer mit zwei wartenden Kammerherren. In eben dem Augenblick, als eine 77
Uhr die halbe Stunde schlug, kamen drei Herren, in ein geflüstertes Gespräch vertieft, aus dem angrenzenden Zimmer. Kaum waren sie draußen, wandte sich einer der Kammerherren an Deniau, der sich daraufhin zu Emmeline umdrehte. »Nach Ihnen, Madame.« Und so war es Emmeline, die sie ins Arbeitszimmer des Kaisers führte. Der Kaiser ging ihr grüßend entgegen, nahm ihre Hände und führte sie, eifrig auf ihr Wohl bedacht, zu einem Stuhl rechts vom Tisch. Er hieß sie sich setzen, nahm dann hinter seinem Tisch Platz und gab Deniau und Lambert ein wenig geistesabwesend zu verstehen, daß sie sich ihm gegenüber hinsetzen sollten. Erst dann bemerkte Emmeline, daß der Kaiser krank zu sein schien: Er verzog das Gesicht vor Schmerz, als er sich vorbeugte, um einen Ordner vom Tisch zu nehmen; dunkle Schatten lagen um seine Augen, das Gesicht war aufgeschwemmt, und Emmeline entdeckte mit Entsetzen, daß ihm Rouge auf die Wangen aufgetragen worden war. Doch als er zu sprechen begann, klang seine Stimme kraftvoll und überzeugend. »Meine Herren, wir wissen, warum wir heute hier sind, doch vielleicht weiß Monsieur Lambert nicht, wie dringend ich seine Hilfe benötige. Colonel Deniau hat Sie vor einigen Monaten gebeten, uns beizustehen, und damals haben Sie, gewiß aus gutem Grund, ihm diese Bitte abgeschlagen.« »Wenn Majestät mir verzeihen wollen«, sagte Lambert. »Ich habe nicht gewußt, daß diese Bitte von Ihnen kam.« »Sie hatten ja recht, mein Lieber. Diese Bitte kam tatsächlich nicht von mir, ich wußte damals gar nichts von dem Ansinnen. Doch lassen Sie mich Ihnen erklären, warum mir dieses Projekt so bedeutsam zu sein scheint. Wie ganz Frankreich weiß, haben unsere Armeen einen großen Sieg auf der Krim errungen. Sowie ich nächste Woche wieder in Paris bin, sollen die Generäle 78
MacMahon und Pelissier in einer feierlichen Zeremonie geehrt werden. Auch unsere Soldaten erhalten Auszeichnungen und ihren Lohn. Sie haben hart und gut gekämpft, und deshalb –« er schaute Colonel Deniau an – »habe ich unserem Generalgouverneur in Algerien mitgeteilt, daß ich nicht eher in den hoffentlich letzten Kampf um die Eroberung dieses Landes verwickelt werden will, bis unsere Truppen daheim eine Ruhepause genossen haben. Er wurde demzufolge von mir angewiesen, das Frühjahr abzuwarten, da wir unsere Armee vorher mit keinen weiteren Missionen betrauen wollen. Doch ich kann verstehen, daß Generalgouverneur Randon eine solche Verzögerung besorgniserregend findet. Er fürchtet, ein gewisser Marabut, ein mächtiger und gefährlicher Mann, könne schon vorher den Heiligen Krieg anzetteln. Sie sind der Experte für die arabischen Länder, Colonel. Was meinen Sie?« »Dieses Risiko besteht tatsächlich, Majestät«, sagte Deniau. »Und wenn der nächste Feldzug bis zum Frühjahr verschoben wird, rate ich um so nachdrücklicher zu dem von mir vorgeschlagenen Schachzug.« Der Kaiser wandte sich an Emmeline. »Das muß für Sie recht verwirrend klingen, meine Liebe. Ich weiß nicht, was man Ihnen bereits erzählt hat.« Emmeline, die ihre Lektion bei Tisch gelernt hatte, lächelte und nickte unbestimmt, woraufhin der Kaiser sich eine lange Zigarre anzündete und mit einem pfeifenden Laut das Streichholz auspustete. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort. »Sie werden bald alles verstehen. Nun –«, er drehte sich zu Lambert um, »ich weiß, daß es sich bei dem, was Sie uns gestern abend gezeigt haben, nur um einen Bruchteil Ihres Könnens handelt, doch um die Araber zu überzeugen, werden wir noch etwas Sensationelleres brauchen, etwas, das sie verängstigt und doch 79
zugleich fasziniert. Colonel Deniau sagte mir, daß Sie unser Mann sind. Er sagte außerdem, er habe Sie derart verblüffende Tricks vorführen sehen, daß man geneigt sein könnte, Ihnen übernatürliche Kräfte zuzuschreiben.« Der Kaiser lachte, paffte an seiner Zigarre, drehte sich erneut zu Emmeline um und blinzelte ihr wie ein böser Onkel zu. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sagte zu Lambert: »Lassen Sie mich erklären, was mir vorschwebt. Ich habe große Pläne für Algerien. Für mich ist dieses Land die Drehscheibe zwischen Ost und West und der Schlüssel für die ökonomische Expansion unseres Imperiums. Nächstes Jahr im Frühling werde ich unsere Armeen nach Afrika führen, die Kabylei unterwerfen und die Eroberung des gesamten Landes zum Abschluß bringen.« Der Kaiser schaute Deniau an. »Und nun, Colonel – erzählen Sie uns etwas über den Marabut.« »Über den Marabut, Majestät? Lassen Sie mich Ihnen zuerst erklären, daß sich die moslemischen Länder in mancherlei Hinsicht grundlegend von unseren Ländern unterscheiden. Marabuts oder Heilige haben dort einen geistigen und politischen Einfluß, der selbst die Macht eines Herrschers übersteigt.« Der Kaiser blies Rauch aus. »Keine angenehme Situation für die Scheichs.« »Gewiß nicht. Und aus diesem Grund kann auch nur der Marabut den Dschihad, den Heiligen Krieg gegen uns erklären. Im Augenblick steht ganz Algerien im Bann eines gewissen Bou Aziz, eines charismatischen Marabuts, der im Süden aufwuchs und dem man wundersame Kräfte nachsagt. Sein Einfluß ist derart groß, daß die Araber fest daran glauben, Gott auf ihrer Seite zu haben und uns im Kampf besiegen zu können, falls er zum Heiligen Krieg aufruft. Generalgouverneur Randon hat 80
mich in meinem Vorschlag unterstützt, Monsieur Lambert nach Algerien zu schicken, um ihn dort vor einheimischem Publikum einige Vorstellungen geben zu lassen, damit wir die Algerier auf diese Weise davon überzeugen, daß nicht nur der Islam über wundersame Kräfte verfügt. Wir würden ihn also mit anderen Worten als einen Marabut präsentieren, der mächtiger als Bou Aziz ist, so daß sie befürchten müssen, daß Gott nicht auf ihrer, sondern auf unserer Seite steht.« »Ich finde die Idee ausgezeichnet«, sagte der Kaiser. »Es ist natürlich ein riskantes Spiel und führt vielleicht zu nichts, aber wenn wir es gewinnen? Nun, falls Sie Erfolg haben, Monsieur Lambert, retten Sie Tausenden von Soldaten das Leben.« Lambert deutete sogleich vor dem Kaiser eine Verbeugung an. »Ich fühle mich durch Euer Vertrauen geehrt, Majestät, und ich werde natürlich mein Möglichstes tun, um mich dessen würdig zu erweisen.« »Gut.« Der Kaiser wandte sich an Emmeline. »Ihr Gatte wird für mehrere Wochen in Algerien weilen, Madame. Er wird umherreisen, da er an verschiedenen Orten auftreten muß, weshalb Colonel Deniau anmerkte, daß sein Aufenthalt gewiß angenehmer verliefe, wenn Sie ihn begleiten würden. Die Entscheidung liegt natürlich allein bei Ihnen, doch soll Algerien angeblich ein überaus interessantes Land sein. Außerdem wird man Ihrem Gatten als einem unserer ranghöchsten Gesandten die Ehren eines Botschafters erweisen. Die Scheichs ebenso wie die französische Gesellschaft werden Sie mit Einladungen zu Festen und Feierlichkeiten überschütten. Und in Algier werden Sie die Gäste des Generalgouverneurs sein.« Emmeline schaute zu Lambert hinüber, der sie mit einem fast unmerklichen Kopfnicken drängte, das Angebot anzunehmen. »Ich würde mit Freuden fahren, Majestät«, willigte sie ein. »Wie 81
Sie schon sagten, es dürfte interessant werden.« Sogleich beugte sich der Kaiser zu ihr, legte ihr wieder die Hand auf den Arm und ließ die Finger in langen, wollüstigen Liebkosungen vom Ellbogen hinauf zu ihren Schultern wandern. »Gut, gut. Was sind Sie doch für ein glücklicher Mann, Lambert, daß Sie mit dieser zauberhaften Frau verheiratet sind. Nicht vergessen, morgen abend sind Sie beide meine besonderen Gäste bei der cureé.« Er stand auf, nahm ihre Hand und preßte Schnurrbart und Lippen auf ihre Haut. »Bis dann, liebe Madame.« Als sie einige Augenblicke darauf zwischen ihrem Mann und Deniau über den langen, zugigen Korridor ging, erfaßte sie plötzlich eine Welle der Erregung. »Aber wann werden wir abreisen?« fragte sie Deniau. »Und was für Kleider soll ich in Afrika anziehen?« »Am siebenundzwanzigsten segelt ein Schiff von Marseille nach Algier«, sagte Deniau, »das nächste legt drei Wochen später ab. Entscheidend ist also, wie rasch Ihr Mann alles Nötige beisammen hat. Was meinen Sie, Henri?« »Ich habe bereits entschieden, was ich mitnehmen will«, sagte Lambert. »Ich könnte rechtzeitig für die Überfahrt am siebenundzwanzigsten fertig sein. Und was ist mit dir, meine Liebe?« Er wandte sich zu ihr um, als hätte er die Frage ernst gemeint, doch wußte sie, daß er keine Antwort von ihr erwartete. »Ja, wir können es bis dahin schaffen«, sagte er zu Deniau. »Was die Kleidung betrifft«, sagte Deniau und lächelte sie an, »nun, drüben wird es um diese Jahreszeit wie an einem trockenen Sommertag in Frankreich sein. Doch keine Angst, wir werden alle nötigen Vorkehrungen gemeinsam besprechen. Es 82
freut mich übrigens außerordentlich, daß Sie uns auf diesem Abenteuer begleiten.« »Der Kaiser ist ein ungewöhnlicher Mann, finden Sie nicht?« sagte Lambert. »Sie wissen, daß ich schon viele Könige, Königinnen und Herrscher kennengelernt habe, aber keiner ist wie er. Ein Mann mit wahrhaft großen Visionen.« Während Emmeline ihm zuhörte, wurde ihr klar, daß es keiner Überredung bedurft hatte, um ihren Mann für diese Aufgabe zu gewinnen. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie ihn noch nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick. Jetzt war er mehr als nur ein Zauberer. Jetzt war er Frankreichs Botschafter auf wichtiger Mission. Dabei spürte sie zugleich, daß Deniau um diesen Dünkel wußte und ihn amüsiert zur Kenntnis nahm. Denn als er sich mit dem gewohnten Lächeln zu ihr umwandte, fragte er: »Was halten Sie von ihm, Madame? Er hat ein Auge für Frauen, nicht wahr?« »Aber die Damen haben ihn auch im Auge«, sagte sie lachend. »Der Kaiser legt Rouge auf.« »Das könnte stimmen«, pflichtete ihr Deniau bei und richtete sich dann wieder an Lambert. »Aber Sie haben natürlich recht, er ist ein Visionär. Denken Sie nur daran, daß er vor neun Jahren noch einfaches Mitglied der Nationalversammlung war. Vier Jahre später dann sein coup d’état, und jetzt ist er Kaiser Napoleon und Sieger auf der Krim. Und ich hoffe, daß er nächstes Jahr um diese Zeit der Eroberer von Algerien sein wird. Mit Ihrer Hilfe, natürlich.« »Mit meiner Hilfe?« Lambert lachte. »Er braucht meine Hilfe nicht.« »Unsinn, mein Lieber, die braucht er. Wir brauchen sie alle.« Doch bei diesen Worten drehte sich Deniau um und 83
zwinkerte ihr zu. Und im selben Augenblick ahnte sie, daß sie in dem fremden, exotischen Land vor einem neuen Dilemma stehen würde. Denn mit diesem kurzen Lidschlag war ihr der Bruch ihrer Treue zu Henri angetragen worden. Am nächsten Morgen überreichte der Kammerdiener, der ihnen wie gewohnt den Kaffee und das Tagesprogramm aufs Zimmer brachte, Emmeline einen Umschlag mit einem Schreiben von Vicomte Walsh, einem der kaiserlichen Kammerherren. Er teilte ihr mit, daß das heutige Programm, das letzte dieser série, eine Hirschjagd sowie am Abend die cureé einschließe, den festlichen Abschluß dieser Jagd. Der Vicomte hatte noch hinzugefügt, daß man für sie einen Platz in der Kutsche von Madame de Fernán Núñez reserviert habe, so daß sie einen guten Blick auf die Jagd haben werde. Ihr Gatte wurde mit keinem Wort erwähnt. Sie reichte Lambert den Brief. »Ich will nicht hin«, sagte sie. »Und warum lädt man dich nicht ein?« »Die Kutsche ist nur für Damen«, sagte er. »Keine Angst, man wird sich schon um mich kümmern.« »Ich will trotzdem nicht hm. Du weißt doch, wie schlecht mir nach der letzten Jagdpartie war, und du hast mir versprochen, mich beim nächsten Mal zu entschuldigen.« »Aber meinst du nicht, daß es jetzt, nachdem diese besonderen Vorkehrungen für dich getroffen wurden, äußerst unhöflich wäre, die Einladung auszuschlagen? Außerdem wird es bestimmt nicht so schlimm wie auf der Jagdpartie, Liebes. Ich bezweifle, daß du nahe genug sein wirst, um den Fangschuß sehen zu können. Darüber hinaus soll es ein herrlicher Anblick sein – die Jagduniformen, die Hunde, all der Prunk. Und vergiß 84
nicht, daß wir heute abend Gäste des Kaisers sind. Wenn man dir diese Nachricht schickt, kann das nur bedeuten, daß er selbst hinter der Einladung steckt. Du weißt doch, wie gern er dich in seiner Nähe hat. Bitte, Emmeline. Heute ist unser letzter Tag, verdirb ihn nicht.« Und er hatte natürlich recht. Der Kaiser mußte mit Vicomte Walsh geredet haben, sie konnte nicht absagen. Und so stellte ein Kammerherr sie wenige Stunden später Madame de Fernán Núñez, der Frau des spanischen Bankiers, vor, und bald darauf saß sie neben Madame Núñez und zwei weiteren Damen in einer stattlichen Berline en route zum Carrefour l’Etoile, dem Treffpunkt im königlichen Forst, wo die übrigen Kutschen bereits am Straßenrand auf die Ankunft der kaiserlichen Gefolgschaft warteten. Die équipage de chasse des Kaisers und die übrigen Waidmänner waren bereits an der Wegkreuzung versammelt, und Madame Núñez, die man, wie Emmeline nun begriff, zu ihrer Begleiterin bestimmt hatte, weil sie in Fragen der Jagd eine Expertin war, begann, sie auf diverse Mitglieder der kaiserlichen équipe aufmerksam zu machen. Zehn Männer gehörten zu einer Mannschaft, Jäger, Piqueure und Kammerdiener zu Pferd, die eine Meute von hundert englischen Jagdhunden zu bändigen hatten. Beim Anblick der Jagdgesellschaft mit ihren roten Jacken und hohen Stiefeln, der Männer, die ihre tänzelnden Pferde zügelten, während sie auf die Ankunft des Kaisers warteten, mußte Emmeline an die Darstellung einer ähnlichen Szene auf einem Gemälde denken. Dies war ein festlicher Aufzug, nichts erinnerte an die Gewehre und die Vorbereitungen für die letzte brutale Jagdpartie, doch schon ritt die Gruppe des Kaisers zur Wegkreuzung, ein erstaunlicher Anblick, die Reiter in ihren grünen, mit karmesinroter und goldener Borte abgesetzten Samtfräcken, den 85
weißen Kniehosen aus Ziegenleder und ihren Dreispitzen. Die wartenden Jäger schlossen sich dem offiziellen Cortège an, die englischen Hunde trieben sich in großen, schwanzwedelnden Rudeln zwischen den Pferden herum, wurden aber von den Jägern der équipe in Zaum gehalten. Und dann, nach einem plötzlichen, schwermütigen Dröhnen der Jagdhörner, galoppierten die Pferde, Reiter und Hunde zum Wald, daß Staub und Blätter aufwirbelten und der Boden unter dem Trommeln der Hufe erzitterte. Unter lautem Peitschenknallen und Kutschergeschrei setzten sich die Equipagen der Gäste auf der breiten Allee in Bewegung und mühten sich, dem Jagdverlauf zu folgen. An einer Wegkreuzung stieß man schließlich auf einen einsamen Reiter, der den Gästen sagte, daß der Hirsch weit vor ihnen ins Wasser gesprungen sei und um sein Leben schwimme, um der Meute der Hunde zu entkommen. Madame Núñez tadelte ihren Kutscher und versuchte, ihn an den übrigen Kutschen vorbeizulenken, um den letzten Augenblick der Jagd miterleben zu können, doch zu Emmelines Erleichterung erwies sich dies als unmöglich, und nur wenige Augenblicke später rief jemand, der Hirsch sei gestellt, woraufhin Madame Núñez widerstrebend erklärte, daß sie nun, da ihr Weg blockiert sei, ebensogut zum Schloß zurückkehren könnten. Zwei Stunden später saß Emmeline in einer Zinkwanne und entspannte sich im warmen Bad, während die alte Franchise ihr Kannen mit heißem Wasser über den nackten Rücken goß. Heute abend würde sie für diesen letzten Abend eine elegante Krinoline von West anziehen, das Haar so frisiert, wie sie es allein nicht fertigbrachte, würde Armreifen tragen und Ohrringe, die nächste Woche zu jenem Juwelier in Paris 86
zurückgebracht werden mußten, von dem sie den Schmuck geliehen hatte. Und nach dem Empfang würde sie ein letztes Mal durch den langen Korridor in die grande salle des fêtes gehen, vorbei an den silbernen Helmen der cent-gardes, würde am Abschiedsgaladiner teilnehmen, um dann mit Henri dem Kaiser und der Kaiserin auf den Balkon zu einem letzten, fackelbeschienenen Ritual zu folgen. Nach der Messe am morgigen Sonntag und einem frühen Mahl würde sie der kaiserliche Zug zurück nach Paris bringen. Und am Montag abend würde sie wieder in Tours sein, wo sie inmitten der schlagenden Uhren und läutenden Glocken wohnte und vier Dienstboten zur Gesellschaft hatte, Dutzende von mechanischen Puppen und einen Mann, der sich wie ein Mönch in sein Arbeitszimmer zurückzog. Diese Woche in Compiègne mit ihren Verlegenheiten, dem Luxus, den Verführungen und Brüskierungen: Würde sie die große Ausnahme in ihren Erinnerungen sein, würden die herrlichen Kleider ungenutzt in Seidenpapier eingeschlagen auf dem Bügel hängen, die Tagesprogramme in ihrem Schreibtisch vergilben? Oder war dies nur der Anfang eines neuen Lebens, in dem Henri in Algerien wie ein Botschafter behandelt würde, in dem sie beide – sollte ihrem Mann gelingen, was man von ihm erwartete – nach ihrer Rückkehr vom Kaiser zu einer weiteren seiner herrschaftlichen séries eingeladen werden würden? Als ihre Zofe eine letzte Kanne mit warmem Wasser über ihre Brüste goß, erhob sich Emmeline, naß und glitzernd, aus der Wanne. Im langen Ankleidespiegel sah sie ihren nackten Körper, jung und schlank: Niemand würde vermuten, daß ich schon zweimal ein totes Kind in mir getragen habe. Ich sehe wie eine Jungfrau aus. Henri ist es, der alt ist, ich aber nicht. Und in diesen Kleidern, in dieser Welt – Compiègne hat mich 87
verändert. Monsieur de l’Aigle, ein älterer Herr, dessen Lackschuhe auf den gebohnerten Dielen des langen Korridors ein schlurfendes Geräusch machten, begleitete Emmeline vom abendlichen Empfang in den Speisesaal zum Abschiedsbankett der série. Ihr fiel gleich auf, daß die Tischdekoration und das Porzellan noch prächtiger als an den übrigen Tagen waren. Und während sie den Anblick bewunderte, erklärte ihr Monsieur de l’Aigle, daß dies das biscuit de Sèvres, das service de chasse war, das traditionell am Abend der cureé aufgedeckt wurde. »Dies ist ein ganz besonderer Abend, Madame.« Ihr fiel auf, daß die Unterhaltung der Gäste tatsächlich angeregter als üblich zu sein schien, die Lakaien besonders aufmerksam darauf bedacht waren, den Herren nachzuschenken und die lange Tafel von Gelächter und den Anekdoten widerhallte, die man sich über gewisse Jagdvorfälle erzählte. Selbst der Kaiser schien seine sonstige schläfrige Aufmerksamkeit abgelegt zu haben und ordnete in Abweichung vom Gewohnten an, daß Kaffee und Liköre nicht an der Tafel, sondern bei einem späten Empfang serviert wurden, einem Empfang, bei dem die Kammerherren von Dame zu Dame eilten, um warnend darauf hinzuweisen, daß der Abend kühl und es daher geraten sei, Schultertuch oder Umhang für die cureé mitzunehmen. Um Punkt neun trat Grand Chambellan Vicomte de Laferrière zu Seiner Majestät, um zu verkünden, daß alles bereit sei. Unter erwartungsvollem Gemurmel schritten Kaiser und Kaiserin zur langen Galerie, die einen Blick auf die cour d’honneur, den großen, zentralen Schloßhof, bot. Die Kaiserin ließ sich von ihrer Zofe einen Zobelpelzmantel reichen und folgte dem Kaiser auf den Balkon, während die Kammerherren 88
sich unter die Gäste mischten und einige begünstigte Damen, darunter auch Emmeline, diskret aufforderten, dem kaiserlichen Paar hinaus in die Nacht zu folgen. Die übrigen Gäste stellten sich zumeist an die zwanzig Fenster der langen Galerie, während sich einige Herren, darunter auch Lambert, auf die zur cour d’honneur hinunterführende Außentreppe setzten. Emmeline wappnete sich innerlich gegen die Abendkühle und zog sich ihr Tuch enger um die Schultern, als sie nach draußen ging. Kaum hatte der Kaiser sie entdeckt, gab er ihr zu verstehen, daß sie sich zu ihm und zur Kaiserin an den vorderen Rand des Balkons gesellen solle. Unten im Hof standen die Lakaien des Schlosses, die Kammerdiener, Höflinge und Dienstmägde in weitem Kreis und hielten die Bewohner von Compiègne zurück, die sich die cureé nicht entgehen lassen wollten. Ranziger Teergeruch stieg von den brennenden Fackeln auf, die von livrierten Domestiken in den Händen gehalten wurden und den Hof in eine brutale, wilde Röte tauchten. Am anderen Platzende, dem kaiserlichen Paar direkt gegenüber, hielt der Oberjäger Kopf und Geweih des am Nachmittag erlegten Hirsches in die Höhe. Das Fell hing noch am Kopf und war zu einem Sack geknüpft, der die Knochen und Eingeweide des Tieres enthielt. Unmittelbar unter dem kaiserlichen Balkon, vielmehr unter den Stufen der Treppe, auf der einige Gäste saßen, versuchten acht Jagddiener, die Meute kläffender, unruhiger Hunde zu bändigen. Während Emmeline voller Entsetzen zuschaute, verbeugte sich der Oberjäger vor dem Kaiser und wedelte mit dem Hirschfell, als zur Fanfare plötzlich aufgellender Jagdhörner die Hunde freigelassen wurden, um sich sogleich auf ihr Mahl zu stürzen. Doch nur Sekunden später knallte der Oberjäger mit der Peitsche, und kurz vor ihrer Beute verharrten die Hunde gehorsam, als fürchteten sie, 89
ausgepeitscht zu werden. Noch einmal gab die Fanfare sie frei, und wieder wurden sie nur wenige Schritte vor dem Sack mit Knochen und Eingeweiden durch einen herrischen Peitschenknall aufgehalten. Die Lakaien hoben ihre Fackeln hoch in den Himmel, und die Hunde kauerten stumm am Boden. Aus dem Dunkel des äußeren Kreises stieg ein Jubelgeschrei aus der wartenden Menge auf. Emmeline spürte, wie sie zitterte. Und in diesem Augenblick strich eine Hand über ihren Rücken, schob die Reifen ihrer Krinoline beiseite, glitt an ihrem Leib hinab und streichelte ihr Gesäß. Sie wandte sich zum Kaiser um, der sie mit hinterhältiger Besorgnis fragte: »Ist Ihnen kalt, Madame? Soll ich Ihnen noch einen Umhang bringen lassen?« Emmeline schüttelte den Kopf und wollte gerade etwas erwidern, als das Schmettern der Jagdhörner die Hunde freigab, so daß sie ihre Belohnung verschlingen konnten. Emmeline starrte hinab, sah, wie die Hunde den Fellsack zerrissen, hörte sie jaulen und knurren, hörte das gräßliche Geräusch zermalmter Knochen, während sich die Meute um die blutigen Gedärme schlug. Sie konnte einfach nicht länger zuschauen und wandte sich zu ihren Gefährten um, sah das verkniffene Lächeln auf den Gesichtern der Damen, das offene Lachen der Herren. Der Kaiser streichelte sie nicht mehr, sondern trat gebieterisch ans Balkongeländer und hob beide Arme in einer Geste des Triumphs. Erneut setzten die Jagdhörner zu einer betäubenden Fanfare an, die Peitschen knallten, und die Hunde, die bis auf Kopf und Geweih alles verschlungen hatten, wurden rasch zur Ruhe gebracht und angeleint. Lächelnd kehrte sich der Kaiser zu ihr um: »Nun können wir wieder hineingehen«, sagte er. »Sie haben sich doch hoffentlich nicht erkältet, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Zittern hatte mit der Kälte nichts 90
zu tun. Jeden Augenblick meinte sie, sich übergeben zu müssen. Sie bemühte sich zu lächeln, da die Kaiserin auf sie zukam und ihr zunickte, doch gleich darauf nahm der Kaiser galant ihren Arm. »Wenigstens hat es nicht lange gedauert«, sagte er zu Emmeline. »Wenn unsere Festessen doch so kurz wären.« Am nächsten Morgen weckte sie im abgedunkelten Dämmer ihres Schlafzimmers ein Klopfen an der Tür. Sie hörte, wie ihr Mann von seinem Sofa im Salon aufstand. Es war nicht wie erwartet der Kammerdiener mit dem Kaffee, sondern Françoise, ihre Zofe, die in ihr Schlafzimmer kam, die Läden öffnete und einen schwarzen Spitzenschleier auf ihr Bett legte. »Entschuldigen Sie die Störung, Madame, aber Madame müssen dies zur heutigen Morgenmesse tragen. Es ist einfach de rigueur. Die Damen haben mantillas im spanischen Stil zu tragen, da Ihre Majestät als Spanierin darauf besteht. Und wenn Madame erlauben, so möchte ich jetzt anfangen, Madames Toilette zu packen.« Und so begann dieser letzte Sonntag morgen damit, daß Emmeline einen schwarzen Schleier trug, als wäre sie in Trauer, und Lambert schickte Jules, Gebetbücher holen, da sie vergessen hatten, welche mitzunehmen. Nach ihrem Morgenkaffee folgten sie dann einem Lakai durch endlose Korridore zur schloßeigenen Kapelle, in der die Messe gehalten werden sollte. Wie von Emmelines Zofe vorhergesagt, trugen alle Damen der série einen Schleier aus schwarzer Spitze, den sie sich nach spanischer Art um Kopf und Schultern drapiert hatten. Die Kaiserin, die ihre Mantilla mit der Selbstverständlichkeit langjähriger Gewohnheit trug, trat ein und kniete allein über den anderen Andächtigen in einem zum Altar hin 91
ausgerichteten Alkoven. Der Kaiser war nicht anwesend. Sobald die Kaiserin ihren Alkoven betreten hatte, traten der Priester und zwei Meßdiener vor den Altar. Die Messe begann. Emmeline kniete in ihrer Bank und neigte den Kopf wie zum Gebet, betete aber nicht. Nach einigen Augenblicken schaute sie auf die versammelten Gläubigen und sah, daß sie, wie so oft während der Messe, nicht die einzige war, der es an Aufmerksamkeit für das Gebet mangelte. Hinter den Spitzenschleiern musterten die Damen verstohlen ihre Nachbarinnen. Die Herren blätterten wie unaufmerksame Schüler im Gebetbuch, und jeder schaute von Zeit zu Zeit einmal zur Nische hoch, in der die Kaiserin kniete, einen Rosenkranz um die Hände geschlungen, die Augen starr auf den Altar gerichtet. Emmeline warf einen Blick zu ihrem Gatten hinüber und sah, daß er, wie stets in der Messe, in sein Gebetbuch vertieft war und gelegentlich die Bewegungen des Priesters am Altar studierte, als könne er eines Tages durch größte Aufmerksamkeit das Wunder der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi selbst nachvollziehen. Was hielt er eigentlich von Wundern? Schloß er, der behauptet hatte, daß derlei nur Illusionen waren, die Mysterien und Wunder der Messe in sein vernichtendes Urteil ein? Vor dem heutigen Morgen hatte sie noch nie daran gedacht, ihn danach zu fragen. Und nun, da sie das schreckliche Tableau der cureé vom gestrigen Abend noch vor Augen und die Hand des Kaisers auf ihrem Gesäß in Erinnerung hatte, fühlte sie sich stärker als je zuvor als die Tochter ihres Vaters, kursierten doch vielerlei Gerüchte, die Dr. Mercier einen Freimaurer nannten. Natürlich konnte niemand sagen, ob dies stimmte, denn es stand außer Frage, daß seine Praxis darunter leiden würde, sollte er sich zu derartigen Ansichten bekennen. Wie die Juden wurden 92
Freimaurer oft die Feinde der Religion genannt, und obwohl man Napoleon in. für liberaler als seine Vorfahren hielt, mangelte es der Kirche doch keineswegs an der Macht, Missetäter zu bestrafen. Dabei hatte Emmeline in frühen Jahren der Frömmigkeit ihrer Mutter nachgeeifert. Als Kind war sie während der Messe nie unruhig gewesen, hatte sich aber oft dem Traum hingegeben, eines Tages Nonne zu sein, jung und rein unter weißem Schleier vor einem mit Kerzen und Blumen geschmückten, in Weihrauch gehüllten Altar zu knien, eine Nonne, die Kranke pflegte, in die Fußstapfen ihres Vaters trat, doch im Gegensatz zu ihm einzig zur Ehre Gottes sich abmühte, eine Nonne, die eines Tages – wie die Märtyrerinnen unter den Nonnen, von denen die Schwestern in der Schule so oft erzählten – vielleicht seliggesprochen wurde, eine Nonne, die nach ihrem Tode direkt zum Himmel aufstieg, um an der Seite Gottes, des Vaters, zu sitzen, nicht mehr Emmeline Mercier, sondern die Selige Schwester Anne Marie vom Heiligen-Herz-Jesu-Orden. Doch all dies war lange her. Im letzten Schuljahr waren ihr die Nonnen wie Gefängniswärterinnen vorgekommen, tadelnde, abweisende Gestalten, keine Frauen wie sie ihre Mutter, ihre Tanten waren, sondern kinderlose, vom Leben ausgeschlossene, gehorsame Mägde einer Männerkirche. Man konnte Krankenschwester werden, oder armen Kindern das Lesen und Schreiben beibringen, ohne sich den rauhen Regeln eines religiösen Ordens zu unterwerfen. Und man konnte natürlich auch heiraten. »Was willst du werden?« hatte ihr Vater gefragt. »Du hast mal gesagt, daß du in meiner Klinik arbeiten möchtest. Willst du das noch immer?« Darauf hatte ihre Mutter wütend eingeworfen: »Die Arbeit in 93
einer Klinik wird sie wohl kaum auf ihr Leben als Frau vorbereiten. Es gibt gewisse Dinge, die eine junge Dame einfach lernen muß. Also sollte sie noch ein, zwei Jahre bei den Klosterfrauen bleiben, dann ist sie alt genug, um selbst zu entscheiden, welchen Lauf ihr Leben nehmen soll.« Letzten Endes hatte sich Emmeline gegen ihre Mutter durchgesetzt. Zwei Jahre lang hatte sie vor ihrer Ehe an drei Vormittagen die Woche als Krankenschwester in Dr. Merciers Klinik gearbeitet. Und in dieser Zeit hatten die Ansichten ihres Vaters den Ausschlag gegeben. Sie war Katholikin, aber nicht mehr fromm. Sie sagte abends kein Gebet mehr auf, ging zwar noch regelmäßig zur Messe und zur Kommunion, dachte aber nicht mehr darüber nach: Sie erinnerte sich kaum noch an ihre alten Träume vom Heiligsein, an die jugendliche Angst vor der Verdammung. Die religiösen Pflichten verkamen zur Routine. Kurz, sie hatte ihren Glauben verloren. An diesem Morgen war die Messe kein Hochamt mit Chorbegleitung, wie man es an diesem Ort erwartet haben könnte, sondern ein schlichter Gottesdienst, wie er in jeder Kirche auf dem Land gefeiert wurde, und der Priester haspelte ihn herunter, als erlaubten Ihre Majestät wie bei den meisten Veranstaltungen der série keine unnötige Trödelei. Und so kam schon nach fünfzehn Minuten der Augenblick, in dem die Hostie hochgehalten wurde. Die Sanctus-Glöckchen bimmelten in der Stille und gemahnten die Gläubigen, in Andacht aufzuschauen, während der Priester die Oblate aus ungesäuertem Brot und den Kelch mit Wein hob, die nun in Leib und Blut Christi verwandelt wurden. Doch als Emmeline in diesem Moment den Kopf hob, wie man es sie von Kindheit an gelehrt hatte, sah sie den Kelch und dachte nicht an das Blut Christi, sondern an das blutige Schauspiel vom gestrigen Abend, 94
an die knurrenden Hunde, ihre blutbefleckten Lefzen, das Krachen der Knochen. Über ihr kniete die Kaiserin wie ein Standbild der Andacht, die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen auf den erhobenen Kelch gerichtet, dieselbe Kaiserin, die gestern vergnügt gelächelt hatte, während sie der satanischen Feier des Todes vorstand. Wieder läuteten die Sanctus-Glocken und verkündeten das Ende der Darbringung von Brot und Wein. Die Gläubigen regten sich, hüstelten, entspannten sich nun, da die Messe dem Ende zuging. Bald würden sie alle aus der Kapelle schreiten, und die Feier wäre vorüber, eine Feier, die für Emmeline an diesem Morgen nur dies eine bedeutet hatte: Ein gesellschaftliches Ritual, ein Gottesdienst, dem am Hofe Napoleons III. keine größere Bedeutung als einer Militärparade zukam. Als sie und Henri ihre Gebetbücher am Kapellenausgang einem Kammerdiener reichten und sie in den Salon gingen, wo sich die Gäste zu einer letzten Prozession über den langen Korridor trafen, vorbei an den statuenhaften cent-gardes, um sich zum Abschiedsessen der série einzufinden, sah sie mitten im Raum den Kaiser stehen und die Verbeugungen und Begrüßungen der sich um ihn sammelnden Gäste entgegennehmen. Während Emmeline noch dieser Szene zusah, wandte sich der Kaiser um, kam zu ihr, nahm ihre Hand, küßte sie und lächelte sein schläfriges Lächeln. »Das ist stets ein trauriger Moment, nicht wahr, meine Liebe? Das Abschiednehmen? Ja, wenn ich so bezaubernde Menschen wie Sie – und Ihren Gatten – kennengelernt habe, da kommt es mir bei derlei Gelegenheiten stets ein wenig so vor, als würde der Zug nach Paris abfahren, noch ehe wir Zeit hatten, uns richtig kennenzulernen.« Was sollte sie darauf antworten? Als sie zögerte, preschte ihr 95
Mann vor: »Es ist für uns beide ein Vergnügen und eine große Ehre gewesen, Euer Majestät. Ich bin gewiß, daß wir die in der letzten Woche erwiesene Großzügigkeit und Euer Wohlwollen nie vergessen werden.« Doch der Kaiser würdigte Lambert keines Blickes. Widerwillig ließ er Emmelines Hand los und sagte: »Wenn Sie aus Afrika zurückkehren, lade ich Sie nach Fontainebleau ein. Fontainebleau bietet einige herrliche Sehenswürdigkeiten, meine liebe Madame, die ich Ihnen mit Vergnügen zeigen würde. Wir haben dort Kähne, Dschunken, alle möglichen Boote, die wir auf einem recht hübschen See schwimmen lassen. Selbst eine venezianische Gondel haben wir dort. Ich kann Sie mir gut in einer Gondel vorstellen, meine Liebe. Nun, vielleicht werde ich Sie ja tatsächlich mal in einer Gondel sehen. Ich hoffe es jedenfalls.« Mit diesen Worten verbeugte sich der Kaiser vor ihr und sagte dann zu dem im Hintergrund verharrenden Grand Chambellan: »Wir sollten uns jetzt zum Essen begeben. A bientôt, meine liebe Madame.«
A bientôt? Doch beim Abschiedsessen und danach auf der Fahrt zur Bahnstation von Compiègne sowie auf der Zugfahrt nach Paris bot sich ihnen keine weitere Gelegenheit, noch einmal mit dem kaiserlichen Paar zu sprechen, das, von schmeichlerischen Gästen umlagert, in Eile und ein wenig besorgt schien, als müßte es nun, da die série beendet war, unverzüglich zur nächsten Verpflichtung eilen. Und so kam es, daß sie an diesem Nachmittag um fünf Uhr bei ihrer Ankunft an der Gare du Nord Colonel Deniau, gefolgt von zwei mit seinem Gepäck beladenen Soldaten, über den Bahnsteig hasten sahen. Der Colonel entdeckte sie, kam ihnen 96
entgegen und sagte zu Lambert: »Wir sollten uns nächste Woche miteinander in Verbindung setzen, ich werde alle nötigen Vorbereitungen treffen. Noch einmal vielen Dank, mein Lieber.« Dann wandte er sich an Emmeline, küßte ihr die Hand und verabschiedete sich merkwürdigerweise mit derselben Wendung wie der Kaiser: »A bientôt, meine liebe Madame.« Inmitten des Gedränges, der umhereilenden Träger und der Kofferstapel verlor Emmeline die militärische Gestalt rasch aus den Augen. Ein Gefühl der Trauer überkam sie, und sie wandte sich an Lambert: »Werden wir ihn wiedersehen, ehe wir abreisen?« »Wahrscheinlich nicht. Er fährt bereits nächste Woche nach Algier.« Und dann wurde es für Lambert Zeit, ihre Zofe Françoise auszuzahlen, die nach Erhalt des Geldes einen flüchtigen Knicks vor Emmeline machte, um dann, den kleinen Koffer hinter sich herziehend, über den Bahnsteig zu entschwinden. Lambert sandte Jules aus, zwei Fiaker zu mieten, die sie mitsamt dem Gepäck zum Hotel Montrose bringen sollten, wo sie die Nacht verbringen würden, ehe sie dann am nächsten Morgen nach Tours zurückkehrten. Es regnete. Die Straßenlaternen strahlten hell entlang der symmetrischen Boulevards in diesem neuen, von Baron Haussmann für den Kaiser geschaffenen Paris, einer Stadt mit fünfzig Meter breiten Alleen, mit großen Plätzen, grünen Parks und riesigen Monumenten, von denen so manches Stein um Stein von alten Plätzen versetzt worden war, um den Träumen jenes Mannes zu genügen, der noch an diesem Morgen Emmelines Hand geküßt hatte. Doch bald bog ihr Fiaker von den breiten, strahlend hell erleuchteten Boulevards in die Stadt der verfallenen Ruinen 97
hinter diesen großartigen Fassaden, bog ein in jene Stadt, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, das Paris der dämmrigen Gassen, der engen Bürgersteige, widerhallend vom Lärm der Hausierer, Jongleure, Klempner, Messerschleifer und anderen Erinnerungen an die mittelalterliche Stadt, die sich im Laufe der Jahrhunderte wie ein Geschwür ausgebreitet hatte, dieses Paris der quartiers, in dem die Provinzler dicht neben den Provinzlern aus derselben Region hausten, diese dumpfe, düstere, dreckige Welt, die von den grandiosen Plänen des Kaisers nun zerstört werden sollte. Wie gewöhnlich zog Lambert sich früh zurück. In ihrem Schlafzimmer im Hotel Montrose lag er mit dem Gesicht zur Wand und schlief oder tat, als würde er schlafen. Sie ging zum Spiegel im schmalen Flur, den Kopf voller Bilder und Erinnerungen an die gerade vergangene Woche. Auf dem Ankleidetisch lag ihr Juwelenkästchen. Sie öffnete es und spielte gedankenverloren mit den Armreifen, den Halsbändern, Ohrringen und Broschen, die sie morgen vor ihrer Abreise zurückgeben mußte. Und dann sah sie das kleine Samtsäckchen unter dem Schmuck, zog es hervor und entnahm ihm jenen Ring, den Lambert ihr bei der Bekanntgabe ihrer Verlobung überreicht hatte, einen Ring mit einem blauen, von winzigen Perlen umgebenen Saphir. Sie mußte daran denken, wie er damals so getan hatte, als würde er das Säckchen zwischen ihren Brüsten hervorholen. Eine Weile lang hatte sie sich sogar gefragt, ob der Ring unecht und all dies nur ein fauler Zauber sei. Doch als sie ihn zu Froment-Meurice in der Rue du Faubourg Saint-Honoré brachte, um ihn anpassen zu lassen, hatte der Juwelier gesagt: »Ein ungewöhnlicher Stein für einen wunderschönen Ring, Madame.« Nun streifte sie den Saphirring über ihren Finger und hob die 98
Hand, schaute in den Spiegel und starrte verwirrt auf diese Emmeline, die ihren Blick erwiderte, sie erinnerte sich an die Zeit vor fünf Jahren, als Lambert mit diesem Ring um sie geworben hatte. In Pierrefonds habe ich noch einen Scherz gemacht, als Deniau mich fragte, wie ich die Frau von Henri Lambert geworden bin. Ich sagte, er habe mich auf die Bühne gerufen. Wir lachten, und Deniau fragte, ob Henri mich verzaubert habe. Ich habe es mit einem Scherz abgetan, aber war es wirklich ein Scherz? Ist alles in meinem Leben Zufall, bedeutungsloses Geschehen oder war es das Schicksal, das mich an jenem Abend ins Theater schickte, damit ich mir eine Vorstellung ansah, die ich mir nie angesehen hätte, wären Papa nicht von einem seiner Patienten zwei Karten für eine Sondervorstellung des weltberühmten Henri Lambert geschenkt worden, der nur an drei Abenden in Rouen gastieren sollte? Allein wäre ich außerdem nie gegangen, doch meine Kusine wollte mitkommen. Und wenn Henri wie ein Zauberer in einem Theaterkostüm ausgesehen hätte, wäre ich jetzt nicht bei ihm in diesem Zimmer. Doch er hat wie ein Gentleman ausgesehen, und als er gleich zu Beginn der Vorstellung ins Rampenlicht trat, auf mich zeigte und fragte, ob ich einen Schal bei mir habe, den er sich ausleihen könne, da weiß ich noch, daß ich meinen Seidenschal nahm, als wäre ich tatsächlich von ihm verzaubert worden, und daß ich zur Bühne ging, halb geblendet vom flackernden Rampenlicht, um an seiner Seite zu stehen und in die Dunkelheit zu schauen. Dieser seltsame Mann, dieser Zauberer, nahm meinen Schal, knüllte ihn zu einem Ball zusammen, schüttelte ihn wieder aus und drehte und wendete ihn, um anzudeuten, daß sich nichts darin verbarg, dann hielt er ihn an einem Zipfel in die Höhe, schüttelte noch einmal, und zu jedermanns Erstaunen fiel eine große Feder zu Boden. Er drehte den Schal, um die andere Seite zu zeigen, und sogleich fiel eine 99
zweite Feder heraus, dann eine dritte und eine vierte, und unter dem Trommelwirbel des Orchesters fiel plötzlich ein Federregen aus dem Schal hervor und bedeckte die Bühne zu meinen Füßen. Ich weiß noch, wie er sich von mir abwandte und an die Rampe trat, um meinen Schal von allen Seiten zu zeigen und zu beweisen, daß sich nichts darin verbarg. Dann band er einen Knoten in alle vier Ecken, strich mit der Hand über den verknoteten Schal, schüttelte ihn aus, so daß die Knoten sich lösten und einen Strauß echter Blumen preisgaben, den er mir unter allgemeinem Applaus überreichte. Den nächsten Augenblick aber werde ich nie vergessen. Als er mich von der Bühne geleitete, beugte er sich zu mir und sagte mit leiser Stimme: »Mademoiselle, mir ist heute abend etwas ganz Besonderes widerfahren. Ich muß Sie einfach wiedersehen.« Und wie von Zauberhand erschienen Notizblock und Stift in seiner Hand. »Erweisen Sie mir die Ehre, und schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Ich werde Ihnen morgen einen Boten schicken. Dies ist für uns beide überaus bedeutsam.« All dies, während das Publikum noch applaudierte; und als hätte ich tatsächlich unter seinem Bann gestanden, schrieb ich meine Adresse auf. Dann kehrte er auf die Bühne zurück, und für den Rest des Abends machte er mir mit jeder wunderbar zauberhaften Geste klar, daß er nur für mich auftrat, für mich allein. Natürlich erzählte ich niemandem, was ich getan hatte. Papa hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn ihm zu Ohren gekommen wäre, daß ich einem völlig Fremden meine Adresse gegeben hatte. Doch ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, und als ich am nächsten Tag vom Unterricht im Saint Sulpice nach Hause kam, wartete ein Umschlag auf mich, von einem Boten überbracht, zusammen mit einem Rosenstrauß. 100
Ob es möglich wäre, daß wir uns an diesem Abend nach seiner Vorstellung träfen? Ob er mich zum Essen einladen dürfe? Und was hat mich ja sagen lassen? Es waren die letzten beiden Sätze in der Einladung: »Glauben Sie mir, liebe Mademoiselle, es ist dies das erste Mal in meinem Leben, daß ich eine solche Gunst von einem Gast meines Publikums erbitte. Denn mein Herz und meine Intuition verraten mir, daß Sie die Frau sind, deren Leben zu teilen mir bestimmt ist.« Wenn ich nun daran zurückdenke, glaube ich, daß er manchmal eine Art Zauberkraft besitzt oder seinen Willen jedenfalls derart konzentrieren kann, daß er andere Menschen zu Taten bewegt, die zu tun sie sich zuvor nie erträumt hätten. Ich, die gehorsame Tochter ihrer Eltern, hätte ihn doch niemals so ohne weiteres heimlich im Hôtel Impérial getroffen, wo er mir beim Diner mit Champagner erzählte, daß er bald aus Paris zurückkehren werde, um mit meinen Eltern zu reden, da er seit dem Augenblick, da er ins Publikum gesehen und mich entdeckt hatte, wisse, daß dies die wichtigste Begegnung seines Lebens sei. »Ich bin nicht wie andere Menschen, liebe Mademoiselle; ich verfüge über die Gabe, meine Zukunft vorhersehen zu können; und ich weiß, daß es von diesem Abend an mein vornehmstes Ziel sein wird, Ihre Zuneigung zu gewinnen.« Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, fand Rouen langweilig, verliebte mich aber nicht in diesen Mann, sondern fühlte mich nur geschmeichelt und war begeistert. Er bot mir an, mich nach Paris mitzunehmen, nach London, Sankt Petersburg, an die Riviera, Orte, an denen er zu Hause war, und drei Tage später kehrte er tatsächlich nach Rouen zurück, um mit meinen Eltern zu reden und sie um die Erlaubnis zu bitten, mich sehen zu dürfen; und er hat sich geweigert, sich von Papas Verachtung 101
beleidigen zu lassen, da er instinktiv wußte, wenn er nur mich zufriedenstellte, dann hatte er das Spiel gewonnen. Und dank seiner Willenskraft und da er ein Mann ist, der beharrlich verfolgt, was er will, haben wir sieben Monate später geheiratet. Die Emmeline im Spiegel lächelte sie an, doch das Lächeln wirkte unecht. Sie kehrte ihrem Spiegelgesicht den Rücken zu, griff nach einem Roman von Victor Hugo und glitt neben ihrem schlafenden Ehemann ins Bett. Nachdem sie wahllos einige Seiten gelesen hatte, legte sie das Buch zur Seite und blies die Kerze aus. Ihr Vater hatte gesagt, Hugo sei einer der größten Romanciers der Romantik, doch wie alle Männer verstand ihr Vater unter Romantik etwas anderes als die Frauen. Romantisch war es, wenn man sich in jemanden oder etwas verliebte, und wenn das Geliebte einem versagt blieb. Heiraten war nicht romantisch. Als Lambert sich in ihrer Hochzeitsnacht auszog, fand sie ihn älter, als sie erwartet hatte, das Haar auf seiner Brust war grau. Und als er sich über ihr aufbäumte, ging sein Atem rauh und mühsam. Sie wußte, daß er einen Sohn wollte, der seine Arbeit fortsetzte, der seine Geheimnisse erbte, seine Zauberkästen, seine mechanischen Erfindungen. Doch der Sohn, den Emmeline ihm gab, war ein toter Fötus, den die Amme an sich nahm, um ihn in den Abfalleimer zu werfen. Letztes Jahr dann, als ihre Zeit erneut gekommen war, war es ein Mädchen, totgeboren, das winzige Gesicht flach und zerdrückt wie ein ungenügender Gipsabguß. Weinend stieß sie das Kind fort. Lambert war im Zimmer und sah ihr Entsetzen. In den nächsten Wochen verbrachte er ungewöhnlich viele Stunden in ihrer Gesellschaft und vernachlässigte seine Arbeit, um ihre Depression zu lindern. Und obwohl man ihnen sagte, daß eine weitere Schwangerschaft keine Gefahr für sie bedeute und durchaus mit einer normalen Geburt enden könne, 102
streichelte oder küßte er sie nur noch dann, wenn er sich um sie sorgte. Sie wußte, daß er sie immer noch begehrte: Sie sah es seinen Augen an, seiner Art, in ihr Schlafzimmer zu kommen und ein Gespräch zu beginnen, damit er bei ihr sitzen und ihr beim Anziehen oder Entkleiden zuschauen konnte. Doch im Bett tat er, als schliefe er, oder er drehte ihr den Rücken zu. Anfangs war sie ihm dankbar, bewies er doch, daß er rücksichtsvoll war und ihr Zeit geben wollte. Doch als sie meinte, sie müsse erneut versuchen, ein gesundes Kind zu gebären, und daher nackt ins Bett kam und sich an ihn drängte, spürte sie zwar, wie sein Penis sich an ihrem Bauch versteifte, doch ihr Mann drehte sich um und onanierte. Warum? Hatte er Angst um sie? Oder wollte er den Sohn nicht mehr, den er sich so gewünscht hatte? In den folgenden Nächten wachte sie auf und spürte, wie seine Hände über ihr Gesäß, ihre Brüste streiften, doch wenn sie sich zu ihm umwandte, rückte er von ihr ab. Und wenn sie fragte, was los sei, schüttelte er den Kopf und sagte: »Ach, nichts. Schlaf jetzt.« Insgeheim fühlte sie sich erleichtert. Die körperliche Liebe hatte sie als Pflicht empfunden. Nach einem Monat streichelte er sie nicht mehr, sondern schlief gleich ein oder täuschte seinen Schlaf vor, das Gesicht zur Wand gekehrt. Und wie in den Tagen vor ihrer Ehe träumte sie wieder von Verkehr mit fremden Männern. Wie hätte sie ihm da seine Bitte abschlagen können, als er sie fragte, ob sie ihn nach Compiègne begleite? Sie hatte doch als seine Frau versagt. Am nächsten Morgen begab sich Emmeline nach dem Frühstück hinaus in die Straßen von Paris, um die geliehenen Juwelen zurückzubringen. Später nahmen sie dann den Zug nach Tours und trafen dort am späten Abend ein. Der Kutscher, der sie am Bahnhof erwartete, war ein junger, ihnen 103
unbekannter Mann aus dem Dorf. Es war dunkel, unsichtbar hing der Mond hinter schweren Regenwolken verborgen. Schweigend fuhren sie über die vertrauten, zerfurchten Wege, durch einen kleinen Wald und holperten schließlich durch die schmale Eichenallee, die zum Manoir des Chênes führte. Jules, der vorn neben dem Kutscher saß, stieg im Dunkeln ab und steckte einen Schlüssel in den Stromkasten links vom Eingangstor. Sogleich flammte eine Petroleumfackel auf. Erschrocken scheute das Kutschpferd, und während der Kutscher die Zügel straff anzog, stieg Jules zurück auf den Bock. Im selben Augenblick rumpelte der lebensgroße mechanische Türwächter aus dem Torhaus und zog, kaum hatte er das Tor erreicht, den Riegel zurück, so daß das Tor zur Seite rollte. Ihr Kutscher, der inzwischen ebenso verängstigt wie sein Pferd war, raste peitscheknallend an der Marionette vorbei, die grüßend ihre Blechhand hob. Wie stets, wenn Lambert zurückerwartet wurde, hatte man einige mechanische Apparaturen aktiviert. Als ihre Kutsche über das Grundstück fuhr, erhellten daher Petroleumfackeln eine Grotte, in der ein bärtiger Alter steif den bemalten Kopf senkte, während seine mechanische Hand die Seiten einer Bibel umblätterte. Bei diesem Anblick packte den Kutscher die nackte Furcht, und er zog derart heftig an den Zügeln, daß die Kutsche fast zum Stehen kam. Als sie vorfuhren, traten der Gärtner und die Magd aus dem Haus, um Jules und dem Kutscher beim Abladen des Gepäcks zu helfen. Kaum stand der letzte Koffer auf dem Boden, sprang der Kutscher zurück auf seinen Bock, packte die Zügel und ließ die Peitsche knallen. Die Kutsche ratterte zum Tor hinaus. »Er hat nicht einmal auf sein Geld gewartet«, sagte Lambert. »Ich hoffe, ich habe bei den Arabern genausoviel Erfolg.« 104
»Wie meinst du das?« Als sie den Flur betraten, nahm er ihren Arm. »Angst«, sagte er. »Angst, mit Staunen und Ehrfurcht vor dem Unbekannten vermengt, vor dem, was wir nicht verstehen. Das ist der Ursprung aller Magie. Dieser Kutscher ist wie die meisten Leute vom Land ungebildet und abergläubisch. Doch selbst er wird auf Jahrmärkten schon Zauberer gesehen haben, Entfesslungskünste und Kartentricks. Doch in Afrika, so hat mir Deniau erzählt, haben die Araber Illusionen, wie ich sie hervorzaubern kann, noch niemals gesehen. Glaub mir, für die werde ich der heiligste aller Marabuts sein.« Im Halbdunkel des Flurs begannen die Uhren in sämtlichen Zimmern des Landhauses elf Uhr zu schlagen, so daß Lamberts letzte Worte in ihrem Lärmen untergingen. Lambert lächelte, als wäre ihm diese Kakophonie von Glockenschlägen eine liebliche, vertraute Musik. »Wieder daheim, meine Liebe. Und es ist schon sehr spät. Morgen werde ich in aller Frühe mit meinen Vorbereitungen beginnen, da ist es wohl besser, wenn ich in meinem Arbeitszimmer schlafe. Gute Nacht, Liebes. Träume was Schönes.« Er küßte sie auf die Wange, die Hände auf ihren Schultern. Seine Augen zeigten diesen erregten Blick, den sie so oft schon gesehen hatte. Er war wieder daheim, zurück an dem einzigen Ort, den er wirklich liebte: dem Laboratorium seiner Illusionen. Als eine Stunde später unzählige Uhren Mitternacht schlugen, lag Emmeline schlaflos in ihrem Bett. Erneut sah sie das verängstigte Gesicht des Kutschers vor sich, sah, wie er auf sein Pferd einschlug und zum mechanischen Tor preschte, weil er 105
fürchtete, im Haus dieses Hexenmeisters festgehalten zu werden. Für die Bauern, und selbst für die Bewohner der nahen Stadt Tours, war ihr Mann keineswegs, wie er selbst annahm, eine gefürchtete und respektierte Person. Gefürchtet war er schon, doch war es Furcht vor seiner Hexenkunst, vor einem, der mit dem Bösen im Bunde war. Für Emmeline war dies so selbstverständlich, wie es für Lambert unbegreiflich bleiben würde, denn ihre Mutter war eine Frau vom Land, geboren in Bercy, gar nicht weit von hier. Ihre Mutter tat zwar, als mache sie sich über solchen Aberglauben lustig, doch Emmeline wußte, daß sie sich in derlei Dingen kaum von ihren bäuerlichen Vorfahren unterschied. In der unwandelbaren Welt, die der Pariser La France profonde nannte, bevölkerten Kobolde, Hexen und Irrlichter die Nacht. Selbst im hellen Sonnenlicht eines Sommertages mochte es geschehen, daß man an einem Grashügel vorbeikam oder ein Feld betrat, das den Wichtelmännern heilig war, diesen übelwollenden Unwesen, die einen Zauber verhängen konnten, einen Zauber, der Unglück brachte. Und warum sollten die Bauern auch nicht an das glauben, was von Generation zu Generation überliefert worden war? Außerhalb ihres Sprengels existierte für sie keine Welt. Die meisten konnten weder lesen noch schreiben, nur wenige waren je in einem Theater gewesen, und selbst in Städten wie Tours oder Rouen glaubten viele Leute im Publikum ihres Mannes, daß seine Erfindungen und Illusionen auf eine Gabe zurückzuführen waren, die ihm jene Welt verliehen hatte, die hinter unserer sichtbaren Welt lag, eine Welt, die von geheimnisvollen Kräften regiert wurde, die stärker als die der Kirche waren und Wunder bewirkten, wie sie kein Heiliger zuwege brachte. Und in der Dunkelheit dachte sie an die kommenden 106
Wochen. Wenn die Araber nun wirklich wie die Menschen von Bercy waren? Wenn sie Henri nicht für einen Heiligen, sondern für einen Diener des Teufels hielten?
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ZWEITER TEIL Algerien 1856
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Fünf »Die Stadt ist weiß und liegt auf einem Hügel«, sagte Kommandant Guizot. »Alle arabischen Häuser sind weiß getüncht, und nur einige neuere Gebäude haben Fenster zur Straßenseite. Wenn man vom Meer kommt, sieht die Stadt wie ein gigantischer Marmorsteinbruch aus. Ein wahrhaft außergewöhnlicher Anblick.« »Und wann kommen wir an?« fragte sie. Der Kommandant schaute über den Tisch zu seinem Ersten Offizier, der antwortete: »Laut Wettervorhersage haben wir ruhige See im Golf von Lyon, mon commandant. Morgen früh, würde ich sagen, kurz nach der Dämmerung.« Colonel Marmont, der leitende Offizier des Marinecorps im Hafen von Marseille, der eigens zu ihrer Begleitung für die Reise nach Algier abkommandiert worden war, wandte sich an Lambert. »Glauben Sie mir, der Anblick lohnt sich. Das heißt, falls es Ihnen möglich ist, so früh an Deck zu sein.« Doch während nun der Dampfer Alexander sechsunddreißig Stunden nach ihrer Abfahrt von Marseille durch den Frühnebel stampfte, stand Emmeline allein auf dem Promenadendeck vor der geräumigen Kabine, die ihnen für die Dauer der Überfahrt zugewiesen worden war. Lambert schlief. Er war kein Frühaufsteher. Es war ihre erste Seereise, die Reise zu einem neuen Kontinent, und sie starrte aufgeregt in die Morgendämmerung, als plötzlich der Bug des Dampfers die Nebelschwaden zerteilte und in der Ferne Land sichtbar wurde, ein langer Deich, hinter dem sich der Hafen verbarg, dann die Stadt auf einem Hügel, gut hundert Meter über dem Meer. Als 109
die Alexander jedoch näher kam und ihr Nebelhorn einen Gruß zum Ufer entsandte, schien Emmeline die Stadt nicht mehr wie der vom Kapitän der Alexander beschriebene Steinbruch, sondern wie eine riesige, bedrohliche Maurenburg auszusehen, deren Zinnen und Terrassen im glühenden Licht der afrikanischen Sonne lakenweiß erstrahlten. Zwanzig Minuten später umrundete die Alexander den Deich, ehe sie in den Hafen einfuhr, und Emmeline ging wieder in ihre Kabine. Lambert, den das Nebelhorn geweckt hatte, saß vollständig angezogen in Gehrock, Hose und weißer Leinenweste vor dem Spiegel und zupfte sorgsam sein Seidentuch zurecht. Ein Kellner schenkte Kaffee ein. Lambert blickte auf, sah sie im Spiegel und sagte: »Du mußt dir etwas Vornehmeres anziehen, meine Liebe. Etwas Helles. Und trage einen Hut. Es wird gleich einen offiziellen Empfang geben.« Er wandte sich an den Kellner. »Wann legen wir an?« »Wir machen um Viertel nach acht fest, und Sie können kurz nach neun von Bord.« »Dann haben wir ja noch genügend Zeit«, sagte Emmeline. »Ich ziehe mich jetzt um, will aber so bald wie möglich wieder an Deck. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß wir endlich da sind.« »Wie du meinst, Liebes, aber ich möchte an Deck nicht gesehen werden. Mein Auftritt sollte erst in letzter Sekunde erfolgen, denn von jetzt an muß ich in der Öffentlichkeit meine Rolle spielen.« Und so stand sie wieder allein auf Deck und schaute über die Reling zu, wie das Fallreep herabgelassen wurde und sich unten auf dem Kai eine Schar Neger (ob das Sklaven waren?) an der Gangway drängte, um das Gepäck der Passagiere zu entladen. Araber, ein Menschenschlag, den sie nur von Zeichnungen oder 110
Gemälden kannte, schauten zum Dampfer hinauf und standen plötzlich leibhaftig vor ihr, Männer mit kurzen Bärten und Schnauzern, die Köpfe bis auf eine lange Haarlocke kahlrasiert. Sie trugen knöchellange Wollgewänder, die von einem Seil aus Kamelhaar, das ihnen zugleich als Turban diente, zusammengehalten wurden. Über diesen Gewändern wurden zumeist lange, wallende Umhänge getragen. Ihre Füße steckten in einfachen rindsledernen Sandalen, doch Emmeline fiel auf, daß einige Männer, die von höherem Rang zu sein schienen, hohe gelbe Lederstiefel trugen. Außerdem entdeckte sie ein Grüppchen arabischer, meist junger Frauen, die weite, in der Taille geschnürte und über der Brust von einer großen Eisennadel gehaltene Wollhemden trugen. Ihr Haar war zu langen Zöpfen geflochten, und an Armen und Beinen trugen sie schweren Schmuck. Ihre Gesichter waren für Emmeline ein Schock. Viele hatten Tätowierungen. In den Ohren hingen große Ringe, und die Fingernägel waren mit Henna rotbraun gefärbt. Die Zuschauermenge rief Grüße zu den arabischen Passagieren hinauf, die sich auf den unteren Decks der Alexander drängten und die Arbeit der schwarzen, Koffer und Kisten schleppenden Träger überwachten. Nach den Trägern gingen die arabischen Passagiere an Land, um mit Verbeugungen, Umarmungen und einem Schwall von Höflichkeiten begrüßt zu werden. In diese Szene platzte ein Trupp französischer Soldaten, der – von einem jungen Offizier in Paradeuniform, einer Militärkapelle und einem Fahnenträger mit der französischen Trikolore angeführt – auf dem Kai aufmarschierte. Die Soldaten waren, der Offizier ausgenommen, mit langen Gewehren bewaffnet und trugen die orientalisch farbenfrohen Uniformen des Zuavenregiments. Mit 111
militärischer Präzision bildeten sie vor der größten Gangway ein Spalier. Gleich darauf wurden einige französische Passagiere, die gerade von Bord gehen wollten, von den Matrosen der Alexander zurückgehalten. Colonel Marmont tauchte neben Emmeline auf. »Kommen Sie, Madame. Wir sind soweit.« Rasch führte er sie zur Gangway, wo Lambert sie ungeduldig erwartete. Auf ein Kopfnicken von Marmont ging Lambert von Bord. Die Militärkapelle setzte zur Marseillaise an. Und als Lambert den Fuß auf arabischen Boden setzte, schnellte die Hand eines jungen Soldaten, der die Kordel eines Ordonnanzoffiziers trug, zum Gruß an die Mütze, dann zog er den Degen und schritt mit Lambert die Ehrengarde des Zuavenregiments ab. Colonel Marmont reichte Emmeline seinen Arm und führte sie die Gangway hinunter zu einem wartenden Landauer. Lambert saß bereits in der Kutsche. Die Militärkapelle schlug einen Trommelwirbel, die Ehrengarde präsentierte ihre Gewehre, und vom Ordonnanzoffizier begleitet, der ihnen im Landauer gegenübersaß, fuhren sie langsam an der arabischen Zuschauermenge entlang. Kaum hatten sie das Tor zum Hafen passiert, bogen sie in eine Straße ein, die kaum breit genug war, zwei Kutschen aneinander vorbeizulassen. »Die Rue de la Marine«, informierte sie der Ordonnanzoffizier. »Sie führt zum großen Markt. In ganz Algier gibt es nur drei doppelspurige Straßen, was den Gebrauch von Kutschen natürlich ziemlich einschränkt.« Die meisten Häuser in diesem europäischen Viertel, so erzählte er ihnen dann, seien neu. Emmeline entdeckte, daß die neuen Häuser Gewölbearkaden im Stil der Pariser Rue de Rivoli aufwiesen. Die Rue de la Marine wurde von Dutzenden dunkler Gassen gekreuzt, die kaum mehr als einen Meter breit waren und in denen sich die Fußgänger seitwärts drehen mußten, 112
wenn ihnen jemand entgegenkam. Diese Einblicke in eine hinter den neuen europäischen Häusern verborgene Stadt, dieses Labyrinth aus fensterlosen Gebäuden, deren obere Stockwerke über das ebenerdige Geschoß hinausragten, so daß die Gassen selbst in der Nachmittagssonne dunkel und unheilvoll aussahen, erfüllten Emmeline mit einem Gefühl böser Vorahnungen. Wie sollten Menschen, die in diesen finsteren Irrgärten hausten, von dem Mann an ihrer Seite beeindruckt sein, dessen einzige Sorge es war, ob seine Utensilien auch sicher durch diese engen Gassen befördert werden konnten. »Man wird Ihnen das Theater in der Rue Bab Azoun überlassen, einer der drei eben erwähnten Hauptverkehrsstraßen von Algier«, beruhigte ihn der Ordonnanzoffizier. »Es ist recht groß und leicht zu erreichen. Und wenn Sie außerhalb der Stadt auftreten, werden Sie bald feststellen, daß Kamelkarawanen selbst das unhandlichste Gepäck transportieren können.« »Mein Gepäck ist nicht besonders unhandlich«, sagte Lambert irritiert. »Es ist nur äußerst zerbrechlich und muß mit größter Sorgfalt transportiert werden.« Während sie an den Pariser Arkaden der Rue de la Marine vorbeifuhren, wandten Europäer und Araber, die über das schattige Pflaster spazierten, die Köpfe nach ihrer Kutsche um. Einige Europäer grüßten, die Männer zogen ihre Hüte, die Damen verneigten sich unter ihren Sonnenschirmen. Und Lambert, als wäre er ein offizieller Würdenträger, winkte der Menge sogleich zu. Emmeline schaute zum Ordonnanzoffizier hinüber. Die Ahnung eines Lächelns huschte über das Gesicht des jungen Mannes. Doch als er merkte, daß ihr seine Regung nicht entgangen war, zeigte er voraus, als wolle er sie ablenken. 113
»Da wären wir, Madame. Der Sitz des Gouverneurs. Maréchal Randon hält sich gegenwärtig allerdings nicht in der Residenz auf, da er mit einigen Soldaten in den Süden gezogen ist. In der Kabylei ist es zu Unruhen gekommen.« »Was für Unruhen?« fragte Lambert. »Ein kleiner Aufstand. Die Kabylei ist noch nicht kolonisiert, was sich allerdings im nächsten Jahr ändern wird, sobald unsere Truppen aus Frankreich eintreffen.« Emmeline hörte nur mit halbem Ohr zu, während sich die Kutsche einem imposanten, von Orangenbaumhainen umgebenen Gebäude im maurischen Stil näherte. Die Trikolore flatterte auf dem Dach, und Zuavenwachen präsentierten die Gewehre, als die Kutsche durch ein verziertes Eisentor in einen geräumigen Innenhof fuhr, den maurische Rundbögen säumten. Emmeline blickte auf. Hoch oben spannte der ungewöhnlich blaue Himmel sein Gewölbe über säulengeschmückten Wandelgängen, grelles Sonnenlicht warf einen goldenen Schimmer auf geäderte Marmorfliesen, reichverziertes Schnitzwerk sowie gekachelte Wände und sprenkelte das rauschende Wasser eines großen Brunnens mitten im Hof mit schillernden Lichtflecken. Sie fühlte sich plötzlich so verzaubert, als fände sie sich in einem Märchenbuch wieder. Dieses wunderbare Gebäude gehörte nicht zu Frankreich, auch wenn die französische Flagge darüber wehte. Dieses Sonnenlicht, dieser Hof, das war Afrika, war fremd, maurisch und magisch zugleich, und ihr beschwingtes Gefühl war ein Rausch des Entzückens. Die Gassen von Algier kamen ihr nicht mehr dunkel und unheilvoll vor, und plötzlich wünschte sie sich, in Afrika daheim zu sein. Arabische Hausdiener brachten sie auf ihre Zimmer. Ein arabischer Majordomus beantwortete Lamberts Fragen nach der 114
Ankunft des Gepäcks und sagte, es würde noch innerhalb der nächsten Stunde gebracht. »Ich brauche einen Lagerraum für einige Dinge«, sagte Lambert. »Er muß verschließbar sein, und ich allein werde den Schlüssel dazu verwahren.« »Natürlich, Monsieur. Ganz wie Sie wünschen.« Die für sie reservierten Zimmer waren geräumig, hoch und kühl, die weißen Marmorwände mit großen, bemalten Steinguttellern geschmückt. Auch der Boden war aus weißem Marmor und nur mit einigen einfachen Matten aus geflochtenen Palmzweigen bedeckt. In jedem Zimmer standen zwei schön geschnitzte, leuchtend hell bemalte Truhen sowie mit Rosenwasser gefüllte Vasen. Neben diesen einfachen arabischen Einrichtungsgegenständen wirkten das europäische Bett, der Ankleidetisch und einige Stühle häßlich und fehl am Platz. Emmeline ging gleich an die Fenster, schlug die Läden zurück und blickte von einem breiten Balkon auf die Flachdächer der Umgebung und den zwei Stockwerke tiefer gelegenen Garten des Herrensitzes mit seinen kleinen Orangenhainen. Dann hörte sie den Majordomus unterwürfig murmeln: »Dies ist die Botschaftersuite, Exzellenz. Ich hoffe, sie ist nach Ihrem Geschmack. Wünschen Sie noch etwas? Dürfte ich Ihnen vielleicht Kaffee und etwas Gebäck bringen lassen?« Der Kaffee, den man nur wenige Augenblicke, nachdem der Majordomus das Zimmer verlassen hatte, in kleinen Porzellantassen auf einem bemalten Blechtablett hereintrug, wurde stark und süß und mit reichlich Bodensatz serviert. Neben den Tassen stand ein Teller mit Datteln, winzigem Gebäck und einer langen, roten, mit Tabak gefüllten Tonpfeife. Als sie auf dem Balkon saßen und in den Hof hinabschauten, konnten sie in der Ferne eine monotone, ungewohnte 115
Geigenmusik hören, die von dumpfen Schlägen auf einer Trommel begleitet wurde. Nachdem sie sich erfrischt und umgezogen hatten, erschien um elf Uhr ein Dienstbote, um ihnen zu sagen, daß Monsieur de la Garde, der Erste Sekretär des Generalgouverneurs, sie zu Tisch bitte. Das Mahl wurde in einem Speisesaal aufgetragen, dessen Fensterläden geschlossen blieben und in dem schwarze Dienstboten den Gästen Luft zufächelten. Die Küche war französisch, und außer Monsieur de la Garde waren drei hochrangige Offiziere des diplomatischen Corps mit ihren Frauen anwesend. Nach anfänglichen Höflichkeiten kam man bald auf die Abwesenheit von Maréchal Randon zu sprechen. »Ich habe heute morgen Nachricht von ihm erhalten«, berichtete Monsieur de la Garde. »Wie Sie wissen, blieb diese neueste Unruhe auf die Gegend um Souk el Arba beschränkt. Dort hat der Maréchal vor drei Tagen eine Zusammenkunft mit den Rebellenführern abgehalten, und einer der Scheichs hat zu unserem Glück im Namen aller Versammelten einen vorläufigen Waffenstillstand verkündet. Offenbar hat der Marabut Bou Aziz diesen Scheich wissen lassen, daß Allah den Völkern Arabiens noch keinen Befehl zum Aufstand erteilt hat. Unser Glück hält also vor. Maréchal Randon und Colonel Deniau sind auf ihrem Weg zurück nach Algier. Mit ihrer Ankunft wird übermorgen gerechnet.« Emmeline hörte nur, daß Deniau fort war, aber bald zurückkehren würde. Dabei hatte sie sich für dieses Essen besonders adrett angezogen und sich gleich bei Betreten des Saals nach ihm umgesehen. Madame Duferre, die Dame zu ihrer Linken, sagte: »Wie ich hörte, haben Sie und Ihr Gatte Colonel Deniau bereits kennengelernt. Sie sollten ihm hier unbedingt einen Besuch abstatten. Sein Haus liegt in der Nähe 116
der Zitadelle im arabischen Viertel. Es ist wirklich überaus ungewöhnlich, meine Liebe.« »Ist er …?« Plötzlich wurde Emmeline unruhig. »Ist der Colonel verheiratet? Ich habe nie daran gedacht, ihn danach zu fragen.« »Oh, nein. Er ist ein überzeugter Junggeselle. Das ist ja auch verständlich.« »Ja? Wieso meinen Sie?« »Der Leiter des Bureau arabe verbringt sein halbes Leben mit Reisen in die Wüste. Er führt alles andere als ein häusliches Dasein.« Monsieur de la Garde wandte sich an Lambert. »Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, Monsieur, daß Randons frühzeitige Rückkehr für uns alle eine gute Nachricht ist, da wir bereits alle führenden Scheichs und Marabuts des Landes zu den in zwei Wochen stattfindenden Herbstfeierlichkeiten eingeladen haben. Und wir hoffen, den Gästen bei dieser Gelegenheit auch eine Kostprobe Ihrer besonderen Fähigkeiten bieten zu können. Wenn sich die Unruhen in der Kabylei ausgeweitet hätten, wären wir gezwungen gewesen, die Feierlichkeiten abzusagen. Ich hoffe, Monsieur, zwei Wochen reichen Ihnen zur Vorbereitung?« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Lambert. »Wie ich hörte, wird mir ein Theater zur Verfügung gestellt?« »Ganz recht. Es liegt in der Rue Bab Azoun. Die Fassade bietet einen imposanten Anblick; ich schätze, Sie werden zufrieden sein.« »Das Theater war früher übrigens eine Moschee«, sagte einer der Offiziere. »Als wir die Stadt übernahmen, gab es viel zu viele Moscheen in Algier, und manche davon nutzen wir nun zu 117
unseren Zwecken.« »Richtig, ich hatte ganz vergessen, daß es einmal eine Moschee war«, erwiderte Monsieur de la Garde. »Es könnte nützlich sein, sich daran zu erinnern. Die Araber werden es jedenfalls kaum vergessen haben. Ihre Vorstellung, Monsieur Lambert, könnte unter diesen Umständen durchaus religiöse Züge annehmen, wundersame Züge geradezu.« Die Gäste lachten, doch Lambert lächelte nur und hob sein Glas: »Auf ein Wunder«, sagte er, »auf ein französisches Wunder.« Als am selben Tag kurz vor Sonnenuntergang lange Schatten auf die Dächer der angrenzenden Gebäude fielen, bemerkte Emmeline arabische Frauen, die auf den luftigen Terrassen herumspazierten, schwatzten und sich dabei aufmerksam umsahen. Als sie Emmeline entdeckten, wurde sie offen angestarrt, kaum aber ließ sich Lambert blicken, wandten die Frauen sich ab und hoben ihre Musselintücher vor das Gesicht. Doch als trieben sie ein Spiel, kicherten sie dabei und warfen dem ausländischen Mann verstohlene Blicke zu. »Es ist kühler geworden«, sagte Lambert zu Emmeline. »Lieutenant Lecoffre hat uns eingeladen, mit ihm in ein Café zu gehen und dem abendlichen Treiben zuzuschauen. Wie wär’s, hast du Lust?« Lieutenant Lecoffre, jener Ordonnanzoffizier, der sie am Morgen begleitet hatte, begrüßte sie im riesigen zentralen Hof der Residenz mit einer Verbeugung und führte sie dann über die Rue de la Marine zu einem italienischen Café, wo sie im Schutz der Arkaden auf dem Bürgersteig saßen, Eis aßen und das Kaleidoskop der vorüberschlendernden Passanten betrachteten. Emmeline war wie gebannt, als säße sie in einem 118
Theaterstück. Selbst in Paris hatte sie noch nie derart viele Trachten und Hautfarben gesehen. »Aber wer sind all diese Leute?« fragte sie Lecoffre. »Mir kommt es beinahe so vor, als wäre ich in mehreren Ländern zugleich.« Der Lieutenant erwiderte amüsiert: »Nun, lassen Sie uns mal sehen. Man kann an ihrer Kleidung gleichsam ablesen, welchem Volk sie angehören. Die Araber erkennen Sie an den Bärten. Die mit den grünen Turbanen haben die heilige Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, und diese beiden Männer dort mit den goldbestickten Westen und weiten Hosen sind Mauren.« »Und wer sind die Hellhäutigen dort?« fragte Emmeline. »Das sind die, die uns solchen Ärger bereiten. Sie sind Kabylen, keine echten Araber, sondern ein Beduinenvolk aus dem Süden.« Dann zeigte er auf eine Gruppe von Schwarzen in arabischen Gewändern. Sie sahen anders als die Neger aus, die Emmeline in Frankreich gesehen hatte, ihre Haut war eher aschefarben. »Viele von ihnen sind Sklaven, die man aus Südafrika hergebracht hat«, sagte der Lieutenant. »Und der Mann, der hinter uns sitzt, ist ein Türke. Die dort, die mit den schwarzen Burnussen und dunklen Strümpfen, das sind keine Araber, sondern Juden. Früher hat man sie gezwungen, Schwarz zu tragen, und heute tragen sie die schwarzen Kleider zum Zeichen ihres Stolzes. Die Araber verachten Schwarz, sie überlassen diese Farbe den Ungläubigen.« »Aber wir Franzosen sind doch auch Ungläubige«, sagte Emmeline. »Stimmt, wir sind Ungläubige, aber wir sind die Eroberer, Madame. Ganz anders die Juden. Es gibt wohl kaum ein Volk in 119
der arabischen Welt, das so verachtet und schlecht behandelt wird wie sie. Ich selbst muß allerdings sagen, daß ich ihre Frauen überaus reizend finde. Schauen Sie, diese beiden Mädchen da zum Beispiel sind Jüdinnen.« Emmeline starrte die beiden jungen Frauen an, die wirklich sehr hübsch aussahen in ihren langen Seidenkleidern, mit ihren Seidentüchern um den Hüften und den bestickten Seidenschals, die sie sich locker um den Kopf geschlungen hatten. Dann wies der Lieutenant auf einige Männer, die in ein Gespräch vertieft an ihnen vorübergingen. »Kuruglis. Sie kontrollieren einen Großteil der Stände im Basar. Eine eigene Rasse, Abkommen von Arabern und Türken. Den Basar müssen Sie sich unbedingt ansehen, Madame. Es gibt dort allerlei Kleinigkeiten, von denen Sie mancherlei sicher gern als Souvenir mit nach Hause nehmen möchten.« In der Menge entdeckte Emmeline aber auch zahlreiche Europäer, und sie bemerkte, daß einige Männer sie interessiert musterten. Lieutenant Lecoffre war dies ebenfalls nicht entgangen, und er wandte sich mit einem weltmännischen Lächeln an Lambert: »Ich muß Sie warnen, mein Herr, bei einer derart hübschen Frau sollten Sie auf der Hut sein. Wir haben hier in Algier einfach zu viele unverheiratete Männer, ob nun Italiener, Portugiesen, Deutsche, Russen oder Polen.« Er schaute Emmeline kokett an. »Und wir Franzosen sind natürlich auch noch da.« Lambert zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren. »Sagen Sie«, bat er statt dessen, »wie viele von diesen Arabern, diesen Kabylen oder wie immer sie heißen, wie viele von denen sind Moslems?« »Alle, bis auf die Juden natürlich. Selbst die Schwarzen sind Moslems. Sie werden sehen, Kabylen, Neger, Kuruglis, Araber 120
und Türken, ob reich oder arm, wenn der Muezzin ruft, knien sie sich alle unterschiedslos fünfmal am Tag hin, um ihre Gebete zu verrichten.« »In den Moscheen?« fragte Lambert. »Jeden Tag?« »Jeden Tag und an jedem Ort. Sie knien im Sand in der Stille der Wüste oder in einer schmutzigen Gasse in einem abgelegenen Dorf. Überall, zu jeder Zeit, sobald der Gebetsruf erschallt. Ihr Glaube ist sehr stark.« »Aber versuchen wir denn nicht, sie zu bekehren?« fragte Lambert. »Wir haben doch bestimmt Missionare hier, oder nicht?« »Sie zu bekehren? Da sollten Sie lieber mal den Erzbischof von Algier fragen. Ich fürchte, unsere Priester haben keinen allzu großen Erfolg in diesem Teil von Afrika. Die Jesuiten kümmern sich um die Kabylen, und angeblich haben sie einige Fortschritte erzielt. Doch mit den Arabern ist es eine andere Sache. Sie halten Jesus für einen Propheten und glauben, ihm Respekt zu schulden. Doch Mohammed ist Gottes großer Prophet, und sie verehren nur ihn allein. Er hat versprochen, daß ein Erlöser sie aus der Knechtschaft ins Paradies führen wird. Und sie warten noch immer auf die Ankunft dieses Erlösers, den sie den Mahdi nennen, den Erwählten.« »Den Mahdi? Nennt man nicht auch den Marabut so?« Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Er wurde als Mahdi noch nicht anerkannt; das geschieht erst, wenn er zum Heiligen Krieg aufruft.« Er wandte sich an Emmeline. »Sie finden dies Gerede über Politik bestimmt ziemlich langweilig, Madame. Außerdem sollten wir allmählich zur Residenz zurückkehren. Wir essen um neun Uhr zu Abend, dann ist es etwas kühler. Es sollte Ihnen also noch genügend Zeit bleiben, sich 121
umzukleiden.« Sich umkleiden, ja, doch mit den West-Kostümen, die für die französischen Temperaturen im November gedacht waren, wußte sie in diesem afrikanischen Klima nichts anzufangen. Als sie schließlich verspätet den Speisesaal neben dem herrschaftlichen Innenhof betrat, trug sie ein Kleid, das ihr Madame Gott, ihre Schneiderin in Tours, genäht hatte, ein Kleid, das sie, wie sie nun begriff, zu einer Provinzpomeranze aus Rouen abstempelte, zur Frau eines Mannes, der niemals dieser kolonialen Aristokratie von Diplomaten und hohen Offizieren angehören würde. Sie spürte nur allzu deutlich, daß dieses Herrenhaus, der offizielle Sitz des Generalgouverneurs von Algerien, ein Hof wie der Hof in Compiègne war, zumal der Generalgouverneur vor kurzem vom Kaiser persönlich mit der höchsten militärischen Ehre ausgezeichnet worden war, dem Titel eines Maréchals von Frankreich. Doch ihr Unbehagen legte sich ein wenig, als sie mit Lambert den Saal betrat und Monsieur de la Garde nebst Frau sie erwartete, willkommen hieß und de la Garde selbst, der ranghöchste Diplomat, ihr den Arm bot und sie zu ihrem Ehrenplatz an der Tafel führte. Neger trugen das Essen auf, und kaum saßen die Gäste, wehte Musik vom angrenzenden Innenhof herüber. Emmeline konnte die um den zentralen Brunnen versammelten Musiker sehen, die arabische Gewänder trugen und unter der Leitung eines alten Mannes spielten, der sein Instrument, eine dreisaitige Geige, mit feierlicher Würde zu handhaben wußte und sich hin und wieder in ihre Richtung verbeugte. »Das Konzert«, sagte Monsieur de la Garde, »wird zu Ehren Ihres Mannes gegeben. Dieses kleine Orchester ist in unserer Gegend ziemlich berühmt, denn der alte Mann dort war der 122
Lieblingsmusiker des Bey, des letzten türkischen Herrschers zu Zeiten des Osmanischen Reiches. Morgen wird man sich in den Kaffeehäusern erzählen, daß er heute für Ihren Gatten gespielt hat, für den großen Zauberer. So etwas ist in der arabischen Welt durchaus nicht ohne Bedeutung.« Sie war dankbar für die Musik. Das Klagen der Geige, in das sich die Klänge der Flöten und Gitarren mischten, schuf eine sanfte, monotone Melodie, die sie friedlich und einlullend fand und die es ihr wie in Compiègne erlaubte, so zu tun, als lausche sie aufmerksam, während sie sich gleichzeitig dem Gespräch entzog. Lambert war dagegen in seinem Element, als die Tischgesellschaft, die sich lebhaft für diesen Gast aus einer ihr bislang verschlossenen Welt interessierte, ihn mit Fragen über seine Vorstellungen bei Hofe in Rußland und England bombardierte. Er stand heute abend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und als sie später auf ihre Zimmer gingen, trat er hinaus auf den Balkon, breitete die Arme aus, starrte auf die dunklen Maurendächer und sagte: »Seltsam, aber mir kommt es vor, als gipfele mein ganzes Leben in dieser einen Reise. Mehr als alles Gewesene sind diese Tage hier der Grund, weshalb ich auf Erden bin.« Sie gab keine Antwort, und einen Augenblick später ging er, als hätte ihr Schweigen ihn irritiert, zurück in den Salon und sagte: »Für morgen früh habe ich veranlaßt, daß man mir das Theater zeigt. Und Madame Duferre hat sich erboten, so wurde mir vom Leutnant berichtet, dich morgen über die einheimischen Märkte zu führen. Das dürfte für dich recht interessant werden.« Er nahm sie in die Arme und gab ihr, wie so oft auch daheim, einen flüchtigen Gutenachtkuß. »Schlaf gut, bis morgen also.« Wenn sie keine getrennten Betten hatten, kleidete sich 123
Emmeline erst dann aus und legte sich neben ihren Mann, wenn er Zeit gehabt hatte, einzuschlafen oder zumindest so zu tun. Sie ging auf der langgestreckten Terrasse des Balkons spazieren und lauschte auf die nächtlichen Geräusche der fremden Stadt: Stimmen, die sich in einer unbekannten Sprache etwas zuriefen, das ferne Dröhnen einer dumpfen Trommel. Sie blickte zu den ansteigenden Reihen weißer, gruftähnlicher Gebäude hinauf, zu den dunklen Adern der engen Gassen, die sich zum arabischen Viertel unterhalb der Zitadelle hinaufwanden, dorthin, wo Deniau sein Haus hatte, das Madame Duferre »wirklich überaus ungewöhnlich« genannt hatte, »doch ist er natürlich kaum da. Der Leiter des Bureau arabe verbringt sein halbes Leben mit Reisen in die Wüste. Er führt alles andere als ein häusliches Dasein.« Auf Kamelen durch die Wüste reiten, in Zelten schlafen. Und hier in Algier wohnt er im Viertel der Einheimischen. Wieder schaute Emmeline auf diese weißen Gebäude. Warum denke ich nur immerzu an ihn, an diesen Mann, den ich kaum kenne, der mir Komplimente gemacht und mir jene bedeutungsvollen Blicke vielleicht nur deshalb zugeworfen hat, weil er mich mit meinem Mann in dieses Land locken wollte? Warum denke ich jetzt noch häufiger an ihn als in Compiègne? Etwa, weil ich in Afrika bin, wohin ich nie zu kommen glaubte, und er zum Zauber dieses Ortes gehört? Wie soll ich sagen, es gibt dafür keine Worte, von jenem Augenblick an, als ich auf Deck stand und diese Stadt auf dem Hügel sah – was hat Henri gerade noch gesagt? »Mir kommt es vor, als gipfele mein ganzes Leben in dieser einen Reise.« Das kann ich auch von mir behaupten, doch habe ich hier keine Aufgabe, keinen Grund, derlei zu sagen oder zu fühlen. Und dennoch fühle ich es. Ich fühle es ganz deutlich. 124
Sechs »Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen«, sagte Madame Duferre. »Wir werden unseren Ausflug in den Basar leider auf einen anderen Tag verschieben müssen, da man uns gerade mitgeteilt hat, daß der Maréchal nicht morgen, sondern schon heute nachmittag zurückkehrt. Monsieur de la Garde setzt uns allen enorm zu, da wir dem Maréchal und den Offizieren in seiner Begleitung heute abend einen prächtigen Empfang bereiten sollen. Und wie es scheint, werden wir außerdem das gesamte diplomatische Corps von Algier sowie einige arabische Würdenträger zu Gast haben. Sie und Ihr Mann sind natürlich ebenfalls eingeladen.« Doch Emmeline hörte nur, daß Deniau heute abend da sein würde. Sofort dachte sie daran, wie sie in Compiègne ausgesehen hatte und wie er sie nun antreffen würde, ohne die eleganten Kleider, ohne die Dienste der alten Zofe, die ihr Haar so wunderbar frisiert hatte, und sie selbst nicht mehr auf besondere Einladung in der Nähe des Kaisers an der Tafel, sondern ins Gewöhnliche zurückverwandelt, die Frau des Zauberers, die nun, da man den Zauberer für sich gewonnen und in den Dienst genommen hatte, von Deniau nicht länger umworben werden mußte. Und als sie am späten Nachmittag im unvertrauten Ankleidezimmer ihrer Suite saß und immer wieder versuchte, ihr Haar so zu legen, wie sie es in Compiègne getragen hatte, spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen traten. Was hat mich nur in diese Lage gebracht, ich wollte doch nicht zu dieser Gesellschaft von Compiègne gehören, und dieser afrikanischen Welt werde ich auch nie angehören. Ich bin Lamberts Frau, das bin ich nun mal, die Frau eines Mannes, der 125
hergesandt wurde, die Araber zu täuschen. Was macht es da schon, wenn ich schlampig aussehe und mein Haar nicht sitzt. Das merkt ja doch keiner. Doch zum fünften Mal ließ sie ihr Haar herab und versuchte es aufs neue. »Wir versammeln uns um sieben Uhr im Innenhof«, teilte der Ordonnanzoffizier Lambert mit. »Maréchal Randon trifft etwa zwanzig Minuten später ein. Die Gäste des heutigen Abends gehören zur geistigen und gesellschaftlichen Elite Algiers und seiner näheren Umgebung. Die Marabuts und Scheichs aus den entfernteren Gebieten werden nicht vor nächster Woche eintreffen. Dieser Empfang wird zwar zu Ehren des Generalgouverneurs und seines Triumphes in der Kabylei gegeben, doch gilt er auch als Generalprobe für Ihren Auftritt vor den Moslems. Deshalb und weil der Marabut in der arabischen Welt über jeden Scheich oder weltlichen Führer erhaben ist, hat Colonel Deniau vorgeschlagen, Sie heute abend als ersten Gast Maréchal Randon vorzustellen. So werden Sie in den Augen der Araber zu unserem führenden Marabut, zu einem Mann von größter Macht.« Um Punkt zwanzig nach sieben stand Emmeline neben ihrem Mann vor den Säulenarkaden, durch deren Bögen sie den Generalgouverneur mit seinem Stab kommen sah, einer Gruppe von zehn Offizieren in ordengeschmückten Paradeuniformen, gefolgt von mehreren Ordonnanzoffizieren und den führenden französischen Diplomaten, allen voran Monsieur de la Garde. Der Generalgouverneur, Maréchal Randon, war ein kleiner, dürrer Mann Ende fünfzig, der eher einem Verwaltungsbeamten als einem hoch dekorierten Soldaten glich. Emmeline spürte, wie Henri neben ihr Haltung annahm, fühlte seine 126
Anspannung, während er sich darauf vorbereitete, in einer Rolle, die sich von allen bisherigen unterscheiden sollte, die Bühne zu betreten. Doch dann sah sie Deniau, der sich ein wenig links vom Maréchal hielt, aber das Gebaren eines Mannes vom selben Rang zeigte. Und im selben Moment hob er den Kopf und schaute sie an. Er lächelte, nickte leicht und hielt seinen Blick auf sie gerichtet, während das Gefolge des Maréchals jene Stelle erreichte, an der sie mit Henri stand. Ihren Mann hatte Deniau weder angesehen noch sonst zur Kenntnis genommen, und sie wiederum war von seinem Blick derart gebannt, daß sie fast vergessen hatte, einen Knicks zu machen, als man sie dem Generalgouverneur vorstellte. Randon nickte ihr zu und machte dann mit wahrhaft theatralischer Geste eine Art Verbeugung vor ihrem Mann. Lambert, stets der Schauspieler, quittierte diesen falschen Tribut mit einer gleichsam feierlichen Würde, wie sie seiner Rolle als Marabut entsprach. Dann schritt der Generalgouverneur die Reihe des restlichen Empfangskomitees ab und hielt nur noch einmal kurz an, um mit einem alten Scheich und drei heiligen Männern mit hohen Turbanen zu sprechen, angesehene Marabuts aus der algerischen Hochebene, auf die man ihn zuvor aufmerksam gemacht hatte. Eine Militärkapelle spielte einen Triumphmarsch, während der Gouverneur mit seinem Gefolge gemächlich den säulenumstandenen Hof abschritt. Hinter den Wasserfontänen des Springbrunnens verlor Emmeline Deniau aus den Augen. Ungeduldig verharrte sie an ihrem Platz, während die Ordonnanzoffiziere ihrem Mann den einen oder anderen Scheich vorstellten, doch kaum waren die Honneurs vorüber, huschte sie über den Hof und tat, als suche sie jemanden, hielt dabei aber direkt auf die Ecke zu, in der Deniau sich mit einer imposant aussehenden Gestalt unterhielt, die eine reich bestickte Weste nebst rotem Fez trug. 127
Plötzlich hielt sie verlegen inne und wollte sich bereits wieder zurückziehen, als Deniau sein Gespräch unterbrach, zu ihr kam, ihre Hand nahm, sie küßte und sagte: »Guten Abend, Madame. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, Sie hier in Afrika zu sehen. Darf ich Ihnen Effendi Selim vorstellen, den Repräsentanten des türkischen Beys?« Der beleibte Herr mit dem roten Fez verbeugte sich vor ihr und sagte etwas in einer Sprache, die Emmeline nicht verstand, und ließ dann ein tiefes, glucksendes Lachen hören. Deniau lächelte höflich und antwortete in derselben fremden Sprache, woraufhin der Unbekannte sich erneut vor ihr verbeugte und sich zurückzog, um sie allein zu lassen. »Was hat er gesagt?« fragte Emmeline, während sie dem türkischen Herrn nachsah, der sich langsam einen Weg zu den Erfrischungen bahnte, die am Brunnen dargeboten wurden. »Türken haben einen vulgären Sinn für Humor«, sagte Deniau. »Dabei war seine Bemerkung durchaus ein Kompliment für Sie, doch wohl kaum für die Ohren einer Dame geeignet. Allerdings hat er recht. Sie sehen heute abend wirklich ganz besonders bezaubernd aus. Wie war die Überfahrt? Es hat mich schrecklich geärgert, daß ich Sie nicht am Kai begrüßen konnte, dabei wollte ich das erste vertraute Gesicht sein, das Sie in Afrika zu sehen bekommen.« »Ich habe Sie vermißt«, sagte sie und errötete. »Ich meine … Ich wußte nicht, daß Sie in den Krieg gezogen sind.« »Kein Wort mehr vom Krieg«, sagte er. »Oder doch erst dann wieder, wenn wir Franzosen ihn anfangen. In der Zwischenzeit bauen wir darauf, daß Ihr Gatte den Frieden erhalten kann. Apropos! Kommen Sie doch mit, ich will dem großen Marabut meinen Respekt erweisen.«
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Und während er sie durch die exotische, festlich gekleidete Menge führte, vorbei an der Traube von Würdenträgern, die den Generalgouverneur umlagerten, ging Emmeline immer wieder der Satz durch den Kopf: »Sie sehen heute abend wirklich ganz besonders bezaubernd aus.« Stimmte das? Sogar in diesem Kleid? Selbst mit dieser Frisur? Oder hat er das nur gesagt, weil der fette Türke diese vulgäre Bemerkung gemacht hat? Und warum habe ich ihm gesagt, daß ich ihn vermißt habe, warum war ich so taktlos? Wieder ist er mein Begleiter, so wie im großen Saal von Compiègne, und wieder bin ich stolz darauf, mit ihm gesehen zu werden. Die Leute verbeugen sich vor ihm. Man behandelt ihn wie einen Mann von großer Bedeutung. Er ist der Leiter des Bureau arabe. Als sie sich der Gruppe von Diplomaten und Arabern näherten, die sich um ihren Gatten drängte, wollte sie ihren Begleiter nicht verlieren. Sie blieb stehen. Deniau drehte sich zu ihr um. »Alles in Ordnung?« »Ja, natürlich. Doch sagen Sie, Madame Duferre hat gesagt, daß Sie Ihr halbes Leben in der Wüste verbringen. Stimmt das?« »Hat sie das gesagt? Wie seltsam. Doch es ist wahr, auf geheimnisvolle Weise ist die Wüste jener Ort, an dem ich mich am ehesten daheim fühle. In ihrer Stille, ihrer Leere ist sie einfach herrlich. Hoffentlich kann ich Ihnen bald einmal zeigen, was ich damit meine. Nach den Feierlichkeiten werde ich übrigens in der nächsten Woche mit Ihnen und Ihrem Mann in die Sahara reisen, in jene Gegend, die man hier nur den Süden nennt. Dort liegt das wahre Algerien. Das wird Sie bestimmt interessieren.« »Das wird es wohl«, sagte Emmeline. »Ich bin zwar erst zwei Tage hier, aber für mich ist es eine Liebe auf den ersten Blick.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Das überrascht mich 129
nicht«, sagte er und schaute dann über ihre Schulter. »Aha! Er hat uns gesehen. Ihr Mann.« Er gab ihre Hand frei und ging zu Lambert. »Willkommen in Afrika, Monsieur Lambert!« »Colonel! Wie war die Schlacht? Ein großartiger Erfolg, heißt es.« »Nicht doch, Monsieur, keine Schlacht. Wir haben nur ein wenig die Muskeln spielen lassen, das war alles. Und das Wichtigste an unserer ganzen Expedition war vermutlich, daß wir vom Marabut empfangen wurden. Jedenfalls hoffen wir, daß wir ihn überreden konnten, in der nächsten Woche zu Ihrer Vorstellung zu kommen. Doch können wir uns da nicht sicher sein. Wie ich gerade Ihrer Frau erzählt habe, planen wir deshalb, nach den Feierlichkeiten mit Ihnen auf Tournee zu gehen. Vielleicht lernen Sie ihn dann kennen. Einstweilen aber würde ich Sie und Madame Lambert gern für morgen zum Essen einladen. Mir gehört ein Haus in der Kasbah, mitten im Viertel der Einheimischen, das Sie vermutlich recht interessant finden werden.« »Danke, sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Lambert. »Doch ich fürchte, wenn ich mich ausreichend vorbereiten will, bleibt mir vor den Feierlichkeiten einfach keine Zeit für Sehenswürdigkeiten oder gesellschaftliche Verpflichtungen. Emmeline wäre allerdings bestimmt entzückt, wenn Sie ihr die – wie sagten Sie noch? – die Kasbah zeigen würden.« »Und ich wäre entzückt, sie ihr zeigen zu dürfen. Madame? Könnten Sie gegen Mittag soweit sein? Ich warne Sie, die Straßen sind für Kutschen zu eng. Wenn Sie mögen, können Sie allerdings auf einem Maultier reiten. Können Sie reiten?« »Ja, natürlich.« 130
Mittags hißten die Muezzine überall in der Stadt auf den hohen Türmen die weiße Flagge des Glaubens und riefen die Gläubigen zum Gebet. Emmeline, die den größten Teil des Vormittags darauf verwandt hatte, sich für dieses Essen zurechtzumachen, eilte auf den Balkon, da sie einen Blick auf die moslemischen Andachtsübungen zu erhaschen hoffte. Doch kaum sah sie suchend über die angrenzenden Dächer, kam die ihr zugewiesene Zofe, um ihr mitzuteilen, daß ein Abgesandter des Colonel Deniau am großen Tor der Residenz auf sie warte. Als sie zum Innenhof hinunterging, an den Zuavenwachen vorbei, die ihr das Tor öffneten und salutierten, sah sie draußen auf der Straße einen schwarzen Riesen stehen, dessen aschgraue Haut ihm das Aussehen eines wandelnden Leichnams verlieh. Er trug einen orangefarbenen Burnus, dazu einen roten Fez und hielt die Zügel eines kleinen Maulesels mit Damensattel in der Hand. Bei ihrem Anblick verbeugte sich der Schwarze, kniete sich hin, formte die Hände zu einem Steigbügel und hob sie mühelos in den Sattel. Dann nahm er die Zügel, führte das Muli und blieb an ihrer Seite, während sie die düsteren engen Gassen durchquerten, die sich unter steinernen Bögen und überhängenden Balkonen, die keinen Strahl der heißen Mittagssonne durchdringen ließen, den Hügel hinaufschlängelten. Wie in einem Labyrinth führte diese Straße zu einer weiteren dunklen, engen Gasse, dann zu einer dritten, bis schließlich der Anstieg immer steiler wurde. Sorgsam suchte sich das Muli seinen Weg, geführt von dem riesigen Schwarzen, der das Tier, sobald es zögerte, mit einem Schlag seiner flachen, mächtigen Hand vorantrieb, deren Handteller weiß wie ein Damenhandschuh war. Wenn ihnen Einheimische entgegenkamen, mußten diese in einem Hauseingang Zuflucht 131
suchen oder sich seitwärts drehen, um den Esel vorbeilassen zu können. Doch von diesen wenigen Fußgängern einmal abgesehen wirkte die Stadt wie unbewohnt. Die Fassaden der Häuser waren allesamt schlicht, die wenigen Fenster schmale, vergitterte Löcher, die keinen Blick ins Innere ermöglichten. Als sich ihr Ohr aber an die Geräuschkulisse gewöhnt hatte, hörte Emmeline hinter diesen Fassaden das Gemurmel weiblicher Stimmen, das Lärmen von Kindern und einmal sogar den verzweifelten Schrei eines Esels. Nach zwanzig Minuten schwankenden Aufstiegs duckte sich der Schwarze endlich unter einem niedrigen Gewölbetor hindurch, bedeutete Emmeline, es ihm gleichzutun, und führte das Muli durch einen engen Korridor auf einen kleinen, im Sonnenlicht brütenden Hof. Gegenüber lag ein Gebäude, das sich kaum von jenen unterschied, die sie bereits passiert hatten, und dessen schweres Holztor eiserne Riegel und ein Eisengitter zierten. Sobald sie sich diesem Gebäude näherten, wurde von innen das Tor geöffnet, um sie in einen von weißen Marmorsäulen gesäumten Hof einzulassen. Der riesige Schwarze warf dem Muli die Zügel über den Schädel, kniete sich hin und formte erneut seine Hände zu einem Steigbügel. Als Emmeline absaß, sah sie einen älteren Araber in einem grabesdüsteren Burnus näher kommen, den Kopf bis auf einen Knoten langer grauer Haare kahlrasiert. Er verbeugte sich und forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihm in einen zweiten, größeren Hof zu folgen, der mit weißen Marmorfliesen ausgelegt und von Säulen umgeben war, zwischen denen das Sonnenlicht einfiel. Mitten in diesem Hof befand sich ein kleiner Orangenhain, ein Springbrunnen und eine erhöhte, eiserne Feuerstelle, an der sich über dampfende Tontöpfe zwei schwarze Frauen beugten, die eine alt und untersetzt, die andere 132
hochgewachsen, jung und schlank, ihr Gesicht eine hübsche, ovale Maske, die sich kurz zu Emmeline umwandte. Der ältliche Araber ging an den Frauen vorbei zu einer mit leuchtenden Keramikfliesen verzierten Treppe, die zu einem den Innenhof im ersten Stock umschließenden Wandelgang führte. »Herzlich willkommen, Emmeline. Darf ich Sie in meinem maurischen Palast bei Ihrem Vornamen nennen?« Oben auf der Treppe stand Deniau, mit einem langen, arabischen Gewand aus feinster weißer Wolle bekleidet, die Knöchel nackt, die Füße in roten Ledersandalen und am verzierten, golden bestickten Gürtel ein kleiner Krummdolch. Er lächelte und bat sie heraufzukommen. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichte, küßte er ihr die Hand. »Sie haben ein wundervolles Haus«, sagte sie. »Schön, daß es Ihnen gefällt. Eigentlich ist es für Algerien recht typisch. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Er führte sie in ein mit kostbaren Teppichen ausgelegtes Zimmer, in dem einzig eine große, mit Rosenwasser gefüllte Vase und zwei mit Schnitzwerk verzierte und bemalte Truhen ähnlich jenen standen, die sich in den Zimmern der Residenz des Generalgouverneurs befanden. Doch als er ihr ein zweites und dann ein drittes Zimmer zeigte, fiel ihr auf, daß es hier anders als in der Residenz keine Betten und keine Tische oder Stühle gab. Und als er sie in den großen Hauptraum führte, sah sie der einen Wand entlang eine Vielzahl von Seidenkissen liegen, vor denen zwei bemalte und mit Gebäck, Obst, Gläsern und einer Karaffe beladene Tabletts standen. Deniau setzte sich mit überkreuzten Beinen auf eines der Kissen und lud sie ein, es sich neben ihm bequem zu machen. Dann schenkte er Wein aus der Karaffe ein und sagte: »In einem maurischen Haus ist Alkohol natürlich verboten. Doch sind wir Gott sei Dank keine 133
Moslems.« Er reichte ihr ein Glas. »Erinnern Sie sich an Compiègne? Wie wir Brüderschaft getrunken haben? Sollen wir noch einmal?« Eigentlich wollte sie nicht, doch wußte sie nicht, was sie dagegen einwenden sollte, und so hielt er ihr Schweigen für Zustimmung, rückte an sie heran, hob das Glas und schob seinen Arm durch ihren, so daß nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten, als die Gläser aneinanderklirrten. »Auf unsere Freundschaft«, sagte er. Bei diesem Trinkritual muß man das Glas zur selben Zeit leeren, und als sie trank, fiel ihr eine Locke ins Gesicht und streifte seine Stirn. Ihre Blicke trafen sich. Er stellte sein Glas ab. »Habe ich Sie in Verlegenheit gebracht? Das tut mir leid.« »Nein, nein. Es war nur …« Sie zögerte und versuchte, eine höfliche Formulierung zu finden. »Taktlos?« »Nein, überhaupt nicht.« »Doch, das war es. Ich muß mich entschuldigen. Verzeihen Sie mir.« »Ach was, nein«, sagte sie noch einmal überaus verlegen. »Compiègne, ja. Unser Picknick. Ich erinnere mich.« Er erhob sich. »War das nicht ein wundervoller Nachmittag? Ich werde ihn nie vergessen.« Er streckte ihr eine Hand hin und half ihr auf. »Kommen Sie, lassen Sie mich Ihnen den Ausblick von meinem Dach zeigen.« Als sie das Glas abstellte, war ihr, als würde sie beobachtet. Sie wandte sich um und sah in der Tür einen hübschen, 134
hellhäutigen Araberjungen stehen, das Gesicht reglos wie eine Fotografie. Er lehnte am Türrahmen, den schlanken, anmutigen Körper in verblichene, rosafarbene Seide gehüllt, und starrte ins Zimmer, als sähe er durch sie hindurch. Deniau sagte etwas auf arabisch. Der Junge verbeugte sich und verschwand. »Das ist Si Abeldesselem, einer meiner Diener. Er wird uns beim Essen etwas vorspielen. Ein seltsamer Junge, doch Sie werden schon sehen, seine Musik ist zauberhaft.« Das Dach, auf das Deniau sie nun führte, war vor der Mittagssonne durch Steinsäulen entlang der Brüstung geschützt. Deniau wies auf eine weiße Gebäudeansammlung auf dem Gipfel des Hügels. »Das ist die Zitadelle. Sie war die Residenz der Fürsten von Algier. Sehen Sie die Mauerschlitze? Von dort aus beherrschten ihre riesigen Kanonen einst die Stadt. Und auch der türkische Herrscher hielt Hof in der Zitadelle. Dort, links, da waren die Privatgemächer, in denen er mit seinen Frauen lebte. Doch dann, eines Morgens vor beinahe vierzig Jahren, ging er auf seinem Dach spazieren, sah hinunter und entdeckte unsere Flotte, die sich seinen Gestaden näherte. Das war das Ende der türkischen Herrschaft.« »Und wie wird die Zitadelle heute genutzt?« fragte Emmeline. »Als Kaserne und Lagerraum. Die Schätze sind verschwunden, die Möbel wurden von unseren Soldaten fortgeschleppt, die großen Kanonen als Trophäen nach Frankreich verschifft. Man sagt, sie sollen im Invalidendom ausgestellt werden.« Er trat an den Rand der Brüstung und schaute sinnend hinab, als wäre er allein. Nach einem Augenblick der Stille drehte er sich wieder zu ihr um. »Jetzt sind Sie also in Algier. Ich hoffe, ich habe das Richtige getan, als ich Ihren Gatten herbringen ließ.«
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»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Sie wollen die Araber daran hindern, mit Frankreich einen Krieg zu beginnen, nicht wahr? Und wenn mein Mann Ihnen dabei helfen kann, dann haben Sie natürlich das Richtige getan.« »Ganz so einfach ist es nicht. Wissen Sie noch, wie der Kaiser in Compiègne von Frankreichs Mission redete, dieses Volk hier zu zivilisieren und seine Lebensbedingungen zu verbessern? In Wahrheit aber bringen wir im nächsten Jahr die Eroberung dieses Landes zum Abschluß, um uns so neue Handelsrouten in das übrige Afrika zu erschließen. Nicht die Araber, sondern wir sind es, die einen Vorteil aus der Eroberung ziehen. Und ich frage mich: Was wird aus ihnen, aus ihrer Art zu leben?« »Dieses Land hat etwas an sich, das ich nicht gern verändert sehen möchte«, sagte sie. Er lächelte, beugte sich über die Kissen und strich leicht über ihre Hand. »Wären Sie heute mit Ihrem Mann gekommen, hätte ich keine arabische Kleidung getragen. Er hätte das nicht verstanden, doch Sie – Sie sind anders. Sie könnten sich in Afrika verlieben, so wie ich es getan habe. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe mein Heimatland. Ich werde für Frankreich kämpfen, wie ich in der Vergangenheit dafür gekämpft habe, dennoch hat Afrika mich verändert. Und ich schätze, es wird Sie ebenfalls verändern.« »Aber ich bin nur auf einen kurzen Besuch hier«, sagte sie. »In ein, zwei Monaten bin ich wieder in Tours.« »Ich beneide die Araber«, sagte er. »Sie haben ein Wort – maktub. Sie werden es noch oft von ihren Lippen hören. Es heißt: ›Es steht geschrieben.‹ Ihrer Meinung nach steht alles bereits im voraus fest, und unser Schicksal liegt in Gottes Hand. Vielleicht steht es geschrieben, daß Sie nach Algerien kommen 136
sollten. Vielleicht steht es geschrieben, daß dieses Land Sie verändern wird.« Er bot ihr seinen Arm an. »Lassen Sie uns hineingehen. Unser Essen wird fertig sein.« Er führte sie zurück ins große Zimmer und setzte sich neben sie auf ein Kissen. Irgendwo im Haus ertönte eine Glocke, und der riesige Schwarze tauchte in der Tür auf, behangen mit einer Art Ledergeschirr, in dem er eine Anzahl kleiner Krüge und Töpfe balancierte. Der Schwarze stellte sie auf den bemalten Tabletts vor Emmeline ab, verbeugte sich und zog sich wieder zurück. »Wer ist das?« fragte Emmeline flüsternd. »Ich habe in meinem Leben noch keinen so großen Mann gesehen.« »Er ist Senegalese«, erzählte ihr Deniau. »Wir nennen ihn Kaddour, aber ich habe ihn als Sklaven gekauft, daher kenne ich seinen wahren Namen nicht.« »Ein Sklave?« »Ja, viele Neger hier in der Stadt wurden aus Südafrika als Sklaven hergebracht. Er ist ein ergebener Diener und eine gute Seele.« »Aber er ist Ihr Sklave!« Deniau nickte und griff nach den Töpfen auf dem Tablett. »Meine Diener haben heute ein arabisches Essen zubereitet, und ich dachte, Sie würden Gefallen daran finden, es auf traditionelle Weise serviert zu bekommen. Dies hier sind amuse-gueules. Die kleinen runden Kuchen sind warm, eine Art mit Butter bestrichener crêpes. Und das dort sind Datteln aus einer Oase im Süden. Dies hier ist Schafsmilch, aber ich denke, wir sollten lieber beim Wein bleiben. Meine Köchinnen werden gleich den Hauptgang auftragen.« Sie aß einen der Kuchen und biß in eine süße Dattel, doch 137
ihre Gedanken, die sich erst vor wenigen Augenblicken nur um das gedreht hatten, was er über sie selbst angedeutet und gesagt hatte, hallten nun dumpf von dem einen Wort wieder:
Sklave. Als sie die halb gegessene Dattel zurücklegte, hörte sie erneut die Glocke, und die beiden Frauen, die sie beim Eintreten unten im Hof gesehen hatte, trugen große irdene Töpfe herein und stellten sie vor Deniau ab. Dann erhoben sie sich, neigten die Köpfe, die Hände wie zum Gebet gefaltet, und warteten. Emmeline schaute auf und betrachtete erst die ältere, dann die andere, die hochgewachsene, junge, schlanke Frau, die ihren Blick nun unterwürfig gesenkt hielt. War sie auch seine Sklavin? Auf ein Zeichen von Deniau begann die ältere Köchin, aus den Töpfen aufzutragen. »Das hier ist couscous, ein Muß für jedes arabische Festmahl. Meine Frauen haben es heute auf zwei verschiedene Weisen zubereitet, einmal mit Hammelfleisch und zum anderen eine süße Variante mit Zucker und Gewürzen.« Er wies auf die junge Frau, die sich vor Emmeline hinkniete und ihr vom zweiten Couscous gab. Auf ein weiteres Kopfnicken von Deniau hin standen beide Frauen wieder auf und zogen sich zurück. »Sklavinnen?« fragte Emmeline, schaute ihn an und erwartete seine Antwort mit Schrecken. Doch er lachte nur und schüttelte den Kopf. »Nein, das sind meine beiden erstklassigen Köchinnen, die besten in der ganzen Stadt, wie man mir versichert hat.« »Wohnen sie hier?« »Ja, sie sind meine Hausbediensteten.« »Die junge Frau ist sehr hübsch.« »Ist sie das? Die ältere Frau ist ihre Tante, und wie Kaddour sind mir beide sehr ergeben. Ich habe großes Glück.« 138
Er reichte ihr einen Teller. »Die Araber essen mit den Fingern. Sie benutzen dazu allerdings nur die rechte Hand.« Sie kostete von dem Essen, hätte später aber nicht mehr sagen können, wonach es schmeckte. Denn in diesem Augenblick erklangen in ihrem Rücken schrille, hohe Töne, und als sie sich umdrehte, sah sie den arabischen Jungen mit überkreuzten Beinen im hinteren Teil des Zimmers sitzen und auf einer kleinen Flöte eine monotone und fremde, doch rhythmisch modulierte Musik spielen. Der Junge starrte versunken auf seine Flöte, doch kaum hatte er sein Instrument abgesetzt und mit einer Sopranstimme zu singen begonnen, schaute er erst zu Deniau und dann zu Emmeline hinüber, und in seinen Augen spiegelte sich Ehrfurcht, als er den Blick seines Herrn aufzufangen suchte, eine Ehrfurcht, die sich in Verachtung und Haß verwandelte, als er sich ihr, seinem Publikum, zuwandte. Deniau aß, lauschte, lehnte sich in die Kissen zurück und lächelte hin und wieder Emmeline an, als fordere er sie auf, sein Vergnügen an dieser Musik mit ihm zu teilen. Der Junge hörte auf zu singen, nahm seine Flöte, verbeugte sich in seinen verblichenen Seidengewändern so graziös wie ein Mädchen vor seinem Herrn und verschwand. »Eine betörende Musik, finden Sie nicht? Ein traditionelles Klagelied.« Deniau schenkte ihr aus der Karaffe Wein nach, doch sie ließ ihr Glas stehen. »Was tut der Junge hier? Ist er ein Dienstbote?« Sie sah, wie Deniau zögerte. »Ja, er hilft mir bei der Buchführung, kümmert sich um die Händler und beaufsichtigt die übrigen Bediensteten. Ich bin oft fort, und da brauche ich einen verläßlichen Menschen, der meine Angelegenheiten im Auge behält.« 139
»Er hat mich angesehen, als würde er mich hassen.« »Hat er das?« Deniau lachte. »Beachten Sie ihn einfach nicht. Solche Jungen mögen keine Frauen.« Solche Jungen? Henri hatte einmal einen solchen Assistenten gehabt. Sie wußte Bescheid. Doch daß Deniau so einen in seinem Haus hatte, das hatte etwas – sie betrachtete Deniau, wie er zurückgelehnt in den Kissen lag und delikat das arabische Essen mit Fingern aß, schaute auf das schöne weiße Gewand, das seinen Körper verhüllte, auf den geschwungenen Dolch im verzierten Gürtel, auf die nackten Füße in den roten Sandalen, ins sonnenverbrannte Gesicht dieses Mannes, dessen Anspielungen zu einer Affäre führen konnten, der aber gleichwohl wußte, daß sein Brüderschaftstrunk ein Fehler gewesen war, und der sie bei diesem Essen sicherlich nicht noch einmal in Verlegenheit bringen würde. Und während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, traten die Frauen erneut ins Zimmer und häuften noch einmal Couscous auf ihre Teller. Sie sah die Jüngere an, die den Kopf gesenkt hielt, unterwürfig wie eine Sklavin. Ich bin nicht schön, die da ist es. Wäre ich doch bloß nicht gekommen. Die Frauen verließen das Zimmer. Einige Minuten später kam der Senegalese Kaddour mit kleinen Wasserschalen und Handtüchern herein. Das Mahl war zu Ende, und während Emmeline sich die Hände abtrocknete, bemerkte sie, daß Deniau sie musterte, als kenne er ihre Gedanken. »In Algier schläft die ganze Stadt nach dem Essen«, sagte er. »Eine überaus zivilisierte Sitte, doch kann ich Ihnen hier kein richtiges Bett anbieten. Höchstens einige Kissen. Aber vielleicht würden Sie es vorziehen, daß Kaddour Sie zur Residenz zurückbringt?« »Ja«, sagte sie. »Das würde ich.« 140
Sieben Es war nicht ihr Gatte, sondern Deniau, der ihr das Theater in der Rue Bab Azoun zeigte. Sie starrte an der eleganten Fassade hinauf. »Man könnte glauben, in Paris zu sein.« »Stimmt«, sagte er. »Das Gebäude ist dem Variété nachempfunden, doch werden Sie gleich sehen, daß es einige Unterschiede gibt. Wegen des heißeren Klimas hat man die Treppen, Flure und Logen nämlich etwas großzügiger als in Frankreich gestaltet. Normalerweise werden die Ensembles aus Marseille oder Nizza eingeladen, um Opern oder Theaterstücke aufzuführen, doch letzte Woche haben wir die laufenden Vorstellungen abgesetzt, und für die Dauer der Proben und Vorstellungen Ihres Mannes bezahlen wir das Opernensemble nun fürs Nichtstun. Der Direktor des Ensembles ist keineswegs glücklich darüber, doch bestimmt hat Ihr Mann Ihnen das alles schon erzählt?« »Seit er mit den Proben begonnen hat, sehe ich ihn leider kaum noch. Und er spricht nur selten über seine Arbeit.« »Doch seine Geheimnisse, seine Tricks? Gehören Sie denn nicht zu den wenigen Menschen, die sie kennen?« »Nein, ich kenne sie nicht. Er glaubt, daß ein Zauberer über derlei Dinge nicht reden sollte.« »Nicht einmal mit seiner Frau?« »Nicht einmal mit seiner Frau.« Als sie das Theater betraten, sah Emmeline, daß Jules auf der Bühne war, um Henri zu helfen, während in den Kulissen das Füllhorn, die unerschöpfliche Schüssel und das Glaskästchen 141
zusammengesetzt wurden, mit dem die Fünffrancsstücke fortgezaubert wurden. Am Ende der Bühne stand unheilvoll die Kiste mit den Kupferbeschlägen, die Lambert bei Vorführungen in Spanien und Rußland verwandt hatte. Emmeline ahnte sofort, daß diese Kiste erst in der zweiten Hälfte der Vorstellung vorkommen würde, da sie den Arabern Angst machen, sie beeindrucken sollte; das Füllhorn, die Schüssel und das Glaskästchen aber waren Eröffnungstricks, mit denen Henri sein Publikum verwirren und erfreuen wollte. Sie sah, wie Deniau leichtfüßig auf die Bühne sprang, dann hörte sie, wie er Lambert erklärte, wer wo sitzen würde. »Die Anführer der Araber, vor allem die der Wüstenregionen, sind noch nie zuvor in einem solchen Gebäude gewesen, außerdem ist es bei ihnen nicht üblich, sich auf Stühle zu setzen. Das dürfen Sie nicht vergessen, wenn Sie vor ihnen auftreten. Es könnte deshalb durchaus zu einiger Unruhe und Unaufmerksamkeit kommen.« »Und der Generalgouverneur? Wo wird er sitzen?« fragte Lambert. »Maréchal Randon wird mit seiner Familie und seiner Gefolgschaft die beiden Logen rechts von der Bühne einnehmen, während der Präfekt und die übrigen zivilen Würdenträger ihm direkt gegenüber sitzen. Die Scheichs, Kaïds, Agas, Aga Baschi und die anderen führenden Araber bekommen Ehrenplätze. Sie sollen im ersten Rang sitzen.« »Und die Marabuts?« »Wir rechnen damit, daß vier von ihnen kommen, und wir plazieren sie ganz vorn am Bühnenrand, damit sie Ihre Vorstellung aus nächster Nähe verfolgen können. Doch ich muß Sie warnen, denn noch bezweifeln wir, daß Bou Aziz nach Algier reisen wird. Sie werden Ihr Können zu einem späteren 142
Zeitpunkt für ihn aufführen müssen, vermutlich irgendwo im Süden.« »Wir sollten das Wort ›aufführen‹ doch besser vermeiden«, sagte Lambert. »Natürlich, Sie haben recht.« Deniau wandte sich an Emmeline. »Ich habe Madame Lambert gebeten, mich zu begleiten, um ihr das Theater zu zeigen. Darf ich Sie beide vielleicht zu einem einfachen Lunch ins Café Aleppo einladen?« Sie sah, wie Henri zu ihr herunterschaute und schuldbewußt lächelte, so wie stets, wenn er ihr einen Wunsch abschlagen wollte. »Meine Liebe. Wie findest du das Theater?« »Es ist recht hübsch«, lobte sie widerstrebend.
»Sie werden übrigens einen ausgezeichneten Blick auf die Bühne haben«, sagte Deniau zu ihr. »Sie sitzen nämlich in der Loge des Generalgouverneurs.« Deniau wandte sich erneut an Lambert. »Wie steht’s nun mit dem Essen, Henri?« »Tut mir leid«, sagte Lambert. »Ich muß weiterarbeiten. Doch Emmeline würden Sie damit gewiß eine Freude bereiten.« Plötzlich entschied Emmeline, daß sie Deniau nicht länger erlauben durfte, sie so leichthin zu manipulieren. »Ich denke, in diesem Fall bleibe ich hier bei Henri. Wir könnten uns etwas zu essen kommen lassen.« Sie schaute Deniau an. »Wenn der Colonel nichts dagegen hat?« »Natürlich nicht, Madame, doch werde ich Ihre Gesellschaft vermissen.« Er salutierte spöttisch, indem er die Hand ans Käppi legte. »Nun, bis Sonntag dann.« »Sonntag?« 143
»Hat Henri Ihnen noch nichts davon erzählt? Der Generalgouverneur läßt Sie beide bitten, ihn und sein Gefolge am nächsten Sonntag zur Messe in die Kathedrale zu begleiten. Das Hochamt wird zu Ehren unseres Sieges im Süden gefeiert.« François du Châtel, Erzbischof, eine feiste, massige Persönlichkeit im weißen Ornat, wartete unter dem von einem Meßdiener gehaltenen Baldachin auf den Stufen der Kathedrale vor dem Eingang in der Rue Divan. Beim Klang der Trompeten, die verkündeten, daß der Generalgouverneur in die Straße einbog, nahmen die beiden Reihen französischer Offiziere hinter dem Erzbischof Haltung an und zogen die Säbel, um ein feierliches Spalier zu bilden. Mit dem Rest der geladenen Gesellschaft stieg auch Emmeline aus der Kutsche, stellte sich neben ihren Mann und wartete, bis der Generalgouverneur den bischöflichen Ring geküßt hatte und zu den ungewöhnlichen Klängen einer Opernouverture von Auber, gespielt von einer Militärkapelle in einem Seitenschiff, ins Innere der Kathedrale geleitet wurde. Die Gläubigen – also die Vertreter der Diplomatie, der Präfekt und seine Mitarbeiter, die wichtigsten französischen, deutschen und syrischen Kaufleute, französische Offiziere, Nonnen und Priester aus den Klöstern und Seminaren der Diözese – fächelten sich in der Mittagshitze kühlere Luft zu und warteten auf den Beginn der Messe. In dieser ehemaligen Moschee trugen fünfzehn Meter hohe Säulen eine Kuppel, in die durch Bleiglasfenster Licht einfiel. Der Altar stand auf der Nordseite, geschmückt mit einem Bild der Jungfrau, das der Kathedrale vom Papst gestiftet worden war. Über diesem Gemälde aber waren reliefartig eine Reihe von verzierten und verschlungenen Sätzen aus dem Koran eingemeißelt, die man nicht abgeschliffen hatte, obwohl sie auf arabisch behaupteten, daß Allah der einzige Gott und Mohammed sein Prophet sei. 144
Noch seltsamer als dieses Nebeneinander aber war die Messe selbst. Während Priester und Meßdiener in langen Reihen zum Altar vorrückten, erklang weiterhin fröhliche Marschmusik. Reihen von Soldaten in voller Regimentsuniform standen vor dem Tabernakel, und als die Messe ihren Lauf nahm und Glöckchen läuteten, um vom Wunder der Wandlung zu künden, donnerte der Lärm von zwanzig Trommeln durch die Kuppel. Auf Befehl ihres Offiziers präsentierten die Soldaten ihre Musketen, beugten zugleich das rechte Knie und senkten den Kopf zu Boden. Das Trommelgrollen hielt an, bis der Priester sein Gebet beendet hatte. Emmeline fiel sofort auf, wie unruhig die Andächtigen waren: Einige beteten, andere lauschten auf die Musik, während viele Männer umhergingen und neugierig die jüngeren Frauen anstarrten, die in vorgetäuschtem Gebet ihre Köpfe senkten und die Gesichter hinter Mantillas verbargen. Als die Messe zu Ende ging, erhob sich Erzbischof du Châtel von seinem Bischofsstuhl rechts vor dem Altar und ging zum Türchen in der Kommunionbank. Im selben Moment wurden alle Gläubigen so hellwach, wie sie es wohl während der gesamten Feier nicht gewesen waren. Ein Oberfeldwebel marschierte durch den Mittelgang mit einer Flagge, die er dem Erzbischof kniend zum Segen darbot. Weihwasser wurde über die Flagge gesprenkelt, der Erzbischof murmelte ein Gebet in unverständlichem Latein, nahm die Flagge, hob sie hoch, damit die Versammelten sie sehen konnten, und reichte sie dann einem Obersten des Zuavenregimentes, der zu einem Nebenaltar marschierte und sie an einem Ehrenplatz neben anderen, längst verblichenen Militärflaggen hißte. Trommeln dröhnten, die Militärkapelle setzte zur Nationalhymne an, und tausend Stimmen erschollen in patriotischem Chor. 145
Hier, in dieser zu einem Ort christlicher Gottesgläubigkeit verwandelten Moschee, fühlte sich Emmeline plötzlich zur eilig absolvierten Sonntagsmesse in der kaiserlichen Kapelle in Compiègne zurückversetzt. Denn auch in Algier, diesem Außenposten von Louis Napoleons Herrschaftsbereich, war die religiöse Feier nur eine bloße Formalität gewesen. Die wahre Andacht hatte der Flagge gegolten, dem Symbol des kürzlich erkämpften Sieges, einer Flagge, die nicht aus christlicher Frömmigkeit, sondern als Geste des Triumphes im Tempel einer eroberten Rasse aufgepflanzt worden war. Ihr Blick wanderte über die Gesichter der offiziell Geladenen, bis sie Deniau fand, der unter den ranghöheren Offizieren stand: Die linke Hand auf dem Paradedegen, den Blick auf die gehißte Flagge gerichtet, so sang er die patriotischen Strophen. War dies der Mann, der vor zwei Tagen in arabischen Gewändern auf seidenen Kissen gelegen und ihr erzählt hatte, daß Afrika ihn verändert habe? Ja, er war es. Ihr fiel ein, was er gesagt hatte: »Ich werde für Frankreich kämpfen, wie ich in der Vergangenheit dafür gekämpft habe.« Er war nicht hier, um den Arabern zu helfen, ihre Lebensart zu bewahren. Er war hier, um sie zu vernichten. Und als Emmeline ihn nun anstarrte, von seinem Aussehen, seinen Manieren, seinem Charme fasziniert, da wußte sie, daß sie insgeheim bereits halb in eine Affäre mit ihm verstrickt war, und doch überkam sie im selben Moment das unangenehme Gefühl, dieser Mann habe sie, weil er sie nach Compiègne und dann nach Algier gebracht hatte, gänzlich aus der Bahn geworfen. Anfangs nur allmählich, doch dann immer rascher füllten sich in den nächsten Tagen die Straßen von Algier und Umgebung mit Tausenden von arabischen Stammesangehörigen, die ihre 146
Pferde, Kamele, Schafe, Ziegen, Kochtöpfe, Familien, Kinder und Huren mitbrachten und auf der Ebene von Hussein-Bey gleich vor der Stadt einen Irrgarten aus Zelten und Hütten errichteten. Dieser große Platz nahe am Meer, im Schatten des Hügels von Mustafa, grenzte an die Rennbahn der Stadt, wohin die arabischen und kabylischen Anführer zu einem vom Generalgouverneur organisierten Fest eingeladen worden waren, um ihre Reitkünste zu beweisen und anschließend an einem dreitägigen Pferderennen teilzunehmen. Madame Duferre, die sich zu Emmelines Mentorin in allen gesellschaftlichen Fragen aufgeschwungen hatte, sorgte dafür, daß Emmeline bei der Eröffnung der Feierlichkeiten zu den Ehrengästen zählte. Beim abendlichen Empfang in der Residenz des Generalgouverneurs saß Emmeline stumm da und tat, als lausche sie der Unterhaltung ihrer Nachbarn, dabei hatte sie in Wahrheit die Darbietung in einigen Aufruhr versetzt: Vierhundert arabische Reiter, die über die Rennbahn wirbelten und galoppierten und in einer wilden und wagemutigen Demonstration ihrer Kriegskünste seltsame Schreie ausstießen, Musketen abfeuerten und ihre Säbel wie auf dem Schlachtfeld schwenkten. All dies geschah Randon zu Ehren, einem Maréchal von Frankreich, der gerade siegreich aus dem blutigen Krimkrieg zurückgekehrt war und nun im Kreise seines Stabes auf der Zuschauertribüne saß und sich alsdann mit geheucheltem Gefallen an dieser verwegenen Zurschaustellung von Tapferkeit von seinem Platz erhob, um diesen wilden Männern der Wüste zu salutieren, deren Anführern er bald das französische Joch aufzwingen würde. Doch noch ging alles recht festlich zu; in der Stadt herrschte Feiertagsstimmung. Am Abend schlich sich Emmeline aus der Residenz, um durch die plötzlich so vollen Straßen und über die Plätze zu streifen, 147
vorbei an den Ständen, wo es nach dampfendem Kaffee und heißen, in Fett gebackenen Kuchen duftete. Sie lauschte dem orientalischen Wimmern der Gitarren, der schrillen, monotonen Musik der Rohrflöten, dem Rhythmus der seltsam flachen Trommeln und bahnte sich ihren Weg durch die Menge der Jongleure, Musiker, Bettler und Hausierer, vorbei an den in ihr Spiel vertieften Spielern, die in dichten Grüppchen am Boden hockten. Doch als die Sonne hinter der Zitadelle versank, wurden die Stände geschlossen, die Musik verstummte. Händler und Musiker ritten auf Mauleseln, Kamelen und Pferden aus der Stadt, um in der riesigen Ansammlung von Zelten vor der Rennbahn zu übernachten und eine tiefe, nächtliche Stille in der Stadt zurückzulassen. Vor der Residenz öffnete eine Zuavenwache das Tor, um Emmeline wieder einzulassen. Die kühlen Marmorkolonnaden des Innenhofes lagen still wie ein Friedhof in der Dämmerung. Als sie ihre Gemächer betrat, sah sie ihren Mann auf der Bettcouch im Alkoven schlafen. Er trug ein langes weißes Nachthemd, und wie vor jeder Vorstellung hatte er sich das Haar gewaschen und ein Haarnetz übergestülpt. Er lag auf dem Rücken, die Arme über der Brust gefaltet, als müsse er sich vor einem Schlag schützen. Sie ging zu ihm und starrte auf ihn herab, voller Mitleid für diesen Mann, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, auf einer Bühne zu stehen und fremde Menschen anzulächeln in der Hoffnung, sie täuschen zu können. Emmeline schaute auf seine Hände, weiß, geschmeidig, schlank, geschickt im Verbergen und Offenbaren, im Irreführen und Verzaubern, auf den Mund, der das Geschwätz der Unwahrheiten so gut beherrschte, auf seine jetzt geschlossenen Augen, die geübt waren, im Publikum jene Person zu entdecken, die ihm als unschuldiges Opfer dienen konnte. 148
Dieser Mann, reglos wie ein Kadaver im Totengewand, dem die Würde vom schlichten Haarnetz genommen wurde, das sich um seine Stirn spannte, dieser Mann war zugleich der berühmteste Zauberer von ganz Europa, ihr Mann und, wie ihr Vater sagte, ein Scharlatan, der morgen versuchen wollte, den Lauf der Geschichte mit einigen Zaubertricks zu ändern. Doch wie sie nun auf ihn herabschaute, verkehrte sich ihr Mitleid in Scham, denn er war auch der Mann, der sie liebte, soweit er nun einmal zur Liebe fähig war, der sie liebte, obwohl es ihr nicht gelungen war, ihm den Sohn zu schenken, den er sich wünschte, der sie liebte, obwohl er wissen mußte, daß sie diese Liebe nicht erwiderte. Tränen traten ihr in die Augen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küßte ihn auf die Lippen. Er wachte auf. »Was ist los, meine Liebe? Warum weinst du?« Sie schüttelte den Kopf, brachte kein Wort heraus. »Bist du gerade erst zurückgekommen? Wie war das Fest? Ich habe großen Lärm in den Straßen gehört.« »Ja«, sagte sie. »Das Fest war großartig.« Sie streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Schlaf weiter. Morgen ist dein Tag. Dafür brauchst du all deine Kraft.« »Stimmt. Und du wirst stolz auf mich sein.« Als die ersten arabischen Kompanien in der Rue Bab Azoun eintrafen, nahmen die französischen Soldaten vor dem Eingang zum Theater Haltung an. Die Marabuts kamen als letzte, nur wenige Augenblicke, bevor der Generalgouverneur mit seinem Gefolge in den Logen über der Bühne erschien. In den Minuten, ehe der Vorhang sich hob, rutschten die Araber nervös auf den ungewohnten Sitzen herum, und manch einer versuchte, sich 149
hinzuhocken, wie er es in seinem Zelt tun würde. Bei den dreißig Grad, die im Saal herrschten, fächelten sich die Europäer geistesabwesend mit ihren Programmen Luft zu, und die Damen schauten verstohlen in ihre Taschenspiegel, um zu sehen, ob ihre Wimperntusche verlaufen war. Plötzlich erschien Colonel Deniau im Rampenlicht, verbeugte sich vor Maréchal Randon, dann vor den Marabuts und den Scheichs. »Wir heißen Sie willkommen.« Er sprach auf französisch und machte Pausen zwischen den Sätzen, damit die Dolmetscher für die Menge übersetzen konnten. »Im Rahmen der von unserem Generalgouverneur angeregten Feierlichkeiten und Festveranstaltungen ist, auf seine Einladung hin, ein großer christlicher Zauberer aus Frankreich angereist, um Sie zu erfreuen und in Erstaunen zu versetzen, aber auch, um Ihnen die Wahrheit kundzutun. Wahr ist nämlich, daß manch einer der hier anwesenden Marabuts behauptet, unverwundbar zu sein, daß Kugeln oder körperliche Schmerzen ihm nichts anhaben können, daß er Kranke heilen und die Unfruchtbarkeit der Frauen kurieren kann. Mit diesen Behauptungen soll Ihnen, verehrtes Publikum, eingeredet werden, daß die Marabuts, und nur sie allein, übernatürliche Kräfte besitzen und die Zukunft vorhersagen können, eine Zukunft, die Ihnen einen Sieg im Heiligen Krieg verspricht. Doch heute abend werden Sie Zeuge von Kräften und Mächten sein, die alles übertreffen, was Sie bisher gesehen haben, Mächte, die Ihre Ansichten ins Wanken bringen werden. Lassen Sie uns den größten Marabut Frankreichs begrüßen: Henri Lambert.« Deniau trat von der Bühne. Der Vorhang ging auf. Von ihrem Platz in der Loge des Generalgouverneurs aus sah Emmeline eine leere Bühne mit einem Tisch im Hintergrund, darauf eine 150
wuchtige Kiste, das Füllhorn, den Zylinder und eine Punschbowle. In der Stille gespannter Aufmerksamkeit trat Lambert aus der Seitenkulisse. Er trug ein hellschimmerndes Seidenjackett, eine weiße Leinenweste, grau karierte Hosen und in der Hand seinen kurzen Stab mit den Elfenbeinspitzen. Hocherhobenen Hauptes ging er zur Bühnenmitte, blickte zum ersten Rang hinauf und deutete dann eine Verbeugung an, das Zeichen für den Beginn. Im selben Augenblick tauchte Jules in der gelbschwarz gestreiften Weste eines französischen Lakaien auf der Bühne auf, trat an den Tisch im Hintergrund, nahm den Zylinder und reichte ihn Lambert. Lambert tippte mit dem Stock dagegen und hielt den Hut mit der Öffnung zum Publikum, um zu zeigen, daß er leer war. Dann fuhr er mit dem Stock darüber, langte hinein und zog nacheinander drei schwere Kanonenkugeln heraus, die er krachend auf die Bühne fallen ließ. Das Publikum erstarrte. Die Araber rutschten nicht länger nervös auf ihren Sitzen herum, sondern blickten gebannt auf die Bühne. Wieder tippte Lambert an den Hut, zog aber diesmal einen Strauß Blumen daraus hervor. Emmeline beobachtete die vier Marabuts in der ersten Reihe im Parkett, sah, wie sie ihre Gebetsperlen befingerten und sich Seitenblicke zuwarfen. Es gab keinen Applaus. Lambert trat ins Rampenlicht und winkte Jules zu sich, der ihm das Füllhorn aus Papiermaché reichte, das etwa einen Meter lang und am breiteren Ende mit einem Deckel versehen war, den Lambert öffnen konnte, um dem Publikum zu zeigen, daß es leer war. Er tat dies, schloß den Deckel wieder, lächelte, drehte das Füllhorn kopfüber und ließ einen Schauer von Damenfächern, kleinen Blumenbouquets und Bonbons niederregnen, die Jules auf einem Tablett sammelte und den Damen im Publikum anbot. Jetzt kam zum ersten Mal 151
spärlicher Applaus auf, doch Emmeline sah, daß er nicht von den Arabern, sondern von den Europäern stammte. Jules brachte die Punschbowle vor, eine silberne Schüssel, wie sie in Pariser Cafés benutzt wird. Lambert schraubte den unteren Teil ab und steckte seinen Stab durch das Gefäß, um zu zeigen, daß es leer war. Er sagte einige Worte, die sein Publikum nicht verstehen konnte, strich dreimal mit der Hand über die Schüssel, und schon quoll dichter Dampf daraus auf. Dann brachte Jules ein Dutzend kleiner Tassen, die Lambert mit heißem Kaffee füllte. Jules stellte die Tassen auf ein Tablett, ging durch das Publikum und bot sie den Zuschauern in der ersten Reihe an. Auf Jules’ Anregung hin verkündeten die Dolmetscher, daß der große Zauberer dem Publikum einen Kaffee kredenze, das Lieblingsgetränk der Araber. Niemand wollte das Angebot annehmen – bis auf Jules’ Drängen hin einer der Marabuts mißtrauisch nach einer Tasse griff und daran nippte. Danach probierte noch so mancher Zuschauer den Kaffee, während Lambert aus der kleinen, scheinbar unerschöpflichen Schüssel nachschenkte und sie dann Jules reichte, so daß die Tassen unter den Augen ihrer Empfänger gefüllt werden konnten. Auf ein Zeichen von Lambert brachte Jules die Schüssel schließlich zurück auf die Bühne. Lambert hielt sie in die Höhe, um allen zu zeigen, daß sie noch immer voll war. Er stellte die Schüssel auf den Tisch im Bühnenhintergrund und griff dann nach der kleinen, solide gearbeiteten Kiste mit den Kupferbeschlägen, hob sie mühelos auf und ging damit zur Bühnenmitte. Und nun wandte er sich, langsam sprechend, damit die Dolmetscher ihn übersetzen konnten, zum ersten Mal direkt an sein Publikum. »Was Sie gesehen haben, mag Sie glauben machen, daß ich mit ungewöhnlichen ›Kräften‹ begabt bin. Und Sie haben recht. 152
Ich verfüge tatsächlich über übernatürliche, von Gott verliehene Kräfte. Ich werde Ihnen nun einen letzten Beweis dafür liefern, indem ich Ihnen zeige, daß ich den stärksten Mann seiner Kraft berauben und sie ihm nach Gutdünken wieder verleihen kann. Wer sich für dieses Experiment stark genug fühlt, den bitte ich nun, nach vorn zu kommen.« Emmeline schaute von ihrer Loge herab und sah, wie die vier Marabuts die Köpfe zusammensteckten. Dann zeigte einer von ihnen auf einen Araber auf einem Sperrsitz. Der Mann erhob sich sofort und ging auf die Bühne. Er war etwa mittelgroß, aber muskulös und gut gebaut. Mit selbstbewußter Miene näherte er sich Lambert. »Sind Sie stark?« fragte ihn Lambert. Der Araber lächelte, blickte zu den Marabuts in der ersten Reihe hinab und nickte. »Das bin ich.« »Sind Sie davon überzeugt, daß Sie auch stark bleiben werden? Daß Sie immer stark bleiben werden?« Der Araber wandte sich seinem Dolmetscher zu und murmelte ein Wort, das mit ›immer‹ übersetzt wurde. Emmeline sah, wie Lambert innehielt. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß ihm Vergnügen bereitete, was nun folgen sollte. Lange schaute er den Araber wortlos an. »Sie irren sich«, sagte er schließlich. »In nur einer Sekunde werde ich Ihnen Ihre Kraft rauben, und Sie werden so kraftlos wie ein kleines Kind sein.« Der Araber lächelte und blickte erneut zu den Marabuts hinunter, als wollte er fragen, ob auch sie dies für einen Witz hielten. »Würden Sie nun«, sagte Lambert, »bitte diese Kiste aufheben!« 153
Der Mann bückte sich, hob die Kiste hoch, stemmte sie über den Kopf und balancierte sie mit einer Hand. Dann kehrte er sich zu Lambert um und sagte verächtlich: »Ist das alles?« Lambert bedeutete ihm, die Kiste wieder abzustellen, näherte sich dem Araber und fuhr einmal mit seinen schlanken Zauberhänden vor dem Gesicht des Mannes auf und ab. Dann sagte er: »Von diesem Augenblick an sind Sie schwach wie ein kleines Kind. Versuchen Sie, die Kiste anzuheben!« Der Araber langte selbstsicher nach unten, umklammerte die Eisengriffe der Kiste und zog mit Macht, aber die Kiste rührte sich nicht von der Stelle. Wütend bückte er sich, doch brach ihm der Schweiß aus, als er versuchte, sie anzuheben. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Emmeline hörte Schreie aus dem Publikum, bei denen es sich offenbar um aufmunternde Zurufe handelte. Noch einmal bückte sich der Araber und spannte all seine Kräfte an. Er keuchte und zog, gab sich aber schließlich geschlagen, ließ die Griffe los und starrte Lambert mit einer Mischung aus Furcht und Wut ins Gesicht. Zurufe von den Scheichs im Parterre ließen ihn sich jedoch umdrehen und ins Publikum starren. Von den Rufen ermutigt, bückte er sich noch einmal, packte die Griffe und stellte sich in einer letzten Kraftanstrengung breitbeinig über die Kiste. Emmeline, die wußte, was nun geschehen würde, zitterte vor Angst um diesen Mann. Auf ein heimliches Zeichen von Lambert schickte Jules, der nun hinter der Kulisse stand, einen Stromschlag durch die Griffe der Kiste. Der Araber, dessen Hände an der Kiste klebten, begann heftig zu zittern, und seine Brust zog sich zusammen, als er einen lauten Schmerzensschrei ausstieß. Dann fiel er auf die Knie und sackte über der Kiste zusammen, unfähig, seinen Griff zu lösen. 154
Lambert schaute ihm in seiner Qual zu, dann trat er vor und schwenkte den Stab über der Kiste. Vom Strom befreit, stand der Araber taumelnd auf, starrte den Zauberer der Ungläubigen an, wandte sich um, schlang den Burnus fest um sich, als wolle er sich vor aller Pein schützen, sprang von der Bühne und rannte den Mittelgang hinunter, hinaus aus dem Theater. In den Logen des Generalgouverneurs und des Präfekten sowie unter den französischen Offizieren im Parterre spürte Emmeline plötzlich verhaltenen Jubel, Gefühle des Triumphes, die mit einer gewissen Verwirrung vermengt schienen, da niemand ahnte, wie ihr Gatte derlei zuwege bringen konnte. Doch von den Marabuts in der ersten Reihe bis hin zur großen Menge der Araber in den hinteren Rängen des Theaters herrschte ein ernstes, unbehagliches Schweigen. »Schaitan«, rief ein Marabut. Die Damen in Emmelines Loge wandten sich an den Dolmetscher. »Was hat er gesagt?« »Satan.« Arabisches Stimmengewirr erfüllte das Theater. Emmeline sah, wie ihr Gatte von der Bühne herabschaute, als suche er jemanden im Publikum. Dann schritt Colonel Deniau durch den Mittelgang Richtung Bühne und wandte sich am Orchestergraben den aufgeregten Arabern zu. »Manch einer von Ihnen kennt Marabuts, die von sich behaupten, durch Schüsse und Kugeln nicht verwundet werden zu können«, sagte er. »Doch können diese Marabuts es auch beweisen? Heute abend sehen Sie einen Zauberer, der tatsächlich unverwundbar ist und einen Beweis dafür liefern wird, der über jeden Zweifel erhaben ist.« Lambert ging nun zur Bühnenmitte, blieb stehen und sagte dann: »Ich bin unverwundbar, weil ich diesen Talisman habe, 155
der mich vor allem Leid bewahrt.« Wie durch Magie erschien eine kleine, glitzernde Glaskugel in seiner ausgestreckten Hand. »Solange ich dies hier besitze, kann mir der beste Schütze Algeriens nichts anhaben.« Er hatte kaum zu reden aufgehört, da sprang einer der Marabuts aus der ersten Reihe auf, flog in einem Satz über den Orchestergraben und zog sich so geschwind auf die Bühne, daß er sich in der Eile seine Kleider an den Kerzen des Rampenlichtes versengte. Dann wandte er sich an Lambert und sagte in ausgezeichnetem Französisch: »Ich bin hier, um Sie zu töten!« Es wurde vollkommen still. Dann erwiderte Lambert: »Sie wollen mich töten? Ich bin der mächtigere Zauberer, und ich sage Ihnen, Sie werden mich nicht töten.« Er machte Jules ein Zeichen, der daraufhin aus dem Bühnenhintergrund nach vorn trat und ihm eine Reiterpistole gab, die Lambert dem Marabut anbot. »Nehmen Sie die Pistole und prüfen Sie nach, daß sich niemand daran zu schaffen gemacht hat.« Der Marabut blies einige Male durch den Lauf, dann durch den kurzen Nippel, um sicherzugehen, daß die Verbindung zwischen beiden nicht blockiert war, und nach sorgfältiger Untersuchung der Waffe sagte er schließlich: »Die Pistole ist in Ordnung; ich werde Sie damit umbringen.« »Da Sie mich unbedingt töten wollen«, sagte Lambert, »nehmen Sie diese doppelte Ladung Pulver und den Pfropf dazu.« Der Marabut tat, wie ihm geheißen, und sagte: »Ich bin soweit.« »Hier ist eine Bleikugel: Ritzen Sie ein Zeichen mit Ihrem 156
Messer hinein, damit Sie sie später wiedererkennen können, und laden Sie die Kugel mit diesem zweiten Pfropf.« »Fertig.« »Da Sie sich nun überzeugt haben, daß die Pistole geladen und feuerbereit ist, sagen Sie mir: Macht es Ihnen nichts aus, mich zu töten, auch wenn ich Sie dazu ermächtigt habe?« Der Marabut maß ihn mit kaltem Blick. »Nein. Sie behaupten, ein Zauberer zu sein, also beweisen Sie es.« Lambert nickte, bedeutete Jules dann, vorzutreten und ihm einen Apfel und einen Dolch zu geben. Lambert stieß den Dolch in den Apfel und hielt ihn in der linken Hand auf Brusthöhe. »Nun«, sagte er. »Zielen Sie nicht auf diesen Apfel, sondern auf mein Herz.« Der Marabut zielte sogleich auf Lamberts Brust und drückte ab. Der Schuß ging los. Die Kugel verfehlte Lambert und schlug mitten in den Apfel ein, den er in seiner Hand hielt. Lambert reichte dem Marabut den Apfel und sagte: »Nehmen Sie die Kugel heraus. Ist das die Kugel, die Sie gekennzeichnet haben?« Der Marabut zog die Kugel aus dem Apfel. Er schaute sie an und nickte dann wütend. Lambert nahm ihm die Pistole ab und gab sie Jules. »Niemand kann mich töten«, sagte er. Emmeline sah, daß selbst die europäischen Zuschauer angesichts dieser Darbietung einigermaßen beunruhigt und verblüfft waren. Die Araber im Publikum aber saßen reglos wie Marionetten da und sahen zu, wie der verstörte Marabut auf seinen Platz zurückkehrte. In diesem Moment erhob sich Maréchal Randon, der vor Emmeline gesessen hatte, lächelte Lambert zu und applaudierte. Seinem Beispiel folgend standen alle Europäer auf und 157
begannen ebenfalls zu klatschen. Mit einer gemessenen Verbeugung nahm Lambert den Beifall entgegen, wartete, bis er sich legte, lächelte dann, breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus, trat ins Rampenlicht und machte den Dolmetschern ein Zeichen. »Ich würde mich freuen, wenn für meine nächste Demonstration einer unserer arabischen Freunde auf die Bühne kommen könnte, um mir zu helfen. Ich versichere Ihnen, daß ihm kein Leid widerfahren wird.« Er wartete, bis die Dolmetscher seine Worte übersetzt hatten, danach entstand eine unbehagliche Pause. Doch plötzlich erhob sich ein junger, hochgewachsener, unbekümmert dreinschauender Araber mit den eleganten gelben Stiefeln und der bestickten Weste eines Kaïds, kam durch den Mittelgang nach vorn und grinste seinen Freunden wie ein kleiner Junge zu, der eine Herausforderung angenommen hat. Lambert streckte ihm die Hand hin, um ihm auf die Bühne zu helfen. Gleich darauf brachte Jules einen kleinen Holztisch zur Bühnenmitte und stellte ihn dort auf. »Wie Sie sehen können«, sagte Lambert und zog seinen Stab einmal unter den Tischbeinen hindurch, »ist dieser Tisch nirgends befestigt und enthält auch keine verborgenen Schubladen oder Geheimfächer.« Er wandte sich an den jungen Araber. »Würden Sie bitte auf den Tisch steigen?« Der Araber kletterte hinauf und schaute ins Publikum. Dann holte Jules aus der Seitenkulisse einen riesigen, etwa zwei Meter langen und oben geöffneten Tuchkegel, den er mit Lamberts Hilfe über den Araber stülpte, so daß dieser gänzlich darunter verborgen war. Daraufhin schoben sie ein Brett unter den Kegel, packten sich jeder ein Ende, hoben Brett und Tuchkegel an, trugen beides ins Rampenlicht und drehten dort plötzlich den Kegel um. Er war 158
leer. Der junge Araber war verschwunden. Ein Raunen der Verblüffung ging durch den Saal. Und als hätte jemand »Feuer!« geschrien, sprangen die Leute plötzlich von ihren Sitzen auf, und einige rannten voller Panik zum Ausgang. Doch die Tür war verschlossen. Ruhig und zielstrebig aber trat Lambert von der Bühne und bahnte sich seinen Weg durch den nun überfüllten Mittelgang. Selbst wer fliehen wollte, wich beiseite, um den Zauberer durchzulassen. Von ihrer erhöhten Warte konnte Emmeline die Furcht in den Gesichtern sehen, die ihren Gatten betrachteten. Sobald Lambert die Tür erreicht hatte, streckte er die Hand aus, und wie durch Magie tauchte ein eiserner Schlüssel zwischen seinen Fingern auf. Er öffnete die Tür, ging durchs Vestibül und kehrte mit dem jungen Araber an der Hand zurück. Der Araber schien verwirrt, fast wie betrunken. Emmeline nahm den Geruch von Äther wahr, als der junge Mann an ihrer Loge vorüberkam. Lambert führte den jungen Mann zurück auf die Bühne. Verwirrt, doch immer noch in äußerster Erregung riefen die Araber ihrem Landsmann etwas zu, der daraufhin benommen eine Antwort murmelte, die dem europäischen Publikum mit folgenden Worten übersetzt wurde: »Er sagt, er wisse nicht, was passiert sei. Er fühle sich, als habe er kif geraucht. Er hat alles vergessen.« Lambert legte dem Araber nun die Hände auf die Schultern und dankte ihm für seine Mithilfe. Doch der junge Mann zuckte unter der Berührung zusammen, sprang vor Schrecken von der Bühne und verschwand im Publikum. In der anschließenden Verwirrung und der allgemeinen Unruhe gab Lambert dem Orchester ein Zeichen. Ein Trommelwirbel erscholl und ließ die entsetzten Zuschauer einen Moment verstummen. Lambert wandte sich an die Dolmetscher. Emmeline, die ihn genau 159
beobachtete, spürte seinen Stolz, ahnte seinen Triumph. »Ich bin ein Zauberer. Ich bin Christ, und ich bin Franzose. Gott, den Sie Allah nennen, beschützt mich. So wie er mein Land vor jedem Feind beschützt, der einen Angriff auf Frankreich wagen sollte. Im Namen unseres Gastgebers Maréchal Randon danke ich Ihnen dafür, daß Sie heute Abend gekommen sind. Wir wünschen Ihnen noch eine gute Nacht.«
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Acht Als sie am nächsten Tag am Arm von Monsieur de la Garde zu einem Diner ging, das der Generalgouverneur zu Ehren ihres Mannes gab, sah Emmeline, wie Deniau den Saal betrat, mehrere Ausgaben einer Zeitung in der Hand, die er an Monsieur de la Garde und den Präfekten verteilte. Es war der Moniteur Algérien, die Stimme der französischen Bevölkerung von Algier, und als Deniau sein Blatt aufschlug und zu lesen begann, rief Monsieur de la Garde der Tischgesellschaft zu: »Ach, nein! Hören Sie sich das an. Hier steht: Lassen Sie uns noch hinzufügen, daß die Pferderennen dieses Jahr wie stets Gelegenheit für allerlei Festlichkeiten boten, die nicht zuletzt zu Ehren unserer arabischen Stammesfürsten veranstaltet wurden. Doch weder das Bankett, das Monsieur le Maréchal für sie ausrichtete, noch der Abschlußball, auf dem sich die Hautevolee unserer Stadt versammelte, hat sie so sehr wie die erstaunliche Séance von Henri Lambert beeindruckt, dessen übernatürliche Gaben sie zum ersten Mal erleben durften. Monsieur le Maréchal ist durchaus nicht entgangen, daß es einigen Marabuts in letzter Zeit gelungen ist, ihre arabischen Landsleute glauben zu machen, sie verfügten über übernatürliche Kräfte. Den so gewonnenen Einfluß auf die einheimische Bevölkerung wollten sie für eine Revolte gegen die französische Herrschaft nutzen. Indem man nun einen Christen auftreten ließ, dessen übernatürliche Kräfte bei weitem alles übertreffen, was ein Marabut vorzuführen vermag, haben Monsieur le Maréchal und Monsieur Lambert einen enormen Beitrag für 161
das Wiedererstarken einer Atmosphäre friedlichen Zusammenlebens geleistet, die für unser Wohlergehen schlicht unumgänglich ist.« Als er dies hörte, erhob sich der Präfekt, ging zu Lambert, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Meinen herzlichen Glückwunsch!« Die Gäste scharten sich um Lambert und sprachen ihm ebenfalls ihre Anerkennung aus. In diesem Augenblick betrat Lieutenant Lecoffre den Saal, ein Zeichen dafür, daß man die Ankunft des Maréchals erwartete. Mit der Zeitung in der Hand ging Monsieur de la Garde ihm entgegen. »Haben Sie schon die Zeitung gelesen, Euer Exzellenz?« Der Maréchal, der an diesem Morgen die Paradeuniform mit dem Großkreuz der Ehrenlegion trug, erwiderte die respektvollen Verbeugungen seines Stabes und die Hofknickse der anwesenden Damen mit einem Kopfnicken, wandte sich dann an de la Garde und sagte: »Nein, ich habe sie noch nicht gelesen, aber Lecoffre hat mir erzählt, was drin steht. Ein ausgezeichneter Anfang.« Maréchal Randon gab den Lakaien ein Zeichen, die daraufhin sogleich Gläser mit Champagner herumreichten. »Lassen Sie mich einen Trinkspruch ausbringen«, sagte er. »Auf Henri Lambert – den großen Zauberer, der vom heutigen Tage an auch Soldat Frankreichs im Krieg gegen die Feinde des Landes ist.« Man trank, und Emmeline sah die Freude ihres Mannes, der, von Stolz und Gefühlen tief bewegt, dem Maréchal erwiderte: »Ich danke Ihnen, Euer Exzellenz. Sie dürfen mir glauben, daß es mir eine große Ehre ist, meinem Land dienen zu dürfen.« 162
Emmeline hörte, wie einige Gäste »Bravo!« murmelten und dann zurück an ihren Platz gingen. Als sie sich rechts von Monsieur de la Garde an den Tisch setzte, entdeckte sie ein Tischkärtchen mit Deniaus Namen zu ihrer Linken. Kurz darauf saß er neben ihr, ergriff ihre Hand, küßte sie und sagte mit leiser Stimme: »Ich habe von Ihnen geträumt.« Sie blickte ihn erschrocken an, da sie fürchtete, Monsieur de la Garde könne etwas gehört haben. Doch Monsieur de la Garde schäkerte mit der Frau des Präfekten. »Wissen Sie, warum ich von Ihnen geträumt habe?« fragte Deniau in vertraulichem Ton. »Weil wir nächste Woche zusammen reisen werden. Und zwar in die Wüste, ins wahre Algerien. Das wird aufregend, für uns beide, hoffe ich.« In diesem Augenblick beugte sich zu ihrer großen Erleichterung Lieutenant Lecoffre über den Tisch und sagte zu Deniau: »Stimmt es, Colonel, daß diese Vorstellung Ihre Idee war? Dann sollten wir Ihnen ebenfalls gratulieren. Wie Sie sehen, haben Sie einen großen Erfolg erzielt.« Deniau lächelte sie an, als wolle er sich für diese Unterbrechung entschuldigen, und sagte dann zu Lecoffre: »Danke sehr. Es ist ein Erfolg, stimmt, aber wir stehen erst am Anfang unserer Aufgabe.« »Wieso das, Colonel?« Emmeline merkte, daß einige Gäste diesen Wortwechsel gehört hatten und nun auf Deniaus Antwort warteten. Auch Deniau war dies nicht entgangen. Er sah die Tafel entlang, und als er den Blick des Maréchal auffing, sagte er: »Euer Exzellenz weiß, daß ich in zwei Tagen mit Monsieur Lambert in jene Gegend reisen werde, in der das Gerücht vom neuen Mahdi aufkam. Monsieur Lambert muß nun beweisen, daß er 163
mächtiger als Bou Aziz ist, um dessen Einfluß bei den Arabern und den Stammesfürsten der Kabylen zu brechen. Keine einfache Aufgabe, fürchte ich. Und obwohl ich größtes Zutrauen in meinen Freund Lambert habe, können wir für den Erfolg nicht garantieren.« Randon lächelte. »Er hat bereits großen Erfolg, Colonel. Gestern habe ich nach der Vorstellung mit Scheich Farhat von Constantine gesprochen. Er sagte: ›Unsere Marabuts werden jetzt große Wunder vollbringen müssen, wenn sie uns in Erstaunen versetzen wollen.‹ ›Und glauben Sie, das es ihnen gelingt?‹ habe ich ihn gefragt. ›Ich hege keine große Hoffnung‹, hat er mir geantwortet. ›Doch wenn Bou Aziz tatsächlich der Mahdi ist, muß er beweisen, daß er größer als euer Zauberer ist.‹« Der Maréchal lächelte in die Runde. »Und so habe ich zu dem Scheich gesagt: ›Allah ist groß, und er wird entscheiden.‹« Der Präfekt klatschte zustimmend in die Hände. »Mit gleicher Münze heimgezahlt, Exzellenz! Schlagfertig gekontert! Und er wird entscheiden. Für Lambert – und für Frankreich!« Emmeline blickte über den Tisch zu ihrem Gatten. Er saß hocherhobenen Hauptes da und lächelte einem Meer lächelnder Gesichter zu. Am nächsten Morgen warteten Emmeline und Lambert kurz nach Tagesanbruch mit Jules im Hof der Residenz des Generalgouverneurs auf Deniau, der sie mit einer Postkutsche abholen wollte, in der sie den ersten Teil ihrer Reise in die Kabylei zurückzulegen gedachten. Doch als das Gefährt in den Hof ratterte, war von Deniau weit und breit nichts zu sehen. Statt dessen sprang der arabische Junge, dem Emmeline in 164
Deniaus Haus begegnet war, von seinem Sitz neben dem Kutscher und erklärte in einem stark arabisch eingefärbten Französisch, daß sein Herr von politischen Pflichten aufgehalten worden sei, so daß er mit Pferden und Kamelen für den zweiten Teil der Reise in der Stadt Aïn Sefra zu ihnen stoßen werde, sobald die Kutsche in zwei Tagen dort eintreffe. »In Aïn Sefra enden die Straßen, Monsieur. Von da an müssen Sie auf Pferden reiten. Mein Herr wird sich alle Mühe geben, Sie rechtzeitig dort zu treffen.« Dann verbeugte sich der Junge vor Lambert und hielt ihm die Kutschentür auf. Lambert drehte sich zu Emmeline um und wollte ihr den Vortritt lassen, doch der Junge stellte sich ihr in den Weg. »Nein, Monsieur«, sagte er zu Lambert. »Sie müssen vor der Frau einsteigen. Sie sind der Marabut.« Während Lambert einstieg, reichte ihm der Junge die Hand, um ihm auf die Stufe hinaufzuhelfen. Doch als Emmeline ihrem Mann folgte, krümmte der Junge keinen Finger. Statt dessen betrachtete er sie mit dem ihr bereits vertrauten Haß, und als er den Kutschenschlag hinter ihr schloß, hörte sie, wie er mit den Lippen ein Geräusch machte, als spucke er auf den Boden. Sobald sie ihr Gepäck sowie Lamberts Theaterkisten verstaut und auf dem Dach der Kutsche verschnürt hatten, setzte sich Jules auf den Bock neben den Kutscher. Der Araberjunge verbeugte sich zum Abschied vor Lambert. Zuavenwachen nahmen Haltung an und präsentierten ihre Gewehre, während die schwere Kutsche auf die Rue de la Marine hinausrumpelte. Minuten später hatten sie die Stadt hinter sich gelassen, und die Pferde eilten in schnellem Trab auf einer breiten Straße durch die umliegenden Dörfer einer Landschaft entgegen, die staubtrocken wie der Tod war. Emmeline, die neben ihrem Mann saß, der wie stets auf Reisen der Lektüre frönte, starrte 165
blind geradeaus. Sie hatte sich an diesem Morgen mit besonderer Sorgfalt gekleidet, war vor dem Morgengrauen aufgestanden, um ihr Haar zu waschen und zu frisieren, hatte sich für ein rosafarbenes Seidenkleid entschieden und weiße Spitzenhandschuhe gewählt, als ginge sie zu einer Dinnerparty und nicht auf Reisen, und hatte den Flakon ihres Lieblingsparfüms genommen, um sich den Hals, die Grübchen hinter den Ohren und die Rücken ihrer Handgelenke mit dem zarten Duft von muguet zu betupfen, würde sie doch dicht neben Deniau in der engen Kutsche sitzen. All dies tat sie wie im Schlaf und weigerte sich, an das zu denken, was in den kommenden Tagen geschehen mochte, doch als der Araberjunge mit der Nachricht eintraf, daß ihr zwei Reisetage bevorstanden, ehe Deniau sich ihnen anschloß, spürte sie angesichts der nonchalanten Art, wie Deniau ihre Zusammenkunft hinausgeschoben hatte, heißen Zorn in sich aufwallen, zu dem sich allerdings die Sorge gesellte, daß die ›politischen Pflichten‹ ihn gänzlich davon abhalten könnten, zu ihnen zu stoßen. Wegen der Enttäuschung, die sie über seine Abwesenheit empfand, erlaubte sie sich jedoch schließlich den Gedanken, daß sie ihn in Zukunft, sollte er noch einmal einen Annäherungsversuch wagen, nicht zurückweisen wollte. Diese Abwesenheit, diese Sehnsucht nach ihm, diese Ungewißheit ließen die nächsten beiden Tage endlos erscheinen. Wenn die Kutsche abends an einem von französischen Kolonisten geführten Hotel hielt, plazierte man sie zu Lamberts großem Mißfallen am selben Tisch wie die französischen Handelsreisenden und setzte ihnen recht mittelmäßiges europäisches Essen vor. Lambert sorgte sich ebenso wie Emmeline darum, daß diese mysteriösen politischen Pflichten Deniau daran hindern mochten, ihre Verabredung einzuhalten. 166
Doch als die Kutsche am Morgen des dritten Tages in den Hof jenes Gebäudes der Stadt Aïn Sefra rollte, in dem das Bureau arabe untergebracht war, sah Lambert beim Öffnen des Kutschverschlags Kaddour vor sich, Deniaus senegalesischen Sklaven. Emmelines Miene hellte sich auf, als der Riese die Hände zu einem Steigbügel formte, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Augenblicke später begrüßte sie Capitaine Hersant, der Leiter des Bureau arabe in Aïn Sefra, der ihnen mitteilte, daß Deniau bereits in der Stadt sei, um Kamele zu mieten, und daß er sich zum Essen zu ihnen gesellen werde. Als der Muezzin kurz nach Mittag die Gläubigen zur Andacht rief, blickte Emmeline in den Hof ihrer Unterkunft und sah über die Rücken der im Gebet gebeugten Araber drei Kamele durch das Tor kommen. Auf dem Leitkamel hockte Deniau mit überkreuzten Beinen, die Uniform unter einem braunen Burnus verborgen, und hielt die kleine Karawane an, bis die Gebete zu Ende waren. Dann ließ er sein Kamel niederknien, glitt geschickt von dessen Rücken, überquerte den Hof, blickte zu ihr rauf und winkte ihr einen Gruß mit der Reitgerte zu. »Er ist da, Henri!« »Wo?« fragte Lambert, der ans Fenster trat und nach unten schaute. Doch Emmeline stand bereits vor dem Spiegel, steckte eifrig ihr Haar zurecht, wandte sich dann aufgeregt um und eilte die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Und als Deniau eintrat, ging sie zu ihm und sagte mit kaum verhohlener Freude: »Ach, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Ich dachte schon – aber nun sind Sie da!« Sie wollte ihm etwas zu verstehen geben, und er verstand. Er nahm ihre Hand, verbeugte sich, um sie zu küssen, hob dann den Kopf und schaute ihr in die Augen. »Ja, jetzt bin ich da«, 167
sagte er, lächelte, ließ ihre Hand los und fügte leise hinzu: »Liebe Emmeline.« Die nächste Stunde verflog in einer solchen Glückseligkeit, daß sie den Gesprächen am Tisch kaum zu folgen vermochte. Doch dann hörte sie, wie Deniau ihrem Mann erzählte, daß sie sobald wie möglich aufbrechen und ein zügiges Tempo vorlegen sollten, da sie ihre Reise beenden mußten, ehe der Herbstregen einsetzte, der die Wege unpassierbar und gefährlich machen würde. »Wann rechnen Sie denn mit dem Regenwetter?« fragte Lambert. »Gegen Monatsende. Ich habe mir daher vorgenommen, Sie spätestens in vierzehn Tagen gesund und wohlbehalten hierher zurückzubringen.« Emmeline starrte Deniau an. Vierzehn Tage. Zwei Wochen …
Und es ist vorbei. Dann schickt man uns nach Frankreich zurück. »Aber ich habe vier Vorstellungen vorbereitet«, sagte Lambert. »So hatten wir es doch vereinbart.« »Als wir diese Vereinbarungen in Frankreich aushandelten, konnte ich leider nicht ahnen, daß sich unsere algerischen Festivitäten durch den Aufstand in der Kabylei verzögern würden. Ich fürchte nun, daß wir alles auf eine Karte setzen müssen. Deshalb bin ich am Tag Ihrer Abreise auch noch in Algier geblieben. Ich habe Boten an alle Scheichs und Marabuts entsandt, vor denen Sie normalerweise aufgetreten wären, und habe sie zu einer großen Seance in die Stadt Miliana eingeladen. Wir verfügen dort über ein Fort mit einem großen Innenhof, in dem wir ein recht ansehnliches Publikum unterbringen können.« Er lächelte. »Ich finde den Veranstaltungsort sogar 168
ideal, da es in dem Gebäude Strom gibt.« »Tatsächlich? Ausgezeichnet«, sagte Lambert. »Das ist vor allem deshalb wichtig, weil selbst jene schon über Ihre schwere Kiste reden, die bei der Vorstellung in Algier nicht dabeigewesen sind. Die Geschichte von dieser Kiste hat sich – wie ein Lauffeuer verbreitet, wollte ich sagen, doch wäre die Metapher vom elektrischen Strom hier wohl eher angebracht.« Capitaine Hersant, der in das Geheimnis der schweren Kiste eingeweiht worden war, lächelte verschwörerisch, doch Emmeline sah, daß Lambert sich ärgerte. »Das Geheimnis der Magie ist ihr Mysterium«, sagte er zu Deniau. »Ich hoffe daher, daß Sie Ihren arabischen Freunden gegenüber kein Wort über Elektrizität verlieren werden.« »Entschuldigen Sie«, sagte Deniau. »Sie haben natürlich recht. Das Geschehen auf der Bühne muß ihnen wie ein echtes Wunder präsentiert werden.« Lambert nickte. »Gut. Also – wann soll diese Vorstellung stattfinden?« »In vier Tagen. Die Zusagen der meisten Scheichs und Marabuts sind bereits bei Maréchal Randon eingegangen. Allerdings war es auch nicht sonderlich schwierig, diese Zusagen zu erhalten. Ihre Person ist nämlich bereits der Gegenstand einiger Angst und Neugier.« »Und Bou Aziz?« fragte Capitaine Hersant. »Kommt er?« »Bislang haben wir von ihm noch keine Antwort, doch falls er nicht kommt, könnte ihm das negativ ausgelegt werden. Wir würden natürlich gleich das Gerücht verbreiten lassen, daß er vor Henri Lamberts übernatürlichen Kräften Angst hat. Jedenfalls werden wir seinetwegen nicht warten. Mein Plan sieht vor, daß wir am Morgen nach der Veranstaltung die Rückreise 169
antreten und die Gäste ob Ihrer Vorstellung verblüfft zurücklassen.« Deniau wandte sich an Emmeline und legte die Hand auf ihren Arm, als wollte er sich ihrer Aufmerksamkeit vergewissern. »Wenn es Ihnen nicht allzuviel ausmacht, Madame, würde ich Sie daher bitten, bei Tagesanbruch reisefertig zu sein.« »Wie reisen wir? Auf Pferden? Oder werde ich auf einem Kamel reiten müssen?« Deniau lachte. »Das Kamel ist kein sonderlich komfortables Reittier, Madame, dergleichen würde ich Ihnen niemals zumuten wollen. Wir wählen uns aus Capitaine Hersants Stall sechs Pferde aus. Außerdem haben wir zwei arabische Diener, die sich um die Lastkamele kümmern, und zwei, die auf Mauleseln reiten und uns zu Diensten stehen. Doch ich warne Sie, der Weg wird beschwerlich sein.« Als die Karawane am nächsten Morgen aufbrach, drohte die Sonne bereits wie ein Mahnmal in der fahlen Dämmerung. Der Weg, von dem Deniau gesprochen hatte, war eine pfadlose Wüstenlandschaft, in der weit und breit kein anderer Reisender zu sehen war. Vor dem roten Hintergrund des Wüstenbodens hoben sich bleiche Schatten ab: die ockerfarbenen Gewänder der Diener, das rost- und beigefarbene Fell der Kamele, die schwarzen und braunen Decken der Pferde; all diese stumpfen Farben ließen die zunehmende Hitze nur noch heißer scheinen. Zwei Stunden später war die Sonne zur Qual geworden. Emmeline spürte, wie ihr Haar feucht wurde. Schweiß rann ihr zwischen den Brüsten hinab, als sie ihr Pferd anspornte, um vor Deniau zu reiten, da sie ihm weder ihr erhitztes Gesicht noch das zerzauste Haar zeigen wollte. Gegen Mittag gingen die Wanderdünen in eine Reihe tiefer Schluchten über, und ihr 170
Pferd rutschte und stolperte die nahezu senkrechten Abhänge hinab, so daß sie jeden Augenblick abgeworfen zu werden drohte. Kurz nach Mittag ließ Deniau die Karawane anhalten. Die Diener errichteten rasch eine Art Unterstand aus Ziegenfell, unter dessen Dach sie ein kärgliches Mahl aus Datteln, Schafsmilch und Brot ausbreiteten. Emmeline verzog sich hinter dieses Zelt und versuchte hastig, sich mit Seife und Wasser ein wenig zurechtzumachen, ehe sie sich auf den Teppich setzte, auf dem das Essen aufgetragen worden war. Sie hörte, wie Deniau ihrem Mann mitteilte, daß sie am Abend im Haus eines Scheichs namens Ben Gannah nächtigen würden, wo man ihnen auch ein anständiges Mahl zubereiten würde. »Morgen wird der Weg nicht ganz so anstrengend sein. Der schlimmste Teil der Reise ist vorbei.« Am späten Nachmittag kauerte sie zusammengesunken auf ihrem müden Pferd; endlos wie ein Ozean dehnte sich die Wüste vor ihr aus und wies in ihrer Grenzenlosigkeit und Gefährlichkeit alle Eindringlinge zurück. Wie hatte sie noch vor ein paar Tagen nur davon träumen können, daß dies hier die Kulisse für eine romantische Affäre sei? Deniau schloß neben ihr auf und fragte, ob sie eine Pause einlegen wolle, doch sie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich möchte nur noch dahin, wo wir heute abend schlafen. Raus aus der Sonne. Wie groß ist diese Wüste? Sie macht mir Angst.« »Die Sahara? Vierhundertachtzigtausend Quadratkilometer haben wir errechnet. Stimmt, sie ist beängstigend groß, aber sie ist auch eine spirituelle Landschaft. Wer sie betreten will, muß werden wie sie, tabula rasa in sich machen.« Er trieb sein Pferd an, ritt vor ihr her. »Glauben Sie mir, Emmeline«, rief er zurück. »Sie wird Ihr Leben verändern.«
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Emmeline schaute zu Lambert hinüber, der neben seinem Diener Jules ritt. »Und meinen Mann?« fragte sie. »Wird sie ihn auch verändern?« »Das bezweifle ich«, sagte Deniau. »Er ist ein großer Zauberer, doch wohnt der Zauber auch in seiner Seele? Was glauben Sie?« Sie gab keine Antwort. Kurz vor Sonnenuntergang sah sie am Horizont eine Ansammlung maurischer Gebäude, die wie ein gespenstisches Schloß aus der Ödnis aufragten. Wenige Augenblicke später galoppierten ihnen bereits zwei arabische Reiter entgegen, die Deniau einen Gruß zuriefen, dann ihre Reittiere herumrissen, neben Lambert und Emmeline in Schritt fielen und ihnen etwas zusangen, was Deniau für sie übersetzte. »Sie sagen: ›Seid willkommen, Ihr, die Ihr von Gott gesandt seid.‹ Das da ist Ben Gannah, unser Gastgeber für den heutigen Abend. Und der junge Mann an seiner Seite ist sein Sohn.« Eine Stunde später – gebadet und mit Rosenwasser erfrischt, das Haar mehr oder weniger zu ihrer Zufriedenheit frisiert – wurde Emmeline mit den übrigen Reisenden in einen großen Empfangssaal geführt, wo sie ihrem Gastgeber auf Teppichen gegenüber saßen, während zwei Diener – die Füße nackt zum Zeichen ihres Respekts – Lammfleisch und Brathähnchen auftrugen, die nach arabischer Sitte ohne Besteck gegessen wurden. Hinterher brachte man ihnen Schalen mit Wasser, Seife und Handtücher, damit sie sich die Hände waschen konnten. Kaum waren sie damit fertig, erhob sich der Scheich und führte Emmeline und Lambert in einen kleinen, elegant eingerichteten Raum, in dem nur zwei Diwane standen. Er lächelte und sagte einige Worte, die Deniau für sie übersetzte: »Dies ist das Zimmer für unsere Ehrengäste. Mögen Sie in Frieden unter meinem Dach ruhen.« 172
Der Scheich zog sich zurück. Deniau befahl den Dienern, das Gepäck zu bringen, und während Lambert Anweisungen gab, wie die Koffer zu verstauen seien, trat Deniau zu Emmeline auf den Balkon mit Blick auf den Innenhof. Deniau wies auf einen weiteren Balkon zu ebener Erde, der im rechten Winkel zu ihrem verlief. »Das da ist mein Zimmer«, sagte er und lächelte. »Ich hoffe, Sie schlafen gut.« Dann drehte er sich um und ging zurück ins Zimmer. »Gute Nacht, Henri«, sagte er zu Lambert. »Sie sind bestimmt ziemlich müde.« »Mir tun die Knochen weh«, sagte Lambert. »Hoffentlich sind wir bald in Miliana.« Sie hörte Deniaus Schritte auf der Steintreppe, als er nach unten ging, zog sich aus, streifte ihr Nachthemd über und legte ihren Morgenmantel ans Diwanende. Lambert lag bereits auf dem anderen Diwan. Emmeline lauschte den nächtlichen Geräuschen auf Ben Gannahs Anwesen. Schafe und Pferde, die man zum Schutz vor Räubern innerhalb der Mauern untergebracht hatte, blökten und wieherten aufgeregt. Kamele stießen ihre heiseren Klagen aus. Nach einer Weile beruhigten sich die Tiere. Sie hörte jemanden eine flache Trommel zur schrillen Musik einer Rohrflöte schlagen. Dann wurde es still. Sie lag da, döste und erinnerte sich an Deniaus Worte: »Das da ist mein Zimmer.« Eine Einladung? Wenn sie nun hinausginge und in den mondbeschienenen Hof blickte, würde er dann aus dem Schatten treten und sie bitten, die Steintreppe zu ihm hinabzueilen? Er würde dasselbe weiße Gewand tragen, das er auch in seinem Haus in Algier angehabt hatte. Und er würde sie an der kauernden Gestalt seines riesigen Sklaven vorbeiführen, der den Zutritt zu seinem Zimmer bewachte und der die Tür hinter ihnen schließen, sie einsperren würde. Im Halbschatten 173
würde sich Deniaus Arm dann um ihre Hüfte schlingen. Sein Mund würde ihre Lippen finden, seine Hand ihre Schulter entblößen, vom Hals ihren Körper hinabwandern, seine Zunge würde über ihre Brustwarze lecken. Und wenn sie sich dann an ihn drängte, würde er sie aufheben und zu einem Diwan tragen, würde sie auf die Kissen betten und lächelnd sein Gewand fallen lassen. Dann würde sie, gierig und tollkühn im Rausch der Leidenschaft, seine willige Gespielin sein in dem, was er ihr antun mochte, bis sie endlich zufrieden an seiner Seite auf dem Diwan ruhte. Lächelnd würde er ihren Morgenmantel holen und ihren nackten Körper damit bedecken. Sobald sie ihn aber übergestreift hatte, würde er aufstehen und sie zur Tür begleiten, würde sie öffnen, bis Kaddour und dessen mächtiger, gekrümmter Rücken zu sehen war, dieser Riese, der sich vor ihr verbeugte und sie über den Hof zurück zur Steintreppe führte, die sie hierhin, zurück in ihr Zimmer bringen würde. Sie lag da, in Schweiß gebadet, und schaute zu ihrem Mann hinüber, der wie gewöhnlich mit überkreuzten Armen schlief. Sie drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
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Neun Kurz nach Tagesanbruch hörte sie ein Klopfen an der Tür und gleich darauf die Stimme ihres Mannes, der mit jemandem auf dem Flur sprach. Sie konnte nicht verstehen, was geredet wurde, doch Lambert kam nur wenige Augenblicke später zu ihr, fragte, ob sie wach sei, und sagte, daß sie sich anziehen und nach unten gehen sollten. »Deniau will mich sehen«, sagte er. »Offenbar braut sich in der Kabylei einiger Ärger zusammen. Ein Offizier vom Bureau arabe in Miliana ist die ganze Nacht durchgeritten und gerade eingetroffen. Die Lage sei brenzlig geworden, sagt Capitaine Hersant, man will uns beim Frühstück Näheres erzählen. Kannst du dich mit dem Anziehen ein wenig beeilen, meine Liebe?« Kaffee, Datteln, flache Brotlaibe und ein Glas Honig waren zum Frühstück unten im Innenhof gedeckt. Das Essen wurde von Deniaus Dienern aufgetragen, und weder der Scheich noch sein Sohn waren zu sehen. Als Emmeline in Begleitung ihres Mannes den Hof betrat, erhoben sich Deniau, Capitaine Hersant und ein jüngerer Offizier, um sie zu begrüßen. »Guten Morgen«, sagte Deniau. »Darf ich Ihnen Lieutenant Dufour vorstellen? Er kommt direkt aus Miliana, und ich fürchte, er bringt schlechte Neuigkeiten.« Der junge Lieutenant lächelte und verbeugte sich. Doch sie schaute nicht ihn, sondern Deniau an, der ihren Blick mit nichtssagender, freundlicher Unverbindlichkeit erwiderte, während er mit einem Fingerschnippen Kaddour anwies, ein Tablett mit arabischem Kaffee in winzigen Tassen herumzureichen. Der schwarze Sklave ging zuerst zu ihr. 175
Nachdem sie sich einen Kaffee genommen hatte, kam Lambert an die Reihe, der einen Löffel nahm und sich wie gewöhnlich reichlich Zucker gönnte. Unterdessen fragte er Deniau: »Schlechte Neuigkeiten? Was heißt das? Meine Vorstellung ist doch hoffentlich nicht abgesagt worden, oder?« »Ganz im Gegenteil, Henri«, erwiderte Deniau. »Ihre Vorstellung könnte die letzte Möglichkeit bedeuten, ernsthaften Ärger zu vermeiden. Es wurde uns gesagt, daß einige Scheichs, die zu Ihrer Vorstellung kommen wollen, Bou Aziz gedrängt haben, schon für den nächsten Monat den Heiligen Krieg auszurufen. Lieutenant Dufour, der sowohl diese Scheichs wie auch Bou Aziz gut kennt, meint, daß Ihre Vorstellung in Algier alle ziemlich aufgeschreckt hat und daß man nun fürchtet, Ihre Vorstellung in Miliana könne die einheimische Bevölkerung davon überzeugen, daß Sie der größere Zauberer sind. Falls Ihnen das gelingt, wird man vielleicht nicht mehr auf Bou Aziz hören, wenn er das Land auffordert, sich gegen uns zu erheben.« »Und wenn es mir nicht gelingt?« fragte Lambert. »Ich weiß, ich hatte in Algier ziemlich großen Erfolg. Aber da hatte ich auch mehrere Tage Zeit, mich vorzubereiten, und ich bin in einem richtigen Theater aufgetreten. Vorstellungen in einem Theater haben ihre eigene Magie, eine Magie, die vermutlich spürbar geringer ausfällt, wenn ich in irgendeinem Wüstenfort auftreten muß, umgeben von Arabern, die mich für ihren Feind halten.« »Ich verstehe Ihre Bedenken nicht, mein lieber Henri«, sagte Deniau. »Einem Zauberer von Ihrem Format wird der Rest der Welt in jedem Fall so etwas wie übernatürliche Kräfte zuschreiben. Selbst in Paris, vor einem gebildeten Publikum, ruft Ihr Können allerhand Unbehagen und Verblüffung hervor. Deshalb haben wir Sie doch nach Afrika geholt. Die meisten der 176
sogenannten ›Wunder‹ dieser Marabuts sind nichts als bloße Zirkustricks – mit Schlangen spielen, zerstoßenes Glas schlucken, über glühende Kohlen laufen, was weiß ich. Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie diese Tricks kennen. Hier aber kennen die Menschen das Geheimnis Ihrer Illusionen ebensowenig wie wir.« Nach diesen Worten blickte Deniau kurz zu ihr herüber, als wolle er ihre Reaktion beurteilen. Es war nicht mehr der verschwörerische, amüsierte Blick, mit dem er sie bislang bedacht hatte, sondern der taxierende Blick eines Diskussionsteilnehmers. Und in diesem Augenblick fiel ihr die verschlossene Tür aus ihrem Traum in der vergangenen Nacht wieder ein. War es möglich, daß die Gefühle, die sie ihrer Meinung nach füreinander hegten, von Deniau gezielt eingesetzt wurden, um sie zu seiner Verbündeten zu machen? Lambert, dessen Selbstvertrauen durch Deniaus Bemerkung wiederhergestellt worden war, wandte sich an Dufour. »Sagen Sie, Lieutenant, Sie kennen doch diesen Marabut, diesen Bou Aziz. Was ist das für ein Mann?« »Nun, erst einmal ist er etwa sechzig Jahre alt. Seine Frau ist tot, und er lebt mit seiner Tochter Taalith zusammen, die selbst als Heilige gilt und sein Dolmetscher ist, da sie in ihrer Jugend unsere Sprache gelernt hat. Bou Aziz gibt sich eigentlich nicht besonders kriegerisch, sondern eher wie ein Gelehrter, ein Friedensstifter, der sich bemüht, Gewalttaten im Stamm der Kabylen zu verhindern. Ich habe einmal erlebt, wie er sein Leben aufs Spiel setzte, um zwei Männer zu trennen, die sich gegenseitig umbringen wollten. Als sie ihn sahen, senkten sie ihre Messer und schlossen Frieden. Wichtig ist auch seine Herkunft, denn üblicherweise kommt der Mahdi wie Bou Aziz aus dem Süden, aus der Sahara. Als Mahdi nimmt er den 177
Namen Mohammed Ibn Abd Allah an. Alle MöchtegernMahdis haben diesen Namen getragen, doch ist es bislang keinem von ihnen gelungen, das Land von uns Ungläubigen zu befreien. Deshalb zweifeln auch viele Scheichs trotz seiner Reputation daran, daß er tatsächlich zum Erlöser des Islams berufen ist.« »Und wie gesagt, sie werden es alle bezweifeln, wenn sie Henris Vorstellung gesehen haben«, sagte Deniau. »Doch jetzt – «, er wandte sich an Emmeline. »Diese Dame hat noch kein Frühstück gehabt. Kommen Sie, Madame. Lassen Sie uns etwas essen und dann aufbrechen.« Mit diesen Worten legte er seine Hand auf ihren Arm, und als seine Finger ihre nackte Haut berührten, erst zudrückten und dann wieder locker ließen, da mußte sie an die Ekstase ihrer nächtlichen Träumereien denken. Lambert, Dufour und Capitaine Hersant folgten ihnen zu dem auf einer Steinplatte ausgebreiteten Frühstück. Jules, Lamberts Diener, bot ihr eine Schüssel mit Datteln an. Sie sah, wie seine Hand zitterte und daß die Sonne seine helle französische Haut mit Blasen überzogen hatte. »Was ist mit dir, Jules?« fragte sie. »Geht es dir nicht gut?« »Ich weiß nicht, Madame. Etwas Fieber vielleicht.« »Du bekommst gleich eine Tablette«, sagte Deniau. »Hol mir den Arzneikasten, Kaddour.« Und zu Emmeline gewandt sagte er: »Wir müssen gut auf ihn achtgeben. Er wird für die Vorstellung gebraucht.« Die Vorstellung. Immer diese Vorstellung. Sie schaute zu, wie Deniau einen Lederbeutel öffnete und aufmerksam die Tabletten unter einer Vielzahl von medizinischen Mitteln heraussuchte. Wieder hatte man sie vergessen. Dann 178
beobachtete sie, wie Kaddour Wasser aus einem Krug einschenkte und Jules die Pillen schluckte. Anschließend ging Deniau zu Lambert, und sie hörte den Colonel fragen: »Und wenn Ihr Diener krank wird? Könnten Sie auch ohne ihn auftreten?« »Er ist doch nicht krank, oder?« fragte Lambert erschrocken. »Wahrscheinlich nur eine leichte Dysenterie, die Tabletten werden helfen. Aber sagen Sie, würden Sie notfalls auch ohne ihn zurechtkommen?« »Auf keinen Fall. Ich brauche jemanden auf der Bühne, jemanden, der weiß, was ich tue und wann ich seine Hilfe benötige.« Sie sah, wie Deniau sich zu ihrem Mann hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Lambert drehte sich um und schaute sie an. »Nein«, sagte er. »Lassen Sie uns lieber hoffen, daß Ihre Tabletten wirken.« Der Weg nach Miliana war ein Wüstenpfad, der sich monoton unter der brennenden Sonne dahinschlängelte. Je später es wurde, desto öfter ritt Deniau um die Karawane herum und ermahnte die Kameltreiber, ihre Tiere anzutreiben, da er fürchtete, nicht mehr rechtzeitig vor Anbruch der Nacht ans Ziel zu gelangen. Schließlich, nach einem langen Tag der Einsamkeit in der Sahara, sah Emmeline dann bei Sonnenuntergang eine recht ungewöhnliche, von Reitern mit langen Gewehren bewachte Herde von Schafen und Dromedaren näher kommen. Einige Bewaffnete liefen zu Fuß neben den Dromedaren her, manche davon mit Zeltplanen aus Tierhäuten beladen, die man um die langen Zeltpfähle gewickelt hatte, andere schwankten unter dem Gewicht riesiger, 179
braunweiß gestreifter Säcke, in denen, so Hersant, sich sämtliches Mobiliar und die Vorräte dieser Nomaden befanden. Doch es waren vor allem die mit Sänften beladenen Dromedare, die Emmelines Aufmerksamkeit erregten. Beim Näherkommen sah sie, daß die Sänften mit einem schwarzen Tuch verhängt worden waren, das plötzlich zur Seite gezogen wurde und den Blick auf lachende, aufgeregt schwatzende Frauen und Kinder freigab, die mit den Fingern auf sie zeigten. Die Kinder winkten ihr zu, als wäre sie eine von ihnen. Die Frauen waren unverschleiert, die meisten von ihnen schienen recht jung und manche davon auch sehr hübsch zu sein. Sie trugen weiße Wollgewänder, die an der Schulter von einer Spange gehalten wurden, an der Hüfte hochgeschlitzt waren und um die Taille gegürtet wurden. Ihre Turbane aus Kamelhaar waren liebevoll so drapiert, daß einige schwarze Locken ihre Wangen umrahmen konnten. Bei jeder Bewegung klirrten an Hals und Armen unzählige Reife, manche aus Kupfer, andere aus Silber. Die Frauen starrten sie aus der Sänfte heraus an, und Emmeline mußte an die munteren und quecksilbrigen Schauspieler eines Puppentheaters denken. Während die Karawane sich im Wüstenstaub entfernte, Schafe blökten, Schreie zu hören waren, die Peitschen der Männer knallten und eine Meute verhungernder Köter kläffte, mußte Emmeline daran denken, daß sie über dieses Land noch so wenig wie am Tag ihrer Ankunft wußte, und daß sie, wenn es nach Deniau ging, in wenigen Tagen gezwungen war, Afrika zu verlassen, um diese Leute niemals wiederzusehen, die all ihre weltliche Habe zu einigen Bündeln verschnürt mit sich führten und die sich täglich im Gebet vor einem Gott verbeugten, dessen Urteile, ob nun schrecklich oder gnädig, in bedingungsloser Demut hingenommen wurden.
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Während die Karawane gleich darauf hinter dem Horizont verschwand, hörte Emmeline plötzlich einen lauten Schrei hinter sich. Sie drehte sich um und sah Deniau und Lieutenant Dufour ihre Pferde herumreißen und aus dem Sattel springen. Ein reiterloses Pferd galoppierte mit herabhängenden Zügeln vorbei. Die Kameltreiber ließen ihre Tiere niederknien, und erst jetzt bemerkte Emmeline, daß Jules mit dem Gesicht im Sand lag. Deniau und Kaddour hoben ihn auf und setzten ihn auf eines der Kamele. Ein Treiber hielt Jules fest, der Kopf hing ihm kraftlos auf die Brust. Emmeline ritt zu Lambert, der mit Deniau sprach. »Was ist passiert? Hat sein Pferd gescheut?« »Bestimmt die Dysenterie«, sagte Deniau. »Offenbar ist er doch ernstlich krank.« »Diese Dysenterie«, sagte Lambert. »Welchen Verlauf nimmt sie?« »Normalerweise kommt es zu einer Krise«, sagte Deniau. »Wenn es das ist, wofür ich es halte, dann kommt die Krise innerhalb von drei Tagen. Ist es nicht so schlimm, wie ich befürchte, kommt sie in sieben Tagen.« Lambert drehte sich zu ihr und forderte sie mit einem fast unmerklichen Kopfnicken auf, ihm zu folgen. Als sie Seite an Seite ritten, sagte er: »Und? Was soll ich jetzt tun?« »Was meinst du?« »Die Vorstellung ist für übermorgen geplant. Diese Scheichs und Marabuts kommen aus ganz Algerien. Wir können die Veranstaltung nicht verschieben.« »Was Jules macht, ist doch nicht so schwer«, sagte sie. »Das könnte doch auch jemand anderes machen.«
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»Wer?« »Ich weiß nicht. Frag Deniau. Er wird schon jemanden finden.« »Er hat dich vorgeschlagen«, sagte Lambert. »Er sagte, du würdest dich hervorragend eignen. Wenn es einer von seinen Leuten machen würde, hätte es einfach nicht dieselbe Wirkung. Und wie soll ich auch einem dummen Soldaten in kaum zwei Tagen alles Nötige beibringen? Du kennst meine Vorstellung, Liebling. Ich könnte dir zeigen, was du zu tun hast. Und du weißt, wenn ich Erfolg habe, können wir Tausenden von Menschen das Leben retten.« Sie starrte auf die unberittenen Kamele vor ihnen, deren Hinterteile auf und nieder wogten, auf die breiten, gespreizten Hufe, die behutsam ihren Weg durch den pfadlosen Sand suchten. Deniau hat ihm gesagt, daß er mich fragen soll. Deniau hat ihn überzeugt, daß ich die Richtige bin, daß er mich nehmen soll. Deniau, der ihn benutzt, wie er mich durch Komplimente und Schmeicheleien benutzt. Deniau ist der Zauberer. Wir sind seine Marionetten. Sie sah, wie ihr Mann auf sein Pferd einschlug, damit es mit ihrem Schritt hielt. Als sie nichts erwiderte, sagte er leise: »Du weißt doch, Liebling, daß ich dich nicht fragen würde, wenn es nicht so wichtig wäre.« Wütend starrte sie geradeaus. Doch schließlich sagte sie: »Deniau bekommt immer, was er will, wie? Na gut. Sag ihm, ich mach’s.« Wie sie vorhergesehen hatte, überging Lambert stillschweigend ihre Wut. »Danke, Liebling. Danke! Ich weiß, mit deiner Hilfe kann nichts schiefgehen.« Minuten später kamen die Dächer und Minarette einer 182
kleinen Stadt in Sicht. Beim Näherkommen bemerkte Emmeline, daß vor den Mauern eine Fülle von Zelten eine weitläufige Nomadenstadt bildete. Während sie sich ihren Weg durch dieses übervölkerte Auffanglager suchten, bemerkten sie bald, daß die Unterkünfte rund um die jeweiligen Scheichs angeordnet waren, gleichzeitig aber wiederum kreisförmig ein Viehgehege umstanden, so daß Schafe, Hühner, Kamele und Pferde vor Räubern und der Meute herumstreunender Hunde geschützt waren. Hier und da erhoben sich zwischen den eintönigen Unterständen aus Ziegenfell prächtige, mit leuchtendbunten Behängen geschmückte Rundzelte, vor denen Männer in den reich bestickten Westen und hohen gelben Stiefeln von Kaïds im Gespräch vertieft saßen, Kaffee aus kleinen Tassen tranken und eine Pfeife herumgehen ließen. Lieutenant Dufour, der vor Emmeline ritt, zugehe sein Pferd, um ihr zu erklären, was sie sah. »Die edelsten und stets auch eindrucksvollsten Zelte gehören den Marabuts. Wie Sie sehen, Madame, sind außerdem Scheichs und Kaïds aus ganz Algerien gekommen, um die Wundertaten Ihres Mannes zu erleben. Es sind so viele, daß sie in Miliana keine Unterkunft mehr finden.« »Aber was ist mit der Vorstellung?« fragte Lambert. »Werden wir denn die Zahl der Zuschauer nicht beschränken müssen?« »Natürlich. Wir haben nur die Marabuts eingeladen, die wichtigsten Scheichs und deren Verwandte. Für diejenigen, die wir nicht einlassen können, haben wir zum Ausgleich eine Reihe von Festessen und Empfängen vorbereitet. Doch ich muß gestehen, daß uns die Scheichs in den letzten Tagen mit so vielen Darbietungen verwöhnt haben, daß wir es ihnen so bald nicht vergelten können. Sie haben Pferde- und Kamelrennen 183
veranstaltet, ihre Jagdkünste vorgeführt, ihren Wagemut bewiesen und sogar militärische Übungen angesetzt. Diese Vorliebe für solche Vorführungen teilen die Araber nämlich mit den Kabylen. Heute abend gibt übrigens das Bureau arabe ein Bankett.« Dufour schaute Emmeline an. »Allerdings leider nur für Männer.« Emmeline lächelte. »Das höre ich mit Vergnügen.« Das französische Fort in Miliana lag im Herzen der Stadt, ein dreistöckiges Gebäude, das sich hoch über das Labyrinth der angrenzenden arabischen Häuser erhob. Seine Mauern umschlossen einen großen Paradeplatz. Emmeline blickte von ihrem Schlafzimmerfenster im dritten Stock auf die hektische Betriebsamkeit unten im Hof, in dem französische Soldaten sich damit abmühten, Sitzreihen zu errichten, die den Platz in einen Zuschauerraum verwandeln sollten. In der Mitte hatten die Zimmerleute eine etwa drei Meter hohe Plattform als Bühne errichtet. Links davon befand sich eine Art Garderobe, die unmittelbar an die Bühne selbst angrenzte, so daß Lambert wie in einem richtigen Theater vor dem Publikum auftauchen und wieder verschwinden konnte. Nach ihrer Ankunft hatte Lambert seinen Diener Jules zur Krankenstation gebracht. Kurz vor Anbruch der Wüstennacht sah Emmeline ihn nun aus dem Krankenrevier kommen, über den Platz eilen, auf die provisorische Bühne klettern und die Dielen sowie das geheime Versteck prüfen, in dem seine elektrischen Geräte untergebracht werden sollten. Er hatte ihr bereits angedeutet, daß sie morgen vormittag mindestens zweimal proben müßten, um unvorhergesehene Schwierigkeiten zu vermeiden. Die elektrischen Schalter, die sie zu betätigen hatte, waren zwar nur 184
einfache Hebel, doch mußten sie exakt im richtigen Moment umgelegt werden. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Wenn die Vorstellung anfängt, beherrscht du alles wie aus dem Effeff. Capitaine Hersant hat mir übrigens mitgeteilt, daß dir dein Abendessen heute aufs Zimmer gebracht wird, da man davon ausgeht, daß das Bankett sich bis tief in die Nacht hinziehen könnte. Ich will versuchen, dich nicht zu wecken, wenn ich zurückkomme, schließlich solltest du dich gründlich ausschlafen.« Die Morgendämmerung ließ die nächtlichen Sterne verlöschen, rötete den Himmel und erhellte die Wüstenhügel rund um die Stadt Miliana wie einen fernen Meereshorizont. Emmeline war bereits angekleidet und schaute nun in den Hof, wo ein junger französischer Sergent des Bureau arabe die Tür zum Krankenrevier entriegelte und Eimer voller Schmutzwasser in einen Abfluß leerte. Jules. Der Jules, der ihr daheim immer das Frühstück nach oben brachte, lag nun hinter dieser Tür. Sie warf einen Blick über die Schulter in das Zimmer, in dem ihr Mann schlief, nahm die Schuhe in die Hand, um ihn nicht zu wecken, schlüpfte aus dem Raum, ging die Steintreppe hinunter und eilte an der neuen Zuschauertribüne und der eigens für die nahende Vorstellung errichteten Bühne vorbei. Während sie über die sandigen Fliesen huschte, leuchtete die Sonne, befreit von ihrer morgendlichen Röte, im klaren, goldenen Licht. Von den Mauern des Forts erklang das Hornsignal zum Wecken. Und kaum war es verklungen, erscholl gleich einem Echo der viel ältere Ruf: Von den Türmen der Moscheen riefen die Muezzine zum Gebet. Als sie den Schatten des Krankenreviers betrat, kam ihr der junge Sergent entgegen, den sie zuvor schon gesehen hatte, das 185
Käppi in die Stirn geschoben, die Uniform von einer langen weißen Schürze verdeckt, die Arme bloß und naß vom Abwasch. »Madame? Sie wollen zu Monsieur Guillaumin, ja? Er liegt da drinnen.« Er führte sie über einen Flur, vorbei an einer kleinen Station, auf der sechs Soldaten in einem engen Raum lagen, zu einer Tür, über der Isolierzimmer stand. In diesem Zimmer befanden sich zwei Betten, doch nur eines davon war belegt. Am Fußende der beiden Betten war jeweils ein Regalbrett mit einer Blechtasse und einem weißen Spucknapf angebracht, und über diesen beiden Gegenständen hing der mit Reißzwecken befestigte Hinweis: Miliana Militärkrankenhaus Vorschrift der Gesundheitsbehörde Zivile Patienten unterliegen der Disziplinargerichtsbarkeit Jules drehte sich zu ihr um, die Augen glasig, als könne er nichts sehen. Doch dann versuchte er plötzlich sich aufzurichten. »Madame? Wo ist Monsieur? Ich muß mit ihm reden.« Sein dunkles, schweißnasses Haar fiel ihm in schwarzen Strähnen in die Stirn, als versuche ein unsichtbarer Maler, das Gesicht von Jules, wie sie es kannte, auszulöschen. Sie trat an sein Bett, nahm seine Hand und hielt sie fest. In all den Jahren, die er für sie und für ihren Mann gearbeitet hatte, hatte sie seine Hand höchstens einmal zufällig berührt. Und als der Sergent den Namen Guillaumin genannt hatte, war ihr zuerst nicht klar gewesen, daß er Jules damit meinte. Emmeline hielt die nasse, fiebrige Hand, versuchte, ihm etwas zu sagen, was ihn trösten 186
mochte, und schämte sich. Ich halte die Hand von einem, der mir meine Mahlzeiten bringt, der mir die Kutsche ruft, mir hilft, das Haus zu führen, und der Henri in seiner Arbeit assistiert, jemandem, der seit Jahren unter meinem Dach lebt, und doch ist er – von Fieber überwältigt, weil wir ihn hergebracht haben – für mich immer noch ein Fremder. »Mach dir keine Sorgen, Jules«, sagte sie. »Lieutenant Dufour meint, deine Krankheit sei bald vorbei. In ein paar Tagen, wenn Monsieur seine Vorstellung gegeben hat und du dich besser fühlst, fahren wir wieder nach Hause.« »Wie soll das denn gehen?« Jules ließ sich zurücksinken, als hätte ihn die Anstrengung des Sprechens erschöpft. »Wer wird die Hebel bedienen? Wer weiß, was ihm wann gebracht werden muß?« »Ich mache das. Denk einfach nicht daran. Ruhe dich jetzt aus und werde wieder gesund.« Er schloß die Augen, als wolle er schlafen, doch seine Hand griff mit überraschender Kraft nach ihr. »Ich könnte hier sterben, Madame! Wenn ich sterbe, versprechen Sie mir, meinen Leichnam zurück nach Frankreich zu bringen? Versprechen Sie mir, daß ich nicht in diesem Sand da draußen beerdigt werde?« »Aber du wirst nicht sterben.« »Wie können Sie so etwas sagen, Madame? Das wissen Sie doch nicht. Versprechen Sie es mir? Bitte!« Sie schaute in seine flehenden Augen. »Ja, ja, ich verspreche es.« Kraftlos fiel seine Hand herab. Der junge Sergent stand in der Tür und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß sie ihm folgen sollte. Sie gingen nach draußen. 187
»Diese Krankheit«, fragte sie. »Ist die ansteckend? Oder warum liegt er auf dem Isolierzimmer?« »Möglicherweise. Aber er liegt vor allem auf diesem Zimmer, weil wir die Kranken dahin bringen, die nachts sterben könnten. Wenn die anderen Patienten morgens aufwachen und einen Leichnam sehen –« Der Sergent zuckte die Achseln. »Also könnte er sterben?« »Ja, natürlich. Wir müssen abwarten.« »Aber er – helfen denn die Tabletten nicht?« »Reden Sie bitte mit dem Arzt, Madame. Er ist im Augenblick nicht da.« Sie ging auf den sonnenhellen Hof. Soldaten bauten die letzten Sitzreihen auf. Zimmerleute der Armee errichteten auf der Bühne die Seitenkulissen, in die sie und Lambert sich während der Pausen zurückziehen konnten. Als der Adjudant vom Dienst sie sah, lud er sie ein, den Kaffee mit seinen Männern zu teilen und einen Bissen vom flachen arabischen Brot zu probieren. »Monsieur kommt auch gleich«, sagte der Adjudant. »Es ist alles so, wie er es haben wollte.« Während Emmeline Kaffee aus einer Blechtasse trank, blickte sie durch das Haupttor des Forts und sah, daß es draußen auf der Straße von Kamelen nur so wimmelte. Einige Treiber hieben mit Stöckchen auf die Beine ihrer Tiere unterhalb der Knie und hießen sie niederknien, andere schrien sich über ein Meer von Kamelrücken etwas zu, und die Köpfe der Tiere schwankten hierhin und dorthin, während zu bersten drohende Bündel von Brettern, Kochgeschirren und Kisten mit arabischen Schriftzeichen abgeladen und zu großen Haufen auf den Fliesen aufgetürmt wurden. Doch plötzlich verstummte das Geschrei. Die Treiber standen 188
schweigend an die grauen und braunen Flanken ihrer Tiere gelehnt, während ein kleiner Trupp Araber vorbeigaloppierte, um Platz für zwei Reiter zu machen, die langsam über die Straße trabten. Auf dem ersten Pferd saß ein hochgewachsener, magerer, weißbärtiger Mann, der in ein grünes Seidengewand gehüllt war und auf dem Kopf einen hohen Turban nach Art der Marabuts trug. Ihm folgte ein jüngerer Reiter in einem grauen Burnus. Als dieser Reiter am Hof vorüberritt, drehte er sich um und schaute sie an. Trotz Burnus und Herrensitz erkannte Emmeline in dem Reiter eine kleine, zerbrechliche Frau mit einem wie durch Jahre des Fastens ausgezehrten Gesicht. Der neben Emmeline sitzende Adjudant vom Dienst sprang auf und rannte zur Straße, um durch den Torbogen nach draußen zu schauen. Die Kameltreiber hatten ihre Sprache wiedergefunden und riefen sich nun aufgeregt etwas zu, während die Reiter und ihre Eskorte aus dem Blickfeld verschwanden. Der Adjudant kam zurück und nickte. »Habe ich doch recht gehabt«, sagte er zu niemand Bestimmtem. »Der Marabut ist da. Das dürfte unserem Colonel gefallen.« Er blickte Emmeline an. »Und Monsieur Lambert wird sich bestimmt auch freuen, sehr sogar. Nicht wahr, Madame?« »Das ist also Bou Aziz«, sagte sie. »Dieser Mann in Grün?« »Ja, Madame. Und die Frau ist seine Tochter.« Einige Minuten später kam Lambert in den Hof. Man hatte ihn bereits von der Ankunft des Marabuts unterrichtet. Emmeline sah, wie nervös ihn diese Neuigkeit machte, und als er begann, sie in ihre Aufgaben einzuweisen, war er herrisch und streng und ließ sie jede einfache Tätigkeit endlos wiederholen, sei es nun das Überreichen des Füllhorns, das Verteilen der Blumensträuße und anderer Geschenke oder die Art, wie sie den 189
Tisch mit ihm auf die Bühne zu tragen hatte oder die Federn zusammenfegen sollte, die er auf dem Boden verstreute. Keine dieser Aufgaben schien ihr besonders schwierig zu sein, und sie spürte wachsenden Ärger, als er sie stets noch einmal um eine Wiederholung bat. Doch als es um die Hebel ging, mit denen die elektrische Ladung der schweren Kiste reguliert wurde, fühlte sie sich plötzlich unsicher. »Das zeitliche Zusammenspiel ist entscheidend«, sagte Lambert. »Du wirst in der Seitenkulisse sein, unsichtbar, vergessen. Außer dir kann niemand meine Zeichen sehen. Und du mußt unverzüglich reagieren, mußt den Strom anstellen, um die Kiste zu verankern, ihn wieder abstellen und vor allem gegen Ende der Demonstration diesen Knopf drehen, um dem Mann einen elektrischen Schock zu verpassen. Achte darauf, daß der Schock genau dreißig Sekunden anhält. Schau auf die Uhr über dem Aggregat. Sieh nicht hin, was auf der Bühne geschieht. Kümmere dich nicht darum, wenn er schreit. Sieh einfach nur auf die Uhr. Dreißig Sekunden, nicht mehr, nicht weniger. So hat das Publikum gerade genügend Zeit, seinen Schmerz zu sehen.« »Aber das ist so grausam; ich weiß nicht, ob ich das kann.« »Hast du schon mal Männer im Krieg sterben sehen? Von Schüssen getötet, von Kanonenkugeln zerfetzt, von Pferden niedergetrampelt, in Massengräbern verscharrt? Männer in Gefangenschaft, gefoltert, verhungert? Das will ich verhindern. Wir reden von sterbenden französischen Jungen, von Wehrpflichtigen, die hergeschickt werden, ihre Pflicht zu tun. Dreißig Sekunden eines elektrischen Schocks bleiben ohne Folgen. Bitte, Emmeline!« »Mir wäre es lieber, du würdest dir jemand anderen suchen.« »Du weißt, daß das nicht geht. Außerdem haben wir es Deniau versprochen, schon vergessen?« 190
»Deniau! Immer dieser Deniau!« »Was soll das nun wieder heißen?« sagte er. »Deniau hat mich nicht gezwungen, in dieses Land zu kommen, ich wollte hierher. Und jetzt, da ich hier bin, da ich die Möglichkeit habe, Tausenden das Leben zu retten, jetzt soll nichts daraus werden, weil du dich weigerst, mir zu helfen? Mein Gott, Emmeline! Außerdem wird diese Vorstellung anders als alle früheren Vorstellungen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Angst. Was ist, wenn etwas schiefläuft? Auf der Bühne hängt alles von meiner Geschicklichkeit ab, vom richtigen Zeitpunkt und vor allem von meiner Fähigkeit, die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Und was für ein Publikum! Diese Araber, diese Wilden! Ich brauche dich, verstehst du? Ich will nicht, daß mir irgendein tolpatschiger Soldat alles vermasselt. Du machst das hervorragend, und bis morgen abend bist du perfekt, das verspreche ich dir. In Ordnung?« Sie nickte. So war es immer. Er war der Mann, er gab den Ton an. Er ging zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Danke, meine Liebe. Verzeih mir, daß ich dich darum bitten muß. Aber vergiß nicht, es geht um unser Land.« »Unser Land?« fragte sie. »Und was ist mit diesem Land?« »Mit diesem Land?« Er starrte sie verwundert an. »Ach, nichts.« Kurz vor vier kam Deniau in den Hof und sah zu, wie Lambert und Emmeline zum achten Mal ihre Vorstellung probten. Als Lambert fertig war, applaudierte Deniau, schwang sich zur Bühne hinauf, küßte Emmelines Hand und gratulierte ihr. »Wunderbar! Kein Zauberer hat je eine schönere Assistentin gehabt! Doch jetzt muß ich Sie noch um einen weiteren Gefallen 191
bitten, Madame. Da Bou Aziz bereits eingetroffen ist, planen wir für den heutigen Abend ein Festessen, und wir wünschen uns, daß Sie daran teilnehmen.« »Ich dachte, Ihre Bankette sind nur für Männer?« »Die Tochter des Marabuts wird anwesend sein. Sie begleitet ihn zu fast jeder öffentlichen Veranstaltung. Und daher fände ich es passend, wenn Sie als die Frau unseres Marabuts zugegen wären.« »Ich soll Bou Aziz also noch vor der Vorstellung treffen?« fragte Lambert. »Ich weiß nicht, ist das wirklich klug?« »Ich fürchte, da bleibt uns keine Wahl«, sagte Deniau. »Als ich ihn einlud, mit uns zu essen, hat er gleich gesagt, daß es ihm eine Ehre wäre, mit Monsieur Lambert das Brot zu teilen. Daraufhin habe ich ihm natürlich versichert, daß es Ihnen gewiß ebenfalls eine Ehre wäre. Außerdem haben wir herausgefunden, daß er heute abend zum ersten Mal auf französische Art essen wird. Es dürfte also für uns alle recht interessant werden.« Normalerweise wäre Capitaine Raoult, Kommandant des Forts in Miliana, der Gastgeber dieses Abends gewesen, doch war Deniau als Leiter des Bureau arabe sein Vorgesetzter, und so hieß er an diesem Abend im Kreis seiner Untergebenen eine Gruppe von etwa zwanzig Scheichs, Marabuts und Stammesführern willkommen, die nacheinander den Speisesaal des Forts betraten. Als Emmeline und Lambert eintrafen, flüsterte Deniau ihrem Mann zu: »Er ist noch nicht da. Bleiben Sie in meiner Nähe. Sie sollen als erster vorgestellt werden.« Während sie auf die Ankunft von Bou Aziz warteten, tuschelten die Scheichs und Marabuts miteinander und schauten sich auf eine Weise neugierig um, die Emmeline an 192
jenen Tag vor einigen Wochen erinnerte, als sich die geladene Gesellschaft in der grande salle des fêtes versammelt hatte, um auf Louis Napoleon und sein Gefolge zu warten. Deniau strahlte als Gastgeber die gleiche wachsame Selbstsicherheit wie der Grand Chambellan von Compiègne aus, und als schließlich unter erwartungsvollem Raunen der Marabut und seine Tochter den Raum betraten, ging Deniau ihnen entgegen, sagte auf arabisch einige Willkommensworte, wandte sich dann zu Lambert um und stellte ihn Bou Aziz vor. Der Marabut verneigte sich vor Lambert und sagte dann etwas, das seine Tochter in ausgezeichnetes Französisch übersetzte: »Mein Vater begrüßt Sie und Ihre Frau und wünscht Ihnen Gottes Segen.« Während seine Tochter sprach, drehte sich Bou Aziz, groß und vornübergebeugt, mit sanftem Lächeln zu Emmeline um, als erwarte er, daß sie ihm etwas erwiderte. Was sollte sie bloß sagen? Emmeline spürte, wie sie errötete, als sie sich an die Tochter des Marabuts wandte und sagte: »Wir fühlen uns geehrt. Und wir danken ihm.« Wieder lächelte der Marabut und ging nun zu einigen Scheichs hinüber, die ihn begrüßen wollten. Deniau näherte sich Emmeline mit zufriedener Miene und sagte leise: »Ein ausgezeichneter Anfang, meine Liebe. Herzlichen Dank.« Zu ihrem Entsetzen zeigte er dann auf die Tafel und sagte: »Sie werden zu seiner Rechten sitzen, direkt in der Mitte. Seine Tochter sitzt links von ihm. Es wird ihn überraschen, sich zwischen zwei Frauen zu befinden, das entspricht nicht gerade der arabischen Sitte. Aber er soll sehen, daß wir hier in Frankreich sind.« Mit diesen Worten ging er auf die Tochter des Marabuts zu, 193
bot ihr seinen Arm an, führte sie an ihren Platz und bedeutete Emmeline mit einer Handbewegung, daß sie nun ebenfalls den ihr zugewiesenen Platz einnehmen solle. Als sie und die Tochter des Marabuts am Tisch saßen, ging Deniau zum Marabut selbst, lächelte und führte ihn zum Platz zwischen den beiden Frauen. Emmeline sah, wie der Marabut zögerte, als fürchte er, man habe einen Fehler begangen. Doch als er sich schließlich setzte und sein grünes Gewand zurechtzupfte, wandte sich die Tochter lächelnd an Deniau. »Ich habe meinem Vater gesagt, daß wir heute abend nach französischer Sitte speisen. Das ist neu für ihn. Zwischen den Damen zu sitzen!« »Doch wenn er lieber –« begann Deniau. »Nein, er möchte, daß alles genau so geschieht, als wären Sie in Ihrem eigenen Land. Und er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß weder er noch einer unserer Landsleute etwas dagegen hat, wenn Sie jenen Wein servieren, die danach verlangen.« »Sehr freundlich«, sagte Deniau. Emmeline sah, wie er dem Marabut etwas auf arabisch sagte. Der Marabut antwortete mit einem liebenswürdigen Lächeln und lächelte dann auch Lambert zu, den man ebenfalls in der Mitte der Tafel, gegenüber von Bou Aziz plaziert hatte. Da sie nun vorläufig von der Notwendigkeit befreit war, sich unterhalten zu müssen, konnte sie das Schauspiel bei Tisch beobachten. Das vom Koch des Kommandanten zubereitete Essen bestand aus mehreren Gängen der ausgesuchtesten arabischen Speisen, die aber auf Porzellantellern serviert wurden, der Tisch war weiß gedeckt sowie mit Kristallgläsern und silbernem Besteck ausgelegt. Der Marabut griff nach einer Gabel, beobachtete seinen Gastgeber und folgte unbeholfen 194
seinem Beispiel. Wie die übrigen Marabuts und Scheichs trank er ausschließlich Wasser oder Ziegenmilch. Und er sprach nur selten. Seine wenigen Bemerkungen waren hauptsächlich Antworten auf Fragen, die ihm Deniau und Hersant auf arabisch gestellt hatten. Doch als der zweite Gang mit Couscous aufgetragen wurde, wandte er sich an seine Tochter und wies auf Lambert. »Mein Vater bittet um Entschuldigung. Als Sie ihm vorgestellt wurden, hatte er nicht verstanden, daß Sie der große französische Marabut sind, zu dessen Ehren er nach Miliana gekommen ist. Er hat von den Wundern gehört, die Sie in der Moschee von Algier vollbracht haben. Allah sei mit Ihnen.« »Sagen Sie Ihrem Vater, daß ich ihm für seine guten Wünsche danke«, sagte Lambert. »Aber ich habe meine Wunder in einem Theater in der Rue Bab Azoun vollbracht und nicht in einer Moschee.« Der Marabut lächelte und hob die Hände wie zu seiner Verteidigung. Die Tochter übersetzte: »Mein Vater lebt hier. Er ist noch nie in einem Theater gewesen. Er kennt nicht einmal das Wort. Doch man hat ihm gesagt, daß Ihre Wunder als eine Art Andacht an heiligem Ort gemeint sind.« »Wer mag ihm das nur erzählt haben?« fragte Lambert und wandte sich gleichsam hilfesuchend an Deniau. Doch Deniau setzte sofort zu einer Erklärung auf arabisch an und redete eifrig auf Bou Aziz ein, ohne sich mit einer Übersetzung für Lambert aufzuhalten. Emmeline merkte gleich, wie sehr ihr Mann sich darüber ärgerte, der nun über den Tisch hinweg den Arm der Tochter des Marabuts berührte und laut sagte: »Sagen Sie Ihrem Vater, daß ich meine Wunder an jedem Ort und zu jeder Zeit vollbringen kann. Morgen wird er selbst sehen, wie ich mein 195
Werk im Freien vollbringe.« Der Marabut beugte sich vor, lauschte der Übersetzung seiner Tochter, hob dann leise zu reden an und sprach, als müsse er jedes seiner Worte abwägen. »Mein Vater sagt, daß Sie recht haben. Wichtig ist nicht, ob wir Gott in Moscheen verehren, auf dem Marktplatz oder in den Weiten der Wüste. Die Verehrung selbst ist es, die uns mit Gott verbindet. Ihre Wunder, so sagte man mir, sind erstaunlich anzuschauen. Also sind Sie gesegnet, da Sie auf diese Weise Gottes Größe bezeugen können. Durch Ihre Taten soll Er morgen gepriesen werden.« Dann wandte sich der Marabut an Deniau und sprach mit leiser Stimme. Emmeline sah ihm an, daß er müde war und mit dem Kopf zitterte, als hätte er Schmerzen, die linke Hand befingerte unablässig die Gebetskette. Emmeline schaute an ihm vorbei auf seine unscheinbare, geduldige Tochter. »Ist Ihr Vater krank?« »Nein, Madame, aber er bittet um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Es ist bald Zeit für das fünfte Gebet, das Gebet bei Dunkelheit. Wir müssen jetzt gehen.« Bou Aziz erhob sich und sagte etwas zu den übrigen Gästen. Sie nickten ihm zu, die Scheichs und Marabuts standen auf, verbeugten sich und murmelten einige Worte, die Emmeline für Gutenachtwünsche hielt. Dann verbeugte sich Bou Aziz vor Emmeline und Lambert, und Deniau begleitete ihn zur Tür. Kaum war er draußen, sah Emmeline, wie die Scheichs in heftigem Wortwechsel die Köpfe zusammensteckten. Deniau schien ihre Unterhaltung zu belauschen, ging aber nach wenigen Augenblicken zu Lambert und sagte: »Sie haben Angst. Bou Aziz hat heute abend keinen guten Eindruck auf sie 196
gemacht. Wenn alles gut geht, sind Sie ab morgen der große Marabut.« In ihrem Traum in jener Nacht trug sie nicht das lange graue Kleid, das sie laut Lamberts Anweisungen tragen sollte, sondern stand nackt auf der Bühne, ihre einzige Bedeckung Jules’ schwarzgold gestreifte Dienerweste, die offen ihre Brüste zeigte. Sie blickte in diesem Traum auf eine Mauer arabischer, bärtiger Gesichter, unergründliche Männeraugen, die aufmerksam zusahen, als sie die Federn aufhob, die ihr Mann aus dem Füllhorn gezogen und auf dem Boden verstreut hatte. Und dann mußte sie in ihrem Traum diesen Gesichtern den Rücken zukehren, mußte sich bücken und ihren nackten Hintern diesen Blicken preisgeben. Schweißgebadet wachte sie in der kalten Wüstennacht auf. Auf dem anderen Diwan lag ihr Mann und schien zu schlafen. Sie stand auf, ging auf den Balkon und ließ ihren Blick über den Paradeplatz und die provisorische Bühne in seiner Mitte schweifen. Sie sah dann hinüber zum Krankenrevier, wo ein einsames Licht im Fenster brannte. Ob das Jules’ Zimmer war? Plötzlich hörte sie hinter sich Lamberts Stimme. »Kannst du nicht schlafen, meine Liebe?« Sie drehte sich um. Er stand da im Mondlicht, schaute sie an und sah mit seinem Haarnetz irgendwie deplaziert aus. »Ich habe schlecht geträumt«, erwiderte sie. »Ach ja? Was denn?« »Ich stand nackt auf der Bühne vor den Arabern und hatte nur eine Dienerweste an.« »Lampenfieber«, sagte er und lachte, als hätte er einen Witz gemacht. »Das geht jedem Schauspieler so. Doch du wirst nicht 197
nackt sein, ganz bestimmt nicht. Dabei fällt mir übrigens ein, daß Charles es für eine gute Idee hält, wenn du auf der Bühne einen Schleier nach arabischer Sitte trägst. Manche dieser Scheichs sind überaus konservativ. Jede unverschleierte Frau, selbst eine Fremde, beleidigt ihre Augen. Als meine Assistentin aber bist du nur Teil der Kulisse. Das Publikum achtet sowieso nur auf mich, auf mich allein.« Sie starrte ihn an. Charles. Charles hält es für eine gute Idee … Wieder Deniau, der uns wie Marionetten behandelt. »Und warum hat mir bis jetzt noch keiner was davon gesagt?« »Was gesagt, meine Liebe?« »Die Sache mit dem Schleier. Er hätte mich doch immerhin nach meiner Meinung fragen können, oder nicht?« »Aber warum denn? Willst du denn keinen Schleier tragen? Ich dachte, es wäre dir lieber. Schließlich weiß ich doch, wie ungern du dich auf der Bühne zeigst.« »Darum geht es doch nicht. Ich dachte, du bist der Zauberer. Ist es nun deine Vorstellung oder ist es seine?« »Wovon redest du denn? Ich begreife dich nicht.« »Ach, nichts. Ist egal. Wie geht es Jules? Hast du ihn heute abend besucht?« »Nein, aber ich habe mit dem Arzt gesprochen. Das Fieber ist noch nicht abgeklungen. Laß uns wieder hineingehen, ja? Es ist kalt hier draußen.« Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter, drehte sich aber nicht um. »Ich bleibe noch einen Augenblick. Die Luft tut so gut.« Sie hörte ihn in seinen Filzpantoffeln zurückschlurfen. Draußen, vor den Mauern des Forts, jaulte ein Straßenköter 198
und provozierte so ein kurzes Kläffkonzert. Dann fiel ihr der Kaiser wieder ein, der lange, gewichste Schnauzer, der satyrspitze Bart, die Hand, die träge eine halbgerauchte Zigarre hielt. »Im Frühling werde ich die Eroberung des ganzen Landes
zum Abschluß bringen.«
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Zehn Mittag. In den Moscheen der Stadt, den Innenhöfen der Wohnhäuser, auf dunklen Wegen, in engen Gassen sowie im großen Lager der Hütten und Zelte vor den Mauern von Miliana bedeckten Männer ihre Köpfe, zogen sich die Schuhe aus, breiteten Teppiche oder Decken aus und warfen sich im Gebet zu Boden. Die Kabylen, die die Tribüne gebaut hatten, knieten sich in gleichsam einer einzigen Bewegung auf dem Paradeplatz im französischen Fort hin, ohne auf Lambert, Emmeline oder Deniau zu achten, die im Schatten des Bogenganges standen, wandten die Köpfe gen Mekka und murmelten ihre Gebete, als wären sie allein mit ihrem Gott. Emmeline, wie stets von dieser Andacht tief bewegt, fragte Deniau: »Ich wollte schon immer wissen, was sie da eigentlich sagen.« »Im Gebet? Sie sagen eine Sure aus dem Koran auf«, antwortete Deniau und genoß es offensichtlich, sein Wissen ausbreiten zu können. »Und die lautet: ›Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Aller Preis gehört Allah, dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Meister des Gerichtstages, Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. Führe uns auf den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, die nicht Dein Mißfallen erregt haben und die nicht irregegangen sind.‹ Man könnte es ihre Version des Vaterunsers nennen. Gar nicht so verschieden, nicht wahr?« »Ich denke doch«, erwiderte Emmeline, und beide Männer schauten sie an, als überrasche es sie, daß sie eine eigene Meinung hatte. 200
»Ach?« sagte Deniau. »Und wieso?« »Sie bitten um keinen Gefallen, nicht um das tägliche Brot, um Vergebung ihrer Sünden, um Erlösung von der Versuchung und vom Übel. Sie bitten Gott einzig darum, sie auf den rechten Pfad zu führen. Ist das nicht etwas, um das wir ihn alle bitten sollten?« »Liebste Madame!« rief Deniau amüsiert lächelnd aus. »Sie erstaunen mich immer wieder. Doch nun …« Er öffnete seine Aktenmappe und zog ein weißes Kopftuch aus Baumwolle sowie einen weißen Spitzenschleier hervor. »Hier ist Ihre moslemische Verkleidung. Ich habe mich bemüht, einen möglichst hübschen Schleier für Sie aufzutreiben. Übrigens, Henri, wir werden die Scheichs und die Goumier kurz nach eins zu ihren Plätzen führen. Bou Aziz trifft mit seinen Begleitern erst zum Schluß ein. Sobald er sitzt, beginne ich mit meiner Vorrede. Und einige Augenblicke danach tauchen Sie auf. Ich möchte, daß Sie an den Reihen der Scheichs und Marabuts vorbeigehen, ohne sie zu beachten, um dann die Bühne zu betreten und sich dem gesamten Publikum zuzuwenden. Verbeugen Sie sich und fangen Sie gleich an, ich denke, so ist es am wirkungsvollsten.« Mit dem Geschick eines Meisters der Magie ließ Lambert den Stab mit den Elfenbeinspitzen aus seinem Ärmel gleiten und tippte sich damit in ironischem Salut an die Stirn: »Zu Befehl,
mon commandant.« »Und ich? Was soll ich tun?« fragte Emmeline. »Sie müssen sich zu meinem Bedauern bis kurz vor eins in der Seitenkulisse verbergen. Ich weiß, Sie haben dann fast eine Stunde allein hinter der Bühne zu warten, dafür entschuldige ich mich. Doch nur so können wir garantieren, daß Henris 201
Auftritt die größtmögliche Wirkung hat.« »Ehe wir anfangen«, sagte Lambert, »muß ich Sie allerdings warnen, Charles. Meine heutige Vorstellung wird nicht so raffiniert ausfallen wie die an dem Abend in Algier. Wir können keinen Araber verschwinden lassen, da Emmeline nicht die Kraft hat, den Tisch mit mir zu tragen, auf dem er stehen müßte. Und ich werde mir auch die Punschbowle schenken, aus der ich Kaffee verteilt habe. Die heutige Vorstellung, denke ich, muß von den beiden überzeugendsten Illusionen getragen werden, von der schweren Kiste und meiner Unverwundbarkeit. Diese Kabylen sind naive Männer der Wüste. Wahrscheinlich wollen sie – anders als das Publikum in Algier – gar nicht unterhalten werden. Furcht ist die Waffe, die ich gegen sie anwenden muß.« In dem langen grauen Kleid, das Lambert für sie ausgesucht hatte, sowie mit dem von Deniau gewählten Kopftuch und dem Schleier trat Emmeline um ein Uhr in der trockenen Mittagshitze aus ihrem Zimmer und ging, ohne von den Arbeitern am anderen Platzende gesehen zu werden, die dort noch einige Bänke aufstellten, in den Verschlag in der Seitenkulisse links von der Bühne. Dort in der Ecke waren die Stromschalter, die sie betätigen mußte, das Füllhorn, das sie ihrem Mann reichen sollte, die Federn, die er auf dem Boden verstreuen würde, damit sie sie aufheben konnte, die Bonbons und Süßigkeiten, die sie dem Publikum anzubieten hatte. Sie saß vor einem kleinen Spiegel, band sich zuerst das Kopftuch um und legte dann den Schleier an, so daß nur noch Augen und Stirn zu sehen waren. Als sie damit fertig war, starrte ihr eine maskierte Araberin aus dem Spiegel entgegen, als hätte dieser simple Verwandlungstrick Emmeline Lambert ausgelöscht. Kurz darauf hörte sie draußen auf der Straße Hufgeklapper, das 202
Schreien der Kameltreiber und das ferne Knattern einiger Gewehre. Sie wandte sich um, schaute durch einen Spalt in ihrer Garderobenwand und sah die ersten arabischen Gruppen auf dem Platz vor dem Fort eintreffen. Von irgendwoher spielte eine französische Militärkapelle einen Marsch, während unter ihr eine farbenfrohe Menge arabischer Männer in weißen, roten oder blauen Burnussen – manch einer mit einem altmodischen Gewehr in der Hand, einem Messer oder Krummschwert im Gürtel – durch die Gänge zwischen den Sitzbänken gemächlich auf die französischen Soldaten und die Dolmetscher zuging, die darauf warteten, jeden an seinen Platz führen zu können. Es gab keine Frau im Publikum. Erneut betrachtete Emmeline die Verschleierte im Spiegel. Sie blickte auf die Schalter, diese schwarzen Hebel, die sie bedienen mußte, um Schmerzen zu bereiten. Heute verläßt sich Henri auf mich. Er würde es mir nie verzeihen, ließe ich ihn im Stich. Die Zeit verging. Die Militärkapelle spielte nun Operettenmelodien. Plötzlich stockte die Musik und wurde vom lauter werdenden Stimmengewirr aus den dicht gedrängten Reihen übertönt. Emmeline stand auf und starrte durch das Guckloch der Kulisse. Langsam, sich nach allen Seiten verneigend, bescheiden für die Grüße und Willkommensworte dankend, die ihm von überall her zugerufen wurden, kam Bou Aziz am Arm seiner Tochter den Mittelgang entlang. Vor der Bühne stand Deniau, mit Orden und Degen geschmückt, um dem Marabut seinen Platz in der ersten Reihe anzuweisen. Kaum hatte sich Bou Aziz gesetzt, gab Deniau dem Dirigenten der Kapelle ein Zeichen. Auf Trommelwirbel und Trompetenfanfare folgten die Klänge der Marseillaise, dann hob Deniau den Arm und bat um Aufmerksamkeit. »In die Weiten der Sahara, zu den Lehen der Kabylen kommt heute der größte 203
Zauberer Frankreichs. Hier ist: Henri Lambert!« Emmeline sah ihren Mann nicht den Gang herunterkommen, da sie laut seinen Anweisungen nun in die Seitenkulisse gehen sollte. Als sie ihren Platz eingenommen hatte, sah sie ihn bereits auf der Bühne stehen. Er verbeugte sich vor dem Publikum, ihr Zeichen dafür, daß sie nun auch auftauchen sollte. Sie trat ins Sonnenlicht, schritt an den Tisch im Hintergrund der Bühne und nahm den Zylinder zur Hand. Dann ging sie zu Lambert, reichte ihm den Hut und zog sich zurück, das Gesicht dem Publikum zugewandt, so wie Jules es stets tat, wenn er seinem Herrn assistierte. Lambert, der ihr den Rücken zukehrte und nicht wie sonst Gehrock, Halstuch und Leinenweste, sondern wie zu einem Bootsausflug auf der Seine ein offenes weißes Hemd und weite Hosen trug, fuhr mit seinem Stab über den Hut, faßte hinein und holte nacheinander drei Kanonenkugeln hervor, die er krachend auf die Bühne fallen ließ. Wie in Algier sicherte er sich mit dieser Eröffnung auch diesmal sogleich die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Publikums. In ehrfürchtigem Schweigen sah man ihm zu, wie er erneut in den Hut faßte und diesmal zwei Tauben hervorholte, die er in die trockene Wüstenluft aufsteigen ließ. Dies war das Signal für sie, ihm das Füllhorn aus Papiermaché zu bringen, das er entgegennahm, ohne ihre Anwesenheit im geringsten zu würdigen. Er öffnete den Deckel, um dem Publikum zu zeigen, daß das Horn leer war. Dann schloß er den Deckel wieder, drehte es um und ließ Dutzende Bonbons und andere Kleinigkeiten niederregnen, die sie nun aufzuheben und dem Publikum anzubieten hatte. Doch als sie nervös, unsicher und vor Aufregung zitternd an die Rampe vortrat und die Süßigkeiten den Dolmetschern anbot, die sie gleich an die Gäste in der ersten Reihe weiterreichten, sah Emmeline nur ein einziges Gesicht. Der Marabut hatte sich 204
vorgebeugt, der Turban einer Krone gleich, die seine hohe Stirn umrahmte, der dichte graue Bart von der Wüstensonne streifenweise ausgebleicht. Seine Augen, ihr verhangener, doch aufmerksamer Blick, schlug Emmeline in den Bann, und sie erstarrte. Wie eine Statue blieb sie reglos stehen, bis ein Dolmetscher ihr die letzten Süßigkeiten abnahm, um sie im Publikum zu verteilen. In diesem Augenblick sah Emmeline nicht den Marabut vor sich, den sie gestern abend kennengelernt hatte, sondern ein Gesicht, so geheimnisvoll und fremd wie das ausgezehrte Antlitz des gekreuzigten Jesu auf dem Grabtuch von Turin. Mit einem leichten Kopfnicken entließ sie der Marabut aus dem Bann seiner Augen. Emmeline drehte sich zu Lambert um, der dem Publikum erneut das leere Füllhorn zeigte, mit dem Stab darüberstrich und dann mit geschickten Zaubererfingern zuerst eine und dann viele Federn herauszog und sie zu ihren Füßen auf der Bühne verstreute. Während Emmeline die Federn aufsammelte und in einen Korb legte, verließ Lambert die Bühne, trat zwischen die ersten Reihen seines Publikums und pflückte aus dem Ohr eines Scheichs ein Ei, aus der Nase eines anderen ein Fünffrancsstück. Er griff sich einen Pantoffel, den ein Scheich abgestreift hatte, hielt ihn mit einer raschen Bewegung in die Höhe und zeigte, daß er mit Fünffrancsstücken angefüllt war, die er nun mit weitem Wurf unter den Zuschauern verteilte. Das schien ihnen zu gefallen, da sie ihm »Duros!« zuriefen, was die Dolmetscher als eine Bitte um mehr Fünffrancsstücke übersetzten. Lambert, der sorgsam den Bereich vermied, wo Bou Aziz mit seiner Tochter saß, ging lächelnd den Gang hinunter und zog immer wieder duros aus Nasen und Ohren des erstaunten Publikums. So kam er schließlich zu den Stufen zurück, die zur Bühne hinaufführten. 205
Er blieb davor stehen und hielt seinen Stab in die Höhe, um Zurufe und Applaus zum Verstummen zu bringen. Sobald es wieder still war, trat er auf die Bühne und wandte sich seinem Publikum zu. Dabei warf er einen kurzen Blick zu Emmeline hinüber, der sie daran erinnern sollte, daß sie sich nun zurückzuziehen hatte. Mit lauter Federn im Arm und noch immer verwirrt und tief bewegt von der Begegnung mit dem Marabut, reagierte Emmeline nur langsam auf Lamberts verstohlenes Zeichen. Und als sie an ihm vorbeiging, zischte er sie wütend an: »Halte dich bereit!«, ging dann zum Tisch und griff nach der kleinen, stabil gebauten Holzkiste mit den Eisengriffen. Er trug sie geradezu achtlos mit einer Hand zurück zur Bühnenmitte. Und dann hörte ihn Emmeline die gleiche Rede halten, die er auch in Algier gehalten hatte, hörte ihn rühmen: »Durch die mir von Gott verliehenen Mächte werde ich Ihnen nun zeigen, daß ich den stärksten Mann seiner Kraft berauben und sie ihm nach Gutdünken wieder verleihen kann. Wer sich für dieses Experiment stark genug fühlt, den bitte ich nun, nach vorn zu kommen.« Kaum vernahm sie diese Worte, ließ sie abrupt das Bündel Federn fallen und ging mit zittrigen Gliedern zu den schwarzen Hebeln. Ein junger, kabylischer Stammesfürst mit langem hellem Haar und einem kleinen griechischen, zwischen die Augen tätowierten Kreuz betrat die Bühne. Lambert verbeugte sich, grüßte ihn und fragte: »Sind Sie stark?« Lächelnd nickte der Fürst. »Sie irren sich. In wenigen Augenblicken werde ich Ihnen alle Kraft nehmen. Sie werden schwach wie eine Frau sein.« 206
Emmeline erinnerte sich, daß ihr Mann in Algier ›schwach wie ein Kind‹ gesagt und das Publikum daraufhin amüsiert gelächelt hatte. Doch als nun seine Bemerkung übersetzt wurde, klang das Wort für Frau wie eine Beleidigung. In den dichtgedrängten Zuschauerreihen machte sich plötzlich ein feindseliges Schweigen breit. Doch der Kabyle schien sich nichts daraus zu machen. Er lächelte, zuckte die Achseln und gab Lambert ein Zeichen, doch endlich fortzufahren. »Nun«, sagte Lambert. »Heben Sie die Kiste auf.« Der junge Mann bückte sich, hob die Kiste mühelos in die Höhe und hielt sie mit einer Hand, so wie Lambert es zuvor getan hatte. Dann schaute er den Zauberer an und zuckte erneut mit den Achseln. »Stellen Sie sie bitte wieder hin«, sagte Lambert. Der junge Mann stellte die Kiste vor Lambert ab. Lambert hob beide Hände, strich einmal fast über das Gesicht des jungen Mannes, hielt dann inne und schaute ins Publikum. »Von diesem Augenblick an wird er schwach wie eine Frau sein.« Er wandte sich an den Kabylen. »Nun, versuchen Sie noch einmal, die Kiste anzuheben.« Noch während er sprach, blickte Lambert an dem Mann vorbei in die Seitenkulisse, ein zuvor vereinbartes Signal. Emmeline, abrupt wie ein Automat, zog sofort den ersten schwarzen Hebel zurück. Der junge Mann langte nach unten, packte die Eisengriffe der Kiste und ruckte heftig daran. Doch die Kiste, gehalten von magnetischer Kraft, rührte sich keinen Millimeter. Der junge Stammesfürst richtete sich keuchend auf und wandte sich halb zu Emmeline um. Obwohl sie wußte, daß er sie 207
nicht sehen konnte, erstarrte sie und wich vor seinem Blick zurück. Schweißperlen auf seiner Stirn benetzten das winzige Kreuz zwischen seinen Augen, Augen, die nun verwirrt in die Dunkelheit starrten, die sie verbargen. In den Bänken auf dem Platz sprangen ein halbes Dutzend Männer auf die Füße. Der junge Fürst nickte und winkte abwiegelnd, als wollte er ihnen sagen, daß er wisse, was in ihnen vorgehe. Dann bückte er sich noch einmal, stellte sich rittlings über die Kiste und zog mit aller Kraft, mußte aber schließlich besiegt die Griffe fahren lassen. Lambert schlug sich mit dem Zauberstab an sein Hosenbein wie ein Tierbändiger, der das Zeichen für das nächste Kunststück gab. »Nun, wie wär’s mit einem letzten Versuch?« Der Dolmetscher wiederholte die Worte auf arabisch, woraufhin sich wiederum vier oder fünf Kabylenführer von ihren Plätzen erhoben und den jungen Mann drängten, nur ja nicht aufzugeben. Vom Geschrei abgelenkt blickte Emmeline ins Publikum, was ihr Lambert strikt verboten hatte. In der ersten Reihe saß Bou Aziz reglos mit seiner Tochter, den Blick nicht auf den Stammesfürsten, sondern auf Lambert gerichtet. Emmeline sah nervös zu ihrem Mann hinüber und bemerkte gerade noch rechtzeitig sein zweites geheimes Signal. Der junge Mann bückte sich erneut, und seine Hände umschlossen die Eisengriffe. Zitternd und mit geschlossenen Augen, als hätte sie selbst den Schmerz zu erleiden, zog Emmeline den zweiten schwarzen Hebel zurück. Darüber stand die Uhr, mit der sie die dreißig Sekunden Pein bemessen sollte. Ein heftiges Zittern durchlief den jungen Mann, dessen Hände plötzlich an der Kiste klebten, doch trotz des elektrischen Schocks, der durch seinen Körper raste, schrie er nicht auf. 208
Emmelines Blick verschwamm unter Tränen. Ihre Hände zuckten zum Hebel, um den Strom zu unterbrechen, doch fiel ihr im letzten Augenblick der strenge Befehl ihres Mannes ein, und sie wartete und schaute auf die Bühne. Mit unfehlbarem Zeitgefühl setzte Lambert sich in Bewegung, als sich der Zeiger der dreißigsten Sekunde näherte. Emmeline zog den Hebel. Lambert fuhr mit seinem Stab über die Kiste. Der junge Mann, vom elektrischen Strom befreit, das Gesicht noch schmerzverzerrt, erhob sich schwankend und starrte den Zauberer an. Emmeline war von Lambert ermahnt worden, daß es, sollte das Opfer noch immer unter Schock stehen, ihre Aufgabe sei, auf die Bühne zu kommen und dem Mann wieder zu seinem Platz zu helfen. Mit einer winzigen Geste forderte Lambert sie nun auf vorzutreten. Doch als sie im grellen Sonnenlicht auf den Kabylen zuging und ihre Hand auf seinen Arm legte, drehte der sich wie vom Blitz getroffen um und schüttelte sie ab. In der Stille, die sich wie eine Wolke über dem Publikum zusammenballte, ging der Kabyle an den Bühnenrand, ignorierte die Stufen, sprang in den Sand und fiel Bou Aziz fast direkt vor die Füße. Der Marabut erhob sich, half ihm auf, nahm das Gesicht des jungen Mannes in seine Hände und sagte einige Worte, die außer dem jungen Mann niemand hören konnte. Daraufhin ergriff der junge Stammesfürst die Hand des Marabuts und küßte sie. Gemeinsam kehrten sie zur Bank des Marabuts zurück, und Bou Aziz’ Tochter rückte zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Unterdessen starrte Lambert reglos auf die Trikolore, die über den Mauern des Forts flatterte. Wie verabredet zog Emmeline sich in die Seitenkulisse zurück, um auf seinen nächsten Befehl zu warten. Sie postierte sich in der Nähe der Hebel, zog den 209
Deckel vom Guckloch zur Seite und blickte beschämt hinunter zu dem Platz von Bou Aziz, auf sein ernstes, unbewegtes Gesicht, dessen Blick so verhangen war, als befände sich der Marabut in Trance. Der junge Kabyle an seiner Seite schien sich erholt und beruhigt zu haben, doch die Scheichs und Marabuts in seinem Rücken steckten die Köpfe zusammen, tuschelten nervös, befingerten ihre Gebetsperlen und warfen hin und wieder einen Blick auf diese rätselhafte, ziemlich beängstigende Gestalt auf der Bühne. Lambert, Herr seines Publikums, wußte genau, wann er weitermachen mußte. Er hielt seinen Stab mit den Elfenbeinspitzen in die Höhe, als wolle er ihn inspizieren, ein zuvor vereinbartes Signal. Daraufhin erhob sich Colonel Deniau von seinem Sitz, ging zu den Stufen, die zur Bühne heraufführten und wandte sich dem Publikum zu. Er sprach Arabisch. »Was ist die Macht des Geistes? Der Koran sagt, sie sei eine Gabe, die Allah heiligen Männern und Frauen zum Dank für ihre Hingabe gewährt. Es ist die Gabe, Wunder zu vollbringen, die Fähigkeit, eine Frau vom Fluch der Unfruchtbarkeit zu befreien, den in Ketten liegenden Gefangenen aus den Händen seiner Feinde zu erlösen, die Wunden der Verletzten zu kühlen, doch die größte aller Gaben ist jene, die einen Mann in der Schlacht für die Kugeln seiner Feinde unverwundbar macht. Diese höchste Gabe, so heißt es, wird dem Mahdi gewährt, dem Erwählten Gottes, der Ihre Armeen zum Sieg über uns führen wird. Doch welcher Marabut verfügt über diese Gabe? Welcher Marabut hat vor Ihren Augen bewiesen, daß er sie besitzt? Keiner, sage ich. Kein Mahdi ist vor Ihren Augen auferstanden. Doch hier und heute wird unser Marabut beweisen, daß ihm diese Gabe von Gottes Hand verliehen 210
wurde.« Emmeline, die noch im Schatten stand, hörte das verabredete Wort, nahm die in Saffianleder eingeschlagene Schatulle mit den zwei Reiterpistolen, die ihr Mann bei diesem Trick benutzte, und trat aus dem Bühnenhintergrund nach vorn. Lambert, der in der Bühnenmitte gestanden hatte, ging nun auf sein Publikum zu, blieb dann stehen und ließ seinen Blick über die versammelten Gesichter wandern, bis er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme: »Wie ich bereits in Algier demonstriert habe, bin ich unverwundbar, denn ich besitze einen Talisman, der mich vor allem Leid bewahrt. Kein Schütze kann mich verwunden oder töten.« Nach diesen Worten blickte er Bou Aziz direkt an. »Ich bitte Sie, Bou Aziz, mir bei dem Beweis meiner Behauptung zu helfen.« Emmeline sah, wie der Marabut zu ihrem Mann aufschaute, und spürte erneut die seltsame Faszination seines Blicks. Er sprach auf arabisch mit seiner Tochter, die daraufhin sagte: »Mein Vater tötet nicht.« Da sprang ein großer, beleibter Kabylenscheich in ockerfarbenem Burnus auf, ging zu den Stufen, die zur Bühne führten, und sagte in langsamem, gutturalem Französisch: »Sie wollen getötet werden? Ich helfe Ihnen.« Lambert gab ihm zu verstehen, daß er auf die Bühne kommen solle. Dann wandte er sich an Emmeline und wies sie an vorzutreten. Gehorsam öffnete sie die Pistolenschatulle, wie es ihr beigebracht worden war, und zeigte dem Publikum die beiden Reiterpistolen. Dann ging sie zu Lambert, der eine der Pistolen nahm und sie dem Kabylenscheich anbot. Doch der Scheich schüttelte den Kopf, steckte die Hände in 211
den Burnus und zog zwei Pistolen gleicher Machart aus seinem Gürtel. »Und nun, Marabut«, sagte er, »suchen Sie sich eine von meinen Pistolen aus, dann wollen wir sie laden, und ich werde auf Sie feuern. Sie haben nichts zu befürchten. In Algier haben Sie gesagt, Sie hätten einen Talisman, der Sie vor allem Leid bewahrt. Jetzt lassen Sie uns diesen Talisman sehen, zeigen Sie uns seine Macht!« Emmeline, die ungewollte Pistole in der Hand, wartete verwirrt und beobachtete Lambert, der dem Scheich in die Augen sah, dann zustimmend nickte und Emmeline seine Pistole zurückgab. Sie sah, wie Deniau sich erschreckt von seinem Platz in der ersten Reihe erhob, und da wußte sie, daß man sich irgendwie an den Pistolen in ihrer Hand zu schaffen gemacht hatte und daß man ihren Mann, sollte er in dieser für den Erfolg der Reise so wichtigen Machtprobe versagen, von seiner Mission entbinden und seinen Stolz damit vernichten würde. Sie sah, wie Deniau zur Bühne ging, als wolle er das Geschehen aufhalten. Doch Lambert bedeutete ihm zu warten. Er drehte sich zu dem Scheich um, griff in die Luft, und wie durch Magie glitzerte plötzlich die kleine, vielfacettige Kugel in seiner Hand. »Dies ist der Talisman, den Sie meinen«, sagte er. »Damit bin ich unverwundbar. Doch ich habe beschlossen, ihn heute nicht vor dem Marabut Bou Aziz zu benutzen, den viele von Ihnen für den Mahdi, den Auserwählten Gottes halten. Heute möchte ich beweisen, daß meine Macht größer als die Macht eines Talismans ist. Ich schenke Ihnen den Talisman.« Der Kabyle griff nach der dargebotenen Glaskugel, die aber sogleich aus Lamberts Hand verschwand. Lambert lächelte. »Schauen Sie in Ihrem Gürtel nach«, sagte er. 212
Der Scheich schob seine Finger in die orangefarbene Seidenschärpe und zog erstaunt die kleine Glaskugel daraus hervor. »Passen Sie gut darauf auf«, sagte Lambert. »Doch ich muß hinzufügen, daß ich, um den Beweis ohne Talisman antreten zu können, mich nun zurückziehen und sechs Stunden im Gebet verbringen muß. Wenn Sie gestatten, will ich morgen früh hierher zurückkehren und Ihnen zeigen, daß ich auch ohne meinen Talisman unverwundbar bin. Zum Beweis werden Sie mit Ihrer Pistole in der Gegenwart dieser Scheichs und Marabuts unmittelbar auf mein Herz feuern.« Er wandte sich an das Publikum und sprach zur Tochter von Bou Aziz: »Morgen bei Tagesanbruch werde ich bereit sein. Bitten Sie Ihren Vater, mir die Ehre seiner Anwesenheit zu gewähren?« Bou Aziz’ Tochter berührte seinen Arm und sprach leise auf ihn ein. Daraufhin erhob sich Bou Aziz, strich sein grünes Gewand glatt und griff nach dem Arm seiner Tochter. Es herrschte eine erwartungsvolle Stille, doch unter den aufmerksamen Blicken der arabischen Führer und Kabylenscheichs nickte Bou Aziz schließlich zustimmend und strebte dann, gebrechlich wie er war, langsam dem Bogengang zu, der auf die Straßen von Miliana führte. Sogleich löste sich die Menge unter lautem Stimmengewirr auf, blickte dabei aber immer wieder zu Lambert hinüber, der seinen Stock niedergelegt und sich in die Seitenkulisse zurückgezogen hatte. Emmeline folgte ihm, die Schatulle mit den Pistolen noch in der Hand. Sie sah, daß Lamberts Gesicht schweißgebadet war und daß er die Hände zu Fäusten ballte, als wolle er ihr Zittern mit aller Macht unterdrücken. Sie hörte Schritte hinter sich auf der Bühne. Deniau grüßte sie 213
mit einem Kopfnicken und sagte dann zu Lambert: »Und was sollen wir jetzt tun? Hätten Sie ihn nicht überreden können, Ihre eigenen Pistolen zu benutzen? Es kann doch keiner sehen, daß sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Warum haben Sie es nicht wenigstens versucht?« »Ein Zauberer muß seine Versprechen halten«, sagte Lambert. »Selbst wenn das heißen sollte, daß man mich morgen tötet.« Emmeline sah, daß sich Deniau keinerlei Sorgen um ihren Mann machte. Seine Stimme, seine Miene verrieten Ärger und Enttäuschung. »Und wenn man Sie tötet, war alles umsonst. Sie müssen morgen einfach Ihre eigenen Pistolen benutzen. Wissen Sie was, ich mache eine Ankündigung. Ich werde behaupten, daß man Sie beleidigt hat und daß es jedem im Publikum freisteht, Ihre Waffen zu untersuchen und sich davon zu überzeugen, daß sie einwandfrei sind.« Schwitzend und angespannt saß Lambert auf dem einsamen Stuhl vor den Stromschaltern für die Kiste mit den Eisengriffen. Er ließ den Kopf sinken, als würde er gleich ohnmächtig werden und sagte dann: »Ich kann mein Versprechen nicht zurücknehmen. Ich habe gesagt, daß ich unverwundbar bin. Und wenn ich unverwundbar bin, wie sollte ich mich da weigern können, die Pistolen des Scheichs zu benutzen? Ich habe mein Leben lang vor Publikum gestanden, Charles. Es ist wie ein Tier. Wenn du es nicht bändigst, fällt es dich an. Und als ich heute meinen ›Talisman‹ fortgab, habe ich das Publikum meine Macht spüren lassen. Jetzt muß ich sie beweisen. Doch mir bleibt noch eine winzige Chance. Ich habe da so eine Idee, die ich bis morgen früh ausarbeiten will.« »Was für eine Idee?« fragte Deniau. Lambert gab keine Antwort. Er saß einfach nur da, vornübergebeugt, wie in tiefes Nachdenken versunken. 214
Deniau wandte sich an Emmeline: »Wissen Sie, worum es geht?« »Sie weiß nichts«, sagte Lambert. »Komm, Emmeline, laß uns auf unser Zimmer gehen. Und bring die Schatulle mit.« »Aber diese Idee«, sagte Deniau. »Wenn Sie mich schon nicht darüber aufklären wollen, dann sagen Sie mir doch wenigstens, wie ich Ihnen helfen kann.« Ein verkrampftes Lächeln zeigte sich auf Lamberts Gesicht. »Ich darf bei meinen ›Gebeten‹ nicht gestört werden. Sorgen Sie bitte dafür, ja? Lassen Sie außerdem etwas zu essen auf unser Zimmer schicken, und denken Sie daran, wenn ich versage, soll die französische Regierung für meine Frau sorgen. Ich vertraue Sie Ihnen an, Charles. Sie wird Ihre Hilfe brauchen.« Sie faltete den arabischen Schleier zusammen und legte ihn auf den Spiegeltisch. Lambert wartete ungeduldig an der Tür der behelfsmäßigen Garderobe, zog sie hinter sich zu und verschloß sie, ehe er durch die Kulisse auf die Bühne ging. Deniau war vorausgegangen, wartete aber nun am Fuße der Stufen, und als Emmeline ihrem Mann über den Hof und durch den Bogengang zu ihrem Zimmer folgte, nahm Deniau sie beim Arm und hielt sie ein wenig zurück. Lambert schien keine Notiz davon zu nehmen. Ohne sich umzuschauen, eilte er davon und verschwand im Schatten der Kolonnade. In diesem Augenblick beugte sich Deniau vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Sie dürfen das nicht zulassen. Was ist, wenn man ihn umbringt? Nichts als Stolz und Dummheit. Sie müssen unbedingt dafür sorgen, daß er seine eigenen Pistolen benutzt. Oder begreifen Sie nicht, daß Sie morgen um diese Zeit schon Witwe sein könnten? Es steht doch nicht bloß sein Ruf auf dem 215
Spiel, es geht um viel mehr. Bitte, helfen Sie mir!«
»Ihnen helfen?« »Ich meine …« Er schwieg und lächelte schuldbewußt. »Ich meine, helfen Sie ihm. Verstehen Sie, Sie sind jetzt bei ihm, Sie müssen herausfinden, was er vorhat. Ich komme später noch auf Ihr Zimmer. Vielleicht gelingt es Ihnen dann, auf einen Augenblick herauszukommen, so daß wir miteinander reden können.« »Emmeline? Emmeline?« Sie blickte auf. Lambert stand auf dem Balkon und schaute in den Hof. »Jetzt komm schon! Ich brauche den Pistolenkasten.« »Ich komme.« Ohne Deniau weiter zu beachten, eilte sie durch den Bogengang und lief die Steintreppe hinauf, die in den zweiten Stock des Forts führte. Ihr Mann stand wartend vor einem Tisch im Salon, und sobald sie eintrat, griff er nach dem Pistolenkasten, öffnete ihn und zog daraus einen ihr unbekannten Gegenstand hervor. »Hol mir eine von diesen Kerzen«, sagte er. »Und ein paar Streichhölzer und bete, daß es funktioniert.« »Was hast du vor?« Er legte den Gegenstand auf den Tisch und schaute dann auf. Sein Gesicht war blaß und abgespannt. »Etwas, das ich noch nie zuvor getan habe. Etwas Gefährliches. Wenn ich einen Trick vorbereite, probe ich jede Bewegung immer und immer wieder, um sicherzugehen, daß auf der Bühne alles perfekt funktioniert. Doch morgen wird es keine Probe geben. Ich werde einem Wilden gegenüberstehen, der mich töten will, und zwar mit dem hier.« Er schaute auf den Gegenstand auf dem Tisch. »Das hier ist eine Gußform für gewöhnliche Bleikugeln.« 216
Er stand auf, ging an den Sekretär, nahm eine Visitenkarte, knickte die vier Ecken um und formte daraus eine Art Trog. Dann schmolz er ein wenig Kerzenwachs und goß es hinein. Indem er eine Messerklinge durch die Flamme zog, gewann er etwas Ruß, den er mit dem geschmolzenen Wachs vermengte, um es dann in die Gußform rinnen zu lassen. »Jetzt wird’s knifflig«, sagte er beinahe flüsternd, als er die Form umdrehte, um das Wachs, das sich noch nicht gefestigt hatte, auslaufen zu lassen, damit eine hohle Kugel in der Gußform zurückblieb. Es klappte nicht. »Wie viele Kerzen haben wir?« Sie ging ins Schlafzimmer und zählte: »Sieben – nein – acht!« »Gut. Bringe sie her, ich brauche sie zum Üben. Ich muß eine perfekte, hohle Wachskugel gießen, die wie eine echte Kugel aussieht.« »Das ist also der Trick«, sagte sie. »Eine falsche Kugel?« Er gab keine Antwort, sondern beugte sich über den Tisch, wie er es so oft in seinem Atelier tat, fern von ihr, abgeschottet, fasziniert, geduldig seine Kunst perfektionierend. »Du hast gesagt, es bestünde Gefahr. Du könntest getötet werden …?« Wieder gab er keine Antwort. Sie setzte sich auf den Diwan und schaute zu. Vielleicht wurde er getötet. Doch wofür? Warum war es soweit gekommen? »Hast du mich gehört, Henri?« Er formte mittlerweile seine dritte Wachskugel. »Immer noch nicht richtig«, sagte er wie zu sich selbst. »Aber schon besser. Und mit Glück und Ausdauer wird sie noch besser. Wie eine Bleikugel muß sie aussehen, wenn ich sie hochhalte. Ich muß üben – üben. Es muß ganz natürlich wirken: einfach die Kugel 217
hochhalten, damit Scheich und Publikum sie sehen können. Das ist der entscheidende Moment. Diese Wüstenleute haben scharfe Augen. Sie muß vollkommen sein.« »Wovon redest du? Du hast es doch geschafft, Henri. Du bist berühmt. Außerdem hast du gesagt, daß du dich zur Ruhe setzen und zu Hause in Tours ein normales Leben führen willst.« Sie zögerte und sagte dann: »Ich weiß, du wünschst dir ein Kind. Wir könnten es doch noch einmal versuchen.« »Unsinn. Das hat nichts damit zu tun.« Sie schaute ihn verblüfft an. Ich weiß, du wünschst dir ein Kind. Wir könnten es doch noch einmal versuchen. Nach all den Jahren hatte sie es endlich über die Lippen gebracht, war damit herausgeplatzt. Ich hätte nie gedacht, daß ich das schaffe. Wenn ich denke, wie oft ich nachts wachgelegen und mich schuldig gefühlt habe, weil ich es für meine Aufgabe hielt, ihn nochmals zu einem Versuch zu drängen. Und wenn ich es jetzt sage, kümmert es ihn überhaupt nicht. Macht er sich um uns keine Gedanken? Worüber macht er sich eigentlich Gedanken? Über seine Karriere, seinen Ruhm, seine Erfindungen, die ›Nachwelt‹. »Aber was ist mit deinen Erfindungen? Du behauptest doch immer, daß keiner so herrliche mechanische Marionetten macht wie du. Bedeutet dir das jetzt alles nichts mehr, nur weil du irgendeinem arabischen Scheich einen Trick vorführen willst? Morgen früh bist du vielleicht tot, und wozu? Um dem Kaiser einen Gefallen zu tun? Weil du ihm helfen willst, einen Teil von Afrika zu erobern? Begreifst du denn nicht? Du bist Deniau auf den Leim gegangen, aber selbst er sagt dir jetzt, daß du deine eigenen Pistolen benutzen und dein Leben nicht riskieren sollst.« Sorgsam goß er das geschmolzene Wachs in den Papptrog. Er benahm sich, als wäre sie gar nicht im Zimmer. 218
»Du sagst, du liebst mich, Henri. Ich weiß, ich war nicht immer, was du dir erträumt hattest, aber liebst du mich wirklich? Sag mir die Wahrheit.« Nun goß er das geschmolzene Wachs in die hohle Kugel um. Er nickte, als fiele ihm etwas ein. »So geht’s. Ich könnte mir in den Daumen schneiden. Ein englischer Zauberer hat es mir vor einigen Jahren mal gezeigt, als ich in London auftrat. Die zweite, mit Blut gefüllte Kugel muß stabiler als die erste sein.« »Henri!« Er schaute sie an. »Das hier, Liebling, hat nichts zu tun mit all den Dingen, von denen du redest, mit den gewöhnlichen Dingen, mit Liebe, Ehe, Kindern. Mir ist auf dieser Welt Höheres bestimmt. Vielleicht eben dies: hier in Afrika zu sein und mich morgen bei Tagesanbruch dieser Herausforderung zu stellen. Und da ich Lambert bin, und da ich diese Gabe besitze, kann ich mich nicht drücken. Würde ich es tun, würde mich die Schande mein Leben lang verfolgen.« »Schande? Jetzt hör mir doch zu. Deniau sagt, du könntest Leben retten, wenn du Bou Aziz daran hinderst, den Heiligen Krieg zu beginnen. Doch sobald unsere Armeen nächstes Jahr in Algerien eintreffen, wird es diesen Krieg sowieso geben, einen Krieg, in dem Tausende französischer Soldaten getötet und Abertausende Araber und Kabylen sterben werden. Und wofür?« »Es wird ein Krieg, den Frankreich gewinnt«, sagte er. »Und vielleicht wird er ein wenig auch deshalb gewonnen, weil ich mich morgen dieser Herausforderung stelle. Ich könnte getötet werden. Mag sein. Doch dieses Risiko geht auch jeder einfache französische Soldat für sein Land ein.« Er hielt die hohle Wachskugel hoch, durchlöcherte sie auf 219
zwei Seiten mit der Messerspitze, starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die winzigen Löcher und nickte dann, als würde er einem unhörbaren Vorschlag zustimmen. »Wenn er mich nicht umbringt, nehme ich die hier. Die wird sie erschrecken. Aber bitte, geh in das andere Zimmer. Geh! Ich muß jetzt allein sein.« Sie trat hinaus auf den Balkon, schob den Perlenvorhang ihres Quartiers beiseite und hörte sein Rascheln, als er sich hinter ihr wieder schloß. Das Licht des späten Nachmittags fiel in den Innenhof, zerteilte ihn in zwei Hälften und hüllte die Bühne in Schatten. Sie wankte ein wenig, als hätte ihr Verstand den Körper nicht länger unter Kontrolle. Dann schritt sie ziellos die Steintreppe hinunter, überquerte den Hof und betrat die engen Gassen von Miliana, mischte sich unter die Menge, drückte sich in Hauseingänge, um kleine Karawanen von Kamelen und Eseln vorbeizulassen, und schlenderte unter den verstohlenen Blicken arabischer und kabylischer Passanten zwischen den Buden eines ärmlichen Basars umher, ohne etwas zu sehen, ohne zu wissen, wohin sie ging, verloren in leidvollen Träumereien, während ihre Gedanken sich immer wieder um die Worte drehten: Mir
ist auf dieser Welt Höheres bestimmt. Höheres als die gewöhnlichen Dinge, als Liebe, Ehe, Kinder. Wieder hörte sie seine verärgerte Stimme, die Stimme eines Mannes, der einem dummen Mädchen etwas offensichtlich Selbstverständliches erklärt. Und ich, die ich Nacht für Nacht in Tours wachlag und mich schuldig fühlte, weil ich keine weitere Fehlgeburt wollte, weil ich nicht einmal ein gesundes Kind wollte, sein Kind. Heute abend habe ich die Wahrheit erfahren. Ehe und Kinder sind für ihn etwas ›Gewöhnliches‹, sind mit dem Triumph nicht zu 220
vergleichen, den es für ihn bedeutet, einen Platz in der Geschichte als jener Zauberer einzunehmen, der Kaiser und Frankreich zu Ruhm verhalf. Doch warum sollte ich ihn deshalb verurteilen? Ich habe ihn geheiratet, obwohl ich wußte, daß ich ihn nicht liebte. Ich habe davon geträumt, ihn zum Hahnrei zu machen mit diesem Deniau, der in seinem Ehrgeiz, sich über ›gewöhnliche Dinge‹ erheben zu wollen, sein Zwillingsbruder sein könnte. Aber was weiß ich schon von diesen ›gewöhnlichen Dingen‹? Ich habe sie doch nie gehabt. Sie ging weiter, verlor sich in den Gängen des Basars, ohne die aufdringlichen Blicke der Budenbesitzer zu beachten, ihre ausgestreckten Hände, die sie einluden, die Waren genauer zu betrachten. Vor ihr schaukelte eine Reihe Lastkamele in fremdartig wiegendem Gang. Die Schreie der Treiber, das Klatschen der Peitschen auf Kamelfell, der Duft von Kaffee und Gewürzen, die kleinen Jungen, die neben ihr herliefen und traubenweise Datteln zum Verkauf anboten, hin und wieder das stotternde Krachen von Gewehrsalven in der Ferne, all diese Laute, Eindrücke, Gerüche erfüllten sie plötzlich mit einer unerklärlichen Panik. Sie hastete weiter, überquerte einen Platz, betrat die engen Gassen der Innenstadt, ein Labyrinth von verborgenen Höfen, verschlossenen Toren und Brandmauern. In dieser Stadt, die so anders als alle anderen Städte war, anders als alles, was sie daheim gekannt hatte, kam es ihr so vor, als verflüchtige sich die Emmeline, die sie gewesen war, und ließe sie leer zurück. Verloren lehnte sie sich gegen einen Torbogen. Die afrikanische Sonne sank hinter den Horizont. Die Nacht fiel wie eine Jalousie herab. Langsam, eines nach dem anderen, flackerten Lichter in den schmalen Fenstern der Häuser auf. 221
Verzweifelt blickte sie hierhin und dorthin, bis sie schließlich hoch über den Dächern der Stadt die Türme des französischen Forts entdeckte. Sie hielt darauf zu, eilte ihnen wie einem Leuchtfeuer entgegen. Sie rannte, und sie weinte dabei.
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Elf Die diensthabende Zuavenwache am Eingang zum Fort trat ins Wachhaus und meldete dem Adjudant: »Madame ist zurück.« »Ist sie auf ihr Zimmer gegangen?« »Nein, zum Krankenrevier.« Sogleich schnallte sich der Adjudant seinen Gürtel um und rannte die Stufen zu Colonel Deniaus Quartier hinauf. Der Colonel schlief in einem weißen Gewand auf seinem Diwan, auf dem Boden neben ihm lag ein aufgeschlagener Gedichtband. Der Geruch im Zimmer verriet, daß kif geraucht worden war, doch kaum hatte der Colonel die Meldung des Adjudants vernommen, sprang er auf, warf sein Gewand ab, streifte die Uniform über und eilte in den Hof. Im Krankenrevier brannte Licht. Die Tür stand offen. Ein Gefreiter salutierte und wies ihm den Weg in die dunklen Nachtschatten des Isolierzimmers. Der Colonel sah zwei Betten im Raum, das eine belegt, das andere leer, und dann erkannte er Lamberts Diener, das Gesicht schweißnaß, die Augen erschrocken aufgerissen, so daß der Colonel an ein verängstigtes Pferd denken mußte. Auf einem Feldstuhl neben dem Bett saß Madame Lambert. Sie hatte geweint, hielt die Hand des Kranken und redete mit ihm. Der junge Sergent, der das Krankenrevier befehligte, stand am Kopfende des Bettes und wischte dem Patienten die Stirn ab. Beim Anblick des Colonels nahm er Haltung an und grüßte. Als sie den Sergent salutieren sah, ging Emmeline auf, daß jemand den Raum betreten hatte. Sie drehte sich um. Deniau legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie sind wieder da. Ich habe Angst um Sie gehabt.« 223
Doch sie wandte sich von ihm ab, beugte sich über den Kranken und sagte: »Jules? Jules? Ich bin’s, Madame. Kannst du mich hören?« Deniau sah zum Sergent hinüber. »Wo ist der Arzt?« »Er war vorhin hier, ist aber wieder gegangen, weil Dessaults Frau in den Wehen liegt. Außerdem …« Der Sergent schüttelte den Kopf. Wieder faßte Deniau an Emmelines Schulter. »Ich fürchte, er kann Sie nicht verstehen.« Doch sie achtete nicht auf ihn, umklammerte die Hand des Kranken und rief erneut: »Jules, Jules, ich bin es. Kannst du mich hören?« Ein Gefreiter erschien in der Tür und sagte zum Sergent: »Der Priester ist da.« Der Sergent wischte dem Kranken noch einmal die Stirn ab und sagte leise: »Madame? Der Priester ist da. Monsieur Guillaumin hat heute morgen nach ihm gefragt. Er will Monsieur Guillaumin die Letzte Ölung geben.« Bekümmert blickte Emmeline auf. Ein bärtiger Jesuitenmönch in Kutte und Sandalen stand hinter ihr, ein Kästchen mit dem Viatikum und dem Heiligen Öl in der Hand. Er nickte ihr und dem Colonel zu, stellte das Kästchen ab und legte sich die Stola um. »Vielleicht möchte er noch beichten«, sagte der Jesuit. »Würden Sie uns bitte allein lassen?« Sie nickte, beugte sich aber noch einmal über den Kranken: »Jules? Jules? Ich komme gleich wieder. Kannst du mich hören? Ich komme wieder.« Deniau wartete auf sie und begleitete sie über den Flur. »Kann ich Ihnen etwas besorgen? Etwas zu trinken oder zu 224
essen? Sie haben noch kein Abendbrot gehabt.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Aber könnten Sie den Arzt kommen lassen?« »Die Frau eines unserer Offiziere liegt in den Wehen, und man befürchtet eine Fehlgeburt, deshalb ist der Arzt bei ihr. Doch ich rede gleich mit ihm. Erzählen Sie mir inzwischen von Ihrem Mann.« Sie schaute ihn an, als würde sie ihn nicht verstehen. »Ich meine, wie kommt er mit seinen Vorbereitungen voran? Ich habe vor einer Weile an seine Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten. Und als man ihm auf einem Tablett etwas zu essen schickte, kam es unberührt zurück.« »Er versucht, Kugeln zu gießen«, sagte sie. »Er meint, wenn es schiefläuft, könnte er getötet werden.« »Falsche Kugeln?« fragte Deniau. »Da haben Sie bestimmt Angst um ihn – wie wir alle. Aber er ist ein äußerst findiger Mensch, das wissen Sie selbst am besten. Mir wäre es nur lieber, wir könnten ihn überreden, seine eigenen Pistolen zu benutzen, denn wenn morgen tatsächlich etwas schiefläuft, wäre das eine Katastrophe.« »Eine Katastrophe?« fragte sie. »Für Sie?« »Es tut mir leid. Ich wollte damit nicht … für ihn natürlich.« »Gehen Sie! Lassen Sie mich allein!« Ohne auf ihren Ärger zu achten, sagte Deniau leise: »Es tut mir wirklich leid. Sie haben mich falsch verstanden. Das Leben Ihres Mannes ist kostbar, doch erzählen Sie mir, was er vorhat, und wenn es uns zu gefährlich erscheint, lassen wir ihn keinesfalls auftreten.« Sie sah an ihm vorbei, als wäre er nicht vorhanden, und ging 225
dann zurück zum Isolierzimmer. Der Sergent wartete vor der geschlossenen Tür. »Ist der Priester fertig?« »Nein, Madame, er gibt ihm jetzt die Letzte Ölung. Es dauert nicht mehr lang.« Deniau sah, wie sie den Kopf senkte; ihr ganzer Körper zitterte, als würde sie weinen. Er drehte sich um und ging hinaus. Wenig später kam der Jesuit aus dem Krankenzimmer, das Viatikumkästchen achtsam in beiden Händen haltend, als wollte er es auf einen Altar stellen. Bei Emmelines Anblick hielt er inne und fragte: »Madame Lambert?« »Ja, Pater.« »Er fragt nach Ihnen.« Sie nickte und ging hinein, folgte dem Sergent, der eine Öllampe auf das Regalbrett über dem Krankenbett stellte. Ein hartes, gelbes Licht erhellte das schweißnasse Gesicht des Patienten, der nun wach war und sich unter dem Laken wand, sie anstarrte und ihr die offene Hand wie ein Bettler entgegenstreckte. Einen Moment lang konnte sie in dieser Gestalt mit dem spitzen Gesicht, der geisterhaft bläulichen Haut und der schwachen, kaum wahrnehmbaren Stimme jenen Jules nicht wiedererkennen, den sie zu sehen erwartet hatte. »Madame? Madame? Wissen Sie noch, was Sie mir versprochen haben?« »Ja, natürlich.« Sie setzte sich auf den Feldstuhl und nahm seine Hand. Das Zimmer stank nach Exkrementen. Sein Atem ging schnell, als bekomme er nicht genügend Luft.
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Mit fast unhörbarer Stimme fragte er: »Wo ist Monsieur? Er war nicht bei mir. Ist er auch krank?« Sie schloß beschämt die Augen. »Nein, nein. Ich schicke ihn bald vorbei.« »Er kommt nicht. Er hat mich vergessen, das ist alles. Ich kenne Monsieur, ich kenne ihn besser, als Sie ihn kennen. Er arbeitet, und deshalb kommt er nicht. Vielleicht können Sie …« Er begann zu weinen und brachte den Satz nicht zu Ende. »Vielleicht können Sie mit ihm reden. Es geht um meine Frau und meinen Jungen. Was geschieht mit ihnen nach meinem Tod? Zwanzig Jahre habe ich für Monsieur gearbeitet. Zwanzig Jahre, Madame. Von Anfang an, noch ehe er berühmt war, und dann in seinem Theater in der Rue Monge. Und als er dann in Tours leben wollte, habe ich meine Frau und meinen Jungen aus Paris mitgebracht, um im Stall bei Ihrem Haus zu wohnen, aber das wissen Sie ja. Ich war ihm treu ergeben, immer. Schon lange bevor Sie in sein Leben traten, war ich da. Habe ihm geholfen, jeden Tag. Auf der Bühne, auf seinen Reisen, nach Rußland, Spanien, in all diese Länder. Und weil ich ihm in dieses teuflische Land gefolgt bin, geht es jetzt mit mir zu Ende. Ich sterbe heute nacht. Und ich sterbe allein. Aber was geschieht mit meiner Familie, Madame? Die hat keinen Sou. Bitte, Madame. Sie sind großherzig. Nicht so wie Monsieur.« »Du wirst nicht sterben, Jules. Und du mußt dir keine Sorgen machen. Monsieur Lambert ist sicher großherzig, außerdem ist er ein guter Dienstherr, ganz gewiß. Mach dir keine Sorgen, du bist bald wieder daheim. Und versuche jetzt, dich ein wenig auszuruhen. Ich bleibe heute die ganze Nacht bei dir, das verspreche ich dir.« Der Sergent kam und bat sie ans andere Zimmerende. Mit einem Blick auf den sich windenden Kranken flüsterte er: 227
»Ich habe das schon oft erlebt, Madame. Hélas! Der Tod ist nicht mehr weit.« »Bitte«, sagte sie, »können Sie jemanden zum Zimmer meines Mannes schicken? Sagen Sie ihm, daß Jules im Sterben liegt und daß er sofort kommen soll.« »Tut mir leid, Madame. Ich war selbst schon bei ihm, weil ich dachte, daß Monsieur Lambert Bescheid wissen muß, konnte aber nicht mit ihm reden. Er schlief und hat angeordnet, daß man ihn nicht wecken soll. Ich habe dann Colonel Deniau gefragt, was zu tun ist, und er sagte, ich dürfe Monsieur Lambert auf keinen Fall stören. Vielleicht könnten Madame selbst gehen?« Sie blickte wieder zum Bett hinüber. Jules starrte sie an, sein Atem ging beängstigend schnell, der Mund weit aufgerissen, als versuche er, sich zu übergeben. »Nein, ist aber auch einerlei. Es wird das beste sein, wenn ich bei ihm bleibe. Mein Vater ist Arzt, und ich habe ihm früher oft in der Klinik geholfen.« »Rufen Sie mich, falls Sie mich brauchen«, sagte der Sergent. »Ich bin auf der Station bei meinen anderen Patienten.« Der Kranke wälzte und wand sich in völliger Selbstvergessenheit, entrückt in eine Welt, in der er von ihrer Nähe nichts zu wissen schien, doch kurz nach zwei Uhr lag er plötzlich still. Sie beugte sich furchtsam über ihn, aber Jules schlug die Augen auf, sah sie, stützte sich im schmalen Bett auf und fragte: »Was ist heute für ein Tag?« »Montag. Fühlst du dich besser, Jules?« »Madame? Madame? Habe ich Ihnen von meiner Frau und meinem Jungen erzählt?« 228
»Ja, Jules, das hast du. Jetzt leg dich wieder hin. Ruhe dich ein wenig aus.« Er sank zurück. Sollte sie den Sergent rufen? Sie stand auf. Doch Jules flüsterte mit geschlossenen Augen: »Gehen Sie nicht, Madame! Gehen Sie nicht!« Sie beugte sich wieder über das Bett, hob ihn an und barg seinen Kopf an ihrer Brust, als wäre er ein Kind. Der süßliche, ekelhafte Geruch nach Exkrementen schlug über ihr zusammen, und sie sah, daß er sich unter dem Bettuch erneut beschmutzt hatte. Sie konnte seinen fiebrigen Atem an ihrem Hals spüren, als er seinen schwitzenden Kopf unter ihr Kinn schmiegte. Doch sie drückte ihn fest an sich, hielt ihn, bis sich sein Körper Minuten später unter heftigem Zucken krümmte, er mit einem Stöhnen von ihr abrückte und sich übergab. Als sie die Schüssel brachte und versuchte, sein Gesicht abzutrocknen, erschlaffte sein Körper, der Mund klappte auf. Mit unheimlicher Gewißheit wurde ihr klar, daß der Tod gekommen war. Nach einer Weile stand sie auf, drehte die Lampe herunter und zog ein Laken über das Gesicht des Toten. Auf dem Regalbrett über dem Bett las sie erneut den widersinnigen Hinweis in Druckschrift: Miliana Militärkrankenhaus Vorschrift der Gesundheitsbehörde Zivile Patienten unterliegen der Disziplinargerichtsbarkeit Sie trat hinaus auf den Flur. Der diensthabende Sergent kam von der Station herüber.
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»Madame? Wie geht es ihm? Kann ich behilflich sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir wirklich leid, Madame. Ich weiß, er war Ihr Diener, Sie werden ihn bestimmt vermissen. Solch ein Tod ist etwas Schreckliches. Aber ich habe schon viele Menschen auf diese Weise dahingehen sehen. Manchmal glaube ich, dieses Land ist einfach verflucht.« »Nein«, sagte sie. »Wir sind es, die verflucht sind.« Der Perlenvorhang vor der Tür zu ihrem Quartier rauschte wie ein Regenfall, als sie die abgedunkelten Zimmer betrat. Ohne etwas sehen zu können, tastete sie sich zum Ankleidetisch vor und trat dabei auf ein Blatt Papier, das unter einem ihrer Pantoffeln gelegen hatte. Sie hob es auf, ging zur Lampe, zündete sie an und drehte den Docht herunter, um ihren Mann nicht zu wecken. In seiner spitzen, nahezu mittelalterlichen Schrift hatte er geschrieben:
Mein Liebling, ich habe Anweisung gegeben, mich unter keinen Umständen vor sieben Uhr früh zu wecken, da ich einen Schlaftrunk genommen habe und es von entscheidender Bedeutung ist, daß ich morgen ausgeruht bin. Es könnte sonst sein, daß mich die Sorge um das morgige Geschehen wachliegen läßt und mich von der vor mir liegenden Aufgabe ablenkt. Ich weiß zwar nicht, wo Du gewesen bist, nehme aber an, daß Du sicher zurückgefunden hast. Bitte verhalte Dich bei Deiner Rückkehr leise. Ich hoffe, bin mir aber keineswegs sicher, daß ich diese äußerste Bewährungsprobe morgen bestehe. Schlafe gut
H. 230
Sie ging zur Tür seines Zimmers und schaute hinein, konnte ihn in der Dunkelheit aber nicht sehen. Dann trat sie ans Bett, in dem sie allein schlief, blies die Lampe aus, kleidete sich aus, legte sich hin und zog sich die Wolldecke über den nackten Körper. Sie dachte an den Leichnam. Wo würde man ihn beerdigen? Nicht in Frankreich, wie es sich der arme Jules gewünscht hatte, sondern hier in Miliana, auf einem französischen Friedhof, weit fort von daheim. Ihr kam ein Gesicht in den Sinn, an das sie sich nur undeutlich erinnerte, das Gesicht von Jules’ Frau, einer Bretonin, die kein Französisch, sondern nur die keltische Sprache ihrer Region beherrschte, eine Frau, mit der sie sich nicht unterhalten konnte, eine Frau, die Emmeline kaum kannte, obwohl sie ihre Wäscherin war. Jules’ Kind, ein kleiner dreckiger Junge, ritt manchmal auf einem Esel über die breiteren Wege, schlug mit einem Stock auf das Tier ein und schrie in rätselhaftem Vergnügen. Mutter und Kind würden diesen Abend vermutlich wie jeden anderen Abend verbringen und nicht wissen, daß sich ihr Leben vor einer Stunde auf immer verändert hatte. Als wäre zum Wecken geblasen worden, wachte Lambert pünktlich um sieben auf und kam in ihr Zimmer. Er ging an ihren Ankleidetisch, blickte in den Spiegel, streifte sein Haarnetz ab und kämmte sich sorgfältig. »Jules ist tot«, sagte sie. Er drehte sich nicht um, legte das Haarnetz zusammen. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Er starb letzte Nacht und hat uns gebeten, uns um seine Frau und seinen Sohn zu kümmern.« »Seine Frau und sein Sohn? Ja … wir müssen ihnen helfen, so 231
gut wir können. Armer Jules.« »Er hat nach dir gefragt.« Jetzt drehte er sich endlich zu ihr um und schaute sie an. »Was hast du gesagt?« »Ich sagte, er hat nach dir gefragt.« »Nein, ich meine, was hast du ihm gesagt? Hast du ihm gesagt, daß ich in Schwierigkeiten stecke? Er hätte das verstanden.« »Was hätte er verstanden?« sagte sie. »Er lag im Sterben.« »Ach ja, natürlich, du hast recht. Armer Jules. Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen.« Sie setzte sich auf den Diwan und schaute ihm zu, wie er sich im anderen Zimmer dieselben Kleider anzog, die er bei der gestrigen Vorstellung getragen hatte. »Ich brauche dich heute morgen übrigens nicht auf der Bühne«, sagte er. »Wir nehmen die Pistolen des Scheichs. Und da er sie mir reichen wird, solltest du vielleicht besser hierbleiben. Wenn etwas schiefläuft, möchte ich nicht, daß du dabei zuschaust.« »Hast du schon mit Deniau gesprochen?« »Noch nicht. Warum?« »Er hat mir gestern abend erzählt, daß er deinen Auftritt abbrechen will, wenn ihm dein Vorhaben zu gefährlich erscheint. Er meinte, du solltest mit deinen eigenen Pistolen schießen und kein Unglück riskieren.« Er starrte aus dem Fenster, dehnte und streckte seine Finger, wie er es oft tat, ehe er einen Kartentrick vorführte. »Deniau hat mir nichts zu befehlen. Er sollte mich lieber nicht daran hindern.« »Und wenn du Pech hast?« fragte sie. »Dann hast du in 232
vierundzwanzig Stunden zwei Frauen zu Witwen gemacht.« Er kehrte sich vom Fenster ab und starrte sie an. »Zwei Witwen? Wovon redest du denn?« »Eine Frau hast du bereits dazu gemacht«, sagte sie. »Madame Jules Guillaumin.« »Meine Liebe«, sagte er, klang aber verärgert. »Du wirst nicht zur Witwe, rede keinen Unsinn. Hör doch! Sie kommen.« Er ging an ihr vorbei, schob den Perlenvorhang zur Seite und trat auf den Balkon. Sie folgte ihm. Unten auf dem Platz schob und drängte sich außer der Schar der Scheichs, Marabuts und Kaïds, die zur gestrigen Vorstellung gekommen war, wohl die sechsfache Menge an Kabylen – Männer, Frauen und auch Kinder – durch das Tor ins Fort, um den Tod des ungläubigen Zauberers mitzuerleben. Und dann sah sie Deniau und Capitaine Hersant die Steintreppe heraufkommen. Deniau salutierte spöttisch, als er auf sie zukam. »Möchten Sie frühstücken?« fragte Capitaine Hersant. »Wir haben Zeit. Bou Aziz ist noch nicht da.« Lambert schaute sie an, aber sie schüttelte den Kopf. Deniau blickte auf das Gedränge im Hof und sagte: »Tut mir leid, wir haben versucht, das Volk zurückzuhalten, hatten aber keine Chance. Was gestern abend geschah und was heute morgen geschehen könnte, hat sich weit über die Grenzen von Miliana herumgesprochen. Dies wird ein historischer Augenblick. Und jetzt, Henri, sagen Sie mir bitte, was Sie vorhaben.« »Sie werden schon sehen«, sagte Lambert. »Aber Sie müssen mich vorher einweihen. Wenn Sie versagen, gibt es eine Tragödie. Außerdem würde es das Ende all dessen bedeuten, wofür wir bislang gearbeitet haben. Also habe ich ein 233
Recht darauf, es zu erfahren. Welches Risiko gehen Sie ein?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Lambert. »Aber glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue. Doch vorläufig habe ich noch zwei Bitten.« »Natürlich«, sagte Capitaine Hersant. »Wie können wir Ihnen behilflich sein?« »Bestellen Sie Champagner fürs Mittagessen. Wir müssen die Vorstellung feiern. Könnte sich aber auch Ihr Arzt für alle Fälle bereithalten?« »Arzt und Krankenträger warten unten«, sagte Deniau. »Gut. Und nun, meine Herren, wenn Sie mich bitte verlassen wollen, dann könnte ich noch einen Augenblick mit meiner Frau allein sein.« Capitaine Hersant schaute über den Platz und sagte: »Aha, das muß Bou Aziz sein.« Am Eingang zum Fort stiegen drei Reiter ab und suchten sich ihren Weg durch das Gedränge auf dem Hof. Die Menge wich zurück, um Platz zu machen; viele verbeugten sich und berührten ehrfürchtig das grüne Seidengewand des Marabuts, der sich wie stets schwer auf den Arm seiner Tochter stützte. Scheich Ben Amara ging voran und schwang die Pistolen über seinem Kopf, die er auch schon am Vortag gezückt hatte. Beim Anblick dieser Waffen schrie die Menge heiser auf. »Was rufen sie?« wollte Lambert wissen. Capitaine Hersant schaute Deniau an, als bitte er um die Erlaubnis, dolmetschen zu dürfen. »Sie wollen, daß er den Roumi-Zauberer tötet«, sagte Deniau. »Scheich Ben Amara ist der größte Unruhestifter in dieser Gegend.« 234
Der Scheich fuchtelte noch immer mit seinen Pistolen herum, blickte jetzt aber zu ihrem Balkon hinauf, richtete eine der beiden Waffen auf Lambert und rief auf französisch: »Deine Zeit ist abgelaufen, Roumi.« Dann wandte er sich um und machte vor Bou Aziz eine Verbeugung. »Seht, der Herr der Stunde ist eingetroffen. Das Reich der Gerechten naht. Der Augenblick ist gekommen!« Während der Scheich redete, schüttelte Bou Aziz den Kopf, als wäre er dieser Prahlereien überdrüssig. Gelassen erwiderte er die Grüße der Menge, die sich um ihn drängte, und bahnte sich seinen Weg zu dem Platz, auf dem er auch tags zuvor gesessen hatte. Man wich vor ihm und seiner Tochter zurück. Deniau sah zu Lambert hinüber. »Wir werden unten auf Sie warten. Viel Glück!« »Danke«, antwortete Lambert und nahm Emmelines Arm. »Gönnen Sie uns noch fünf Minuten, meine Herren.« Er schob den Vorhang zur Seite und führte sie zurück ins Zimmer. »Es tut mir leid, daß ich dir all dies zumuten muß, Liebling, aber ich darf dir nicht verhehlen, daß es mir mißlingen könnte, dem Scheich die falsche Kugel unterzuschieben. Etwas Derartiges habe ich noch nie versucht. Vielleicht verpatze ich die Sache, vielleicht läßt sich die Kugel auch nicht in den Lauf schieben, oder er erschießt mich kaltblütig, ehe ich Zeit für meine Vorbereitungen hatte. Doch ich sage dir das nicht, weil ich dich beunruhigen möchte, sondern für den Fall, daß etwas schiefläuft … Ach, was rede ich denn? Es wird nichts schieflaufen. Gib mir einen Kuß. Ich muß jetzt gehen.« »Ich bitte dich zum letzten Mal, Henri, nimm deine eigenen Pistolen!« »Ich kann mein Versprechen nicht mehr rückgängig machen, 235
die Schande wäre zu groß.« »Wenn du einen Sohn hättest, wenn du heute morgen ein lebendes Kind hättest, würdest du es dann immer noch tun?« Ohne ihre Worte zu beachten, trat er zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Wünsche mir Glück. Sie warten auf mich.« Der Perlenvorhang raschelte, dann war er draußen. Einen Augenblick später hörte sie ein lautes Stöhnen aus der Menge aufsteigen, als man ihn auf dem Balkon erblickte. Sie spürte, wie sie zitterte. Er ist nicht richtig vorbereitet. Er wird sterben. Wo ist Deniau? Er muß ihn aufhalten. Sie rannte durch das Zimmer, riß den Vorhang zur Seite und eilte auf den sonnenbeschienenen Balkon. Sie sah, wie ihr Mann, begleitet von Deniau und Hersant, langsam zur Bühne ging, sah ihn mit regloser Miene durch die dichte Menschenmenge schreiten, die bei seinem Anblick verstummte und vor ihm zurückwich. Dann nickte er Bou Aziz zu, der in der ersten Zuschauerreihe saß, stieg zur leeren Bühne hinauf und starrte in abertausend Gesichter. »Ich bin bereit«, rief er. Ein Dolmetscher wiederholte seine Worte. Für Emmeline oben auf dem Balkon klangen sie wie das Läuten der Sterbeglocke. Sie sah, wie die Menge den Weg für Scheich Ben Amara frei machte, der mit Bart, weißem Burnus, gelben, hohen Stiefeln und goldbestickter Weste lächelnd näher kam und erneut seine schweren Reiterpistolen schwenkte. Verächtlich mied er die Stufen, schwang sich mit einem Satz auf die Bühne, wandte sich zu Lambert um und rief auf französisch, wenn auch mit starkem Akzent: »Nun, Zauberer, willst du meine Pistolen untersuchen?« 236
Lambert nickte und nahm die Waffen. Er schaute zu den unten sitzenden Marabuts herab und sagte: »Ich brauche einen Freiwilligen, der die Läufe überprüft und nachsieht, ob sie sauber sind.« Gleich stand ein Marabut auf und ging auf die Bühne. Wie ein Schauspieler in einem Stück untersuchte er mit ernster Miene die Läufe und hielt die Pistolen ins Licht. »Sauber?« fragte Lambert. »Sauber«, erwiderte der Marabut. »Gut, fahren Sie fort«, sagte Lambert. Der Scheich nahm aus seinem Beutel eine Ladung Pulver und stopfte mit dem Ladepfropf erst die eine, dann die andere Pistole. »Haben Sie Ihre eigenen Kugeln?« fragte Lambert. Der Scheich hielt ihm lächelnd eine lederne Schatulle mit Kugeln hin. Lambert suchte sich eine Kugel aus, zeigte sie der Menge und lud die Pistole. Dann nahm er die zweite Pistole, suchte sich eine weitere Kugel aus und lud die Waffe. Dann hielt er beide Pistolen in die Höhe und legte sie schließlich auf einen Tisch neben dem Scheich. Anschließend hob er den Blick suchend zum Himmel. Emmeline, die vom Balkon aus zusah, begriff, daß er nach ihr Ausschau hielt. Sie winkte ihm zu. Er sah sie und hob die rechte Hand zum Gruß. War es ihm geglückt? Oder hatte er versagt? War dies sein Abschiedsgruß? Sein gleichmütiges Gesicht verriet ihr nichts, und doch überfiel sie Panik. Bestimmt war es ihm nicht gelungen, und dies war sein Ende. Wie ein Duellant, der Position bezieht, so maß er exakt fünfzehn Schritte auf der Bühne ab, blieb dann stehen und drehte sich um. Es herrschte eine derart tiefe Stille, daß man 237
deutlich das morgendliche Treiben draußen auf der Straße hören konnte. Lambert blickte den Scheich unverwandt an. »Ich bin bereit.« Scheich Ben Amara nahm die erste Pistole vom Tisch, hielt sie ruhig und zielte direkt auf Lamberts Brust. Sein bärtiges, bis dahin ernstes Gesicht verzog sich zu einem wilden Grinsen. »Deine Zeit ist abgelaufen, roumi.« Er feuerte. Die Pistole explodierte mit lautem Krachen, doch Lambert fiel nicht zu Boden. Er stand da, schwankte ein wenig und zeigte dann auf seinen Mund. Er hielt die Kugel zwischen den Zähnen. Schwindlig vor Erleichterung hörte Emmeline, wie die Menge unten auf dem Hof den angehaltenen Atem ausstieß. Lambert nahm die Kugel aus dem Mund, zeigte sie der Menge, ging dann rasch zum Scheich und gab sie ihm, damit er sie genau untersuche. Bestürzt musterte Ben Amara die Kugel, ließ sie auf den Tisch fallen und griff zur zweiten Pistole. Doch Lambert hielt ihn zurück, nahm ihm rasch die Waffe ab und hielt sie in die Höhe. »Sie haben mich nicht verwunden können«, sagte er. »Das kann niemand. Doch jetzt werden Sie sehen, wie gefährlich es ist, mich als Ziel zu wählen. Schauen Sie auf die Wand.« Er drehte sich zur weiß getünchten Wand um, die den Hintergrund der Bühne bildete, richtete die Pistole darauf und drückte ab. Als der Schuß verhallte, tauchte plötzlich ein roter Fleck auf der getünchten Fläche auf, besudelte die Wand. Rote Tropfen rannen herab. Scheich Ben Amara senkte den Blick, als wäre er selbst und nicht die Wand getroffen worden. Dann sah er wieder auf und schaute den Zauberer an, ehrfürchtiges Entsetzen im Gesicht. Schließlich drehte er sich um und blickte 238
in die Menge. Emmeline machte auf dem Balkon einen Schritt nach vorn und umklammerte mit beiden Händen die steinerne Brüstung. In diesem Augenblick war die Stille auf dem Platz so vollkommen, daß sie hören konnte, wie ihre Schuhe leise über den Boden scharrten. Reglos, wie zu einem Gemälde erstarrt, waren die unzähligen Gesichter gebannt auf den roten Fleck an der Wand gerichtet. In diesem Moment der Furcht und der panischen Angst erhob sich Bou Aziz von seinem Platz in der ersten Reihe. Vorsichtig betrat er mit den Schritten eines alten Mannes die Bühne, ging zur Wand, tauchte seinen Finger in die rote Flüssigkeit, führte ihn zum Mund und kostete davon. »Blut?« fragte Lambert. Bou Aziz nickte. Dann kehrte er sich den weit aufgerissenen, verängstigten Augen der tausend Zeugen zu. Als er sprach, klang seine Stimme gemessen und ruhig. Doch die Menge keuchte auf, ihre Blicke wanderten von ihm zu Lambert. Und als er geendet hatte, schrien viele Menschen: »Mohammed Ibn Abd Allah!« Bou Aziz hob die Hand, als wollte er dem Geschrei Einhalt gebieten. Dann wies er auf seine Tochter, die zur Bühne hinaufstieg und auf französisch zu Lambert und den versammelten Fremden wie auch zu Emmeline sprach, die oben auf dem Balkon nur mit Mühe ihre Worte verstand. »Mein Vater sagt, daß wir noch keinen Zauberer sahen und auch keinen je sehen werden, der es mit Ihnen aufnehmen kann. Wie Blitz und Donner hat der Himmel Sie entsandt, um uns vor jener Macht zu warnen, die Gott den Ungläubigen schenkte, welche uns in der Vergangenheit eroberten. Mein Vater weiß, 239
daß viele unter euch, Araber wie Kabylen, glauben, er, Bou Aziz, sei der Herr der Stunde, der Auserwählte Gottes. Dieser Glaube veranlaßte euch, ihn zu bitten, er möge verkünden, daß der rechte Augenblick gekommen sei. Denn sobald der rechte Augenblick gekommen ist, muß der Dschihad beginnen. Wenn aber der rechte Augenblick gekommen ist und die Prophezeiungen sich erfüllen, dann muß mein Vater der uns endlich erschienene, wahrhaftige Mahdi sein, mit Baraka gesegnet, jener inneren Kraft, die mächtiger als die eines jeden Ungläubigen ist. Doch er sagt, heute und gestern haben wir mit unseren eigenen Augen gesehen, wie Sie, ein Ungläubiger, übermenschliche Wunder vollbrachten. Wir haben gesehen, daß Gott Sie auch ohne Ihren Talisman vor dem beschützte, was für andere den sicheren Tod bedeutet hätte. Mein Vater sagt: Wie eh und je wissen wir, Gott allein ist groß. Alles kommt von IHM, alles, auch die Wunder, die Sie heute vollbrachten. Deshalb möchte sich mein Vater für kurze Zeit an einen Ort der Khalwa, einen Ort der Ruhe zurückziehen. Er wird dort allein bleiben, um sich dem Gebet und der Meditation hinzugeben, und er wird Gott fragen, ob der Augenblick tatsächlich gekommen ist oder ob Gott uns dadurch, daß er einen ungläubigen Zauberer mit solch großen geistigen Kräften schickte, sagen will, daß Ihr die Stärkeren seid. Zum Schluß bittet mein Vater die hier versammelten Scheichs, Kaïds und Agas für die Dauer seiner Khalwa in Miliana zu bleiben und um eine Antwort auf die Frage zu beten: Wird die Regentschaft der Gottlosen nun ein Ende nehmen und die Zeit der wahrhaft Frommen beginnen? Ist für meinen Vater der rechte Augenblick gekommen, den wahren Namen des Mahdi anzunehmen, Mohammed Ibn Abd Allah, der Erwählte, 240
der die Ungläubigen aus unserem Land vertreibt?« Kaum hatte Bou Aziz’ Tochter geendet, nahm sie ihren Vater auch schon beim Arm und half ihm die Bühne hinunter. Zusammen gingen sie zum Tor, wo ihre Pferde warteten. Scheich Ben Amara nahm seine Pistolen und folgte ihnen. Immer wieder hörte Emmeline den Ruf »Mohammed Ibn Abd Allah« aus der Menge, die trotz ihrer Verehrung für den Marabut, noch während sie den Namen des Mahdi rief, immer auch verstohlen zur schlanken, stummen Gestalt auf der Bühne blickte. Mit dem untrüglichen Instinkt des Schauspielers hatte sich Lambert während der Übersetzung nicht gerührt und wartete, bis Bou Aziz den Platz verlassen hatte, ehe er die Bühne verließ und mit langsamen, feierlichen Schritten dem dichtesten Gedränge zustrebte, den Blick unentwegt geradeaus gerichtet, als wäre das Publikum unsichtbar. Wie in Algier wichen die Scheichs, Marabuts und Kaïds vor ihm zurück, ließen den Zauberer nicht einmal auf Armeslänge an sich herankommen, und wieder hörte Emmeline dasselbe Murmeln wie im Theater in der Rue Bab Azoun.
»Schaitan! Schaitan!« Doch diesmal flüsterte man das Wort voller Entsetzen. Ihr Gatte, Henri Lambert, ein gewöhnlicher Mann, war für diese Menschen mehr als nur ein Heiliger. Er war der Schaitan, der Satan persönlich. Doch als Deniau und Hersant zu Lambert gingen, um ihm die Hand zu schütteln und ihm zu gratulieren, rannte Emmeline die Treppe in den Hof hinunter, eilte ihm entgegen und dachte daran, daß er erst vor wenigen Augenblicken sein Leben für diesen Sieg riskiert hatte. Während sie über den Platz rannte, wichen die Kabylen vor ihr zurück, ließen sie vorbei und sahen 241
ihr erstaunt nach, als sie weinend den Zauberer umarmte und seine Wange streichelte. »Es ist alles vorbei, Liebling«, sagte er. »Nimm meinen Arm. Wir müssen unseren Abgang machen.« Verwirrt und von den feindseligen Blicken der Kabylen erschreckt ging sie mit ihrem Mann, Deniau und Hersant zum Hauptsaal des Forts. Kaum waren sie im Haus, schloß ein Adjudant der Zuavenwache die schwere Holztür hinter ihnen und verriegelte sie. Dann und erst dann lächelte Lambert und klatschte triumphierend in die Hände. »Nun, meine Herren, haben wir es geschafft oder haben wir es nicht geschafft?« »Sie haben es geschafft!« rief Deniau. »Meinen Glückwunsch, lieber Freund. Aber wie haben Sie es geschafft? Wirklich erstaunlich. Klären Sie uns auf.« »Nein, nein«, sagte Lambert und kicherte vergnügt. »Ein Wunder kann man nicht erklären. Wie der Marabut schon sagte: ›Alles kommt von Gott.‹« Die Offiziere und die wenigen Frauen, die sie hierher zu diesem fernen Außenposten begleitet hatten, drängten sich nun um Lambert und sprachen ihm ihre Anerkennung aus. Gefreite brachten Tabletts mit Champagner herein. Emmeline, die im Ansturm der Gratulanten vergessen schien, stand ein wenig abseits vom Gedränge um Lambert und sah, wie er seinen Bewunderern zulächelte. Dieser Mann, der noch vor wenigen Augenblicken den Afrikanern wie Satan selbst erschienen war, dieser Mann ist das, was mein Vater schon immer in ihm gesehen hat. Ein Scharlatan. Sie dachte an Bou Aziz, an seine ernste, würdevolle Rede, an seine Absicht, zu Gott um Rat zu beten. Und in diesem Augenblick, im Hof eines französischen, von grenzenloser Wüste umgebenen Forts, dachte sie an das Arbeitszimmer des Kaisers in Compiègne, an den Kaiser mit 242
dem gewichsten Schnauzer und dem Lächeln eines Lüstlings, wie er seine lange Zigarre paffte. »Ich habe große Pläne für Algerien. Nächstes Jahr im Frühling werde ich unsere Armeen nach Afrika führen, die Kabylei unterwerfen und die Eroberung des gesamten Landes zum Abschluß bringen.« Doch die Eroberung des Kaisers würde das Volk nicht ›zivilisieren‹, wie er es versprochen hatte, sondern nur noch mehr Forts, mehr Soldaten, mehr Straßen und mehr französische Kolonisten bringen, die vom algerischen Handel und von der Ernte dieses Landes profitieren wollten. Und es würde nur noch mehr Mahdis geben, mehr Kriege, mehr Unterdrückung. Man schlug den Gong zum Essen. Lambert löste sich von seinen Bewunderern, ging zu ihr, bot ihr seinen Arm an und führte sie in den Speisesaal, wo man ein kleines Fest vorbereitet hatte. Ein Majordomus wies ihnen den Platz an, ihr Gatte zu ihrer Rechten, Colonel Deniau zu ihrer Linken. Wie in Compiègne, wo der Kaiser und die Kaiserin die mittleren Sitze an der langen Tafel eingenommen hatten, so saßen sie und Lambert nun an diesem Vormittag im fernen Miliana auf den Ehrenplätzen. Als man den ersten Gang brachte, sagte Deniau: »Natürlich hat sich jetzt einiges geändert, doch hat man uns um den triumphalen Abgang gebracht.« »Ich wollte Sie schon danach fragen«, erwiderte Lambert. »Er ist schließlich nicht umsonst der größte Marabut. Was hätte er tun sollen? Er mußte auf Zeit spielen, sein Gesicht wahren, etwas planen, das die Wunder dieses Morgens entkräftigt. Das wird ihm zwar kaum gelingen, doch dürfen wir ihm dabei nicht helfen, indem wir das Schlachtfeld vorzeitig räumen.« »Aber«, sagte Lambert, »diese ›Meditation‹ kann Wochen 243
dauern. Und Sie haben uns geraten, vor Ausbruch der Regenzeit, also vor Monatsende, nach Algier zurückzukehren.« »Es tut mir leid, Henri, es tut mir leid, Emmeline. Wir können jetzt nicht zurück. Doch ich hoffe, diese ›Meditation‹ dauert nur einige Tage. Länger kann er es kaum hinauszögern. Die Scheichs und Marabuts sind daheim wichtige Leute, die sicher nicht endlos in Miliana warten wollen.« »Aber was ist, wenn der Regen kommt? Was, wenn wir unseren Dampfer verpassen?« »Wir werden uns um das Problem kümmern, wenn es soweit ist. Bis dahin sollten Sie sich vor allem möglichst oft auf den Straßen der Stadt blicken lassen, damit Sie und Ihre Macht in den Köpfen der Leute präsent bleiben. Wir wollen einen weiteren Empfang für die Scheichs vorbereiten, auf dem Sie natürlich ebenfalls anwesend sein sollten. Sie sind Bou Aziz’ Verderben. Sicher regen sich schon erste Zweifel bei den Scheichs, ob er wirklich der prophezeite Mahdi ist. Und Bou Aziz muß diese Zweifel durch irgendeine große Tat ausräumen. Doch was soll er tun? Seine ›Wunder‹ sind eigentlich keine Wunder, sondern Gesundbeterei, die auf dem unbewiesenen Gerücht basiert, daß er der Erwählte des Propheten sei. Kein Vergleich also mit dem, was die Scheichs hier in den letzten zwei Tagen erlebt haben. Jedenfalls bin ich zuversichtlich, recht zuversichtlich sogar.« »Zuversichtlich?« fragte Emmeline. »Was erhoffen Sie sich denn? Daß Henris Vorstellung Bou Aziz in Mißkredit gebracht hat und daß seine Anhänger ihn verlassen? Oder daß er den Gedanken an den Heiligen Krieg aufgibt?« »Ehrlich gesagt«, erwiderte Deniau und lächelte, »will ich eigentlich gar nicht, daß er seine Anhänger verliert. Ich hoffe, daß er die Entscheidung durch eine List hinauszögert, indem er 244
etwa einen inneren Dschihad ausruft. Das wurde in der Vergangenheit auch schon von einigen Möchtegern-Mahdis gemacht, um Zeit zu gewinnen und breitere Unterstützung zu suchen.« »Ein innerer Dschihad?« fragte Lambert. »Was soll denn das nun wieder sein?« »Statt den Heiligen Krieg auszurufen, verkündet er, daß man sich nach innen kehren, sich dem Gebet und der Arbeit zuwenden solle, um den Glauben zu stärken. Das würde hervorragend in unsere Pläne passen, wissen wir doch, daß General MacMahon bereits die nötigen Truppen zusammenzieht, um im Frühjahr losmarschieren zu können. Und wenn unsere Truppen in Algier erst einmal an Land gegangen sind, ist es bald vorbei.« Bei diesen Worten nahm Deniau ein Messer und klopfte damit an sein Glas. Dann stand er auf und hob zu einem Trinkspruch an: »Auf einen patriotischen Franzosen, der heute morgen sein Leben riskierte und sein Genie auf die Sache Frankreichs verwandte, unsere Heimat, die dieses Land zivilisieren und es zu einem wichtigen Bindeglied innerhalb unseres Imperiums machen will. Auf Monsieur Henri Lambert.« Stühle wurden gerückt, als die Tischgesellschaft aufstand, um den Toast auf Lambert auszubringen. Emmeline sah, wie ihr Mann lächelte und in gespielter Demut den Kopf senkte. Natürlich freute es ihn, daß er noch einige Tage bleiben würde. Er wußte, daß Bou Aziz kein vergleichbares ›Wunder‹ vollbringen konnte. Man würde ihm zu Ehren Empfänge und Essen geben, doch was, wenn dies alles vorbei war? Mit den bezahlten Aufführungen in Theatern würde Lambert sich wohl kaum noch zufriedengeben. Heute war der Höhepunkt seines 245
Lebens. Als man den ersten Gang auftrug, wandte sich Deniau zu ihr um und strich sanft mit den Fingern über ihren Arm, als bemühe er sich, jene Atmosphäre heimlicher Komplizenschaft wiederherzustellen, die ihren Mann ausschloß. »Und Sie, liebe Emmeline, wie gefällt Ihnen der Gedanke, noch ein wenig zu bleiben? Ich muß gestehen, ich wage gar nicht an den Tag zu denken, an dem ich in Algier am Kai stehe, um der nach Marseille zurückdampfenden Alexander nachzuwinken.« Er lächelte, neigte den Kopf beinahe ein wenig kokett zur Seite und wartete auf ihre Antwort. »Wann wird man Jules beerdigen?« »Jules? Ach so, Henris Diener. Ist er …? Natürlich. Wann ist es passiert?« »Heute früh.« »Dann hat man ihn wahrscheinlich schon beerdigt. Bei Cholera verscharrt man die Leichen gern so rasch wie möglich. Die Männer fürchten sich davor, und das nicht zu Unrecht, schließlich hat die Cholera in Algerien mehr von unseren Soldaten getötet als alle Schlachten der letzten vierzig Jahre zusammen.« »Cholera? Mir hat niemand gesagt, daß es die Cholera war.« Deniau zuckte die Achseln. »Wir wollten Sie nicht unnötig erschrecken.« »Und Sie wußten, daß er sterben mußte?« »Das war nicht sicher, ist es nie. Wenn man nach drei Tagen nicht stirbt, nimmt die Seuche einen normalen Verlauf, und am siebten Tag beginnt man, sich zu erholen. Man kann nie wissen. Außerdem wollte ich Sie schonen.«
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»Mich schonen?« »Und Ihren Mann. Hätte er gewußt, daß sein Diener im Sterben lag, hätte er sich vielleicht nicht auf seine Vorstellung konzentrieren können. Das mag herzlos klingen, aber glauben Sie mir, es wäre sinnlos gewesen, es Ihnen oder ihm zu erzählen.« Sie legte die Serviette auf den Tisch, drehte sich zu ihrem Mann um und sagte: »Deniau meint, daß man Jules vielleicht schon beerdigt hat. Ich gehe nachschauen. Wenn es eine Beerdigung gibt, müssen wir natürlich hingehen.« »Warte«, sagte Lambert. »Soll Charles sich darum kümmern. Wir sind heute Ehrengäste. Bitte!« Doch sie stand auf und verließ den Saal. Draußen im Innenhof war das schwere Holztor verbarrikadiert, das auf den großen Platz führte. Zuavenwachen nahmen Haltung an, als sie näher kam. Ein Adjudant salutierte. »Madame wollen hinaus?« »Ja.« »Draußen auf dem Platz gibt es einen Menschenauflauf«, sagte der Adjudant. »Wir wollten die Menge nach der Vorstellung auseinandertreiben, aber sie wartet auf Ihren Mann. Wollen Sie da wirklich hinaus, Madame?« »Ja, ich muß ins Krankenrevier.« »Dann komme ich mit. Sie werden vielleicht einen Begleiter brauchen.« Das schwere Tor wurde aufgestoßen. Als sie mit dem Adjudant hinaustrat, grüßte sie ein Meer von Gesichtern, ein großes Gedränge von Männern und Frauen in den abgetragenen und zerlumpten Kleidern kabylischer Bauern. Anfangs kehrte man sich enttäuscht von ihr ab, da sie nur eine Frau und nicht 247
der Zauberer war, doch als sie sich ihren Weg durch die Menge auf dem Platz suchte, erkannte man in ihr die Frau der Zauberers, und sogleich wurde sie von den Leuten mit Fragen bestürmt, die sie nicht verstand. »Was wollen die? Können Sie die verstehen?« fragte sie den Adjudant. Der Adjudant lauschte auf das Geschrei. »Einige fragen, ob der Roumi-Zauberer Kranke heilen kann, andere sagen, er sei der Teufel. Achten Sie einfach nicht darauf, Madame. Die Kabylen hassen uns, sie haben Fremde schon immer gehaßt, aber die hier sind wenigstens nicht gefährlich. Kommen Sie.« Sie hatten die Tür zum Krankenrevier erreicht. »Soll ich auf Sie warten, Madame?« »Danke, aber das ist nicht nötig.« Als sie die Krankenstation betrat, wurde sie sogleich mit dem Anblick von sieben Soldaten konfrontiert, die in langen Nachthemden vor einem Tisch im Flur warteten, an dem ein Armeearzt mit weißem Kittel über seiner Uniform Spritzen verabreichte. Der Arzt, der sie vom Essen am Tag zuvor wiedererkannte, ließ sogleich seine Patienten im Stich und ging ihr lächelnd entgegen: »Guten Tag, Madame. Wie ich hörte, hat Ihr Mann heute morgen einen phantastischen Erfolg zu verzeichnen gehabt. Ich wäre gern selbst zur Feier gekommen, aber wie Sie sehen, habe ich zu tun. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?« »Der Assistent meines Mannes, wissen Sie noch? Er hatte Cholera und ist heute früh gestorben. Ich wollte fragen, wann seine Beerdigung ist.« Beim Wort Cholera warf ihr der Arzt einen warnenden Blick zu, nahm ihren Arm und führte sie auf den Flur, fort von den 248
wartenden Patienten. »Adjudant?« Ein dunkelhäutiger Sanitätsgefreiter, der beim Verabreichen der Spritzen geholfen hatte, eilte ihm nach. »Ja?« Der Arzt überließ Emmeline einen Augenblick sich selbst und flüsterte dem Gefreiten etwas ins Ohr. Daraufhin wandte sich der Gefreite an Emmeline: »Der Leichnam ist nicht mehr hier, Madame. Pater Benedict hat ihn vor einer Stunde abgeholt. Man wird Monsieur Guillaumin hier in der Nähe auf dem Jesuitenfriedhof beerdigen.« »Aber wann? Und warum hat uns niemand Bescheid gesagt?« »Der Colonel hat heute früh die Vollmacht unterzeichnet, ohne Anweisung zu geben, daß man Sie oder Monsieur Lambert benachrichtigt. Und der Priester kam vor ungefähr einer Stunde.« »Das tut mir leid«, sagte der Arzt. »Man hätte Sie natürlich benachrichtigen müssen. Aber vielleicht wollte Colonel Deniau Ihren Mann heute morgen vor dem Auftritt einfach nicht beunruhigen.« »Wo ist der Friedhof? Hier in der Nähe, sagten Sie?« »Ja, Madame. Direkt an der Jesuitenkirche.« »Möchten Sie gern hingehen?« fragte der Arzt. »Ich könnte Ihnen jemanden mitgeben, der Ihnen den Weg zeigt.« Das Gebäude, in dem die Mission der Jesuiten untergebracht war und zu dem der Friedhof gehörte, unterschied sich von seinen Nachbarn nur durch ein steinernes Kreuz auf dem Dach und ein Schild im Torbogen des Eingangs mit der verschnörkelten Inschrift:
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Mission de Miliana Compagnie de Jésus Der Zuavesoldat, der Emmeline begleitet hatte, stieß das Tor auf, hinter dem ein großer Hof lag, in dessen Mitte eine Statue des Gekreuzigten stand. »Die Kirche ist das Gebäude dort drüben«, sagte der Soldat. »Pater Benedict ist jetzt wahrscheinlich auf dem Friedhof dahinter. Wir haben den Leichnam zwar schon vor einer Stunde gebracht, aber sie müssen das Grab noch schaufeln. Hier entlang, Madame.« Er führte sie durch die kleine Kirche auf einen von hohen, glatten Mauern umgebenen Platz. Schmale Wege verliefen im Zickzack über den kleinen Anger grob behauener Gedenksteine. Am anderen Ende warteten Pferd und Karren; der Fahrer, ein Zuavesoldat, döste auf seinem Sitz. Zwei kabylische Totengräber schwitzten in einem Sandloch. Und der Jesuit, den sie zuletzt in der gestrigen Nacht gesehen hatte, schaute ihnen zu. Anfangs entging ihr, daß er der Priester war, da er einen Burnus über seiner Soutane trug und den Kopf mit einem Fez bedeckt hatte. Er las im Gebetbuch, doch als er sie entdeckte, schloß er das Buch und kam auf sie zu. »Ich bin Pater Benedict«, sagte er. »Entschuldigen Sie, ich habe mich gestern abend nicht vorgestellt. Wollen Sie bleiben? Es dauert nicht lang. Das Grab ist schon fertig.« Noch während er sprach, stiegen die Kabylen aus dem Erdloch, warfen die Schaufeln zur Seite, gingen zum Karren, öffneten die Ladeklappe und zogen Jules’ Leichnam heraus, den man in einen groben Sack eingenäht hatte. Dann traten sie über den Haufen frisch aufgeworfener Erde und ließen die Leiche ins Loch gleiten. Pater Benedict nickte ihr zu, und gemeinsam gingen sie ans offene Grab. Die Totengräber nahmen ihre 250
Schaufeln zur Hand, und der Fahrer des Totenkarren stellte sich neben den Soldaten, der Emmeline hergeführt hatte. Beide Männer nahmen ihre Mützen ab und blieben respektvoll hinter dem Priester stehen, der sein Gebetbuch aufschlug und mit eintöniger Stimme etwas auf lateinisch vorlas, das Emmeline nicht verstand. In der Ferne hörte sie einen Singsang, das nachmittägliche Rufen eines Muezzins, der die Gläubigen vom Minarett einer zentral gelegenen Moschee zum Gebet rief. Als wären sie allein an diesem Ort, knieten sich die beiden kabylischen Totengräber sogleich an den Rand des Grabes, berührten mit der Stirn den Boden und begannen zu beten. Emmeline, ein wenig zur Seite gewandt, sah die beiden französischen Soldaten mit ihrem Käppi in der Hand, wie sie geduldig darauf warteten, in ihre Kasernen zurückkehren zu können. Sie beteten nicht. Dann schaute sie wieder auf die knienden Kabylen zu ihrer Rechten. Ein Gebet, von Millionen dieser Menschen gesprochen, kniend, mit gesenkten Köpfen, fünfmal am Tag an jedem Tag ihres Lebens, kein Bittgebet, sondern ein Gebet demütiger Hinnahme.
Alles kommt von Gott. Wir, die wir unbehaglich an diesem Grab stehen, Worte hören, die wir nicht verstehen, wir, die wir keinen Glauben kennen, der so stark wie der ihre ist, wir, die wir den Tod nicht hinnehmen können, die wir die Hölle fürchten und nur halb an den Himmel glauben – was bedeutet uns Gott? Was sagen uns die Worte dieses Priesters, der sich hinabbeugt und eine Handvoll Erde auf den Leichnam in diesem Grab wirft? Die Totengräber beendeten ihr Gebet, standen auf und griffen nach den Schaufeln, um das Loch wieder aufzufüllen. Währenddessen setzten die Soldaten ihre Mützen auf, nickten dem Jesuiten zu und gingen zu ihrem Karren. Der Soldat, der 251
Emmeline hergebracht hatte, wandte sich um, als wäre ihm etwas eingefallen. »Madame? Wollen Sie mitkommen?« Sie schüttelte den Kopf.
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Zwölf »Sie werden Begleitung haben«, sagte Deniau. »Ein Trupp Araber, beritten und bewaffnet. Der Scheich sagte mir, daß der erste Teil des Trupps kurz nach Sonnenaufgang zum Fort kommt. Könnten Sie beide bis acht Uhr fertig sein?« Lambert schaute sie an. »Wir richten uns nach dir, Liebling. Bist du damit einverstanden, oder möchtest du lieber hierbleiben?« »Ich werde fertig sein«, sagte sie. Als sie vom Friedhof zurückkam, hatte er sich nach Jules erkundigt, doch sie hatte geantwortet, daß sie nicht darüber reden wolle, und so hatten sie sich in feindseligem Schweigen zum Essen gesetzt. Nachdem sich nun Deniau und Hersant zu ihnen gesellt hatten, um über ihre Pläne für den morgigen Tag zu sprechen, bemühte sich Lambert, ihre Verstimmung zu überspielen. »Ich denke, es wird Ihnen gefallen«, sagte Deniau. »Bou Allem ist der wichtigste Aga dieser Gegend, und wenn man von ihm zu einem Fest eingeladen wird, hat das etwas zu bedeuten.« »Und wieso?« fragte Lambert. »Unsere Agenten haben uns informiert, daß er vor kurzem auf einem Treffen der Scheichs und Marabuts in Algier versucht hat, Bou Aziz’ Anspruch für nichtig zu erklären. Es heißt, er habe vor der Versammlung die Gegenwart der Franzosen in Algerien ein großes Unglück genannt, doch zugleich davor gewarnt, einen falschen Propheten zu unterstützen, denn das würde sich als ebenso katastrophal erweisen, selbst wenn dieser Prophet die Ungläubigen vernichten wolle. Unser gestriger 253
Triumph hat ihm also in die Hände gespielt. Und indem er Sie morgen zu einem Fest einlädt, gibt er den übrigen Scheichs zu verstehen, daß er Bou Aziz nicht für den wahren Mahdi hält.« Um acht Uhr sahen Emmeline und Lambert am nächsten Morgen vier Reiter im Hof: Deniau, Hersant und zwei junge Lieutenants eines Zuavenregimentes. Stallburschen hielten zwei weitere Pferde am Zügel. Kaum waren Henri und Emmeline aufgestiegen, ritten sie hintereinander durch die Straßen von Miliana. Dort schlossen sich ihnen zehn arabische, mit Gewehren bewaffnete Reiter in roten Burnussen als Begleitschutz an. »Bou Allems Leute«, sagte Hersant. »Und dies ist erst der Anfang.« Als sie die Stadttore passierten, schlossen sich weitere zwanzig bewaffnete Araber in roten Burnussen ihrem Zug an. Knapp zweihundert Meter später umringte sie ein dritter Begleittrupp, und als sie die offene Ebene erreichten, stießen noch einmal zwanzig Reiter zu ihnen. Alsdann fiel der gesamte arabische Trupp, über siebzig Reiter inzwischen, in Galopp und ließ sie hinter sich zurück. Fünfhundert Meter weiter rissen die Araber dann plötzlich ihre Pferde zurück und teilten sich in vier Einheiten. Die Araber der ersten Abteilung machten kehrt und ritten in vollem Galopp auf Deniaus Gruppe zu, fuchtelten mit den Gewehren und stießen wilde Kampfschreie aus. Immer schneller und schneller kamen sie ihnen entgegen, bis es aussah, als wollten sie die Europäer über den Haufen reiten. Im letzten Moment feuerten sie dann plötzlich wie ein Mann die Gewehre über ihre Köpfe ab, zügelten die Pferde zu stürmischem Halt, daß die Tiere sich aufbäumten, rissen sie auf den Hinterbeinen herum und jagten zurück. Kaum hatten sie sich der übrigen 254
Reitertruppe rotgewandeter Araber wieder angeschlossen, stürmte den Europäern ein zweiter Trupp entgegen und wiederholte das gefährliche Manöver in der gleichen, halsbrecherischen Geschwindigkeit. Trupp nach Trupp stürmte so auf sie zu, bis alle siebzig Mann ihre Gewehre abgefeuert hatten. Dann kehrte plötzlich Stille ein, und sie formierten sich wie auf dem Exerzierplatz hinter ihren Gästen in Reih und Glied. Deniau lenkte sein Pferd an Emmelines Seite und sagte mit zufriedenem Lächeln: »Meine liebe Emmeline, das nennen die Araber eine fantasia. Eine Überraschung, ein besonderer Willkommensgruß. Großartig, nicht wahr? Und Sie haben sich ausgezeichnet gehalten. Ich habe Sie beobachtet, nicht ein einziges Mal sind Sie zusammengezuckt.« Wie eine Erscheinung schimmerte vor ihnen in der weiten Ebene ein Lager in der Mittagssonne auf, ringförmig um ein großes, mit farbenfrohen Teppichen behangenes Kuppelzelt angeordnet. In einem Gehege sah Emmeline Kamele, Pferde, Schafe und Ziegen, die von bewaffneten Reitern gehütet wurden. Deniau ritt zwischen Emmeline und Lambert und sagte, daß der Aga sie nun erwarte. »Selbst wenn er auf Reisen ist, umgibt er sich mit einem großen Troß von Kriegern, Frauen und Dienern. Aber Sie sehen ja selbst, daß dies kein gewöhnliches Lager ist.« In einigen hundert Metern Entfernung erschien ein Reiter zwischen den Zelten und ritt den Europäern und ihrer Eskorte in langsamem Trab entgegen. Als er näher kam, hoben die Araber die Gewehre und feuerten gleichsam einen Gruß in die Luft. Jetzt erst erkannte Emmeline, daß der Reiter den hohen Turban und die bestickte Weste eines Scheichs trug. Er war ein Mann mittleren Alters, hellhäutig, mit Bart und kaltem, 255
abschätzigem Blick. Als er sie erreichte, zügelte er sein Pferd und nickte zuerst Deniau zu, verbeugte sich dann respektvoll vor Lambert und sagte etwas auf arabisch, was Deniau mit den Worten übersetzte: »Seien Sie willkommen, Gesandter Gottes.« Sie folgten dem tänzelnden Hengst des Agas in die Zeltstadt. Ihre Begleiter zügelten ihre Pferde und warteten, während Deniaus Gruppe mitten hinein ins chaotische, laute Lagerleben ritt. Männer, Frauen und Kinder rannten herbei und versammelten sich vor dem Eingang zum Zelt des Agas, während die Gäste hineingeführt wurden. Im Zelt hieß man sie auf einem großen Teppich Platz nehmen. Kaffee wurde serviert, wobei Emmeline sich im Hintergrund hielt und vom Aga und seinen Söhnen kaum beachtet wurde, während man den männlichen Gästen Tabakpfeifen anbot. Nachdem man eine halbe Stunde Kaffee getrunken und Pfeife geraucht hatte, klatschte der Aga in die Hände. Diener schlugen Zeltbahnen beiseite, und Emmeline sah eine kleine Prozession, angeführt von zwei Männern, die zusammengerollte Fahnen zu tragen schienen. Doch als sie das Zelt betraten, erkannte Emmeline, daß an den langen Stangen, die sie trugen, keine Flaggen, sondern ganze, gegrillte Lämmer hingen. Den Lammträgern folgten fünfzehn Männer, von denen jeder ein weiteres Festgericht trug. Gebratenes Geflügel, verschiedene Arten Couscous, Zuckerkuchen, Datteln und Speisen, die Emmeline nicht zu identifizieren wußte, wurden vor ihnen abgestellt, während der Koch die Lämmer vom Spieß zog und das Fleisch auf eine Platte häufte, um es dann mit seinen Assistenten vor dem Aga und seinen Gästen aufzubauen. Mitten in dieser Pracht dachte Emmeline an den gerade erlebten Anblick, an die Reiter der fantasia, die ihre Gewehre über den Köpfen schwenkten, daran, wie stolz sie auf ihre 256
Reitkünste waren, an ihr triumphales Kriegergehabe. Ihr kamen die grands boulevards von Paris in den Sinn, diese ungeheuren, geraden Durchgangsstraßen, auf denen Monate zuvor Tausende von Soldaten zur Feier des Sieges auf der Krim am Kaiser vorbeidefiliert waren. Damals hatte sie die Schlagkraft der französischen Armee gesehen: Lafettenwagen, Kanonen, Regimenter, Infanterie, Kavallerie; Flaggen und Standarten, die von gefochtenen Schlachten und gewonnenen Kriegen gegen andere Großmächte kündeten. Im Frühjahr wird dieser Aga, der nun Deniau und meinen Gatten umwirbt, das Opfer eines Zaubertricks. Und wenn mein Mann nicht in dieses Land gekommen wäre? Wenn der Glaube dieser Leute nicht von Henris ›Wundern‹ erschüttert worden wäre? Was, wenn Bou Aziz sie ignorierte, wenn er trotz allem den Heiligen Krieg ausriefe und uns so aus diesem, aus ihrem Land vertriebe? Deniau beugte sich zu ihr vor und wählte aus all dem Fleisch einen Lammstreifen für sie aus. »Wirklich köstlich«, sagte er. »Sie müssen einfach davon probieren. Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß es ein prächtiges Fest wird.« »Entschuldigen Sie«, erwiderte Emmeline, »aber ich habe keinen Appetit.« »Sie sind doch nicht krank, oder?« »Nein.« »Bestimmt nicht? Wir sind schließlich mit dem Diener Ihres Mannes gereist, haben vom selben Essen gegessen, dasselbe Wasser getrunken. Ich möchte Sie nicht erschrecken, aber noch bleibt ein gewisses Risiko.« »Ich bin nicht krank«, sagte sie, beugte sich vor, griff in den Fleischberg, riß, wie sie es bei anderen gesehen hatte, ein Stück ab und begann zu essen. »Sehen Sie? Sie brauchen keine Angst 257
zu haben.« »Gut. Das Fleisch ist wirklich ausgezeichnet, finden Sie nicht?« Noch während er dies sagte, wandte er sich von ihr ab, um mit einem jungen Kaïd zu ihrer Linken zu reden. Er wollte ihr damit fraglos eine Abfuhr erteilen, das war ihr klar. Jetzt, da er seine Mission erfüllt, ihren Mann nach Afrika gebracht und dessen Vorstellung ermöglicht hatte, brauchte dieser verschlagene, attraktive Diplomat der Frau des Zauberers nicht länger den Hof zu machen. Wenn wir in einigen Wochen auf der Alexander heimsegeln, wird er hierbleiben, wird Pläne machen, Neues aushecken und auf seine Spione hören. In einem Jahr kann er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an meinen Vornamen erinnern. Auch im weiteren Verlauf des Essens wurde sie die meiste Zeit einfach übergangen. Allein, vom Gespräch ausgeschlossen, erinnerte sie sich an Deniaus Warnung. Cholera. Das war natürlich etwas, was sie bedacht hatte, etwas Erschreckendes, was aber angesichts ihrer Schuldgefühle und in der Trauer um Jules’ Tod untergegangen war. Jetzt kam die Erinnerung an seinen abgezehrten, ausgetrockneten Körper zurück, an sein spitzes Gesicht, die bläulichen Wangen, den raschen Atem, die kaum noch hörbare Stimme, den Gestank seiner Exkremente, das gräßliche, würgende Geräusch, mit dem er Erbrochenes auf das Laken spie, all dies fiel ihr unter diesem reich verzierten Zeltbaldachin ein, inmitten der lauten Stimmen, des Gelächters und der buckelnden, ein überreiches Mahl darbietenden Diener. Fast schien es, als wäre Jules nicht mehr unter einigen Schaufeln Erde im Jesuitenfriedhof begraben, sondern beträte das Zelt durch den offenen Spalt, um unter den feiernden Scheichs und Franzosen zu wandeln, das Gespenst dieses Festes, dessen tödliche Hand sie, Lambert, 258
Deniau oder Hersant jederzeit berühren konnte. Wir sind alle in
Gefahr. »Hast du das gehört?« fragte Lambert und beugte sich zu ihr herüber. Sie fuhr überrascht zusammen, als hätte man sie aus dem Schlaf aufgeschreckt. »Nein. Was denn?« Lambert wandte sich an Hersant. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, meiner Frau zu erzählen, was Sie mir gerade erzählt haben? Wirklich, sehr interessant.« Hersant, der rechts von ihr saß, erzählte ihr in vertraulichem Ton: »Der Colonel meint, kurz vor unserem Essen hätte ihm der Aga mitgeteilt, daß die Scheichs gestern in Miliana in einer geheimen Beratung beschlossen haben, daß sie sich alle, ja, daß ganz Algerien sich trotz der Vorstellung Ihres Mannes erheben wird, sollte sich Bou Aziz zum Mahdi ernennen. Doch der Aga, einer der wenigen Anführer, die bezweifeln, daß Bou Aziz der Mahdi ist, erklärte dem Colonel, daß Bou Aziz mit jedem Tag, an dem er nicht beansprucht, der Mahdi zu sein, einen Teil seiner Gefolgschaft verliert. Deshalb sollten wir ihm auch weiterhin die Stirn bieten. Morgen laden wir den Scheich zu einem Fest ein, auf dem Ihr Mann, der Ehrengast«, er kehrte sich zu Lambert um – »sie in Erstaunen versetzen will. Und wie wollen Sie das anstellen?« »Taschenspielertricks, Dinge auftauchen und verschwinden lassen, ein bißchen Zaubern, doch natürlich im Geiste gegenseitiger Freundschaft.« Hersant lachte: »Freundschaft? Mit jedem Trick, den Sie von jetzt an vorführen, wächst nur Ihr Ruf, ein Verbündeter des Teufels zu sein. Und genau so soll es ja auch sein. Doch ich muß schon sagen, als ich Sie mir gestern auf der Bühne mit Bart und 259
Burnus vorstellte, da hätten Sie statt Bou Aziz der Mahdi sein können.« Plötzlich warf Emmeline unerhörterweise ein: »Unsinn! Der alte Mann ist ein Heiliger. Das spürt man sofort, wenn man in seiner Nähe ist.« »Ein Heiliger?« Capitaine Hersant schien ihren Einwand amüsant zu finden. »Meine liebe Madame, diese Marabuts sind quer durch die Bank Scharlatane, selbsternannte Heilige einer Religion, die doch, offen gesagt, nur kindischer Blödsinn ist. Sie dürfen sie wirklich nicht romantisieren. Und Sie würden es auch wohl kaum tun, wenn Sie diese Heiligen so gut kennen würden wie ich.« Doch in diesem Augenblick erhob sich der Aga, klatschte in die Hände und richtete das Wort an seine Gäste. Es waren, wie Deniau hinterher berichtete, Willkommensgrüße, zugleich aber auch das Signal dafür, daß das Essen zu Ende war. Es wurde Zeit fürs nachmittägliche Gebet. Nachdem man sich allerseits verabschiedet hatte, geleitete eine halbe Stunde später eine Eskorte von zehn Goumierreitern in roten Burnussen die Gäste an der gaffenden Menge von Zeltbewohnern vorbei zum Weg nach Miliana, während die von Myriaden von Schluchten durchzogenen Felsgebirge in der Ferne bräunlich und veilchenblau schimmerten. Bald ritten sie an Dattelhainen vorbei und an Gärten, die von Mauern aus getrocknetem Lehm unterteilt wurden. Auf dem Berghang vor ihnen sah Emmeline ein Dorf mit hohen Häusern, deren Dächer eine Brüstung aus Tonsteinen zierte; die flachen Dachterrassen blickten über Höfe und Gärten voller Obstbäume. Als sie den Weg hinauf zu diesen Behausungen kreuzten, zügelte Deniau sein Pferd und wies auf ein Gebäude mit einer blauen Kuppel, das etwas abseits vom Dorf lag. Hinter diesem Gebäude türmten 260
sich die Gipfel, Bergkette um Bergkette, bedrohlich in ihrer Unfruchtbarkeit, bis sie schließlich im fahlen Blau des Himmels verschwammen. »Das ist seine Zaouia.« »Seine was?« fragte Lambert. »Von wem reden Sie?« »Von Bou Aziz. Dort wohnt er, und dort unterrichtet er auch seine Schüler. Zaouias sind eine Art Marabutkloster und meiner Meinung nach gefährlicher als jede Armee, die von den Arabern ins Feld geschickt werden könnte.« »Wozu wird er sich wohl entschließen?« sagte Hersant und lächelte. »Ob er daran denkt, seinen Namen zu ändern?« »In Mohammed Ibn Abd Allah?« Spöttisch intonierte Deniau diesen Namen, schrie ihn hinüber zu jenem fernen Gebäude mit der blauen Kuppel. Hersant lachte, nahm den Schrei auf: »Mohammed Ibn Abd Allah!« Die Reiter der arabischen Eskorte tauschten bei diesem Geschrei ratlose Blicke. An diesem Abend sagte sie beim Essen zu Lambert: »Bei diesem Essen morgen werde ich nicht gebraucht. Ich bin de trop in derlei Festlichkeiten. Wenn es dir also nichts ausmacht, würde ich lieber einen Ausritt machen.« »Ist das denn unbedenklich?« Er wandte sich an Deniau. »Was meinen Sie?« »Völlig unbedenklich«, erwiderte Hersant und lächelte ihr zu. »Wer würde es schon wagen, der Frau des Teufels ein Haar zu krümmen?« Der für den Mietstall verantwortliche Adjudant erkannte sie vom Vortag wieder und sattelte ihr gleich den Rotschimmel, auf 261
dem sie auch zu Bou Allems Fest geritten war. Kurz nach Sonnenaufgang war sie aufgestanden, hatte sich angezogen, während Lambert noch schlief, und hatte, da sie fürchtete, er könne wach werden und ihr Fragen stellen, vor lauter Aufregung das Zimmer rasch verlassen, ohne ihm eine Nachricht zu schreiben. Als sie aus dem Stall ritt, hörte sie vom Minarett einer nahen Moschee den Ruf des Muezzins und kam Augenblicke später an einer Gruppe Männer vorbei, die in der engen Straße mit gesenkten Köpfen auf der Erde knieten. Sie gab dem Pferd die Sporen und durchquerte das Gewirr von Marktbuden vor dem Haupttor von Miliana. Kaum hatte sie das Tor passiert, ließ sie den Rotschimmel in einen leichten Galopp fallen. Die Straße war leer, doch Minuten später hörte sie hinter sich Glockengeläut, und als sie sich umdrehte, sah sie, die Gesichter halb verdeckt, wie es für ihren Stamm üblich war, drei Tuaregs auf riesigen Rennkamelen aufschließen und sie dann überholen. Die eisernen Glöckchen am Zaumzeug bimmelten auf Schritt und Tritt. Die Reiter thronten hoch oben auf den mit Wolltroddeln geschmückten Tuaregsätteln; die Kamele mit ihren langen Hälsen schwankten vorüber und verschwanden dann mit wogendem Schritt in einer Staubwolke. Sie war wieder allein in der Stille der weiten Ebene, die Sonne am Himmel strahlte heiß wie ein Backofen, eine Hitze, die ihr die Kleider zu versengen schien. Dann sah sie vor sich die fahle Bergkette, die pockennarbigen Felsen am Horizont, eine derart öde Landschaft, daß sie einige Minuten lang unentschlossen weiterritt und glaubte, sich verirrt und den Weg zum Dorf und zur Zaouia verloren zu haben. Doch bald darauf entdeckte sie die Mauer des Friedhofs am Wegesrand und sah beim Näherkommen ein Feld merkwürdig geformter Steine, die Hunderte von anonymen Gräbern markierten. Hinter dem 262
Friedhof, einige hundert Meter vorm Dorf, zweigte ein schmaler Pfad vom Weg ab. Sie bog nach links und ritt zum Tor der blaukuppligen Zaouia. Als sie auf den Hof zuritt, sah sie eine Gruppe junger Männer, die im Kreis saßen und einen monotonen Sprechgesang angestimmt hatten, bei dem es sich offenbar um ein Gebet handelte. Emmeline glitt vom Pferd und blieb nervös und angespannt stehen, bis aus dem dunklen Torweg ein alter, barfüßiger Mann in zerlumptem Gewand hervortrat und ihr bedeutete, ihm zu folgen. Sie wurde durch einen Innenhof in ein kleines, schattiges Zimmer geführt, in dem auf einem Wollsack die Tochter des Marabuts saß, um sich bei ihrem Anblick sogleich zu erheben, Emmelines Hände zu ergreifen und in ihrem exakten Französisch zu sagen: »Willkommen, Madame. Ich bin Taalith. Mein Vater hat mich gelehrt, ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Wollen Sie zu ihm?« »Darf ich?« Immer noch Emmelines Hände haltend ließ die Tochter des Marabuts Emmeline neben sich auf dem Wollsack Platz nehmen. Wie zuvor rührte Emmeline der Anblick ihres Körpers, der unter Burnus und Schleier zerbrechlich wie der Körper eines Kindes wirkte, das Gesicht abgezehrt, die Stimme heiser, doch zugleich sanft und wohlwollend. »Mein Vater meditiert heute. Wenn Sie so freundlich sein wollen, dann sagen Sie mir doch bitte, worüber Sie sich mit ihm unterhalten wollen.« Lange Zeit brachte Emmeline kein Wort hervor. Wie ein Soldat, der das Niemandsland durchquert hatte und sich nun mit erhobenen Händen vor den feindlichen Linien ergibt, spürte sie, wie die Anspannung nachließ, wie die Wut, die Scham verebbte, die sie hergebracht hatten. Die Tochter des Marabuts 263
schien ebenso wie ihr Vater baraka zu haben, jene seltsame Gabe, die Deniau Heiligkeit genannt hatte, Ausdruck göttlicher Gnade, ein Geschenk, das jene, die damit in Berührung kamen, inneren Frieden finden ließ. Diese Menschen sind nicht meine Feinde. Wenn ich jetzt rede, dann nicht, um mein Land oder Henri zu verraten, sondern um die Wahrheit zu sagen, um Unrecht wiedergutzumachen. »Es geht um meinen Mann«, sagte sie. »Er besitzt keine übernatürlichen Kräfte. Was er Ihnen hier und in Algier gezeigt hat, waren nichts als kommerzielle Illusionen, Zaubertricks. Ich kann es Ihrem Vater erklären. Und ich kann ihm sagen, warum all dies getan wurde und welchem Zweck unsere Reise dient.« Die Tochter des Marabuts beugte sich zu Emmeline vor und nahm erneut ihre Hände. »Es ist gut, daß Sie gekommen sind. Ich werde ihm sagen, was Sie mir gesagt haben. Warten Sie bitte.« Die Tochter stand auf und ging aus dem Zimmer. Augenblicke später erschien ein arabischer Diener mit einem Tablett, auf dem Kaffee und ein Glas Wasser standen. Er lächelte, sagte etwas auf arabisch und zog sich wieder zurück. Von draußen hörte sie den endlosen Singsang der jungen Männer auf dem Hof. Hinter diesen Stimmen öffnete sich eine Welt der Stille, als stiege ihr Lob Gottes aus einer völligen Unterwerfung unter den göttlichen Willen in den Himmel auf. Nirgendwo in Frankreich, weder in Kathedrale, Konvent noch Kloster, hatte sie die hier in Städten, Dörfern, auf Gehöften und in der Wüste spürbare Intensität des Glaubens je erlebt. Es war eine zugleich inspirierende und erschreckende Kraft, ein Glaube, der nicht zu vergleichen war mit dem christlichen Glauben an Sakramente und Messe, an Höllenfeuer und Verdammung, Sünde und Erlösung, Buße und Vergebung.
Alles kommt von Gott. 264
Während sie nun darauf wartete, daß der Marabut zu ihr kam, wich das anfängliche Gefühl inneren Friedens einem Gefühl der Verzweiflung. In diesem Augenblick gehörte sie der Welt von Tours, Paris und Compiègne nicht mehr an und mußte dennoch dahin zurück. Ihr blieb keine Wahl. Denn diese Welt bedingungsloser Inbrunst und blinder Resignation konnte und wollte sie nicht betreten. Nach einiger Zeit hörte sie Stimmen aus dem Innern der Zaouia. Drei Männer mit den hohen Turbanen der Marabuts betraten die Kammer, in der sie saß, starrten sie stumm an, gingen dann wieder auf den Hof und begannen eifrig miteinander zu flüstern. Dann hörte sie schleppende Schritte näher kommen. Bou Aziz, der sich wie stets auf den Arm seiner Tochter stützte, trat ins Zimmer und begrüßte sie mit sanftem Lächeln sowie einigen arabischen Worten, die seine Tochter nicht übersetzte. Dann hockte sich der Marabut auf den nackten Boden. Seine Tochter setzte sich auf den Wollsack. Der Marabut begann, den Blick auf Emmeline gerichtet, erneut zu sprechen und wartete dann, bis seine Tochter mit der Übersetzung fertig war. »Mein Vater dankt Ihnen für Ihren Besuch. Ich habe ihm erzählt, was Sie mir sagten, und nun möchte er wissen, ob Sie ihm sagen wollen, weshalb Sie hergekommen sind.« »Weil mir nicht gefällt, was geschehen ist«, sagte Emmeline. »Wenn ich die Wahrheit verschweige, werde ich mich bis an mein Lebensende schuldig fühlen.« Der Marabut nickte und erwiderte flüsternd einige Worte. »Mein Vater dankt Ihnen für Ihre Antwort. Doch jetzt erzählen Sie ihm bitte, was Sie zu erzählen haben.« Auf dem Weg von Miliana hierher hatte sie sich zurechtgelegt, 265
was sie nun sagen wollte, doch plötzlich waren die gewählten Worte vergessen, und Emmeline begann, ihm vom Geheimnis der schweren Kiste und von den falschen Kugeln zu erzählen. »Mein Mann ist von Beruf Unterhaltungskünstler. Er wird für seine Tricks und Erfindungen in ganz Europa gefeiert, doch seine Fertigkeiten sind keine Wunder, sondern Resultat handwerklichen Geschicks und endloser Übung. In Europa glaubt man nicht, daß Zauberer übernatürliche Macht besitzen; man hält sie eher für geschickte Betrüger. Mein Mann aber ist der größte Zauberer Europas, und deshalb hat ihn der Kaiser hergesandt.« »Aber warum hat man ihn zu uns gesandt?« fragte der Marabut. Sie zögerte. Und dann sprach sie es aus, erzählte von Deniaus Überzeugung, daß ihr Mann, sollte er größere ›Wunder‹ als Bou Aziz vollbringen, dem Ruf des Marabuts schaden und seinen Anspruch, der Mahdi zu sein, untergraben könnte, so daß Zeit bis zum Frühjahr gewonnen würde, bis die Armeen von Louis Napoleon aus Frankreich herübersegelten, um die Eroberung Algeriens zu vollenden. Sie mußte immer wieder innehalten, damit Taalith übersetzen konnte. In diesen Pausen spürte sie, wie sehr sie zitterte; ihre Kehle war trocken, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Doch sobald sie fortfahren konnte, verschwanden diese Zeichen der Schwäche, und sie sprach so bewegt wie nie zuvor in ihrem Leben. Kaum war sie fertig, fühlte sie sich matt, fiebrig und so ausgelaugt, als wäre ihr dies Geständnis nicht freiwillig über die Lippen gekommen, sondern ihr von einem fremden Willen abgetrotzt worden. Der Marabut beugte sich zu seiner Tochter und sprach einige Zeit halblaut auf sie ein. Taalith nickte und sagte dann: 266
»Mein Vater fragt, ob Ihr Mann weiß, daß Sie hier sind?« »Nein, das weiß niemand.« »In diesem Fall, sagt mein Vater, wird das, was Sie ihm heute erzählt haben, diese vier Wände nicht verlassen. Es dürfte für ihn unnötig sein, jemand anderem von Ihrem Vertrauen zu berichten. Er und er allein muß entscheiden, welcher Weg zu beschreiten ist. Doch was Sie ihm erzählt haben, wird ihm helfen, Gottes Willen in dieser Angelegenheit zu erkennen.« Sobald Taalith zu reden aufhörte, stand der Marabut auf, ging zu Emmeline, nahm ihre Hände, lächelte und verbeugte sich zum Abschied. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Taalith fragte: »Sind Sie hungrig? Wollen Sie etwas essen? Oder möchten Sie sich einige Stunden ausruhen, ehe Sie nach Miliana zurückreiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich muß jetzt gleich aufbrechen.« Taalith erhob sich vom Wollsack, streckte die Arme aus, zog Emmeline an sich und drückte sie kurz. Emmeline spürte unter dem Burnus einen Körper, zart wie der eines kleinen Vogels, weich, doch knochig, ein Körper, den nun ein rauher, unheilvoller Husten schüttelte. Taalith griff nach ihrer Hand und führte sie durchs Zimmer auf den Hof. Draußen beendete der Ring betender Schüler seinen Gesang, um gleich darauf einen neuen anzustimmen. Emmelines Pferd stand mit losen Zügeln im Schatten des Torbogens und zuckte mit dem Schweif, um einen Schwarm Fliegen zu vertreiben. Wieder drückte Taalith Emmeline an sich und winkte, klein und zart wie ein Kind, ihr nach, während Emmeline davonritt. Unter der erbarmungslosen Sonne ritt Emmeline, die sich verwirrt und trotz Taaliths Umarmung einsam und ausgestoßen 267
fühlte, auf dem menschenleeren Wüstenweg lustlos dahin und ließ das Pferd in Schritt fallen. Als sie fast zwei Stunden später Miliana erreichte, sagte ihr der wachhabende Zuaveadjudant, daß das Essen für die Scheichs fast vorüber sei. »Monsieur Lambert sollte bald zurück sein.« Sie ging auf ihr Zimmer, bestellte sich ein Bad und ließ sich ins kühle Wasser gleiten. Was hatte der Marabut gemeint, als er sagte, daß niemand erfahren würde, was sie ihm gestanden hatte? Auf dem Weg zur Zaouia heute morgen hatte sie beschlossen, daß sie, sollte sie Bou Aziz die Wahrheit sagen, ihr Tun vor Henri nicht verbergen wollte. Denn ihr war klar, daß sie aus einem Gefühl der Scham und der Wut heraus handelte, doch nicht allein, um ein Unrecht wiedergutzumachen, sondern auch, um einige offene Rechnungen zu begleichen: Mit Henri, weil er so gefühllos auf Jules’ Tod reagiert hatte, und mit Deniau, weil er so arrogant gewesen war, sie wie eine Marionette zu behandeln. Doch nun schien es, als ob der morgendliche Ausritt, der zugleich das Tapferste und Schockierendste war, was sie je in ihrem Leben getan hatte, ihr gar nicht jenes Maß an Ärger und Strafe einbringen mochte, das auf sich zu nehmen sie bereit gewesen war. Wenn sie die Wahrheit vor Henri verschwieg, würde man ihr, wie immer die Entscheidung des Marabuts auch ausfiel, niemals einen Vorwurf daraus machen können. Doch war dem Marabut zu trauen? Sie hatte in seiner Gegenwart zwar dieses seltsame Gefühl der Heiligkeit verspürt, aber was wußte sie schon über diese Leute und deren Ansichten? Ihr Glaube war keineswegs heiliger als der des Christentums, aber er war stärker, in seiner Intensität beängstigender, und er strahlte eine Gewißheit aus, die das Christentum nicht mehr besaß.
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»Wie war dein Ausritt?« fragte er, sobald er ins Zimmer kam. »Bist du in die Wüste geritten?« »Wie war dein Essen?« »Merkwürdig, höchst merkwürdig.« Er zog sein Leinenjackett aus, setzte sich auf das einzige Sofa im Zimmer, streckte die Arme aus und schaute zur Decke. »Weißt du«, sagte er, »ich habe heute etwas gelernt. Wenn ich in Europa eine Vorstellung gebe, dann bestaunt das Publikum mein Tun. Sie halten es aber nicht für böse, da sie gleichsam spüren, daß sie getäuscht werden. Also hassen oder fürchten sie mich nicht so wie diese Araber beim Essen. Ein wirklich unangenehmes, fast beängstigendes Gefühl. Glaub mir, ich bin froh, wenn das hier alles vorbei ist.« Sie sah zu, wie er aufstand, zum Becken ging, sein Hemd auszog und sich mit dem Rücken zu ihr Hals und Gesicht wusch. Sie konnte die kahle Stelle sehen, über die er vor jeder Vorstellung sorgfältig sein Haar kämmte. Mit den leicht gekrümmten Schultern und der schmalen Brust schien er eine unbedeutende Gestalt, ein Diener, kein seigneur. Der Ruhm, den er erstrebt hatte, der Traum von seiner eigenen Bedeutung glich nun einem kläglichen Wahn, denn sollte das, was sie heute getan hatte, Bou Aziz veranlassen, den Dschihad, den Heiligen Krieg auszurufen, war er um seinen größten Triumph gebracht, ein Triumph, der sein Können ins Sagenhafte gesteigert und seinen Namen ins Buch der Geschichte eingeschrieben hätte. Nachdem er sich gewaschen hatte, zog er sich einen Morgenmantel über und trat auf den Balkon. Krank vor Sorge setzte sich Emmeline, während Erklärungen durch ihren Kopf wirbelten, von denen keine seinen Ärger, seine Wut abwenden würde. Denn die Lüge des Verschweigens kam für sie nicht in Frage, sie mußte ihm die Wahrheit sagen. 269
Wie eine Kranke erhob sie sich langsam und ging zu ihm auf den Balkon. Im selben Augenblick aber eilte ein Soldat die aus dem Hof heraufführende Steintreppe hinauf, reichte Lambert ein zusammengefaltetes Papier, grüßte und fragte: »Soll ich auf Antwort warten, Monsieur?« Sie sah, wie Lambert das Papier entfaltete und die Nachricht las. »Danke. Keine Antwort.« Der Soldat salutierte erneut und eilte dann mit lautem Stiefelgepolter die Treppe wieder hinunter. Lambert stand da und starrte auf den Zettel, als müßte er ihn immer wieder aufs neue lesen. Als er sie schließlich bemerkte, hielt er den Zettel hoch und sagte: »Die Nachricht ist von Charles Deniau. Bou Aziz hat für morgen früh ein Treffen der Scheichs im Hof der großen Moschee einberufen. Er bittet uns, anwesend zu sein, Charles, mich und – ich weiß nicht warum – dich möchte er auch sehen.« Wieder blickte er auf das Papier. »Charles meint, wir würden morgen unsere Antwort erhalten, wie immer sie auch ausfällt. Seltsam ist nur, daß der Marabut nach dir verlangt, findest du nicht?« Stumm schaute sie ihn an, dann sagte sie: »Hier draußen ist es zu warm. Komm. Ich muß dir etwas sagen.« Sie gingen ins Zimmer, und Lambert trat an die Anrichte, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. »Nun? Was gibt es?« Er wirkte abwesend, war kaum bei der Sache. Doch als sie zu reden begann, stand er wie erstarrt mit dem Rücken zu ihr, reglos hielten die Hände das Wasserglas und den Krug. »Heute morgen habe ich den Marabut in seiner Zuflucht in den Bergen aufgesucht, um mit ihm und mit seiner Tochter zu reden. Ich habe ihm die Wahrheit über die schwere Kiste und die falschen Kugeln verraten, und ich habe ihn auch über den 270
Feldzug im nächsten Frühjahr informiert. Er hat mir zugehört und dann gesagt, daß er mein Vertrauen zu würdigen wisse und daß niemand erfahren solle, was ich ihm gesagt habe. Doch selbst wenn es stimmt, was er gesagt hat, kann ich vor dir nicht verbergen, was ich getan habe. Ich kann dir nicht einmal sagen, daß es mir leid tut. Ich weiß, dies könnte das Ende unserer Ehe bedeuten, aber mir blieb keine Wahl. Ich glaube einfach nicht, daß wir dieses Volk erobern oder versuchen sollten, Franzosen aus diesen Menschen zu machen, daß wir ihr Land zu unserem Vorteil ausbeuten dürfen. Ich wollte dabei nicht mitmachen.« Sie sah, wie er Glas und Krug abstellte und sich dann zu ihr umdrehte. Von der Wut, die sie erwartet hatte, war nichts zu sehen, statt dessen schien er verwirrt, als versuche er, den Trick hinter ihren Worten zu erkennen. Schließlich sagte er: »Also weiß er Bescheid. Interessant. Es hat mich sowieso gestört, einen dieser heiligen Narren spielen zu müssen, nur ein simples Gefäß für göttliche Macht zu sein. Jetzt wird er einsehen, daß ich Fertigkeiten perfektioniert habe, von denen ignorante Marabuts wie er nur träumen können. Gut! Doch wie mache ich mir das zunutze? Ich muß mir den nächsten Zug genau überlegen.« Und er ging zurück auf den Balkon, ohne sie noch einmal anzuschauen. Sie sah ihm zu, wie er mit gesenktem Kopf auf und ab ging, wie er manchmal zustimmend nickte, dann wieder mißbilligend den Kopf schüttelte. Schließlich blieb er stehen, umfaßte mit beiden Händen das Balkongeländer und starrte hinunter auf die Freilichtbühne. Dann kam er wieder ins Zimmer. »Er hat gesagt, daß er dein Vertrauen zu würdigen wisse und daß niemand erfahren soll, was du ihm erzählt hast. Sag, glaubst du ihm, oder meinst du, er hat dich belogen?« 271
»Ich glaube ihm«, erwiderte sie. »Nun gut. Aber warum sollte er dir das sagen? Ich glaube, ich kenne die Antwort. Weil die vielen Menschen, die meine ›Wunder‹ gesehen haben, an diese Wunder glauben, und der Nachweis, daß ich sie getäuscht habe, dürfte ihm schwer fallen. Die Geheimnisse der schweren Kiste und der falschen Kugeln sind meine Geheimnisse. Er müßte vorzeigen können, wie sie funktionieren, und das kann er nicht. Also wird er für sich behalten, was du ihm gesagt hast. Und ich denke, wir sollten ebenfalls kein Wort darüber verlieren. Selbst Deniau darfst du nichts davon berichten.« »Und warum nicht?« »Weil er die Situation nicht ändern kann. Warum sollte ich außerdem der Welt verkünden, daß du dich hinter meinem Rücken bemüht hast, mich zu vernichten? Wenn Bou Aziz morgen zum Heiligen Krieg aufruft, sind meine Vorstellungen schnell vergessen. Wenn er allerdings darauf verzichtet, dann ist morgen der Tag meines Triumphes, ein Triumph, der für den Rest meines Lebens vorhalten wird. Bou Aziz weiß jetzt, daß meine ›Wunder‹ den Sieg der Wissenschaft über den Aberglauben bedeuten, und ich hoffe, daß diese Gewißheit sich zu meinen Gunsten auswirkt.« Er ging zu ihr und hielt dabei die Hände auf seine merkwürdige Art, als wollte er ihr zeigen, daß er nichts zu verbergen habe. Und erst jetzt merkte sie, daß er verstört und aufgewühlt war, daß er sie um etwas bat, was er nur mühsam in Worte fassen konnte. »Emmeline«, sagte er. »Noch eine Frage. Und bitte, gib mir eine Antwort, auch wenn sie gegen mich ausfallen sollte.« »Was meinst du?«
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»Du hast gerade gesagt, daß dies wahrscheinlich das Ende unserer Ehe bedeutet. Ist es das, was du willst?« »Nein.« Sie antwortete, ohne zu überlegen, und dachte nur, daß er sie mißverstanden hatte. Er trat dicht vor sie hin und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Sein Gesicht war verzerrt, fast, als hätte er Angst. »Ich bin dir dafür dankbar«, sagte er, »denn ich will dich nicht verlieren. Ich weiß, in der Vergangenheit habe ich einiges falsch gemacht, und in Compiègne habe ich gesehen, wie man dich gefeiert und bewundert hat. Es war falsch, dich in Tours einzuschließen. Wir müssen öfter reisen. Außerdem werde ich in Paris eine Wohnung mieten, damit du Freunde treffen und dich amüsieren kannst. Weißt du, du bist einfach alles für mich.« »Alles?« »Ja, ich habe nur dich und meine Arbeit.« Mit diesen Worten beugte er sich zu ihr herab und küßte sie auf die Wange. »Capitaine Raoult und seine Frau haben uns übrigens zu einer kleinen Abendgesellschaft in ihr Quartier gebeten. Deniau kann nicht kommen, da er mit einem Scheich zu Abend ißt. Es könnte ganz nett werden, was meinst du?« »Ich glaube, es gibt etwas, was du wissen solltest«, sagte sie. »Es tut mir nicht leid, was ich heute getan habe. Vergiß das nicht.« »Natürlich nicht, Liebes, es sollte dir auch nicht leid tun. Ich verstehe zwar deine Einstellung nicht, aber ich respektiere sie. Außerdem liebe ich dich, und deshalb würde ich dir alles vergeben. Alles!« »Ich habe dich nicht um Vergebung gebeten«, erwiderte sie. »Wann sollen wir bei Capitaine Raoult sein?« 273
Dreizehn Deniau ritt voraus und bahnte ihnen einen Weg durch die Menge der Kabylen, die sich vor dem Hof der großen Moschee auf den Straßen drängten. Französische Zuavenburschen kümmerten sich um ihre Pferde, als sie am Haupteingang abstiegen. »Sie müssen zuerst hineingehen«, sagte Deniau zu Lambert. »Wir kommen als Ihr Gefolge nach. Gehen Sie zu den Orangenbäumen in der Hofmitte. Unter den Bäumen befindet sich das Becken, in dem sich die Gläubigen Hände, Füße und Gesichter waschen, ehe sie die eigentliche Moschee betreten. Und dort wird Bou Aziz seine Entscheidung bekanntgeben. Ich weiß nicht, wie man auf Ihr Erscheinen reagiert. Vielleicht versucht man, vor lauter Respekt den Saum Ihres Gewandes zu küssen, vielleicht werden Sie auch angespuckt. Am wahrscheinlichsten aber ist es, daß man wie gestern vor Ihnen zurückweichen wird. Sie sind der Zauberer der Ungläubigen, und Sie sind gefürchtet. Achten Sie nicht darauf, blicken Sie stur geradeaus.« Emmeline, die zwischen Capitaine Hersant und einem Dolmetscher der Armee ging, hörte das nervöse Raunen der Menschenmenge im Hof, Geräusche, die sie an eine Herde in einem Pferch denken ließen. Lambert ging allein an einer Reihe weißer Marmorsäulen vorüber, als man ihn plötzlich erkannte. Ein Murmeln stieg aus der Menge auf, das die Nachricht von der Ankunft des Roumi-Zauberers verbreitete. Doch Emmeline machte es wie Henri, blickte starr geradeaus und spürte dennoch die brennende Intensität, mit der die dunklen, bärtigen Gesichter sie musterten. Dann tauchten vor ihr die 274
Orangenbäume auf. Am Brunnen warteten Aga Bou Allem, der sie vor zwei Tagen bewirtet hatte, und Scheich Ben Amara, der die Pistole auf ihren Gatten abgefeuert hatte. Der Aga verbeugte sich grüßend. Ben Amara nickte Deniau reserviert zu und ignorierte Lambert. »Der Mahdi ist da«, sagte er zu Deniau auf arabisch. »Er betet noch in der Moschee, wird aber bald herauskommen.« »Der Mahdi?« fragte Deniau. Er sah Lambert an und übersetzte. »Ob das unsere Antwort ist?« Dann wandte er sich an den Aga. »Also hat Bou Aziz beschlossen, sich zum Mahdi ausrufen zu lassen? Bedeutet das den Dschihad? Aber warum hat man uns dann hergebeten? Um uns anzuspucken?« »Mir hat man die Entscheidung des Marabuts noch nicht mitgeteilt, Colonel«, sagte Bou Allem. »Scheich Ben Amara weiß vielleicht mehr als ich, jedenfalls brauchen wir nicht mehr lange zu warten. Hören Sie doch.« Noch während er sprach, hörte Emmeline, wie in ihrem Rücken ein Gesang angestimmt wurde. Sie wandte sich an den Dolmetscher. »Sie singen: Mohammed Ibn Abd Allah kommt. Der Herr der Stunde ist da, Madame.« Sie schaute zu Lambert hinüber, sah, daß er geradeaus blickte, wie man es ihm geraten hatte, daß er aber seine Rolle nicht länger spielen konnte. Sein Körper sackte vor Enttäuschung regelrecht in sich zusammen. Alles, was er geplant und mit solchem Geschick in die Tat umgesetzt hatte, war umsonst gewesen: Schlimmer noch, er hatte Jules’ Tod verschuldet. Die Zeit in Compiègne, der Auftrag des Kaisers, die Hoffnung auf Lob und Orden, damit war es vorbei. Es würde einen Krieg geben, in dem Araber, Kabylen und französische Soldaten starben, doch würden die Araber diesen Krieg nun vielleicht gewinnen. 275
An der Seite ihres Mannes sah Emmeline, wie die Menge sich erneut teilte, um den Weg frei zu machen, diesmal jedoch aus Ehrfurcht. Männer berührten den Gewandsaum des Marabuts, befingerten demütig ihre Gebetsperlen und sangen immer wieder den Namen des Mahdi: »Mohammed Ibn Abd Allah.« Bou Aziz nickte zustimmend, näherte sich langsam dem Brunnen und stützte sich bei jedem Schritt auf den Arm seiner Tochter. Als sie zu Lamberts Gruppe kamen, begrüßte der Marabut den Aga und Scheich Ben Amara, danach Deniau, Hersant und zum Schluß – mit einer knappen Verbeugung – Lambert. Scheich Ben Amara, das Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen verzogen, wandte sich dem wartenden Gedränge zu und hob die Arme, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ruhe bitte für Mohammed Ibn Abd Allah.« Bou Aziz rückte nun von seiner Tochter ab und stand allein vor der Menge, den Rücken zum Brunnen gewandt. Als er zu reden begann, drängte sich der Dolmetscher näher an Emmeline und Lambert heran und begann hastig flüsternd zu übersetzen. »Meine Brüder, ich habe meditiert und Gott nach seinem Begehr gefragt. Also habe ich den neuen Namen angenommen, den Gott mir gab, den Namen Mohammed Ibn Abd Allah, den Namen des Mahdi. Doch ich behaupte nicht, der Erlöser zu sein, der den Islam zum Sieg der wahren Religion und zum Ende aller Demütigung führen wird. Ich sage heute nur, daß ich Gottes Bote bin, und die Botschaft, die Gott mir gab, lautet, daß wir unseren Sieg nur dann erringen, wenn wir der Wahrheit ins Gesicht sehen. Die Wahrheit aber ist, daß wir vom rechten Pfad abgekommen sind. Unser aller Pflicht ist nun die Reform und die Erneuerung unseres Glaubens. Wir leben in einer Zeit des Gebetes, des geistigen, nicht des kriegerischen Dschihad. Wenn 276
wir unsere Feinde besiegen wollen, müssen wir zuerst unseren Gehorsam gegenüber Gott und dem Propheten stärken. Gelingt uns dies, wird unser Glaube eines Tages so stark sein, daß die christliche Welt dagegen machtlos ist, und die Ungläubigen werden auf immer aus unserem Land verschwinden.« Bei diesen Worten hörte Emmeline ein ungläubiges und verärgertes Raunen von Ben Amara und anderen Scheichs. Doch die große Menge hörte stumm und aufmerksam zu. Der Marabut fuhr fort: »Ich bin der Bote Gottes, Brüder. In den letzten Tagen hat er mir Zutritt zur Welt des Unsichtbaren gewährt. Daher weiß ich, daß die Ungläubigen aus diesem Land vertrieben werden, daß der Islam triumphiert und der Aufenthalt der Franzosen in unserem Land nicht von Dauer ist: Er wird nicht ewig währen. Letzten Endes werden wir unseren Sieg in den Moscheen und Zaouias finden. Alles kommt von Gott.« Dann wandte sich Bou Aziz an Lambert. »Noch sind Sie stärker. Sie haben uns etwas gezeigt, das größer als alles war, was wir je gesehen haben. Nie zuvor waren unsere Augen von solchen Wundertaten wie geblendet. Doch waren es Wunder, wie wir sie kennen?« Nach diesen Worten schwieg Bou Aziz und schaute an Lambert vorbei auf Emmeline, richtete den Blick auf sie, als suche er ein Bündnis mit ihr. Und dann sagte er: »Wie auch immer. Ihre Macht kommt von Gott. Denn alles kommt von Gott. Und so hat er Sie wie einen Blitz auf uns herniedergeschleudert, um uns zu zeigen, daß gegenwärtig nur er, der Allmächtige allein, Ihrem Willen trotzen kann.« Als er aufhörte, hob Bou Aziz beide Arme, wie um anzuzeigen, daß seine Rede zu Ende sei. Taalith trat sogleich zu Lambert: »Mein Vater dankt Ihnen für Ihren Besuch und 277
wünscht Ihnen eine sichere Heimreise.« Dann ging sie, klein und zerbrechlich, zu Emmeline, reckte sich wie ein Kind, um ihre Arme um Emmelines Hals zu schlingen, drückte ihr weiches Gesicht an Emmelines Wange und flüsterte: »Mein Vater weiß, daß er die richtige Wahl getroffen hat. Er dankt Ihnen, da Sie ihm bei dieser Entscheidung geholfen haben.« In diesem Augenblick trat Deniau zu ihnen, und er konnte seine Begeisterung nicht verhehlen. »Kommen Sie. Wir müssen nun gehen.« Als sie sich vom Brunnen abwandten, hörten sie vom Minarett hoch oben einen Muezzin, der die Gläubigen zum Gebet rief. Alle Augen auf dem weiten Platz folgten dem Marabut und seiner Tochter, die an den Marmorsäulen vorbei die Moschee betraten. Plötzlich spürte Emmeline, wie Hersant sie mit einer raschen, heftigen Bewegung zur Seite stieß. Die Menge wich vor ihr zurück und gab den Blick auf einen knapp fünfzig Meter vor ihr stehenden Mann mit dem hohen Turban eines Kaïds frei, der mit einer Pistole auf sie zielte. Krachend löste sich der Schuß. Lambert, der einige Schritte vor ihr ging, blieb stehen und starrte den Attentäter an. In der unheilvollen Stille erwiderte der junge Kaïd den Blick, ließ dann die Pistole fallen, drehte sich um und stürzte zurück in die Menge. Lambert vergewisserte sich nicht, ob sie verwundet war, sondern ging nach kurzem Halt weiter auf das Tor zu. Und in diesem Moment verriet ihr das ehrfürchtige Staunen der Menge, daß der Attentäter nicht auf sie, sondern auf ihren Mann gezielt und sein Ziel nicht verfehlt hatte. Sie rannte ihm nach, holte ihn ein. Doch er starrte stur geradeaus und sagte: »Faß mich nicht an. Wir reiten zurück. Geh weiter.« Die Kugel war gleich unterhalb der rechten Schulter in seinen 278
Körper eingedrungen. Ein Blutfleck wie eine dunkle Rose breitete sich auf seinem weißen Leinenjackett aus. Doch er taumelte nicht, zeigte nicht die geringste Schwäche und auch keinen Schmerz. Deniau kam an ihre Seite und warf ihr einen warnenden Blick zu. »Tun Sie, was er sagt, Emmeline.« Um sie herum erschrockene Gesichter, während der scheinbar unverletzte Zauberer das Hoftor und die Stelle erreichte, an der die französischen Stallburschen mit den Pferden auf sie warteten. Emmeline ahnte, wie Lambert sich innerlich zusammenriß, und sah, wie er eine Sekunde lang vor Schmerz zitterte, ehe er seinen Fuß in den Steigbügel setzte, aufsaß und sich mit der linken Hand am Sattelknauf festhielt. Deniau und Hersant taten es ihm rasch nach, die Burschen halfen Emmeline in den Sattel. Sie ritten hinter Lambert hinaus ins Gedränge auf staubigen Straßen. Da die Pferde, von engen Gassen und starrenden Passanten behindert, nur im Schritt vorankamen, nahm Lambert die Zügel in die linke Hand und ließ den rechten Arm reglos herabhängen. Von Entsetzen gepackt trat Emmeline ihrem Pferd in die Seiten und schloß zu ihrem Mann auf: »Henri?« Sie sah, wie sich sein Gesicht vor Schmerz oder Wut verzerrte: »Verstell dich!« sagte er. »Verstell dich!« Das französische Fort war drei Straßen von der Moschee entfernt. Deniau trieb sein Pferd an, ritt an ihr vorbei und sagte: »Keine Angst, es wird alles gut. Ich hole den Arzt. Wir sind gleich da.« Dann drehte er sich um und rief Lambert zu: »Halten Sie durch, Henri! Halten Sie durch! Sie machen das hervorragend.« Die Zuavenwachen zogen das Tor auf, als Deniau herangaloppierte. »Schließt das Tor, sobald wir durch sind«, rief 279
er. Capitaine Hersant, der an Lamberts Seite ritt, saß im Hof ab, griff nach Lambert und hob ihn aus dem Sattel. »Gut gemacht, sehr gut! Wir sind da. Jetzt wird alles gut.« Doch im selben Augenblick wurde Lambert ohnmächtig. Deniau, der bereits vor der Tür zum Krankenrevier stand, schrie einen Befehl, und sogleich rannten zwei Soldaten mit einer Trage über den Hof. Emmeline sah, wie sich ein dunkler Blutfleck auf der Jackettbrust ihres Mannes ausbreitete. Sie lief zur Trage, beugte sich über ihn und rief seinen Namen. Doch als die beiden Soldaten die Tür zum Krankenrevier erreichten, hielt Deniau sie am Arm zurück. »Der Arzt ist da und will gleich operieren. Jetzt wird alles gut, setzen Sie sich. Es wird alles gut.« Er führte sie zu einer Bank im Flur vor dem Isolierzimmer, in dem Jules gestorben war. Am anderen Flurende konnte sie zwei Ärzte in weißen Kitteln sehen, die mit Masken vorm Gesicht durch eine Tür gingen, auf der salle d’opération stand. Deniau und Hersant eilten auf den Hof, als müßten sie zu einem wichtigen Treffen. Ein Gefreiter mit weißem Kittel ging an ihr vorbei in den Operationsraum, in den Händen etwas, was wie ein Tablett mit Instrumenten aussah. Sie saß da wie betäubt, und wie in einem Traum mischte und wirbelte ihr Verstand Bildfetzen durcheinander: Henri, wie er ohne zusammenzuzucken über den Hof der Moschee schritt, Henri, wie er ohnmächtig wurde und in Hersants Arme fiel, der dunkle Rosenfleck auf dem Leinenjackett, Henri, wie er sich über den Tisch beugte und sich den Daumen ritzte, um Blut für die falsche Kugel zu gewinnen, der junge Attentäter, der die Pistole abfeuerte, die Pupillen in irrer Konzentration geweitet, der Jesuitenfriedhof mit dem frisch ausgehobenen Grab, in das der rauhe Sack mit Jules’ Leiche glitt, das elektrische Tor des Manoir 280
des Chênes in Tours, das sich öffnete, um eine Kutsche einzulassen, in der sie selbst in Witwentracht saß. Und wie eine offene Wunde schmerzte sie jetzt die Kälte, die sie ihm am gestrigen Abend gezeigt hatte. Ich habe mich gegen ihn gewandt, und wenn er stirbt, werde ich ihm nie sagen können, daß ich gestern abend zwar wütend und verärgert war, daß er aber mit all seinen Fehlern dennoch mein Mann ist, der für mich gesorgt hat und mich auf seine Weise liebte und ohne den ich allein bin. Der Geruch von Äther wehte aus dem Operationsraum herüber, als ein Gefreiter die Tür öffnete und an ihr vorbeiging, ein Metallgefäß in der Hand, in dem sie blutverschmierte Instrumente erkennen konnte. Äther: Er ist bewußtlos, sein Geist im Nirgendwo, seinem Willen nicht länger unterworfen. Was hatte er gesagt, ehe er ohnmächtig wurde? »Verstell dich! Verstell dich!« Konnte er sich denn immer noch verstellen? Der Arzt, stämmig, bärtig, auf dem rechten Auge schielend, kam zu ihr, lächelte und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. »Madame Lambert?« Sie erhob sich. Er streckte ihr die Hand hin. »Nun, Ihr Mann hat Glück gehabt. Wir haben die Kugel entfernt. Sie saß direkt unterm Schulterblatt. Allerdings könnten einige Nerven beschädigt sein, das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Haben Sie Colonel Deniau gesehen?« »Nein.« »Ich muß ihm Bericht erstatten. Ihr Mann ist immer noch betäubt. Aha! Da ist er.« Sie sah zur Tür mit der Aufschrift salle d’opération, da sie 281
glaubte, der Arzt habe Henri gemeint, statt dessen aber nickte er ihr zu und ging über den Flur zu Deniau, der gerade gekommen war. Sie unterhielten sich, und einige Augenblicke später gesellte sich Deniau zu ihr. »Gute Neuigkeiten, nicht wahr?« »Ja.« »Noch besser ist, daß der Arzt mir gesagt hat, Ihr Mann könne schon morgen abreisen.« »Abreisen?« »Zurück nach Algier. Um all dies hinter sich zu lassen. Ich weiß, wie schwierig die letzte Zeit für Sie gewesen ist.« »Aber wie soll er denn morgen abreisen können?« fragte Emmeline. »Er ist doch krank.« »Der Arzt sagt, Henri könne morgen aufbrechen. Und Sie wissen doch, der erste Halt auf unserer Reise liegt nur einige Stunden von hier entfernt, da wir wieder im Lager von Ben Gannah übernachten wollen. Das Wichtigste ist jetzt, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden.« »Da bin ich anderer Meinung«, sagte sie. »Ich glaube kaum, daß er in der richtigen Verfassung für eine Reise ist.« »Dr. Laporte würde Ihnen widersprechen. Und er kennt sich schließlich mit Schußwunden aus. Seinem Urteil vertraue ich bedingungslos.« »Henri ist immer noch bewußtlos«, sagte sie. »Wie können Sie da wissen, ob er kräftig genug ist. Außerdem denke ich, daß dies meine und nicht Ihre Entscheidung ist.« »Letztlich liegt es bei Henri«, erwiderte Deniau. »Er ist unglaublich tapfer gewesen, und wir müssen uns diese Tapferkeit zunutze machen. Wenn er morgen abreist, werden die Scheichs und Marabuts, wird sogar ganz Algerien erfahren, daß er sich wieder einmal als unbesiegbar erwiesen hat. Was 282
heute geschah, wird seinen Ruf ins Sagenhafte steigern. Begreifen Sie denn nicht, meine Liebe, daß wir gewonnen haben? Henri hat alles erreicht, was er erreichen wollte. Seinetwegen wird es zu keinem Dschihad kommen. Und seinetwegen wurde Ihr Freund Bou Aziz in Mißkredit gebracht. Wir dürfen uns diesen Triumph auf keinen Fall verderben.« »Bou Aziz in Mißkredit gebracht?« fragte sie. »Das denke ich nicht.« »Ach so?« sagte Deniau und schaute sie an. »Nun, Sie kennen ihn natürlich besser als ich.« »Wie meinen Sie das?« »Sie haben doch vorgestern mit ihm in seiner Zaouia geredet. Worüber haben Sie sich unterhalten? Ich bin neugierig. Haben Sie ihn angefleht, keinen Heiligen Krieg anzuzetteln?« Sie gab keine Antwort. »Dieses Land steckt voller Spione«, sagte er. »Wir haben auch welche, bloß nennen wir sie Agenten. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Wenn Sie uns jetzt helfen, ich meine, wenn Sie uns helfen, Henri sicher von hier fortzubekommen, dann verspreche ich Ihnen, Henri kein Wort von Ihrem Besuch in der Zaouia zu verraten.« »Er weiß längst Bescheid. Und jetzt gehen Sie bitte!« Im selben Augenblick wurde die Tür zum Operationsraum geöffnet und ihr Mann auf einem Bett herausgeschoben. Er war bewußtlos, sein Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Sie sprang gleich auf, ließ Deniau stehen, ging neben dem Bett her und schaute in Henris blasses, regloses Gesicht. Das Bett wurde in das kleine Isolierzimmer geschoben, in dem Jules gestorben war. Als die Gefreiten es an seinen Platz an der Wand bugsierten, sah sie, wie ihr Deniau draußen auf dem Flur ein 283
Zeichen machte. »Bitte, Emmeline, ich will Sie nicht länger stören. Aber hören Sie – es tut mir leid, was ich gerade gesagt habe. Verzeihen Sie mir. Lassen Sie uns Freunde bleiben, ich bin nicht Ihr Feind.« Sie würdigte ihn keines Blickes. »Doch, das sind Sie.« Sie setzte sich ans Bett. Als sie wieder aufschaute, war er fort. Sie verlor, wie sie es geahnt hatte. Als Lambert zwei Stunden später erwachte, war er matt, schwach, und ihm war übel vom Äther. Doch seine erste Frage lautete: »Hat man mich gesehen? Ich bin ohnmächtig geworden, richtig? Aber da war ich schon im Hof, ja?« Sie beruhigte ihn, erzählte ihm von der erfolgreich verlaufenen Operation, doch als sie ihm von, wie sie es nannte, ›Deniaus verrückter Idee, morgen abzureisen‹ berichtete, waren die Worte kaum aus ihrem Mund, da richtete er sich in seinem Bett mit einem seltsamen, fast keuchenden Laut des Triumphes auf. »Das heißt doch, ich hab’s geschafft, nicht wahr? Die Araber werden mich also trotz allem für unverwundbar halten. Dann hat Charles natürlich recht. Das beste wäre es jetzt, uns im Triumph auf den Weg zu machen, so wie wir es immer geplant haben. Möglichst rasch von hier verschwinden.« Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schauten Deniau und Hersant vorbei. Als sie ins Krankenzimmer kamen, trat sie vom Bett zurück, blieb aber im Hintergrund und hörte zu. Nachdem er ihn gelobt und beglückwünscht hatte, sagte Deniau: »Wir wollen morgen von hier abreisen, Henri. Hat Emmeline Ihnen davon erzählt? Ich weiß, sie ist dagegen, aber …« »Nein, nein, sie hat mir davon erzählt, und ich bin völlig mit 284
Ihrem Vorschlag einverstanden.« »Das freut mich. Es wäre schade, unseren Triumph jetzt noch aufs Spiel zu setzen. Außerdem meint der Arzt, daß Sie wohl ganz gut zurechtkommen, solange Sie den rechten Arm nicht benutzen. Aber den können Sie jetzt ja sowieso nicht benutzen, nicht wahr? Sie könnten beim Reiten einen Umhang über den Schultern tragen, dann ist Ihr Verband nicht zu sehen.« »Wir sollten bei Morgengrauen aufbrechen«, sagte Hersant. »Zu der Zeit sind noch nicht viele Leute unterwegs.« »Doch den Scheichs wird man sagen, daß Sie fort sind«, sagte Deniau. »Und natürlich unserem Freund, dem MöchtegernMahdi Mohammed Ibn Abd Allah.« Die drei Männer lachten. Deniau schaute sich nach ihr um und sagte: »Eigentlich tut er mir leid. All dies Gerede von einem Rückzug zur geistigen Erneuerung wird bei den Kabylenführern nicht gut ankommen, aber da er immer noch der wichtigste Marabut im Land ist, müssen sie sich wohl damit zufriedengeben. Und was er heute sagte, hat natürlich Tradition, diese Hoffnung, uns durch das Gebet besiegen zu können. Jedenfalls wird er versuchen, es den Kabylen so zu verkaufen. Und für eine Weile wird er damit auch Erfolg haben.« »Bis zum Sommer jedenfalls«, sagte Hersant, und wieder lachten sie. »Ich schicke Dufour voraus, damit er Maréchal Randon die gute Nachricht überbringt«, sagte Deniau. »Und Algier wird die Meldung an Louis Napoleon persönlich weiterleiten. Wir müssen dafür sorgen, daß man Henris Tapferkeit belohnt. Allerdings kann Ihnen der Kaiser seine neue medaille militaire nicht geben, da die ausschließlich an Soldaten verliehen wird. Aber der Orden der Ehrenlegion? Warum nicht?« 285
»Der höchste Orden der Ehrenlegion, was ist das?« fragte Hersant. »Das Großkreuz?« Lambert ließ sich in die Kissen sinken. Er schien erschöpft, zugleich aber wie im Rausch, als wäre er betrunken. »Ist doch egal, welcher Orden«, sagte er. »Ich fühle mich geehrt. Vive la France!« Sie ritten durch menschenleere Straßen, vorbei an verschlossenen Marktbuden und durch das Haupttor, ehe sie ihre Pferde schließlich auf der Straße, die von den Lagern der zu Besuch weilenden Scheichs gesäumt wurde, in einen leichten Galopp fallen ließen, während die Sonne wie ein Drachen am Himmel schwebte. Kinder und kläffende Köter rannten ihnen nach, Frauen beobachteten sie aus Ziegenfellzelten, während die Männer in geselliger Runde unter Zeltbahnen saßen, ihren morgendlichen Kaffee tranken und mit angestrengter Gleichgültigkeit zu diesem Trupp Roumi aufblickten, zu Lambert, Emmeline, Hersant, Deniau mit seinem Diener Kaddour und den drei Kameltreibern, die auf die Flanken der schwer bepackten Tiere einhieben, um Miliana hinter sich zu lassen, bis ihre Karawane schließlich am Horizont immer kleiner wurde. Am Nachmittag erreichten sie schließlich das Lager von Ben Gannah, der ihnen wie beim letzten Mal mit seinem Sohn entgegenritt. Lambert saß unbeholfen ab, da er seine Verletzung noch immer verbergen mußte. Er lehnte den angebotenen Kaffee ab und ging gleich mit Emmeline auf sein Zimmer. Dort half sie ihm, das schweißgetränkte Jackett auszuziehen und die Stiefel aufzuschnüren, damit er sich auf den Diwan legen konnte. Sein Arm war in einer Schlinge, und als er auf dem Rücken lag, versuchte er, den Arm anzuheben, doch fiel er 286
schlaff auf seinen Bauch zurück. Er sah sich nach Emmeline um, und sie bemerkte die Angst in seinem Blick. »Meine Schulter«, sagte er. »Der Schmerz ist nicht so schlimm, aber da ist noch was anderes. Mein Arm fühlt sich tot an. Als der Arzt gestern abend den Verband wechselte, da hat er was von verletzten Nerven gesagt. Weißt du noch?« »Ich weiß nur, daß er sich offenbar keine Sorgen gemacht hat. Er sagte, du hättest großes Glück gehabt.« »Aber irgendwas hat er gesagt. Er sagte, er wisse es noch nicht genau.« »Hör zu«, sagte sie. »Es ist noch keine achtundvierzig Stunden her, daß man auf dich geschossen hat. Natürlich fühlt sich dein Arm noch nicht wieder normal an. Und jetzt ruhe dich etwas aus. Der morgige Tag wird anstrengender als der heutige. Erinnerst du dich noch an die steilen Schluchten auf dem Hinweg? Die geben mir weit mehr zu denken. Meinst du, du wirst es schaffen?« »Morgen stehe ich nicht mehr auf der Bühne«, sagte er, »also kann ich meine Maske fallen lassen, und Deniaus Diener könnte mein Pferd an die Zügel nehmen.« Als am nächsten Tag die Pferde durch die Schluchten stolperten und steile Abhänge hinabrutschten, hob der Riese Kaddour ihren Mann vom Pferd und trug ihn über die schwierigsten Pässe hinweg. Bevor sie aber gegen Sonnenuntergang Algier erreichten, überprüfte Deniau den Sitz von Lamberts Kleidung und legte ihm wieder seinen Umhang um, während Emmeline ihm Gesicht und Hals wusch, Lambert selbst sich aber auf den Ritt in die Stadt vorbereitete, wo arabische Augen ihn beobachten würden. Wie immer, wenn er sich öffentlichen Blicken ausgesetzt sah, legte er jene Disziplin 287
an den Tag, die der Eckpfeiler seiner Fertigkeiten war. Doch als man ihn am nächsten Abend auf einem Empfang bei Monsieur de la Garde, zu dem die ranghöchsten Offiziere und ihre Frauen eingeladen worden waren, mit Beifall begrüßte und mit Lob überschüttete, merkte Emmeline, daß etwas mit ihm geschehen war. Er, der sonst die Anerkennung so genoß, wirkte nun ruhelos und unaufmerksam und schien das Ende des Abends herbeizusehnen. Anfangs dachte sie, es läge an seiner Müdigkeit und an der Verletzung, doch als sie ihm abends beim Ausziehen half, schaute er sie an und sagte: »Das ist für mich das Ende.« »Was meinst du?« »Ich bin ein Krüppel.« »Unsinn!« »Nein. Der Arzt, der heute nachmittag meine Wunde verband, war Colonel Pouzin. Er ist der ranghöchste Militärarzt in Algier und Maréchal Randons persönlicher Leibarzt, sein Urteil ist also ziemlich zuverlässig. Ich habe ihm meine Symptome beschrieben, und er hat einige Tests gemacht. Einige Nerven sind ernstlich beschädigt. Ich mag meinen Arm vielleicht einmal wieder hüfthoch anheben können, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ist es mit meiner Karriere vorbei. Ich bin für den Rest meines Lebens ein Krüppel.« Sie schaute ihn an und suchte verzweifelt nach Worten, um ihm zu widersprechen, ihn zu trösten. Doch statt dessen sah sie ihn, wie er einst ein Zimmer betreten hatte, wie er die schlanken, eleganten Hände hob, als wollte er zeigen, daß er nichts zu verbergen hatte. Oder wie er auf der Bühne stand, die Aufmerksamkeit des Publikums mit raschen, geschickten Bewegungen täuschte, wie er mit der rechten Hand seinen 288
Talisman, den Stab mit elfenbeinerner Spitze hielt, um von der anderen Hand abzulenken, die mit einer verdeckten Bewegung den nächsten Trick vorbereitete. Die rechte Hand, der rechte Arm waren jetzt nur noch lebloses Gewicht an seiner Seite. »Aber deine Erfindungen«, sagte sie. »Du hast mir doch gesagt, du brauchtest nicht mehr auftreten, du wolltest deinen mechanischen Erfindungen mehr Zeit widmen, deinen Marionetten.« Er griff nach seinem nutzlosen rechten Arm, hielt ihn behutsam fest, während er sich vom Diwan gleiten ließ. »Erfindungen? Wer würde sich schon an mich erinnern, wenn ich bloß ein Uhrmacher wäre? Sieht man eine mechanische Marionette auf der Bühne, fragt man sich doch nicht, wer diese Maschine schuf. Nein, sie beobachten mich, den Zauberer, den Mann, der Leute verschwinden lassen kann, der Mann, der endlos Obst und Blumen aus dem Füllhorn hervorzaubert, der – doch warum erzähle ich dir das, du hast ja gesehen, wie mich die Menschen bewundern, mich fürchten, du hast gesehen, was hier in Afrika geschah, wo ich sogar einen Krieg verhindern konnte! Ich bin Henri Lambert, in ganz Europa als größter lebender Zauberer bekannt. Und weil so ein bekiffter Wilder eine Pistole abgefeuert hat, ist mein Leben jetzt vorbei.« »Dein Leben ist nicht vorbei«, sagte sie. »Du bist berühmt, du hast Geld, du kannst an deinen Erfindungen arbeiten. Und du hast mich. Ich bedeute dir alles, hast du gesagt.« »Das tust du auch.« Er schaute sie an und schüttelte den Kopf. »Was ist?« fragte sie. »Habe ich dich wirklich? Oder ist das wieder nur einer von meinen Tricks?« »Henri, hör mir zu – Henri?« 289
Doch er drehte das Gesicht zur Wand. Zwei Wochen später legte im Hafen von Algier der Dampfer Alexander zur fahrplanmäßigen Überfahrt nach Marseille ab. Auf dem Promenadendeck stand Lambert mit Emmeline, den linken Arm um ihre Hüfte geschlungen, und schaute zum Kai hinab, wo Madame de la Garde und Colonel Deniau zu ihnen herauflächelten. Als die Sirene ertönte und die Leinen losgemacht wurden, winkten die Menschen am Ufer ihnen zum Abschied zu. Instinktiv versuchte Lambert, den Gruß mit dem rechten Arm zu erwidern, doch sackte sein Arm leblos wieder herab. Emmeline schaute auf Deniau und die anderen. Sie winkte nicht.
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Im folgenden Jahr, im Sommer des Jahres 1857, unterwarfen die französischen Armeen unter dem Kommando von Maréchal Randon und General MacMahon die Kabylenstämme und brachten damit die Eroberung Algeriens durch Frankreich zum Abschluß. Im Sommer des Jahres 1962 erklärte Algerien offiziell seine Unabhängigkeit und beendete damit die Anwesenheit der Franzosen in diesem Land.
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